Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Bosbach?
Da ich mit meiner Redezeit
fast zu Ende bin, bin ich für die Zwischenfrage sehr dankbar.
Herr Kollege
Edathy, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
die politische Haltung, die die Union in den letzten Wochen zu diesem Thema eingenommen hat, exakt dem entspricht, was Sie gerade aus unserem Antrag vorgelesen
haben? Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, gemeinsam mit den Bundesländern - nur sie verfügen über
das gesamte Tatsachenmaterial - Befunde zusammenzutragen, um die Frage zu beantworten, ob das vorhandene
Tatsachenmaterial ausreicht, damit ein Verbotsantrag in
Karlsruhe hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.
({0})
Es hat eine Bund-Länder-Kommission gegeben, die das
Tatsachenmaterial zusammengetragen hat. Anschließend
sind Bundesrat und Bundesregierung gemeinsam zu der
Überzeugung gelangt, dass ein Antrag geboten ist und
hinreichende Erfolgsaussichten haben wird.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in
der entsprechenden Debatte des Deutschen Bundestages
ausdrücklich zum Ausdruck gebracht haben, dass wir die
Anträge von Bundesregierung und Bundesrat begrüßen,
es aber nicht als notwendig erachten - es ist übrigens das
erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland -, dass auch der Deutsche Bundestag als dritte Prozesspartei in Karlsruhe auftritt?
({1})
Herr Kollege Bosbach, ich
kann Ihnen bestätigen, dass Ihre Fraktion im Dezember
des letzten Jahres nicht dafür gestimmt hat, dass der Deutsche Bundestag einen Antrag auf Verbot der NPD stellt.
Ich kann Ihnen ebenfalls bestätigen, dass ich es nur als ein
strategisches Manöver betrachte, wenn Sie als Parlamentarier von der Regierung politische Leistungen fordern,
die Sie selber mit zu erbringen nicht bereit sind. Das ist
das Problem.
({0})
Ich möchte zwar nicht sagen, dass der Antrag der
Union völlig ungeeignet ist.
({1})
Aber wir haben - das habe ich schon betont - die wesentlichen Dinge, die gut sind, in unseren Antrag übernommen. Dazu gehört übrigens auch die Aussage aus
Ihrem Antrag, Herr Marschewski, die mir besonders gut
gefallen hat - ich zitiere wörtlich -: „In der Sprache der
öffentlichen Debatte sollten wir entschlossen, aber differenziert und sensibel sein“. Ich hätte mir gewünscht, dass
Sie das in der gestrigen Debatte über den Nationalstolz
beherzigt hätten.
({2})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Ganz im Sinne der Forderung der Union nach einem
sensiblen Umgang enthält unser fraktionsübergreifender
Antrag den Satz:
Der Deutsche Bundestag fordert die demokratischen
Parteien in Deutschland auf, Wahlkämpfe nicht auf
dem Rücken von Minderheiten bzw. Menschen anderer Herkunft zu führen.
Ich würde mich freuen, wenn wenigstens dieser Satz die
Unterstützung der Union finden würde, und zwar im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens in Deutschland,
das zwar niemals konfliktfrei sein kann, das aber gewaltfrei sein muss. Diesen Konsens der Demokraten sollten
wir mit unseren heutigen Entscheidungen unterstreichen.
({0})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang
Schäuble von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Edathy, der Anfang Ihrer Ausführungen war
ganz in Ordnung, obwohl ich gleich eine Bemerkung zur
Gemeinsamkeit und zum Wettbewerb machen möchte,
der ja zur Demokratie dazugehört. Aber als Sie aus dem
Antrag der Unionsfraktionen vorgelesen haben, um unsere Haltung zum NPD-Verbot deutlich zu machen, haben
Sie verschwiegen - das war ein kleiner Mangel -, dass
dieser Antrag vom 11. September 2000 stammt, also lange
vor der Debatte und der Entscheidung über das NPD-Verbot gestellt wurde. Sie haben damals im Innenausschuss
nicht zugestimmt, aus unserem Antrag eine Beschlussempfehlung zu machen. Jetzt zitieren Sie aus unserem Antrag
vom September. Ihr Hinweis, dass nun Ende März 2001
sei, ist zwar zutreffend. Aber wir haben unseren Antrag
viel früher im Innenausschuss und im Plenum des Bundestages eingebracht als Sie Ihren. Darauf hätten Sie hinweisen sollen, als Sie aus unserem Antrag zitiert haben.
Zweite Bemerkung - ich möchte das wiederholen, was
schon der Kollege Bosbach gesagt hat -: Wir sind der
Meinung, dass das Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Verbot der NPD prüfen und über ihn entscheiden
muss. Wir haben den gemeinsamen Antrag von Bundesregierung und Bundesrat unterstützt. Über die Frage, ob
der Bundestag zusätzlich einen Antrag stellen sollte und
ob dadurch eventuell missverständliche Eindrücke über
das Verhältnis der Verfassungsorgane erweckt werden,
zum Beispiel, dass es mehr auf Mehrheiten als auf eine
verfassungsmäßige Überprüfung durch ein unabhängiges
Gericht ankommt, kann man unterschiedlicher Meinung
sein und wir waren auch unterschiedlicher Meinung darüber. Im Übrigen sind auch die vier Fraktionen, die die
Beschlussempfehlung gemeinsam vorgelegt haben, in
dieser Frage - wenn ich mich nicht sehr täusche - unterschiedlicher Meinung. Also bauen Sie keinen Popanz auf.
Dritte Bemerkung. Wir sind uns über das Ziel der
Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit einig. Aber es gehört zu einer Demokratie
dazu, dass man über den Weg, wie die gemeinsamen Ziele
erreicht werden können, unterschiedlicher Meinung sein
kann. Es ist ja geradezu ein Merkmal des Extremismus,
den wir gemeinsam bekämpfen, dass er andere Meinungen
nicht akzeptieren will, dass er seine Meinung und das, was
er für richtig hält, zur allein und ewig gültigen Meinung
machen will, dass er deshalb die Freiheit und die Pluralität
des demokratischen Meinungsaustausches beseitigen
will und dass er die Reversibilität von Ergebnissen
bekämpfen will. Also lassen Sie uns die Möglichkeit, unterschiedliche Meinungen zu haben, als das demokratische
Prinzip und als das, was Grundlage für den demokratischen Wettbewerb ist, bitte gemeinsam verteidigen. Lassen Sie uns nicht sagen, Gemeinsamkeit bedeute, dass wir
alle in jeder Frage einer Meinung sein müssen.
({0})
Ich habe an den Beratungen im Innenausschuss nicht
teilgenommen.
({1})
- Ich bin auch gar nicht Mitglied des Innenausschusses.
Aber es wird ja erlaubt sein, trotzdem zu dem Thema zu
sprechen, wenn man von der Fraktion darum gebeten
wird.
Ich will Ihnen sagen, was mir am Antrag der CDU/
CSU besser gefällt als an der gemeinsamen Beschlussvorlage der anderen Fraktionen. Sie beschränken sich in
Ihrem Antrag im Wesentlichen auf die Aufzählung von
Maßnahmen, die bereits beschlossen und in Kraft gesetzt
worden sind. Eine solche Aufzählung mag etwas Nützliches und Gutes sein, aber wenn wir Beschlüsse im Deutschen Bundestag fassen, sollten wir uns schon um die
Dinge kümmern, die zusätzlich geschehen sollten. Dazu
steht in Ihrem Antrag gar nichts,
({2})
in unserem stehen eine Reihe von konkreten Maßnahmen.
({3})
Wir schlagen auch auf dem Gebiet des Strafrechts konkrete Maßnahmen vor; vielleicht geht es aber um dieses
Gebiet gar nicht so sehr. Sie sollten noch einmal darüber
nachdenken, ob uns nicht eine Änderung des Versammlungsrechts - schauen Sie sich einmal auch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung dazu an - im Kampf
gegen diese Erscheinungen, die wir gemeinsam verurteilen und erfolgreicher bekämpfen wollen, wirklich helfen
könnte. Ich halte diesen Weg für richtig.
({4})
Es gibt doch das Problem, dass wir extremistische, fremdenfeindliche, gewalttätige Exzesse alle miteinander verachten, ihnen aber in der Öffentlichkeit ein Maß an Beachtung schenken, das falsch ist. Vielleicht sollten wir
weniger beachten und mehr verachten.
({5})
- Nein, überhaupt nicht.
Lassen Sie uns doch einen Moment darüber nachdenken, ob es wirklich richtig ist, hinzunehmen, dass einer
Minderheit von gewalttätigen und extremistischen Menschen durch die Wahl eines bestimmten Demonstrationsortes - in der Nähe des Reichstagsgebäudes gibt es
solche Lokalitäten - ein Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit zuteil wird, das ihr in der Sache überhaupt nicht
zusteht. Deswegen sage ich noch einmal, dass wir für
Verachten und nicht für ein Übermaß an Beachtung sein
sollten. Wir treiben das durch ein Übermaß an medialer
Aufmerksamkeit und Hysterie doch eher hoch. Das hat
mit Wegsehen überhaupt nichts zu tun.
({6})
- Entschuldigung, Herr Kollege Schmidt.
({7})
- Sebnitz steht für ein Übermaß an Hysterie. Glauben Sie
denn nicht, dass Sie möglicherweise das Gegenteil von
dem erreichen, was Sie beabsichtigen, wenn Sie durch
mediale Übertreibungen den Eindruck erwecken - ({8})
- Entschuldigung, eine Sekunde; wir reden über die Notwendigkeit einer Änderung des Versammlungsrechts. Wir
dürfen rechtsextremistische, fremdenfeindliche und ähnliche Exzesse nicht noch durch ein unverhältnismäßiges
Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit fördern. Man muss
doch einmal einen Moment selbstkritisch darüber nachdenken, was in unserem Lande los ist. Immerhin hat es die
gesamte Öffentlichkeit für möglich gehalten, dass in einem Schwimmbad in einer Kleinstadt ein Kind umgebracht worden ist und dass alle zugeschaut haben. In
Wirklichkeit ist nichts Derartiges geschehen. Wenn das
nicht ein Übermaß an medialer Hysterie ist, das uns Anlass zum Nachdenken geben muss - wir dürfen eben nicht
das fördern, was wir in Wirklichkeit gar nicht wollen -,
dann weiß ich nicht mehr, was Argumente sollen.
({9})
Wir müssen aufpassen, dass wir nicht durch ein Übermaß an Betroffenheit den Eindruck erwecken, als würde
die Realität von den Verantwortlichen - das betrifft nicht
nur die Politik, sondern zum Teil auch die Medien - in
diesem Lande nicht mehr wahrgenommen.
Es gab schlimme Vorfälle und wir müssen sie mit aller
Entschiedenheit bekämpfen.
Ich stimme Ihnen in Ihrem Lob für Polizei und Justiz
- sie ist, was die Bearbeitung der Verfahren angeht, deutlich schneller geworden; das ist der richtige Weg, das
muss man wirklich einmal sagen - völlig zu. Wir haben
lange darüber gestritten, ob man solche Erscheinungen
mit Mitteln der Polizei und der Justiz bekämpfen kann.
Heute sind wir uns darüber einig, dass dieser Weg richtig
ist. Wir wären noch einen Schritt weiter, wenn wir auch
das Versammlungsrecht stärker nutzen würden. Aber darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich begründe, warum wir unseren Antrag für besser als Ihren
halten.
Ich bin im Übrigen schon der Meinung, dass wir aufpassen müssen. Im Augenblick macht uns der Rechtsextremismus sehr viel mehr Sorge als andere Erscheinungsformen; das ist gar keine Frage. Dennoch ist die
Differenzierung zwischen rechts und links immer problematisch. Wir sollten dabei bleiben, dass wir Extremismus
und Gewalttätigkeit in jeder Form mit aller Entschiedenheit bekämpfen
({10})
und nicht das eine durch das andere legitimieren. Ich habe
in der Beschlussempfehlung beispielsweise gelesen, dass
für die Opfer rechter Gewalt zusätzliche Mittel vorgesehen werden sollen. Ich bin der Meinung: Wir sollten den
Opfern jeder Form von Gewalt entsprechende Hilfen zukommen lassen.
({11})
Das ist ein Fehler Ihrer Beschlussempfehlung.
Es gibt eine Reihe von Punkten, an denen man sehr genau belegen kann, warum unser Antrag besser ist und
warum wir Ihrem Antrag heute nicht zustimmen, sondern
an Sie appellieren, unserem Antrag zuzustimmen.
Ich spreche jetzt ein wenig als Baden-Württemberger:
Wir haben in meinem Heimatland Baden-Württemberg
neun Jahre lang das Problem gehabt, dass die Republikaner im Landtag vertreten waren. Wir sind sehr froh,
dass dies seit dem vergangenen Sonntag nicht mehr so ist.
({12})
Ich bin mir in der Einschätzung ziemlich sicher, dass dieses für viele überraschende Ergebnis deswegen erreicht
worden ist, weil wir in Baden-Württemberg die wesentlichen Probleme gelöst haben, die die Menschen bei
früheren Wahlen fälschlicherweise veranlasst haben, die
Republikaner zu wählen. Das Wichtigste ist also das Lösen von Problemen.
Deutschland ist ein offenes, ausländerfreundliches und
tolerantes Land. Wir sollten unter allen Umständen verhindern, dass durch eine einseitige Berichterstattung bei
der großen Mehrheit unserer Bevölkerung ein falscher
Eindruck von der Wirklichkeit unseres Landes erzeugt
wird.
({13})
Ich bin dafür - darin sind wir uns einig -, dass wir Missstände und Fehlverhalten mit aller Entschiedenheit
bekämpfen. Aber ich bin dagegen, dass wir den Eindruck
erwecken, dass überall in Deutschland Minderheiten und
Ausländer von der Mehrheit der Bevölkerung verfolgt
oder diskriminiert werden. Das Gegenteil ist der Fall.
Deswegen sage ich noch einmal: Wir sind ein ausländerfreundliches, tolerantes Land und wir wollen es auch in
der Zukunft bleiben. Wir müssen alles daransetzen, dass
das geschieht. Das heißt: Wir müssen die Probleme lösen.
Wir sind dafür, im Bundestag und im Bundesrat eine
Gesetzgebung zu einer umfassenden Zuzugsregelung zu
machen. Die CDU/CSU wird Vorschläge dazu vorlegen.
Wir arbeiten intensiv daran. Dass es durch die Änderung
des Asylrechts gelungen ist - ich habe dafür, das ist in
Ordnung, viel Kritik aushalten müssen; das gilt auch für
andere Personen, auch aus Ihren Reihen -, die Zahl der
Asylanträge von einstmals 400 000 pro Jahr auf unter
100 000 pro Jahr zurückzuführen, ist ein entscheidender
Beitrag dazu, dass Toleranz und Ausländerfreundlichkeit
in unserem Land erhalten bleiben.
({14})
Wer die Probleme nur hoch redet und sie nicht löst, der
wird das Gegenteil von dem erreichen, was er will.
Ich bin sehr sicher - ich sage das ganz ruhig; ich weiß,
dass das bei Ihnen nicht nur Freude hervorruft -, dass wir
für Toleranz und Integration in unserem Lande einen unverzichtbaren Beitrag geleistet haben, indem wir Sie, die
Sozialdemokraten, davon abgebracht haben, den Unfug
einer doppelten Staatsangehörigkeit für alle einzubürgernden Personen einzuführen. Sie hätten damit der Integration und der Toleranz in unserem Lande einen Bärendienst erwiesen.
({15})
Wer die Probleme nicht löst, sondern - zum Zwecke
des Hervorrufens von Betroffenheit und notfalls der parteipolitischen Profilierung - ausnutzt,
({16})
der fördert in Wahrheit weder Toleranz noch Integration
noch Mäßigung, sondern das Gegenteil.
({17})
- Sie haben in vieler Hinsicht bemerkenswerte Debattenbeiträge geleistet. - Ich glaube, dass es sehr viel besser ist,
wenn der Rechtsstaat mit einer gewissen ruhigen, gelassenen Würde und Autorität handelt. Das ist besser als ein
Übermaß an Betroffenheitsrhetorik, wodurch die Probleme nicht wirklich gelöst werden.
Wir sollten die Situation mit Augenmaß betrachten.
({18})
Ich sagte vorhin schon, dass Verachtung wichtiger ist als
ein Übermaß an öffentlicher Aufmerksamkeit. Junge
Menschen neigen manchmal dazu zu provozieren. Sie
wollen Aufmerksamkeit erregen, was ihnen auf diese
Weise leicht gelingt.
({19})
Ich komme auf die Debatte um die nationale Identität
zurück, die wir gestern geführt haben und die wir weiter
führen müssen. Wenn wir den Rechtsextremen überlassen
würden, sich der nationalen Identität anzunehmen - mein
Fraktionsvorsitzender hat gestern sehr Bemerkenswertes
und Richtiges dazu gesagt ({20})
- er hat in diesem Zusammenhang sogar Walter Jens zitiert; das war in diesem Fall angemessen und richtig -,
dann wäre dies ein Förderprogramm für Rechtsextreme.
Ich sage noch einmal: Herr Trittin treibt mit seiner Haltung, die er schriftlich bestätigt hat, die Menschen eher
zu den Rechtsextremen, anstatt die Rechtsextremen wirkungsvoll zu bekämpfen. Diese Haltung ist deshalb falsch.
({21})
Im Übrigen müssen wir den jungen Menschen, die
glauben - was falsch ist -, das Nationale würde in
Deutschland nicht ernst genommen, sagen: Es hat niemand mehr Schande über die Deutschen gebracht als die
Nazis mit ihren grauenvollen Verbrechen. Auch das
gehört zu den Wahrheiten, die man den jungen Menschen
immer und immer wieder sagen muss.
({22})
Wenn wir Fremdenfeindlichkeit, Extremismus und Gewalt bekämpfen wollen, ist es am wichtigsten, dass wir
mit Maß und Würde, aber auch mit Autorität und Konsequenz handeln.
({23})
- Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, Frau Kollegin,
auf die Frage, ob ausgerechnet die PDS besonders geeignet ist, im Kampf gegen den Extremismus an vorderster
Front zu stehen, heute keine Ausführungen zu machen.
Aber angesichts Ihres Zurufs bin ich versucht, dies zu tun.
({24})
- Dieser Zuruf ist ja noch bemerkenswerter.
({25})
Er zeigt nämlich, dass die Sozialdemokraten mehr als
zehn Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch behaupten, in Wahrheit sei die CDU für die Verhältnisse in
der DDR verantwortlich gewesen. Sie machen sich schon
ein wenig lächerlich.
({26})
- Das sind Ihre Vorwürfe.
Ich habe am Anfang in Erwiderung auf Ihren Kollegen,
der vor mir gesprochen hat, gesagt: Extremismus zeichnet
sich gerade dadurch aus, dass er den Wettbewerb verschiedener politischer Ideen und Lösungsmöglichkeiten
verhindert. Genau in diesem Sinne war das kommunistische Zwangssystem in der DDR extremistisch. An dieser Tatsache kommen Sie nicht vorbei. Die Menschen haben dieses System in einer friedlichen Revolution
abgeschafft. Sie sollten sich daher nicht als die wahren
Kämpfer gegen den Extremismus bezeichnen. Das ist ein
bisschen viel der Ehre.
({27})
Ich bin für die Gemeinsamkeit der Demokraten. Diese
beinhaltet im Wesentlichen, dass wir im Falle unterschiedlicher Meinungen um die richtige Lösung streiten.
Ich stelle daher fest: Der Antrag der CDU/CSU ist besser.
Ich appelliere an Sie: Stimmen Sie ihm zu!
({28})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Buntenbach
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Rechtsextremismus ist eine Herausforderung für alle demokratischen Parteien. Herr Schäuble, wenn Sie angesichts der Tatsache, dass im letzten Sommer endlich die
Spitze des Eisbergs in das Blickfeld der Öffentlichkeit
gerückt wurde, von einem Übermaß an Betroffenheit und
von Medienhysterie sprechen,
({0})
dann finde ich das Ausmaß an Ignoranz und Zynismus,
das sich darin zeigt, erschreckend.
({1})
Es ist leider - das wissen Sie genauso gut wie ich - ein
Faktum, dass es in Deutschland, gerade in den fünf neuen
Ländern, immer noch Gebiete gibt, in denen sich Menschen mit dunkler Hautfarbe, Flüchtlinge, Obdachlose,
Homosexuelle und andere wegen der akuten Bedrohung
durch rechtsextreme Gewalt nicht frei bewegen können,
ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen. Sie wissen,
dass es solche Zonen gibt. Eine Demokratie, die sich ernst
nimmt, muss sich daran messen lassen, ob sie den Mindeststandard, Bewegungsfreiheit für alle - auch für Minderheiten - sicherzustellen, erfüllt.
({2})
Deswegen bin ich sehr froh, dass SPD, Bündnis 90/Die
Grünen, F.D.P. und PDS es geschafft haben, zu einem gemeinsamen Antrag zur Bekämpfung von Rechtsextremismus zu kommen. Umso bedauerlicher ist es, dass sich die
CDU diesem Konsens bislang nicht angeschlossen hat.
({3})
In dem Antrag haben wir uns auf einen Minimalkonsens
geeinigt; er geht allerdings in der Substanz sehr weit und
kann sich deshalb sehen lassen. Selbstverständlich gibt es
in allen Fraktionen Forderungen, die darüber hinausgehen. Die Unionsparteien sind in diesem Bereich keineswegs ein Einzelfall. Für mich ist es unverständlich,
warum Sie, meine Damen und Herren von der Unionsfraktion, sich selbst von diesem demokratischen Konsens
ausschließen.
Die Rahmenbedingungen für Rechtsextremismus entstehen in der Mitte der Gesellschaft. Rechtsextreme setzen in Gewalt um, was an den Stammtischen - aber leider
nicht nur dort - geredet wird.
({4})
Die Opfer rechtsextremer Gewalt sind Menschen, die zum
Teil auch von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Gerade die Politik muss hier ihre Verantwortung ernst nehmen. Wir müssen eine umfassende Integrationspolitik
betreiben. Dazu gehört auch ein sensibler sprachlicher
Umgang mit Minderheiten und Themen der Asyl- und
Migrationspolitik. Dabei geht es nicht um die Frage, ob,
sondern um die Frage, wie darüber geredet wird. Ich bin
deswegen besonders froh, dass wir unter den vier beteiligten Fraktionen zu der Übereinkunft gekommen sind,
Wahlkämpfe nicht mehr auf dem Rücken von Minderheiten und Menschen anderer Herkunft zu führen. Ich
möchte die Unionsparteien ausdrücklich einladen, sich
doch zumindest diesen Punkt zu Eigen zu machen.
({5})
Wir haben es beim Rechtsextremismus nicht mit einem
abgrenzbaren Problem irgendwo am Rande der Gesellschaft zu tun. Es gibt Berichte, die Rechtsextremismus
vor allem im Osten als Mainstream unter Jugendlichen
oder als Alltagskultur beschreiben. Es wäre daher eine
Illusion, zu glauben, es gäbe Patentrezepte oder schnelle
und einfache Lösungen. Wir werden in dieser Auseinandersetzung einen langen Atem brauchen und, wie ich
fürchte, nur in seltenen Fällen kurzfristig sichtbare Erfolge präsentieren können. Obwohl wir also keinen Königsweg vorschlagen können, haben wir in unserem Antrag drei Handlungsfelder aufgezeigt, in denen man zu
konkreten Ergebnissen kommen kann:
Erstens ist dies die Stärkung der Zivilgesellschaft. Es
kommt nicht allein darauf an, repressiv gegen Rechtsextreme vorzugehen, sondern auch darauf, die demokratische Gesellschaft zu stärken und Zivilcourage zu fördern.
({6})
Die Debatten, die wir hier seit dem letzten Sommer über
Rechtsextremismus geführt haben und die sich konkret in
diesen Anträgen niedergeschlagen haben, haben bereits
dazu beigetragen, dass viele Menschen das Problem erkannt und dazu Stellung bezogen haben. Wir wollen diese
Auseinandersetzung weiterführen und verstetigen. Dem
dienen die Maßnahmen in der politischen Bildung, zum
Beispiel durch die Bundeszentrale für politische Bildung,
zur Qualifizierung in der Jugendarbeit und zur Stärkung
der demokratischen Jugendkultur. Wir hoffen vor allem,
durch die Modellprojekte der mobilen Beratungsteams
neue Wege zu finden, wie man rasch und adäquat an den
Stellen reagieren kann, wo die Menschen vor Ort, in der
Schule, im Jugendzentrum und auf der Straße, konkret mit
rechtsextremer Gewalt konfrontiert werden.
Das zweite Handlungsfeld betrifft die Integration und
die Stärkung der Position von Minderheiten, die Opfer
rechtsextremer Gewalt werden. Dabei handelt es sich
- wie ich vorhin schon sagte - oft um Gruppen, die auch
von der Gesellschaft ausgegrenzt werden und nicht selten
im Alltag Diskriminierung erfahren. Die Änderung des
Staatsangehörigkeitsrechts und die geänderten Regelungen zum Arbeitsverbot für Asylbewerber waren Schritte
in Richtung zu mehr Integration. Dem müssen nun weitere folgen, zum Beispiel das Antidiskriminierungsgesetz.
({7})
Wir haben mit den im Antrag enthaltenen Maßnahmen einen Schwerpunkt auf den besseren Schutz der Opfer gesetzt. Dem dienen die Opferberatungsstellen, durch die
soziale, rechtliche und psychische Unterstützung geleistet
und vermittelt werden soll, und der Härtefonds zur unbürokratischen Entschädigung.
Drittens kommen wir nicht umhin, den Aktionsradius
von Rechtsextremen einzuschränken. Dazu bedarf es aber
keiner neuen Gesetze, denn Bedrohung, Körperverletzung, Brandstiftung, Totschlag und Mord sind hinreichend
strafbewehrt. Es kommt darauf an, im Vorfeld aktiv zu
werden. Darum setzen wir uns für die präventive Bestreifung von Orten ein, die als Treffpunkt rechtsextremer Gewalttäter bekannt sind und von denen bekanntermaßen Gewalt ausgeht. Die bestehenden Gesetze müssen nicht nur
angewandt, sondern auch rasch angewandt werden. Das
heißt keineswegs, dass es fragwürdige Schnellverfahren
geben soll, sondern heißt, dass Prozesse zu Gewaltstraftaten justizorganisatorisch vorgezogen werden müssen, damit die Täter nicht erst Jahre später und oft nach einer
ganzen Reihe weiterer Straftaten verurteilt werden.
Ich will damit nur andeuten, dass es eine ganze Reihe
von Möglichkeiten gibt, die Strafverfolgung zu intensivieren, ohne allgemeine Bürger- und Bürgerinnenrechte
einzuschränken, wie die Unionsparteien und vorhin auch
wieder Herr Schäuble hier am Pult vorgeschlagen haben.
({8})
Das wäre ein Schritt in die falsche Richtung. Wenn wir
nämlich die Gesellschaft mobilisieren wollen, dann brauchen wir nicht weniger, sondern mehr demokratischen
Handlungsspielraum. Je mehr Menschen auf die Straße
gehen, sich an öffentlichen Diskussionen beteiligen, Zivilcourage zeigen und sich einmischen, desto geringer ist
der Aktionsradius für rechtsextreme Gewalttäter.
({9})
Ich sehe keinen Grund, warum sich die Unionsparteien
diesem Konsens verweigern. Sie wenden mit diesem Verhalten ihren ständigen Vorwurf, der Rechtsextremismus
würde parteipolitisch funktionalisiert, gegen sich selbst
und begeben sich damit ins politische Abseits.
Ich will die Nationalstolzdebatte hier nicht weiterführen, möchte aber noch einmal klar sagen: Wer die Parolen von Rechtsextremen und Nazis übernimmt, der
gräbt ihnen nicht das Wasser ab, sondern gießt es auf ihre
ideologischen Mühlen.
({10})
Wer sich undifferenziert zu Deutschland bekennt und sagt
„Ich bin stolz, Deutscher zu sein“, der meint die ganze
deutsche Geschichte. Darum ist das eine Parole der
Rechtsextremen. Demokraten sollten sich davor hüten,
sie zu kolportieren.
({11})
Wir können den Rechtsextremismus nämlich nicht
bekämpfen, indem wir auf seine Parolen ein anderes Etikett kleben, sondern nur, indem wir ihm demokratische
Werte und demokratisches Handeln entgegensetzen.
({12})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang
Gerhardt von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Bundesinnenminister hat
den Verfassungsschutzbericht 2000 vorgelegt, der eine
steigende Zahl rechtsextremistisch motivierter Straf- und
Gewalttaten schildert. Es wird festgestellt, dass das Personenpotenzial nicht steige, sondern eher zurückgehe, aber
auch, dass sich in dem vorhandenen Personenpotenzial die
Bereitschaft, Gewalt anzuwenden und aggressiver zu reagieren, erhöht habe. Die gewaltbejahenden Äußerungen
würden deutlicher und vielfältiger.
Die kulturelle Revolution von rechts, wie es der
Verfassungsschutzbericht ausdrückt, über Konzertveranstaltungen, über die Gruppenszene gelinge nicht, sondern
gehe eher zurück. Die Bedeutung des Internets aber steige.
Es gebe noch keine ausreichende Reaktion auf die Dimension des Missbrauchs dieses Mediums.
All das unterstreicht, dass wir eine sehr differenzierte
Reaktion brauchen.
({0})
Deshalb will ich daran erinnern: Meine Fraktion, die
F.D.P., hat am 5. April des vergangenen Jahres einen Antrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eingebracht. Ich muss mich heute im Nachhinein wundern, wie
gering die Reaktion auch in diesem Haus auf diesen Vorgang war.
({1})
Alles bis zu der Bemerkung - und zwar ohne Ansehen einer bestimmten Fraktion -, ob denn wirklich Bedarf bestünde, darüber ausführlich zu diskutieren, klingt mir
noch sehr in den Ohren.
Die Bundesregierung hat natürlich - das sollten wir aus
dem parteipolitischen Streit heraushalten - mit einer
Summe von Maßnahmen reagiert, auch, was im Übrigen
sehr erfolg-reich war, in Richtung eines Verbots rechtsextremer Organisationen, soweit man verwaltungsmäßig
selbst entscheiden konnte, bis hin zur Vereinheitlichung der
Kriterien für die Erfassung rechtsextremistischer und antisemitischer Straftaten, um überhaupt ein Lagebild zu bekommen - das ist eine notwendige Aufgabe -, und zur Verstärkung im Bereich der politischen Bildung. Aber - um
auch das hier zu sagen - das bleibt doch alles sehr im Bereich traditioneller Maßnahmen. Das ist eine Hausaufgabe,
die man zu erledigen hat.
Selbst die Fragestellung, wie man zu dem Antrag auf
Verbot der NPD steht - wir müssen sie heute nicht ausführlich diskutieren, sondern kommen ein anderes Mal
darauf zurück -, ist eine traditionelle Reaktion. Die Bundesregierung ist der Überzeugung, er entfalte große Symbolkraft und nehme den Nährboden in Form einer organisatorischen Hülle weg. Aber es gibt viele organisatorische
Hüllen und viele Parteien, in die die Wölfe wie in einen
Schafspelz sofort wieder schlüpfen können.
({2})
Im Übrigen werden wir das Argument, man nehme mit
großer Symbolkraft eine organisatorische Hülle weg, erneut besprechen, wenn das Bundesverfassungsgericht am
Ende entschieden haben wird. Denn darauf darf man
heute ja aufmerksam machen: Bei aller Überzeugung und
Glaubenskraft der Bundesregierung - ihre Glaubenskraft
ist ja auch in vielen anderen Bereichen größer als das, was
an Ergebnissen tatsächlich zutage tritt - entscheidet am
Ende Karlsruhe.
({3})
Ob Karlsruhe das so bewerten wird wie die Bundesregierung, das lassen wir heute einmal völlig außerhalb dieser
Debatte. Entschiede das Gericht aber anders, hätte die
Bundesregierung mit diesem Vorgehen eher die andere
Seite gestärkt, als dass ihr mit großer Symbolkraft das
Wasser abgegraben würde.
({4})
Manche Reaktionen der Bundesregierung sind also
richtig, manche sind im Streit. Bedauerlicherweise haben
Sie, liebe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sich trotz
des gemeinsamen Antrags bei den Haushaltsberatungen
dafür entschieden, einen Antrag der F.D.P. abzulehnen,
der 300 Millionen DM für Maßnahmen der politischen
Bildung, Sozialarbeit und kommunalen Jugendarbeit vorsah. Mir fehlt dafür das Verständnis;
({5})
denn wenn man gemeinsame Aktionen will, dann sollte
man auch parteienübergreifend die Souveränität haben,
solchen Maßnahmen zuzustimmen.
Aber auch ein solches Programm verbliebe natürlich
am Ende im Bereich traditioneller Maßnahmen. Es reihte
sich in gewaltige Kraftanstrengungen ein, könnte aber
wahrscheinlich auch nicht bis zum Kern vorstoßen. Diesen Kern möchte ich jetzt einmal an zwei Punkten zu beschreiben versuchen.
Ich habe im letzten Jahr Schulen besucht und werde das
auch fortsetzen. Wenn Schülerinnen und Schüler einem
entgegentreten, dann spürt man, dass sie im Hinblick auf
diesen katastrophalen Abschnitt deutscher Geschichte
zwei Sachverhalte bemerken. Sie beklagen manche Unterrichtserteilung als schlichte Unterrichtung über einen
Abschnitt deutscher Geschichte, ohne dass sie ausreichendes persönliches Engagement der Lehrerinnen und
Lehrer spürten, als handelte es sich bei diesen Unterrichtungen um etwas Ähnliches wie die Erteilung des Mathematikunterrichtes oder die Lektüre eines Buches im
Deutschunterricht. Sie vermissen ein Stück erzieherischer
Qualität in der Begleitung des Unterrichtsstoffes. Auf der
anderen Seite beklagen sie genauso eine pädagogische
Penetranz mit intellektuellem Rohrstock bei der Vermittlung dieses katastrophalen Abschnitts deutscher Geschichte, und zwar so stark, dass sie ihren Protest dagegen
erregt.
({6})
Die pädagogische Qualität und die Fähigkeit von Lehrerinnen und Lehrern, das zustande zu bringen, was
Wolfgang Schäuble eben erwähnt hat, nämlich den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass niemand anders
als die Nazis Schande über das deutsche Volk gebracht haben, sind nicht so ausreichend ausgeprägt, dass sie sich
der jungen Generation mitteilten.
({7})
Weil ich diese Gegenreaktionen erlebe, stelle ich mir
die Frage, welche erzieherische Qualität im Hinblick auf
solche Schlüsselszenen des Unterrichts an deutschen
Schulen zu entwickeln ist. Viele Familien glauben, sie
könnten sich mit dem Hinweis darauf, dies sei Sache der
Schule und der Politik, heraushalten. Das dürfen wir nicht
zulassen. Das ist nicht die Chefsache des Bundeskanzlers
oder der MdBs aus allen Fraktionen, das ist die Chefsache
jeder Mutter und jedes Vaters in einer deutschen Familie.
Dem darf sich niemand entziehen.
({8})
Um auf die gestrige Debatte zurückzukommen: Das
Stolzsein auf irgendetwas hat zwei ganz unterschiedliche
Grundlagen. Eine liegt darin, dass es oft als Kompensation individueller Schwächen oder schwieriger Lebenssituationen empfunden wird, dass man sich eine Erlösungsideologie sucht und ihr nachläuft. Ideologen - jetzt muss
ich allerdings sagen: von links und rechts - nutzen solche
Situationen immer in ungemein starkem Maße. Weltanschauungstransporteure waren und sind immer dadurch
gekennzeichnet, dass sie Menschen schwacher intellektueller Qualität für sich gewinnen.
Beide Vorgänge zeigen einen unglaublichen Bedarf an
wirklicher erzieherischer Qualität. In die deutsche Bildungspolitik darf man wohl wieder die Erkenntnis einführen, dass es in ihr nicht nur auf die Dauer von Schulzeiten, auf die wettbewerbsfähige Hochschullandschaft
und darauf ankommt, ob man die Kinder mit fünf oder
sechs Jahren einschult und ob für die Kindergärten Beiträge gezahlt werden müssen oder nicht. In die Bildungspolitik in einer Demokratie muss die notwendige Erziehung zur Demokratie und zum verantwortungsbewussten
Umgang mit der Freiheit sowie die Wertevermittlung
einziehen. Diese Überzeugung muss man dann auch über
die Fraktionen hinweg vertreten.
({9})
Die gestrige Diskussion hat im Übrigen das ganze Dilemma deutlich gemacht. Es soll doch niemand glauben,
dass man allein mit diesem Hinweis auf den katastrophalen Abschnitt der deutschen Geschichte kulturelle Bindungen, das Empfinden der sprachlichen Heimat der
Deutschen in europäischer Einbettung beseitigen könnte.
Das sind ganz natürliche menschliche Regungen. Es
reicht nicht aus, ihnen nur mit „political correctness“ gegenüberzutreten. Die Sprache als Heimat, die Kulturgeschichte des Lernens in Deutschland - das überwindet,
weil wir Menschen sind, auch diesen katastrophalen Abschnitt.
Den Gefahren, die darin stecken, vorzubeugen und
Wirkung zu erzielen, darauf kommt es an. Das ist ganz entscheidend. Das heißt, wir dürfen ganz bestimmte zivilisatorische Tugenden nicht dem Amüsierbetrieb preisgeben.
({10})
Das sage ich jetzt aber auch einmal zur anderen Seite.
Den Fingerzeig derjenigen, die gestern ihren Zeigefinger
nach rechts erhoben haben und sich sogar dazu verstiegen
haben zu sagen, die Mitte in Deutschland reagiere manchmal fahrlässig so, dass sie rechts begünstigt, würde ich
gerne entgegennehmen, wenn sie sich genauso stark über
den zivilen Ungehorsam von links, über die Blockaden
auf Schienen, über die Aufforderung „Macht kaputt, was
euch kaputt macht“ ereifern. Leider jedoch wendet diese
Seite eine Sprache an, die den Menschen nicht mehr klar
vermittelt, dass Gewalt kein legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ist.
({11})
Die Herausforderung besteht darin, Gesetz und Recht
und ganz bestimmte Tugenden auch gegen die eigenen
Emotionen und eigenen Vorstellungen gelten zu lassen.
Deswegen hört sich meine Fraktion ungern an, wenn uns
von ganz linker Seite moralisierend erzählt werden soll,
wie man Rechts besser begegnet. Jeder muss an seiner
Stelle das Notwendige tun.
({12})
Wolfgang Schäuble hat - darauf will ich abschließend
aufmerksam machen - zu Recht das Ergebnis der badenwürttembergischen Landtagswahl hinsichtlich des Abschneidens der Republikaner begrüßt und gewürdigt. Dieses Ergebnis freut uns alle.
Folgendes will ich auch nach außen sagen: Bürgerinnen und Bürgern waren sich nicht zu fein, zur Wahl zu gehen. Das war im Übrigen auch schon einen Wahlsonntag
vorher Gott sei Dank bei der hessischen Kommunalwahl
der Fall. Ich will hier ausdrücklich den Bürgerinnen und
Bürger danken, die nicht nur in Zimmern, in intellektuellen Kreisen auch uns Bundestagsabgeordneten immer erzählen, was unsere Sache sei. Ich will denen danken, die
dann auch zur Wahl gehen und die Rechten nicht wählen,
({13})
weil es auch manchmal ein Stück politischen Hochmuts in
Deutschland gibt, sich zu fein zu sein, zur Wahl zu gehen,
({14})
von der Politik gar nichts mehr zu halten, dann aber zu räsonieren, was dabei herauskommt, wenn andere für einen
entscheiden, weil man selbst nicht hingegangen ist.
({15})
Diesen Bürgerinnen und Bürgern, die zur Wahl gegangen
sind, sollten wir unseren Dank sagen.
Zum Abschluss eine Überzeugung:
Herr Kollege Gerhardt, Sie haben Ihre Redezeit schon weit überzogen. Ich bitte Sie zum Schluss zu kommen.
