Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/30/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach?

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da ich mit meiner Redezeit fast zu Ende bin, bin ich für die Zwischenfrage sehr dankbar.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Edathy, wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die politische Haltung, die die Union in den letzten Wochen zu diesem Thema eingenommen hat, exakt dem entspricht, was Sie gerade aus unserem Antrag vorgelesen haben? Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, gemeinsam mit den Bundesländern - nur sie verfügen über das gesamte Tatsachenmaterial - Befunde zusammenzutragen, um die Frage zu beantworten, ob das vorhandene Tatsachenmaterial ausreicht, damit ein Verbotsantrag in Karlsruhe hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. ({0}) Es hat eine Bund-Länder-Kommission gegeben, die das Tatsachenmaterial zusammengetragen hat. Anschließend sind Bundesrat und Bundesregierung gemeinsam zu der Überzeugung gelangt, dass ein Antrag geboten ist und hinreichende Erfolgsaussichten haben wird. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in der entsprechenden Debatte des Deutschen Bundestages ausdrücklich zum Ausdruck gebracht haben, dass wir die Anträge von Bundesregierung und Bundesrat begrüßen, es aber nicht als notwendig erachten - es ist übrigens das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland -, dass auch der Deutsche Bundestag als dritte Prozesspartei in Karlsruhe auftritt? ({1})

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Bosbach, ich kann Ihnen bestätigen, dass Ihre Fraktion im Dezember des letzten Jahres nicht dafür gestimmt hat, dass der Deutsche Bundestag einen Antrag auf Verbot der NPD stellt. Ich kann Ihnen ebenfalls bestätigen, dass ich es nur als ein strategisches Manöver betrachte, wenn Sie als Parlamentarier von der Regierung politische Leistungen fordern, die Sie selber mit zu erbringen nicht bereit sind. Das ist das Problem. ({0}) Ich möchte zwar nicht sagen, dass der Antrag der Union völlig ungeeignet ist. ({1}) Aber wir haben - das habe ich schon betont - die wesentlichen Dinge, die gut sind, in unseren Antrag übernommen. Dazu gehört übrigens auch die Aussage aus Ihrem Antrag, Herr Marschewski, die mir besonders gut gefallen hat - ich zitiere wörtlich -: „In der Sprache der öffentlichen Debatte sollten wir entschlossen, aber differenziert und sensibel sein“. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie das in der gestrigen Debatte über den Nationalstolz beherzigt hätten. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Ganz im Sinne der Forderung der Union nach einem sensiblen Umgang enthält unser fraktionsübergreifender Antrag den Satz: Der Deutsche Bundestag fordert die demokratischen Parteien in Deutschland auf, Wahlkämpfe nicht auf dem Rücken von Minderheiten bzw. Menschen anderer Herkunft zu führen. Ich würde mich freuen, wenn wenigstens dieser Satz die Unterstützung der Union finden würde, und zwar im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens in Deutschland, das zwar niemals konfliktfrei sein kann, das aber gewaltfrei sein muss. Diesen Konsens der Demokraten sollten wir mit unseren heutigen Entscheidungen unterstreichen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Wolfgang Schäuble von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Wolfgang Schäuble (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001938, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Edathy, der Anfang Ihrer Ausführungen war ganz in Ordnung, obwohl ich gleich eine Bemerkung zur Gemeinsamkeit und zum Wettbewerb machen möchte, der ja zur Demokratie dazugehört. Aber als Sie aus dem Antrag der Unionsfraktionen vorgelesen haben, um unsere Haltung zum NPD-Verbot deutlich zu machen, haben Sie verschwiegen - das war ein kleiner Mangel -, dass dieser Antrag vom 11. September 2000 stammt, also lange vor der Debatte und der Entscheidung über das NPD-Verbot gestellt wurde. Sie haben damals im Innenausschuss nicht zugestimmt, aus unserem Antrag eine Beschlussempfehlung zu machen. Jetzt zitieren Sie aus unserem Antrag vom September. Ihr Hinweis, dass nun Ende März 2001 sei, ist zwar zutreffend. Aber wir haben unseren Antrag viel früher im Innenausschuss und im Plenum des Bundestages eingebracht als Sie Ihren. Darauf hätten Sie hinweisen sollen, als Sie aus unserem Antrag zitiert haben. Zweite Bemerkung - ich möchte das wiederholen, was schon der Kollege Bosbach gesagt hat -: Wir sind der Meinung, dass das Bundesverfassungsgericht den Antrag auf Verbot der NPD prüfen und über ihn entscheiden muss. Wir haben den gemeinsamen Antrag von Bundesregierung und Bundesrat unterstützt. Über die Frage, ob der Bundestag zusätzlich einen Antrag stellen sollte und ob dadurch eventuell missverständliche Eindrücke über das Verhältnis der Verfassungsorgane erweckt werden, zum Beispiel, dass es mehr auf Mehrheiten als auf eine verfassungsmäßige Überprüfung durch ein unabhängiges Gericht ankommt, kann man unterschiedlicher Meinung sein und wir waren auch unterschiedlicher Meinung darüber. Im Übrigen sind auch die vier Fraktionen, die die Beschlussempfehlung gemeinsam vorgelegt haben, in dieser Frage - wenn ich mich nicht sehr täusche - unterschiedlicher Meinung. Also bauen Sie keinen Popanz auf. Dritte Bemerkung. Wir sind uns über das Ziel der Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit einig. Aber es gehört zu einer Demokratie dazu, dass man über den Weg, wie die gemeinsamen Ziele erreicht werden können, unterschiedlicher Meinung sein kann. Es ist ja geradezu ein Merkmal des Extremismus, den wir gemeinsam bekämpfen, dass er andere Meinungen nicht akzeptieren will, dass er seine Meinung und das, was er für richtig hält, zur allein und ewig gültigen Meinung machen will, dass er deshalb die Freiheit und die Pluralität des demokratischen Meinungsaustausches beseitigen will und dass er die Reversibilität von Ergebnissen bekämpfen will. Also lassen Sie uns die Möglichkeit, unterschiedliche Meinungen zu haben, als das demokratische Prinzip und als das, was Grundlage für den demokratischen Wettbewerb ist, bitte gemeinsam verteidigen. Lassen Sie uns nicht sagen, Gemeinsamkeit bedeute, dass wir alle in jeder Frage einer Meinung sein müssen. ({0}) Ich habe an den Beratungen im Innenausschuss nicht teilgenommen. ({1}) - Ich bin auch gar nicht Mitglied des Innenausschusses. Aber es wird ja erlaubt sein, trotzdem zu dem Thema zu sprechen, wenn man von der Fraktion darum gebeten wird. Ich will Ihnen sagen, was mir am Antrag der CDU/ CSU besser gefällt als an der gemeinsamen Beschlussvorlage der anderen Fraktionen. Sie beschränken sich in Ihrem Antrag im Wesentlichen auf die Aufzählung von Maßnahmen, die bereits beschlossen und in Kraft gesetzt worden sind. Eine solche Aufzählung mag etwas Nützliches und Gutes sein, aber wenn wir Beschlüsse im Deutschen Bundestag fassen, sollten wir uns schon um die Dinge kümmern, die zusätzlich geschehen sollten. Dazu steht in Ihrem Antrag gar nichts, ({2}) in unserem stehen eine Reihe von konkreten Maßnahmen. ({3}) Wir schlagen auch auf dem Gebiet des Strafrechts konkrete Maßnahmen vor; vielleicht geht es aber um dieses Gebiet gar nicht so sehr. Sie sollten noch einmal darüber nachdenken, ob uns nicht eine Änderung des Versammlungsrechts - schauen Sie sich einmal auch die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung dazu an - im Kampf gegen diese Erscheinungen, die wir gemeinsam verurteilen und erfolgreicher bekämpfen wollen, wirklich helfen könnte. Ich halte diesen Weg für richtig. ({4}) Es gibt doch das Problem, dass wir extremistische, fremdenfeindliche, gewalttätige Exzesse alle miteinander verachten, ihnen aber in der Öffentlichkeit ein Maß an Beachtung schenken, das falsch ist. Vielleicht sollten wir weniger beachten und mehr verachten. ({5}) - Nein, überhaupt nicht. Lassen Sie uns doch einen Moment darüber nachdenken, ob es wirklich richtig ist, hinzunehmen, dass einer Minderheit von gewalttätigen und extremistischen Menschen durch die Wahl eines bestimmten Demonstrationsortes - in der Nähe des Reichstagsgebäudes gibt es solche Lokalitäten - ein Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit zuteil wird, das ihr in der Sache überhaupt nicht zusteht. Deswegen sage ich noch einmal, dass wir für Verachten und nicht für ein Übermaß an Beachtung sein sollten. Wir treiben das durch ein Übermaß an medialer Aufmerksamkeit und Hysterie doch eher hoch. Das hat mit Wegsehen überhaupt nichts zu tun. ({6}) - Entschuldigung, Herr Kollege Schmidt. ({7}) - Sebnitz steht für ein Übermaß an Hysterie. Glauben Sie denn nicht, dass Sie möglicherweise das Gegenteil von dem erreichen, was Sie beabsichtigen, wenn Sie durch mediale Übertreibungen den Eindruck erwecken - ({8}) - Entschuldigung, eine Sekunde; wir reden über die Notwendigkeit einer Änderung des Versammlungsrechts. Wir dürfen rechtsextremistische, fremdenfeindliche und ähnliche Exzesse nicht noch durch ein unverhältnismäßiges Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit fördern. Man muss doch einmal einen Moment selbstkritisch darüber nachdenken, was in unserem Lande los ist. Immerhin hat es die gesamte Öffentlichkeit für möglich gehalten, dass in einem Schwimmbad in einer Kleinstadt ein Kind umgebracht worden ist und dass alle zugeschaut haben. In Wirklichkeit ist nichts Derartiges geschehen. Wenn das nicht ein Übermaß an medialer Hysterie ist, das uns Anlass zum Nachdenken geben muss - wir dürfen eben nicht das fördern, was wir in Wirklichkeit gar nicht wollen -, dann weiß ich nicht mehr, was Argumente sollen. ({9}) Wir müssen aufpassen, dass wir nicht durch ein Übermaß an Betroffenheit den Eindruck erwecken, als würde die Realität von den Verantwortlichen - das betrifft nicht nur die Politik, sondern zum Teil auch die Medien - in diesem Lande nicht mehr wahrgenommen. Es gab schlimme Vorfälle und wir müssen sie mit aller Entschiedenheit bekämpfen. Ich stimme Ihnen in Ihrem Lob für Polizei und Justiz - sie ist, was die Bearbeitung der Verfahren angeht, deutlich schneller geworden; das ist der richtige Weg, das muss man wirklich einmal sagen - völlig zu. Wir haben lange darüber gestritten, ob man solche Erscheinungen mit Mitteln der Polizei und der Justiz bekämpfen kann. Heute sind wir uns darüber einig, dass dieser Weg richtig ist. Wir wären noch einen Schritt weiter, wenn wir auch das Versammlungsrecht stärker nutzen würden. Aber darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein. Ich begründe, warum wir unseren Antrag für besser als Ihren halten. Ich bin im Übrigen schon der Meinung, dass wir aufpassen müssen. Im Augenblick macht uns der Rechtsextremismus sehr viel mehr Sorge als andere Erscheinungsformen; das ist gar keine Frage. Dennoch ist die Differenzierung zwischen rechts und links immer problematisch. Wir sollten dabei bleiben, dass wir Extremismus und Gewalttätigkeit in jeder Form mit aller Entschiedenheit bekämpfen ({10}) und nicht das eine durch das andere legitimieren. Ich habe in der Beschlussempfehlung beispielsweise gelesen, dass für die Opfer rechter Gewalt zusätzliche Mittel vorgesehen werden sollen. Ich bin der Meinung: Wir sollten den Opfern jeder Form von Gewalt entsprechende Hilfen zukommen lassen. ({11}) Das ist ein Fehler Ihrer Beschlussempfehlung. Es gibt eine Reihe von Punkten, an denen man sehr genau belegen kann, warum unser Antrag besser ist und warum wir Ihrem Antrag heute nicht zustimmen, sondern an Sie appellieren, unserem Antrag zuzustimmen. Ich spreche jetzt ein wenig als Baden-Württemberger: Wir haben in meinem Heimatland Baden-Württemberg neun Jahre lang das Problem gehabt, dass die Republikaner im Landtag vertreten waren. Wir sind sehr froh, dass dies seit dem vergangenen Sonntag nicht mehr so ist. ({12}) Ich bin mir in der Einschätzung ziemlich sicher, dass dieses für viele überraschende Ergebnis deswegen erreicht worden ist, weil wir in Baden-Württemberg die wesentlichen Probleme