Die erste deutsche
Demokratie hatte eine so schöne Verfassung wie die unsrige. Die Weimarer Verfassung war freiheitlich und
rechtsstaatlich. Der Vorteil der zweiten deutschen Demokratie, den wir jetzt erleben: Sie hat eine genügende Anzahl von Persönlichkeiten und Bürgern, die auch zur Verfassung stehen. Darauf kommt es an.
Herr Präsident, es tut mir wirklich Leid, aber das
musste ich noch sagen.
({0})
Als
nächster Redner hat Kollege Roland Claus von der PDSFraktion das Wort.
({0})
Guten Morgen, meine Damen
und Herren! Herr Präsident! Selbstverständlich begrüßt
die sozialistische Opposition im Deutschen Bundestag
({0})
das Zustandekommen dieses Antrages.
({1})
Ich will Ihnen sagen, warum uns das so wichtig ist. An
vorderster Stelle steht dabei die Tatsache, dass all die aktuellen Vorgänge, über die wir hier zu reden haben, mit der
historischen Einzigartigkeit der Verbrechen des NS-Regimes in Verbindung stehen. Hier leistet dieser Beschluss
einen Beitrag gegen das Vergessen, und das ist gut so.
({2})
Meine Damen und Herren, wir sind in einer Situation,
in der die Formel „Wehret den Anfängen!“ nicht mehr zutrifft. Hier will ich mich auch gegen die Einschätzung des
Kollegen Schäuble wenden. Es geht nicht um einzelne
Vorfälle. Es ist deshalb auch nicht richtig, wenn Sie hier
ein Übermaß an Beachtung kritisieren. Es gibt eine schleichende Akzeptanz des rechten Geistes in diesem Lande.
({3})
Mich machen mehr als die offenen und in die Medien geratenden Ereignisse und Vorfälle immer Ereignisse, die
nicht in den Zeitungen stehen, betroffen. Ich möchte Ihnen von einem berichten. Vor einigen Jahren komme ich
in einen Jugendklub. Einige 14-jährige Jungs sitzen dort
mit der „Bild“-Zeitung, die gerade darüber berichtete,
dass Harald Juhnke in den USA einen Farbigen als „Nigger“ bezeichnet hatte und über die Folgen, die das nach
sich zog. Die jungen Leute können die Welt nicht verstehen und stellen die Frage: „Was wollen die denn überhaupt von dem Alten? Das ist doch ein Nigger!“ Das
heißt, in deren Bewusstsein ist überhaupt kein Unrechtsverständnis dafür enthalten. Deshalb sagen wir auch: Gegen Nazis in den Köpfen hilft am meisten Bildung und
Aufklärung.
({4})
Wir haben es inzwischen mit einem Einzug rechten
Geistes in die Alltagskultur zu tun. Ich könnte Ihnen Regionen in Sachsen oder im Ostharz nennen, wo das bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Ich verwahre mich
auch dagegen, von einer „rechten Szene“ zu sprechen.
Das hat immer etwas Verharmlosendes, so etwas wie:
Auch das kommt in der Meinungsvielfalt vor.
Deshalb müssen wir uns mit aller Konsequenz diesen
Aufgaben stellen. Ich meine, der vorliegende Antrag ist
ein großer Schritt. Er ist natürlich für alle Beteiligten ein
Kompromiss. Auch das Ja der PDS-Fraktion ist ein kritisches Ja. Es wird Ihnen nicht anders gegangen sein, als Sie
Teile unserer Forderungen aufgenommen haben. Deshalb
möchte ich den Kolleginnen und Kollegen, die am Zustandekommen dieses Kompromisses mitgewirkt haben,
auch aus der Sicht unserer Fraktion ein sehr herzliches
Dankeschön sagen.
({5})
Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich das an dieser Stelle meiner Kollegin Ulla Jelpke gegenüber besonders tun will, die sich diesem Thema bereits besonders
lange und besonders intensiv zuwendet.
({6})
Bekanntlich standen am Anfang Anträge aller Fraktionen. Ich habe mir die Anträge angeschaut. Sie gingen
sehr weit auseinander. Obwohl ich durch und durch Optimist bin, habe ich am Anfang nicht daran geglaubt, dass
ein solcher gemeinsamer Antrag zustande kommt. Mut
gemacht hat mir dann die gemeinsame Demonstration, zu
der alle im Bundestag vertretenen Parteien aufgerufen
hatten und bei der am 9. November des vergangenen Jahres erfreulicherweise auch Frau Merkel und Herr Stoiber
noch dabei waren. Ich möchte aber auch all jenen danken,
die sich lange vor der offiziellen Politik diesem Problem
zugewandt haben, und finde es deshalb sehr wichtig, dass
im gemeinsamen Antrag auch den Initiativen und Verbänden gedankt wird, die sich mit Kundgebungen, Veranstaltungen und anderem der braunen Pest widersetzt
haben.
({7})
Ich finde, dass auch ein Dank an viele Künstlerinnen
und Künstler angebracht ist, die lange vor der Zeit, zu der
wir hier reagiert haben, auf das Problem aufmerksam
machten. Nennen möchte ich nur das Engagement von
Udo Lindenberg, von Konstantin Wecker, aber auch von
vielen, vielen namenlosen jungen Bands, die in Veranstaltungen von „Rock gegen Rechts“ aktiv geworden
sind.
({8})
Meine Damen und Herren, es wird Sie nicht wundern,
dass wir auch angesichts dieses erfreulichen Beschlusses
kritisch bleiben. Wir wollen schon Beschlusslage und
Realität vergleichen. An einer Stelle wird es da für uns
gewissermaßen peinlich. Vorgestern ist der neue Verfassungsschutzbericht vorgestellt worden. Darin ist unter
dem Thema „Antifaschismus“ bei linksextremistischen
Organisationen der VVN-BdA aufgeführt. Man muss das
natürlich einmal aussprechen, damit man weiß, um welche Organisation es sich handelt. Es ist nämlich die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten.
Ich habe mir einmal die Begründung hierzu angeschaut. In der Begründung steht eigentlich nur, dass sie
aktiv im Kampf gegen Rechtsextremisten auftreten und
dass sie - verkürzt gesagt - gegen eine Gleichsetzung von
links und rechts sind. Wenn man diese Maßstäbe aus dem
Verfassungsschutzbericht anlegt, dann müssten auch die
antragstellenden Fraktionen im nächsten Verfassungsschutzbericht auftauchen. Wir meinen, dieser Anachronismus muss beendet werden.
({9})
Wir wollen, dass der Begriff Antifaschismus aus dem
Verfassungsschutzbericht herausgenommen und in den
gesellschaftlichen Wertekanon aufgenommen wird.
Herr Kollege Claus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Büttner?
Aber ja.
Bitte
schön.
Herr
Kollege Claus, Sie haben gerade den neuen Verfassungsschutzbericht erwähnt. Würden Sie bitte der deutschen
Öffentlichkeit darstellen, dass Sie als PDS, die Mitantragsteller dieses Antrags ist, dort auch verankert sind. Ich
zitiere wörtlich:
Sowohl im Programm wie auch im Statut der PDS ist
auch die Existenz extremistischer Strömungen in der
Partei verankert.
Sind Sie ein glaubwürdiger Partner?
({0})
Herr Kollege, ich habe natürlich auch diese Passage im Verfassungsschutzbericht
gelesen. Ich halte sie für genauso tilgungsbedürftig wie
die Passage über die Antifaschistinnen und Antifaschisten.
({0})
Da es mir hierbei aber um das gemeinsame Anliegen geht,
habe ich nicht damit angefangen, die vergleichsweise
Kleinigkeit, dass die PDS hierin erwähnt wird, aufzuführen. Wir werden das an anderer Stelle tun.
({1})
Im Übrigen, Herr Kollege Büttner, wird der anachronistische Beschluss der CDU/CSU-Fraktion, der heißt „nicht
mit der PDS auf eine Drucksache“, seine Tage bald überlebt haben; das kann ich Ihnen versprechen.
({2})
Herr Kollege Claus, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich will dennoch sagen, dass
wir es für einen Mangel halten, dass die Christdemokraten diesem Antrag nicht beigetreten sind; denn ich glaube
schon, dass das Problem, mit dem wir es hierbei zu tun haben, angesichts seiner Dimension ohne die große demokratische konservative Partei in diesem Lande nicht lösbar sein wird.
Meine Damen und Herren, dieser Beschluss ist ein Anfang und kein Alibi. Vergessen wir nicht: Faschismus und
Neofaschismus, das sind nicht Meinungen, das sind Verbrechen.
Vielen Dank.
({0})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Christel
Hanewinckel von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bei den Demonstrationen
in der DDR im Oktober und November 1989 einte alle
- egal, in welcher Stadt und welchen Alters - ein Wunsch.
Dieser Wunsch hieß, oft vielfältig plakatiert: keine Gewalt.
Nie hätte ich 1989 geglaubt, dass wenige Jahre später
Menschen in den ostdeutschen Städten gehetzt, totgeschlagen und angebrannt würden wegen ihrer Sprache, ihrer Hautfarbe oder weil sie obdachlos sind. Ich hätte auch
nicht geglaubt, dass ein Gesetz gegen die Gewalt in der
Erziehung zehn Jahre brauchen würde, ehe es endlich eine
Mehrheit im Deutschen Bundestag findet. Ich hätte auch
nicht geglaubt, dass die DVU in Sachsen-Anhalt 1998 fast
13 Prozent der Stimmen bekommen würde. Ich hätte auch
nicht geglaubt, dass der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt Anfang 2001 die Zivilcourage
von Bürgerinnen und Bürgern beschämen würde, indem
er die Beendigung der von ihnen initiierten Aktion „Noteingang“ forderte.
Das sind nur einige Beispiele aus ostdeutscher Wirklichkeit. Wir kennen die Zahlen. Sie erschrecken; denn es
ist zum Beispiel kaum vorstellbar, dass 20 Prozent der
Ostdeutschen eine rechtsextreme Einstellung haben und
40 Prozent generell fremdenfeindlich sind. Das ist die
Wirklichkeit, Herr Schäuble. Das ist keine Hysterie.
Wir wissen auch, dass vor allem junge Menschen,
junge Männer - fast noch Kinder - zu rechtsextremen Gewalttätern werden. Wir wissen, dass es bereits in den Städten der DDR Skins und entsprechende rechtsextreme
Gruppen gab, deren Existenz aber in der antifaschistisch
deklarierten DDR verschwiegen worden ist - das haben
alle damaligen Parteien so getan - und nicht offen genannt
werden durfte. Wir wissen auch, dass sich junge und alte
Menschen in Ost und West von der Art und Weise ansprechen lassen, wie sich Politiker diffamierend über Ausländer und Asylbewerber äußern. Die Landtagswahlen in
Hessen haben dies gezeigt; sie sind auf dem Rücken dieser Menschen gewonnen worden.
({0})
Doch nicht nur die Zahl der rechtsextremen Straf- und
Gewalttaten ist gestiegen. Gewachsen sind auch die
intensive öffentliche Debatte und die Bereitschaft, genau hinzusehen, sich gegen rechtsextreme Gewalt,
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit einzusetzen,
sich in Initiativen zusammenzuschließen und durch Demonstrationen deutliche Zeichen zu setzen.
({1})
Gerade in den ostdeutschen Bundesländern gibt es eine
ganze Reihe von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen
und Lehrern, Kirchengemeinden, Eine-Welt-Vereinen
und anderen Organisationen, die in verschiedensten Projekten Integrationsarbeit leisten.
Was ist nötig zu tun? Wir haben das in einem gemeinsamen Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P.
und PDS ausführlich beschrieben. Ich nehme jetzt nur einen einzigen Punkt heraus, nämlich den, dass wir den
neuen Bundesländern für Initiativen und Projekte, die sich
für Toleranz, Demokratie und Integration einsetzen,
10 Millionen DM zur Verfügung stellen:
({2})
5 Millionen DM für die Präventionsarbeit und 5 Millionen
für Initiativen, die Projekte der Opferberatung organisieren. Sie wissen, dass weitere 40 Millionen DM zur Verfügung gestellt werden; darüber haben bereits andere vor
mir berichtet.
Der CDU/CSU-Fraktion kann ich nur deutlich sagen:
Eine Verschärfung des Jugendstrafrechtes brauchen wir
ganz sicher nicht.
({3})
Wir werden unsere Bemühungen lieber darauf konzentrieren, die jungen Menschen zu erreichen, bevor sie
rechtsextrem denken und bevor sie Gewalt anwenden.
Leider haben Sie sich zum Teil auch im Hinblick auf das
Gesetz gegen Gewalt in der Erziehung nicht sehr deutlich
geäußert bzw. dagegen gestimmt.
Was wir auch nicht brauchen, ist die Fortführung der
Debatte über den Stolz. Genau das ist das falsche Signal.
({4})
Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
Deutschlands und seiner Zukunft, die für mich in einem
weltoffenen, integrativen Deutschland liegt, ist angesagt.
Bei der Diskussion über den Sechsten Familienbericht
werden wir noch ausreichend Gelegenheit haben, uns gemeinsam zu überlegen, welche notwendigen Schritte wir
als Politikerinnen und Politiker des Deutschen Bundestages in diesem Zusammenhang einzuleiten haben.
Was wir brauchen, das sind Erwachsene, und zwar
nicht nur Mütter und Väter in den Familien, sondern auch
Politikerinnen und Politiker, die in ihren Reden und in
ihrem Handeln Art. 1 und Art. 3 des Grundgesetzes allen
Menschen gegenüber, die in Deutschland leben, erfahrbar
machen.
({5})
Ein Teil derer, die 1989 in der DDR auf die Straße gegangen sind, sind nicht direkt zur Durchsetzung dieser beiden
Artikel auf die Straße gegangen, sondern deshalb, weil sie
sich für Freiheit, für Menschenwürde und dafür einsetzen
wollten, dass diese Menschenwürde in einem geeinten
Deutschland unantastbar bleibt, egal welcher Abstammung ich bin, welche Hautfarbe ich habe und welche
Sprache ich spreche.
Vielen Dank.
({6})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Marieluise
Beck vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Kollege Schäuble hat soeben zu Recht gesagt: Wir sind
auch ein ausländerfreundliches und weltoffenes Land.
Viele Ausländer in diesem Land haben gute Erfahrungen
im Zusammenleben mit Deutschen gemacht. Bürgerinnen
und Bürger haben diese Sache sozusagen in ihre Hand genommen. Obwohl es keine systematische Integrationspolitik vonseiten der Bundesregierung und vieler Landesregierungen gab, hat es dennoch eine umfangreiche
Integration gegeben, weil die Menschen ihrerseits gehandelt haben.
({0})
Dennoch: Die Wahrheit ist auch, dass sich der überwiegende Teil der Übergriffe von Rechtsradikalen gegen
Ausländer richtet, wobei der Begriff Ausländer eigentlich
gar nicht mehr trennscharf genug ist. Denn letztlich ist
unerheblich, ob die Gewalt einen Schwarzen mit oder
ohne deutschen Pass, ob sie einen eingebürgerten oder
nicht eingebürgerten Türken bzw. eine Türkin trifft. Die
Beleidigungen, die Zurückweisungen, die Ressentiments
und eben auch die Übergriffe richten sich unabhängig
vom Pass gegen alles, was fremd und eben anders ist.
Damit sind wir beim Kern des rechten Denkens: Es
geht darum, alles das auszumerzen, was nicht in homogene Weltbilder passt. Die Moderne ist aber gerade durch
den Verlust von Homogenität gekennzeichnet. Rechtes
Denken heißt aber: Man will alles weghaben, was komplex und vielfältig ist. Einfache Weltbilder, vermeintlich
einfache Losungen und Lösungen sollen Schutz vor Verunsicherung bieten.
Deswegen trifft der Hass auch die Schwulen, die Obdachlosen und natürlich vor allem die, die nicht in völkisches Denken passen, weil sie angeblich gar nicht zum
Volk gehören können, da sie woanders herkommen und
anders aussehen als diese vermeintlichen Durchschnittsdeutschen, die dem Denken der den rechten Milieus angehörenden Menschen entsprechen.
Betrachten wir die Historie: Auch die Juden waren Teil
des deutschen Volkes. Sie wurden aber zu den anderen gemacht. Die Rechten machen viele zu anderen und
schließen damit alle aus, die aus anderen Ländern nach
Deutschland gekommen sind. In unserem Land gibt es
aber seit 40 Jahren Zuwanderung. Es ist ein verheerendes Versäumnis - darüber müssen wir hier auch sprechen -, dass wir diesen Sachverhalt nicht klar benannt
haben und auch nicht gesagt haben, dass mit dieser Zuwanderung Veränderung, das Auflösen von Homogenität,
kulturelle Vielfalt, religiöse Vielfalt und natürlich auch
Verunsicherung verbunden sind. Denn Zuwanderung
bringt Veränderung, und zwar sowohl für die, die kommen, als natürlich auch für die, die schon da sind. Das ist
die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen.
Wenn wir Botschaften wie „Nur die, die hierher kommen, müssen sich anpassen und verändern“ senden,
nähren wir bei denen, die schon hier sind, eine Illusion dahin gehend, dass sie sich nicht auf diesen gemeinsamen
Prozess der Veränderung einlassen müssten. Diese Illusion wäre verheerend. Durch Einwanderung kommt es zu
Veränderungen. Diesem Prozess kann man als Einwanderungsgesellschaft nicht entkommen. Wir sind gut beraten,
darüber auch offen und ehrlich zu sprechen.
({1})
Es tauchen viele neue Fragen auf. Darf eine Frau mit
Kopftuch in Deutschland Lehrerin im Beamtenverhältnis
sein? Wie gehen wir mit dem Widerspruch zwischen den
Tierschutzgesetzen und dem religiösen Gebot des
Schächtens um? Gehört ein Muezzinruf in eine brave
deutsche Gesellschaft? All dies sind Veränderungen, vor
denen wir stehen. Die Rechten wollen sich diesen Veränderungen nicht stellen. Sie wollen sie abwehren und versprechen der Bevölkerung: Wir sorgen dafür, dass ihr
euch diesen Veränderungen nicht stellen müsst.
Nun haben wir in dem heute vorliegenden Antrag von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS festgehalten, dass wir keine Wahlkämpfe oder politischen Auseinandersetzungen mehr auf dem Rücken von Ausländern
bzw. Minderheiten führen wollen. Das ist gut so, wird
aber in der Praxis schwierig, denn es gibt viele politische
Botschaften, die den Bodensatz für rechtes Denken und
ebendiese Abwehr und Ressentiments bilden. Ich erlebe
das in der Praxis täglich. Ich will eine davon nennen.
Wenn wir Politiker sagen, nur 3 Prozent der Flüchtlinge werden als politische Flüchtlinge anerkannt, deswegen sind 97 Prozent Wirtschaftsflüchtlinge, dann nähren
wir Vorurteile in der Bevölkerung, dass alle, die hierher
kommen, Abzocker seien.
({2})
Wenn wir Einwanderungszahlen nennen - 700 000 bis
800 000 pro Jahr - und nicht gleichzeitig die Abwanderungszahlen nennen, die fast genauso hoch sind, nähren
wir in der Bevölkerung das Gefühl, es seien zu viele
Ausländer im Land. Das hat mit der Realität nichts zu tun.
Wenn immer wieder vom Rückzug in Parallelgesellschaften gesprochen wird, obwohl in deutschen Großstädten inzwischen jede dritte Ehe binational ist, dann
nähren wir die Botschaften, die Ausländer wollten sich
gar nicht integrieren, und schüren damit Vorurteile.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja.
Es gibt also jenseits der großen Versprechen viele Botschaften im Kleinen zu überprüfen, die in den politischen
Raum gehen und die den Nährboden für die alltägliche
Ebene von Vorurteilen, Abwertungen, Ressentiments und
Fehlinformationen bilden. Wenn Sie mit Migrantinnen
und Migranten sprechen, werden Sie merken, wie viele
Alltagserfahrungen von Zurückweisung, von Diskriminierung und von Ungleichbehandlung diese gemacht haben. Das sollten wir alle sehr ernst nehmen.
Frau Kollegin Beck, kommen Sie zum Schluss.
Ein Gedanke noch.
Wir müssen lernen, dass sich der Spieß langsam dreht.
Es geht nicht mehr darum, möglichst viele Menschen davon abzuhalten, nach Deutschland zu kommen. Wir sind
an dem Punkt angelangt, wo die Menschen, obwohl wir sie
in Deutschland brauchen, zum Teil sagen: Schönen Dank,
nach Deutschland wollen wir nicht. Der American Field
Service hat sich an die Ausländerbeauftragte gewandt,
weil zunehmend mehr Austauschplätze, die in Deutschland angeboten werden, von jungen Menschen aus dem
Ausland nicht angenommen werden, weil die Botschaft
nach außen dringt, dass es für Ausländer in Deutschland
zumindest ungemütlich, wenn nicht gefährlich ist.
Das können wir nicht akzeptieren. Daher sollten wir
gemeinsam alles dafür tun, dass diese Botschaft im Ausland nicht mehr verbreitet wird.
({0})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter Nooke
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte
Damen und Herren! Frau Hanewinckel, ich finde es gut,
dass wir diese Debatte zu einem Zeitpunkt führen, zu dem
in der Öffentlichkeit offenkundig auch über berechtigten
Stolz gesprochen wird, ein Deutscher zu sein. Ich finde,
wir sollten die Debatte fortsetzen.
Ich will unter der Überschrift der heutigen Debatte einen türkischstämmigen Rechtsanwalt aus Berlin zitieren.
Mit folgenden Worten war das im letzten „Focus“ zu lesen:
„Alles, was ich habe, und alles, was ich bin, verdanke
ich zwei Institutionen: meiner Familie und diesem
Land.“ Deutschland habe ihm „als Sohn türkischer
Einwanderer mit Stipendien ein erstklassiges Studium ermöglicht. Wie könnte ich nicht stolz sein auf
ein Land, das jedem ungeachtet seiner Herkunft diese
Chancen eröffnet.“
Mit Blick auf die unsäglichen Ausfälle des amtierenden
Umweltministers sagte er:
„Leute wie Jürgen Trittin sind heute die wirklich
Ewiggestrigen - Leute, die nicht wahrhaben wollen,
wie sich dieses Land und seine Menschen verändert
haben.“
({0})
Auch solche Einschätzungen eines türkischstämmigen
Einwanderers gehören genau zu dieser Debatte um Extremismus, Gewalt und ausländerfeindliche Übergriffe.
Gleichzeitig gehört dazu auch die Erkenntnis, dass gegen rechtsextreme Gewalt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln des Rechtsstaates vorgegangen werden
muss. Dabei sollten wir uns vom ersten Satz unseres
Grundgesetzes leiten lassen, nämlich „Die Würde des
Menschen ist unantastbar,“ nicht des Deutschen.
({1})
Auch nicht gemeint ist damit, dass wir freundlich zu ausländischen Mitbürgern sein sollen, weil sonst keine Investoren nach Deutschland und insbesondere in die östlichen
Bundesländer kommen. Die Würde des Menschen ist gesetzt. Sie zu achten darf nie, auch in unseren Argumentationsmustern, Mittel für andere Zwecke sein.
({2})
In dem zur Abstimmung stehenden Antrag der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird das Gewaltmonopol des Staates betont. Beides gehört für uns zusammen:
ein objektiver Blick auf die Verhältnisse in unserem Land
und der Einsatz für die Stärkung der Exekutive. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion - so heißt es - setzt sich
dafür ein:
Insbesondere wenn extremistische Gewalttäter
zuschlagen, kann und muss der Staat unverzüglich
handeln. Dabei gibt es keinen Grund zum Zögern aus
falsch verstandener Liberalität.
Unser Antrag geht mit zahlreichen notwendigen Maßnahmen auch auf die einzige Sprache ein, die gewaltbereite
Rechtsextremisten wirklich verstehen: Grenzen rechtzeitig aufzeigen, das heißt, der Staat muss hart, konsequent
und sofort mit repressiven Mitteln einschreiten.
Wer bei dieser Sachlage die Union - manchmal mit nebulösen Formulierungen, manchmal ganz offen - in die
Nähe von rechtsextremistischen Tätern stellen will, der
setzt bei diesem so sensiblen Thema auf Diffamierung des
politischen Gegners. Dahinter zeigt sich meines Erachtens ein Gedankengut, das nur eine andere Form von Extremismus offenbart.
({3})
Marieluise Beck ({4})
Für mich als Ostdeutscher war es schon bemerkenswert, zu beobachten, wie die Diskussion um extremistische Gewalt seit dem Sommer des letzten Jahres geführt
wurde. Vor dem Hintergrund ausländerfeindlicher Übergriffe versuchten manche Politiker von SPD, Bündnis
90/Die Grünen und PDS, der Union die alleinige Verantwortung zuzuschieben. Es wurde nichts unversucht gelassen, rechts mit rechtsextrem gleichzusetzen. Die Ansichten von Konservativen galten als dumpfer Nationalismus.
Auch der ursprüngliche Antrag der PDS ist voll von solchen Anspielungen und offenkundigen Diffamierungen.
Zu Beginn dieses Jahres schwelte im Zusammenhang
mit der Vergangenheit hochrangiger Vertreter dieser Bundesregierung eine geschichtspolitische Debatte. Dabei
sollte wieder einmal die Mär kolportiert werden, dass
Leute, die in den 70er- und 80er-Jahren das Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaats buchstäblich mit den
Füßen traten, für die Entwicklung der Demokratie besonders wertvoll waren.
In der gestrigen Debatte erzählte die Kollegin Kerstin
Müller von den Grünen wieder diese Geschichte. Gleichzeitig wollte sie mit einem Nebensatz die 89er in der DDR
mit den 68ern des Westens auf eine Stufe stellen. Ich kann
nur sagen: Den fundamentalen Unterschied haben Sie
nicht begriffen.
({5})
Wir sprechen hier nicht über die netten, etwas versponnenen Blumenkinder von 1968, sondern über diejenigen, die
den demokratischen Rechtsstaat des Westens infrage
stellten und gleichzeitig große Sympathie für die kommunistischen Regime hegten.
({6})
Vor 1989 hatten viele der so genannten 68er mehr Gemeinsamkeiten mit den Diktatoren als mit denen, die für
Freiheit und Demokratie kämpften.
({7})
Herr Fischer suggeriert die Geschichte, als sei er immer ganz friedlich durch das Frankfurter Westend gelaufen und dabei von Polizisten überfallen und zusammengeschlagen worden.
({8})
Nach entsprechender Nahkampfausbildung musste er sich
Helm und Schlagstock zulegen. Ich stelle mir dabei immer vor: Wie wäre es denn ausgegangen, wenn ein zorniger junger Mann in den 70er-Jahren auf dem Alexanderplatz in Ostberlin gestanden und Helm und Schlagstock
nur getragen hätte? Was wäre passiert, wenn sich im
Herbst 1989 in der Leipziger Innenstadt Demonstranten,
bewaffnet mit Helm, Schlagstock und Molotowcocktails,
versammelt hätten?
({9})
Herr Kollege Nooke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Edathy?
Ich möchte erst zu Ende
reden.
Also
keine Zwischenfrage.
Der Unterschied zwischen dem Gewaltmonopol des Staates in der Demokratie
und in der Diktatur scheint bis heute nicht klar zu sein. Die
aktuelle Diskussion im Zusammenhang mit Castortransporten kann hierbei weiterhelfen.
({0})
In einem Klima, in dem alle, die sich nicht als links bekennen, sofort mit Rechtsradikalen auf eine Stufe gestellt
werden, startete nun Herr Trittin einen Frontalangriff gegen die Union.
({1})
- Hören Sie bitte zu, auch Frau Beck hat davon gesprochen. - Da dies wiederum in einem engen zeitlichen Kontext zu den Landtagswahlen passiert ist, haben Sie dafür
die Quittung präsentiert bekommen. Nun wird der Umweltminister von seinen Parteigenossen kritisiert, aber in
Wirklichkeit nur, weil er eine offenkundige Belastung in
Wahlkämpfen geworden ist.
({2})
Mir geht es aber um etwas anderes: Ich finde es bemerkenswert, dass sich nun viele zu Wort melden und ein
positives Bekenntnis zu dieser ihrer Bundesrepublik
Deutschland abgeben. Ich finde es gut, dass Herr Trittin
hier zumindest etwas bewirkt hat. Dies ist aus meiner
Sicht positiv.
In der gestrigen Debatte, Frau Beck, ist mir aufgefallen, dass wenig auf die Kampagne der Bundesregierung
für Ausländerfreundlichkeit und Toleranz eingegangen
wurde.
({3})
Vor mehreren Monaten wurde von der Bundesregierung
auf Plakaten, die zum Beispiel in Berliner U-Bahnhöfen
gezeigt wurden, mit farbigen Mitbürgern mit dem Satz
„Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ geworben.
({4})
Bundesminister Trittin hat nicht nur den Generalsekretär
der CDU, sondern auch die schwarzen Mitbürger auf den
Plakaten, in die Rassismus- und Skinheadecke gestellt.
({5})
Ich finde, es sollte überlegt werden, ob das nicht nur undankbar gegenüber den Menschen ist, die sich bereit erklären, Werbeagenturen für solche Zwecke zur Verfügung
zu stehen, sondern im Gegenteil die gewünschte
Ausländerfreundlichkeit verhindert.
({6})
Lassen Sie mich noch einen wichtigen Punkt anführen:
Wenn wir über die Ursachen extremistischer Gewalt reden, dann gehören für mich die Erfahrungen in der DDR
und die Beurteilung der Vergangenheit westdeutscher
Zeitgenossen unbedingt zusammen.
Herr Kollege Nooke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Beck oder wollen Sie grundsätzlich keine Zwischenfrage zulassen?
Nein, ich möchte jetzt
keine Zwischenfrage zulassen.
Wer sein Verhältnis zum Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaates nicht geklärt hat, ist kein guter
Ratgeber für den Kampf gegen Rechtsextremismus.
Ich bin dagegen, dass die politische Auseinandersetzung innerhalb des demokratischen Spektrums weiterhin
nach dem wohlfeilen Links-Rechts-Muster der alten
Bundesrepublik geführt wird. Meine Damen und Herren
von der Koalition und der PDS: Hören Sie damit auf, ein
so genanntes Links-Sein gegen ein so genanntes RechtsSein auszuspielen. Wer das Linke nicht nur als das kleinere Übel, sondern das eigentlich Demokratische definiert, leistet dem Kampf gegen den Rechtsextremismus
einen Bärendienst. Das sollten alle wissen. Folgerichtig
steht in unserem Antrag die Forderung nach Toleranz und
Achtung der Menschenwürde an erster Stelle.
Die wehrhafte Demokratie und der wehrhafte Staat sind
die einzige Antwort auf die Untaten von Extremisten.
Ich habe mit Blick auf die in unserem Antrag vorgeschlagenen Präventivmaßnahmen vom Gewaltmonopol
des Staates in der Demokratie gesprochen. Jeder weiß,
dass die Gewaltbereitschaft nicht nur ein Phänomen der
neuen Länder ist. Wir dürfen die Augen aber nicht davor
verschließen, dass dort besonders akute Probleme bestehen. Wir gehen davon aus, dass es für die hohe Zahl gewaltbereiter Jugendlicher in den neuen Ländern komplexe
Ursachen gibt. Ein einfaches Patentrezept dagegen wird
es nicht geben.
Deshalb schlagen wir eine Kombination von präventiven und repressiven Elementen vor. In diesem Zusammenhang muss es eine engagierte Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern geben. Es kann nicht sein, dass
die Länder nur für die direkte Arbeit vor Ort zuständig
sind, während verantwortliche Bundespolitiker mit Prominenten aus der Showbranche nette Lesungen und
Konzerte besuchen. Ich freue mich über das Engagement
der so genannten Promis, die in Hochglanzbroschüren
mit einem Bekenntnis gegen rechts zitiert werden. Das
allein hat aber bisher noch keinen Gewalttäter von seinem Tun abgehalten. Besuche bei der Polizei vor Ort
würden manchmal mehr helfen. Auch das gehört dazu;
gemeinsame Auftritte mit Prominenten reichen nicht
aus.
({0})
Wenn im Zusammenhang mit diesem Thema die neuen
Bundesländer angesprochen werden, darf man nicht übersehen, dass die Entwicklungen etwas mit der Geschichte
der DDR zu tun haben. Gleichwohl sollten wir es uns
nicht so leicht machen, dass wir diese Erscheinungen ausschließlich als Problem der Ostdeutschen wahrnehmen.
An dieser Stelle - insbesondere, weil ich eingangs über
das Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaats
gesprochen habe - will ich noch auf einen Punkt im
ursprünglichen Antrag der PDS eingehen. Es heißt dort:
„Im Osten wirkt sich aus, dass 1990 ein Wertesystem zusammenbrach.“
({1})
Meine Damen und Herren von der PDS, von welchem
Wertesystem reden Sie eigentlich? Reden Sie wirklich
über die DDR, die im Grunde genommen eine weitgehend
ausländerfreie Zone gewesen ist? Reden Sie über ein Wertesystem, in dem den Menschen im Zusammenhang mit
dem Wort Israel - das war obligatorischer Schulstoff und
Honecker unterstützte Arafat bei der Ausbildung von Terroristen gegen die Juden in Israel - ausschließlich negative Assoziationen vermittelt wurden?
({2})
Herr Kollege Nooke, kommen Sie bitte zum Schluss.
Reden Sie wirklich über
die reale DDR, in der nahezu keine Ausländer lebten?
({0})
Wenn Ausländer zeitweise ins Land geholt wurden,
dann nur deshalb, weil sie als Arbeitskräfte gebraucht
wurden.
({1})
Den vietnamesischen Frauen war es beispielsweise
verboten, schwanger zu werden. Wenn sie es doch wurden, mussten sie abtreiben. Wenn sie sich weigerten abzutreiben, wurden sie auf eigene Rechnung in ihr Heimatland zurückverfrachtet und waren dort geächtet.
Außerdem waren sie kaserniert untergebracht.
Herr Kollege Nooke, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen.
Ich denke, unter diesen
Bedingungen konnten wir den Antrag nicht gemeinsam
mit der PDS stellen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den anderen
Fraktionen, unter diesen Umständen muss ich doch die
Frage stellen, ob die Kollegen von der PDS es bis heute
nicht besser verstanden haben oder bis heute heucheln.
({1})
Deshalb machen wir nicht mit.
Danke.
({2})
Für die
Bundesregierung hat jetzt das Wort der Parlamentarische
Staatssekretär Professor Dr. Eckhart Pick.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Die heutige Debatte ist wichtig. Selbst wenn es
keinen gemeinsamen Antrag gegeben hat, ist es wichtig,
heute Gesicht zu zeigen und deutlich zu machen, dass der
Bundestag gegen jede Form von Gewalt ist und dass Taten von Rechtsextremisten, wie wir sie in der Vergangenheit kennen gelernt haben, die Prinzipien unserer Verfassung verletzen. Die Rechtsextremisten treten die Würde
des Menschen buchstäblich mit Füßen. Aus diesem
Grunde dürfen wir Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit keinen Raum geben. Wir müssen rechtsextremen Gewalttätern Taten entgegenstellen.
Um das Klima für ein friedliches Zusammenleben der
Menschen in Deutschland zu verbessern, haben das Bundesministerium des Innern und das der Justiz gemeinsam
das „Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen
Extremismus und Gewalt“ initiiert. Mittlerweile haben
sich über 800 Organisationen und Initiativen diesem
Bündnis angeschlossen.
({0})
Dieses Bündnis macht für alle sichtbar: Unsere Verfassung lässt rechtsextremer Gewalt, Antisemitismus und
Fremdenfeindlichkeit keinen Raum. Durch vielfältige öffentliche Aktionen wird das immer wieder in Erinnerung
gerufen. Gerade der gesellschaftliche Beitrag ist für mich
ganz wichtig, um Extremismus und Fremdenfeindlichkeit
in der Bevölkerung dauerhaft zu bekämpfen.
({1})
Häufig werden die Ursachen für Gewalt aber schon
ganz früh gesetzt. Wir wissen, dass Kinder, die geschlagen wurden, später selbst häufig Gewalt als Mittel zur
Lösung von Konflikten einsetzen. Um rechtsextreme
Jugendgewalt zu bekämpfen, muss Gewalt in der Erziehung generell geächtet werden.
({2})
Hier hat die Bundesregierung mit dem vom Bundestag bereits beschlossenen Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der
Erziehung einen wichtigen Beitrag geleistet. Aber auch
der Aktionsplan „Gewalt gegen Frauen“ sowie der
Gesetzentwurf, mit dem Frauen vor Übergriffen ihrer
früheren Partner besser geschützt werden sollen, gehören
in diesen Zusammenhang.
({3})
Neben der Prävention gilt aber auch: Rechtsextremistisch motivierte Straftaten müssen angemessen verfolgt
und bestraft werden. Das geltende Strafrecht stellt die notwendigen gesetzlichen Instrumente zur Verfügung, um
solche Straftaten angemessen ahnden zu können. Aber
häufig sind rechtsextreme Gewalt, Fremdenfeindlichkeit
und Antisemitismus auch als Angriff auf die Sicherheit
der Bundesrepublik insgesamt zu werten. Daher ist es gut,
dass der Generalbundesanwalt in entsprechenden Fällen
solche Verfahren an sich zieht, wie es im Fall Eggesin geschehen ist. Seine Zuständigkeit für diesen Fall wurde
vom Bundesgerichtshof ausdrücklich bestätigt.
Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt zu sprechen kommen, der vorhin schon angesprochen worden ist,
nämlich die Frage, inwieweit rechtsextremistische
Straftaten, die via Internet verübt werden, in Deutschland
verfolgt werden können, wenn der Täter im Ausland die
Tasten seines Computers drückt. Die Entscheidung des
Bundesgerichtshofs vom letzten Jahr, dass solche Straftaten auch dann, wenn sie vom fernen Ausland aus begangen werden, in Deutschland zu verfolgen seien, ist ein wesentlicher Fortschritt, um solche Delikte bestrafen zu
können, und entspricht der von der Bundesregierung
schon immer vertretenen Auffassung.
({4})
Meine Damen und Herren, wir müssen auch an die Opfer von rechtsextremistischen Taten denken. Deswegen
sind wir dem Bundestag dankbar, dass er dem Bundesjustizministerium entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt hat, um in Härtefällen für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt einen zusätzlichen Ausgleich zu
bieten, der über den Rahmen der bisherigen Möglichkeiten hinausgeht. Im Moment werden wir von Anträgen
überhäuft; das zeigt, dass das ein richtiger Ansatz des
Bundestages war. Deswegen bedanke ich mich auch an
dieser Stelle noch einmal für diese Tat der Humanität; wir
können den damit verbundenen Auftrag jetzt entsprechend ausführen.
Vielen Dank.
({5})
Für die
Bundesregierung spricht jetzt der Bundesminister Otto
Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern habe ich den
Verfassungsschutzbericht vorgelegt; ich verweise auf
die dortigen Darstellungen, was die Entwicklung des
Rechtsextremismus in unserem Lande angeht.
Ich stimme Herrn Kollegen Schäuble zu, dass wir uns
bemühen müssen, die Fakten richtig darzustellen und
auch Steigerungsraten nicht von vornherein so zu verstehen, dass sie eine Vermehrung rechtsextremistischer
Straftaten in jeder Hinsicht darstellen müssen. Es kann in
dieser Steigerungsrate auch zum Ausdruck kommen was ich begrüße -, dass nämlich die Bürgerinnen und
Bürger aufmerksamer geworden sind und ihr Anzeigeverhalten verändert haben und dass auch die Strafverfolgungsorgane sehr viel genauer hinsehen. Das wäre dann
insoweit ein begrüßungswerter Tatbestand, wenn rechtsextremistische Straftaten aus dem Dunkelfeld in das
Hellfeld kommen und die notwendigen Sanktionen erhalten.
({0})
Ich habe oft genug über notwendige repressive Maßnahmen gesprochen. Ich freue mich darüber, dass von allen Seiten des Hauses das Gewaltmonopol des Staates
angesprochen wird. Selbstverständlich müssen Polizei,
Justiz und Staatsanwaltschaft ihre Verantwortungen
wahrnehmen; wir müssen auch die Verbotsmaßnahmen
konsequent umsetzen. Wir können auch in aller Offenheit
über die Frage reden, ob das gegenwärtig geltende
Versammlungsrecht veränderungsbedürftig ist oder
nicht. Nur, Herr Schäuble, Sie müssen beachten, dass die
Verfassung uns sehr enge Grenzen setzt, denn die Versammlungsfreiheit ist ein hohes demokratisches Gut. Es
steht am Anfang der Demokratie und deshalb müssen wir
in dieser Frage sehr sorgfältig vorgehen.
({1})
Ich will meine Zeit heute im Wesentlichen dazu nutzen,
einige Hinweise zur Prävention zu geben, ohne Anspruch
auf Vollständigkeit. Was rechtsextremistische Sachverhalte angeht, müssen wir, glaube ich, ein wenig tiefer gehen. Ich meine, wir haben auch eine Verantwortung für
unser Handeln, wir haben aber auch eine Verantwortung
für unser Denken und unsere Sprache. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Denken und der Wirklichkeit. Man kann es vereinfacht so sagen: Die Gedanken
von heute sind die Tatsachen von morgen. Wer den Menschen nur als beliebig manipulierbares Zellgewebe versteht, muss sich nicht wundern, wenn das an anderer
Stelle zur geistigen Verwüstung und seelischen Verwahrlosung führt. Die Würde des Menschen, meine Damen
und Herren, darf nicht eine hohle Phrase sein, sondern
verweist auf Erkenntnisfragen, denen wir uns stellen müssen.
Wir haben auch eine Verantwortung für die Bilder.
Wenn tagtäglich Kindern und Jugendlichen im Fernsehen,
in Videos, in Filmen die brutalsten Gewaltszenen entgegengebracht werden, können wir nicht überrascht sein,
dass Jugendliche und Kinder der Gewalt verfallen.
({2})
Wenn über das Internet die abscheulichste rechtsextremistische Propaganda verbreitet wird, darf sich niemand
erstaunt zeigen, dass diese Propaganda in Gewaltakten in
der Wirklichkeit ankommt.
Zu den wichtigsten Maßnahmen der Prävention, meine
Damen und Herren - ich glaube, das ist unsere gemeinsame Überzeugung - gehört das Engagement für Erziehung. Und lassen Sie mich etwas jenseits meiner Zuständigkeiten an dieser Stelle sagen: Wir müssen dem Bildungs- und Wissenshunger der Kinder und Jugendlichen,
der durchaus vorhanden ist, mehr entgegenkommen, als
es bisher der Fall ist.
Und ich will nun ein Beispiel unter vielen nennen - das
mögen Sie als eine Simplifizierung der Debatte missverstehen -: Gehen Sie einmal in die Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin - eine sehr gute Bibliothek für Kinder
und Jugendliche - und schauen Sie einmal, wie diese Bibliothek unter Geldmangel leidet, was die Kinder und Jugendlichen dort vorfinden, wie sie Schlange stehen müssen und wie eine solche Bibliothek ausgestattet ist. Das
mag für Sie vereinfachend sein. Aber wenn wir den Kindern kein Bildungsangebot machen, dann müssen wir uns
nicht wundern, wenn die Kinder geistig und seelisch verwahrlosen.
({3})
Ich habe das oft wiederholt. Ich will auch an der Stelle
sagen: Wer in der Erziehung von Jugendlichen und Kindern die musische Erziehung vernachlässigt,
({4})
der muss sich nicht wundern, wenn dabei kaltherzige und
brutale Charaktere herauskommen.
({5})
Aus das ist wichtig. Ich bin sehr dafür, dass jedes Kind einen Zugang zum Computer hat. Aber vielleicht wäre es
auch gut, wenn jedes Kind Zugang zu einem Musikinstrument hätte.
({6})
Wir müssen uns für Begegnung engagieren. Wir alle
wissen aus unserer Erziehung und aus unserer Jugendzeit,
dass einfach die Begegnung mit Menschen fremder Herkunft eine ganz entscheidende ist. Deshalb unterstütze ich
den Vorschlag des niedersächsischen Justizministers
Pfeiffer, dass wir den Jugendlichen in den neuen Bundesländern mehr Begegnungen mit Fremden ermöglichen
müssen. Wir brauchen ein großes Programm des Jugendaustausches für die neuen Bundesländer.
({7})
Wichtig ist auch - das ist ebenfalls eine präventive
Maßnahme -, dass wir bei diesem Thema zusammenbleiben, dass es den Konsens der Demokratinnen und Demokraten gibt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle allen
Fraktionen dafür danken, dass sie sich gemeinsam zusammengeschlossen haben und im „Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt“ engagieren. Es heißt übrigens nicht „gegen rechten
Extremismus und Gewalt“, sondern „gegen Extremismus
und Gewalt“. Dafür bedanke ich mich bei allen Fraktionen, dass sie sich in diesem Bündnis engagieren.
({8})
Bei aller Polemik, die auch ich kenne und die man ertragen muss, sollten wir uns bemühen, dass die Fairness
in der demokratischen Auseinandersetzung die Oberhand
behält und dass wir uns trotz unterschiedlicher Meinungen wechselseitig Respekt entgegenbringen. Bekanntlich
hat das Bundesinnenministerium eine Plakatkampagne
im Zusammenhang mit diesem Bündnis gestartet. Auf den
Plakaten heißt es: „Du willst RESPEKT. Ich auch.“ So
sollte auch die Haltung unter den Fraktionen sein.
({9})
Wir sollten uns vielleicht auch um die Fähigkeit zum Innehalten und zur Selbstprüfung bemühen. Es ist vielleicht
gar nicht schlecht, wenn jeder versucht, vor der eigenen Tür
zu kehren. Deshalb meine ich den Hinweis nicht unterlassen zu sollen, dass wir uns um die Genauigkeit der Wortwahl kümmern müssen. Ich stimme Herrn Nooke zu, wenn
er sagt: Das Thema ist nicht Kampf gegen rechts, sondern
Kampf gegen Rechtsextremismus, ganz eindeutig.
({10})
Es steht außer Zweifel, dass man eine rechte Position
innerhalb des demokratischen Bogens vertreten kann. Das
werde ich nie infrage stellen. Wenn jemand den Satz sagt,
er sei stolz, ein Deutscher zu sein, sollten wir ihm nicht
unterstellen, dass er damit etwa zum Ausdruck bringen
will, er sei auch auf das stolz, was sich an schlimmen Dingen in der deutschen Geschichte zugetragen hat.
({11})
- Vorsicht, Herr Marschewski, klatschen Sie nicht zu
früh. -An die Adresse der rechten Seite des Parlaments füge
ich hinzu: In Deutschland führt jede Politik, die auch nur den
Anschein des Nationalismus annimmt, ins Verderben.
({12})
Dazu hat Sebastian Haffner, dessen Patriotismus über
jeden Zweifel erhaben ist, etwas aufgeschrieben, was als
Mahnung dienen kann. Erlauben Sie mir, Ihnen das vorzutragen. Er schreibt:
Nationalismus als nationale Selbstbespiegelung und
Selbstanbetung ist sicher überall eine gefährliche
geistige Krankheit, fähig, die Züge einer Nation zu
entstellen und hässlich zu machen, genau wie Eitelkeit und Egoismus die Züge eines Menschen entstellen und hässlich machen.
Aber nirgends hat diese Krankheit einen so bösartigen und zerstörerischen Charakter wie gerade in
Deutschland, und zwar, weil gerade Deutschlands innerstes Wesen Weite, Offenheit, Allseitigkeit, ja in einem bestimmten Sinne Selbstlosigkeit ist. Bei anderen Völkern bleibt Nationalismus, wenn sie davon
befallen werden, eine nebensächliche Schwäche, neben der ihre eigentlichen Qualitäten erhalten bleiben
können. In Deutschland aber, wie es sich trifft, tötet
gerade Nationalismus den Grundwert des nationalen
Charakters.
Dies erklärt, warum die Deutschen - in gesundem Zustand zweifellos ein feines, empfindungsfähiges und
sehr menschliches Volk - in dem Augenblick, wo sie
der nationalistischen Krankheit verfallen, schlechthin
unmenschlich werden und eine bestialische Hässlichkeit entwickeln. Ein Deutscher, der dem Nationalismus verfällt, bleibt kein Deutscher mehr.
Das sollten wir uns alle merken.
Vielen Dank.
({13})
Ich
schließe die Aussprache.
Ich möchte noch eine Bemerkung zur Debatte machen.
Es ist heute aufgrund bestimmter Umstände dazu gekommen, dass am Schluss der Debatte zwei Mitglieder der
Bundesregierung hintereinander gesprochen haben.
({0})
Das ist nicht erwünscht. Unsere Geschäftsordnung
sieht gemäß § 28 Abs. 1 ausdrücklich vor, dass nach der
Rede eines Mitglieds der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen soll. Ich möchte daher
die Parlamentarischen Geschäftsführer bitten, in Zukunft
dafür zu sorgen, dass die Rednerreihenfolge - unabhängig
von den Wünschen der Mitglieder der Bundesregierung entsprechend festgelegt wird. Vielen Dank für Ihr Verständnis.
({1})
Es liegt eine Erklärung zur Abstimmung der Kollegin
Ulla Jelpke nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die wir
zu Protokoll nehmen.1)
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Tagesordnungspunkt 14 a: Beschlussempfehlung des
Innenausschusses auf Drucksache 14/5695. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der
SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der F.D.P. und der
PDS „Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit,
Antisemitismus und Gewalt“, Drucksache 14/5456. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen, der F.D.P. und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei einer Enthaltung aus den Reihen der PDS
angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Nachhaltige
Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit“, Drucksache 14/4067. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU und bei Enthaltung der F.D.P. angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen „Gegen Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt“ für
erledigt zu erklären, Drucksache 14/3516. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung den Antrag der Fraktion der
F.D.P. mit dem Titel „Rechtsextremismus entschlossen
bekämpfen“ für erledigt zu erklären, Drucksache
14/3106. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e
seiner Beschlussempfehlung den Antrag der Fraktion der
PDS mit dem Titel „Handeln gegen Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und daraus resultierender
Gewalt“ für erledigt zu erklären, Drucksache 14/4145.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 14 b: Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU „Bekämpfung des politischen Extremismus“,
Drucksache 14/1556. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/295 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen
der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Gesetz zur Neuordnung des
Gerichtsvollzieherkostenrechts - GvKostRNeuOG - Drucksachen 14/3432, 14/4913, 14/5385,
14/5685 Berichterstattung:
Abgeordneter Eckart von Klaeden
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das
ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Das ist auch nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die
Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 14/5685. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der PDS angenommen; die PDS hat dagegen gestimmt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({3}) zu dem Ersten Gesetz zur Änderung
des Gesetzes über die Verarbeitung und Nutzung der zur Durchführung der Verordnung
({4}) Nr. 820/97 des Rates erhobenen Daten
- Drucksachen 14/4721, 14/5142, 14/5384,
14/5686 Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm Schmidt ({5})
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das
ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen ge-
wünscht? - Das ist auch nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord-
nung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die
Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für
die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
auf Drucksache 14/5686? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der
PDS
Kriegsbilanz
- Drucksachen 14/3047, 14/5677 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die PDS zehn
Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 2
Ich eröffne die Aussprache. Für den Antragsteller, die
PDS-Fraktion, hat als erster Redner der Kollege Wolfgang
Gehrcke das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hält als
ihr Fazit des Krieges fest, der Sturz von Milosevic habe
den Weg für eine friedliche multiethnische Entwicklung
des Balkans geöffnet. Damit rechtfertigt die Bundesregierung den Krieg.
Das ist falsch und dürftig. Selbst wenn man einen Zusammenhang zwischen dem Sturz von Milosevic und dem
NATO-Krieg unterstellt - dem ist nicht so.
({0})
In Jugoslawien hat das Volk und haben nicht die Bomben
der NATO Milosevic abgewählt. Das ist die Wahrheit, die
man hier festhalten muss.
({1})
Selbst wenn man einen Zusammenhang unterstellt,
zeigt ein Blick auf Mazedonien, den Kosovo, Südserbien,
ein Blick auf erneute Flucht, Vertreibung und Gewalt,
dass der Krieg viel zerstört und nichts gelöst hat.
({2})
Richtiger wäre aus meiner Sicht die Bilanz: Die Bundesregierung steht vor den Trümmern ihrer Balkanpolitik.
Außenminister Fischers Kriegsbilanz ist die Erkenntnis, man habe zu spät militärisch eingegriffen. Was heißt
denn das? Das kann man doch nur so verstehen, dass die
Schwelle zum Krieg, die Schwelle für militärisches Eingreifen gesenkt werden soll. Das muss man ablehnen, dagegen muss man sich einsetzen.
({3})
Wir schlussfolgern das Gegenteil. Menschenrechte,
Frieden und gute Nachbarschaft auf dem Balkan können
nicht durch Krieg erzwungen werden. Wir brauchen nicht
mehr Militär, wir brauchen mehr Politik, wir brauchen die
Mitsprache der Bevölkerung, auch unserer Bevölkerung, über die Außenpolitik.
({4})
Mit dem Krieg gegen Jugoslawien hat die Bundesregierung dreifach Recht gebrochen: das Völkerrecht, internationale Verträge wie den Zwei-plus-Vier-Vertrag,
und das Grundgesetz, unsere Verfassung. Auch das muss
hier festgehalten werden.
({5})
Wir halten als Bilanz fest: Am Ende der Nachkriegszeit
hat Deutschland seine Größe und Souveränität nicht dazu
genutzt, das Recht zu stärken, sondern dazu, das Recht
des Stärkeren durchzusetzen.
Das ist auch Inhalt der neuen NATO-Strategie, die wir
abgelehnt haben. Die Bundesregierung hat viele und immer wieder neue, andere Gründe für den Krieg angeführt.
Bündnistreue oder Bündnisverpflichtungen waren eine
Konstante. Richtiger wäre aber: Ohne die Zustimmung
der Bundesregierung hätten andere europäische Staaten
nicht mitgemacht. Selbst die Weltmacht USA hätte ohne
europäischen Partner keinen Krieg auf unserem Kontinent geführt.
Auf die Bundesregierung kam es an. Sie war das Zünglein an der Waage. Deswegen trägt sie auch eine besondere Verantwortung für den Krieg, aus der sie keiner entlassen wird.
({6})
Auf die Frage der PDS nach den zivilen Opfern des
Krieges antwortete die Bundesregierung, dazu lägen ihr
keine Erkenntnisse vor.
({7})
Die NATO hat atomar abgereicherte Munition benutzt.
Jeder weiß, dass sie Städte, Märkte, Brücken, einen Fernsehsender, sogar Flüchtlinge bombardiert hat. Menschen
wurden zu Kollateralschäden. Menschen - Serben, Albaner wie das Volk der Roma, dessen Exodus aus dem Kosovo mit dem Krieg begonnen hat -, das waren die Opfer
des Krieges und über diese muss hier geredet werden.
({8})
Wir halten fest: Die NATO hat das so genannte humanitäre Kriegsrecht gebrochen, etwa die Haager Landkriegsordnung oder die Genfer Konvention. Einige
hier im Bundestag und in der Bundesregierung, Herr
Außenminister, haben versucht, die PDS als Komplizen
Milosevics abzustempeln, wider besseres Wissen. Es
war und ist bekannt: Die PDS hat den Nationalismus
Milosevics öffentlich kritisiert, die Menschenrechtsverletzungen, die Vertreibung, den Mangel an Demokratie.
Wir waren und sind Gegner des Nationalismus, ob er nun
serbisch, kroatisch, albanisch oder - das füge ich hinzu deutsch ist. Der wie immer begründete Nationalismus
findet unsere Gegnerschaft.
({9})
Aber wenn wir schon in der Geschichte des Krieges
zurückgehen: War der serbische, albanische oder kroatische Nationalismus nicht auch eine der Folgen der Zerschlagung Jugoslawiens und der Preis dafür? Daran war
Deutschland nicht unbeteiligt. Krieg ist der Nährboden
für Nationalismus. Ich fürchte, dieser Krieg gegen Jugoslawien trägt den Keim neuer Kriege in sich, wenn wir
nicht dagegen kämpfen.
({10})
Die PDS - lassen Sie mich das abschließend sagen war und ist gegen den Krieg. Wenn wir in diesem Hause
schon über Stolz reden, dann sage ich dazu: Darauf bin ich
stolz.
Herzlichen Dank.
({11})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Eberhard Brecht von
der SPD-Fraktion das Wort.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist
durchaus legitim, wenn man nach zwei Jahren eine Bilanz
des Kosovo-Konflikts vorlegt und darüber debattiert,
was herausgekommen ist, zumal in der Öffentlichkeit die
Beteiligung Deutschlands an dieser Auseinandersetzung
damals hoch emotional diskutiert worden ist, da doch die
NATO zum ersten Mal mit Beteiligung der deutschen
Bundeswehr interveniert hat. Wenn wir ehrlich sind - ich
kenne viele Stellungnahmen aus diesem Haus -, ging der
Riss nicht nur durch die öffentliche Meinung, sondern
mitunter durch uns selbst.
Eine Bilanz, Herr Gehrcke, kann jedoch nur dann einen
Anspruch auf Redlichkeit erheben, wenn sie auch die Alternative des Weiterverhandelns mit Milosevic bis zum
Tag X und des Nichthandelns der NATO einbezieht.
({0})
So muss man sich unvoreingenommen auch die Frage
stellen, ob denn Slobodan Milosevic, der immerhin der
Hauptverantwortliche für die Vertreibung von Millionen
von Menschen und für mehr als 100 000 Tote auf dem
Balkan war, ohne äußeren Druck mit der Vertreibung und
Ermordung von Kosovo-Albanern aufgehört hätte. Das
gehört zur Redlichkeit dazu.
({1})
Aber redlich kann auch nur eine Bilanz der NATO-Luftangriffe sein, wenn man sich seriöser Quellen bedient. Ich
empfehle Ihnen den ausführlichen OSZE-Bericht „Kosovo/Kosova. As Seen, As Told“ und den Bericht der Independent International Commission on Kosovo, die mit
einer Vielzahl von Menschenrechtsorganisationen vor Ort
zusammengearbeitet hat. Herr Kollege Lippelt hat in der
letzten Debatte darauf hingewiesen, mit welch hochrangigen Leuten diese Kommission besetzt ist. Ferner denke ich
an seriöse Berichterstatter des öffentlichen Fernsehens und
der Zeitungen wie Matthias Rüb, die seit Jahren fundierte
Berichte über den Balkan liefern und sehr viel zur Information beigetragen haben. Im Gegensatz zu diesen gründlichen Recherchen werden die Bürgerinnen und Bürger
unseres Landes derzeit mit einer Desinformationskampagne konfrontiert - ich will nicht sagen: von ihr überrollt -,
die nicht nur von einigen Enthüllungsjournalisten, sondern
auch von der PDS getragen wird.
({2})
Herr Gehrcke, Sie haben eben die Richtigkeit Ihrer
Thesen anhand der Antworten der Bundesregierung auf
Ihre Große Anfrage zu untermauern versucht. Ich werde
mich dagegen einmal mit Ihren Fragestellungen befassen,
die fast interessanter sind. Sie verraten nicht nur die
Ignoranz der PDS gegenüber den von mir erwähnten
Quellen - viele Ihrer Fragen wären ja schon beantwortet
gewesen, wenn Sie einmal in sie hineingeschaut hätten -,
({3})
sondern sie verraten auch eine erstaunliche ideologische
Befangenheit beim Herangehen an dieses Problem.
({4})
Da wird zum Beispiel mit Hinweis auf das von serbischer Seite massiv verletzte Holbrooke-Milosevic-Abkommen im Oktober 1998 und auf die Verhandlungen in
Rambouillet im Februar 1999 - Stichwort Annex B - der
Popanz aufgebaut, die Bundesrepublik sei zusammen mit
der NATO geradezu darauf versessen gewesen, in diesen
Krieg einzugreifen. Dagegen sprechen eindeutig die von
der Bundesregierung zum wiederholten Male vorgebrachten Fakten, über den Ablauf der Verhandlungen in
Rambouillet.
Herr Gehrcke, wenn Sie der Bundesregierung nicht
trauen und ihr Unwahrheit unterstellen, dann fragen Sie
sich doch einmal, was eine rot-grüne Regierung bewegen
kann, einen solchen Schritt zu machen. Glauben Sie denn,
ein Finanzminister, dem die Bürger jeden Tag sagen, er
müsse den Haushalt konsolidieren, gibt freiwillig
765 Millionen DM für ein solches Engagement aus? Ich
will gar nicht davon reden, welcher Betrag für UNMIK,
den Stabilitätspakt, die Hilfsorganisationen und auch die
Flüchtlinge aufgewendet worden ist. Und was soll ein
Außenminister Fischer von den Grünen, der von einer
mehr pazifistischen Basis getragen wird, davon haben,
sich auf ein solches Abenteuer einzulassen?
Meine Damen und Herren von der PDS, ich werde einfach den Verdacht nicht los, dass zumindest einige von Ihnen noch der alten leninschen Imperialismustheorie anhängen. Ich habe ja vor 30 Jahren auch noch lernen
müssen, dass die BRD die aggressivste Form des Imperialismus Europas ist. Entschuldigen Sie, ich glaube, da
haben Sie noch etwas zu lernen.
Lassen Sie mich aus der Palette der PDS-Unterstellungen noch eine weitere herausgreifen. Ihr Vorwurf, die internationale Gemeinschaft betreibe eine antiserbische
Politik, gipfelt in der in einer Ihrer Fragen enthaltenen Behauptung, die NATO habe einen Krieg gegen das serbische
Volk geführt und dabei gezielt serbische Krankenhäuser,
Schulen und Altersheime als Angriffsziele ausgewählt.
Meine Damen und Herren, wenn dies so wäre, müsste
ich mich über Ihre Großzügigkeit wundern, zusammen
mit einigen hundert Kriegsverbrechern in diesem Parlament weiterhin Politik zu machen.
({5})
Im Übrigen ist eine solch ungeheuerliche Behauptung für
mich neu. Ich habe dies bisher nur aus den Reihen des
Milosevic-Clans gehört. Auch bei den vielen Gesprächen
in Montenegro und auch in Serbien habe ich einen solchen
Vorwurf - bei aller Kritik an der NATO - noch nie gehört.
Betrachten Sie doch einmal die angesichts der massiven Luftangriffe relativ niedrige Zahl ziviler Opfer, auch
wenn natürlich jedes Opfer schlimm genug ist. Es ging
der NATO um das Ende der hunderttausendfachen Vertreibung von Kosovo-Albanern, um ein Ende der ethnisch
motivierten Morde und um die Voraussetzungen für die
Durchsetzung der in der Charta von Paris niedergelegten
Werte wie Demokratie und Minderheitenschutz.
Noch mehr wird die These der PDS durch das Verhalten der Europäischen Union nach der Demokratisierung
in Serbien, also nach dem Sturz von Milosevic, widerlegt.
Mit der raschen humanitären Hilfe für die serbische
Bevölkerung und auch mit der sofortigen Einbeziehung
Serbiens in den Stabilitätspakt haben wir uns - umgekehrt bei den Nachbarstaaten Jugoslawiens sogar den Vorwurf
eingehandelt, wir würden den einstmals verlorenen Sohn
Belgrad nun mit Zuwendungen überschütten. Ich glaube,
diese Aussage spricht für sich.
Meine Damen und Herren, Sie werden sich nicht wundern, dass meine Bilanz unseres Balkan-Engagements etwas anders aussieht als die von Herrn Gehrcke. Wir haben
als Europäer und als Deutsche eine bittere Lektion lernen
müssen: Wo Diktatoren vom Krieg mehr profitieren als
vom Frieden, sind als Ultima ratio Zwangsmaßnahmen
erforderlich, damit anschließend Frieden in einem zivilen
Aufbauprozess langsam wieder wachsen kann. Ich unterstreiche das, was unser Kollege Schwarz-Schilling immer
wieder behauptet hat: Es hätte vermutlich weitaus weniger Opfer und weitaus weniger Hass gegeben, wenn der
als Kriegsverbrecher angeklagte Slobodan Milosevic
schon früher hätte gestoppt werden können.
({6})
Herr Kollege Brecht, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Grehn?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Brecht, Sie haben in Ihren Ausführungen sehr deutlich darzustellen versucht, dass die Einschätzung der PDS, von der Sie annehmen, dass sie Hintergrund der Fragen sei, eine völlig
abgehobene Beurteilung allein seitens der PDS sei.
({0})
Ich frage Sie: Haben Sie die WDR-Sendung hierzu gesehen? Sind Sie der Meinung, dass das eine Sendung war,
die auf der Grundlage der PDS-Positionen stattgefunden
hat oder dass gar die PDS dies initiiert hat?
({1})
Wie bewerten Sie die Tatsache, dass es eine völlig unabhängige Einschätzung gibt, die sich von dem, was Sie bisher dargestellt haben, unterscheidet?
Lieber Herr Grehn, wir
haben über diese WDR-Sendung schon einmal an einem
Freitag hier im Bundestag diskutiert. Sie haben in der
Zwischenzeit vielleicht auch in der Presse gelesen, wie
diese Sendung zustande gekommen ist.
Ich sage Ihnen an dieser Stelle klipp und klar: Wenn ich
WDR-Intendant wäre, würde ich mich von diesen beiden
Herren trennen, denn ihre Arbeit steht nicht in Übereinstimmung mit dem Ethos eines Journalisten.
({0})
Herr Grehn, ich kann Ihnen die Belege bringen, wie zum
Beispiel Herr Loquai zu diesen Aussagen zu Racak gekommen ist und wie die Befragung von Herrn Werth und
von Herrn Angerer bei Racak gewesen ist. Das alles ist
dokumentiert. Ich glaube, der WDR sollte die Kraft haben, sich von solchen Journalisten zu trennen.
Eine zweite Lektion: Die Überwindung des Hasses und
der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen im Kosovo
werden der internationalen Gemeinschaft mehr Zeit, mehr
Kraft und möglicherweise auch mehr Finanzen abverlangen, als wir dies am Anfang angenommen haben. Die Alternative wäre das Wiederaufflammen des Krieges, und
zwar nicht in einem so begrenzten Maß, wie es jetzt in Südserbien und Mazedonien geschieht, sondern in einem größeren Maße. Ich glaube, von diesen Folgen wäre auch
Deutschland unmittelbar und mittelbar betroffen. Daher gilt
an dieser Stelle mein Dank allen, die daran beteiligt sind,
diesen zivilen Aufbauprozess voranzutreiben; aber nicht nur
der Dank, sondern auch die Ermutigung zum Weitermachen
für die KFOR-Truppe, für die zivile Verwaltung der
UNMIK, für das Stabilitätspakt-Team um Bodo Hombach
und für die vielen vor Ort tätigen Hilfsorganisationen.
Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.
({1})
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Christian Schmidt für die Fraktion von CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich kann auf einiges, was Kollege Brecht gerade vorgetragen hat,
zurückgreifen und im Sinne der demokratischen Gemeinsamkeit nahtlos daran anschließen.
Es ist schon bizarr - da gebe ich Ihnen Recht -: Diese
Große Anfrage der PDS und die Fragen, worauf eine
Fleißarbeit des Auswärtigen Amtes folgte, belegen für
mich zweifelsfrei, wes Geistes Kind die Fragesteller sind.
Man braucht nicht zwischen den Zeilen zu lesen, um zu
erkennen, mit welcher Einseitigkeit die notwendige
NATO-Intervention im Frühjahr 1996 hinterfragt wird.
Wenn die PDS als Nachfolgepartei der SED mit ihrer
eigenen Vergangenheit ähnlich kritisch umginge und dazu
Fragenkataloge erstellen würde, wären wir bei der Aufarbeitung unserer jüngsten Vergangenheit wesentlich weiter.
({0})
Außerdem vermisse ich - der Kollege Gehrcke ist vorsorglich schon darauf eingegangen, wahrscheinlich weil
er befürchtet hat, dass diese Frage gestellt wird, und sie
wird gestellt - in diesem Katalog die Frage, inwieweit der
Bundesregierung Erkenntnisse darüber vorliegen, wie
sehr der Belgrad-Besuch des Kollegen Gysi dazu beigetragen hat, dass Milosevic das Gefühl haben konnte, es
gebe in Deutschland Sympathien für seine politische Position, und der Konflikt dadurch noch verlängert wurde.
({1})
Auch die rot-grüne Bundesregierung war im Frühjahr
1999 im Vorfeld der Kosovo-Intervention hinsichtlich ihrer eigenen politischen Prinzipien und ihrer politischen
Vergangenheit in einer bizarren Situation, musste sie doch
den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr in deren Geschichte unter Zuhilfenahme sehr überzogener Argumente begründen. Bewaffnete Konflikte waren aber - das
wollen wir doch noch einmal festhalten - immer bestenfalls eine Tragik, schlimmstenfalls eine Katastrophe, aber
auf jeden Fall eine Kapitulation der Politik vor der blanken Gewalt.
Letztlich ist auch im Kosovo-Konflikt die Politik an
ihre Grenzen gestoßen und es bedurfte des Einsatzes von
Gegengewalt, um Milosevic an seinem gewalttätigen
Werk der Zerstörung zu hindern. Ob nun die „ethnischen
Säuberungen“ ganzer Landstriche bereits den Tatbestand
des Völkermords erfüllt haben, darüber mögen sich die
Juristen streiten. Ich will es dahingestellt sein lassen. Tatsache bleibt, dass es angesichts der Gefahr für die Menschen dort, aber auch für unsere eigene europäische Sicherheit und Stabilität nicht zugelassen werden konnte,
dass dieser Mann zum vierten Mal ungestraft einen Krieg
im früheren Jugoslawien anzettelt.
({2})
Daher dürfen Ursache und Wirkung, Täter und Opfer
nicht verwechselt werden. Der Krieg begann nicht mit
dem Eingreifen der NATO, sondern mit der rücksichtslosen Durchsetzung der Politik des Milosevic-Regimes seit
Beginn der 90er-Jahre.
Die militärische Intervention der NATO war die Ultima Ratio aufgrund der strikt ablehnenden Haltung Serbiens in Rambouillet. Das war kein Zwang zum Abschluss, sondern das war das letzte Angebot.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es noch
der alte Bundestag war, der nach der Wahl am 27. September 1998 im Oktober zusammengetreten ist, um den
Actord, das heißt die grundsätzliche Bereitschaft der
NATO, sofort zuzuschlagen, unterstrichen und genehmigt
hat. Wir alle haben damals zugestimmt. Die damals noch
nicht im Amt befindliche Bundesregierung war sicherlich
froh, dass sie keine eigene Mehrheit sammeln musste,
sondern dass die alte Mehrheit des 13. Bundestages bereit
war, diesen Schritt, der nicht ohne Probleme war und bei
dem viel bedacht werden musste, mitzugehen. Es bleibt
anzuerkennen, dass dann, als Monate später in Rambouillet der letzte Versuch gescheitert war, dieser Weg konsequent fortgeführt wurde. Wäre das nicht passiert, wäre das
eine Einladung für alle weiteren Aggressionen nicht nur
in Südosteuropa gewesen. Es ist nicht auszumalen, was
dann passiert wäre.
Um nicht missverstanden zu werden, sage ich: Wir
sperren uns nicht gegen eine Bilanz, sondern wir halten
eine solche für sinnvoll und notwendig. Sie wird im Laufe
der nächsten Jahre auf der Grundlage vieler Beiträge erstellt werden müssen. Letztendlich wird auch die Geschichtsschreibung, werden die Journalisten und auch Politiker und vor allem Betroffene immer wieder
reflektieren müssen, welche Lektion wir aus dem Kosovo-Konflikt gelernt haben. Aber wir sind nicht bereit,
bei dem Versuch der PDS mitzumachen, diese Vorgehensweise im Sinne einer einseitigen Abrechnung und unter Ausblendung der Umstände und Ursachen, die zur Intervention der NATO geführt haben, zu diffamieren.
Europa und die westliche Welt hatten sich gegen die
Denkschule entschieden, die es ja auch schon bei vorhergehenden Jugoslawienkonflikten gab, und die da heißt:
Lasst sie sich doch auskämpfen!
({3})
- Jawohl, ausbluten. - Diese Frage ist in offenen Gesellschaften, die demokratisch verfasst sind und auf bestimmten Grundwerten und Grundprinzipien beruhen,
nicht mit einer Handbewegung zu beantworten. Wir stehen in Verantwortungen, die wir wahrnehmen müssen.
Das heißt auch, dass wir Diktatoren oder jenen, bei denen
die Gefahr besteht, dass sie ihr Land diktatorisch umgestalten, dann Einhalt gebieten müssen, wenn es für die
dort lebenden Menschen um die blanke Existenz geht.
({4})
Davon allein darf man sich allerdings nicht leiten lassen. Dazu kommen müssen nicht nur eine objektive
Notwendigkeit, sondern hinsichtlich des hohen eigenen
Risikoeinsatzes auch die Angemessenheit und die Erfolgsträchtigkeit der Maßnahmen. Etwas nur deshalb zu
tun, damit etwas getan wird, ist kontraproduktiv.
Gegenüber den Soldaten, die uns im Sinne dessen, dass
wir darüber entscheiden, ob sie in den Einsatz gehen oder
nicht, anvertraut sind, haben wir eine Fürsorgepflicht. Wir
müssen entscheiden, ob es tatsächlich notwendig ist, sie
Gefahren auszusetzen.
({5})
In die Abwägung muss auch explizit die eigene Interessenlage einbezogen werden. Das darf nicht mit einer
egozentrischen Bewertung der Risikolage verwechselt
werden. Aber wir müssen auch bereit sein, zu sagen, dass
es im Kosovo nicht nur um humanitäre Fragen im engeren Sinne ging, sondern auch um die Stabilität bei uns bis
hin zu der Festellung, dass massive Flüchtlingsbewegungen, die immer Not und Elend mit sich bringen, verhindert werden müssten, indem für die Leute die Möglichkeit
geschaffen wird, in ihrer Region zu bleiben.
An der Bereitschaft, diese Dinge zu artikulieren und zu
definieren, hat es der Bundesregierung - aus bekannten
Gründen - allerdings manchmal gefehlt. Man flüchtete
sich in die Überhöhung und hat sich deswegen auch vorhalten zu lassen, dass die Klarheit der Information über
Hintergründe und Tatsachen zum Teil gelitten hat. Manches von dem, was in dem inkorrekten Beitrag des WDR
Christian Schmidt ({6})
zur Sprache gekommen ist, wäre vielleicht nicht so leicht
zur Sprache zu bringen gewesen, wenn nicht ab und an der
Eindruck entstanden wäre, dass man überzogen hat oder
versucht hat, Leute mit nicht ganz korrekten Informationen zu überzeugen. Diesen Vorwurf muss die Bundesregierung aushalten. Es ist nur anzumahnen, dass sie das bei
bevorstehenden Konflikten nicht wieder in ähnlicher
Weise tut. Sie wird deswegen in diesen Fragen die Unterstützung des Hauses behalten, wenn sie einen entsprechenden Antrag stellt. Ich weise darauf hin, dass wir ja
bald über die Verlängerung des Kosovo-Mandats werden
diskutieren müssen. Aber ich erwarte, dass die Bundesregierung ihr Verhalten hier ändert.
({7})
Lassen Sie mich noch kurz auf die aktuelle Situation
eingehen. Wir müssen klären, ob wir die geeigneten Instrumente zur Hand haben, den Frieden in dieser Region
nachhaltig abzusichern. Ich habe nicht den Eindruck, dass
Bodo Hombachs Stabilitätspakt ausreicht, dort Nachhaltigkeit zu sichern. Ich will nicht sagen, dass das ein
falscher Ansatz war. Es war die Rückkehr zur Politik.
Aber dies genügt offensichtlich nicht. Denn gerade mit
Blick auf die Entwicklungen in Mazedonien müssen wir
über die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
KFOR, über den Appell an die USA - ich hoffe, dass der
Bundeskanzler dies bei seinem gestrigen Besuch in den
USA getan hat -, dass Europäer und Amerikaner innerhalb der NATO gemeinsam handeln, und über die Rückkehr der Flüchtlinge sowie die Gewährung eines sicheren
Umfeldes diskutieren. Wir müssen auch darüber sprechen, was noch politisch Not tut, damit wir in dieser Region nachhaltige Ansätze durchsetzen können, die jetzt
schon wieder in der Gefahr sind zu zerbrechen.
Ich glaube nicht daran - viele in diesem Hause tun dies
wohl auch nicht -, dass es mit den Scharmützeln um Tetovo herum sein Bewenden haben wird. Alle Kriege in
Jugoslawien haben mit solchen Scharmützeln angefangen.
Es ist zwar noch nicht nach zwölf; aber es ist dringend notwendig, dass wir versuchen, das, was wir in diesem Zusammenhang tun können, gemeinsam umzusetzen.
Wir müssen darüber sprechen, ob beispielsweise das
Konzept der nur teilweisen Entwaffnung, also der faktischen Nichtentwaffnung, der UCK nicht dazu geführt hat,
dass die mazedonisch-albanische Irredenta aus dem Kosovo heraus unterstützt wird. Ich gestehe zu, dass es keine
Patentrezepte gibt. Aber wir müssen wohl darüber diskutieren, wie wir in Zukunft robuste - vielleicht sogar noch
robustere - Mandate schaffen. Ich meine nicht, dass wir
die Art und Weise, wie bereits jetzt bestehende Mandate
zustande gekommen sind, auf Mazedonien übertragen
sollten. Ich bin sehr skeptisch, ob der bisherige Weg, zu
sagen: „Wir lassen den Konflikt entstehen und schlichten
dann den Streit“, funktioniert.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit kurz von einem
Erlebnis berichten, das mich diese Woche sehr bewegt
hat: Hier vor diesem Haus, vor unserem Parlament, sprach
mich am Mittwoch nach der Ausschusssitzung ein albanischsprachiger Journalist an - der eine oder andere kennt
ihn - und fragte nach der Position der CSU hinsichtlich
der Sprachenfrage an der Universität in Skopje. Er stellte
mir die Frage, ob wir nicht auch der Meinung seien, dass
die Albaner ein Recht darauf hätten, dass Albanisch dort
als Sprache zugelassen wird, und ob die Albaner nicht
auch das Recht hätten, als Staatsvolk in Mazedonien angesehen zu werden. Dies sind an sich Fragen, deren Beantwortung aus unserer europäischen Vorstellung heraus
gar nicht problematisch ist. Ja, man müsste über diese
Fragen sprechen.
Ich habe dem Fragesteller sehr deutlich geantwortet,
dass Fragen des Zusammenlebens, das verbesserungsbedürftig ist, die eine Sache sind, dass aber die gegenwärtige verrückte und unvorstellbare Meinung in verwirrten
Köpfen, man müsse diese Probleme mit Gewalt lösen, unverantwortlich ist. Ich habe ihn gebeten, zu berichten,
dass es in Deutschland ein helles Entsetzen darüber gibt,
dass Menschen in dieser Region nach vier Waffengängen
innerhalb von zehn Jahren immer noch meinen, mit der
Waffe in der Hand ihre Überzeugungen und Wünsche
durchsetzen zu müssen,
({8})
und dass sie bei diesem Vorgehen nicht mit der Unterstützung des Westens rechnen können. Ich habe ihm gesagt,
dass ich für meine Fraktion ganz klar sagen kann, dass wir
auf eine politische Lösung setzen.
Ich gehe davon aus, dass das auch für alle anderen in
diesem Hause gilt.
({9})
Keiner der an diesem Konflikt Beteiligten sollte im Hinterkopf damit rechnen, dass dann, wenn es schlimme Entwicklungen gibt, die NATO kommt und ihn wieder herausholt. Nein, den Frieden müssen zuallererst die Menschen in
diesem Lande selber schaffen.
({10})
Wir können nur helfen und gute Dienste leisten. Das allerdings müssen wir tun.
Ich bedanke mich.