gelöst haben, die die Menschen bei früheren Wahlen fälschlicherweise veranlasst haben, die Republikaner zu wählen. Das Wichtigste ist also das Lösen von Problemen. Deutschland ist ein offenes, ausländerfreundliches und tolerantes Land. Wir sollten unter allen Umständen verhindern, dass durch eine einseitige Berichterstattung bei der großen Mehrheit unserer Bevölkerung ein falscher Eindruck von der Wirklichkeit unseres Landes erzeugt wird. ({13}) Ich bin dafür - darin sind wir uns einig -, dass wir Missstände und Fehlverhalten mit aller Entschiedenheit bekämpfen. Aber ich bin dagegen, dass wir den Eindruck erwecken, dass überall in Deutschland Minderheiten und Ausländer von der Mehrheit der Bevölkerung verfolgt oder diskriminiert werden. Das Gegenteil ist der Fall. Deswegen sage ich noch einmal: Wir sind ein ausländerfreundliches, tolerantes Land und wir wollen es auch in der Zukunft bleiben. Wir müssen alles daransetzen, dass das geschieht. Das heißt: Wir müssen die Probleme lösen. Wir sind dafür, im Bundestag und im Bundesrat eine Gesetzgebung zu einer umfassenden Zuzugsregelung zu machen. Die CDU/CSU wird Vorschläge dazu vorlegen. Wir arbeiten intensiv daran. Dass es durch die Änderung des Asylrechts gelungen ist - ich habe dafür, das ist in Ordnung, viel Kritik aushalten müssen; das gilt auch für andere Personen, auch aus Ihren Reihen -, die Zahl der Asylanträge von einstmals 400 000 pro Jahr auf unter 100 000 pro Jahr zurückzuführen, ist ein entscheidender Beitrag dazu, dass Toleranz und Ausländerfreundlichkeit in unserem Land erhalten bleiben. ({14}) Wer die Probleme nur hoch redet und sie nicht löst, der wird das Gegenteil von dem erreichen, was er will. Ich bin sehr sicher - ich sage das ganz ruhig; ich weiß, dass das bei Ihnen nicht nur Freude hervorruft -, dass wir für Toleranz und Integration in unserem Lande einen unverzichtbaren Beitrag geleistet haben, indem wir Sie, die Sozialdemokraten, davon abgebracht haben, den Unfug einer doppelten Staatsangehörigkeit für alle einzubürgernden Personen einzuführen. Sie hätten damit der Integration und der Toleranz in unserem Lande einen Bärendienst erwiesen. ({15}) Wer die Probleme nicht löst, sondern - zum Zwecke des Hervorrufens von Betroffenheit und notfalls der parteipolitischen Profilierung - ausnutzt, ({16}) der fördert in Wahrheit weder Toleranz noch Integration noch Mäßigung, sondern das Gegenteil. ({17}) - Sie haben in vieler Hinsicht bemerkenswerte Debattenbeiträge geleistet. - Ich glaube, dass es sehr viel besser ist, wenn der Rechtsstaat mit einer gewissen ruhigen, gelassenen Würde und Autorität handelt. Das ist besser als ein Übermaß an Betroffenheitsrhetorik, wodurch die Probleme nicht wirklich gelöst werden. Wir sollten die Situation mit Augenmaß betrachten. ({18}) Ich sagte vorhin schon, dass Verachtung wichtiger ist als ein Übermaß an öffentlicher Aufmerksamkeit. Junge Menschen neigen manchmal dazu zu provozieren. Sie wollen Aufmerksamkeit erregen, was ihnen auf diese Weise leicht gelingt. ({19}) Ich komme auf die Debatte um die nationale Identität zurück, die wir gestern geführt haben und die wir weiter führen müssen. Wenn wir den Rechtsextremen überlassen würden, sich der nationalen Identität anzunehmen - mein Fraktionsvorsitzender hat gestern sehr Bemerkenswertes und Richtiges dazu gesagt ({20}) - er hat in diesem Zusammenhang sogar Walter Jens zitiert; das war in diesem Fall angemessen und richtig -, dann wäre dies ein Förderprogramm für Rechtsextreme. Ich sage noch einmal: Herr Trittin treibt mit seiner Haltung, die er schriftlich bestätigt hat, die Menschen eher zu den Rechtsextremen, anstatt die Rechtsextremen wirkungsvoll zu bekämpfen. Diese Haltung ist deshalb falsch. ({21}) Im Übrigen müssen wir den jungen Menschen, die glauben - was falsch ist -, das Nationale würde in Deutschland nicht ernst genommen, sagen: Es hat niemand mehr Schande über die Deutschen gebracht als die Nazis mit ihren grauenvollen Verbrechen. Auch das gehört zu den Wahrheiten, die man den jungen Menschen immer und immer wieder sagen muss. ({22}) Wenn wir Fremdenfeindlichkeit, Extremismus und Gewalt bekämpfen wollen, ist es am wichtigsten, dass wir mit Maß und Würde, aber auch mit Autorität und Konsequenz handeln. ({23}) - Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, Frau Kollegin, auf die Frage, ob ausgerechnet die PDS besonders geeignet ist, im Kampf gegen den Extremismus an vorderster Front zu stehen, heute keine Ausführungen zu machen. Aber angesichts Ihres Zurufs bin ich versucht, dies zu tun. ({24}) - Dieser Zuruf ist ja noch bemerkenswerter. ({25}) Er zeigt nämlich, dass die Sozialdemokraten mehr als zehn Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch behaupten, in Wahrheit sei die CDU für die Verhältnisse in der DDR verantwortlich gewesen. Sie machen sich schon ein wenig lächerlich. ({26}) - Das sind Ihre Vorwürfe. Ich habe am Anfang in Erwiderung auf Ihren Kollegen, der vor mir gesprochen hat, gesagt: Extremismus zeichnet sich gerade dadurch aus, dass er den Wettbewerb verschiedener politischer Ideen und Lösungsmöglichkeiten verhindert. Genau in diesem Sinne war das kommunistische Zwangssystem in der DDR extremistisch. An dieser Tatsache kommen Sie nicht vorbei. Die Menschen haben dieses System in einer friedlichen Revolution abgeschafft. Sie sollten sich daher nicht als die wahren Kämpfer gegen den Extremismus bezeichnen. Das ist ein bisschen viel der Ehre. ({27}) Ich bin für die Gemeinsamkeit der Demokraten. Diese beinhaltet im Wesentlichen, dass wir im Falle unterschiedlicher Meinungen um die richtige Lösung streiten. Ich stelle daher fest: Der Antrag der CDU/CSU ist besser. Ich appelliere an Sie: Stimmen Sie ihm zu! ({28})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Buntenbach vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Rechtsextremismus ist eine Herausforderung für alle demokratischen Parteien. Herr Schäuble, wenn Sie angesichts der Tatsache, dass im letzten Sommer endlich die Spitze des Eisbergs in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt wurde, von einem Übermaß an Betroffenheit und von Medienhysterie sprechen, ({0}) dann finde ich das Ausmaß an Ignoranz und Zynismus, das sich darin zeigt, erschreckend. ({1}) Es ist leider - das wissen Sie genauso gut wie ich - ein Faktum, dass es in Deutschland, gerade in den fünf neuen Ländern, immer noch Gebiete gibt, in denen sich Menschen mit dunkler Hautfarbe, Flüchtlinge, Obdachlose, Homosexuelle und andere wegen der akuten Bedrohung durch rechtsextreme Gewalt nicht frei bewegen können, ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen. Sie wissen, dass es solche Zonen gibt. Eine Demokratie, die sich ernst nimmt, muss sich daran messen lassen, ob sie den Mindeststandard, Bewegungsfreiheit für alle - auch für Minderheiten - sicherzustellen, erfüllt. ({2}) Deswegen bin ich sehr froh, dass SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS es geschafft haben, zu einem gemeinsamen Antrag zur Bekämpfung von Rechtsextremismus zu kommen. Umso bedauerlicher ist es, dass sich die CDU diesem Konsens bislang nicht angeschlossen hat. ({3}) In dem Antrag haben wir uns auf einen Minimalkonsens geeinigt; er geht allerdings in der Substanz sehr weit und kann sich deshalb sehen lassen. Selbstverständlich gibt es in allen Fraktionen Forderungen, die darüber hinausgehen. Die Unionsparteien sind in diesem Bereich keineswegs ein Einzelfall. Für mich ist es unverständlich, warum Sie, meine Damen und Herren von der Unionsfraktion, sich selbst von diesem demokratischen Konsens ausschließen. Die Rahmenbedingungen für Rechtsextremismus entstehen in der Mitte der Gesellschaft. Rechtsextreme setzen in Gewalt um, was an den Stammtischen - aber leider nicht nur dort - geredet wird. ({4}) Die Opfer rechtsextremer Gewalt sind Menschen, die zum Teil auch von der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Gerade die Politik muss hier ihre Verantwortung ernst nehmen. Wir müssen eine umfassende Integrationspolitik betreiben. Dazu gehört auch ein sensibler sprachlicher Umgang mit Minderheiten und Themen der Asyl- und Migrationspolitik. Dabei geht es nicht um die Frage, ob, sondern um die Frage, wie darüber geredet wird. Ich bin deswegen besonders froh, dass wir unter den vier beteiligten Fraktionen zu der Übereinkunft gekommen sind, Wahlkämpfe nicht mehr auf dem Rücken von Minderheiten und Menschen anderer Herkunft zu führen. Ich möchte die Unionsparteien ausdrücklich einladen, sich doch zumindest diesen Punkt zu Eigen zu machen. ({5}) Wir haben es beim Rechtsextremismus nicht mit einem abgrenzbaren Problem irgendwo am Rande der Gesellschaft zu tun. Es gibt Berichte, die Rechtsextremismus vor allem im Osten als Mainstream unter Jugendlichen oder als Alltagskultur beschreiben. Es wäre daher eine Illusion, zu glauben, es gäbe Patentrezepte oder schnelle und einfache Lösungen. Wir werden in dieser Auseinandersetzung einen langen Atem brauchen und, wie ich fürchte, nur in seltenen Fällen kurzfristig sichtbare Erfolge präsentieren können. Obwohl wir also keinen Königsweg vorschlagen können, haben wir in unserem Antrag drei Handlungsfelder aufgezeigt, in denen man zu konkreten Ergebnissen kommen kann: Erstens ist dies die Stärkung der Zivilgesellschaft. Es kommt nicht allein darauf an, repressiv gegen Rechtsextreme vorzugehen, sondern auch darauf, die demokratische Gesellschaft zu stärken und Zivilcourage zu fördern. ({6}) Die Debatten, die wir hier seit dem letzten Sommer über Rechtsextremismus geführt haben und die sich konkret in diesen Anträgen niedergeschlagen haben, haben bereits dazu beigetragen, dass viele Menschen das Problem erkannt und dazu Stellung bezogen haben. Wir wollen diese Auseinandersetzung weiterführen und verstetigen. Dem dienen die Maßnahmen in der politischen Bildung, zum Beispiel durch die Bundeszentrale für politische Bildung, zur Qualifizierung in der Jugendarbeit und zur Stärkung der demokratischen Jugendkultur. Wir hoffen vor allem, durch die Modellprojekte der mobilen Beratungsteams neue Wege zu finden, wie man rasch und adäquat an den Stellen reagieren kann, wo die Menschen vor Ort, in der Schule, im Jugendzentrum und auf der Straße, konkret mit rechtsextremer Gewalt konfrontiert werden. Das zweite Handlungsfeld betrifft die Integration und die Stärkung der Position von Minderheiten, die Opfer rechtsextremer Gewalt werden. Dabei handelt es sich - wie ich vorhin schon sagte - oft um Gruppen, die auch von der Gesellschaft ausgegrenzt werden und nicht selten im Alltag Diskriminierung erfahren. Die Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts und die geänderten Regelungen zum Arbeitsverbot für Asylbewerber waren Schritte in Richtung zu mehr Integration. Dem müssen nun weitere folgen, zum Beispiel das Antidiskriminierungsgesetz. ({7}) Wir haben mit den im Antrag enthaltenen Maßnahmen einen Schwerpunkt auf den besseren Schutz der Opfer gesetzt. Dem dienen die Opferberatungsstellen, durch die soziale, rechtliche und psychische Unterstützung geleistet und vermittelt werden soll, und der Härtefonds zur unbürokratischen Entschädigung. Drittens kommen wir nicht umhin, den Aktionsradius von Rechtsextremen einzuschränken. Dazu bedarf es aber keiner neuen Gesetze, denn Bedrohung, Körperverletzung, Brandstiftung, Totschlag und Mord sind hinreichend strafbewehrt. Es kommt darauf an, im Vorfeld aktiv zu werden. Darum setzen wir uns für die präventive Bestreifung von Orten ein, die als Treffpunkt rechtsextremer Gewalttäter bekannt sind und von denen bekanntermaßen Gewalt ausgeht. Die bestehenden Gesetze müssen nicht nur angewandt, sondern auch rasch angewandt werden. Das heißt keineswegs, dass es fragwürdige Schnellverfahren geben soll, sondern heißt, dass Prozesse zu Gewaltstraftaten justizorganisatorisch vorgezogen werden müssen, damit die Täter nicht erst Jahre später und oft nach einer ganzen Reihe weiterer Straftaten verurteilt werden. Ich will damit nur andeuten, dass es eine ganze Reihe von Möglichkeiten gibt, die Strafverfolgung zu intensivieren, ohne allgemeine Bürger- und Bürgerinnenrechte einzuschränken, wie die Unionsparteien und vorhin auch wieder Herr Schäuble hier am Pult vorgeschlagen haben. ({8}) Das wäre ein Schritt in die falsche Richtung. Wenn wir nämlich die Gesellschaft mobilisieren wollen, dann brauchen wir nicht weniger, sondern mehr demokratischen Handlungsspielraum. Je mehr Menschen auf die Straße gehen, sich an öffentlichen Diskussionen beteiligen, Zivilcourage zeigen und sich einmischen, desto geringer ist der Aktionsradius für rechtsextreme Gewalttäter. ({9}) Ich sehe keinen Grund, warum sich die Unionsparteien diesem Konsens verweigern. Sie wenden mit diesem Verhalten ihren ständigen Vorwurf, der Rechtsextremismus würde parteipolitisch funktionalisiert, gegen sich selbst und begeben sich damit ins politische Abseits. Ich will die Nationalstolzdebatte hier nicht weiterführen, möchte aber noch einmal klar sagen: Wer die Parolen von Rechtsextremen und Nazis übernimmt, der gräbt ihnen nicht das Wasser ab, sondern gießt es auf ihre ideologischen Mühlen. ({10}) Wer sich undifferenziert zu Deutschland bekennt und sagt „Ich bin stolz, Deutscher zu sein“, der meint die ganze deutsche Geschichte. Darum ist das eine Parole der Rechtsextremen. Demokraten sollten sich davor hüten, sie zu kolportieren. ({11}) Wir können den Rechtsextremismus nämlich nicht bekämpfen, indem wir auf seine Parolen ein anderes Etikett kleben, sondern nur, indem wir ihm demokratische Werte und demokratisches Handeln entgegensetzen. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Wolfgang Gerhardt von der F.D.P.-Fraktion.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesinnenminister hat den Verfassungsschutzbericht 2000 vorgelegt, der eine steigende Zahl rechtsextremistisch motivierter Straf- und Gewalttaten schildert. Es wird festgestellt, dass das Personenpotenzial nicht steige, sondern eher zurückgehe, aber auch, dass sich in dem vorhandenen Personenpotenzial die Bereitschaft, Gewalt anzuwenden und aggressiver zu reagieren, erhöht habe. Die gewaltbejahenden Äußerungen würden deutlicher und vielfältiger. Die kulturelle Revolution von rechts, wie es der Verfassungsschutzbericht ausdrückt, über Konzertveranstaltungen, über die Gruppenszene gelinge nicht, sondern gehe eher zurück. Die Bedeutung des Internets aber steige. Es gebe noch keine ausreichende Reaktion auf die Dimension des Missbrauchs dieses Mediums. All das unterstreicht, dass wir eine sehr differenzierte Reaktion brauchen. ({0}) Deshalb will ich daran erinnern: Meine Fraktion, die F.D.P., hat am 5. April des vergangenen Jahres einen Antrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eingebracht. Ich muss mich heute im Nachhinein wundern, wie gering die Reaktion auch in diesem Haus auf diesen Vorgang war. ({1}) Alles bis zu der Bemerkung - und zwar ohne Ansehen einer bestimmten Fraktion -, ob denn wirklich Bedarf bestünde, darüber ausführlich zu diskutieren, klingt mir noch sehr in den Ohren. Die Bundesregierung hat natürlich - das sollten wir aus dem parteipolitischen Streit heraushalten - mit einer Summe von Maßnahmen reagiert, auch, was im Übrigen sehr erfolg-reich war, in Richtung eines Verbots rechtsextremer Organisationen, soweit man verwaltungsmäßig selbst entscheiden konnte, bis hin zur Vereinheitlichung der Kriterien für die Erfassung rechtsextremistischer und antisemitischer Straftaten, um überhaupt ein Lagebild zu bekommen - das ist eine notwendige Aufgabe -, und zur Verstärkung im Bereich der politischen Bildung. Aber - um auch das hier zu sagen - das bleibt doch alles sehr im Bereich traditioneller Maßnahmen. Das ist eine Hausaufgabe, die man zu erledigen hat. Selbst die Fragestellung, wie man zu dem Antrag auf Verbot der NPD steht - wir müssen sie heute nicht ausführlich diskutieren, sondern kommen ein anderes Mal darauf zurück -, ist eine traditionelle Reaktion. Die Bundesregierung ist der Überzeugung, er entfalte große Symbolkraft und nehme den Nährboden in Form einer organisatorischen Hülle weg. Aber es gibt viele organisatorische Hüllen und viele Parteien, in die die Wölfe wie in einen Schafspelz sofort wieder schlüpfen können. ({2}) Im Übrigen werden wir das Argument, man nehme mit großer Symbolkraft eine organisatorische Hülle weg, erneut besprechen, wenn das Bundesverfassungsgericht am Ende entschieden haben wird. Denn darauf darf man heute ja aufmerksam machen: Bei aller Überzeugung und Glaubenskraft der Bundesregierung - ihre Glaubenskraft ist ja auch in vielen anderen Bereichen größer als das, was an Ergebnissen tatsächlich zutage tritt - entscheidet am Ende Karlsruhe. ({3}) Ob Karlsruhe das so bewerten wird wie die Bundesregierung, das lassen wir heute einmal völlig außerhalb dieser Debatte. Entschiede das Gericht aber anders, hätte die Bundesregierung mit diesem Vorgehen eher die andere Seite gestärkt, als dass ihr mit großer Symbolkraft das Wasser abgegraben würde. ({4}) Manche Reaktionen der Bundesregierung sind also richtig, manche sind im Streit. Bedauerlicherweise haben Sie, liebe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sich trotz des gemeinsamen Antrags bei den Haushaltsberatungen dafür entschieden, einen Antrag der F.D.P. abzulehnen, der 300 Millionen DM für Maßnahmen der politischen Bildung, Sozialarbeit und kommunalen Jugendarbeit vorsah. Mir fehlt dafür das Verständnis; ({5}) denn wenn man gemeinsame Aktionen will, dann sollte man auch parteienübergreifend die Souveränität haben, solchen Maßnahmen zuzustimmen. Aber auch ein solches Programm verbliebe natürlich am Ende im Bereich traditioneller Maßnahmen. Es reihte sich in gewaltige Kraftanstrengungen ein, könnte aber wahrscheinlich auch nicht bis zum Kern vorstoßen. Diesen Kern möchte ich jetzt einmal an zwei Punkten zu beschreiben versuchen. Ich habe im letzten Jahr Schulen besucht und werde das auch fortsetzen. Wenn Schülerinnen und Schüler einem entgegentreten, dann spürt man, dass sie im Hinblick auf diesen katastrophalen Abschnitt deutscher Geschichte zwei Sachverhalte bemerken. Sie beklagen manche Unterrichtserteilung als schlichte Unterrichtung über einen Abschnitt deutscher Geschichte, ohne dass sie ausreichendes persönliches Engagement der Lehrerinnen und Lehrer spürten, als handelte es sich bei diesen Unterrichtungen um etwas Ähnliches wie die Erteilung des Mathematikunterrichtes oder die Lektüre eines Buches im Deutschunterricht. Sie vermissen ein Stück erzieherischer Qualität in der Begleitung des Unterrichtsstoffes. Auf der anderen Seite beklagen sie genauso eine pädagogische Penetranz mit intellektuellem Rohrstock bei der Vermittlung dieses katastrophalen Abschnitts deutscher Geschichte, und zwar so stark, dass sie ihren Protest dagegen erregt. ({6}) Die pädagogische Qualität und die Fähigkeit von Lehrerinnen und Lehrern, das zustande zu bringen, was Wolfgang Schäuble eben erwähnt hat, nämlich den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass niemand anders als die Nazis Schande über das deutsche Volk gebracht haben, sind nicht so ausreichend ausgeprägt, dass sie sich der jungen Generation mitteilten. ({7}) Weil ich diese Gegenreaktionen erlebe, stelle ich mir die Frage, welche erzieherische Qualität im Hinblick auf solche Schlüsselszenen des Unterrichts an deutschen Schulen zu entwickeln ist. Viele Familien glauben, sie könnten sich mit dem Hinweis darauf, dies sei Sache der Schule und der Politik, heraushalten. Das dürfen wir nicht zulassen. Das ist nicht die Chefsache des Bundeskanzlers oder der MdBs aus allen Fraktionen, das ist die Chefsache jeder Mutter und jedes Vaters in einer deutschen Familie. Dem darf sich niemand entziehen. ({8}) Um auf die gestrige Debatte zurückzukommen: Das Stolzsein auf irgendetwas hat zwei ganz unterschiedliche Grundlagen. Eine liegt darin, dass es oft als Kompensation individueller Schwächen oder schwieriger Lebenssituationen empfunden wird, dass man sich eine Erlösungsideologie sucht und ihr nachläuft. Ideologen - jetzt muss ich allerdings sagen: von links und rechts - nutzen solche Situationen immer in ungemein starkem Maße. Weltanschauungstransporteure waren und sind immer dadurch gekennzeichnet, dass sie Menschen schwacher intellektueller Qualität für sich gewinnen. Beide Vorgänge zeigen einen unglaublichen Bedarf an wirklicher erzieherischer Qualität. In die deutsche Bildungspolitik darf man wohl wieder die Erkenntnis einführen, dass es in ihr nicht nur auf die Dauer von Schulzeiten, auf die wettbewerbsfähige Hochschullandschaft und darauf ankommt, ob man die Kinder mit fünf oder sechs Jahren einschult und ob für die Kindergärten Beiträge gezahlt werden müssen oder nicht. In die Bildungspolitik in einer Demokratie muss die notwendige Erziehung zur Demokratie und zum verantwortungsbewussten Umgang mit der Freiheit sowie die Wertevermittlung einziehen. Diese Überzeugung muss man dann auch über die Fraktionen hinweg vertreten. ({9}) Die gestrige Diskussion hat im Übrigen das ganze Dilemma deutlich gemacht. Es soll doch niemand glauben, dass man allein mit diesem Hinweis auf den katastrophalen Abschnitt der deutschen Geschichte kulturelle Bindungen, das Empfinden der sprachlichen Heimat der Deutschen in europäischer Einbettung beseitigen könnte. Das sind ganz natürliche menschliche Regungen. Es reicht nicht aus, ihnen nur mit „political correctness“ gegenüberzutreten. Die Sprache als Heimat, die Kulturgeschichte des Lernens in Deutschland - das überwindet, weil wir Menschen sind, auch diesen katastrophalen Abschnitt. Den Gefahren, die darin stecken, vorzubeugen und Wirkung zu erzielen, darauf kommt es an. Das ist ganz entscheidend. Das heißt, wir dürfen ganz bestimmte zivilisatorische Tugenden nicht dem Amüsierbetrieb preisgeben. ({10}) Das sage ich jetzt aber auch einmal zur anderen Seite. Den Fingerzeig derjenigen, die gestern ihren Zeigefinger nach rechts erhoben haben und sich sogar dazu verstiegen haben zu sagen, die Mitte in Deutschland reagiere manchmal fahrlässig so, dass sie rechts begünstigt, würde ich gerne entgegennehmen, wenn sie sich genauso stark über den zivilen Ungehorsam von links, über die Blockaden auf Schienen, über die Aufforderung „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ ereifern. Leider jedoch wendet diese Seite eine Sprache an, die den Menschen nicht mehr klar vermittelt, dass Gewalt kein legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ist. ({11}) Die Herausforderung besteht darin, Gesetz und Recht und ganz bestimmte Tugenden auch gegen die eigenen Emotionen und eigenen Vorstellungen gelten zu lassen. Deswegen hört sich meine Fraktion ungern an, wenn uns von ganz linker Seite moralisierend erzählt werden soll, wie man Rechts besser begegnet. Jeder muss an seiner Stelle das Notwendige tun. ({12}) Wolfgang Schäuble hat - darauf will ich abschließend aufmerksam machen - zu Recht das Ergebnis der badenwürttembergischen Landtagswahl hinsichtlich des Abschneidens der Republikaner begrüßt und gewürdigt. Dieses Ergebnis freut uns alle. Folgendes will ich auch nach außen sagen: Bürgerinnen und Bürgern waren sich nicht zu fein, zur Wahl zu gehen. Das war im Übrigen auch schon einen Wahlsonntag vorher Gott sei Dank bei der hessischen Kommunalwahl der Fall. Ich will hier ausdrücklich den Bürgerinnen und Bürger danken, die nicht nur in Zimmern, in intellektuellen Kreisen auch uns Bundestagsabgeordneten immer erzählen, was unsere Sache sei. Ich will denen danken, die dann auch zur Wahl gehen und die Rechten nicht wählen, ({13}) weil es auch manchmal ein Stück politischen Hochmuts in Deutschland gibt, sich zu fein zu sein, zur Wahl zu gehen, ({14}) von der Politik gar nichts mehr zu halten, dann aber zu räsonieren, was dabei herauskommt, wenn andere für einen entscheiden, weil man selbst nicht hingegangen ist. ({15}) Diesen Bürgerinnen und Bürgern, die zur Wahl gegangen sind, sollten wir unseren Dank sagen. Zum Abschluss eine Überzeugung:

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Gerhardt, Sie haben Ihre Redezeit schon weit überzogen. Ich bitte Sie zum Schluss zu kommen.