({11})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege
Winfried Nachtwei.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Seit
Wochen und Monaten erleben wir im Kosovo und in den
Anrainerregionen des Kosovo eine gefährlich zunehmende Gewalt. Da stellt sich natürlich die Frage: Was soll
in einem solchen Moment eine Debatte über den KosovoKrieg vor zwei Jahren? Die Antwort darauf ist einfach:
Christian Schmidt ({0})
weil die Beschäftigung mit den Erfahrungen des KosovoKrieges sehr hilfreich ist, um zu einer wirksameren Kriseneindämmung und Gewaltvorbeugung zu kommen.
({1})
Die erste Kriegsbeteiligung der Bundesrepublik
Deutschland war eine historische Zäsur und - wir erinnern uns deutlich - heiß umstritten, auch hier im Haus,
aber vor allem in der Gesellschaft.
Was die Aufarbeitung des Kosovo-Krieges angeht,
so haben wir, wie ich meine, einen unübersehbaren Nachholbedarf; denn auf der einen Seite steht die Verdrängung
durch die Gesellschaft, aber auch durch die Politik, und
auf der anderen Seite eine rechthaberisch orientierte Auseinandersetzung. Was verhältnismäßig zu kurz kommt, ist
die schlichte, aber äußerst schwierige Suche nach der
Wahrheit. Vorhin sind - auch vom Kollegen Brecht - sehr
wichtige, unabhängige Kommissionsberichte von der
OSZE und von der Independent International Commission on Kosovo genannt worden, die bei dieser Wahrheitssuche sehr hilfreich sein können. Auch die heute zur
Diskussion stehende Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der PDS soll einen Beitrag zur Wahrheitsfindung leisten.
In der letzten Zeit sind zunehmend Publikationen erschienen, in denen bestritten wird, dass damals, Anfang
1999, eine humanitäre Katastrophe gedroht hat. In diesen
Publikationen wird behauptet, es habe einen schlimmen
Bürgerkrieg gegeben, der aber keine - vor allen Dingen
durch das Milosevic-Regime verursachte - humanitäre
Katastrophe hervorgerufen habe.
({2})
Die Antwort der Bundesregierung macht zu Recht einiges deutlich, nämlich dass Krieg und Vertreibung im
Kosovo nicht erst am 24. März 1999 begannen,
({3})
sondern dass der Nährboden der Gewalt durch das serbische Apartheidregime gegen die Kosovo-Albaner seit Anfang der 90er-Jahre gelegt wurde.
({4})
Es gab also einen Vorlauf von ungefähr zehn Jahren.
({5})
Nach diesen unabhängigen Untersuchungsberichten begannen die offenen Kämpfe und gezielten Vertreibungen ungefähr im März 1998 mit sehr vielen Vertriebenen und mit auf ungefähr 1 000 geschätzten getöteten
Zivilisten auf kosovo-albanischer Seite. Es gab ungefähr
400 000 bis 500 000 Flüchtlinge und Vertriebene. Eine
Wiederverschärfung der Kämpfe und Vertreibungen gab
es seit Anfang 1999. Auch dies ist vom UNHCR und anderen eindeutig belegt.
Schließlich gab es die Erinnerung der Staatengemeinschaft, geteilt von der Mehrheit dieses Hauses, an den
Bosnienkrieg, wo die Staatengemeinschaft zu spät gekommen war und - daran denken viele heute nicht 200 000 Menschen umgebracht worden sind.
({6})
Das steckte uns allen in den Knochen.
({7})
Allerdings wird auch immer deutlicher, dass das Konfliktmuster der Kämpfe und bewaffneten Auseinandersetzungen im Kosovo komplexer war, als es damals teilweise in der Öffentlichkeit verbreitet wurde oder als es
heutzutage von manchen Kritikern des NATO-Krieges
behauptet wird. Die Bundesregierung deutet in ihrer Antwort dieses komplexere Konfliktmuster an, indem darin
von dem bekannten Schema des unverhältnismäßigen
Vorgehens serbischer Sicherheitskräfte als Reaktion auf
UCK-Aktivitäten die Rede ist.
In dem vorhin schon genannten WDR-Film wird das
Beispiel des Ortes Rogovo gebracht, wo am 29. Januar 1999 24 tote Kosovo-Albaner gefunden wurden. In
dem WDR-Film wird behauptet, das seien schlimme, aber
normale Bürgerkriegsauseinandersetzungen gewesen. Ich
habe noch gestern mit einem deutschen Polizeibeamten
gesprochen, der dort bis zum Erstellen des Abschlussberichtes ermittelt hat, der nach Den Haag gegangen ist. Er
hat gesagt: Als sie dort hinkamen, hätten sie einen toten
serbischen Polizisten, sechs UCK-Kämpfer und darüber
hinaus viele eindeutig willkürlich exekutierte Zivilpersonen gefunden. - Der Fall Rogovo ist beispielhaft für das
übliche Konfliktmuster. Von der Independent International Commission on Kosovo wird das zusammengefasst
mit der Beschreibung: ein Gemenge von bewaffnetem
Aufstand, staatlicher Aufstandsbekämpfung und Krieg,
der so genannten ethnischen Säuberung, gegen die Zivilbevölkerung.
({8})
- Wenn man genauer hinhört, weiß man, was ich eben gesagt habe.
Die bemerkenswerte BBC-Dokumentation „Bomben
und Moral“ konstatiert, das sei eine bewusste Eskalationsstrategie der UCK gewesen, die terroristische Antiterroreinsätze der serbischen Kräfte bewusst einkalkuliert habe.
Hier stellt sich in der Tat die Frage, ob die Staatengemeinschaft das damals gebührend berücksichtigt hat.
Zu den Kriegsopfern und den Kriegsschäden! Die
Wahrnehmung der Kriegsopfer und Kriegsschäden fällt
offenkundig schwer, und zwar einmal wegen objektiver
Ermittlungsprobleme, aber auch wegen gegenläufiger
Interessen, die die Wahrnehmung erschweren. Für eine
Demokratie sollte eine offene Erfassung der Kriegsopfer
aller Seiten selbstverständlich sein. Gestützt auf die Untersuchung verschiedener internationaler Organisationen
macht die Bundesregierung konkrete Angaben zu den
Flüchtlingszahlen und zu den Gesamtopferzahlen auf kosovo-albanischer Seite. Zwischen März und Juni 1999
sind schätzungsweise 10 000 Menschen im Kosovo von
den serbischen Kräften umgebracht worden. Diese Zahl ist
ein Abgleich der Informationen verschiedenster Menschenrechtsorganisationen. Wenn wir die geringe Bevölkerungszahl des Kosovo mit jener der Bundesrepublik vergleichen,
dann wird deutlich, wie gigantisch die Opferzahlen waren.
Allerdings muss ich auch sagen, dass die Angaben der
Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu den Opfern
und Schäden der NATO-Luftangriffe dürftig sind. Sie
könnten durchaus ausführlicher sein, wenn man sich einfach auf die Angaben der Independent International Commission on Kosovo stützen würde; diese hat dazu einige
Ausführungen gemacht, zum Beispiel auch zu den Zerstörungen von Brücken und Industriebetrieben.
Zu den Kriegsergebnissen: Erklärtes Ziel der NATOLuftangriffe war die Verhinderung einer humanitären
Katastrophe, also einer Neuauflage der Kämpfe und Vertreibungen des Jahres 1998 auf schlimmerem Niveau;
denn damit - das hatten wir gleichzeitig im Kopf - drohte
ein Flächenbrand in der ganzen Region und deren umfassende Destabilisierung. Dieser umfassende regionale
Flächenbrand wurde eindeutig verhindert. Das Problem
daran ist allerdings, dass das eine unsichtbare Wirkung
war. Das erste Ziel, die Verhinderung der humanitären Katastrophe, wurde offenkundig verfehlt. Ich glaube, vor
dieser ernüchternden Feststellung sollten wir uns nicht
drücken.
Zuletzt zu den Schlussfolgerungen: Die Antwort der
Bundesregierung ist ein Beitrag zur Aufarbeitung des Kosovo-Krieges. Diese Aufarbeitung ist damit selbstverständlich keineswegs abgeschlossen. Schon angesichts
der Begrenztheit der Fragestellungen und ihrer großen
Voreingenommenheit bleiben viele Fragen offen.
({9})
Es wäre enorm interessant, der Frage nachzugehen, welche Friedenschancen bestanden. Man sollte also noch
einmal genauer untersuchen, ob mit der OSZE-Mission
vom Oktober 1998 bis zum März 1999 alle Möglichkeiten ausgereizt worden sind.
({10})
- Gut, das sind aber Fragen, die man noch einmal genauer
bearbeiten sollte.
Man hat auf jeden Fall Konsequenzen daraus gezogen,
nämlich durch den Aufbau schnell verfügbarer ziviler
Kräfte gerade für solche Missionen. Bisher gibt es in der
Bundesrepublik im Unterschied zu etlichen anderen
NATO-Staaten keine umfassende - ich betone: umfassende - Überprüfung und Bilanzierung des Kosovo-Krieges und der deutschen Beteiligung daran. Notwendig ist
meiner Meinung nach ein gesamtgesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess, zu dem Bundestag, Bundesregierung
und relevante gesellschaftliche Kräfte, zum Beispiel Medien und Kirchen, beitragen sollten.
Gehört werden sollten vor allem auch die vielen Frauen
und Männer, die im Rahmen von Beobachtungs- und Friedensmissionen im Kosovo waren und bisher - so habe ich
erfahren - kaum gefragt wurden.
({11})
Ein solcher gesamtgesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess ist notwendige Voraussetzung, um angemessene
sicherheits- und friedenspolitische Konsequenzen aus
dem Kosovo-Krieg ziehen zu können, der für uns alle sicherlich kein Modell, sondern abschreckendes Beispiel
ist.
Danke schön.
({12})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Hildebrecht Braun.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bilanz eines Krieges zu ziehen ist für den Bundestag eine ungewohnte Aufgabe. Schließlich hat sich die deutsche Bundeswehr
erstmalig seit ihrem Bestehen an einem Friedenseinsatz
unter Kriegsbedingungen beteiligt.
Ich möchte das Ergebnis der Überlegungen an die
Spitze stellen: Selten hat es in der Geschichte ein militärisches Eingreifen gegeben, bei dem die insgesamt
positive Bewertung deutlicher auf der Hand liegt als im
Kosovo-Konflikt. Ich will folgende Punkte herausstellen:
Erstens. Seit dem Eingreifen der NATO im Kosovo
müssen die Millionen von Menschen in der Region, die
nicht Serben sind, nicht mehr in Angst vor serbischer Aggression leben. Das ist das wichtigste Ergebnis. Bosnier,
Albaner, Ungarn, aber auch Kroaten, Slowenen und Bulgaren leben als friedliche Nachbarn zu einem friedlichen
Serbien. Großserbische Bestrebungen und damit einhergehende Bedrohungen der nationalen Identität der Nachbarn, aber auch des Lebens der Menschen in diesen Ländern sind Vergangenheit.
Zweitens. Eine Million Kosovo-Albaner, die von Serben vertrieben oder vergewaltigt wurden, die im Winter
im Wald vor marodierenden Banden paramilitärischer
serbischer Verbände Schutz suchen mussten, können ruhig in ihrem Land leben.
({0})
Sie waren die am meisten betroffenen Opfer serbischer
Aggression seit 1988, als dieser unselige Milosevic, getragen von der zwanghaften Vorstellung, Kosovo-Albaner
seien Menschen minderen Rechts, die auf eigentlich
urserbischem Territorium - so sah er damals die Dinge nichts zu suchen hätten, mit der Unterdrückung begann.
Drittens. Es ist gelungen, diesen geschundenen Menschen, deren Häuser gebrandschatzt und deren Felder vermint wurden, ihre Heimat wiederzugeben. Sie haben erstmalig eine Chance, ein freies Land mit Zukunft
aufzubauen. Dies ist die direkte Folge des NATO-Eingreifens in Jugoslawien.
({1})
Viertens. Dass in Serbien und im Kosovo jetzt demokratische Strukturen entweder schon bestehen oder im
Entstehen begriffen sind, ist eine weitere direkte Folge
des NATO-Militärschlags. Es glaube doch keiner, dass es
der Diktator Milosevic, der die Presse und die elektronischen Medien seines Landes beherrschte, zugelassen
hätte, dass die Bürger seines Landes objektiv informiert
und aufgrund dieser Informationen zu einer anderen politischen Haltung gekommen wären. Er säße nach wie vor
im Sattel und würde nicht nur sein Land, sondern auch die
Nachbarländer terrorisieren. Dieser Spuk ist nun vorbei.
({2})
Fünftens. Der gesamte Balkan hat seit dem KosovoKrieg eine völlig neue Perspektive. Das Heranrücken an
die Europäische Union gibt den jungen Menschen im
Balkan Zuversicht und eine Perspektive für das Verbleiben im Lande. Anstelle der totalen Depression und Zukunftslosigkeit ist Hoffnung auf den Anschluss an die
Standards der westlichen Welt getreten. Dies betrifft alle
Länder des Balkans und stellt eine Wende zum Besseren
von größter Tragweite dar.
({3})
Sechstens. Der Balkan ist seit Jahrhunderten ein Konfliktherd erster Ordnung. Seit eineinhalb Jahren besteht
die Aussicht, dass eine gerechte Friedensordnung an die
Stelle des Rechts des jeweils Stärkeren tritt.
Siebtens. Wir alle wissen, dass Millionen Kosovo-Albaner - auch das sollten wir im Kopf haben -, die ihr Land
wegen der serbischen Aggression verlassen mussten,
nicht etwa in Mazedonien oder in Albanien geblieben
wären. Sie wären als Flüchtlinge nicht zuletzt in unser
Land gekommen und hätten die Integrationsfähigkeit und
Integrationsbereitschaft in Deutschland schlichtweg überfordert. Was das für das friedliche Zusammenleben der
Menschen in unserem Land bedeutet hätte, mag sich jeder
selbst ausdenken. Um es etwas konkreter zu sagen: Es
glaube keiner, es wäre gelungen, die Republikaner aus
dem Landtag von Baden-Württemberg herauszuhalten,
wenn wir zusätzlich eine halbe Million Kosovo-Albaner
im Lande gehabt hätten.
({4})
Achtens. Auch international hat das Eingreifen der
NATO langfristige Wirkungen. Der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen ist handlungsfähiger geworden. Ich
glaube, die Annahme, dass die Grundsätze der Charta der
UN wieder stärker als die nationalen Interessen zweier
ständiger Mitglieder im Mittelpunkt stehen, dürfte zutreffen. Haben vor dem NATO-Angriff noch Russland und
China in völliger Verkennung ihrer Verantwortung als
Mitglieder des Sicherheitsrates letztlich Milosevic unterstützt, so wissen sie spätestens seit dem Eingreifen der
NATO, dass sie durch ihr Veto nicht mehr Nothilfe zugunsten geschundener und unterdrückter Völker verhindern können. Die NATO hat sich als einzige funktionierende Ordnungsmacht erwiesen, die bereit und in der
Lage ist, Völkermord entgegenzutreten. Russland und
China wissen nun, dass sie sich durch ein Veto gegen humanitäre Hilfe nur blamieren, ohne den Gang der Geschichte aufhalten zu können.
Dieser außerordentlich positiven Bilanz steht natürlich
gegenüber, was wir auf der Minusseite verbuchen müssen: So sind bei den NATO-Angriffen und bei Aktionen
der serbischen Streitkräfte circa 500 Menschen ums Leben gekommen. Natürlich bedauern wir das sehr, wissen
aber, dass für diese Verluste an Menschenleben Milosevic
verantwortlich ist. Bedenken wir bitte auch, wie viele
weitere unschuldige Menschen dem Terror der verblendeten Serben zum Opfer gefallen wären, wenn wir nicht gehandelt hätten.
Es wurden Einrichtungen in Serbien und im Kosovo
zerstört, die nur mit viel Geld und viel Energie wieder aufgebaut werden können. Die Bevölkerung von Serbien hat
einen großen Preis für die schreckliche Politik ihres früheren Diktators zahlen müssen. Der Westen, insbesondere
die Europäische Union und unser eigenes Land, steht hinter der neuen demokratischen Regierung. Wir werden alles tun, um den Wiederaufbau - nicht nur bis zum früheren Standard, sondern in Richtung des Niveaus von ganz
Westeuropa - zu unterstützen.
({5})
Wir müssen aber einräumen, dass trotz aller Bemühungen der KFOR-Streitkräfte, insbesondere auch der deutschen Soldaten, Serben und andere Minderheiten im Kosovo in Angst vor Kosovo-Albanern leben. Wir müssen
auch feststellen, dass viele Serben aus dem Kosovo geflohen sind und fliehen mussten, weil sie Angst um Leib
und Leben hatten. Sie zahlen den größten Preis für die
Verbrechen, die Milosevic zu verantworten hat.
Meine insgesamt positive Bilanz des Kosovo-Krieges
markiert aber nicht das Ende der Akte Kosovo. Es
herrscht nicht etwa Frieden, sondern nur Abwesenheit von
Krieg. Ich selbst habe mehrfach - im Verteidigungsausschuss und darüber hinaus - gefordert, mit der konkreten
Friedensarbeit zu beginnen. Es darf nicht sein, dass in den
Medien vor Ort weiterhin gegen die andere Bevölkerungsgruppe gehetzt wird und dass das Ziel eines multiethnischen Kosovo in Zeitungen durch die Förderung von
Vorurteilen und von Hass konterkariert wird.
({6})
Frieden muss in den Köpfen und in den Seelen der
Menschen wachsen. Deshalb ist es vordringlich, dass in
den Kindergärten und Schulen die Fähigkeit zum Frieden
erlernt und geübt wird. Hier ist UNMIK gefordert.
Deutschland muss diese Entwicklung sehr aufmerksam
beobachten. Es darf nicht sein, dass mehrere tausend deutsche Soldaten unter schwierigen Bedingungen, auch in
den kommenden Jahren, im Kosovo Dienst tun, um Frieden möglich zu machen, während vor Ort die Entwicklung zum Frieden durch friedensunfähige Nationalisten
gefährdet wird. Wir wollen, dass der Kosovo und die angrenzenden Regionen nicht nur geographisch ein Teil Europas sind, sondern dass die Menschen im Balkan ein Teil
Hildebrecht Braun ({7})
unseres Europas werden, das für Menschenrechte, Frieden und Wohlstand für alle steht.
Vielen Dank.
({8})
Ich gebe
dem Kollegen Gernot Erler für die Fraktion der SPD das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Jahre nach dem Krieg fällt eine
politische Bilanz ambivalent aus. Es gibt positive Entwicklungen: Jede Bilanz muss mit einem Hinweis auf die
Rückkehr von mehr als 900 000 Flüchtlingen beginnen.
Die gewaltsame Vertreibung war Auslöser der militärischen Intervention. Die angestrebte Rückkehrmöglichkeit
ist erzwungen worden und die meisten Flüchtlinge haben
von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht.
Auch die Bedingungen für Frieden und Stabilität in der
Region sind verbessert worden. Ich verweise auf die politische Entwicklung in Kroatien und den politischen
Wechsel in Jugoslawien, der ganz wichtig war. Ich erinnere daran, dass es hier immer einen breiten Konsens darüber gab, dass die Beendigung des Regimes Milosevic
eine Voraussetzung - wenn auch kein Automatismus - für
Stabilität und Frieden in der Region des Balkans ist.
Zu der positiven Kriegsbilanz gehört nach unserer Auffassung auch der Stabilitätspakt. Er hat dafür gesorgt,
dass die meisten Länder der Region die Vorteile von Kooperation materiell schätzen gelernt haben. Die Tendenz
zur Kooperation scheint sich inzwischen zu verselbstständigen. Kürzlich hat der Sonderkoordinator der EU für
den Balkan, Bodo Hombach, den Fachausschüssen des
Deutschen Bundestages berichten können, dass die grenzüberschreitende Zusammenarbeit inzwischen zum Regelfall geworden ist. Das ist ein sehr wichtiger Effekt des Stabilitätspaktes.
({0})
Wir dürfen allerdings die Augen nicht davor verschließen, dass wir noch weit von einer nachhaltigen
Friedensordnung für die ganze Region entfernt sind.
Hauptgrund dafür ist, dass eine weit verbreitete Krankheit
noch nicht besiegt ist. Diese Krankheit besteht darin, dass
noch immer auf eine gewaltsame Lösung der ethnischen
Probleme gesetzt wird. Milosevic hat das im KosovoKrieg getan, von 1991 bis 1998 mit struktureller Gewalt
und mit dem Ziel der Vertreibung, danach mit der Anwendung von physischer, brutaler und blutiger Gewalt.
Das konnte nur durch eine militärische Intervention beendet werden.
Herr Kollege Gehrcke, auch wenn Sie hier fünfmal dieselbe Rede halten: Sie werden nur dann einen Schritt weiterkommen, wenn Sie die Frage beantworten, welche
denkbare Alternative es zu dieser Form der Beendigung
der Vertreibung gegeben hätte. Diese Antwort haben Sie
nie gegeben.
({1})
Allerdings muss man auch feststellen: Jede militärische
Intervention lässt sich auf ein Versagen der Prävention
zurückführen.
({2})
Das hat zu Konsequenzen in der Arbeit der Bundesregierung und in der Prioritätensetzung der Koalitionsfraktionen geführt. Das kann man hier allerdings nicht ausführen.
Zur Kriegsbilanz gehört auch die logische Erkenntnis:
Wenn die gewaltsame Lösung von ethnischen Problemen
zu dieser militärischen Intervention geführt hat, nämlich
zum Kosovo-Krieg, dann können gewaltsame Lösungen
von ethnischen Problemen auch nicht Grundlage einer
Friedensordnung für diese Region sein.
({3})
Wir beobachten Besorgnis erregende Fehleinschätzungen
eines Teils der Albaner im Kosovo und neuerdings auch
in Mazedonien. Auf diese müssen wir eine klare Antwort
geben. Wenn eine Minderheit militanter Albaner im Kosovo weiter Jagd auf Vertreter anderer Minderheiten
macht und andere militante Albaner im Presevo-Tal und
anderswo versuchen, Grenzen gewaltsam zu verändern,
während uns gleichzeitig moderate albanische Führer sagen: „Ihr könnt das ganze Problem nur dann lösen, wenn
ihr ganz schnell die Selbstständigkeit des Kosovo ermöglicht“, dann können wir nur antworten: Diese faktische
Doppelstrategie dient nicht den albanischen Interessen
und wird nicht zum Ziel führen.
({4})
Es gibt keinen anderen Weg als die Beendigung der
Gewalt, die Normalisierung des Zusammenlebens verschiedener ethnischer Bevölkerungsteile, die Respektierung der Grenzen und den Aufbau einer demokratischen
Zivilgesellschaft.
({5})
Diese alternativlosen Prinzipien gelten nicht nur im Kosovo, sondern auch für Mazedonien. In Mazedonien leben
nach der letzten Volkszählung von 1994 450 000 Albaner.
Wahrscheinlich sind es heute mehr. Das bedeutet, dass Mazedonien nur dann eine Zukunft hat, wenn Slawo-Mazedonier und Albaner nach den eben genannten Prinzipien zusammenleben und wenn sie gemeinsam Transformation
und Aufbau im Rahmen einer fairen Aufgabenteilung
gestalten.
({6})
Hildebrecht Braun ({7})
Leider fehlen dafür im Augenblick noch viele Voraussetzungen. Es geht nicht an, dass in der Verfassung von Mazedonien steht, dass Mazedonien ein Nationalstaat des
mazedonischen Volkes sei, ohne dass auch nur mit einem
Wort auf die Albaner hingewiesen wird, die einen großen
Anteil an der mazedonischen Bevölkerung ausmachen. Es
geht nicht an, dass der Anteil der Albaner in Verwaltung,
Regierung, Wirtschaft und im Bildungswesen weiterhin
so gering wie bisher bleibt. Das gilt auch für die Lokalverwaltung. Deswegen mahnen wir entsprechende politische Veränderungen natürlich an. Gleichzeitig müssen
wir aber denen oberhalb von Tetovo, die glauben, mit Gewalt solche Veränderungen herbeiführen zu können, ganz
klar sagen, dass so nur Gegengewalt und nichts anderes
erreicht wird und dass das nicht zu den notwendigen Veränderungen in Mazedonien führen wird. Im Gegenteil:
Gerade jetzt, unter dem Druck von Gewalt, können solche
Veränderungen nicht stattfinden.
Bei aller Mahnung an die Verhältnismäßigkeit der
Gegengewalt muss deswegen von dieser Debatte eindeutig das Signal ausgehen: Die wichtigste Voraussetzung
dafür, dass die Bilanz insgesamt besser wird, ist eine Beendigung dieser weiteren Versuche, die tatsächlich vorhandenen ethnischen Probleme gewaltsam lösen zu wollen. Das ist aussichtslos.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Nun hat der
Kollege Dr. Christian Schwarz-Schilling für die Fraktion
von CDU und CSU das Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In
der Beantwortung der Großen Anfrage ist zu Recht darauf
hingewiesen worden, dass der Krieg in Kosovo der vierte
Krieg im ehemaligen Jugoslawien in weniger als einem
Jahrzehnt gewesen ist. Wir haben Anfang der 90er-Jahre
überall den Zusammenbruch des Kommunismus und die
Befreiung der unterjochten Völker, auch in Osteuropa, erlebt. Die Tragik des ehemaligen Jugoslawien beruhte darauf, dass dort die Uhren zurückgestellt worden sind. Dort
gab es einen Kommunisten, der seine Ideologie ganz flugs
von der kommunistischen Doktrin hin zur Doktrin des
Nationalismus und des ethnischen Absolutismus veränderte. Jeder weiß noch, was er sagte: „Wo ein Serbe lebt,
dort ist Serbien.“ Das ist die absolute Verkehrung dessen,
was Zusammenleben verschiedener Rassen und Völker
zum Ziel hat.
Der Bürgerkrieg, der dann über ein ganzes Jahrzehnt
gegen die eigene Bevölkerung geführt wurde, war insofern eine logische Konsequenz dieser verhängnisvollen,
verbrecherischen Ideen. Daher ist die Situation, dass eine
an sich vernünftige Diskussion durch eine Große Anfrage
veranlasst worden ist, in der sich der Antragsteller
bemüht, die NATO als Täter in diesem Krieg und diejenigen, die die NATO zu bekämpfen hatte, als Opfer hinzustellen, nun wirklich absurd. Dass Antworten auf die umfangreichen Fragen gefunden werden müssen, die Sie,
meine Damen und Herren von der PDS, gestellt haben
- wie viele Menschen sind hier und dort als Tote oder Geschädigte zu verzeichnen? -, ist ganz klar; auch wir wollen das alles gerne wissen. Aber der Duktus Ihrer Anfrage
war, die Rollen von Tätern und Opfern zu verdrehen; das
ist doch die wirkliche Lage.
({0})
Man bekam bei Ihrer Anfrage das Gefühl, als ginge es
um die Frage, wie viele Opfer es sein müssen, damit wir
legaliter einen Eingriff unternehmen dürfen.
({1})
Sie müssen sich einmal die Frage stellen, wo Ihre
Stimme - die der PDS und die von Herrn Gysi - eigentlich war, als zum Beispiel die Bevölkerung in BosnienHerzegowina niedergemetzelt worden ist.
({2})
Damals gab es keinen Eingriff und keine Intervention.
Stattdessen haben wir zugeschaut - leider Gottes zu
lange! -, wie dort systematisch eine Bevölkerung, auch
Frauen und Kinder, in einem Ausmaß, wie man es damals
kaum für möglich gehalten hatte, niedergemacht wurde.
Während des Bosnien-Krieges sind - die Zahlen können
Sie sich alle aus dem Internet besorgen - allein in 61 Gemeinden 150 000 Menschen getötet worden; darunter waren 17 000 Kinder, allein in Sarajevo mehr als 1 000. Es
gab 175 000 Schwerverletzte in den Krankenhäusern; die
Ungezählten außerhalb der Behandlungszentren sind dabei noch gar nicht eingeschlossen. Die Gesamtzahl der
durch diesen Krieg Schwerversehrten und Behinderten
liegt bei 70 000. 50 000 Kinder wurden physisch verletzt,
von den psychischen Folgen ganz zu schweigen. 1,2 Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen außerhalb des
Landes und 1,3 Millionen Menschen wurden innerhalb
von Bosnien-Herzegowina von Hof und Heim vertrieben.
800 Moscheen wurden zerstört. - Sie wollten Zahlen
hören. Das sind Zahlen.
Wo war Ihre Stimme? Was haben Sie damals unternommen? Sie wissen, dass das Bewusstsein dafür, dass so
etwas in Europa passieren kann und wir deshalb eingreifen müssen, zu Beginn noch nicht ausgeprägt genug war.
Der Fehler war, den Geschehnissen nicht von Anfang an
entgegengetreten zu sein; der Fehler war nicht, dort überhaupt eingegriffen zu haben.
Zu den von mir vorgetragenen Zahlen kam es, ohne
dass eine einzige NATO-Bombe gefallen war. Haben Sie
sich das einmal überlegt? In Ihren Reden zeigen Sie mit
dem Finger auf die NATO und sagen nichts zu dem, was
nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ unendlich
schwerwiegender als das ist, was Sie hier anzuprangern
versuchen. Ich kann nur sagen: Wer ernst genommen werden will, wer glaubwürdig sein will, der hätte seine
Stimme wirklich erheben müssen, als die Menschen in
Srebrenica und in Bihac um Hilfe riefen. Um zu erfahren, was dort geschieht, habe ich mich bemüht, mit den
Menschen vor Ort über Satellitentelefon zu sprechen. An
diesem Punkt hat Europa versagt. In diese Wunde könnten Sie Ihren Finger legen. Aber in dieser Zeit habe ich
von der PDS nichts gehört; Sie haben geschwiegen.
Sie gehen einen anderen Weg. Sie orientierten sich insgesamt nicht an der Wahrheit. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass dieser Mann, Milosevic, dabei war
- dies war nicht nur eine Idee -, in brutalster Art und
Weise Völkermord zu betreiben. Die Erfahrung des
20. Jahrhunderts war doch, dass Verbrecher dieser Art,
wenn sie denn Diktatoren geworden sind, das tun, was sie
ankündigen. Die Demokratien haben das nie für möglich
gehalten. Das war schon bei Chamberlain und Daladier in
München der Fall. Genauso war es bei Hitler während seines gesamten Werdegangs, bei Stalin und bei Mao Tsetung. Niemand glaubte, dass sie tatsächlich tun, was sie
ankündigen: die Ausrottung ihrer Feinde.
Als Milosevic in Bosnien-Herzegowina mit dem Völkermord begann, da haben Sie geschwiegen. Es war geradezu rührend, wie Sie der NATO den Vorwurf des Völkerrechtsbruchs und weitere schlimmste Vorwürfe
gemacht haben und - nebenbei - mitteilten, dass Sie auch
Herrn Milosevic zu kritisieren haben. Es ist ja furchtbar
nett, dass auch Sie sich zu seinen Kritikern zählen. Wahrscheinlich ist er ein Freund von Ihnen! Man muss einmal
das, was Sie der NATO vorwerfen, mit dem vergleichen,
was Sie Herrn Milosevic vorwerfen. Dass Sie ihn kritisieren, besagt gar nichts. Wir kritisieren uns auch im
Bundestag. Wenn man sich betrachtet, von welcher
Ebene aus Sie über Herrn Milosevic sprechen, dann weiß
man - das ist eine interessante Sache -, wes Geistes Kind
Sie sind.
({3})
Ihre so genannte Kriegsbilanz ist in vergangenheitsorientierter Blindheit und, so möchte ich sagen, systemkonformer Naivität kaum zu schlagen. Am Ende der Einleitung Ihrer Kriegsbilanz werfen Sie der westlichen Welt
vor, das Kosovo-Problem trotz des brutalen und rechtswidrigen Einsatzes immer noch nicht gelöst zu haben. Sie
machen sich die Auffassung zu Eigen, dass die NATO
bzw. KFOR und UCK dabei behilflich waren, ein System
des Terrors zu etablieren. Sie wagen es sogar, für Ihre Beweisführung im Hinblick auf die Geschehnisse im Kosovo den Genozid an den Juden mit heranzuziehen.
Wahrscheinlich werden Sie auch noch die jüngsten Geschehnisse in Mazedonien so uminterpetieren, dass Sie
zu der Auffassung gelangen: Hätte man damals die Opposition in Serbien nicht derart unterstützt, dann wäre man
nicht so frech geworden, in Mazedonien einzugreifen,
und man hätte sich mehr auf die bisherige Auseinandersetzung konzentrieren müssen. Man kann, was den Zusammenhang von Ursache und Wirkung angeht, immer
manipulieren; das haben Sie hier vorgeführt.
Sie haben eines nicht begriffen und Sie wollen es auch
nicht begreifen: Die Flucht und Ermordung der Kosovaren, die Vertreibung der Juden, Aschkali und Roma sind
die Folgen von Totalitarismus und Hass der Menschen,
die manipuliert und instrumentalisiert worden sind, und
nicht die Folgen der Bomben der NATO gewesen. Es
wurde eben schon darauf hingewiesen: Diese Gräueltaten
wurden vor dem Eingreifen der NATO begonnen.
Während es die Friedensgespräche mit Karadzic in
Genf gab, wurde schnell die Eroberung von ganz Bosnien-Herzegowina vorangetrieben. Je länger die Verhandlungen dauerten, desto mehr breitete sich der Totalitarismus aus. Genau denselben Ablauf gab es zum Teil
während der Gespräche in Rambouillet. Trotz der Tatsache, dass Vorbereitungen für die Eroberung des Kosovo
getroffen wurden und es eine militärische Ausrichtung in
Richtung Süden gab, wollen Sie uns erzählen, dass diese
Entwicklung durch die Bomben der NATO ausgelöst
wurde. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen sagen
muss: Was ist das für eine historische Lüge!
({4})
Die UN-Resolution 1244 als Reaktion der westlichen
Welt kam zu spät, nachdem etliche Friedensverträge mit
diesem Diktator, der bei den Verhandlungen mit am Tisch
saß, geschlossen, aber nicht eingehalten worden sind. Wir
haben nicht glauben wollen, dass diese Gespräche nicht
zu einem Ende des Krieges und des Hasses führten, sondern dass sie ein neuer Ausgangspunkt von Krieg und
Hass waren.
({5})
Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts ist, dass wir Diktatoren so früh wie möglich entgegentreten müssen. Shakespeare hat einmal gesagt: Wenn sich Feuer ungehindert
in der Fläche ausbreitet, reichen die Wasser der Flüsse
nicht, um es zu löschen. - In dieser Lage befanden wir
uns. Wir wussten überhaupt nicht mehr, wie wir das Feuer
eindämmen konnten. Wir haben nicht etwa zu früh oder
zu unüberlegt gehandelt. Wie viele Überlegungen haben
wir angestellt - die Frage, ob wir eingreifen dürfen, wurde
im Sicherheitsrat verhandelt -; was wurde nicht alles auf
den Konferenzen, beispielsweise der Londoner Konferenz, besprochen! Die gesamte Europäische Union war
involviert.
Herr Kollege
Schwarz-Schilling, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja.
Ich möchte Ihnen ganz klar sagen: Wir sind entschlossen - wir müssen dies mit aller Macht tun -, in der Zukunft brutalen Diktatoren und Mördern rechtzeitig entgegenzutreten, die ihre Ideen mit Gewalt umsetzen.
({0})
Wenn wir das nicht tun, können wir die Friedlichen, die
auf unserer Seite stehen, niemals zu einem demokratischen Aufbau bewegen.
({1})
Wir werden auch in diesem Jahrhundert solchen Diktatoren mit aller Macht entgegentreten müssen, wenn wir den
Frieden auf dieser Welt erhalten wollen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Es spricht jetzt der
Bundesaußenminister, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Entscheidung über Krieg und Frieden ist die schwerste politische Entscheidung, die politisch Verantwortliche - bei uns
sind es die Parlamentarier - treffen können. Ich halte es deswegen für richtig und wichtig, solche Entscheidungen auch
im historischen Rückblick immer wieder zu überprüfen. Daher hoffe ich, dass dies nicht die letzte Debatte über dieses
Thema ist. Für mich persönlich war es die schwerste Entscheidung, an der ich in meinem bisherigen politischen Leben mitzuwirken hatte. Dies gilt unabhängig davon, dass ich
zu diesem Zeitpunkt Bundesaußenminister war. Ich habe
nämlich als Oppositionsabgeordneter der Actord-Entscheidung - dem Befehl zur Inkraftsetzung des NATO-Operationsplans „Allied Force“, in der letzten Legislaturperiode zugestimmt, weil ich von meiner früheren Position, dass man
nicht eingreifen solle, seit Srebrenica unter dem Eindruck
einer Gewaltpolitik, die vor Massenmord und vor Massenvertreibung zum Zwecke der gewaltsamen Änderung der
Grenzen nicht zurückschreckt, nicht mehr überzeugt war.
Im Zuge der Eroberung der UN-Schutzzone in Srebrenica,
in die die Menschen geflüchtet waren, für deren körperliche
Unversehrtheit die internationale Staatengemeinschaft die
Garantie übernommen hatte, wurden alle Männer und
männlichen Heranwachsenden ermordet und ihre Leichen
in Massengräbern verscharrt.
Ich war, wie auch Sie, vorher über Jahre Nichtinterventionist. Ich begreife das heute im Rückblick als Fehler.
Insofern sollte man diese Debatte - ich bedauere es, dass
das nicht geschieht - ehrlich führen, und zwar ausgehend
von den möglichen Alternativen. Vor allen Dingen sollten
wir uns nicht gegenseitig falsche Motive unterstellen.
({0})
Ich bedauere es, dass die PDS eine große Chance vertan hat; da kann ich Dr. Schwarz-Schilling nur zustimmen. Sie hat nämlich in der gesamten Anlage der Großen
Anfrage Täter und Opfer verkehrt. Das ist, wie ich glaube,
der Grundfehler. Warten wir einmal die weitere Entwicklung ab. Die Akten des Internationalen Kriegsverbrechertribunals zum Beispiel werden von Ihnen nicht herangezogen. Diese sind zugänglich, darin könnte man schon
heute Erstaunliches finden. Milosevic wird vor Gericht
kommen, und eines Tages auch vor ein internationales Gericht. Dann werden die Akten insgesamt geöffnet
werden.
({1})
Das wird sehr bitter für Sie werden.
Der Kern dieses Konfliktes geht meines Erachtens auf
eine historisch-politische Frage zurück, die im 19. und im
20. Jahrhundert in ganz Europa virulent war. Gerade wir
Deutschen haben dieses gespürt. Die Frage des deutschen
Nationalstaates hat zu zwei Weltkriegen geführt. Bis zur
Wiedervereinigung, zum deutsch-polnischen Grenzvertrag und zum Zwei-plus-Vier-Vertrag hingen Stabilität
und Sicherheit in Europa von der zentralen Frage ab, welche Position Deutschland einnimmt. Mit der Anerkennung unserer Ostgrenze und damit der polnischen Westgrenze wurde diese definitiv entschieden. Ähnliche
Konflikte gibt es noch heute auf dem Balkan. Hier liegt
der Kern des Problems in der Bildung neuer Nationalstaaten nach dem Untergang des alten Jugoslawiens,
das - ich bedauere es - leider nicht reformfähig war. Mir
war schon damals klar, dass hiermit ein enormes Risiko
verbunden war. In dieser Frage liegt in der Tat ein riesiges
Gewaltpotenzial. Das ist ja auch aus der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ersichtlich.
Es wurde jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass
dieser Krieg nicht am 24. März 1999 begann. Er begann
in Slowenien, führte über Kroatien und Sarajevo nach
Bosnien. Eigentlich liegt sein Ursprung schon in der Aufhebung des Autonomiestatus des Kosovo bzw. noch
früher in der Erklärung der serbischen Akademie 1986.
Das dürfen wir nicht vergessen.
({2})
Wir tun Serbien wirklich keinen Gefallen - ich sage das
als jemand, der die traditionelle Einteilung in Kroaten und
Serben nicht für richtig hielt -, wenn wir diese teilweise
auch in der demokratischen Opposition noch vorhandene
Vorstellung von Serbien als Opfer durch Positionen, wie
sie die PDS vertreten hat, unterstützen. Serbien muss aus
seiner Sichtweise herausfinden; es wird herausfinden, da
bin ich mir sicher, und seinen Platz - einen guten - innerhalb der europäischen Völkerfamilie einnehmen.
Dieser Krieg begann also nicht am 24. März 1999, sondern früher. In diesem Zusammenhang wird eine entscheidende Frage von Ihnen nicht beantwortet, nämlich,
ob eine Einbindung Milosevics bei einer Lösung für die
gesamte Region mit einer europäischen Perspektive ohne
Gewalt möglich war. Sie hätten Recht, wenn eine Lösung
ohne Gewalt möglich gewesen wäre. Hier ist das Äußerste versucht worden. Dayton stellte leider einen unzureichenden Schritt dar. Ich kritisiere nicht diejenigen, die für
das Abkommen von Dayton verantwortlich sind. Aber die
Zeichen zur Zeit von Dayton - kluge Leute haben dies damals gesagt - haben bereits auf einen Konflikt im Kosovo
hingedeutet. Christian Schwarz-Schilling hat das gerade
noch einmal angesprochen. Ich hätte mir gewünscht, dass
die Resolution 1244, die dann unter der deutschen
G-8-Präsidentschaft in Köln realisiert wurde, bereits ein
Jahr früher zustande gekommen wäre. Wer hat denn
Russland wieder ins Boot geholt? Wer hat denn dem Sicherheitsrat wieder seine Handlungsfähigkeit zurückgegeben?
({3})
- Entschuldigung, die Verantwortung dafür können Sie
aber nicht nur auf einer Seite abladen. Ich hätte mir auch
gewünscht, Russland - das habe ich in Moskau im internen Gespräch selbstverständlich auch gesagt - konstruktiv und gestaltend im Sinne von Kriegsprävention tätig
geworden wäre und von einem Veto im Sicherheitsrat Abstand genommen hätte. Das wäre richtig gewesen.
({4})
Das stellt aber keine Schuldzuweisung, weder an die eine
noch an die andere Seite dar, sondern ist eine realistische
Beschreibung.
Ich war unmittelbar nach Ende des Krieges in Belgrad
und konnte feststellen, dass man dort zehn Jahre verloren
hatte. Die Situation war genauso wie 1990 in einigen anderen Wendedemokratien. György Konrad hat gestern
Abend gesagt, dass es dort heute noch so aussieht wie
1990 in anderen Volksdemokratien nach dem Ende der
Sowjetherrschaft. Genauso war es damals auch dort, dass
nämlich plötzlich Leute aus der Opposition höchste
Staatsämter einnahmen.
Das heißt, es sind zehn verlorene Jahre für ein Land,
das, dem damaligen Ostblock nicht zugehörend, von einer
kommunistischen Parteiendiktatur - unter Tito und danach - regiert wurde. Bei diesem Land, das im Grunde
genommen am weitesten entwickelt war, die größten Potenziale hatte, ist diese zehnjährige Tragödie des Rückfalls in eine nationalistische Politik, in einen Prozess der
Selbstblockade und teilweisen Selbstzerstörung eingetreten. Ich bin froh, dass die demokratische Revolution in
Belgrad jetzt eine europäische Entwicklung ermöglicht.
Die entscheidende Frage ist für mich: Wogegen haben
wir dort gekämpft? Wir haben, nachdem alle politischen
Möglichkeiten ausgelotet waren und es nicht mehr anders
ging, gegen einen gewaltsamen Nationalismus und Gewalt gekämpft. Wofür haben wir dort gekämpft? Wir haben für die europäische Integration dieser Region, für Gewaltverzicht und friedliche Lösungen gekämpft. Genau
dies ist die Perspektive, die wir dann mit dem Stabilitätspakt, mit der Sicherheitspräsenz in der Region umgesetzt
haben. Wir werden dort selbstverständlich keinen Großnationalismus, weder einen großserbischen noch einen
großalbanischen noch sonst irgendeinen, akzeptieren dürfen und wir werden dort keine Unterdrückung von Minderheiten zulassen dürfen.
({5})
Zur Zeitperspektive von 18 Monaten möchte ich Sie
an die Zeit 18 Monate nach dem 8. Mai 1945 erinnern. Ich
frage mich manchmal, ob wir angesichts der Zerstörung
und des Hasses in den richtigen Dimensionen denken. Am
8. Mai 1945 haben in Europa die Waffen geschwiegen.
Wo stand dieses Europa 18 Monate danach? Glaubt man
denn allen Ernstes, man könnte solche historischen Konflikte in so kurzen Zeiträumen überwinden und nicht nur
den realen Wiederaufbau, sondern auch eine Orientierung
auf europäische Integration und Gewaltverzicht in den
Köpfen und Emotionen erreichen? Ich glaube das nicht.
Deswegen ist langfristiges Engagement notwendig.
Man kann doch die ganzen positiven Veränderungen sehen. Ich hätte mir gewünscht, dass die internationale Staatengemeinschaft schon 1992 so weit gewesen wäre, wie
sie es heute ist, und dass sie schon 1992, spätestens aber
nach der völligen Zerstörung von Vukovar in Ostslawonien, dem heutigen Kroatien, oder allerspätestens nach
der Zerstörung von Dubrovnik entsprechend reagiert
hätte, nämlich geschlossen und entschlossen zu sagen,
dass eine gewaltsame, großnationalistische Politik nicht
akzeptiert wird, sondern in dem Fall interveniert wird
bzw. sich alle am Verhandlungstisch wiederfinden,
({6})
um eine friedliche, gewaltfreie Lösung der Probleme herbeizuführen, unter Anerkennung der Grenzen, die nicht
gewaltsam verändert werden dürfen, und auf der Grundlage von Gewaltverzicht, auf der Grundlage des Schutzes
der Minderheiten.
({7})
Aber dies hätte, wenn Sie „sehr richtig“ sagen, nur funktioniert, wenn wir damals bereit gewesen wären, auch die
notwendige Militärpräsenz ins Spiel zu bringen. Das eine
ohne das andere - das ist die bittere Wahrheit - hätte es
nicht gegeben.
Deswegen bin ich froh, dass wir heute in Mazedonien
in einer anderen Lage sind. Die Probleme sind mitnichten
gelöst; das innerethnische Gleichgewicht zu erhalten ist
extrem schwierig. Aber es ist völlig klar: Wir haben dort
nicht gegen einen großserbischen Nationalismus und
seine Gewaltpolitik gekämpft, um einen anderen Großnationalismus wirken zu lassen,
({8})
sondern wir wollen die gesamte Region an Europa heranführen. Die Frage der territorialen Integrität Mazedoniens, auch die Frage der Multiethnizität Mazedoniens ist
für uns von entscheidender Bedeutung, genauso wie die
Umsetzung der Resolution 1244 im Kosovo die Grundlage sein muss.
Die Probleme sind noch nicht gelöst und sie werden
ohne die beteiligten Völker nicht lösbar sein. Aber - das
sage ich in Richtung CDU/CSU; ich weiß, dass nicht alle
bei Ihnen diese Meinung vertreten, aber manche, ich habe
es gerade gestern wieder gelesen - ich halte überhaupt
nichts davon, dass wir uns jetzt mit einem Berliner Kongress oder, wie es Lord Owen vorgeschlagen hat, einer
Berliner Konferenz - in Erinnerung an die Berliner
Konferenz zu Bismarcks Zeiten - zur Neuordnung des
Balkans aufhalten. Die heutige Perspektive heißt Europa.
Das ist der entscheidende Punkt. Wenn wir nicht bereit
sind, diese europäische Perspektive in der ganzen Region
unter der Beteiligung der dortigen Verantwortlichen und
Völker langfristig zu organisieren, dann werden wir in die
Untiefen des Nationalismus und eines blutigen Nationenschaffens hineingeraten.
Deswegen dürfen wir, wenn wir darüber nachdenken,
eine Gesamtlösung zu erreichen - in der Tat sind die Fragen um Bosnien-Herzegowina, um Montenegro, um das
Presevo-Tal in Südserbien oder um Mazedonien noch
nicht gelöst -, nicht damit beginnen, Grenzen zu verändern und Ähnliches mehr. Wenn wir über eine Gesamtlösung sprechen, müssen wir erst einmal die Energien, die
dort vorhanden sind, in Richtung Europa kanalisieren.
Das heißt, die Grundsätze, mit denen Lösungen gesucht
werden sollen, sind wichtiger, als heute schon über die
Substanz der Konfliktlösung zu sprechen. Das ist das
Erste.
Das Zweite ist, dass man in diesem Rahmen in der Tat
so etwas wie eine Konferenz für Sicherheit und Stabilität ins Auge fassen sollte, aber nicht in der Perspektive
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sondern in der Perspektive europäischer Integration. Das ist der entscheidende Punkt. Dafür gibt es bereits wichtige Elemente
- die albanische Regierung und andere haben sich in diesem Zusammenhang sehr verantwortlich verhalten - mit
dem Stabilitäts- und Assoziationsabkommen und mit dem
Stabilitätspakt. Es gibt Möglichkeiten, darüber nachzudenken, wie weit man in Richtung einer Zollunion geht,
um hier auch die ökonomischen Kräfte zu stärken; denn
die ökonomische Perspektive ist für politische Stabilität
und Sicherheit von überragender Bedeutung. Die Frage
von Schutzgarantien für Minderheiten, die Frage kultureller Autonomierechte und Ähnliches mehr werden meines Erachtens eine entscheidende Rolle bei der Anerkennung der Grenzen spielen. Dies alles muss auf den
Prinzipien des Gewaltverzichts, des Verzichts auf gewaltsame Änderung von Grenzen und des friedlichen Austragens aller offenen Fragen und Probleme auf dem Verhandlungswege gründen und die Perspektive beinhalten,
den langen Weg Richtung Brüssel zu gehen. Das scheint
mir die Antwort zu sein.
Wenn wir uns darauf einigen könnten, dann wird die
Debatte über die Ursachen dieses Krieges zwar nicht unwichtig; aber viel wichtiger scheint mir zu sein, dass wir
die historische Chance nutzen, der gesamten Region, die
ein Teil Europas ist, den Weg zu einem dauerhaften Frieden im europäischen Kontext zu ermöglichen.
({9})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr
Bundesaußenminister, die Antwort auf die Große Anfrage
stellt eines klar: Eine völkerrechtliche Grundlage für den
Krieg gab es nicht; denn in der Antwort auf die diesbezügliche Frage sprechen Sie von Ultima Ratio sowie davon, dass nichts anderes gemacht werden konnte; Sie benutzen also das Argument der Alternativlosigkeit. Aber
Sie nennen keinen einzigen völkerrechtlichen Artikel
oder Vertrag, auf den Sie sich hätten stützen können, nicht
einen! Schauen Sie sich die Antwort an.
Nun gibt es in diesem Zusammenhang ja viele Argumente. Herr Kollege Brecht hat zum Beispiel in der letzten Debatte gesagt, er habe damals dagegen gestimmt,
weil er die Bombardierung als illegal, wenn auch niemals
als illegitim empfunden habe. Ich kann nur davor warnen,
im Recht diese Unterscheidung zuzulassen.
({0})
Wer sagt, etwas möge zwar illegal sein, aber dennoch sei
es legitim, stellt das Recht völlig auf den Kopf. Das gilt
für das innerstaatliche Recht genauso wie für das Völkerrecht. Das halte ich für eine fatale Herangehensweise.
Immer wieder werden die Kritiker des Krieges vor die
Frage gestellt, welche Alternativen sie anzubieten gehabt
hätten. Dazu sage ich Ihnen Folgendes:
Erstens ist es die Aufgabe von Politik, Alternativen zu
schaffen, nicht aber dafür zu sorgen, dass eine Situation
entsteht, in der es zumindest scheinbar keine Alternative
zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gibt.
({1})
Zweitens hat es selbstverständlich eine Alternative gegeben. Hier wird etwas Unlauteres gemacht. Man verweist - wegen des historischen Zusammenhangs natürlich
nicht ganz zu Unrecht - auf die drei vorhergehenden
Kriege und überträgt die dort begangenen Verbrechen auf
das Kosovo, als seien sie dort schon geschehen oder wenigstens jederzeit möglich. So einfach ist es natürlich
nicht.
({2})
- Das hat gar nichts mit Läuterung zu tun; das ist doch
Quatsch. - Jeder dieser Kriege hatte einen anderen Charakter; sie hatten auch unterschiedliche Ziele. Vergessen
wir doch Folgendes nicht, wenn wir damit schon anfangen: Das Auseinanderfallen Jugoslawiens und die Art und
Weise, wie dies geschehen ist, waren ein großer Destabilisierungsfaktor für den Frieden, die Sicherheit und die
ökonomische Entwicklung in Europa. Aber an diesem
Auseinanderfallen war ja nicht nur Jugoslawien, sondern
waren auch Regierungen außerhalb Jugoslawiens beteiligt. Das ist auch eine Wahrheit.
({3})
Tudjman war ebenso ein Nationalist wie Milosevic.
Aber es wurde - nicht von Ihnen, aber von Ihrer Vorgängerregierung - stets zwischen den beiden unterschieden:
Der eine blieb immer ein Guter, auch als Kriegsverbrechen
in Bosnien-Herzegowina begangen wurden, während der
andere zum Ungeheuer hochstilisiert wurde.
Ich bin gegen jede Verharmlosung der Verbrechen von
Milosevic. Wir wollen genau wie Sie, dass er dafür zur
Verantwortung gezogen wird.
({4})
Ich bin aber auch dagegen, ihn durch maßlose Übertreibungen sozusagen zu benutzen und zu instrumentalisieren,
({5})
um sich durch maßlose Übertreibungen gerade in den eigenen Reihen eine Zustimmung zu organisieren, von der
man befürchtet hatte, sie nicht zu bekommen.
({6})
Das zieht sich bis heute durch und wird täglich deutlicher.
Auch der Vergleich mit dem Apartheidsystem in Ihrer
Antwort - es ist mir unangenehm, darauf hinweisen zu
müssen - stimmt natürlich nicht. Das wissen Sie doch. Es
gab kein Verbot von Eheschließungen. Soweit es Wahlen
gab, konnten die Angehörigen der Minderheiten daran teilnehmen. Auf Bänken durften sie auch sitzen. Was sollen
also immer diese unsinnigen Vergleiche? Die tatsächlichen
Verhältnisse waren doch schlimm genug. Machen Sie es
doch nicht immer schlimmer, als es in Wirklichkeit war.
({7})
Nun noch einige Bemerkungen zu Alternativen.
Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einschließlich
Russlands und Chinas wäre zu Sanktionen bereit gewesen. Es gab vorher praktisch nur Sanktionen im Hinblick
auf Rüstungsexporte bzw. Rüstungsimporte. Wirtschaftssanktionen wurden nicht beschlossen.
Darf ich Sie daran erinnern, dass die Europäische
Union zwei Wochen nach Beginn des Krieges Sanktionen
gegen Jugoslawien beschlossen hat? Wer hat denn die Europäische Union daran gehindert, das drei oder sechs Monate vorher zu tun?
({8})
Das hätte erfordert, auf der einen Seite eine Drohung
aufzubauen und auf der anderen Seite dann auch eine Perspektive. Wo war damals das Angebot an die Bundesrepublik Jugoslawien und an Serbien? Es hätte lauten können: Wenn ihr eine demokratische Entwicklung nehmt, ist
euch der Weg nach Europa bis hin zur Europäischen
Union geöffnet.
({9})
Das, was Bismarck noch machte, nämlich mit Zuckerbrot
und Peitsche vorzugehen, hat es in diesem Fall nie gegeben.
({10})
- Ich will ja nicht sagen, dass ich ein Anhänger Bismarcks
bin.
({11})
Außerdem hätte man auch in Rambouillet einen unterzeichnungsfähigen Vertrag vorlegen können. Es ist heute
auch unstrittig, dass der vorgelegte Vertrag dies nicht war.
({12})
Insofern glaube ich nicht an die Alternativlosigkeit.
Wenn Sie, Herr Schwarz-Schilling, sagen, jetzt wisse
jeder mordende Diktator, dass die NATO eingreifen
werde, so ist das Unsinn. Wer weiß denn das? Greift die
NATO in Afghanistan ein? Das ist doch alles Quatsch.
Das ist eine völlig selektive Wahrnehmung der Welt.
({13})
Deshalb, Herr Braun, sage ich Ihnen: Das, was Sie gesagt haben, hat mich wirklich erschüttert, weil Sie damit
wahrscheinlich sogar einen der wahren Gründe genannt
haben. Sie haben gesagt, wenn das so weitergegangen
wäre, hätte Deutschland wahrscheinlich 500 000 kosovoalbanische Flüchtlinge aufnehmen müssen. Das hätte
dazu geführt, dass der Rechtsextremismus in Deutschland
erfolgreich gewesen wäre. Das heißt, weil Sie die Kosovo-Albaner nicht in Deutschland haben wollten, meinten Sie, man müsse Belgrad bombardieren.
({14})
Das ist schon eine sehr merkwürdige Begründung.
({15})
Ich nenne Ihnen noch etwas, was mich wirklich ärgert:
Das ist die selektive Wahrnehmung auch von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates.
({16})
Erstens hatte die entsprechende Resolution nicht nur
Forderungen an Jugoslawien gestellt, sondern zum Beispiel auch festgelegt, dass die UCK nicht von außen finanziell oder mit Waffen unterstützt werden soll. Das Geld
für die UCK floss die ganze Zeit über, vornehmlich aus der
Schweiz und aus Deutschland. Ich kann nicht einschätzen,
ob wir nicht in der Lage oder nicht willens waren, die Resolution umzusetzen. Auf jeden Fall ist es nicht geschehen.
Zweitens wurde festgelegt, dass die UCK zu entwaffnen ist. Das hat nie wirklich stattgefunden.
Drittens wurde festgelegt, dass die Grenze zu Mazedonien zu schützen ist. Das hat bis heute nicht wirklich stattgefunden.
Im Verfassungsschutzbericht Bayerns war die UCK
schon Anfang der 90er-Jahre als extremistische Organisation erfasst. Ich erwähne das nur einmal, weil wir später
nicht nur mit ihnen verhandelt, sondern weil wir sie unterstützt haben, weil sie ausgerüstet worden sind und weil sie
natürlich bestimmte Ziele verfolgen - jetzt auch in Südserbien und in Mazedonien -, die auch Sie nicht gutheißen. Ich meine, das hat auch etwas mit diesem Krieg
zu tun.
Ich sage nicht, dass die Ursache aller Probleme auf
dem Balkan der Krieg ist. Ich sage nur: Dieser Krieg war
nicht nur völkerrechtswidrig, sondern er hat auch die dortigen Probleme nicht gelöst, sondern sie zum Teil verschärft. Er hat das militärische Denken weiter geschürt,
statt nach politischen Lösungen zu suchen.
({17})
Das ist meine Kernkritik.
Herr Kollege Gysi,
Sie müssten bitte zum Schluss kommen.
Lassen Sie mich deshalb als
letzten Satz sagen: Wenn Sie sagen, wir verwechselten
Täter und Opfer, dann verstehe ich das wirklich nicht. Ich
verstehe nicht einmal, was Sie damit meinen.
({0})
- Ich will Ihnen das erläutern. - Wenn Sie der Meinung
sind, die NATO ist kein Täter, können Sie doch aber nicht
im Ernst der Meinung sein, sie sei Opfer. Das ist ja wohl
noch absurder.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Franz Thönnes,
Doris Barnett, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Ekin Deligöz,
Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Jobrotation im Arbeitsförderungsrecht verankern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer
Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Bessere Erwerbsaussichten für ältere Arbeitnehmer durch bessere Qualifizierung
- Drucksachen 14/5245, 14/2909, 14/5608 Berichterstattung:
Abgeordneter Adolf Ostertag
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Es handelt sich hierbei um einen Rednertausch
innerhalb der Koalition; das ist abgesprochen.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir, die Koalitionsfraktionen, bringen heute einen
Antrag zur Einführung der Jobrotation als ein Regelinstrument in der Arbeitsmarktpolitik ein. Dies ist ein weiterer Baustein der dringend notwendigen Modernisierung
der Arbeitsmarktpolitik.
Die 90er-Jahre waren ein Zeitraum, in dem die Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Arbeitsmarktpolitik den Schlaf der Gerechten geschlafen hat, in dem in
unseren Nachbarländern schon längst begonnen wurde,
die Arbeitsmarkpolitik zu modernisieren. Modernisieren
in diesem Sinne heißt, Instrumente zu entwickeln, die sich
auf die Entwicklungen in den Unternehmen einstellen, bei
denen sich Qualifikation als ein wesentliches Schlüsselmerkmal herausstellt, bei denen Qualifikation über das
gesamte Arbeitsleben immer wieder nachgebessert werden muss.
Die in der Bundesrepublik Deutschland angewandte
Technik ist innerhalb von zehn Jahren bereits zu 80 Prozent überlebt. Das bedeutet Druck auf die kleinen und
mittleren Unternehmen, auf die Großunternehmen, aber
insbesondere auch auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sich dieser Situation anzupassen. Weil diese
Entwicklungen in den letzten zehn Jahren verschlafen
wurden, ist heute die Situation dadurch gekennzeichnet,
dass einerseits hohe Arbeitslosigkeit und andererseits
Fachkräftemangel herrscht. Es gibt Fachkräftemangel
im IT-Bereich und an den Schulen, während auf der anderen Seite 88 000 Elektriker Beschäftigung suchen, für
die aber nur 20 Stellen angeboten werden.
Dies alles wirft Schlaglichter auf die Entwicklung, die
deutlich machen, dass Qualifikation auf der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auf der Seite der
Betriebe oft nicht zusammenpasst. Gleichzeitig beschleunigt sich die technische Entwicklung. Das heißt, die Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss
auch im Arbeitsprozess selbst weitergeführt werden. Daher hat das Bündnis für Arbeit, wie ich finde, völlig zu
Recht darauf hingewiesen, dass wir von einer Arbeitsmarktpolitik abgehen müssen, die immer erst agiert, wenn
das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wenn zum Beispiel
hohe Langzeitarbeitslosigkeit zu verzeichnen ist, müssen
wir eine Arbeitsmarktpolitik in Angriff nehmen, die vorbeugt im Sinne sowohl der Verhinderung von Langzeitarbeitslosigkeit als auch der Qualifizierung der in den Betrieben Beschäftigten.
({0})
Aus diesem Grund haben wir uns bei unseren Nachbarinnen und Nachbarn in Dänemark etwas abgeschaut,
nämlich das Instrument der Jobrotation. In Dänemark
wird Jobrotation schon seit 1993 praktiziert. Dort werden
in einer intelligenten Art und Weise zwei Elemente verbunden. Wir unterstützen gerade die kleinen und mittleren
Betriebe bei der betrieblichen Qualifikation ihrer Beschäftigten. Wir machen für diesen Zeitraum das Angebot, Langzeitarbeitslose beispielsweise als Stellvertreter
und Stellvertreterinnen in die Betriebe zu holen, im Betrieb quasi on the job weiterzuqualifizieren und sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen. Damit schlagen wir
zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir helfen den Betrieben
und wir reduzieren die Langzeitarbeitslosigkeit.
({1})
Das ist nicht der Stein der Weisen; denn die Arbeitsmarktpolitik kennt keinen Stein der Weisen und keinen
Königsweg, weil wir in der Arbeitsmarktpolitik sehr unterschiedliche Maßnahmen zusammenfügen müssen. Die
Erfahrungen in Dänemark und auch in der Bundesrepublik Deutschland, Nordrhein-Westfalen beispielsweise,
wo so etwas schon ausprobiert worden ist, zeigen: Es können mehr als 60 Prozent der Arbeitslosen, die auf diese
Weise in Betriebe integriert werden, anschließend dort
bleiben.
({2})
Von diesen 60 Prozent
({3})
wiederum sind 40 Prozent Langzeitarbeitslose. Das ist
wirklich ein großartiger Erfolg. In Dänemark sind sogar
80 Prozent der so beschäftigten Arbeitslosen in den Betrieben weiter beschäftigt worden.
Dies ist ein erster Schritt, ein Element zur Modernisierung der Arbeitsmarktpolitik, die überfällig ist. Wir werden die nächsten Schritte tun. Wir werden noch vor der
Sommerpause eine Reform der Kernelemente des SGB III
vorlegen, bei denen es um die aktive Arbeitsmarktpolitik
geht.
Ich danke Ihnen.
({4})
Jetzt spricht die Kollegin Birgit Schnieber-Jastram für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wundere
mich schon sehr, dass Sie es, nachdem Sie unseren Antrag
zur Einführung der Jobrotation ein Jahr lang im Ausschuss haben schmoren lassen, jetzt mit Ihrem Antrag so
eilig haben. Aber Sie müssen das verlorene Jahr ein
Stückchen einholen. Wir begrüßen das. Lieber späte Einsicht als keine Einsicht. Lernfähigkeit, wenn auch nur in
diesem einzelnen Punkt, ist immer lobenswert.
Sie werden mir auch heute nicht glauben, wenn ich
sage, dass wir der schnelle Igel und Sie der eingebildete,
aber dröge Hase sind. Jedenfalls waren wir da, wo Sie
heute sind, schon vor einem Jahr.
({0})
Wenn wir den deutschen Arbeitsmarkt einmal im internationalen Maßstab betrachten, dann wird schnell klar,
dass die Regierung Schröder zulasten von 5,7 Millionen
offiziellen und verdeckten Arbeitslosen den begriffsstutzigen Hasen darstellt und unsere europäischen Partner der
einfallsreiche Igel sind. Frau Dr. Dückert, Sie haben es
eben schon gesagt: Unsere Nachbarländer haben Modernisierung und Deregulierung der Arbeitsmarktpolitik
längst durchgeführt, während Arbeitsminister Riester
noch immer nach Wegen sucht, den institutionalisierten
Stillstand als Reform zu verkaufen. Die Arbeitsmarktpolitik des Hauses Riester ist ineffizient, behäbig und einfallslos.
({1})
Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Denn das bestätigen Ihnen die OECD und der Wirtschaftsweise Professor Siebert. Wenn Ihnen diese Fachleute nicht reichen,
dann glauben Sie doch einfach den Zahlen, die die
schlechte Bilanz der Schröder-Regierung eindeutig belegen. Schauen Sie doch einmal auf die Eurostat-Statistiken, die aufgrund einheitlicher und anerkannter Kriterien
erstellt werden: Wir liegen bei der Arbeitslosenquote bei
zwölf ausgewerteten Ländern auf dem neunten Platz, einen Prozentpunkt hinter Belgien, das im letzten Jahrzehnt
nun wirklich einen ziemlich schwierigen Umstrukturierungsprozess zu durchlaufen hatte.
({2})
Ich nenne Ihnen einmal die Erfolgsdaten der anderen:
Niederlande 2,8 Prozent, Portugal 4,4 Prozent, Dänemark
4,7 Prozent, Schweden 5,4 Prozent. Die Misserfolgsbilanz der Regierung Schröder in Deutschland lautet: 7,8 Prozent. Führen Sie sich das zu Gemüte und feiern Sie hier nicht Erfolge. Beim Grand Prix des
Arbeitsmarktes bekommt die Regierung Schröder eindeutig null Punkte.
({3})
Es ist kein Zufall, Frau Dr. Dückert, dass Sie hier die
Einführung der Jobrotation in Deutschland als ein Kernstück der geplanten Reform des SGB III verkaufen wollen.
({4})
In Dänemark, dessen Idee der Jobrotation die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion lange vor Ihnen übernommen
hat, ist dieses Instrument nur ein Baustein unter vielen.
Dort gibt es schon lange begleitend etwa eine obligatorische und gezielte Qualifizierung sowie eine Verpflichtung
zur Arbeitsannahme nach drei Monaten.
Die Riester-Baustelle hingegen versucht, mit diesem
einen Baustein das gesamte Gebäude der Arbeitsmarktpolitik zu renovieren. So sieht das Ergebnis dann auch
aus: Liebe Kollegen von der Regierungskoalition, die
Fassade Ihrer angeblichen Erfolge auf dem Arbeitsmarkt
bröckelt.
({5})
Es war schon sehr kennzeichnend, dass wir soeben in
der Rede von Frau Dr. Dückert wieder kein einziges Wort
zum Arbeitsmarkt Ost gehört haben. Sie versuchen
schon gar nicht mehr, die Risse auf der Ostseite zu reparieren. Ich frage Sie: Was tun Sie für die gut 20 Prozent
Erwerbslosen in den neuen Ländern?
({6})
Durch das bislang schützende Dach aus Konjunktur und
Demographie regnet es inzwischen bedenklich herein.
Denn die Wirtschaftsaussichten werden düsterer und obwohl jährlich 200 000 Arbeitnehmer mehr in Rente gehen
als nachkommen, verbesserten sich die Arbeitsmarktzahlen nicht mehr.
Die Fenster, durch die Sie die Erfolge unserer Nachbarn wahrnehmen können, haben Sie mit ideologischen
Brettern zugenagelt.
({7})
Deshalb sehen Sie nicht, welche Ideen man hat und welche Erfolge in Europa in der Arbeitsmarktpolitik erzielt
werden. Dort findet nämlich die Modernisierung statt,
während niemandem im Hause Riester zum Thema „Reform des Arbeitsmarktes“ irgendetwas einfällt.
Was macht der Bundeskanzler stattdessen? - Er plaudert im so genannten Bündnis für Arbeit am grünen Tisch
mit den Tarifparteien über Arbeitsplätze. Die Erwerbslosen in Deutschland haben die Hoffnung auf dieses Teetrinken mit Gesprächen zum Thema Arbeit längst aufgegeben. Neu ist in der Tat, dass bei diesem Teetrinken ziemlich viel Porzellan zerschlagen wird: Die
Gewerkschaften haben den Ausstieg aus der Tarifrunde
angekündigt.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und vom
Bündnis 90/Die Grünen, in den Vorschlägen, die Sie seit
kurzem als Reform der Arbeitsvermittlung verkaufen
wollen, steckt absolut nichts Neues. Sie machen den Leuten wirklich etwas vor. Wenn Sie mir als Rednerin der
Opposition nicht glauben, dann glauben Sie doch immerhin einem Sprecher der Bundesanstalt für Arbeit. Der hat
zu Ihren Vorschlägen nur einen Satz gesagt: „Im Prinzip
steht dies alles schon im Sozialgesetzbuch III.“ Das wissen Sie - auch Sie, Herr Andres - so gut wie wir alle, die
sich mit dieser Materie beschäftigen.
Die Bundesanstalt für Arbeit hat wirklich Recht:
Wiedereingliederungspläne für Langzeitarbeitslose werden in § 6 des SGB III gefordert. Eine Sperrfrist für Lohnersatzleistungen bei Verweigerung zumutbarer Arbeit
existiert bereits heute im geltenden Recht.
({9})
Nachdem uns die Bundesregierung jahrelang Münchhausengeschichten über die angeblich so großen Erfolge
des JUMP-Programms, über den angeblich so erfolgreichen Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit, über die
Chefsache Ost, von der heute überhaupt niemand mehr
spricht, und über den Arbeitsmarkt in den neuen Ländern
erzählt hat, greift sie jetzt in die Märchenkiste. Was Sie,
Herr Andres, vor kurzem als Schritte zur Reform des
Arbeitsförderungsgesetzes vorgestellt haben, erinnert
stark an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“: keine
Substanz, nichts Neues, nichts Greifbares! Sie hoffen,
dass niemand merkt, dass die Regierung mit ihrer Arbeitsmarktpolitik nackt dasteht. Sie sollten das in Ihren
Reihen wirklich einmal hinterfragen.
({10})
Was mich am meisten verwundert, ist die Tatsache,
dass sich die Bundesregierung im Vorfeld der Äußerungen des Staatssekretärs Andres überhaupt nicht mit der
Bundesanstalt für Arbeit abgestimmt hat. Auch da hat der
Sprecher der Bundesanstalt für Arbeit angesichts der - ich
zitiere - „wenig konkreten“ Aussagen des Staatssekretärs
erklärt, es sei wirklich zweifelhaft, ob die Arbeitsämter jemals die ihnen zugedachte Aufgabe leisten können. Man
muss dabei wissen, dass jeder Arbeitsvermittler bereits
heute zwischen 600 und 800 Arbeitssuchende betreut. In
Zukunft sollen nach den Vorstellungen der Bundesregierung für 1,4 Millionen Langzeitarbeitslose noch so
genannte maßgeschneiderte Wiedereingliederungsprogramme ausgearbeitet und überprüft werden.
({11})
Das ist absurd und jenseits jeder Realität. Hätten Sie doch
vorher einmal die Bundesanstalt für Arbeit gefragt, Sie
hätten wahrscheinlich einen solchen Schnellschuss nicht
losgelassen.
Meine Vermutung, wie diese völlig unausgegorenen
Vorschläge aus dem Hause Riester zustande gekommen
sind, ist folgende: Die Bundesregierung hat endlich gemerkt, dass ihre Arbeitsmarktpolitik völlig ineffektiv ist
und dass sie von den Reformvorschlägen der Opposition
überholt wird. Deshalb musste schnell irgendein Vorschlag her, so einfallslos und praktisch undurchführbar er
auch sein mochte.
({12})
So kamen die Äußerungen von Staatssekretär Gerd
Andres zustande. Sie waren mit heißer Nadel gestrickt,
geltendes Recht wurde neu verpackt und in der Praxis sind
sie kaum durchführbar. So sehen diese Vorschläge aus.
({13})
Die Bundesregierung tut so, als würde sie dem Arbeitsmarkt einen Turbomotor einbauen, dabei hat sie gerade
erst entdeckt, dass es nicht nur zwei Getriebegänge gibt,
sondern dass man auch in den dritten Gang schalten kann.
({14})
Ich sage Ihnen: Ein modernes Getriebe hat fünf Gänge
und 5,7 Millionen offene und verdeckte Arbeitslose haben
ein Recht darauf, dass Sie das endlich erkennen und beim
Arbeitsmarkt hoch schalten und durchstarten.
({15})
Übernehmen Sie doch unsere Vorschläge und gehen
Sie die notwendigen Reformen energisch an: Setzen
Sie die 43 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik endlich
effektiv ein und verzichten Sie auf Ihre Gießkannenprogramme ohne Erfolgskontrolle! Sie wissen genau, dass das,
was Sie in diesem Bereich machen, völlig ineffizient ist.
({16})
Schaffen Sie rasch die Voraussetzungen für eine Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe!
({17})
Bieten Sie endlich Anreize zur Arbeit und helfen Sie Geringqualifizierten, in Arbeit zu kommen.
({18})
- Frau Dr. Dückert, ich kann es nicht mehr hören. - Bauen
Sie endlich die Überregulierung des Arbeitsmarktes ab wir messen Sie an Ihren Versprechen -,
({19})
damit in Deutschland zusätzliche Arbeitsplätze entstehen!
({20})
Sie tun trotz vollmundigster Versprechen nichts. Sie verlassen sich bei der Arbeitsmarktpolitik nur auf den Bevölkerungsrückgang und die Konjunktur.
({21})
Immer mehr Menschen erkennen, was auch die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ vor einiger Zeit schrieb:
Die SPD versteht zu wenig von der neuen Arbeitswelt. Sie hat ihre Chance zur Reform verpasst.
({22})
Ihr Rückgriff auf Ideen der Opposition von vor einem Jahr
und Ihr Alibi-Reförmchen des Arbeitsförderungsgesetzes
belegen dies sehr deutlich.
Ich freue mich, den Abgeordneten Andres in Ihren Reihen zu begrüßen.
Vielen Dank.
({23})
Jetzt erteile ich dem
Abgeordneten Gerd Andres zu einer Kurzintervention das
Wort.
({0})
Das, was Sie als langjähriger Arbeitsvermittler von sich geben, kann man in den Zeitungen nachlesen. Darauf brauche ich nicht zu reagieren.
Frau Schnieber-Jastram, Sie haben mich angesprochen. Darauf möchte ich kurz reagieren. Die Debatte ist
nicht wegen meiner öffentlich gemachten Äußerungen
anberaumt worden. Ich habe übrigens sehr bedauert, dass
es in der letzten Sitzungswoche nicht zu einer Aktuellen
Stunde über dieses Thema gekommen ist, denn darin hätte
ich Ihnen einiges dazu gesagt.
({0})
Sie haben natürlich völlig Recht damit, dass bestimmte
Dinge im SGB III stehen. Aber ich möchte Sie darauf hinweisen, dass es Kann-Regelungen sind. Machen Sie sich
einmal die Mühe, bei der Bundesanstalt für Arbeit nachzufragen, wie viele Eingliederungsvereinbarungen es
gibt. Mit dem Hinweis, es stehe schon im Gesetz, werden
Sie nicht weit kommen.
Ich möchte noch eine weitere Bemerkung machen. Sie
haben mehrfach das Bild vom Hasen und Igel benutzt.
Dazu kann ich nur sagen: gut gebrüllt. Sie haben aber leider viel zu kurz gedacht. Wenn Sie sich einmal an die eigene Nase fassen, werden Sie feststellen, wie viele Arbeitslose, insbesondere jugendliche Arbeitslose, und
welch verpfuschte Arbeitsmarktpolitik Sie uns hinterlassen haben. Ich kann mit Stolz und Überzeugung sagen,
dass diese Bundesregierung hier eine Menge auf den Weg
gebracht hat.
Unter Ihrer Regierungszeit sind die Zahlen der Langzeitarbeitslosen, der jugendlichen Arbeitslosen und der
Arbeitslosen allgemein Jahr für Jahr bis auf Rekordhöhe
im Jahre 1998 angestiegen. Bei uns geht die Arbeitslosigkeit zurück.
({1})
Ich halte das für einen ganz wichtigen Erfolg.
Im Sommer werden wir eine schöne Reform des
SGB III machen. Dann werden Sie sich wundern. Bis dahin können Sie das, was Sie hier heute erzählt haben, noch
einmal nachlesen und darüber nachdenken.
Schönen Dank.
({2})
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Schnieber-Jastram, bitte.
Es tut mir
für die Kollegen fast ein bisschen Leid, dass ich Ihre Zeit
noch länger in Anspruch nehmen muss.
({0})
Herr Andres, Sie machen ein zweites Mal den Fehler,
dass Sie so tun, als ob Ihre Arbeitsmarktpolitik in Ordnung sei. Sie ist nicht in Ordnung. Es gibt im Osten eine
eklatante Zunahme der Arbeitslosigkeit. Ich habe bisher
vermisst, dass diese Bundesregierung dazu klar Position
bezieht.
({1})
Hinsichtlich der Arbeitsmarktdaten haben Sie von der
Registrierung der 630-Mark-Verhältnisse und von dem
demographischen Faktor profitiert, der bewirkt, dass jährlich rund 200 000 Menschen in den Ruhestand gehen,
ohne dass entsprechender Nachwuchs da ist.
Um einen Bereich haben Sie sich aber fast nicht gekümmert, nämlich um die Langzeitarbeitslosen. Wir müssen diesen Leuten helfen, in Arbeit zu kommen. Es reicht
aber nicht, immer mehr Geld in Systeme zu stecken, sondern man muss schauen, mit welcher Effizienz dieses Geld
in den Systemen verwendet wird, wo es landet und ob es
dazu führt, dass sich Langzeitarbeitslose am Ende immer
auf der Drehscheibe von Qualifizierung und ABM befinden.
({2})
Das ist die Situation. Das müssen auch Sie zugestehen.
Ich will das Hase-und-Igel-Spiel gar nicht gerne spielen.
Ich will Ihnen sagen, worum es uns geht: darum, diesen
Menschen zügig zu helfen und nicht so zu tun, als ob dies
längst passiert sei.
({3})
Nächster Debattenredner ist der Kollege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe gerade eben gedacht: Wenn
Frau Schnieber-Jastram diese Rede zwischen 1987 und
1989 im Deutschen Bundestag gehalten hätte, hätte Sie
von der SPD-Fraktion mit Sicherheit tosenden Beifall erhalten.
({0})
Sie hätte damals tolle Chancen gehabt, die Projekte, die
sie jetzt anspricht, in praktische Politik umzusetzen.