Dr. Wolfgang Gerhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002659, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die erste deutsche Demokratie hatte eine so schöne Verfassung wie die unsrige. Die Weimarer Verfassung war freiheitlich und rechtsstaatlich. Der Vorteil der zweiten deutschen Demokratie, den wir jetzt erleben: Sie hat eine genügende Anzahl von Persönlichkeiten und Bürgern, die auch zur Verfassung stehen. Darauf kommt es an. Herr Präsident, es tut mir wirklich Leid, aber das musste ich noch sagen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat Kollege Roland Claus von der PDSFraktion das Wort. ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Guten Morgen, meine Damen und Herren! Herr Präsident! Selbstverständlich begrüßt die sozialistische Opposition im Deutschen Bundestag ({0}) das Zustandekommen dieses Antrages. ({1}) Ich will Ihnen sagen, warum uns das so wichtig ist. An vorderster Stelle steht dabei die Tatsache, dass all die aktuellen Vorgänge, über die wir hier zu reden haben, mit der historischen Einzigartigkeit der Verbrechen des NS-Regimes in Verbindung stehen. Hier leistet dieser Beschluss einen Beitrag gegen das Vergessen, und das ist gut so. ({2}) Meine Damen und Herren, wir sind in einer Situation, in der die Formel „Wehret den Anfängen!“ nicht mehr zutrifft. Hier will ich mich auch gegen die Einschätzung des Kollegen Schäuble wenden. Es geht nicht um einzelne Vorfälle. Es ist deshalb auch nicht richtig, wenn Sie hier ein Übermaß an Beachtung kritisieren. Es gibt eine schleichende Akzeptanz des rechten Geistes in diesem Lande. ({3}) Mich machen mehr als die offenen und in die Medien geratenden Ereignisse und Vorfälle immer Ereignisse, die nicht in den Zeitungen stehen, betroffen. Ich möchte Ihnen von einem berichten. Vor einigen Jahren komme ich in einen Jugendklub. Einige 14-jährige Jungs sitzen dort mit der „Bild“-Zeitung, die gerade darüber berichtete, dass Harald Juhnke in den USA einen Farbigen als „Nigger“ bezeichnet hatte und über die Folgen, die das nach sich zog. Die jungen Leute können die Welt nicht verstehen und stellen die Frage: „Was wollen die denn überhaupt von dem Alten? Das ist doch ein Nigger!“ Das heißt, in deren Bewusstsein ist überhaupt kein Unrechtsverständnis dafür enthalten. Deshalb sagen wir auch: Gegen Nazis in den Köpfen hilft am meisten Bildung und Aufklärung. ({4}) Wir haben es inzwischen mit einem Einzug rechten Geistes in die Alltagskultur zu tun. Ich könnte Ihnen Regionen in Sachsen oder im Ostharz nennen, wo das bedrohliche Ausmaße angenommen hat. Ich verwahre mich auch dagegen, von einer „rechten Szene“ zu sprechen. Das hat immer etwas Verharmlosendes, so etwas wie: Auch das kommt in der Meinungsvielfalt vor. Deshalb müssen wir uns mit aller Konsequenz diesen Aufgaben stellen. Ich meine, der vorliegende Antrag ist ein großer Schritt. Er ist natürlich für alle Beteiligten ein Kompromiss. Auch das Ja der PDS-Fraktion ist ein kritisches Ja. Es wird Ihnen nicht anders gegangen sein, als Sie Teile unserer Forderungen aufgenommen haben. Deshalb möchte ich den Kolleginnen und Kollegen, die am Zustandekommen dieses Kompromisses mitgewirkt haben, auch aus der Sicht unserer Fraktion ein sehr herzliches Dankeschön sagen. ({5}) Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich das an dieser Stelle meiner Kollegin Ulla Jelpke gegenüber besonders tun will, die sich diesem Thema bereits besonders lange und besonders intensiv zuwendet. ({6}) Bekanntlich standen am Anfang Anträge aller Fraktionen. Ich habe mir die Anträge angeschaut. Sie gingen sehr weit auseinander. Obwohl ich durch und durch Optimist bin, habe ich am Anfang nicht daran geglaubt, dass ein solcher gemeinsamer Antrag zustande kommt. Mut gemacht hat mir dann die gemeinsame Demonstration, zu der alle im Bundestag vertretenen Parteien aufgerufen hatten und bei der am 9. November des vergangenen Jahres erfreulicherweise auch Frau Merkel und Herr Stoiber noch dabei waren. Ich möchte aber auch all jenen danken, die sich lange vor der offiziellen Politik diesem Problem zugewandt haben, und finde es deshalb sehr wichtig, dass im gemeinsamen Antrag auch den Initiativen und Verbänden gedankt wird, die sich mit Kundgebungen, Veranstaltungen und anderem der braunen Pest widersetzt haben. ({7}) Ich finde, dass auch ein Dank an viele Künstlerinnen und Künstler angebracht ist, die lange vor der Zeit, zu der wir hier reagiert haben, auf das Problem aufmerksam machten. Nennen möchte ich nur das Engagement von Udo Lindenberg, von Konstantin Wecker, aber auch von vielen, vielen namenlosen jungen Bands, die in Veranstaltungen von „Rock gegen Rechts“ aktiv geworden sind. ({8}) Meine Damen und Herren, es wird Sie nicht wundern, dass wir auch angesichts dieses erfreulichen Beschlusses kritisch bleiben. Wir wollen schon Beschlusslage und Realität vergleichen. An einer Stelle wird es da für uns gewissermaßen peinlich. Vorgestern ist der neue Verfassungsschutzbericht vorgestellt worden. Darin ist unter dem Thema „Antifaschismus“ bei linksextremistischen Organisationen der VVN-BdA aufgeführt. Man muss das natürlich einmal aussprechen, damit man weiß, um welche Organisation es sich handelt. Es ist nämlich die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten. Ich habe mir einmal die Begründung hierzu angeschaut. In der Begründung steht eigentlich nur, dass sie aktiv im Kampf gegen Rechtsextremisten auftreten und dass sie - verkürzt gesagt - gegen eine Gleichsetzung von links und rechts sind. Wenn man diese Maßstäbe aus dem Verfassungsschutzbericht anlegt, dann müssten auch die antragstellenden Fraktionen im nächsten Verfassungsschutzbericht auftauchen. Wir meinen, dieser Anachronismus muss beendet werden. ({9}) Wir wollen, dass der Begriff Antifaschismus aus dem Verfassungsschutzbericht herausgenommen und in den gesellschaftlichen Wertekanon aufgenommen wird.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Claus, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Aber ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Hartmut Büttner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000303, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Claus, Sie haben gerade den neuen Verfassungsschutzbericht erwähnt. Würden Sie bitte der deutschen Öffentlichkeit darstellen, dass Sie als PDS, die Mitantragsteller dieses Antrags ist, dort auch verankert sind. Ich zitiere wörtlich: Sowohl im Programm wie auch im Statut der PDS ist auch die Existenz extremistischer Strömungen in der Partei verankert. Sind Sie ein glaubwürdiger Partner? ({0})

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege, ich habe natürlich auch diese Passage im Verfassungsschutzbericht gelesen. Ich halte sie für genauso tilgungsbedürftig wie die Passage über die Antifaschistinnen und Antifaschisten. ({0}) Da es mir hierbei aber um das gemeinsame Anliegen geht, habe ich nicht damit angefangen, die vergleichsweise Kleinigkeit, dass die PDS hierin erwähnt wird, aufzuführen. Wir werden das an anderer Stelle tun. ({1}) Im Übrigen, Herr Kollege Büttner, wird der anachronistische Beschluss der CDU/CSU-Fraktion, der heißt „nicht mit der PDS auf eine Drucksache“, seine Tage bald überlebt haben; das kann ich Ihnen versprechen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Claus, kommen Sie bitte zum Schluss.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich will dennoch sagen, dass wir es für einen Mangel halten, dass die Christdemokraten diesem Antrag nicht beigetreten sind; denn ich glaube schon, dass das Problem, mit dem wir es hierbei zu tun haben, angesichts seiner Dimension ohne die große demokratische konservative Partei in diesem Lande nicht lösbar sein wird. Meine Damen und Herren, dieser Beschluss ist ein Anfang und kein Alibi. Vergessen wir nicht: Faschismus und Neofaschismus, das sind nicht Meinungen, das sind Verbrechen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Christel Hanewinckel von der SPD-Fraktion.

Christel Hanewinckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000802, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Bei den Demonstrationen in der DDR im Oktober und November 1989 einte alle - egal, in welcher Stadt und welchen Alters - ein Wunsch. Dieser Wunsch hieß, oft vielfältig plakatiert: keine Gewalt. Nie hätte ich 1989 geglaubt, dass wenige Jahre später Menschen in den ostdeutschen Städten gehetzt, totgeschlagen und angebrannt würden wegen ihrer Sprache, ihrer Hautfarbe oder weil sie obdachlos sind. Ich hätte auch nicht geglaubt, dass ein Gesetz gegen die Gewalt in der Erziehung zehn Jahre brauchen würde, ehe es endlich eine Mehrheit im Deutschen Bundestag findet. Ich hätte auch nicht geglaubt, dass die DVU in Sachsen-Anhalt 1998 fast 13 Prozent der Stimmen bekommen würde. Ich hätte auch nicht geglaubt, dass der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt Anfang 2001 die Zivilcourage von Bürgerinnen und Bürgern beschämen würde, indem er die Beendigung der von ihnen initiierten Aktion „Noteingang“ forderte. Das sind nur einige Beispiele aus ostdeutscher Wirklichkeit. Wir kennen die Zahlen. Sie erschrecken; denn es ist zum Beispiel kaum vorstellbar, dass 20 Prozent der Ostdeutschen eine rechtsextreme Einstellung haben und 40 Prozent generell fremdenfeindlich sind. Das ist die Wirklichkeit, Herr Schäuble. Das ist keine Hysterie. Wir wissen auch, dass vor allem junge Menschen, junge Männer - fast noch Kinder - zu rechtsextremen Gewalttätern werden. Wir wissen, dass es bereits in den Städten der DDR Skins und entsprechende rechtsextreme Gruppen gab, deren Existenz aber in der antifaschistisch deklarierten DDR verschwiegen worden ist - das haben alle damaligen Parteien so getan - und nicht offen genannt werden durfte. Wir wissen auch, dass sich junge und alte Menschen in Ost und West von der Art und Weise ansprechen lassen, wie sich Politiker diffamierend über Ausländer und Asylbewerber äußern. Die Landtagswahlen in Hessen haben dies gezeigt; sie sind auf dem Rücken dieser Menschen gewonnen worden. ({0}) Doch nicht nur die Zahl der rechtsextremen Straf- und Gewalttaten ist gestiegen. Gewachsen sind auch die intensive öffentliche Debatte und die Bereitschaft, genau hinzusehen, sich gegen rechtsextreme Gewalt, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit einzusetzen, sich in Initiativen zusammenzuschließen und durch Demonstrationen deutliche Zeichen zu setzen. ({1}) Gerade in den ostdeutschen Bundesländern gibt es eine ganze Reihe von Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern, Kirchengemeinden, Eine-Welt-Vereinen und anderen Organisationen, die in verschiedensten Projekten Integrationsarbeit leisten. Was ist nötig zu tun? Wir haben das in einem gemeinsamen Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS ausführlich beschrieben. Ich nehme jetzt nur einen einzigen Punkt heraus, nämlich den, dass wir den neuen Bundesländern für Initiativen und Projekte, die sich für Toleranz, Demokratie und Integration einsetzen, 10 Millionen DM zur Verfügung stellen: ({2}) 5 Millionen DM für die Präventionsarbeit und 5 Millionen für Initiativen, die Projekte der Opferberatung organisieren. Sie wissen, dass weitere 40 Millionen DM zur Verfügung gestellt werden; darüber haben bereits andere vor mir berichtet. Der CDU/CSU-Fraktion kann ich nur deutlich sagen: Eine Verschärfung des Jugendstrafrechtes brauchen wir ganz sicher nicht. ({3}) Wir werden unsere Bemühungen lieber darauf konzentrieren, die jungen Menschen zu erreichen, bevor sie rechtsextrem denken und bevor sie Gewalt anwenden. Leider haben Sie sich zum Teil auch im Hinblick auf das Gesetz gegen Gewalt in der Erziehung nicht sehr deutlich geäußert bzw. dagegen gestimmt. Was wir auch nicht brauchen, ist die Fortführung der Debatte über den Stolz. Genau das ist das falsche Signal. ({4}) Eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Deutschlands und seiner Zukunft, die für mich in einem weltoffenen, integrativen Deutschland liegt, ist angesagt. Bei der Diskussion über den Sechsten Familienbericht werden wir noch ausreichend Gelegenheit haben, uns gemeinsam zu überlegen, welche notwendigen Schritte wir als Politikerinnen und Politiker des Deutschen Bundestages in diesem Zusammenhang einzuleiten haben. Was wir brauchen, das sind Erwachsene, und zwar nicht nur Mütter und Väter in den Familien, sondern auch Politikerinnen und Politiker, die in ihren Reden und in ihrem Handeln Art. 1 und Art. 3 des Grundgesetzes allen Menschen gegenüber, die in Deutschland leben, erfahrbar machen. ({5}) Ein Teil derer, die 1989 in der DDR auf die Straße gegangen sind, sind nicht direkt zur Durchsetzung dieser beiden Artikel auf die Straße gegangen, sondern deshalb, weil sie sich für Freiheit, für Menschenwürde und dafür einsetzen wollten, dass diese Menschenwürde in einem geeinten Deutschland unantastbar bleibt, egal welcher Abstammung ich bin, welche Hautfarbe ich habe und welche Sprache ich spreche. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Marieluise Beck vom Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Schäuble hat soeben zu Recht gesagt: Wir sind auch ein ausländerfreundliches und weltoffenes Land. Viele Ausländer in diesem Land haben gute Erfahrungen im Zusammenleben mit Deutschen gemacht. Bürgerinnen und Bürger haben diese Sache sozusagen in ihre Hand genommen. Obwohl es keine systematische Integrationspolitik vonseiten der Bundesregierung und vieler Landesregierungen gab, hat es dennoch eine umfangreiche Integration gegeben, weil die Menschen ihrerseits gehandelt haben. ({0}) Dennoch: Die Wahrheit ist auch, dass sich der überwiegende Teil der Übergriffe von Rechtsradikalen gegen Ausländer richtet, wobei der Begriff Ausländer eigentlich gar nicht mehr trennscharf genug ist. Denn letztlich ist unerheblich, ob die Gewalt einen Schwarzen mit oder ohne deutschen Pass, ob sie einen eingebürgerten oder nicht eingebürgerten Türken bzw. eine Türkin trifft. Die Beleidigungen, die Zurückweisungen, die Ressentiments und eben auch die Übergriffe richten sich unabhängig vom Pass gegen alles, was fremd und eben anders ist. Damit sind wir beim Kern des rechten Denkens: Es geht darum, alles das auszumerzen, was nicht in homogene Weltbilder passt. Die Moderne ist aber gerade durch den Verlust von Homogenität gekennzeichnet. Rechtes Denken heißt aber: Man will alles weghaben, was komplex und vielfältig ist. Einfache Weltbilder, vermeintlich einfache Losungen und Lösungen sollen Schutz vor Verunsicherung bieten. Deswegen trifft der Hass auch die Schwulen, die Obdachlosen und natürlich vor allem die, die nicht in völkisches Denken passen, weil sie angeblich gar nicht zum Volk gehören können, da sie woanders herkommen und anders aussehen als diese vermeintlichen Durchschnittsdeutschen, die dem Denken der den rechten Milieus angehörenden Menschen entsprechen. Betrachten wir die Historie: Auch die Juden waren Teil des deutschen Volkes. Sie wurden aber zu den anderen gemacht. Die Rechten machen viele zu anderen und schließen damit alle aus, die aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind. In unserem Land gibt es aber seit 40 Jahren Zuwanderung. Es ist ein verheerendes Versäumnis - darüber müssen wir hier auch sprechen -, dass wir diesen Sachverhalt nicht klar benannt haben und auch nicht gesagt haben, dass mit dieser Zuwanderung Veränderung, das Auflösen von Homogenität, kulturelle Vielfalt, religiöse Vielfalt und natürlich auch Verunsicherung verbunden sind. Denn Zuwanderung bringt Veränderung, und zwar sowohl für die, die kommen, als natürlich auch für die, die schon da sind. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen. Wenn wir Botschaften wie „Nur die, die hierher kommen, müssen sich anpassen und verändern“ senden, nähren wir bei denen, die schon hier sind, eine Illusion dahin gehend, dass sie sich nicht auf diesen gemeinsamen Prozess der Veränderung einlassen müssten. Diese Illusion wäre verheerend. Durch Einwanderung kommt es zu Veränderungen. Diesem Prozess kann man als Einwanderungsgesellschaft nicht entkommen. Wir sind gut beraten, darüber auch offen und ehrlich zu sprechen. ({1}) Es tauchen viele neue Fragen auf. Darf eine Frau mit Kopftuch in Deutschland Lehrerin im Beamtenverhältnis sein? Wie gehen wir mit dem Widerspruch zwischen den Tierschutzgesetzen und dem religiösen Gebot des Schächtens um? Gehört ein Muezzinruf in eine brave deutsche Gesellschaft? All dies sind Veränderungen, vor denen wir stehen. Die Rechten wollen sich diesen Veränderungen nicht stellen. Sie wollen sie abwehren und versprechen der Bevölkerung: Wir sorgen dafür, dass ihr euch diesen Veränderungen nicht stellen müsst. Nun haben wir in dem heute vorliegenden Antrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS festgehalten, dass wir keine Wahlkämpfe oder politischen Auseinandersetzungen mehr auf dem Rücken von Ausländern bzw. Minderheiten führen wollen. Das ist gut so, wird aber in der Praxis schwierig, denn es gibt viele politische Botschaften, die den Bodensatz für rechtes Denken und ebendiese Abwehr und Ressentiments bilden. Ich erlebe das in der Praxis täglich. Ich will eine davon nennen. Wenn wir Politiker sagen, nur 3 Prozent der Flüchtlinge werden als politische Flüchtlinge anerkannt, deswegen sind 97 Prozent Wirtschaftsflüchtlinge, dann nähren wir Vorurteile in der Bevölkerung, dass alle, die hierher kommen, Abzocker seien. ({2}) Wenn wir Einwanderungszahlen nennen - 700 000 bis 800 000 pro Jahr - und nicht gleichzeitig die Abwanderungszahlen nennen, die fast genauso hoch sind, nähren wir in der Bevölkerung das Gefühl, es seien zu viele Ausländer im Land. Das hat mit der Realität nichts zu tun. Wenn immer wieder vom Rückzug in Parallelgesellschaften gesprochen wird, obwohl in deutschen Großstädten inzwischen jede dritte Ehe binational ist, dann nähren wir die Botschaften, die Ausländer wollten sich gar nicht integrieren, und schüren damit Vorurteile.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Es gibt also jenseits der großen Versprechen viele Botschaften im Kleinen zu überprüfen, die in den politischen Raum gehen und die den Nährboden für die alltägliche Ebene von Vorurteilen, Abwertungen, Ressentiments und Fehlinformationen bilden. Wenn Sie mit Migrantinnen und Migranten sprechen, werden Sie merken, wie viele Alltagserfahrungen von Zurückweisung, von Diskriminierung und von Ungleichbehandlung diese gemacht haben. Das sollten wir alle sehr ernst nehmen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Beck, kommen Sie zum Schluss.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ein Gedanke noch. Wir müssen lernen, dass sich der Spieß langsam dreht. Es geht nicht mehr darum, möglichst viele Menschen davon abzuhalten, nach Deutschland zu kommen. Wir sind an dem Punkt angelangt, wo die Menschen, obwohl wir sie in Deutschland brauchen, zum Teil sagen: Schönen Dank, nach Deutschland wollen wir nicht. Der American Field Service hat sich an die Ausländerbeauftragte gewandt, weil zunehmend mehr Austauschplätze, die in Deutschland angeboten werden, von jungen Menschen aus dem Ausland nicht angenommen werden, weil die Botschaft nach außen dringt, dass es für Ausländer in Deutschland zumindest ungemütlich, wenn nicht gefährlich ist. Das können wir nicht akzeptieren. Daher sollten wir gemeinsam alles dafür tun, dass diese Botschaft im Ausland nicht mehr verbreitet wird. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Frau Hanewinckel, ich finde es gut, dass wir diese Debatte zu einem Zeitpunkt führen, zu dem in der Öffentlichkeit offenkundig auch über berechtigten Stolz gesprochen wird, ein Deutscher zu sein. Ich finde, wir sollten die Debatte fortsetzen. Ich will unter der Überschrift der heutigen Debatte einen türkischstämmigen Rechtsanwalt aus Berlin zitieren. Mit folgenden Worten war das im letzten „Focus“ zu lesen: „Alles, was ich habe, und alles, was ich bin, verdanke ich zwei Institutionen: meiner Familie und diesem Land.“ Deutschland habe ihm „als Sohn türkischer Einwanderer mit Stipendien ein erstklassiges Studium ermöglicht. Wie könnte ich nicht stolz sein auf ein Land, das jedem ungeachtet seiner Herkunft diese Chancen eröffnet.“ Mit Blick auf die unsäglichen Ausfälle des amtierenden Umweltministers sagte er: „Leute wie Jürgen Trittin sind heute die wirklich Ewiggestrigen - Leute, die nicht wahrhaben wollen, wie sich dieses Land und seine Menschen verändert haben.“ ({0}) Auch solche Einschätzungen eines türkischstämmigen Einwanderers gehören genau zu dieser Debatte um Extremismus, Gewalt und ausländerfeindliche Übergriffe. Gleichzeitig gehört dazu auch die Erkenntnis, dass gegen rechtsextreme Gewalt mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln des Rechtsstaates vorgegangen werden muss. Dabei sollten wir uns vom ersten Satz unseres Grundgesetzes leiten lassen, nämlich „Die Würde des Menschen ist unantastbar,“ nicht des Deutschen. ({1}) Auch nicht gemeint ist damit, dass wir freundlich zu ausländischen Mitbürgern sein sollen, weil sonst keine Investoren nach Deutschland und insbesondere in die östlichen Bundesländer kommen. Die Würde des Menschen ist gesetzt. Sie zu achten darf nie, auch in unseren Argumentationsmustern, Mittel für andere Zwecke sein. ({2}) In dem zur Abstimmung stehenden Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird das Gewaltmonopol des Staates betont. Beides gehört für uns zusammen: ein objektiver Blick auf die Verhältnisse in unserem Land und der Einsatz für die Stärkung der Exekutive. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - so heißt es - setzt sich dafür ein: Insbesondere wenn extremistische Gewalttäter zuschlagen, kann und muss der Staat unverzüglich handeln. Dabei gibt es keinen Grund zum Zögern aus falsch verstandener Liberalität. Unser Antrag geht mit zahlreichen notwendigen Maßnahmen auch auf die einzige Sprache ein, die gewaltbereite Rechtsextremisten wirklich verstehen: Grenzen rechtzeitig aufzeigen, das heißt, der Staat muss hart, konsequent und sofort mit repressiven Mitteln einschreiten. Wer bei dieser Sachlage die Union - manchmal mit nebulösen Formulierungen, manchmal ganz offen - in die Nähe von rechtsextremistischen Tätern stellen will, der setzt bei diesem so sensiblen Thema auf Diffamierung des politischen Gegners. Dahinter zeigt sich meines Erachtens ein Gedankengut, das nur eine andere Form von Extremismus offenbart. ({3}) Marieluise Beck ({4}) Für mich als Ostdeutscher war es schon bemerkenswert, zu beobachten, wie die Diskussion um extremistische Gewalt seit dem Sommer des letzten Jahres geführt wurde. Vor dem Hintergrund ausländerfeindlicher Übergriffe versuchten manche Politiker von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS, der Union die alleinige Verantwortung zuzuschieben. Es wurde nichts unversucht gelassen, rechts mit rechtsextrem gleichzusetzen. Die Ansichten von Konservativen galten als dumpfer Nationalismus. Auch der ursprüngliche Antrag der PDS ist voll von solchen Anspielungen und offenkundigen Diffamierungen. Zu Beginn dieses Jahres schwelte im Zusammenhang mit der Vergangenheit hochrangiger Vertreter dieser Bundesregierung eine geschichtspolitische Debatte. Dabei sollte wieder einmal die Mär kolportiert werden, dass Leute, die in den 70er- und 80er-Jahren das Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaats buchstäblich mit den Füßen traten, für die Entwicklung der Demokratie besonders wertvoll waren. In der gestrigen Debatte erzählte die Kollegin Kerstin Müller von den Grünen wieder diese Geschichte. Gleichzeitig wollte sie mit einem Nebensatz die 89er in der DDR mit den 68ern des Westens auf eine Stufe stellen. Ich kann nur sagen: Den fundamentalen Unterschied haben Sie nicht begriffen. ({5}) Wir sprechen hier nicht über die netten, etwas versponnenen Blumenkinder von 1968, sondern über diejenigen, die den demokratischen Rechtsstaat des Westens infrage stellten und gleichzeitig große Sympathie für die kommunistischen Regime hegten. ({6}) Vor 1989 hatten viele der so genannten 68er mehr Gemeinsamkeiten mit den Diktatoren als mit denen, die für Freiheit und Demokratie kämpften. ({7}) Herr Fischer suggeriert die Geschichte, als sei er immer ganz friedlich durch das Frankfurter Westend gelaufen und dabei von Polizisten überfallen und zusammengeschlagen worden. ({8}) Nach entsprechender Nahkampfausbildung musste er sich Helm und Schlagstock zulegen. Ich stelle mir dabei immer vor: Wie wäre es denn ausgegangen, wenn ein zorniger junger Mann in den 70er-Jahren auf dem Alexanderplatz in Ostberlin gestanden und Helm und Schlagstock nur getragen hätte? Was wäre passiert, wenn sich im Herbst 1989 in der Leipziger Innenstadt Demonstranten, bewaffnet mit Helm, Schlagstock und Molotowcocktails, versammelt hätten? ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Nooke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Edathy?

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte erst zu Ende reden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Also keine Zwischenfrage.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Unterschied zwischen dem Gewaltmonopol des Staates in der Demokratie und in der Diktatur scheint bis heute nicht klar zu sein. Die aktuelle Diskussion im Zusammenhang mit Castortransporten kann hierbei weiterhelfen. ({0}) In einem Klima, in dem alle, die sich nicht als links bekennen, sofort mit Rechtsradikalen auf eine Stufe gestellt werden, startete nun Herr Trittin einen Frontalangriff gegen die Union. ({1}) - Hören Sie bitte zu, auch Frau Beck hat davon gesprochen. - Da dies wiederum in einem engen zeitlichen Kontext zu den Landtagswahlen passiert ist, haben Sie dafür die Quittung präsentiert bekommen. Nun wird der Umweltminister von seinen Parteigenossen kritisiert, aber in Wirklichkeit nur, weil er eine offenkundige Belastung in Wahlkämpfen geworden ist. ({2}) Mir geht es aber um etwas anderes: Ich finde es bemerkenswert, dass sich nun viele zu Wort melden und ein positives Bekenntnis zu dieser ihrer Bundesrepublik Deutschland abgeben. Ich finde es gut, dass Herr Trittin hier zumindest etwas bewirkt hat. Dies ist aus meiner Sicht positiv. In der gestrigen Debatte, Frau Beck, ist mir aufgefallen, dass wenig auf die Kampagne der Bundesregierung für Ausländerfreundlichkeit und Toleranz eingegangen wurde. ({3}) Vor mehreren Monaten wurde von der Bundesregierung auf Plakaten, die zum Beispiel in Berliner U-Bahnhöfen gezeigt wurden, mit farbigen Mitbürgern mit dem Satz „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ geworben. ({4}) Bundesminister Trittin hat nicht nur den Generalsekretär der CDU, sondern auch die schwarzen Mitbürger auf den Plakaten, in die Rassismus- und Skinheadecke gestellt. ({5}) Ich finde, es sollte überlegt werden, ob das nicht nur undankbar gegenüber den Menschen ist, die sich bereit erklären, Werbeagenturen für solche Zwecke zur Verfügung zu stehen, sondern im Gegenteil die gewünschte Ausländerfreundlichkeit verhindert. ({6}) Lassen Sie mich noch einen wichtigen Punkt anführen: Wenn wir über die Ursachen extremistischer Gewalt reden, dann gehören für mich die Erfahrungen in der DDR und die Beurteilung der Vergangenheit westdeutscher Zeitgenossen unbedingt zusammen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Nooke, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Beck oder wollen Sie grundsätzlich keine Zwischenfrage zulassen?