({1})
Da war der Akku bei ihr aber leer.
Lassen Sie mich grundsätzlich sagen: Es war viel Rhetorik und äußerst wenig Inhalt. Mit Ihrem Beitrag haben
Sie vielleicht genug heiße Luft ablassen können, um Ihre
Fraktion zu erwärmen. Sie haben aber keinen einzigen
konstruktiven Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit geleistet.
({2})
Sie haben auch - das will ich Ihnen deutlich sagen - die
Erfolgsbilanz der jetzigen Regierung beim Abbau der Arbeitslosigkeit völlig ignoriert.
Da Sie hier Beispiele aus dem Ausland vorgetragen haben, will ich Ihnen die Zahlen von 1996, zur Zeit der
CDU/CSU- und F.D.P.-Regierung, nennen: Arbeitslosenquote 10,4 Prozent, 37,27 Millionen Beschäftigte. Ein
Jahr später, 1997, während Ihrer Regierungsarbeit, war
die Arbeitslosenquote um 1 Prozent auf 11,4 Prozent gestiegen; das war ein Abbau der Zahl der Erwerbspersonen
um 100 000. Wir haben 1998 die Regierungsverantwortung übernommen und haben 1999 die erste Jahresbilanz
vorlegen können: Arbeitslosigkeit 10,5 Prozent, Aufbau
der Beschäftigung um 600 000 auf 37,94 Millionen. Das
sind Erfolgszahlen, die sich sehen lassen können.
({3})
Das setzt sich dann auch im Jahre 2000 fort: Die Arbeitslosenquote sinkt um 0,9 Prozent - von 10,5 Prozent auf
9,6 Prozent -, ein erneuter Anstieg der Zahl der Erwerbspersonen um 400 000 ist zu verzeichnen, eine Million
Arbeitsplätze sind hinzugekommen. Das ist etwas ganz
anderes als das, was Sie hier darstellen. Sie malen
schwarz. Ich sage es noch einmal: Sie haben Sprechblasen losgelassen, haben damit aber nicht einem einzigen
Arbeitslosen geholfen, in ein neues Beschäftigungsverhältnis zu kommen.
({4})
Wenn man einen Blick in die aktuellen Zeitungen wirft,
dann könnte man in der Tat zu dem Eindruck gelangen,
dass die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leicht ist; denn
glaubt man selbst ernannten Experten, dann lässt sie sich
hervorragend auf statistische Weise bekämpfen. Man bereinigt nur die offizielle Arbeitslosenzahl um all diejenigen, die angeblich aus verschiedenen Gründen Arbeit
suchen, und schon wäre die Arbeitslosenzahl halbiert.
Dann aber würden dieselben Gazetten ein Geschrei über
Taschenspielertricks und Milchmädchenrechnungen anstimmen. Dann würde plötzlich auch wieder die stille Reserve erwähnt. Es würden die erwähnt werden, die in Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen sind. Es
würde plötzlich ein ganz anderes Bild gezeichnet werden.
Deshalb sage ich hier heute ganz deutlich: Mit solchen Taschenspielertricks lässt sich die Arbeitslosigkeit nicht
bekämpfen.
({5})
Die anderen Schlagzeilen der letzten Wochen lauten:
Mehr Druck auf Arbeitslose, Zuckerbrot und Peitsche, die
Daumenschrauben gegenüber Arbeitslosen wieder anziehen. - Das sind im Kern mittelalterliche Methoden, mit
denen in der Öffentlichkeit ein Zerrbild über die Arbeitslosigkeit dargestellt wird, aber nicht ein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen worden ist.
({6})
Es ist eben ein neoliberaler Trugschluss, dass man nur
mehr Druck auf Arbeitslose ausüben muss, damit sie vorhandene Arbeitsplätze auch annehmen. Sie wissen, dass
das Unsinn ist. Sie wissen, es fehlen Arbeitsplätze, nicht
Arbeitswillige. Zuckerbrot und Peitsche - das ist nicht sozialdemokratische Politik. Damit lässt sich die Arbeitslosigkeit jedenfalls nicht senken.
Seit dem Regierungswechsel - ich habe die Zahlen angesprochen - können wir eine äußerst positive Bilanz vorlegen. Wir werden diesen erfolgreichen Weg zum Abbau
der Arbeitslosigkeit natürlich weiter fortsetzen. Wir werden auf diesem Erfolgsweg weiterkommen, indem wir
eine Vermittlungsoffensive starten,
({7})
die jetzt ganz konkret angegangen wird.
Sie, liebe Frau Schnieber-Jastram, schlagen stattdessen
den Aufbau einer Arbeitslosenpolizei vor. Ich sage dazu:
Anstatt die Vermittlungs- und Qualifizierungsbemühungen der Arbeitsämter zu stärken, wollen Sie dafür sorgen, dass der Missbrauchsverdacht und die Ressourcen
der Arbeitsämter - ({8})
- Ich habe die Vorschläge von Herrn Merz gelesen. Wollen Sie sich von dem, was Ihr Fraktionsvorsitzender dazu
gesagt hat, distanzieren? Das ist ja noch schöner. Es ist
hoch interessant, dass Sie sich von Ihrem Fraktionsvorsitzenden distanzieren wollen. Wir stellen das fest. Sie werden dann also gemeinsam mit uns die Arbeitsmarktpolitik
offensiv angehen und sich von Ihren Irrwegen distanzieren.
Die CDU hat auf diesem Gebiet, wie ich es einschätze,
doch einige Schwierigkeiten. Ich will es deutlich sagen:
Wenn sie mit dieser Missbrauchsdebatte fortfährt, dann
müsste ich fragen: Was macht sie eigentlich, wenn die
Steuerfahndung jeden Unionspolitiker durchleuchtet,
weil einige wenige Kollegen bei der Verbuchung von
Spenden nicht korrekt gehandelt haben?
({9})
- Das ist nicht unverschämt, sondern das ist der Kern dessen, was Sie durch Ihr Zündeln bezüglich der Nichtarbeitswilligkeit von Arbeitslosen an den Tag legen.
({10})
Auch der zweite Vorschlag Ihrer Fraktion geht fehl,
weil Sie vorschlagen, in den neuen Bundesländern - das
habe ich sehr wohl gelesen - arbeitsrechtliche Regelungen außer Kraft zu setzen, um zum Beispiel Sozialdumping, Tarifdumping und Niedriglöhne zu ermöglichen.
Glauben Sie etwa ernsthaft, dass mit diesen Mitteln ein
Zuwachs an Beschäftigung erzielt werden kann? Sie haben den Menschen im Osten vor 1998 etwas vorgemacht
und Ihr Ehrenvorsitzender a. D. hat blühende Landschaften versprochen. Das war eine Fehleinschätzung. Dafür
müssen Sie sich auch heute in die Verantwortung nehmen
lassen.
({11})
Wenn es nämlich ein Erfolg versprechender Weg wäre,
dass mit Tarif- und Sozialdumping neue Arbeitsplätze entstehen könnten, dann müssten wir im Osten das Paradies
in dieser Republik vorfinden. Das muss einmal ganz deutlich gesagt werden.
({12})
Das Leitbild sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik
lautet: fördern und fordern. Die Reihenfolge war ganz bewusst gewählt: erst das Fördern, dann das Fordern. Die
Koalitionsfraktionen haben sich in dieser Legislaturperiode darauf verständigt, das Arbeitsförderungsrecht
wirksamer auszugestalten. Dabei sollen möglichst viele
Mittel von passiven in aktive Leistungen umgeschichtet
werden.
({13})
Besondere Bedeutung haben die Beschäftigung von
Frauen und eine bessere Verzahnung mit regionaler Strukturpolitik. Soweit unsere grundsätzlichen Ziele.
Zur Umsetzung haben wir gesagt: Eine Reform des
SGB III braucht eine gründliche Vorbereitung. Andererseits bestand aber auch Handlungsdruck. Ich habe auf die
Daten zu Beginn der Regierungsübernahme hingewiesen.
Deshalb haben wir aufgrund der hohen Dimension der
Jugendarbeitslosigkeit, die keinen Aufschub duldete,
sofort gehandelt, haben das JUMP-Programm aufgelegt
und es erfolgreich fortgesetzt. Im Übrigen haben wir auch
den Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit, das Sie
als Teestunde bezeichnen, zustande gebracht.
({14})
Die entsprechenden Zahlen machen heute deutlich, dass
das Bündnis für Arbeit ein erfolgreiches Projekt dieser
Bundesregierung ist.
({15})
Die Vorschriften, die Sie uns hinterlassen haben, waren
teilweise schlicht verfassungswidrig. Ich will hier nur das
Stichwort Einmalzahlungen bringen. Auch hier haben wir
sofort gehandelt. Wir haben verfassungsmäßiges Recht
geschaffen. Seit Jahresanfang ist gesetzlich sichergestellt,
dass Sozialbeiträge auf Weihnachts- und Urlaubsgeld
tatsächlich zu höheren Lohnersatzleistungen führen. Für
einen Empfänger von Arbeitslosengeld bedeutet dies im
Durchschnitt 8 Prozent mehr Geld in der Börse. Das ist
gerecht. Das ist notwendig.
({16})
- Herr Niebel, ich höre gerade, dass Sie die Leistungen im
Kern senken wollen.
({17})
Das ist keine sozialdemokratische Politik. Sie wollen die
Leistungen senken. Das haben Sie gerade gesagt. Das
werden wir den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land
deutlich machen.
({18})
Lassen Sie mich einen dritten Punkt ansprechen: Sie
haben Vorschriften geschaffen, die aus meiner Sicht unsinnig sind und im Übrigen die Vermittlungsbemühungen
der Arbeitsämter lähmen. Ich will das Stichwort Meldefristen für Arbeitslose aufgreifen. Wir haben diese unsinnige Regelung aus dem Arbeitsförderungsgesetz gestrichen, weil wir nicht mehr Bürokratie, sondern mehr Zeit
für aktive Vermittlungsgeschäfte brauchen.
Deswegen haben wir, viertens, auch aus dem Bündnis
für Arbeit wichtige Impulse aufgenommen. Ich nenne das
Beispiel Altersteilzeit. Das Gesetz zur Altersteilzeit, das
Sie 1997 verabschiedet haben, war ein Fehlschlag und Sie
wissen das, Frau Schnieber-Jastram. Ihre Maßnahme hat
dazu geführt, dass weniger als 5 000 Beschäftigte pro Jahr
die Möglichkeiten des Gesetzes in Anspruch genommen
haben, weil Ihr Gesetz eben nicht praxistauglich war. Wir
haben es verbessert. Wir wissen heute, dass durch das Altersteilzeitgesetz viele junge Menschen erstmals eine Beschäftigungsmöglichkeit erhalten haben. Insofern ist auch
dieses Instrument - ein Ergebnis aus dem Bündnis für Arbeit - erfolgreich.
Ich will als fünften Punkt ansprechen: Die jetzige Bundesregierung hat die Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau verstetigt. Das war ein
Wahlversprechen und wir haben es gehalten. In diesem
Jahr stehen allein 44 Milliarden DM - also 6 Milliarden DM mehr als 1998 unter Ihrer Regierung - für aktive
Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung. Die Arbeitslosenzahlen sind deutlich gesunken, weil wir noch mehr finanzielle Mittel für ein hohes Aktivierungsniveau einsetzen.
Das zeigt: Wir haben mit der Stop-and-go-Politik der Vorgängerregierung Schluss gemacht, die für den Arbeitsmarkt keine verlässliche Planungssicherheit geschaffen
hat.
({19})
Schauen Sie sich einmal die Datenlage an: Sie haben 1997
den Haushalt stark aufgestockt, um im Wahlkampfjahr
1998 massenhaft ABM-Stellen schaffen zu können, damit
die Arbeitsmarktmisere verschleiert wird.
({20})
Lassen Sie mich klar sagen: Wir sind nicht für Strohfeuer, sondern für eine verlässliche, konkrete und kontinuierliche Arbeitsmarktpolitik. Dazu müssen die Mittel,
die zur Verfügung stehen, auf hohem Niveau verstetigt
werden.
({21})
Wir sind, im Gegensatz zu Ihnen, eine Reform des
Arbeitsförderungsgesetzes angegangen, eine Reform,
die im nächsten Jahr umgesetzt wird. Bei dieser Reform
geht es nicht darum, kurzfristig mehr Geld in die Bundesanstalt für Arbeit zu pumpen, sondern darum, dauerhaft
die Möglichkeiten der Arbeitsförderung zu verbessern.
Wir werden dazu noch vor der Sommerpause - das ist unsere Absicht - einen Gesetzentwurf vorlegen. Wir wollen
dabei gute Beispiele aus unseren Nachbarländern, die hier
schon mehrfach angesprochen worden sind, aufgreifen.
Die Förderung von Jobrotation ist eines dieser erfolgreichen Beispiele. Über unseren Antrag hierzu werden wir
im Anschluss an die Debatte abstimmen.
({22})
Von Jobrotation ist in den letzten Monaten vielfach die
Rede gewesen. Meine Koalitionskollegin, Frau Dückert,
hat es angesprochen, Frau Schnieber-Jastram. Ich will
dazu ganz deutlich sagen: Dieses erfolgreiche Instrument
- in den Nachbarländern, aber auch bei uns in NordrheinWestfalen und in anderen Bundesländern erprobt - ist ein
Baby, das viele Väter und Mütter hat.
({23})
Weil das so ist, hat keiner der hier Anwesenden einen Anspruch auf ein alleiniges Copyright in Bezug auf diese Aktivitäten. Arbeitgeber und Gewerkschaften wollen mehr
Jobrotation.
({24})
- Ihr Antrag - das müssen Sie den Bürgerinnen und Bürgern sagen - ist eingeschränkt und zielt auf ältere Beschäftigte ab. Unser Antrag geht erheblich weiter und ist
damit erheblich zukunftsweisender. Sie müssen die Öffentlichkeit darüber aufklären, welche Elemente Ihr Antrag tatsächlich enthält. Er unterscheidet sich von dem,
was wir vorgelegt haben, doch ganz erheblich, Frau
Schnieber-Jastram.
({25})
Ich bin froh, dass die Opposition heute dafür ist. Die
Union ist allerdings nur zaghaft dafür; ich habe es bereits
angesprochen.
({26})
- Sie sind deswegen nur zaghaft dafür, weil Sie ja nur befristete Modellprojekte, begrenzt auf ältere Arbeitslose,
fordern. In diesem Zusammenhang sollten sich die Christdemokraten dieses Hauses ein Beispiel an Ihren Freunden
an Rhein und Ruhr nehmen, die dort zusammen mit den
Sozialdemokraten eine Initiative zur Jobrotation in NRW
ausdrücklich unterstützen.
({27})
Herr Kollege
Brandner, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Wir werden im Arbeitsförderungsgesetz vieles ändern, was insbesondere den Bereich
Jobrotation betrifft, das heißt, wir wollen Beschäftigte für
Weiterbildungszwecke freistellen und deren Arbeitsplätze
mit Arbeitslosen befristet besetzen. Sie sollen Lohnkostenzuschüsse erhalten. Wir wollen keine Beschäftigung
zweiter Klasse. Wir wollen insbesondere auch nicht in das
Tarifgefüge eingreifen. Vielmehr wollen wir
({0})
sozial abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse durch das
Jobrotations-Programm schaffen. Bei der Jobrotation
werden zwei Ziele miteinander verknüpft, nämlich einerseits Arbeitslosen neue Chancen zu eröffnen und andererseits den in den Betrieben Beschäftigten die Möglichkeit
zur Weiterbildung zu geben.
Lassen Sie mich als letzten Gedanken sagen:
Herr Kollege, das
muss wirklich ein kurzer Gedanke sein. Sie hatten ausreichend Redezeit.
- Nach Untersuchungen werden im Jahr 2005 80 Prozent der Arbeitnehmer Ausbildungen haben, die älter als zehn Jahre sind. Gleichzeitig
werden 80 Prozent der Technologien jünger als zehn Jahre
sein. Das zeigt die Bedeutung des lebenslangen Lernens
Herr Kollege
Brandner, das ist unfair gegenüber den anderen Kolleginnen und Kollegen.
- und die Notwendigkeit flexibler Instrumente zur Förderung der beruflichen Weiterbildung. Diese Ziele verfolgen wir.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Nächster Redner ist
der Kollege Dirk Niebel für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Selbstverständlich werde ich das verbotene Wort
nicht benutzen. Aber Herr Brandner war mit seinen Ausführungen so weit weg von der Wahrheit, dass es schwierig sein wird, das in dreieinhalb Minuten richtig zu stellen.
({0})
Herr Brandner, beim besten Willen, eines muss man klarstellen, weil Sie hier versuchen, alte und von Ihrer Seite
gerne gepflegte Vorurteile weiterhin zu verbreiten: Die
F.D.P. ist unter anderem deshalb die Partei der sozialen
Verantwortung, weil wir dafür sorgen wollen, dass es sich
wieder mehr lohnt, zu arbeiten als nicht zu arbeiten. Deswegen müssen Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, geschaffen und erhöht werden.
({1})
Ein Sozialhilfeempfänger kann, wenn er arbeitet, im
Höchstfall 275 DM dazuverdienen. Sie müssen die Freibeträge erhöhen, damit der Anreiz, eine Tätigkeit, auch
wenn sie schlechter bezahlt ist, aufzunehmen, deutlich
stärker wird, als in der Arbeitslosigkeit und im System der
Transferleistungen zu verharren.
Herr Kollege Brandner, man muss ganz klar feststellen: Es lebt sich in diesem Land zwar nicht komfortabel
von Sozialhilfe. Aber man muss dafür sorgen, dass sich
Arbeit lohnt. Derjenige, der arbeitet, muss mehr in der Tasche haben als derjenige, der nicht arbeitet. Wenn Sie behaupten, wir wollten die Sozialleistungen kürzen, dann
sage ich Ihnen ganz klar: Das ist falsch. Das Lohnabstandsgebot lässt sich dadurch einhalten, dass man die
Einkommen der Arbeitnehmer von Steuern und Abgaben
entlastet, dass man also dafür sorgt, dass derjenige, der beschäftigt ist, mehr von dem hat, was er sich erarbeitet hat,
und nicht dadurch, dass man denjenigen, die ohnehin fast
nichts haben, noch etwas wegnimmt.
({2})
- Herr Brandner, Sie hatten Zeit genug, zu reden.
Herr Kollege Andres, Sie haben richtigerweise auf die
Veröffentlichungen der letzten Wochen hingewiesen und
unter anderem auf einen Bericht im „Focus“ von letztem
Montag angespielt, in dem es um das Pro und Kontra hinsichtlich der Meldepflicht geht. Sie haben festgestellt
- das stimmt auch -, dass ich mehrere Jahre Arbeitsvermittler gewesen bin, ehe ich in den Deutschen Bundestag
gewählt worden bin. Deswegen nehme ich mir auch das
Recht heraus, meine Fachkompetenz, die ich mir auf diesem Gebiet erworben habe, in die politische Arbeit einzubringen.
Sie schlagen uns verschiedene Wundermittel aus der
rot-grünen Mottenkiste vor, die alle in höchstem Maße
personalintensiv sind. Der Einarbeitungsplan bedingt
ebenso wie die Jobrotation die Erhebung eines umfassenden Bewerberprofils. Qualifizierungsnotwendigkeiten
müssen erkannt werden. Die Menschen müssen während
und auch nach der Vermittlung betreut werden, also auch
dann, wenn sie eine Stellvertreterstelle bekommen haben.
Der Arbeitsvermittler muss sich ein Bild von dem zu vermittelnden Arbeitslosen machen können. Das kann er sich
nur ganz schwer machen, wenn er 600 bis 800 arbeitslose
Menschen betreut und wenn der Arbeitslose, wie von Ihnen beschlossen, noch nicht einmal die Pflicht hat, einmal
in drei Monaten zu seinem Arbeitsvermittler zu gehen.
Das ist doch völlig widersinnig. Sie müssen bedenken,
wie arbeitsintensiv die Tätigkeiten sind, die Sie von den
Arbeitsvermittlern verlangen.
Als Erstes müssen Sie vermittlungsfremde Tätigkeiten
abbauen. 685 Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit beschäftigen sich mit nichts anderem als mit der Erteilung
von Arbeitsgenehmigungen. Die Zahl der Vermittler, die
das Prüfverfahren durchführen, ist darin noch nicht enthalten. Herr Jagoda und Herr Bsirske fordern schon mehr
Beamtenstellen für die Bundesanstalt für Arbeit. Gehen
Sie doch einmal andere Wege: Machen Sie eine Ausschreibung und vergeben Sie den Auftrag an Externe. Lassen Sie Privatleute das Profiling, das Coaching und das
Controlling durchführen. Vielleicht erreichen Sie dann
eher einen Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt, der dazu
führt, dass die tatsächlich Benachteiligten vernünftig betreut werden.
({3})
Das von Ihnen vorgeschlagene Instrumentarium ist
nicht neu. Sowohl der Eingliederungsplan als auch die
Sanktionen, die bei Ablehnung zumutbarer Beschäftigung
oder Qualifizierung verhängt werden, stehen schon im
Gesetz. Neu ist nur - das muss man festhalten; das befürworten wir ausdrücklich -, dass sich insbesondere die Sozialdemokratie zu diesem Instrumentarium bekennt.
Wir müssen zu einem Punkt kommen, an dem es selbstverständlich ist, dass derjenige, der eine Leistung von der
Allgemeinheit bezieht, auch grundsätzlich selbst die Bereitschaft hat, eine Gegenleistung zu erbringen. Die kann
darin bestehen, eine Tätigkeit aufzunehmen; die kann
darin bestehen, in Qualifizierungsmaßnahmen zu gehen;
die kann darin bestehen, gemeinnützige Arbeit zu leisten;
mit Sicherheit gehört aber dazu, wenigstens einmal alle
drei Monate zu seinem Arbeitsvermittler zu gehen, damit
der bei 600 bis 800 zu betreuenden Personen überhaupt
weiß, mit wem er es zu tun hat. An diesem Punkt sind Sie
mit Ihrer Politik bisher auf dem falschen Weg.
({4})
Der Bundeskanzler hat sein Ziel, auf 3,5 Millionen Arbeitslose zu kommen, außerordentlich niedrig angesetzt.
Das schafft er auf jeden Fall - selbst wenn er unter einem
Stein sitzt und nicht regiert - schon allein aufgrund der
demographischen Entwicklung. Sie wollen sich jederzeit
an Ihrem Erfolg in diesem Punkt messen lassen. Das werden wir tun; dem müssen Sie sich stellen. Sie brauchen
aber nicht mit Spielchen aus der Statistik zu kommen.
Vielen Dank.
({5})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Dr. Klaus Grehn für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Schnieber-Jastram,
ich würde gerne bei Ihrem Bild mit dem Autofahren bleiben. Ich habe in den Jahren Ihrer Regierungszeit das Gefühl gehabt, Sie haben mit dem Versprechen des ehemaligen Bundeskanzlers, die Zahl der Arbeitslosen zu
halbieren, den fünften Gang einlegen wollen. Doch anstatt im fünften Gang loszufahren, hat das Auto gebockt,
ist zurückgerollt und den Arbeitslosen über die Füße gefahren,
({0})
weil Sie alle Bedingungen für die Arbeitslosen verschärft
haben.
({1})
Was die Regierungskoalition nunmehr vorgelegt hat Jobrotation -, ist zwar nicht in ihrem Garten gewachsen,
aber auch Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, legen - um bei dem erwähnten Bild zu
bleiben - sozusagen den ersten Gang ein, haben aber die
Kupplung noch getreten. Nehmen Sie den Fuß von der
Kupplung.
({2})
- Ja, Sie haben den Gang drin. Nehmen Sie das Bein von
der Kupplung!
({3})
Sie haben jetzt angekündigt, Sie würden den Fuß von
der Kupplung nehmen, indem Sie das SGB III novellieren
wollen. Aber das scheint mir auch so eine Geschichte zu
sein! Wenn daraus das wird, was der Herr Staatssekretär
Andres verkündet hat, wenn es sich also - obwohl es doch
um Rechte und Pflichten geht - auf eine Verschärfung der
Pflichten beziehen wird, dann wird das sehr problematisch.
({4})
- Na ja, gut, Herr Brandner, ich beziehe mich auf den Jahreswirtschaftsbericht 2001.
({5})
- Nein, da steht drin, dass die Bereitschaft der Arbeitslosen zur Arbeitsaufnahme durch entsprechende Anreize erhöht und die Beschäftigungsfähigkeit verbessert werden
sollen. Nun beantworten Sie mir doch einmal die Frage,
für wie viele der Arbeitslosen das zutrifft und was Sie eigentlich bei den anderen machen, die keinen Anreiz, sondern bloß einen Arbeitsplatz brauchen.
({6})
Darauf haben Sie keine Antwort.
Wir stimmen der Jobrotation natürlich zu, weil damit
- wie gesagt - der erste Gang drin ist. Wir hoffen, dass Sie
all jene, die zu der Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit, die nach wie vor unerträglich hoch ist, etwas zu
sagen haben, bei der Vorbereitung der Novellierung des
SGB III an den Tisch holen, dass Sie zu einem Vorschlag
kommen, der akzeptabel ist und nicht nur in der Übernahme alter Ideen,
({7})
sondern darin besteht, dass Sie eigene Wege, und zwar
neue und angemessene, beschreiten und dass Sie nicht im
eigenen Saft weiterschmoren. An diesem Punkt ist momentan nichts zu hören und nichts zu sehen. Deswegen
bleibt es dabei, dass die Arbeitslosen und ihre Organisationen nach Ihren Äußerungen, Herr Staatssekretär, genau
das Gleiche wie bei der Vorgängerregierung befürchten,
nämlich dass die Arbeitslosen und nicht die Arbeitslosigkeit bekämpft werden, dass sie also vom Regen in die
Traufe kommen und erneut der Bekämpfung unterliegen,
statt dass ihnen neue Arbeitsplätze angeboten werden.
Gestern Abend haben wir ja gemeinsam in einer Runde
gesessen. Ich habe Ihnen dabei Vorschläge unterbreitet;
Sie haben darauf eher ideologisierend geantwortet. Lassen Sie das! Lassen Sie uns lieber in die Sachdiskussion
einsteigen! Dann können wir uns mit Sachargumenten gegenseitig befruchten und zu Ergebnissen kommen, die
dem Land gut tun und die den Arbeitslosen gut tun.
({8})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Ich rufe die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So-
zialordnung, Drucksache 14/5608, auf. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Jobrotation im
Arbeitsförderungsrecht verankern“, Drucksache 14/5245.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der CDU/CSU mit dem Titel „Bessere Erwerbsaus-
sichten für ältere Arbeitnehmer durch bessere
Qualifizierung“, Drucksache 14/2909. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Frak-
tion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Wöhrl, Dr. Heinz Riesenhuber, Gerda Hasselfeldt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Steuerliche Rahmenbedingungen für die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter
({0}) verbessern
- Drucksache 14/5318 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle, Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Keine Steuer beim Aktientausch
- Drucksache 14/3009 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir reden in Deutschland seit über einem Jahr über
Aktienoptionen. Professor Schindler, Sprecher einer Initiative von 40 Unternehmen aus dem IT-Bereich, hat
schon vor einem Jahr gefordert, dass die Aktienoptionen
in Deutschland so besteuert werden, dass wir im internationalen Vergleich konkurrenzfähig sind.
Wir waren voller Zuversicht, als der Staatssekretär
Siegmar Mosdorf im Frühling letzten Jahres eine energische Initiative der Bundesregierung angekündigt hat. Wir
waren noch hoffnungsvoller, als wir zu unserer Freude bemerkten, dass der hochverehrte Herr Bundeskanzler im
Sommer des vergangenen Jahres angekündigt hat, diese
Angelegenheit zur Entscheidung zu führen und im Bündnis für Arbeit zu behandeln. Die damals eingesetzte Arbeitsgruppe ist für uns bis heute nicht erkennbar. Wir waren glücklich, als wir gehört haben, dass unsere Kollegin,
die Parlamentarische Staatssekretärin Wolf, im Januar
dieses Jahres die Verbesserung der Besteuerung von Aktienoptionen zum Thema gemacht hat.
({0})
Der BDI hat mit großem Fleiß seine Hausaufgaben gemacht und im September ein Konzept vorgelegt. Der
DIHT hat sich eindeutig geäußert. Das Deutsche Aktieninstitut hat sich kürzlich in gleicher Art und Weise
geäußert. Die Bundesregierung hat mit großer Zuversicht
dargestellt, was sie tun will. Aber Sie wissen: Ein großer
deutscher Philosoph hat einmal festgestellt: „Mögen täten
wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns leider nicht
getraut.“ Das war eine der bedeutenden Aussagen von
Karl Valentin.
({1})
Wir haben im Vertrauen auf die Bundesregierung geglaubt, ein Antrag sei nicht nötig. Heute legen wir unseren Antrag vor. Ein breiter Konsens, der anscheinend die
Voraussetzung für ein markiges Handeln der Bundesregierung ist, zeichnet sich zwischen den Betroffenen, den
Sachverständigen und den Verbänden ab. Die BundesreDr. Klaus Grehn
gierung, die den Konsens braucht, bevor sie „springt“,
kann jetzt also in der Tat handeln.
Die Angelegenheit ist dadurch vorangebracht worden,
dass der Bundesrat inzwischen einen Beschluss gefasst
hat. Dieser Beschluss, dessen Inhalt sich mit dem unseres
Antrages deckt, war eindeutig und einstimmig. Wir stellen mit Freude fest, dass die Bundesratsvorlage von
Rheinland-Pfalz eingebracht worden ist. Dort regieren
derzeit SPD und F.D.P. Es gibt also einen Konsens zwischen CDU/CSU, F.D.P. und SPD. Damit ist die Grundlage für ein mutiges, entschlossenes und tatkräftiges Handeln der Bundesregierung gegeben.
Was wollen wir? Wir wollen, dass Mitarbeiter in einem
wachsenden Maße Anteilseigner werden. Das ist ein altes
Thema. Den Durchbruch auf ganzer Linie haben wir eigentlich noch nicht geschafft. Vor fast 40 Jahren habe ich
über dieses Thema mit Schorsch Leber - er war damals
Abgeordneter aus meinem Wahlkreis - diskutiert. Er hat
dieses Ziel mit Vehemenz vertreten; doch er scheiterte am
Widerstand der Gewerkschaften. Jahre später hat Professor Burgbacher - er stand den Arbeitgebern nicht fern die Sache mit Vehemenz vertreten; doch er scheiterte am
Widerstand der Arbeitgeber. Es ist schon wahr, dass sich
die ganze Angelegenheit nur mühsam und schrittweise in
die richtige Richtung entwickelt hat. Diese kleinen
Schritte sind aber nicht ausreichend. Entscheidend ist,
dass wir jetzt weiter vorankommen.
Wo müssen wir ansetzen? Mitarbeiter müssen Anteilseigner werden. Dann sind sie sehr stark daran interessiert,
dass ihre Unternehmen erfolgreich sind. Sie können dann
an diesem Erfolg teil haben. Das gilt besonders für die
jungen und innovativen Unternehmen, die am Neuen
Markt gelistet sind. Das sind Firmen im Bereich des Internet, der Software und der Biotechnologie, die mit einer
ganz neuen Strategie den Technologietransfer aus der
Wissenschaft in die Märkte organisieren. Hierin liegt die
größte Chance unserer Wirtschaft. Bisherige Mechanismen des Technologietransfers aus der Wissenschaft waren
nur begrenzt erfolgreich. Diese Firmen organisieren jetzt
den Transfer auf direkte Weise. Dabei kämpfen die einzelnen Mitarbeiter um Erfolge. Wir müssen ihnen helfen,
in diesem Wettbewerb erfolgreich zu sein.
({2})
Die neuen Unternehmen haben Kompetenz und Engagement, aber sie haben kein Geld; sie leben davon, die
besten Köpfe aus unserem Land und aus anderen Ländern
als Mitarbeiter zu gewinnen. Diese Spezialisten sind flexibel; sie sind in den verschiedensten Ländern zu Hause.
Die entscheidende Frage lautet daher: Können wir Bedingungen bieten, die so gut sind wie die in anderen Ländern? In Bezug auf Aktienoptionen muss man feststellen,
dass die Situation bei uns ungünstiger ist als in anderen
Ländern.
Wie sieht der Vergleich mit anderen Ländern aus? Man
kann die Steuersysteme der Länder untereinander nur
schlecht vergleichen, weil sie völlig unterschiedlich sind.
Auch können wir feststellen, dass in den einzelnen Steuersystemen Aktienoptionen ganz unterschiedlich behandelt
werden. Beispielsweise erfolgt in Belgien zum Zeitpunkt
der Gewährung der Option eine Besteuerung mit 7,5 Prozent. Dieser Steuersatz erhöht sich geringfügig, wenn die
Aktie länger gehalten wird. Wir haben hier also eine frühzeitige und günstige Besteuerung. In Großbritannien liegt
die „capital gains tax“ - ich will jetzt nicht die Sondervorschriften erläutern - bei 20 Prozent. Trotz der unterschiedlichen Ansätze handelt es sich um sehr attraktive
Konstruktionen in diesen Ländern.
Wir aber haben immer noch einen viel zu hohen Spitzensteuersatz. Selbst nach der „kühnen“ und „energischen“ Steuerreform der Bundesregierung ist er mit knapp
unter 50 Prozent noch beachtlich. Hinzu kommt noch der
Solidaritätszuschlag und bei manchen die Kirchensteuer.
Die Steuern läppern sich auf rund die Hälfte des Einkommens zusammen. Unsere im Vergleich zu anderen Ländern nicht übermäßig attraktiven Bedingungen bergen das
Risiko, dass die guten Leute abwandern oder dass deutsche Firmen, wie es schon geschehen ist, einen neuen
Standort in anderen Ländern suchen, um dort die guten
steuerlichen Rahmenbedingungen zu nutzen. Dieser Vorgang ist unerfreulich und ärgerlich.
({3})
Man kann in diesem Zusammenhang über verschiedene Konstruktionen sprechen. Es ist unter psychologischen Gesichtspunkten schon verständlich, dass vor einiger Zeit viele Menschen glaubten, Aktienoptionen seien
nichts anderes als eine Lizenz zum Gelddrucken; denn es
war schon faszinierend zu beobachten, wie der Neue
Markt bis zum März des vergangenen Jahres immer neue
Höchststände erreichte. Es ist klar, dass man angesichts
dieser Entwicklung auf die Idee kam, einen immer größeren Anteil des Einkommens auf Aktienoptionen umzuschichten, um Steuern zu sparen. Diese Psychologie
müsste auch ein tüchtiger Finanzstaatssekretär verstehen.
Dass aber die Entwicklung der Aktienmärkte nicht nur
in eine Richtung geht, sondern dass die Aktienkurse aufgrund der komplexen Marktsituation auch fallen können,
wie es zurzeit mit einer gewissen Nachhaltigkeit der Fall
ist, das ist die andere Seite der Medaille.
({4})
Aktienoptionen sind nicht nur ein Teil des Einkommens
im klassischen Sinne; ein Arbeitnehmer setzt nämlich ein
Teil seines Einkommens einem Risiko aus. Wenn er Pech
hat, verringert sich im Falle sinkender Aktienkurse der
Wert dieses Teils.
({5})
Gerechterweise muss man in die Überlegung die Tatsache einbeziehen, dass es sich nicht um ein klassisches
Einkommen handelt und somit ein Sondertatbestand gegeben ist. Wir müssen also eine Lösung finden, die dem
Risiko des Arbeitnehmers gerecht wird.
({6})
Wie wollen wir das angehen? Sich in diesem schwierigen Gelände auf ein Modell festzulegen ist heikel, denn
dann muss man über die Details sprechen. Es ist nicht
Aufgabe des Bundestages, die Arbeit der tüchtigen
Beamten zu erledigen. Wir sollen die politische Richtung
bestimmen und Eckpunkte vorgeben, und die Beamten
werden dann schon mit der großen Weisheit, die ihnen Eigen ist, einen vorzüglichen Weg finden, das umzusetzen.
Ob die Unterscheidung zwischen handelsfähigen und
nichthandelsfähigen Optionen nötig ist, scheint mir eher
eine technische als eine politische Frage zu sein. Dass
man die Wahlfreiheit des Besteuerungszeitpunktes gewährt, scheint mir allerdings eine vernünftige Regelung.
So kann man nämlich entscheiden, ob die Aktienoptionen
zum Zeitpunkt der Gewährung oder der Ausübung der
Option besteuert werden sollen. Die beiden Beispiele aus
Großbritannien und aus Belgien, die ich eben gebracht
habe, zeigen, welche Bandbreite bei diesem Modell möglich ist.
Wichtig ist, dass wir insgesamt konkurrenzfähige Steuersätze - in welcher Konstruktion auch immer - gegenüber den Bedingungen in anderen Ländern bekommen.
Schließlich muss es zunächst europäisch und dann auch
international so geregelt werden, dass es beim Übergang
eines Mitarbeiters von einem Land ins andere Land - auch
hierzu gibt es konkrete Vorschläge, die europäisch abgestimmt worden sind - keine Steuerprobleme bei der Mitnahme der Optionen gibt. Ob man jetzt in dem Land besteuert wird, wo die Option gewährt wurde, oder in dem,
wo die Option ausgeübt wird, ist nicht der Streitpunkt. Die
Hauptsache ist, dass wir ein konkurrenzfähiges Steuersystem aufbauen, in dem die Sache mit einfachen und klaren
Vorschriften geregelt wird.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, der
Neue Markt befindet sich in einer schwierigen Phase.
Aber in schwierigen Zeiten ist es sinnvoll, ein wenig zu
helfen. Auch wenn die Optionen, die früher bei Höchstkursen gewährt wurden, heute nicht mehr sehr viel wert
sind, so haben doch die Leute, die heute Aktienoptionen
bekommen, die Chance, dass die Kurse vom heutigen Level aus wieder steigen. Somit ist dieses Gesetz auch attraktiv, wenn das Geld am Neuen Markt knapp wird.
Schließlich müssen wir die Innovationen, die von Neugründungen ausgehen, stärken. Dazu braucht man entsprechende Rahmenbedingungen. Hier könnte die Bundesregierung eine gute Tat vollbringen. Gestern hatte man
die große Freude, in der Diskussion zu hören, dass man
nur stolz sein darf auf das, was man selber gemacht hat.
Das ist zwar nicht mein Standpunkt, aber es mag für die
Damen und Herren zur Linken, die damit sehr vertraut
waren, als vorzüglicher Grundsatz dienen. Machen Sie etwas, damit auch Sie ein wenig stolz auf unser Land sein
können. So kommen wir zusammen und werden in schöner Brüderlichkeit durch neue Gesetze vereint, die unserer Wirtschaft helfen.
({8})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Nina Hauer.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen
und Herren! Mich freut, dass mittlerweile auch die CDU
zur Anhängerin der wachsenden Mitarbeiterbeteiligung
geworden ist.
({0})
Wir behandeln dieses Thema schon länger. Genau deshalb
haben wir die Besteuerung und die Möglichkeiten der materiellen Beteiligung durch Aktien, Aktienoptionen oder
anderes auch zum Thema im Bündnis für Arbeit gemacht.
Es ist natürlich richtig, dass gerade viele der kleinen Unternehmen und der jungen Start-ups, die sich im Moment
in vielen Bereichen so hoffnungsvoll gründen, ihre Innenfinanzierung nur dadurch gewährleisten können, dass
sie Aktien ausgeben oder ihren Mitarbeitern Aktienoptionen gewähren. Sie wollen diesen kleinen Start-ups helfen,
aber in Ihrem Antrag wird deutlich, dass Sie nicht wissen,
wie. Es wird auch deutlich, dass Sie nicht wissen, was Sie
wollen. Die von Ihnen genannten Beispiele sind nämlich
Teil einer breiten Angebotspalette von Möglichkeiten.
Darüber reden wir jetzt einmal.
({1})
In der Schweiz werden Aktienoptionen zum Zeitpunkt
der Gewährung besteuert. Wenn Sie die Option nicht ausüben, haben Sie einen persönlichen Nachteil, da Sie trotzdem der Steuer unterworfen wurden. Dies scheint mir ein
Modell zu sein, welches für uns nicht sinnvoll ist.
({2})
Das andere gern genannte Beispiel betrifft die Situation in den USA. Dort gibt es sehr wenige Aktienoptionen - das sind die, bei denen der Marktpreis sofort feststellbar ist -, die schon bei der Gewährung besteuert
werden. Dabei besteht also dasselbe Problem wie in der
Schweiz. Sie bekommen die Aktienoption und sind dann
steuerpflichtig. Wenn Sie sie nicht ausüben, haben Sie
eine Steuer auf etwas gezahlt, was Sie am Ende nicht als
Gewinn verbuchen können.
({3})
Die andere Möglichkeit ist, dass Sie erst steuerpflichtig werden, wenn Sie die Aktie veräußern. Dafür nennen
Sie die USA als leuchtendes Beispiel. Da kann ich Ihnen
nicht folgen. In den USA gibt es eine Spekulationsfrist,
die genauso lang wie bei uns in Deutschland ist, nämlich
zwölf Monate. Wenn Sie Ihre Aktien innerhalb dieser
zwölf Monate verkaufen, sind Sie voll steuerpflichtig zum
Einkommensteuersatz, genauso wie in der Bundesrepublik auch. Wenn Sie danach veräußern, müssen Sie in den
USA nur noch 20 Prozent Ihres Gewinns versteuern. In
diesem Fall ist Deutschland ein leuchtendes Beispiel,
denn das ist in Deutschland steuerfrei.
Deshalb erscheinen uns die beiden in Ihrem Antrag gewählten Länder nicht als Beispiele dafür geeignet, wie wir
in Deutschland Aktienoptionen besteuern sollten.
({4})
Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten 1998, kurz vor
der Bundestagswahl, zur Motivation der Abgeordneten
der CDU/CSU-Fraktion Optionen auf Ihre Umfrageergebnisse im März 2001 erhalten.
({5})
Sie wären jetzt pleite und die Optionen wären nicht mehr
besonders viel wert.
({6})
Aber nach Ihrem Schweizer Modell hätten Sie sie bereits
versteuert und dadurch Verluste gemacht. Die Steuern, die
Sie gezahlt hätten, hätten Sie vielleicht dazu nutzen können, das riesige Haushaltsloch, das Sie uns hinterlassen
haben, zu stopfen.
Daran können Sie sehen, dass eine Option auf die Zukunft immer auch ein Risiko birgt. Wir wollen nicht, dass
der Mitarbeiter dieses Risiko in jeder Hinsicht alleine zu
tragen hat. Es gibt eine Menge Mitarbeiter, für die die Aktienoptionen in der Tat eine Möglichkeit darstellen, die
viele auch nutzen.
({7})
Aber es gibt gerade jetzt viele in den neuen oder auch in
den alten Unternehmen, die - nachdem sie sich darauf
verlassen haben, dass sie ihre Optionen, die einmal viel
wert waren, ausüben können, in der Hoffnung, dass sie ihnen Reichtum bescheren - in die Röhre gucken, weil die
Kurse fallen und die Optionen nicht ausgeübt werden, sodass die Option, die als Ersatz für Gehalt zugeteilt wurde,
eigentlich nichts wert ist.
Es ist also noch immer ein Geschäft für Mitarbeiter, die
ein besonders hohes Einkommen haben. Dafür ist es auch
gut. Aber es ist kein Weg, der ohne weiteres für alle Mitarbeiter gangbar ist. Damit würde man manchen dem Risiko aussetzen, sein Gehalt auf die Zukunft zu setzen, aber
keinen Gewinn für sich verbuchen zu können.
({8})
Als Grund für die bessere Besteuerung der Aktienoptionen nennen Sie auch die Mitarbeitermotivation. Ich bin
mir nicht sicher, ob es in den mittelständischen Unternehmen, in denen es keine Aktienoptionen geben kann, keine
motivierten Mitarbeiter gibt. Aber ich hoffe, dass Sie damit nicht meinen, dass, wenn die Kurse fallen, auch die
Motivation fällt. Wenn die Motivation so unmittelbar an
das Risiko des Kurses gebunden ist, kann das ja passieren.
Wir sind froh, wenn Sie mit uns über Motivation und
mehr Beteiligung von Mitarbeitern reden wollen,
({9})
weil wir das so verstehen, dass Sie mit uns endlich auch
über die Gestaltung der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes reden wollen.
({10})
Denn dabei geht es vor allen Dingen um mehr Motivation
für Mitarbeiter, um mehr Beteiligung,
({11})
um mehr Teilhabe am Sagen und im Bündnis für Arbeit
jetzt auch um mehr Teilhabe am Haben.
({12})
Wir wollen mehr Chancen für die Teilhabe,
({13})
und das heißt nicht Optionen auf Teilhabe in der Zukunft,
sondern heißt die sichere gesetzliche Garantie, dass Mitarbeiter durch mehr Beteiligung am Sagen und Haben in
ihren Unternehmen motiviert werden. Das halten wir für
den richtigen Weg. Wenn Sie sich daran beteiligen wollen,
dann erwarten wir in diesem Sinne von Ihnen konstruktive Vorschläge.
({14})
Jetzt bin ich einmal gespannt, wie die F.D.P. nachher
bei ihrem Antrag argumentieren wird.
({15})
Sie fordert, den Aktientausch im Falle der Unternehmensübernahme steuerfrei zu stellen, wenn ein Aktionär,
der Aktien in einem bestimmten Unternehmen hält, andere
zum Tausch angeboten bekommt. Mich freut, dass Sie
nach Ihrem anfänglichen Widerstand gegen die gesetzliche
Regelung von Übernahmen überhaupt jetzt eine gesetzliche Regelung in diesem Bereich wollen. Deswegen bitte
ich Sie, abzuwarten, bis wir im parlamentarischen Beratungsprozess bei diesem Punkt sind. Die Besteuerung von
Aktien beim Aktientausch ist im Einkommensteuerrecht ja
geregelt; wir sehen uns also nicht einer Situation gegenüber, die eine sofortige Regelung erforderlich macht, weil
etwas Neues auf uns zukommt.
Ich habe den Eindruck, dass sich die F.D.P. mit ihrem
Antrag dafür entschuldigen will, dass sie auf der Fehleinschätzung beharrte, wir brauchten keine gesetzliche Regelung der Unternehmensübernahmen in Deutschland, womit sie dazu beigetragen hat, dass viele deutsche
Unternehmen in eine schwierige Lage gebracht wurden
und noch werden. Wir wissen diesen Versuch einer Entschuldigung zu schätzen. Aber wir wollen diese Anträge
dann mit Ihnen im parlamentarischen Prozess beraten,
wenn wir zuvor die Meinung von Experten haben einholen können.
Vielen Dank.
({16})
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Hermann Otto Solms für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte
ich auf den F.D.P.-Antrag zum Aktientausch im Zusammenhang mit Unternehmensübernahmen eingehen, auf
den Frau Hauer gerade Bezug genommen hat. Wir haben
uns übrigens nicht grundsätzlich gegen ein Übernahmegesetz gewandt,
({0})
sondern wir haben nur gesagt, dass man erst einmal wissen muss, was man regeln will, was man für regelungsnotwendig hält und welche Interessen dort geschützt
werden müssen, bevor man sich an die Gesetzgebung
macht,
({1})
anstatt auf jeden Fall etwas regeln zu wollen und erst dann
darüber nachzudenken, was man regeln will.
({2})
Das war die erste Diskussion. Sie ist ruhiger geworden
und jetzt auf einem vernünftigen Wege. Aber wir müssen
nun von der Bundesregierung allmählich hören, was sie
tun will; denn bald beginnt das nächste Wahljahr und dann
wird sie nicht mehr agieren können, sodass wieder viel
Zeit verloren gegangen sein wird.
Jedenfalls ist an der Übernahme von Mannesmann
durch Vodafone - das war der die Öffentlichkeit am meisten interessierende Vorgang - offensichtlich geworden,
dass es immer mehr üblich wird, für die Übernahme von
Aktien wiederum Aktien als Kaufpreis zu gewähren.
Heute ist dieser Vorgang steuerpflichtig. In unseren Augen ist dies aber kein steuerpflichtiger Vorgang, da kein
Barzufluss für den Betroffenen entsteht; er hat keinen Gewinn. Wenn die an einem solchen Aktientausch Beteiligten der Meinung sind, dass das gewählte Tauschverhältnis
das richtige sei, dann heißt dies ja, dass es dem Marktwert
entspricht. Er bekommt zum gegenwärtigen Zeitpunkt
keinen höheren Wert als den Marktwert und deswegen ist
das kein besteuerungspflichtiger Vorgang.
({3})
Langer Rede kurzer Sinn: Man sollte klarstellen, dass dies
nicht zu versteuern ist; damit wäre wieder Rechtssicherheit geschaffen.
Nun komme ich zu dem Antrag der CDU/CSU, in dem
eine sehr viel kompliziertere Frage angesprochen ist.
Zunächst einmal möchte ich Frau Hauer sagen, dass - Sie
sind ja noch nicht so lange im Parlament; vielleicht werden Sie in Zukunft länger als Herr Riesenhuber und ich im
Parlament sein - sich die SPD in der Vergangenheit gerade in der Frage der Vermögensbeteiligung immer auf
die Position von Tariffonds, also von gewerkschaftsgebundenen Fonds, zurückgezogen hat. Das wollten wir
nicht, weil es sozusagen Gesellschaftspolitik durch die
Hintertür gewesen wäre.
({4})
Wir wollten hingegen den Weg eröffnen, tatsächlich zu
mehr individueller Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmenserfolg, aber auch am Unternehmensvermögen
bzw. Unternehmenskapital zu kommen.
({5})
In der Zeit der alten Koalition sind eine ganze Reihe
von Gesetzen verabschiedet worden, insbesondere die
drei Finanzmarktförderungsgesetze, mit denen wir den
Weg in die Aktiengesellschaft eröffnet haben und die
Möglichkeiten eröffneten, den Beteiligten Aktienoptionen zu geben. Das ist im Aktienrecht dann auch technisch
einfach zu handhaben.
Nun stellt sich die Frage, wann der besteuerungspflichtige Vorgang entsteht. Entsteht er bei der Gewährung der Option oder bei der Ausübung der Option?
Wann entsteht ein besteuerungsfähiger Gewinn? Diese
Fragen sind tatsächlich nicht einfach zu beantworten.
({6})
- Einen kleinen Moment, Herr Tauss. Beschäftigen Sie
sich erst einmal selbst mit dem Problem, bevor Sie andere
auffordern, Vorschläge zu unterbreiten.
({7})
Dazu gehört schon ein bisschen Sachverstand, nicht nur
die dummen Sprüche, die Sie hier immer machen.
({8})
Das Problem ist, dass im Moment der Gewährung einer Aktienoption noch nicht klar ist, welchen Wert sie
dem Betroffenen vermittelt; denn dahinter stehen Börsenentwicklungen, die hoch und runter gehen können. Das
erleben wir ja tagtäglich.
({9})
Wenn Sie also im Zeitpunkt der Gewährung versteuern
- zu welchem Preis auch immer; es ist eine offene Frage,
ob er überhaupt feststellbar ist -, dann kann es sein, dass
es eine Scheinbesteuerung ist, weil der Wert der Option
anschließend dramatisch sinkt und zum Schluss vielleicht
gar nichts mehr wert ist. Dann wäre der Arbeitnehmer der
Betrogene; denn er hat eine Hoffnung auf etwas gehabt,
was sich am Ende als Luftnummer herausstellt und nichts
mehr wert ist. Diese Erwartung ist aber schon real versteuert worden.
Wenn Sie es umgekehrt machen, wenn Sie den Gewinn
bei der Ausübung der Option als Lohn versteuern - was
nach meiner Auffassung dem heutigen Steuerrecht entsprechen würde -, dann hätten Sie natürlich unter Umständen eine sehr hohe Steuerpflicht, die die Attraktivität
dieses Instruments dramatisch senken würde.
Nun kann man so vorgehen, wie es Herr Riesenhuber
zu überlegen gegeben hat, indem man ein Wahlrecht einräumt. Man kann aber auch vielleicht so vorgehen - das
ist ein Weg, den ich im Moment präferieren würde, aber
auf den ich mich nicht festlege, weil das eine noch offene
Diskussion ist -, dass man bei Ausübung der Option besteuert, aber dann zu einem begünstigten Steuersatz.
Dafür würde sich der hälftige Durchschnittssteuersatz anbieten, den wir auch in anderen Bereichen des Steuerrechts schon heute haben
({10}) - Leo Dautzenberg
[CDU/CSU]: Wieder haben!)
und bei der Steuerreform im Vermittlungsverfahren - auch
unter Mitwirkung der F.D.P. - wieder eingeführt haben.
Das wäre ein Weg. Die Richtschnur für die Entscheidung müsste sein, wie wir mit diesem Optionsrecht im internationalen Wettbewerb stehen. Unsere Mitarbeiter sollen weder besser noch schlechter als in anderen Wettbewerbsländern behandelt werden, sondern etwa auf gleichem Niveau. Da es dort, wie Frau Hauer schon darstellte,
unterschiedlichste Regelungen gibt, muss man einen Mittelweg anpeilen oder man muss darauf drängen, dass man
zumindest in der Europäischen Union zu einer Richtlinie
kommt, die diesen Bereich einigermaßen einheitlich regelt; denn nur so ist die von uns angestrebte Wettbewerbsneutralität zu erzielen.
Die Motivation, der Reiz, die Attraktivität der Option
muss erhalten und gesichert werden. Wir müssen im internationalen Wettbewerb ein faires Verfahren erreichen.
Darüber sollten wir diskutieren. Ich bin sehr daran interessiert, die Vorschläge von Herrn Diller zu hören.
Vielen Dank.
({11})
Jetzt spricht Kollegin
Dr. Thea Dückert für die Fraktion des Bündnisses 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Einschätzung ist meiner Meinung nach klar: Ein zentrales Ziel
und ein wichtiger Inhalt der Regierungspolitik ist die
Schaffung und die Sicherung vor allem auch von hoch
qualifizierten Arbeitsplätzen. Das muss ein ganz wesentliches Element der Politik sein, nicht zuletzt auch deshalb,
weil diese Arbeitsplätze immer auch eine Voraussetzung
dafür sind, neue Arbeitsplätze im Bereich weniger qualifizierter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen.
Die Realität sieht im Moment so aus - das wird allgemein bedauert, muss aber anerkannt werden -, dass wir
gerade im Bereich von hoch qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, zum Beispiel im Bereich
Informationstechnik oder Biotechnologie, häufig Schwierigkeiten haben, Arbeitsplätze überhaupt zu besetzen
oder - das ist auch ein wesentliches Problem - diese hoch
qualifizierten Arbeitskräfte zu halten. Die Mitarbeiterbeteiligung ist ganz sicherlich ein wesentliches Element, ein
wesentlicher Ansatz, den Unternehmen gerade in den genannten Bereichen die Möglichkeit zu geben, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in hoch qualifizierten Bereichen zu halten und die Kosten dafür auf einen vernünftigen Umfang zu begrenzen.
Ich will hinzufügen, dass das Element der Beteiligung
breiter Schichten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
- also nicht nur der hoch qualifizierten Arbeitskräfte - am
Produktivkapital für uns ein wesentlicher Beitrag dazu ist,
die soziale Marktwirtschaft im modernen Sinne zu stärken,
weil mit der Mitarbeiterbeteiligung neue Managementstrukturen, die beispielsweise mit abgeflachten Hierarchien
arbeiten oder auch Teamarbeit mehr in den Mittelpunkt stellen, zukünftig vernünftig begleitet werden können. Deswegen ist diese Debatte, die auch hier geführt wird, notwendig. Sie ist bereits im letzten Jahr vom Bündnis für Arbeit
aufgegriffen worden. Dazu gehört nicht einfach nur der gesamte Komplex der Mitarbeiterbeteiligung, sondern auch
die Frage der Besteuerung von Aktienoptionen.
Ich meine, es ist unumstritten, dass das bisherige Verwaltungshandeln und die bisherige Rechtsprechung gerade hinsichtlich der Besteuerung von Aktienoptionen
nicht zufriedenstellend sind. Ich muss auch sagen, dass ich
die Behandlung von Aktienoptionen als eine bloße Chance
im Hinblick auf die Besteuerung von Arbeitnehmeraktien,
wie wir sie heute vorfinden, nicht zwangsläufig für vernünftig halte und dass die Rechtssicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch der Unternehmen
aufgrund der gültigen Rechtslage nicht optimal ist.
Nun hat sich in der Praxis ein ganzes Set von unterschiedlichen Optionsmöglichkeiten entwickelt, auch so
etwas wie virtuelle stock options, alle mit dem Ziel, Unwägbarkeiten in der Bilanzierung oder aber auch Nachteile im internationalen Vergleich abzufedern. Verbindliche Auskünfte seitens der Oberfinanzdirektionen wurden
aber zurückgenommen. Dieser Zustand ist mittelfristig
nicht zufriedenstellend.
Herr Riesenhuber und Herr Solms, Sie lassen in Ihren
Anträgen mehr Fragen offen, als Sie beantworten.
({0})
- Die richtigen Fragen, Herr Kollege Riesenhuber, sind
bei dieser Regierung schon angekommen.
({1})
Sie wurden auch ins Bündnis für Arbeit eingebracht.
Ich möchte die Fragen noch einmal aufgreifen, die Sie
stellen, und auf die Antworten gefunden werden müssen.
Was wollen Sie? Wollen Sie eine Anfangsbesteuerung?
Wollen Sie eine Endbesteuerung? Wollen Sie die Gleichbehandlung mit Einkünften aus Kapitalvermögen? Wollen
Sie steuerliche Privilegierung? Das alles ist offen. Insofern
ist dies ein netter Anlass zur Diskussion. Aber ich meine,
dass der Antrag der CDU/CSU in keiner Weise weiterhilft.
({2})
Allein die Überlegung, dass wir einen ganzheitlichen
Ansatz brauchen, während auch heute noch die steuerliche Privilegierung von Führungskräften beim Erwerb von
Aktien gilt,
({3})
scheint mir nicht auszureichen. Das ist eine sehr einseitige
Sicht; denn die Beteiligung von Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern muss breitflächiger angegangen werden.
Auch der internationale Vergleich - das hat Kollegin
Hauer schon gesagt - hilft hier nicht weiter. Man weiß
nicht ganz genau, was Sie wirklich vorschlagen, zum Beispiel die capital gain tax als einen umfassenden Ansatz, ja
oder nein? Sie müssen da schon deutlicher werden.
Das Problem ist, dass die Realität nicht einfach Lösungen auf dem Tablett präsentiert. Wir haben gesehen, dass die
in Großunternehmen vorgesehene Anfangsbesteuerung beispielsweise bei Daimler-Chrysler im letzten Jahr dazu geführt hätte, dass Aktienoptionsprogramme überhaupt nicht
wahrgenommen worden wären. Wir wissen auch, dass Startups die Besteuerung bei der Ausübung der Option - das
kann man verstehen - nicht sonderlich gern sehen.
Ich will damit sagen, dass Sie wie wir an einem Punkt
angekommen sind, wo eines ganz deutlich wird: Es gibt
keine einfachen Lösungen, wir brauchen differenzierte
Lösungen. Dazu ist auch noch eine längere Diskussion
nötig. Das, was der Bundesminister für Wirtschaft im letzten Jahr im Bündnis für Arbeit hinsichtlich eines Wahlrechts vorgeschlagen hat - Sie haben das auch zitiert -, ist
sicher ein vernünftiger Ansatz, über den wir weiter diskutieren müssen. Es macht sicher Sinn, die Detaildiskussion
im Bündnis für Arbeit sehr aufmerksam zu führen.
Es macht aber überhaupt keinen Sinn, von Ihrer Seite
jetzt einzuklagen, dass wir uns an den Empfehlungen der
OECD orientieren sollten; denn sie ist selbst noch nicht so
weit. Sie ist gerade in einem Zustand des fact finding bei
grenzüberschreitenden Besteuerungsfragen. Wir wissen
nicht einmal, ob die OECD die Grundsatzfrage, nämlich
die schwierige Frage einer Harmonisierung insgesamt,
wird lösen können. Eine Orientierung an den Punkten, die
Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, scheint mir doch verfehlt zu sein.
Wir wissen auch, dass die Präsidentin des Bundesfinanzhofes für die zweite Jahreshälfte eine Grundsatzentscheidung in Sachen Aktienoptionsbesteuerung angekündigt hat.
Ich rate davon ab, hier - wie Sie es gerne möchten Schnellschüsse zu produzieren. Aus Sicht meiner Fraktion ist es vielmehr notwendig, dass die Bundesregierung
im Herbst die Prüfung von adäquaten Regelungen stärker
voranbringt. Dieses Sammelsurium von Textbausteinen,
das Sie in Ihrem Antrag geliefert haben, hilft da nicht weiter. Vielleicht können Sie Ihre Anträge in der Folgezeit etwas präzisieren. Das würde die Diskussion voranbringen.
({4})
Die Kollegin
Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion, hat ihre Rede zu Proto-
koll gegeben.1) - Ich sehe Einverständnis im Hause.
Deshalb spricht jetzt der Kollege Lothar Binding für
die SPD-Fraktion.
Es hat sich ein
wenig eingebürgert, dass man im Laufe seiner Rede ein
kleines Bekenntnis abgibt. Herr Riesenhuber hat vorhin
von Stolz geredet. Das will ich auch tun. Früher wäre ich
stolz darauf gewesen, ein Schweizer Konto zu haben.
Heute, muss ich sagen, bin ich stolz darauf, kein Schweizer Konto zu haben.
({0})
Insofern sieht man, dass sich das mit dem Stolz im Laufe
der Zeit wandeln kann.
Ich möchte zu dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion
eine Vorbemerkung machen. Der Antrag geht von Voraussetzungen aus, die man möglicherweise noch einmal
überprüfen muss; denn rein logisch ist es so - das ist bekannt -, dass von falschen Voraussetzungen ausgehend
sowohl Wahres als auch Falsches abgeleitet werden kann.
Deshalb ist es immer äußerst gefährlich, eine gute Implikation auf einer falschen Voraussetzung zu gründen.
Sie gehen grundsätzlich davon aus, dass eine hohe Gewinnerwartung auch realisiert wird. Seit zwei oder drei
Jahren aber merken wir, dass das a priori nicht der Fall ist.
Ich glaube, das muss man kritisch hinterfragen. Herr
Riesenhuber ist in seiner Rede darauf eingegangen. Allerdings findet sich das in den vielen Thesen in Ihrem Antrag
nicht explizit wieder.
Ferner gehen Sie davon aus, dass wir weltweit genug
qualifizierte Arbeitskräfte hätten, wenn wir doch nur am
internationalen Markt mit stock options entsprechend gut
operieren würden. Ich sage Ihnen: Das ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung. Zumindest
notwendig, vielleicht sogar hinreichend wäre es aber,
wenn wir noch einmal etwas genauer über die Ausbildung
in diesem Land nachdenken würden; denn davon hängt
ab, ob wir hier gute Arbeitskräfte haben oder nicht.
({1})
Der Kollege Riesenhuber hat auch gesagt - das möchte
ich unterstützen -, dass Mitarbeiter Anteilseigner werden
sollten. Das heißt, er hat das SPD-Programm gelesen.
({2})
Nun ist es ein bisschen einfach, zu sagen, das sei eine gute
Idee, aber sie lasse sich nur schwer realisieren, sodass wir
das Ganze an die Beamten weitergeben müssten in der
Hoffnung, sie würden das Problem schon lösen. Ich
glaube, damit würden wir es uns eine Spur zu einfach machen.
Wenn man sich ein bisschen mit den Details befasst,
dann merkt man, dass es sehr kompliziert ist. Dieser Meinung ist auch Herr Solms; denn wie wir eben in der Arbeitsgruppe besprochen haben, hat sich Herr Solms alle
Optionen offen gehalten.
({3})
1) Anlage 3
Er hat gesagt, wir sollten den Reiz der Optionen steigern.
Jetzt frage ich, ob es ökonomisch wirklich klug ist, den
Reiz dieser Optionen durch steuerpolitische Maßnahmen
zu steigern. Wäre es nicht viel wichtiger, die Attraktivität
dieser Optionen dadurch zu steigern, dass wir eine vernünftige Unternehmenspolitik machen, die verhindert,
dass die Arbeitnehmer neben ihrem Vermögen auch noch
den Arbeitsplatz verlieren?
({4})
Die Hoffnung auf diese Optionen birgt das große Risiko, dass man neben seinem Vermögen auch noch den
Arbeitsplatz verliert mit der besonderen Qualität, dass
man als stock options holder auf die Entscheidungen, die
in diese Misere führen, möglicherweise überhaupt keinen
Einfluss hat. Das halte ich für ein sehr großes Problem. In
den letzten zwei Jahren haben viele Arbeitnehmer gesehen, dass dieses Risiko kein theoretisches ist, sondern
ganz real für sie große Verluste bedeuten kann.
Es gibt da einen Zusatztrick, nämlich dass die Manager, die stock options halten, das umsatzabhängige Einkommen definieren. Damit können sie einen dritten Hebel gegenüber den Arbeitnehmern in Gang setzen. Das
halte ich für eine extrem große Gefahr.
Das belgische Beispiel, das Sie, Herr Riesenhuber, angeführt haben, halte ich für besonders schwierig. Für das
Schweizer Modell gilt das ebenso. Denn da wird man
möglicherweise für ein Einkommen Steuern zahlen, das
man niemals realisieren kann, ohne dass es zurückgezahlt
wird. Das halte ich für eine sehr gefährliche Sache.
({5})
Noch eine weitere Bemerkung: Sie sagten, dass wir bereits seit einem Jahr über stock options sprechen. Das ist
nur bedingt richtig; es ist ungefähr um den Faktor 300
falsch. Denn wir sprechen ja schon seit Mai 1998 über
stock options. Mit Ihrem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich, dem KonTraG, wurden
ja stock options erlaubt. Insofern ist Ihr Antrag von einer
gewissen Ehrlichkeit geprägt. Denn Sie sagen jetzt: Dieses Gesetz war nicht hinreichend. Sie haben vergessen, ergänzend steuerpolitische Maßnahmen so zu formulieren,
dass die Optionen die Attraktivität erlangen, die Sie ihnen
heute gerne geben würden.
({6})
Es ist bedenkenswert, dass Sie nach drei Jahren immer
noch nicht beschreiben können, wie Sie die wesentlichen
Gesetzesvorhaben formulieren würden. Das ist natürlich
nicht ganz unverständlich. Denn der einfache Hinweis in
Ihrem Antrag auf internationale Zusammenhänge ist
einfach nicht zielführend.
({7})
Wir wissen doch, dass in den USA und in Großbritannien im Vergleich zu Zentraleuropa völlig andere Unternehmensphilosophien vorzufinden sind. Wir haben andere Bilanzierungsgrundsätze. Bei uns gibt es im
Aktienbereich eine andersartige Behandlung von Veräußerungsgewinnen, die in Deutschland nach einem Jahr
immerhin steuerfrei sind. In sehr vielen anderen Ländern
wird auf Kapitalerträge eine so genannte capital gain tax
erhoben, was für die stock options holders einen großen
Nachteil bedeutet. Wir haben aber auch eine ganz andere
Aktienkultur. Insofern war es sicher ganz sinnvoll, dieses
Gesetz damals zu verabschieden.
Wir müssen feststellen, dass auch heute noch die Idee,
solche Wetten auf die Zukunft abzuschließen, eher im gehobenen Management zu Hause ist als bei den Arbeitnehmern, die wir sehr gern stärker an den Unternehmen beteiligt sehen würden.
({8})
- Wenn es so wäre, dass man das eine tun kann, ohne das
andere zu lassen, dann wären wir für irgendeinen konstruktiven Vorschlag Ihrer Seite sehr dankbar gewesen.
Sie hätten nicht nur den Hinweis geben sollen, dass die
Beamten das schon richten werden.
({9})
Man sollte auch noch ein paar Fallunterscheidungen
vornehmen, die Sie, wenn die Vorschläge in Zusammenarbeit mit den Beamten erarbeitet werden, etwas genauer
ansehen sollten. Neben den klassischen stock options haben wir die virtuellen. Allein der Begriff deutet schon darauf hin, dass wir uns hier im Wesentlichen im Bereich des
Wettens und Hoffens befinden. Immerhin ist das ja eine
Möglichkeit, um einen Aktienkauf zu tätigen, bei dem von
vornherein klar ist, dass der Arbeitnehmer ökonomisch
äquivalent durch Geld abgefunden wird und diesen
Aktienkauf niemals realisieren wird.
Wir müssen auch noch einmal genauer schauen, wie
sich die genannten Vor- und Nachteile auf Arbeitgeber
und Arbeitnehmer verteilen. Natürlich, der Arbeitnehmer
partizipiert, wie Sie schreiben, an der positiven Kursentwicklung. Aber er partizipiert eben auch an dem extrem
hohen Risiko einer negativen Kursentwicklung. Sie sagen, die Motivation steige durch die Hoffnung auf eine
positive Kursentwicklung. Aber was passiert denn? Ich
kenne Betriebe, in denen die Mitarbeiter jeden Morgen
zuerst einmal im Internet nachsehen, wie die eigene Unternehmensaktie steht. Die gehen dann, wenn die Aktie
gefallen ist, total motiviert an die Arbeit und sagen: Jetzt
wollen wir einmal so richtig gegen unseren Aktienverfall
anrennen!
Ich kann Ihnen sagen, dass das in einem Betrieb
äußerst demoralisierend wirkt. Dass der Arbeitgeber dabei einen Liquiditätsvorteil hat, das ist eindeutig gegeben.
Wir müssen darüber nachdenken, ob die Risikoverteilung
und die Vorteilsnahme zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gerecht verteilt sind. Wie schon gesagt, geht der
Arbeitnehmer ein größeres Risiko ein. Oft ist es auch so,
dass durch Revisionsklauseln in Bezug auf einen Arbeitsplatzwechsel die Option verfällt und dadurch natürlich die
Flexibilität des Arbeitnehmers eingeschränkt wird.
Insofern lohnt es sich, genauer darüber nachzudenken,
warum es eigentlich keinen Sinn macht, die Besteuerung
Lothar Binding ({10})
von Aktienoptionen heute zu verändern, und zwar sowohl
aus allokationspolitischen Gesichtspunkten - Aktienoptionen als Lohnbestandteile - als auch aus distributionspolitischen Gesichtspunkten, nämlich unter der Fragestellung: Wer hat eigentlich den größeren Nutzen, eher
die tendenziell höher verdienenden oder eher die tendenziell niedriger verdienenden Mitarbeiter eines Betriebes? Die Antwort darauf habe ich implizit bereits gegeben.
Wir wissen jedenfalls, dass Aktienoptionen im Vergleich zu normalen Gehaltszahlungen steuerlich weder
begünstigt noch benachteiligt werden. An dieser Neutralität der Besteuerung bezüglich verschiedener Entlohnungsformen wollen wir festhalten.
Wer ein wenig die Mathematik bemüht, wird schnell
erkennen, dass unter Einschluss der Parameter Gehalt,
Nettoeinkommen, Unternehmensteuersatz - Körperschaftsteuer plus Gewerbesteuer -, Zeitdifferenz zwischen Einräumung und Ausübung der Option, Einkommensteuersätze und Zinssatz eine notwendige Bedingung
ist, dass der Unternehmensteuersatz und der Einkommensteuersatz des Mitarbeiters annähernd gleich sein müssen.
Wer diese Überlegung richtig wertet, muss erkennen, dass
mit der drastischen Steuersenkung, die wir bis zum Jahre
2005 abschließen werden, eine riesengroße Gestaltungsmöglichkeit dahin gehend besteht, schon jetzt den Lohn in
Optionen umzuwandeln und diese Optionen im Jahre
2005 zu einem dann sehr viel niedrigeren Einkommensteuersatz zu realisieren. Dies ist fiskalpolitisch natürlich
ein sehr großes Risiko. Hierfür noch weitere Steuervorteile zu verschaffen wäre volkswirtschaftlich absolut kontraproduktiv.
Deshalb halten wir diesen Antrag gegenwärtig für nicht
zielführend. Vielleicht erkennt die CDU/CSU, dass ihr
Antrag inzwischen aufgrund der auf dem Neuen Markt
gewonnenen Erkenntnisse obsolet geworden, also veraltet ist, und trifft die kluge Entscheidung, ihn einfach
zurückzuziehen.
({11})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Otto Bernhardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den beiden
Anträgen, die wir jetzt behandeln, geht es um steuerrechtliche Fragen im Zusammenhang mit Aktien.
Zunächst komme ich zu dem Antrag der Freien Demokraten, der letztlich darauf hinausläuft, dass Aktientausch
im Rahmen von Unternehmensübernahmen steuerfrei
wird. Herr Solms hat die Argumente vorgetragen. Wir
können den Argumenten folgen und werden diesem Antrag unsere Zustimmung geben.
Der sicher umfangreichere Antrag ist unser eigener.
Darin geht es um die steuerlichen Rahmenbedingungen
für die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter.
Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass dieses Instrument der Aktienoptionen in den letzten beiden Jahren
sehr stark an Bedeutung gewonnen hat.
({0})
Zurzeit gibt es in Deutschland etwa 300 Aktiengesellschaften, die ihren Mitarbeitern solche Optionen eingeräumt haben. Es ist vielleicht interessant, darauf hinzuweisen, dass
etwa 200 dieser Firmen am Neuen Markt notiert werden.
Die Aussage, dies werde im Wesentlichen nur Führungskräften eingeräumt, ist - zumindest bezogen auf den Neuen
Markt - so nicht richtig. Etwa zwei Drittel der Optionen,
die dort gegeben werden, stehen allen Mitarbeitern offen.
({1})
Unser Antrag läuft darauf hinaus, die steuerlichen Rahmenbedingungen zu verbessern und dafür ein Gesetz einzubringen. Nun wird hier kritisiert, dass wir nicht selbst
einen Gesetzentwurf eingebracht haben. Aber hierbei
handelt es sich um eine Materie, die manche Diskussion
erfordert. In dieser Debatte sind sowohl von unserer Seite
als auch vonseiten der F.D.P. Ansatzpunkte für einen solchen Gesetzentwurf genannt worden. Wir haben etwa
vorgeschlagen, ein Wahlrecht, bezogen auf den Zeitpunkt,
wann versteuert wird, einzuführen. Herr Solms hat vorgeschlagen, den halben Steuersatz zu nehmen. Ferner gibt es
die Idee - die bei uns diskutiert wird -, ob dann, wenn man
sich dafür entscheidet, dass die Besteuerung zum Zeitpunkt der Ausnutzung der Option erfolgen soll, vielleicht
das Halbeinkünfteverfahren gelten soll. Das alles sind
konkrete Ansatzpunkte, die diskutiert werden müssen.
Die Diskussion hat für mich gezeigt: Die freien Demokraten sind dafür, in dieser Richtung tätig zu werden. Die
Grünen sind nachdenklich und sagen: Hier besteht der Bedarf, etwas zu tun. Die erste Rednerin der SPD, die Kollegin Hauer, brachte kritische Ansatzpunkte, bei denen
vielleicht noch etwas passieren müsse. Der letzte Redner,
Herr Binding, hat ganz klar gesagt: Wir sehen keine Notwendigkeit zum Handeln.
Jetzt kommt Ihr Fehler. Ich weiß, Sie sind kein Mann
der Wirtschaft. Ich glaube, Sie haben hier etwas nicht verstanden, Herr Binding. Sie sagen, es gebe im Grunde genommen keinen Unterschied zwischen einem Einkommen in Form einer Option und einem ganz normalen
Einkommen; deshalb müsse dieses Einkommen auch
ganz normal versteuert werden, wie es heute der Fall ist.
Wenn Sie auch nur eine Stellungnahme eines Fachmannes
durchgelesen hätten, dann wüssten Sie, dass es zumindest
zwei Gesichtspunkte in der Diskussion gibt, die verdeutlichen, dass man diese Einkommensarten unterschiedlich
behandeln sollte.
Der eine Punkt: Wenn ich hundert Mark Lohn bekomme, dann sind mir diese hundert Mark sicher. Wenn
ich aber auf einen Teil meines Lohnes verzichte und dafür
eine Option bekomme, dann - das zeigt die aktuelle
Entwicklung am Aktienmarkt - kann das null werden. Das
heißt, unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit bietet sich
durchaus eine unterschiedliche Besteuerung an.
({2}): Sie haben
in diesem Moment bereits Verzicht geübt, das ist
das Problem! Die Zuflussfragen haben ich gar
nicht behandelt! Vorsicht!)
Lothar Binding ({3})
Es gibt einen zweiten Punkt, den Sie wahrscheinlich
auch nicht kennen. Wenn es darum geht, Gewinne zu versteuern, dann wissen Sie - hoffentlich; Sie sitzen ja im
Fachausschuss -, dass ein privater Anleger Kursgewinne
nach einem Jahr überhaupt nicht versteuern muss. Dies
sind zwei Punkte , die zumindest in der Fachwelt zu dem
ziemlich übereinstimmenden Urteil führen: Hier sollte
man etwas verändern.
Wenn Sie einmal einen Blick über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus werfen, werden Sie merken, dass Aktienoptionen kein deutsches Instrument sind. Sie werden in
fast allen Industrieländern angewandt. Wir stellen fest,
dass Aktienoptionen in fast allen dieser Länder steuerlich
günstiger behandelt werden als bei uns.
({4})
- In fast allen. Sie können zwei Länder nennen, in denen
das nicht so ist.
Deshalb sage ich abschließend ganz deutlich: Es ist nun
einmal ein Kampf um Führungs- und Fachkräfte der
Wirtschaft ausgebrochen. Im Rahmen der Globalisierung
ist dies ein internationaler Kampf. Um diese Fachkräfte zu
gewinnen, misst man dem Thema Aktienoptionen weltweit
eine immer höhere Bedeutung zu. Hier hat Deutschland
zurzeit einen Standortnachteil. Mit unserer Initiative wollen wir erreichen, dass dieser Nachteil aufgehoben wird.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5318 und 14/3009 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe Einverständnis im ganzen Hause. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt, den TOP 19,
auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Pieper, Ulrike Flach, Horst Friedrich ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Sonderprogramm zur Sicherung und Erhöhung
des Niveaus der Landes- und Hochschulbibliotheken am Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland
- Drucksache 14/5105 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Auch hier
gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
F.D.P.-Fraktion ist die Kollegin Cornelia Pieper.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir sind beim letzten Tagesordnungspunkt und es geht wieder einmal um den Hochschulstandort Deutschland. Als die F.D.P.-Fraktion sich
dem Thema der Situation der deutschen Hochschulbibliotheken gewidmet hat, waren wir uns nicht ganz darüber im
Klaren, was für eine Welle der Entrüstung das bei den Betroffenen auslösen wird. Fakt ist, dass viele Bundesländer
ihrer Verpflichtung zu einer ausreichenden Finanzierung
der Landes- und Hochschulbibliotheken nicht mehr in erforderlichem Umfang nachkommen. An den Bibliotheken
wird gespart. Das hat katastrophale Folgen, nicht nur für
die fach- und sachgerechte Ausstattung der Bibliotheken,
sondern eben auch für die Attraktivität des Wissenschaftsstandortes Deutschland.
({0})
Deswegen haben wir Ihnen einen Antrag vorgelegt, der
mit „Sonderprogramm zur Sicherung und Erhöhung des
Niveaus der Landes- und Hochschulbibliotheken“ überschrieben ist. Wir wollen, dass die Auffassung nicht nur
der Bundesvereinigung der deutschen Bibliothekenverbände, sondern auch der Hochschulrektorenkonferenz in
diesem Hohen Hause Gehör findet; denn am Beispiel der
Bibliothekenfinanzierung wird deutlich, welche katastrophalen Folgen selbst eine nur geringfügige Senkung des
Etats haben kann.