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zulassen. Wer sein Verhältnis zum Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaates nicht geklärt hat, ist kein guter Ratgeber für den Kampf gegen Rechtsextremismus. Ich bin dagegen, dass die politische Auseinandersetzung innerhalb des demokratischen Spektrums weiterhin nach dem wohlfeilen Links-Rechts-Muster der alten Bundesrepublik geführt wird. Meine Damen und Herren von der Koalition und der PDS: Hören Sie damit auf, ein so genanntes Links-Sein gegen ein so genanntes RechtsSein auszuspielen. Wer das Linke nicht nur als das kleinere Übel, sondern das eigentlich Demokratische definiert, leistet dem Kampf gegen den Rechtsextremismus einen Bärendienst. Das sollten alle wissen. Folgerichtig steht in unserem Antrag die Forderung nach Toleranz und Achtung der Menschenwürde an erster Stelle. Die wehrhafte Demokratie und der wehrhafte Staat sind die einzige Antwort auf die Untaten von Extremisten. Ich habe mit Blick auf die in unserem Antrag vorgeschlagenen Präventivmaßnahmen vom Gewaltmonopol des Staates in der Demokratie gesprochen. Jeder weiß, dass die Gewaltbereitschaft nicht nur ein Phänomen der neuen Länder ist. Wir dürfen die Augen aber nicht davor verschließen, dass dort besonders akute Probleme bestehen. Wir gehen davon aus, dass es für die hohe Zahl gewaltbereiter Jugendlicher in den neuen Ländern komplexe Ursachen gibt. Ein einfaches Patentrezept dagegen wird es nicht geben. Deshalb schlagen wir eine Kombination von präventiven und repressiven Elementen vor. In diesem Zusammenhang muss es eine engagierte Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern geben. Es kann nicht sein, dass die Länder nur für die direkte Arbeit vor Ort zuständig sind, während verantwortliche Bundespolitiker mit Prominenten aus der Showbranche nette Lesungen und Konzerte besuchen. Ich freue mich über das Engagement der so genannten Promis, die in Hochglanzbroschüren mit einem Bekenntnis gegen rechts zitiert werden. Das allein hat aber bisher noch keinen Gewalttäter von seinem Tun abgehalten. Besuche bei der Polizei vor Ort würden manchmal mehr helfen. Auch das gehört dazu; gemeinsame Auftritte mit Prominenten reichen nicht aus. ({0}) Wenn im Zusammenhang mit diesem Thema die neuen Bundesländer angesprochen werden, darf man nicht übersehen, dass die Entwicklungen etwas mit der Geschichte der DDR zu tun haben. Gleichwohl sollten wir es uns nicht so leicht machen, dass wir diese Erscheinungen ausschließlich als Problem der Ostdeutschen wahrnehmen. An dieser Stelle - insbesondere, weil ich eingangs über das Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaats gesprochen habe - will ich noch auf einen Punkt im ursprünglichen Antrag der PDS eingehen. Es heißt dort: „Im Osten wirkt sich aus, dass 1990 ein Wertesystem zusammenbrach.“ ({1}) Meine Damen und Herren von der PDS, von welchem Wertesystem reden Sie eigentlich? Reden Sie wirklich über die DDR, die im Grunde genommen eine weitgehend ausländerfreie Zone gewesen ist? Reden Sie über ein Wertesystem, in dem den Menschen im Zusammenhang mit dem Wort Israel - das war obligatorischer Schulstoff und Honecker unterstützte Arafat bei der Ausbildung von Terroristen gegen die Juden in Israel - ausschließlich negative Assoziationen vermittelt wurden? ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Nooke, kommen Sie bitte zum Schluss.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Reden Sie wirklich über die reale DDR, in der nahezu keine Ausländer lebten? ({0}) Wenn Ausländer zeitweise ins Land geholt wurden, dann nur deshalb, weil sie als Arbeitskräfte gebraucht wurden. ({1}) Den vietnamesischen Frauen war es beispielsweise verboten, schwanger zu werden. Wenn sie es doch wurden, mussten sie abtreiben. Wenn sie sich weigerten abzutreiben, wurden sie auf eigene Rechnung in ihr Heimatland zurückverfrachtet und waren dort geächtet. Außerdem waren sie kaserniert untergebracht.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Nooke, Ihre Redezeit ist längst abgelaufen.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich denke, unter diesen Bedingungen konnten wir den Antrag nicht gemeinsam mit der PDS stellen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den anderen Fraktionen, unter diesen Umständen muss ich doch die Frage stellen, ob die Kollegen von der PDS es bis heute nicht besser verstanden haben oder bis heute heucheln. ({1}) Deshalb machen wir nicht mit. Danke. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Professor Dr. Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte ist wichtig. Selbst wenn es keinen gemeinsamen Antrag gegeben hat, ist es wichtig, heute Gesicht zu zeigen und deutlich zu machen, dass der Bundestag gegen jede Form von Gewalt ist und dass Taten von Rechtsextremisten, wie wir sie in der Vergangenheit kennen gelernt haben, die Prinzipien unserer Verfassung verletzen. Die Rechtsextremisten treten die Würde des Menschen buchstäblich mit Füßen. Aus diesem Grunde dürfen wir Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit keinen Raum geben. Wir müssen rechtsextremen Gewalttätern Taten entgegenstellen. Um das Klima für ein friedliches Zusammenleben der Menschen in Deutschland zu verbessern, haben das Bundesministerium des Innern und das der Justiz gemeinsam das „Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt“ initiiert. Mittlerweile haben sich über 800 Organisationen und Initiativen diesem Bündnis angeschlossen. ({0}) Dieses Bündnis macht für alle sichtbar: Unsere Verfassung lässt rechtsextremer Gewalt, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit keinen Raum. Durch vielfältige öffentliche Aktionen wird das immer wieder in Erinnerung gerufen. Gerade der gesellschaftliche Beitrag ist für mich ganz wichtig, um Extremismus und Fremdenfeindlichkeit in der Bevölkerung dauerhaft zu bekämpfen. ({1}) Häufig werden die Ursachen für Gewalt aber schon ganz früh gesetzt. Wir wissen, dass Kinder, die geschlagen wurden, später selbst häufig Gewalt als Mittel zur Lösung von Konflikten einsetzen. Um rechtsextreme Jugendgewalt zu bekämpfen, muss Gewalt in der Erziehung generell geächtet werden. ({2}) Hier hat die Bundesregierung mit dem vom Bundestag bereits beschlossenen Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung einen wichtigen Beitrag geleistet. Aber auch der Aktionsplan „Gewalt gegen Frauen“ sowie der Gesetzentwurf, mit dem Frauen vor Übergriffen ihrer früheren Partner besser geschützt werden sollen, gehören in diesen Zusammenhang. ({3}) Neben der Prävention gilt aber auch: Rechtsextremistisch motivierte Straftaten müssen angemessen verfolgt und bestraft werden. Das geltende Strafrecht stellt die notwendigen gesetzlichen Instrumente zur Verfügung, um solche Straftaten angemessen ahnden zu können. Aber häufig sind rechtsextreme Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus auch als Angriff auf die Sicherheit der Bundesrepublik insgesamt zu werten. Daher ist es gut, dass der Generalbundesanwalt in entsprechenden Fällen solche Verfahren an sich zieht, wie es im Fall Eggesin geschehen ist. Seine Zuständigkeit für diesen Fall wurde vom Bundesgerichtshof ausdrücklich bestätigt. Ich möchte noch auf einen weiteren Aspekt zu sprechen kommen, der vorhin schon angesprochen worden ist, nämlich die Frage, inwieweit rechtsextremistische Straftaten, die via Internet verübt werden, in Deutschland verfolgt werden können, wenn der Täter im Ausland die Tasten seines Computers drückt. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom letzten Jahr, dass solche Straftaten auch dann, wenn sie vom fernen Ausland aus begangen werden, in Deutschland zu verfolgen seien, ist ein wesentlicher Fortschritt, um solche Delikte bestrafen zu können, und entspricht der von der Bundesregierung schon immer vertretenen Auffassung. ({4}) Meine Damen und Herren, wir müssen auch an die Opfer von rechtsextremistischen Taten denken. Deswegen sind wir dem Bundestag dankbar, dass er dem Bundesjustizministerium entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt hat, um in Härtefällen für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt einen zusätzlichen Ausgleich zu bieten, der über den Rahmen der bisherigen Möglichkeiten hinausgeht. Im Moment werden wir von Anträgen überhäuft; das zeigt, dass das ein richtiger Ansatz des Bundestages war. Deswegen bedanke ich mich auch an dieser Stelle noch einmal für diese Tat der Humanität; wir können den damit verbundenen Auftrag jetzt entsprechend ausführen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Bundesminister Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestern habe ich den Verfassungsschutzbericht vorgelegt; ich verweise auf die dortigen Darstellungen, was die Entwicklung des Rechtsextremismus in unserem Lande angeht. Ich stimme Herrn Kollegen Schäuble zu, dass wir uns bemühen müssen, die Fakten richtig darzustellen und auch Steigerungsraten nicht von vornherein so zu verstehen, dass sie eine Vermehrung rechtsextremistischer Straftaten in jeder Hinsicht darstellen müssen. Es kann in dieser Steigerungsrate auch zum Ausdruck kommen was ich begrüße -, dass nämlich die Bürgerinnen und Bürger aufmerksamer geworden sind und ihr Anzeigeverhalten verändert haben und dass auch die Strafverfolgungsorgane sehr viel genauer hinsehen. Das wäre dann insoweit ein begrüßungswerter Tatbestand, wenn rechtsextremistische Straftaten aus dem Dunkelfeld in das Hellfeld kommen und die notwendigen Sanktionen erhalten. ({0}) Ich habe oft genug über notwendige repressive Maßnahmen gesprochen. Ich freue mich darüber, dass von allen Seiten des Hauses das Gewaltmonopol des Staates angesprochen wird. Selbstverständlich müssen Polizei, Justiz und Staatsanwaltschaft ihre Verantwortungen wahrnehmen; wir müssen auch die Verbotsmaßnahmen konsequent umsetzen. Wir können auch in aller Offenheit über die Frage reden, ob das gegenwärtig geltende Versammlungsrecht veränderungsbedürftig ist oder nicht. Nur, Herr Schäuble, Sie müssen beachten, dass die Verfassung uns sehr enge Grenzen setzt, denn die Versammlungsfreiheit ist ein hohes demokratisches Gut. Es steht am Anfang der Demokratie und deshalb müssen wir in dieser Frage sehr sorgfältig vorgehen. ({1}) Ich will meine Zeit heute im Wesentlichen dazu nutzen, einige Hinweise zur Prävention zu geben, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Was rechtsextremistische Sachverhalte angeht, müssen wir, glaube ich, ein wenig tiefer gehen. Ich meine, wir haben auch eine Verantwortung für unser Handeln, wir haben aber auch eine Verantwortung für unser Denken und unsere Sprache. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Denken und der Wirklichkeit. Man kann es vereinfacht so sagen: Die Gedanken von heute sind die Tatsachen von morgen. Wer den Menschen nur als beliebig manipulierbares Zellgewebe versteht, muss sich nicht wundern, wenn das an anderer Stelle zur geistigen Verwüstung und seelischen Verwahrlosung führt. Die Würde des Menschen, meine Damen und Herren, darf nicht eine hohle Phrase sein, sondern verweist auf Erkenntnisfragen, denen wir uns stellen müssen. Wir haben auch eine Verantwortung für die Bilder. Wenn tagtäglich Kindern und Jugendlichen im Fernsehen, in Videos, in Filmen die brutalsten Gewaltszenen entgegengebracht werden, können wir nicht überrascht sein, dass Jugendliche und Kinder der Gewalt verfallen. ({2}) Wenn über das Internet die abscheulichste rechtsextremistische Propaganda verbreitet wird, darf sich niemand erstaunt zeigen, dass diese Propaganda in Gewaltakten in der Wirklichkeit ankommt. Zu den wichtigsten Maßnahmen der Prävention, meine Damen und Herren - ich glaube, das ist unsere gemeinsame Überzeugung - gehört das Engagement für Erziehung. Und lassen Sie mich etwas jenseits meiner Zuständigkeiten an dieser Stelle sagen: Wir müssen dem Bildungs- und Wissenshunger der Kinder und Jugendlichen, der durchaus vorhanden ist, mehr entgegenkommen, als es bisher der Fall ist. Und ich will nun ein Beispiel unter vielen nennen - das mögen Sie als eine Simplifizierung der Debatte missverstehen -: Gehen Sie einmal in die Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin - eine sehr gute Bibliothek für Kinder und Jugendliche - und schauen Sie einmal, wie diese Bibliothek unter Geldmangel leidet, was die Kinder und Jugendlichen dort vorfinden, wie sie Schlange stehen müssen und wie eine solche Bibliothek ausgestattet ist. Das mag für Sie vereinfachend sein. Aber wenn wir den Kindern kein Bildungsangebot machen, dann müssen wir uns nicht wundern, wenn die Kinder geistig und seelisch verwahrlosen. ({3}) Ich habe das oft wiederholt. Ich will auch an der Stelle sagen: Wer in der Erziehung von Jugendlichen und Kindern die musische Erziehung vernachlässigt, ({4}) der muss sich nicht wundern, wenn dabei kaltherzige und brutale Charaktere herauskommen. ({5}) Aus das ist wichtig. Ich bin sehr dafür, dass jedes Kind einen Zugang zum Computer hat. Aber vielleicht wäre es auch gut, wenn jedes Kind Zugang zu einem Musikinstrument hätte. ({6}) Wir müssen uns für Begegnung engagieren. Wir alle wissen aus unserer Erziehung und aus unserer Jugendzeit, dass einfach die Begegnung mit Menschen fremder Herkunft eine ganz entscheidende ist. Deshalb unterstütze ich den Vorschlag des niedersächsischen Justizministers Pfeiffer, dass wir den Jugendlichen in den neuen Bundesländern mehr Begegnungen mit Fremden ermöglichen müssen. Wir brauchen ein großes Programm des Jugendaustausches für die neuen Bundesländer. ({7}) Wichtig ist auch - das ist ebenfalls eine präventive Maßnahme -, dass wir bei diesem Thema zusammenbleiben, dass es den Konsens der Demokratinnen und Demokraten gibt. Deshalb möchte ich an dieser Stelle allen Fraktionen dafür danken, dass sie sich gemeinsam zusammengeschlossen haben und im „Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt“ engagieren. Es heißt übrigens nicht „gegen rechten Extremismus und Gewalt“, sondern „gegen Extremismus und Gewalt“. Dafür bedanke ich mich bei allen Fraktionen, dass sie sich in diesem Bündnis engagieren. ({8}) Bei aller Polemik, die auch ich kenne und die man ertragen muss, sollten wir uns bemühen, dass die Fairness in der demokratischen Auseinandersetzung die Oberhand behält und dass wir uns trotz unterschiedlicher Meinungen wechselseitig Respekt entgegenbringen. Bekanntlich hat das Bundesinnenministerium eine Plakatkampagne im Zusammenhang mit diesem Bündnis gestartet. Auf den Plakaten heißt es: „Du willst RESPEKT. Ich auch.“ So sollte auch die Haltung unter den Fraktionen sein. ({9}) Wir sollten uns vielleicht auch um die Fähigkeit zum Innehalten und zur Selbstprüfung bemühen. Es ist vielleicht gar nicht schlecht, wenn jeder versucht, vor der eigenen Tür zu kehren. Deshalb meine ich den Hinweis nicht unterlassen zu sollen, dass wir uns um die Genauigkeit der Wortwahl kümmern müssen. Ich stimme Herrn Nooke zu, wenn er sagt: Das Thema ist nicht Kampf gegen rechts, sondern Kampf gegen Rechtsextremismus, ganz eindeutig. ({10}) Es steht außer Zweifel, dass man eine rechte Position innerhalb des demokratischen Bogens vertreten kann. Das werde ich nie infrage stellen. Wenn jemand den Satz sagt, er sei stolz, ein Deutscher zu sein, sollten wir ihm nicht unterstellen, dass er damit etwa zum Ausdruck bringen will, er sei auch auf das stolz, was sich an schlimmen Dingen in der deutschen Geschichte zugetragen hat. ({11}) - Vorsicht, Herr Marschewski, klatschen Sie nicht zu früh. -An die Adresse der rechten Seite des Parlaments füge ich hinzu: In Deutschland führt jede Politik, die auch nur den Anschein des Nationalismus annimmt, ins Verderben. ({12}) Dazu hat Sebastian Haffner, dessen Patriotismus über jeden Zweifel erhaben ist, etwas aufgeschrieben, was als Mahnung dienen kann. Erlauben Sie mir, Ihnen das vorzutragen. Er schreibt: Nationalismus als nationale Selbstbespiegelung und Selbstanbetung ist sicher überall eine gefährliche geistige Krankheit, fähig, die Züge einer Nation zu entstellen und hässlich zu machen, genau wie Eitelkeit und Egoismus die Züge eines Menschen entstellen und hässlich machen. Aber nirgends hat diese Krankheit einen so bösartigen und zerstörerischen Charakter wie gerade in Deutschland, und zwar, weil gerade Deutschlands innerstes Wesen Weite, Offenheit, Allseitigkeit, ja in einem bestimmten Sinne Selbstlosigkeit ist. Bei anderen Völkern bleibt Nationalismus, wenn sie davon befallen werden, eine nebensächliche Schwäche, neben der ihre eigentlichen Qualitäten erhalten bleiben können. In Deutschland aber, wie es sich trifft, tötet gerade Nationalismus den Grundwert des nationalen Charakters. Dies erklärt, warum die Deutschen - in gesundem Zustand zweifellos ein feines, empfindungsfähiges und sehr menschliches Volk - in dem Augenblick, wo sie der nationalistischen Krankheit verfallen, schlechthin unmenschlich werden und eine bestialische Hässlichkeit entwickeln. Ein Deutscher, der dem Nationalismus verfällt, bleibt kein Deutscher mehr. Das sollten wir uns alle merken. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Ich möchte noch eine Bemerkung zur Debatte machen. Es ist heute aufgrund bestimmter Umstände dazu gekommen, dass am Schluss der Debatte zwei Mitglieder der Bundesregierung hintereinander gesprochen haben. ({0}) Das ist nicht erwünscht. Unsere Geschäftsordnung sieht gemäß § 28 Abs. 1 ausdrücklich vor, dass nach der Rede eines Mitglieds der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen soll. Ich möchte daher die Parlamentarischen Geschäftsführer bitten, in Zukunft dafür zu sorgen, dass die Rednerreihenfolge - unabhängig von den Wünschen der Mitglieder der Bundesregierung entsprechend festgelegt wird. Vielen Dank für Ihr Verständnis. ({1}) Es liegt eine Erklärung zur Abstimmung der Kollegin Ulla Jelpke nach § 31 der Geschäftsordnung vor, die wir zu Protokoll nehmen.1) Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 14 a: Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 14/5695. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der F.D.P. und der PDS „Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt“, Drucksache 14/5456. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der F.D.P. und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei einer Enthaltung aus den Reihen der PDS angenommen. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Nachhaltige Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit“, Drucksache 14/4067. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und bei Enthaltung der F.D.P. angenommen. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen „Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt“ für erledigt zu erklären, Drucksache 14/3516. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung den Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Rechtsextremismus entschlossen bekämpfen“ für erledigt zu erklären, Drucksache 14/3106. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe e seiner Beschlussempfehlung den Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Handeln gegen Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und daraus resultierender Gewalt“ für erledigt zu erklären, Drucksache 14/4145. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 14 b: Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Bekämpfung des politischen Extremismus“, Drucksache 14/1556. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/295 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Gesetz zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts - GvKostRNeuOG - Drucksachen 14/3432, 14/4913, 14/5385, 14/5685 Berichterstattung: Abgeordneter Eckart von Klaeden Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Das ist auch nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/5685. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der PDS angenommen; die PDS hat dagegen gestimmt. Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({3}) zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Verarbeitung und Nutzung der zur Durchführung der Verordnung ({4}) Nr. 820/97 des Rates erhobenen Daten - Drucksachen 14/4721, 14/5142, 14/5384, 14/5686 Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm Schmidt ({5}) Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen ge- wünscht? - Das ist auch nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus- schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord- nung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/5686? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Großen Anfrage der Fraktion der PDS Kriegsbilanz - Drucksachen 14/3047, 14/5677 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die PDS zehn Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 1) Anlage 2 Ich eröffne die Aussprache. Für den Antragsteller, die PDS-Fraktion, hat als erster Redner der Kollege Wolfgang Gehrcke das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hält als ihr Fazit des Krieges fest, der Sturz von Milosevic habe den Weg für eine friedliche multiethnische Entwicklung des Balkans geöffnet. Damit rechtfertigt die Bundesregierung den Krieg. Das ist falsch und dürftig. Selbst wenn man einen Zusammenhang zwischen dem Sturz von Milosevic und dem NATO-Krieg unterstellt - dem ist nicht so. ({0}) In Jugoslawien hat das Volk und haben nicht die Bomben der NATO Milosevic abgewählt. Das ist die Wahrheit, die man hier festhalten muss. ({1}) Selbst wenn man einen Zusammenhang unterstellt, zeigt ein Blick auf Mazedonien, den Kosovo, Südserbien, ein Blick auf erneute Flucht, Vertreibung und Gewalt, dass der Krieg viel zerstört und nichts gelöst hat. ({2}) Richtiger wäre aus meiner Sicht die Bilanz: Die Bundesregierung steht vor den Trümmern ihrer Balkanpolitik. Außenminister Fischers Kriegsbilanz ist die Erkenntnis, man habe zu spät militärisch eingegriffen. Was heißt denn das? Das kann man doch nur so verstehen, dass die Schwelle zum Krieg, die Schwelle für militärisches Eingreifen gesenkt werden soll. Das muss man ablehnen, dagegen muss man sich einsetzen. ({3}) Wir schlussfolgern das Gegenteil. Menschenrechte, Frieden und gute Nachbarschaft auf dem Balkan können nicht durch Krieg erzwungen werden. Wir brauchen nicht mehr Militär, wir brauchen mehr Politik, wir brauchen die Mitsprache der Bevölkerung, auch unserer Bevölkerung, über die Außenpolitik. ({4}) Mit dem Krieg gegen Jugoslawien hat die Bundesregierung dreifach Recht gebrochen: das Völkerrecht, internationale Verträge wie den Zwei-plus-Vier-Vertrag, und das Grundgesetz, unsere Verfassung. Auch das muss hier festgehalten werden. ({5}) Wir halten als Bilanz fest: Am Ende der Nachkriegszeit hat Deutschland seine Größe und Souveränität nicht dazu genutzt, das Recht zu stärken, sondern dazu, das Recht des Stärkeren durchzusetzen. Das ist auch Inhalt der neuen NATO-Strategie, die wir abgelehnt haben. Die Bundesregierung hat viele und immer wieder neue, andere Gründe für den Krieg angeführt. Bündnistreue oder Bündnisverpflichtungen waren eine Konstante. Richtiger wäre aber: Ohne die Zustimmung der Bundesregierung hätten andere europäische Staaten nicht mitgemacht. Selbst die Weltmacht USA hätte ohne europäischen Partner keinen Krieg auf unserem Kontinent geführt. Auf die Bundesregierung kam es an. Sie war das Zünglein an der Waage. Deswegen trägt sie auch eine besondere Verantwortung für den Krieg, aus der sie keiner entlassen wird. ({6}) Auf die Frage der PDS nach den zivilen Opfern des Krieges antwortete die Bundesregierung, dazu lägen ihr keine Erkenntnisse vor. ({7}) Die NATO hat atomar abgereicherte Munition benutzt. Jeder weiß, dass sie Städte, Märkte, Brücken, einen Fernsehsender, sogar Flüchtlinge bombardiert hat. Menschen wurden zu Kollateralschäden. Menschen - Serben, Albaner wie das Volk der Roma, dessen Exodus aus dem Kosovo mit dem Krieg begonnen hat -, das waren die Opfer des Krieges und über diese muss hier geredet werden. ({8}) Wir halten fest: Die NATO hat das so genannte humanitäre Kriegsrecht gebrochen, etwa die Haager Landkriegsordnung oder die Genfer Konvention. Einige hier im Bundestag und in der Bundesregierung, Herr Außenminister, haben versucht, die PDS als Komplizen Milosevics abzustempeln, wider besseres Wissen. Es war und ist bekannt: Die PDS hat den Nationalismus Milosevics öffentlich kritisiert, die Menschenrechtsverletzungen, die Vertreibung, den Mangel an Demokratie. Wir waren und sind Gegner des Nationalismus, ob er nun serbisch, kroatisch, albanisch oder - das füge ich hinzu deutsch ist. Der wie immer begründete Nationalismus findet unsere Gegnerschaft. ({9}) Aber wenn wir schon in der Geschichte des Krieges zurückgehen: War der serbische, albanische oder kroatische Nationalismus nicht auch eine der Folgen der Zerschlagung Jugoslawiens und der Preis dafür? Daran war Deutschland nicht unbeteiligt. Krieg ist der Nährboden für Nationalismus. Ich fürchte, dieser Krieg gegen Jugoslawien trägt den Keim neuer Kriege in sich, wenn wir nicht dagegen kämpfen. ({10}) Die PDS - lassen Sie mich das abschließend sagen war und ist gegen den Krieg. Wenn wir in diesem Hause schon über Stolz reden, dann sage ich dazu: Darauf bin ich stolz. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Eberhard Brecht von der SPD-Fraktion das Wort. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist durchaus legitim, wenn man nach zwei Jahren eine Bilanz des Kosovo-Konflikts vorlegt und darüber debattiert, was herausgekommen ist, zumal in der Öffentlichkeit die Beteiligung Deutschlands an dieser Auseinandersetzung damals hoch emotional diskutiert worden ist, da doch die NATO zum ersten Mal mit Beteiligung der deutschen Bundeswehr interveniert hat. Wenn wir ehrlich sind - ich kenne viele Stellungnahmen aus diesem Haus -, ging der Riss nicht nur durch die öffentliche Meinung, sondern mitunter durch uns selbst. Eine Bilanz, Herr Gehrcke, kann jedoch nur dann einen Anspruch auf Redlichkeit erheben, wenn sie auch die Alternative des Weiterverhandelns mit Milosevic bis zum Tag X und des Nichthandelns der NATO einbezieht. ({0}) So muss man sich unvoreingenommen auch die Frage stellen, ob denn Slobodan Milosevic, der immerhin der Hauptverantwortliche für die Vertreibung von Millionen von Menschen und für mehr als 100 000 Tote auf dem Balkan war, ohne äußeren Druck mit der Vertreibung und Ermordung von Kosovo-Albanern aufgehört hätte. Das gehört zur Redlichkeit dazu. ({1}) Aber redlich kann auch nur eine Bilanz der NATO-Luftangriffe sein, wenn man sich seriöser Quellen bedient. Ich empfehle Ihnen den ausführlichen OSZE-Bericht „Kosovo/Kosova. As Seen, As Told“ und den Bericht der Independent International Commission on Kosovo, die mit einer Vielzahl von Menschenrechtsorganisationen vor Ort zusammengearbeitet hat. Herr Kollege Lippelt hat in der letzten Debatte darauf hingewiesen, mit welch hochrangigen Leuten diese Kommission besetzt ist. Ferner denke ich an seriöse Berichterstatter des öffentlichen Fernsehens und der Zeitungen wie Matthias Rüb, die seit Jahren fundierte Berichte über den Balkan liefern und sehr viel zur Information beigetragen haben. Im Gegensatz zu diesen gründlichen Recherchen werden die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes derzeit mit einer Desinformationskampagne konfrontiert - ich will nicht sagen: von ihr überrollt -, die nicht nur von einigen Enthüllungsjournalisten, sondern auch von der PDS getragen wird. ({2}) Herr Gehrcke, Sie haben eben die Richtigkeit Ihrer Thesen anhand der Antworten der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage zu untermauern versucht. Ich werde mich dagegen einmal mit Ihren Fragestellungen befassen, die fast interessanter sind. Sie verraten nicht nur die Ignoranz der PDS gegenüber den von mir erwähnten Quellen - viele Ihrer Fragen wären ja schon beantwortet gewesen, wenn Sie einmal in sie hineingeschaut hätten -, ({3}) sondern sie verraten auch eine erstaunliche ideologische Befangenheit beim Herangehen an dieses Problem. ({4}) Da wird zum Beispiel mit Hinweis auf das von serbischer Seite massiv verletzte Holbrooke-Milosevic-Abkommen im Oktober 1998 und auf die Verhandlungen in Rambouillet im Februar 1999 - Stichwort Annex B - der Popanz aufgebaut, die Bundesrepublik sei zusammen mit der NATO geradezu darauf versessen gewesen, in diesen Krieg einzugreifen. Dagegen sprechen eindeutig die von der Bundesregierung zum wiederholten Male vorgebrachten Fakten, über den Ablauf der Verhandlungen in Rambouillet. Herr Gehrcke, wenn Sie der Bundesregierung nicht trauen und ihr Unwahrheit unterstellen, dann fragen Sie sich doch einmal, was eine rot-grüne Regierung bewegen kann, einen solchen Schritt zu machen. Glauben Sie denn, ein Finanzminister, dem die Bürger jeden Tag sagen, er müsse den Haushalt konsolidieren, gibt freiwillig 765 Millionen DM für ein solches Engagement aus? Ich will gar nicht davon reden, welcher Betrag für UNMIK, den Stabilitätspakt, die Hilfsorganisationen und auch die Flüchtlinge aufgewendet worden ist. Und was soll ein Außenminister Fischer von den Grünen, der von einer mehr pazifistischen Basis getragen wird, davon haben, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen? Meine Damen und Herren von der PDS, ich werde einfach den Verdacht nicht los, dass zumindest einige von Ihnen noch der alten leninschen Imperialismustheorie anhängen. Ich habe ja vor 30 Jahren auch noch lernen müssen, dass die BRD die aggressivste Form des Imperialismus Europas ist. Entschuldigen Sie, ich glaube, da haben Sie noch etwas zu lernen. Lassen Sie mich aus der Palette der PDS-Unterstellungen noch eine weitere herausgreifen. Ihr Vorwurf, die internationale Gemeinschaft betreibe eine antiserbische Politik, gipfelt in der in einer Ihrer Fragen enthaltenen Behauptung, die NATO habe einen Krieg gegen das serbische Volk geführt und dabei gezielt serbische Krankenhäuser, Schulen und Altersheime als Angriffsziele ausgewählt. Meine Damen und Herren, wenn dies so wäre, müsste ich mich über Ihre Großzügigkeit wundern, zusammen mit einigen hundert Kriegsverbrechern in diesem Parlament weiterhin Politik zu machen. ({5}) Im Übrigen ist eine solch ungeheuerliche Behauptung für mich neu. Ich habe dies bisher nur aus den Reihen des Milosevic-Clans gehört. Auch bei den vielen Gesprächen in Montenegro und auch in Serbien habe ich einen solchen Vorwurf - bei aller Kritik an der NATO - noch nie gehört. Betrachten Sie doch einmal die angesichts der massiven Luftangriffe relativ niedrige Zahl ziviler Opfer, auch wenn natürlich jedes Opfer schlimm genug ist. Es ging der NATO um das Ende der hunderttausendfachen Vertreibung von Kosovo-Albanern, um ein Ende der ethnisch motivierten Morde und um die Voraussetzungen für die Durchsetzung der in der Charta von Paris niedergelegten Werte wie Demokratie und Minderheitenschutz. Noch mehr wird die These der PDS durch das Verhalten der Europäischen Union nach der Demokratisierung in Serbien, also nach dem Sturz von Milosevic, widerlegt. Mit der raschen humanitären Hilfe für die serbische Bevölkerung und auch mit der sofortigen Einbeziehung Serbiens in den Stabilitätspakt haben wir uns - umgekehrt bei den Nachbarstaaten Jugoslawiens sogar den Vorwurf eingehandelt, wir würden den einstmals verlorenen Sohn Belgrad nun mit Zuwendungen überschütten. Ich glaube, diese Aussage spricht für sich. Meine Damen und Herren, Sie werden sich nicht wundern, dass meine Bilanz unseres Balkan-Engagements etwas anders aussieht als die von Herrn Gehrcke. Wir haben als Europäer und als Deutsche eine bittere Lektion lernen müssen: Wo Diktatoren vom Krieg mehr profitieren als vom Frieden, sind als Ultima ratio Zwangsmaßnahmen erforderlich, damit anschließend Frieden in einem zivilen Aufbauprozess langsam wieder wachsen kann. Ich unterstreiche das, was unser Kollege Schwarz-Schilling immer wieder behauptet hat: Es hätte vermutlich weitaus weniger Opfer und weitaus weniger Hass gegeben, wenn der als Kriegsverbrecher angeklagte Slobodan Milosevic schon früher hätte gestoppt werden können. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Brecht, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Grehn?