({1})
Parallel zu diesem Prozess verläuft nämlich die Verteuerung wissenschaftlicher Zeitschriften, bedingt auch
durch den hohen Wechselkurs des Dollars. Nicht zu vergessen sind die gestiegenen Abgaben der Hochschulen an
die GEMA und die Verwertungsgesellschaft Wort. Jede
eingesparte Mark bekommen die Bibliotheken an den
Hochschulen dreifach zu spüren. Das muss geändert werden.
({2})
Völlig zu Recht - das sehen wir genauso - erinnert der
Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Professor
Landfried, daran, dass die Finanzierung der Universitätsbibliotheken den Hochschulen obliegt und deren Finanzierung natürlich in die Zuständigkeit der Länder fällt.
Mit anderen Worten: Die Länder nehmen in der Tat in diesem Bereich im Moment ihre Aufgaben nicht genügend
wahr. Aber ich kann diese Aussage auch nicht verallgemeinern. Nachdem im Land Hessen das Bund-LänderHochschul-Sonderprogramm ausgelaufen ist, hat die Wissenschaftsministerin bereits im letzten Jahr eine eigene
Initiative gestartet und ein Bibliotheksförderprogramm
mit einem Budget von 2,5 Millionen DM aufgelegt.
({3})
Das ist die eine Seite der Medaille. - Es gibt ein paar gute
Beispiele, Kollege Tauss.
Die andere Seite der Medaille ist aber, dass die großen
Defizite in den Hochschulbibliotheken nicht allein dadurch gedeckt werden können, dass strukturstärkere Länder aus ihren Haushalten die Finanzierung vornehmen,
während strukturschwache Länder beim Thema Wissenschaftsstandort Deutschland zurückfallen.
Wir ergreifen in unserem Antrag Partei für die Landesbibliotheken. Das wissen Sie. Ich will nur ein Beispiel
nennen: Die Zentral- und Landesbibliothek Berlin hat
allein in diesem Jahr ein Defizit von 2,4 Millionen DM.
Das heißt, es kann immer weniger aktuelle internationale
Forschungsliteratur beschafft werden. Längst hat Berlin
seinen herausragenden Standort als führende Bibliothek
dieser Welt nach New York und Paris verloren. Die Direktorin hat es so kommentiert: „Wir sind nur noch lächerlich.“
Die Vernachlässigung der Bibliotheken führt aber auch
zu längeren Studienzeiten; denn ohne Bücher und Fachzeitschriften kann ein ordentliches Studium nicht absolviert werden. Auch das Niveau der Lehre kann nicht auf
internationalem Niveau gehalten werden. Das alles sind
Alarmsignale. Deswegen haben wir vorgeschlagen, dass
die Bundesregierung ab dem Jahr 2002 im Bundeshaushalt finanzielle Mittel in Höhe von 120 Millionen DM im
Einzelplan 30 bereitstellt und für das Jahr 2001 ein Sofortprogramm mit 80 Millionen DM auflegt.
Jetzt werden mich meine Kollegen von der Regierungskoalition - für die Regierung, aber auch für uns
in der Opposition ist dies wichtig - fragen: Wie finanzieren wir das? Wir sind uns als Bildungspolitiker alle einig,
dass wir bei der Wissenschaftspolitik Prioritäten setzen
müssen. Ich nenne als erstes Argument: Das Glück, das
passende Buch aus einer deutschen Bibliothek zu bekommen, darf nicht der richtigen Zahl auf einem Glücksrad überlassen werden. Zweites Argument - das ist mir
wichtiger -: Unser Sonderprogramm braucht keine Sondermittel des Bundes, sondern es soll vernünftig in das
Hochschulbauförderprogramm des Bundes bzw. in andere Wissenschafts- und Forschungsförderprogramme
eingefügt werden.
({4})
Dies ist ein vernünftiger Finanzierungsvorschlag, auch
unter dem Aspekt, dass die Mittel, die wir im Hochschulbauförderprogramm eingestellt haben, von einigen Bundesländern nicht abgerufen werden.
Als Letztes will ich sagen: Die deutschen Bibliotheken
haben einen Verfassungsauftrag, der sich in Art. 5 Abs. 1
des Grundgesetzes widerspiegelt und als Meinungs- und
Informationsfreiheit erklärt wird. Ich zitiere:
Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift
und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich
aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu
unterrichten.
Wir haben die Aufgabe, dafür die Rahmenbedingungen zu
schaffen.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Peter Eckardt.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind hier im
Hause, Frau Pieper, alle der Meinung, dass für Wissenschaft, Forschung und Lehre in Deutschland nicht genug
getan werden kann. Die Universitäts- und Landesbibliotheken gehören als integraler Bestandteil der Wissenschaft zu den unverzichtbaren Einrichtungen, die Forschung und Wissenschaft fördern und die Studierenden
bei ihrem Bemühen um Erkenntnisse unterstützen. Sie bedürfen deshalb der bildungspolitischen und finanziellen
Hilfe. Das ist keine Frage.
An den Bibliotheken ist aber die technische Entwicklung der Medien in den letzten Jahren nicht spurlos vorübergegangen. Man kann sich eine Unibibliothek heute
nicht mehr allein als eine Aneinanderreihung von Regalen
vorstellen, in denen verstaubte und ehrwürdige Bücher
stehen. Die Förderung von Bibliotheken muss deshalb
heute anders aussehen als in der klassischen Zeit, in der
nur nach der Vollständigkeit der Bücher und Zeitschriften
in den Regalen oder im Magazin gefragt wurde.
Der F.D.P.-Antrag beschreibt im Wesentlichen die richtigen Tatbestände dieser klassischen Zeit, verkennt aber
die Problemsituation von heute und vor allen Dingen
die Zahlungspflichten, für die allein die Länder zuständig sind. Ich sage auch noch etwas zur Kreativität des
F.D.P.-Antrages: Dieser Antrag ist mit dem Text einer
Presseerklärung des Deutschen Kulturrates vom
22. Januar 2001 identisch,
({0})
der die Interessen der Verlage vertritt, den Bücher- und Zeitschriftenbestand der Bibliotheken im Auge hat und, mit einigen wissenschaftspolitischen Schlagworten versehen,
dem Deutschen Bundestag vorgelegt wird.
Die Interessenvertretung des Deutschen Kulturrates
via F.D.P. ist legitim, hilft aber wenig bei der notwendigen Umstrukturierung der deutschen Bibliotheken zu
nutzerfreundlichen Zentren, in denen mediengestützte Informationen, die auf die geänderten Bedürfnisse der Studierenden und Lehrenden eingehen, vorhanden sein müssen.
({1})
Ich will als Beispiel die Universität Hannover anführen. Diese finanzpolitisch budgetierte Hochschule hat
ein finanzielles Interesse - sie hat entsprechende Beschlüsse gefasst -, von jeder Zeitschrift nur noch ein
Exemplar zu abonnieren und es durch Medienpräsentation oder Kopieranforderung in jeder Institutsbibliothek
über Drucker und Bildschirm für nachfragende Nutzer
verfügbar zu machen. Die Vernetzung aller norddeutschen Universitätsbibliotheken ermöglicht eine sofortige
Ausleihe aller Zeitschriften und Buchauszüge auch über
große Distanzen. Das ist eine komfortable Angelegenheit.
Die eingeforderte Verbesserung der Lehre an den
Hochschulen bringt zwangsläufig didaktisch gut aufgearbeitete Materialien hervor, die, von den Dozenten selbst
hergestellt, an die Studierenden verkauft werden und damit den Umfang der Buchausleihe verringern.
Dies sind einige Gründe dafür, warum die Ausgaben
für Bücher und Zeitschriften zurückgegangen sind. Ich
gehe davon aus, dass diese Entwicklung weitergehen
wird. Verlage werden sich in der Präsentation ihrer Produkte auf diese Entwicklung einstellen müssen, anderenfalls werden die Nutzer sie dazu zwingen. Ich glaube
nicht, dass der Wissenschafts- und Forschungsstandort
Deutschland unter dieser Entwicklung leiden wird, so wie
es der F.D.P.-Antrag unterstellt. Ich denke, das Gegenteil
ist der Fall.
({2})
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert deshalb
schon seit einiger Zeit virtuelle Fachbibliotheken, in die
nicht nur Bücher, sondern auch elektronische Medien,
Online-Zeitschriften, Internetadressen, Videobänder sowie Mitschnitte von Vorlesungen und Seminaren eingestellt sind.
Herr Kollege Eckardt,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?
Ja.
Herr Kollege Eckardt, Sie
reden von virtuellen Bibliotheken. Ich stimme Ihnen insofern zu, als auch die Hochschulbibliotheken online
gehen sollen. Ist Ihnen aber bekannt, dass die Kosten für
Lizenzverträge, die von den Verlagen erhoben werden,
so hoch sind, dass sie das Budget der Hochschulbibliotheken derart stark belasten, dass man eben gerade nicht
sparen kann, wenn man die entsprechenden Lizenzen von
den Verlagen erwirbt? Ein Abschluss entsprechender
Lizenzverträge wäre aber notwendig, damit solche virtuellen Bibliotheken, wie Sie sie vorgeschlagen haben, entstehen können.
Frau Kollegin Pieper, es ist
mir natürlich bekannt, dass die Lizenzgebühren deutscher
und ausländischer Verlage sehr hoch sind. Ich denke aber,
dass sich die Verlage entscheiden und entsprechend
umorientieren müssen, ob sie ihre Produkte dauerhaft für
die Zukunft per Medien oder per Bücher präsentieren
wollen. Im Moment tun sie meist noch beides und kommen damit in finanzielle Schwierigkeiten, die sie letztlich
zu einer Entscheidung zwingen werden.
Ich denke aber, dass in den nächsten Jahren entsprechende Entscheidungen fallen werden. Ich vermute, dass
sich die Verlage fast ausschließlich auf Medienpräsentationen konzentrieren werden und dass damit das klassische Buch, das Zweitbuch in deutschen Bücherregalen
- auch in den deutschen Bibliotheken -, auf dem Rückzug
sein wird.
({0})
- Das müssen wir abwarten. Vielleicht treffen wir uns in
ein paar Jahren wieder und können dann entscheiden, wer
Recht gehabt hat.
Natürlich sind mediengestützte Informationen sehr
teuer. Natürlich ist auch ein hoher Dollar- und Pfundkurs nicht hilfreich. Aber die Formulierung „Die Nutzung
des Internets verschleiert das eigentliche Problem“ hilft in
der Sache wenig weiter. Ein Sonderprogramm des Bundes
für die Bibliotheken, wie von der F.D.P. gefordert, wird
den notwendigen Modernisierungsprozess nicht beschleunigen, sondern, denke ich, die bestehende Situation
verfestigen.
({1})
Eine koordinierte Erwerbspolitik, eine stärkere Kooperation der Verlage und die Nutzung moderner Lieferanten
von Dokumenten und Informationen sind die Wege, auf
denen die deutschen Universitätsbibliotheken voranschreiten sollten. Hier haben sie die gemeinsame Hilfe
von Bund und Ländern verdient, die auch geleistet wird.
Ein Sonderprogramm ist dafür nicht sehr hilfreich.
Danke schön.
({2})
Jetzt spricht der Kollege Norbert Hauser für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende November 2000 haben die Bibliotheksverbände ein Notprogramm zur Rettung der Hochschulbibliotheken von der
Bundesregierung gefordert. Sie warnten vor einem Ausbluten der wissenschaftlichen Bibliotheken und appellierten, die „Strukturkrise der Bibliotheksetats“ zu überwinden. Seitdem ist aufseiten der Bundesregierung nichts
passiert. Insofern ist der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.-Fraktion nur folgerichtig.
({0})
Dass dieser Antrag überhaupt gestellt werden musste,
ist traurig, und zwar deshalb, weil die Bundesregierung
und die Koalition die Sorgen und Nöte der Hochschulbibliotheken wieder einmal ignoriert haben.
({1})
Anstatt diese Sorgen und Nöte ernst zu nehmen, setzt
die Bildungsministerin ganz andere Prioritäten. Am
Dienstag nahm sie sich Guildo Horn zur Hilfe, um die
neue BAföG-Kampagne vorzustellen.
({2})
Klamauk statt Programm, so verkauft die Bundesregierung ihre Politik. Edelgard haben wir deshalb trotzdem
nicht lieb.
({3})
- Herr Catenhusen, Sie sind schon sehr bescheiden geworden, wenn es Ihnen reicht, dass man über Sie redet.
({4})
Zum Thema „Bildung durch Guildo“ möchte ich einen
Kommentar aus der „Berliner Morgenpost“ vom 28. März
2001 zitieren:
Deshalb wird die Kampagne ankommen - und auch,
weil sein
- gemeint ist Guildo Horn Bekanntheitsgrad in Deutschland bei 90 Prozent liegt.
Womit er weit vor Edelgard Bulmahn liegt. Bei einer
repräsentativen Umfrage konnten sich 10 Prozent an
den Namen der aktuellen Bundesbildungsministerin
erinnern. Macht zusammen 100 Prozent.
Na, wenn das nichts ist. Edelgard Bulmahn und Guildo
Horn als Center of Excellence zur Rettung des Standortes
Deutschland!
({5})
- Herr Tauss ist auch wieder aufgetausst.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Frau
Bulmahn gibt sich als Unterstützerin des Projektes „Bildung für alle“ und gibt vor, alles besser gemacht zu haben
als ihre Vorgänger. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders
aus. Hören Sie genau zu!
Als 1997 Probleme mit der Ausstattung der Hochschulbibliotheken auftraten, hat Herr Rüttgers ein 40-Millionen-DM-Sonderprogramm ins Leben gerufen,
({6})
das die Bundesländer mit der gleichen Summe unterstützt
haben. Sie haben dieses Programm nicht fortgeführt. Sie
haben den Bibliotheken mit dieser Entscheidung keine
Zukunft gegeben, sondern ihnen sogar die Zukunft genommen.
({7})
Die Bibliotheksverbände haben mit ihrem Notruf auf
den Verfall der Bibliotheken und auf die nicht mehr korrigierbaren Folgen von entstandenen Fehlbeständen in
den Buch- und Zeitschriftenbeständen hingewiesen. Reaktion der Bundesregierung: keine. Es gab kein Wort der
Unterstützung und kein Sonderprogramm. Es geschah
einfach nichts. Der Unterschied zwischen Rot-Grün und
Schwarz-Gelb ist: Die jetzige Bundesregierung redet, die
alte hat gehandelt.
({8})
Bundesbildungsministerin Bulmahn möchte zwar, dass
jeder Schüler einen Laptop bekommt. Aber Bücher und
Zeitschriften für die Studenten interessieren sie anscheinend nicht. Am vergangenen Dienstag haben Berliner
Schüler von Frau Bulmahn 250 Computer geschenkt bekommen, die natürlich nicht Frau Bulmahn und auch nicht
die Bundesregierung, sondern die Firma Siemens bezahlt
hat. Wie könnte es bei Ihrem Verständnis von Public-Private-Partnership auch anders sein: Sie lassen sich auf
Kosten anderer die Siegeskränze winden. Ergebnis: Das
Lob ist „public“, die Kosten aber „private“.
Moderne Technologien allein reichen aber nicht aus.
Um sich Wissen anzueignen, braucht man im 21. Jahrhundert sowohl die elektronischen Medien als auch die
Printmedien.
({9})
Dr. Eckhardt, nur beides zusammen führt Wissenschaftler
und Studenten zum Erfolg. In die Welt hinauszusurfen ist
nicht genug. Nicht alles, was in Fachbüchern und -zeitschriften steht, ist auch im Internet verfügbar. Wer die
Bibliotheken der Hochschulen vernachlässigt, vernachlässigt damit auch die Wissensvermittlung.
({10})
Sie wissen genau, Kollege Dr. Eckhardt, dass Onlinerecherchen über eine gewisse Zeit funktionieren. Wenn
Sie aber wirklich einsteigen und das Wissen durch intensivere Recherchen verstärken wollen, dann greifen Sie
doch wieder zum Buch und damit zum guten alten Papier,
weil es so einfacher als am Bildschirm ist, etwas aufzunehmen.
Noch schlimmer ist, meine Damen und Herren von der
Koalition: Mit Ihrer Politik schaffen Sie Klassenunterschiede innerhalb der Studentenschaft. Konsequenz:
Nachdem man schon im Gesundheitswesen von einer
Zweiklassenmedizin spricht, folgt nun auch noch das Studium nach dem Geldbeutel. Denn wenn die Bibliotheken
der Universitäten und Fachhochschulen nur noch unzureichend ausgestattet sind, kann nur noch der umfassend
wissenschaftlich forschen, der sich Computer, Bücher
und Zeitschriften leisten kann. Wer dazu nicht in der Lage
ist, bleibt auf der Strecke.
Hinzu kommt - das sollten wir nicht vergessen - der
Zeitverlust. Längere Suche und Fernleihe führen nun einmal zwangsläufig zu einer Verlängerung der Studienzeit.
Diplomarbeiten können durchaus an wissenschaftlicher
Substanz verlieren, wenn nicht alle Quellen immer erreichbar sind. Wie heißt es in der Broschüre des BMBF
anlässlich des Amtsantritts von Ministerin Bulmahn doch
so schön:
Wer Begabungsreserven erschließen will, wer
Chancengleichheit anstrebt, muss dazu beitragen,
soziale Barrieren abzubauen.
({11})
Anspruch und Wirklichkeit klaffen wieder einmal weit
auseinander. Frau Bulmahn ist bekannt dafür, Großes anzukündigen und Kleines zu leisten.
({12})
Die Bundesregierung hätte bereits längst handeln können, wie es die betroffenen Verbände denn auch forderten.
Handlungsbedarf gibt es genug; die Zahlen sprechen für
Norbert Hauser ({13})
sich: Circa 30 Prozent der früher in den Hochschulbibliotheken erhältlichen Zeitschriften wurden inzwischen abbestellt, Dr. Rossmann. Fallen bei wichtigen Zeitschriften
ein oder mehrere Jahrgänge aus, so ist eine wissenschaftliche Recherche nahezu unmöglich. Außerdem werden die auftretenden Fehlbestände später nicht wieder
aufgefüllt und gehen für das Wissen somit verloren.
500 000 dringend benötigte Bücher konnten in den letzten Monaten nicht beschafft werden. Dies hat für die verschiedenen Hochschulbibliotheken unmittelbare Folgen.
Beispiel Göttingen: Seit Mai 2000 konnte in Göttingen keine Monographie mehr angeschafft werden. Beispiel Hamburg: Weil die Hochschulbibliotheken ausbluten, wurde die Spendenaktion „Ex libris - Wissen
spenden“ ins Leben gerufen, die innerhalb kürzester Zeit
über 1 Million DM erbrachte. Beispiel Stuttgart: Die
Universität Stuttgart hat seit Ende der 90er-Jahre rund
400 Zeitschriften abbestellt. Beispiel Bonn: In Bonn soll
die Landwirtschaftsbibliothek geschlossen und ihre Bestände sollen zur Zentralbibliothek nach Köln verlagert
werden. Folge: Die weltweit zweitgrößte Spezialbibliothek für das Fach Landwirtschaft steht vor dem Aus, obwohl gerade sie ein umfassendes Angebot von Büchern
aus dem Bereich Lebensmittelsicherheit und -qualität hat.
({14})
- In die Zentralbibliothek, Herr Kollege. Sie ist dann
keine Spezialbibliothek mehr. - Vor dem Hintergrund der
aktuellen Diskussion über Verbraucherfragen ist das ein
geradezu abstruses Ergebnis der Politik im Umgang mit
den wissenschaftlichen Bibliotheken.
({15})
Natürlich - Dr. Eckardt hat darauf hingewiesen - tragen auch die Länder Verantwortung für die Hochschulbibliotheken.
({16})
Da das so ist, muss man den Ländern die Möglichkeit
für eine entsprechende Finanzierung lassen; man muss ihnen die Luft zum Atmen lassen. Nach einer Berechnung
dieser Bundesregierung führt allein das Steuerbereinigungsgesetz 1999 in den Jahren 2000 bis 2003 zu einem
Einnahmeverlust von fast 2,5 Milliarden DM bei den Ländern.
({17})
Angesichts der jetzigen Finanznot in den deutschen
Hochschulbibliotheken kann man von einer geplanten
Büchersammlung nicht mehr sprechen. Eine wirksame
Ergänzung zum örtlichen Angebot könnte - darüber ist
eben schon einmal gesprochen worden - eine virtuelle
Bibliothek sein. Durch hochschulübergreifende Zusammenarbeit sollten vernetzte, bundesweit zugängliche virtuelle Schwerpunktbibliotheken entstehen, die multimediale Informationen digital abrufbar speichern. Wenn den
Bibliothekaren das Geld für das Nötigste fehlt, dann können sie keine neuen Felder erschließen. Die Folge ist auch
in diesem Fall, dass der Wissenschaftsstandort Deutschland den Anschluss verliert.
Die Union hatte bereits am 20. Januar 1999 im Bildungsausschuss des Deutschen Bundestages gefordert,
die Hochschulbibliotheken als moderne Kommunikations- und Dienstleistungszentren auszubauen. Vertreter
der Koalition hatten dies auch zugesagt. Einmal mehr ist
nichts geschehen.
Je länger der Bund bei der Frage der Hochschulbibliotheken zögert, desto tiefer werden die Lücken im Bestand,
die nicht mehr geschlossen werden können. Die Länder
können dem Problem nicht allein begegnen; daher muss
der Bund in die Bresche springen. Nichtstun führt zu Zeitverlust. Zeitverlust bedeutet noch stärkere Einschnitte in
das Bibliothekssystem. Das Gebot der Stunde heißt, den
Hochschulen zu helfen. Wenn Sie in Ihren Bibliotheksbeständen noch ein Stammbuch haben, dann
schreiben Sie sich dies dort hinein. Gehen Sie dazu über,
die Bibliotheken zu unterstützen, und hören Sie auf, nur
darüber zu reden!
Danke schön.
({18})
Nächster Redner ist
der Kollege Reinhard Loske für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich etwas zu Herrn Hauser sagen. Ich
habe mir zum Beispiel den Satz „Natürlich ... tragen auch
die Länder Verantwortung für die Hochschulbibliotheken“ aufgeschrieben. Ich darf darauf verweisen, dass
dafür vor allen Dingen die Länder Verantwortung tragen.
({0})
Das sollte man feststellen.
Ich möchte auf Guildo Horn eingehen. Musik ist bekanntermaßen Geschmackssache. Ich kann gut verstehen,
dass Sie ein Problem damit haben, dass die Studentinnen
und Studenten jetzt mehr Nussecken knabbern können,
weil sie zu Ihrer Zeit am Hungertuch nagen mussten.
({1})
Nichts gegen Guildo Horn. Wenn Sie einen anderen Geschmack haben, dann akzeptieren Sie das bitte.
Was die Popularität von Frau Bulmahn betrifft: Umfragen sind ohnehin immer so eine Sache. Herr Rüttgers
Norbert Hauser ({2})
war zwar etwas bekannter - er hat wie verrückt auf die
Pauke gehauen -, aber bildungspolitisch ist dabei nichts
herausgekommen. Frau Bulmahn ist im Auftreten zwar etwas zurückhaltender, sie erreicht aber viel mehr. Die
zweite Variante ist mir lieber.
({3})
Jenseits der parteipolitischen Auseinandersetzungen
ist es doch klar, dass die Bildungspolitiker wollen, dass
mehr Geld in den Bibliothekssektor fließt, während die
Haushälter sparen wollen. Das ist doch wirklich kein Novum. Insofern sollten wir uns hier nicht wechselseitig beschuldigen - Herr Hauser, das geht an Ihre Adresse -, wir
ließen zu, dass ein bildungspolitisches Proletentum heranwächst. Wir sind für Bildung. Man muss nur überlegen,
wie man sie finanzieren kann und ob es nicht andere Potenziale gibt, die man ausschöpfen kann.
Eines ist definitiv klar - das kann ich als Hochschullehrer sagen -: Die Misere der Hochschulbibliotheken
ist mindestens schon zehn Jahre alt, vielleicht noch älter. Wir haben es hier also nicht mit einem neuen Phänomen zu tun, sondern mit einem Problem, das in den
letzten fünf Jahren rasant an Bedeutung zugenommen
hat.
Im Folgenden möchte ich auf die Gründe der Finanzprobleme eingehen:
Erstens. Die alte Vorstellung, dass die neuen Medien,
die CD-ROMs, die Computer oder das Internet, das Buch
oder die Zeitschrift ersetzen würden, trifft nicht zu.
({4})
- Ich rede hier für mich. - Es entwickelt sich eine Parallelstruktur, die sogar kostenintensiver ist. Das muss man
feststellen.
({5})
Es gibt aber bei den Zeitschriften die Möglichkeit, verstärkt
das Internet zu nutzen. Darauf gehe ich nachher noch ein.
Zweitens. Auch die ungünstigen Wechselkurse sind
problematisch. Gerade die Preise für die englischsprachige Literatur steigen, was zu Abbestellungen von Zeitschriften führt.
Drittens. Was die allgemeinen Sparzwänge der
Hochschulen betrifft, so ist überall zu beobachten, dass
zuerst die Sachmittel - vorneweg die Mittel für die
Bibliotheken - gekürzt werden. Das führt dazu, dass
Zeitschriftenabonnements gekündigt werden müssen. Ich
konzediere, dass es sich hierbei um problematische Entwicklungen handelt.
Aber man muss auch auf folgenden Punkt hinweisen:
Man kann zwar durchaus mehr Geld für Bibliotheken fordern. Aber man muss sich schon fragen, was der Bund und
was die Länder unternehmen. Einfach aus der Opposition
heraus zu fordern, der Bund solle mehr Geld geben, weil
die Länder ihrer Aufgabe nicht nachkommen, halte ich
nicht für angemessen. Das ist ja nichts anderes als eine
Forderung nach Ersatzfinanzierung von Landesaufgaben
durch den Bund.
({6})
Man muss ferner darauf verweisen, dass durch Strukturveränderungen erhebliche Einsparpotenziale zu realisieren sind; das wurde bereits von den Vorrednern gesagt. Diese Einsparpotenziale ergeben sich vor allen
Dingen aus einer koordinierten Einkaufspolitik der Bibliotheken und aus einer gemeinschaftlichen Nutzung des
Literaturbestandes. Man muss - mit Ausnahme der
Bücher in Präsenzbibliotheken - die Bücher sowieso bestellen. Daher ist es nicht problematisch, wenn es ein zentrales Lager gibt und wenn mehrere Universitäten zumindest in den Ballungsräumen kooperieren. Es kann mir
völlig egal sein, ob das Buch aus der Bibliothek meiner
Universität oder ob es aus einem Pool stammt. Zentralarchive eröffnen diesbezüglich gute Möglichkeiten. Was
den Erwerb von Lizenzen und die Schaffung von Einkaufskonsortien betrifft, gibt es sicherlich noch Möglichkeiten zur effektiven Zusammenarbeit.
Langer Rede kurzer Sinn: Der Tenor dieses Antrages
ist sicherlich zu begrüßen. Obwohl unsere Bibliotheken
mehr Geld brauchen, halte ich es aber nicht für richtig, die
Verantwortung allein auf den Bund zu schieben. Wir müssen schauen, wie man durch eine effizientere Mittelverwendung noch mehr herausholen kann, als es heute der
Fall ist. Das Geld muss eben auch an den richtigen Stellen ausgegeben werden.
Danke schön.
({7})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die CeBIT und die Leipziger
Buchmesse waren gleichermaßen erfolgreich und machen
eines deutlich: Auch im Zeitalter von PC und Internet hat
das Buch eine große Zukunft vor sich.
({0})
Ein kulturelles Leben ohne Bücher ist und bleibt schlicht
unvorstellbar. „Big Brother“ und Co. wie auch Guildo
Horn können diese Lücke nicht schließen. Wichtig ist,
dass alle Menschen einen breiten Zugang zur Literatur haben. Darin ist die Forderung nach einem ausreichend finanzierten öffentlichen Bibliothekswesen begründet.
Das gilt analog für Wissenschaft und Forschung. Die
Lektüre von Fachbüchern und Fachzeitschriften bestimmt
auch im 21. Jahrhundert den Alltag von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von Studentinnen und
Studenten. Zur aufgabengerechten Infrastruktur eines
modernen Wissenschaftssystems gehört daher die bedarfsgerechte Bereitstellung von Fachliteratur.
Diese Infrastruktur - da gibt es nichts zu beschönigen - ist substanziell gefährdet. Darauf hat jetzt auch der
Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, in einer Resolution aufmerksam gemacht.
Die Forderung des Deutschen Kulturrats nach einer Soforthilfe des Bundes für die Hochschul- und Landesbibliotheken ist als dringender Hilferuf zu verstehen, den
wir nicht überhören dürfen.
Die Lage der Hochschulbibliotheken ist katastrophal: Buch- und Zeitschriftenpreise schießen in die Höhe;
die öffentlichen Wissenschaftsetats stagnieren. Die Folge
sind Verzicht auf wichtige Neuanschaffungen und
Abbestellungen von Fachzeitschriften. Auf diese Weise
entstehen Lücken in Bibliotheksbeständen, die auch
nachträglich nicht oder nur unter erschwerten Umständen
geschlossen werden können.
Universitäten, Fach- und Kunsthochschulen suchen
heute händeringend Mäzene und Sponsoren, um die Schäden wenigstens zu begrenzen. So hat mich beispielsweise
ein Spendenaufruf der Universitätsgesellschaft Potsdam
erreicht, in dem allein für die Universität Potsdam im Jahr
2001 über fehlende Mittel in Höhe von 6 bis 7 Millionen
DM geklagt wird. So hilfreich privates Engagement im
Einzelfall sein mag, so klar ist doch auch, dass sich das
Problem der chronischen Unterfinanzierung der Hochschulen auf diese Weise nicht lösen lässt.
({1})
Wir können und dürfen den Staat nicht aus einer Verantwortung entlassen und wir fordern, dass sich auch der
Bund dieser Verantwortung stellt.
({2})
Der Bund ist mit seiner Steuer- und Finanzpolitik dafür
mitverantwortlich, dass viele Länder ihren Bildungs- und
Wissenschaftsetats den Hahn abdrehen. Der Bund hat daher die Pflicht, dort Soforthilfe zu leisten, wo irreversible
Schäden der wissenschaftlichen Infrastruktur drohen. Die
PDS unterstützt daher die Initiative des Deutschen Kulturrates und den heute hier behandelten Antrag der F.D.P.Fraktion.
({3})
Ein Umdenken ist auch zur Sicherung der Chancengleichheit im Studium dringend geboten. Es ist doch bereits heute so, dass Studierende, die jeden Pfennig umdrehen müssen, viel stärker unter dem katastrophalen
Zustand der Hochschulbibliotheken leiden als jene, die
sich fehlende Literatur mal eben im Buchhandel beschaffen können. Wenn die neuesten Auflagen von Lehr- und
Fachbüchern nicht im Bibliotheksregal stehen und Zeitschriftenaufsätze mühsam und mit ungewissem Erfolg
per Fernleihe bestellt werden müssen, schlägt sich dies in
den Studienleistungen und auch in der Studiendauer nieder. Darauf hat Kollegin Pieper schon aufmerksam gemacht.
({4})
Studiengebühren - ich füge ausdrücklich hinzu: auch Benutzungsgebühren für Bibliotheksleistungen - verschärfen das Problem der Chancenungleichheit im Studium zusätzlich. Ein Ausbau der Finanzierung von Hochschulund Landesbibliotheken durch Gebühren wäre also der
falsche Weg.
({5})
Meine Damen und Herren, Buchrestauratoren kämpfen
erfolgreich dagegen, dass jahrhundertealte Schätze in unseren Bibliotheken zu Staub zerfallen. Die eigentliche Gefahr für den Literaturbestand unserer Bibliotheken geht
allerdings von den Rotstiften der Sparkommissare in
Bund und Ländern aus. Damit ist die PDS nicht einverstanden. Wir unterstützen daher die Forderung des Deutschen Kulturrates nach einem Sonderprogramm für die
Hochschul- und Landesbibliotheken.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jörg Tauss für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir diskutieren heute Nachmittag
in der Tat ein wichtiges Thema an. Ich habe allerdings,
Frau Kollegin Pieper, erhebliche Zweifel, ob der F.D.P.Antrag dem Thema insgesamt gerecht wird. Es ist doch
keineswegs geklärt, dass die Bibliotheksprobleme nur mit
Geld zu lösen sind, wie die F.D.P. es hier behauptet. Es ist
ja interessant, wie sich die Zeiten ändern. Nun sagt sie:
Wenn ein Problem besteht, soll der Staat dafür Steuermittel aufwenden. Bezüglich der Frage der Finanzierung haben Sie nur einen Hinweis im Zusammenhang mit den
Gewinnmöglichkeiten beim Glücksrad gegeben; das habe
ich mir aufgeschrieben. Diese müsste aber auf andere
Füße gestellt werden.
Der Antrag ist zwar in den Punkten, die direkt auf Vorschläge des Kulturrates zurückgehen, richtig,
({0})
- seien Sie doch nicht gleich wieder eingeschnappt -, er
beinhaltet aber darüber hinaus auch noch den einen oder
anderen Fehler. In der Begründung steht zum Beispiel,
dass die Belastung durch eine Mehrwertsteuer in Höhe
von 16 Prozent ein Problem darstelle.
({1})
Das ist in diesem Bereich kein Problem; denn für Printmedien gilt der reduzierte Mehrwertsteuersatz. Diese Unkorrektheiten nehmen dem Antrag leider etwas von seiner
Ernsthaftigkeit.
({2})
Ich habe zwar gesagt, dass Geld nicht alles ist; trotzdem möchte ich noch einmal auf die Strukturprobleme
zu sprechen kommen. Die finanziellen Faktoren bis hin
zum gestiegenen Dollarkurs sind hier hinreichend beschrieben worden. Wenn wir aber eine Debatte über
das gesamte Bibliothekswesen führen wollen, müssen wir
tiefer gehen.
Ihre Behauptung, Frau Pieper, das Internet führe in
den Etats der Bibliotheken nicht zu Spareffekten, ist in
dieser Einseitigkeit übrigens auch nicht richtig.
({3})
- Nein, sie ist natürlich nicht richtig. - Selbstverständlich führt dies auch zu Spareffekten, aber um diese zu erreichen, sind vorher Investitionen nötig. Das muss an
dieser Stelle ganz klar gesagt werden. Aus diesem Grund
unterstützt die Bundesregierung mit sehr viel Geld und
verschiedenen Programmen einen Ausbau der Möglichkeiten von Bibliotheken, eine Internetpräsenz herzustellen.
({4})
- Stellen Sie doch eine Frage, wenn Sie etwas wissen wollen! Der Kollege Dr. Eckardt hat hier beispielsweise die
Deutsche Forschungsgemeinschaft angesprochen, die mit
sehr viel Geld virtuelle Fachbibliotheken fördert. Wir
können uns doch darüber freuen, dass sich in diesem Bereich etwas tut.
Mit der digitalen Bibliothek entstehen natürlich auch
ganz neue, vernetzte Informationssysteme. Wir kümmern
uns deshalb um Ansätze für künftige derartig vernetzte Informationssysteme und für die wissenschaftliche Fachinformation.
Frau Kollegin Pieper, Sie wollten, wenn ich das recht
in Erinnerung habe, das alles in der Amtszeit des Kollegen Rüttgers, der hier mehrmals zitiert worden ist, Herr
Hauser, privatisieren. Damals haben Sie auch die elektronische Information als gesellschaftliche Aufgabe ausgliedern wollen. Sie wollten sie an die Verlage verscherbeln.
({5})
- Entschuldigen Sie bitte, genau das waren die Pläne, die
wir vorgefunden haben. - Das hätte, wie bei den Fachzeitschriften, möglicherweise dazu geführt, dass die elektronische Fachinformation unbezahlbar geworden wäre.
({6})
Deshalb haben wir gesagt, wir bremsen das jetzt erst
einmal, wir machen ein Moratorium, privatisieren nicht
und holen die Verleger mit ins Boot; denn es ist notwendig, dass die Verlegerinnen und Verleger mit im Boot sitzen. Aber eines machen wir nicht, Frau Pieper - darauf
liefe Ihr Antrag hinaus -: Wir machen kein Verlagssubventionsprogramm, finanziert durch Steuermittel. Das
will ich hier in aller Klarheit sagen.
({7})
- Das ist eine Aufgeregtheit heute Nachmittag! Entspannen Sie sich doch, es ist gleich Wochenende!
Die Hochschulen und die Universitäten müssen - der
Kollege Loske hat darauf hingewiesen - gegenüber den
Verlagen verstärkt Marktmacht entwickeln. Sie müssen
zusehen, dass gemeinsam bestellt wird. Die Länder können das durchsetzen und sie tun es auch. Schauen Sie sich
einmal die Zusammenarbeit benachbarter Universitätsbibliotheken an, zum Beispiel in Bonn und Köln.
Dort wird sie allerdings vom Kollegen Hauser kritisiert.
Auch in Bochum und Dortmund haben wir ein hervorragendes Beispiel einer intelligenten Zusammenarbeit der
Bibliotheken.
({8})
Das sind gute Beispiele. Herr Kollege Loske hat in diesem
Punkt völlig Recht: Das ist ein Weg, der weiter beschritten werden muss.
Die Universitäten und Hochschullehrer sollten sich im
Übrigen selbst stärker in diese Debatte einbringen. Es ist
gut und wichtig, wenn das der Kulturrat tut,
({9})
dies sollten aber auch die Universitäten, die Hochschullehrer und die Bibliotheksverbände selbst stärker tun.
In diesen Tagen zum Beispiel, Frau Pieper, fordern
12 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus
120 Ländern in einem offenen Brief an die Verleger, und
zwar ausgehend von den neuen Erkenntnissen im Bereich
der Biotechnologie, dass wissenschaftliche Artikel nach
geraumer Zeit über das Internet frei verfügbar sein müssen. Das halte ich für eine extrem wichtige Debatte. Dabei geht es nämlich um die Frage: Werden wissenschaftliche Erkenntnisse frei zur Verfügung gestellt oder
kommen wir in die Situation, dass die mit sehr viel öffentlichem Geld, auch öffentlichem Forschungsgeld, errungenen Erkenntnisse von Verlagen mit wiederum knappen öffentlichen Mitteln zurückgekauft werden müssen?
Das ist eine ernsthafte Frage, die wir uns stellen müssen, die aber natürlich bei den Verlagen gelegentlich zu
Aufregung führt. Deswegen sage ich ganz deutlich:
Niemand will den Verlagen etwas Böses. Aber die
Frage, wie wir in einer Informationsgesellschaft zu fairen Preisen und fairen Bedingungen an den Rohstoff Information kommen, ist eine zentrale Frage, die über die
Ausstattung der Bibliotheken natürlich weit hinausreicht.
Kommen wir zurück auf eine Debatte, die wir hier
schon einmal geführt haben, Herr von Klaeden. Als ich
damals gesagt habe, der freie, ungefilterte Zugang zu Information zu fairen Bedingungen sei eine zentrale
Frage, haben Sie noch gerufen, das sei Sozialismus. Das
habe ich Ihnen nicht übel genommen, weil Sie sich mit
dem Thema noch nicht sehr intensiv beschäftigt hatten.
Aber ich glaube, heute sind wir zumindest in diesem
Punkt weiter: Der freie Zugang zu dem Rohstoff Information ist eine zentrale, strategische Aufgabe, die allerdings allein über das, was Sie mit Ihrem Antrag vorgelegt
haben, nicht bewältigt werden kann.
Ich freue mich allerdings sehr auf die Debatte, die wir
in den Ausschüssen miteinander führen können. Da werJörg Tauss
den wir interessante Diskussionen haben. Dann wird die
spannende Frage sein: Mit welchen neuen Mitteln
gewährleisten wir diesen Zugang? Sagen Sie dann aber
bitte nicht: über Glücksrad und Steuermittel. Lassen Sie
uns versuchen, wieder Geld in ein System zu pumpen, das
an einigen Stellen große strukturelle Defizite aufweist, die
zunächst einmal beseitigt werden müssen.
Ich wünsche Ihnen trotz Ihrer Aufregung ein schönes
Wochenende.
Schönen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5105 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe Einverständnis im ganzen Hause. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unser heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 4. April 2001, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.