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber selbstverständlich.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Brecht, Sie haben in Ihren Ausführungen sehr deutlich darzustellen versucht, dass die Einschätzung der PDS, von der Sie annehmen, dass sie Hintergrund der Fragen sei, eine völlig abgehobene Beurteilung allein seitens der PDS sei. ({0}) Ich frage Sie: Haben Sie die WDR-Sendung hierzu gesehen? Sind Sie der Meinung, dass das eine Sendung war, die auf der Grundlage der PDS-Positionen stattgefunden hat oder dass gar die PDS dies initiiert hat? ({1}) Wie bewerten Sie die Tatsache, dass es eine völlig unabhängige Einschätzung gibt, die sich von dem, was Sie bisher dargestellt haben, unterscheidet?

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Grehn, wir haben über diese WDR-Sendung schon einmal an einem Freitag hier im Bundestag diskutiert. Sie haben in der Zwischenzeit vielleicht auch in der Presse gelesen, wie diese Sendung zustande gekommen ist. Ich sage Ihnen an dieser Stelle klipp und klar: Wenn ich WDR-Intendant wäre, würde ich mich von diesen beiden Herren trennen, denn ihre Arbeit steht nicht in Übereinstimmung mit dem Ethos eines Journalisten. ({0}) Herr Grehn, ich kann Ihnen die Belege bringen, wie zum Beispiel Herr Loquai zu diesen Aussagen zu Racak gekommen ist und wie die Befragung von Herrn Werth und von Herrn Angerer bei Racak gewesen ist. Das alles ist dokumentiert. Ich glaube, der WDR sollte die Kraft haben, sich von solchen Journalisten zu trennen. Eine zweite Lektion: Die Überwindung des Hasses und der Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen im Kosovo werden der internationalen Gemeinschaft mehr Zeit, mehr Kraft und möglicherweise auch mehr Finanzen abverlangen, als wir dies am Anfang angenommen haben. Die Alternative wäre das Wiederaufflammen des Krieges, und zwar nicht in einem so begrenzten Maß, wie es jetzt in Südserbien und Mazedonien geschieht, sondern in einem größeren Maße. Ich glaube, von diesen Folgen wäre auch Deutschland unmittelbar und mittelbar betroffen. Daher gilt an dieser Stelle mein Dank allen, die daran beteiligt sind, diesen zivilen Aufbauprozess voranzutreiben; aber nicht nur der Dank, sondern auch die Ermutigung zum Weitermachen für die KFOR-Truppe, für die zivile Verwaltung der UNMIK, für das Stabilitätspakt-Team um Bodo Hombach und für die vielen vor Ort tätigen Hilfsorganisationen. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort dem Kollegen Christian Schmidt für die Fraktion von CDU/CSU.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Ich kann auf einiges, was Kollege Brecht gerade vorgetragen hat, zurückgreifen und im Sinne der demokratischen Gemeinsamkeit nahtlos daran anschließen. Es ist schon bizarr - da gebe ich Ihnen Recht -: Diese Große Anfrage der PDS und die Fragen, worauf eine Fleißarbeit des Auswärtigen Amtes folgte, belegen für mich zweifelsfrei, wes Geistes Kind die Fragesteller sind. Man braucht nicht zwischen den Zeilen zu lesen, um zu erkennen, mit welcher Einseitigkeit die notwendige NATO-Intervention im Frühjahr 1996 hinterfragt wird. Wenn die PDS als Nachfolgepartei der SED mit ihrer eigenen Vergangenheit ähnlich kritisch umginge und dazu Fragenkataloge erstellen würde, wären wir bei der Aufarbeitung unserer jüngsten Vergangenheit wesentlich weiter. ({0}) Außerdem vermisse ich - der Kollege Gehrcke ist vorsorglich schon darauf eingegangen, wahrscheinlich weil er befürchtet hat, dass diese Frage gestellt wird, und sie wird gestellt - in diesem Katalog die Frage, inwieweit der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vorliegen, wie sehr der Belgrad-Besuch des Kollegen Gysi dazu beigetragen hat, dass Milosevic das Gefühl haben konnte, es gebe in Deutschland Sympathien für seine politische Position, und der Konflikt dadurch noch verlängert wurde. ({1}) Auch die rot-grüne Bundesregierung war im Frühjahr 1999 im Vorfeld der Kosovo-Intervention hinsichtlich ihrer eigenen politischen Prinzipien und ihrer politischen Vergangenheit in einer bizarren Situation, musste sie doch den ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr in deren Geschichte unter Zuhilfenahme sehr überzogener Argumente begründen. Bewaffnete Konflikte waren aber - das wollen wir doch noch einmal festhalten - immer bestenfalls eine Tragik, schlimmstenfalls eine Katastrophe, aber auf jeden Fall eine Kapitulation der Politik vor der blanken Gewalt. Letztlich ist auch im Kosovo-Konflikt die Politik an ihre Grenzen gestoßen und es bedurfte des Einsatzes von Gegengewalt, um Milosevic an seinem gewalttätigen Werk der Zerstörung zu hindern. Ob nun die „ethnischen Säuberungen“ ganzer Landstriche bereits den Tatbestand des Völkermords erfüllt haben, darüber mögen sich die Juristen streiten. Ich will es dahingestellt sein lassen. Tatsache bleibt, dass es angesichts der Gefahr für die Menschen dort, aber auch für unsere eigene europäische Sicherheit und Stabilität nicht zugelassen werden konnte, dass dieser Mann zum vierten Mal ungestraft einen Krieg im früheren Jugoslawien anzettelt. ({2}) Daher dürfen Ursache und Wirkung, Täter und Opfer nicht verwechselt werden. Der Krieg begann nicht mit dem Eingreifen der NATO, sondern mit der rücksichtslosen Durchsetzung der Politik des Milosevic-Regimes seit Beginn der 90er-Jahre. Die militärische Intervention der NATO war die Ultima Ratio aufgrund der strikt ablehnenden Haltung Serbiens in Rambouillet. Das war kein Zwang zum Abschluss, sondern das war das letzte Angebot. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es noch der alte Bundestag war, der nach der Wahl am 27. September 1998 im Oktober zusammengetreten ist, um den Actord, das heißt die grundsätzliche Bereitschaft der NATO, sofort zuzuschlagen, unterstrichen und genehmigt hat. Wir alle haben damals zugestimmt. Die damals noch nicht im Amt befindliche Bundesregierung war sicherlich froh, dass sie keine eigene Mehrheit sammeln musste, sondern dass die alte Mehrheit des 13. Bundestages bereit war, diesen Schritt, der nicht ohne Probleme war und bei dem viel bedacht werden musste, mitzugehen. Es bleibt anzuerkennen, dass dann, als Monate später in Rambouillet der letzte Versuch gescheitert war, dieser Weg konsequent fortgeführt wurde. Wäre das nicht passiert, wäre das eine Einladung für alle weiteren Aggressionen nicht nur in Südosteuropa gewesen. Es ist nicht auszumalen, was dann passiert wäre. Um nicht missverstanden zu werden, sage ich: Wir sperren uns nicht gegen eine Bilanz, sondern wir halten eine solche für sinnvoll und notwendig. Sie wird im Laufe der nächsten Jahre auf der Grundlage vieler Beiträge erstellt werden müssen. Letztendlich wird auch die Geschichtsschreibung, werden die Journalisten und auch Politiker und vor allem Betroffene immer wieder reflektieren müssen, welche Lektion wir aus dem Kosovo-Konflikt gelernt haben. Aber wir sind nicht bereit, bei dem Versuch der PDS mitzumachen, diese Vorgehensweise im Sinne einer einseitigen Abrechnung und unter Ausblendung der Umstände und Ursachen, die zur Intervention der NATO geführt haben, zu diffamieren. Europa und die westliche Welt hatten sich gegen die Denkschule entschieden, die es ja auch schon bei vorhergehenden Jugoslawienkonflikten gab, und die da heißt: Lasst sie sich doch auskämpfen! ({3}) - Jawohl, ausbluten. - Diese Frage ist in offenen Gesellschaften, die demokratisch verfasst sind und auf bestimmten Grundwerten und Grundprinzipien beruhen, nicht mit einer Handbewegung zu beantworten. Wir stehen in Verantwortungen, die wir wahrnehmen müssen. Das heißt auch, dass wir Diktatoren oder jenen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie ihr Land diktatorisch umgestalten, dann Einhalt gebieten müssen, wenn es für die dort lebenden Menschen um die blanke Existenz geht. ({4}) Davon allein darf man sich allerdings nicht leiten lassen. Dazu kommen müssen nicht nur eine objektive Notwendigkeit, sondern hinsichtlich des hohen eigenen Risikoeinsatzes auch die Angemessenheit und die Erfolgsträchtigkeit der Maßnahmen. Etwas nur deshalb zu tun, damit etwas getan wird, ist kontraproduktiv. Gegenüber den Soldaten, die uns im Sinne dessen, dass wir darüber entscheiden, ob sie in den Einsatz gehen oder nicht, anvertraut sind, haben wir eine Fürsorgepflicht. Wir müssen entscheiden, ob es tatsächlich notwendig ist, sie Gefahren auszusetzen. ({5}) In die Abwägung muss auch explizit die eigene Interessenlage einbezogen werden. Das darf nicht mit einer egozentrischen Bewertung der Risikolage verwechselt werden. Aber wir müssen auch bereit sein, zu sagen, dass es im Kosovo nicht nur um humanitäre Fragen im engeren Sinne ging, sondern auch um die Stabilität bei uns bis hin zu der Festellung, dass massive Flüchtlingsbewegungen, die immer Not und Elend mit sich bringen, verhindert werden müssten, indem für die Leute die Möglichkeit geschaffen wird, in ihrer Region zu bleiben. An der Bereitschaft, diese Dinge zu artikulieren und zu definieren, hat es der Bundesregierung - aus bekannten Gründen - allerdings manchmal gefehlt. Man flüchtete sich in die Überhöhung und hat sich deswegen auch vorhalten zu lassen, dass die Klarheit der Information über Hintergründe und Tatsachen zum Teil gelitten hat. Manches von dem, was in dem inkorrekten Beitrag des WDR Christian Schmidt ({6}) zur Sprache gekommen ist, wäre vielleicht nicht so leicht zur Sprache zu bringen gewesen, wenn nicht ab und an der Eindruck entstanden wäre, dass man überzogen hat oder versucht hat, Leute mit nicht ganz korrekten Informationen zu überzeugen. Diesen Vorwurf muss die Bundesregierung aushalten. Es ist nur anzumahnen, dass sie das bei bevorstehenden Konflikten nicht wieder in ähnlicher Weise tut. Sie wird deswegen in diesen Fragen die Unterstützung des Hauses behalten, wenn sie einen entsprechenden Antrag stellt. Ich weise darauf hin, dass wir ja bald über die Verlängerung des Kosovo-Mandats werden diskutieren müssen. Aber ich erwarte, dass die Bundesregierung ihr Verhalten hier ändert. ({7}) Lassen Sie mich noch kurz auf die aktuelle Situation eingehen. Wir müssen klären, ob wir die geeigneten Instrumente zur Hand haben, den Frieden in dieser Region nachhaltig abzusichern. Ich habe nicht den Eindruck, dass Bodo Hombachs Stabilitätspakt ausreicht, dort Nachhaltigkeit zu sichern. Ich will nicht sagen, dass das ein falscher Ansatz war. Es war die Rückkehr zur Politik. Aber dies genügt offensichtlich nicht. Denn gerade mit Blick auf die Entwicklungen in Mazedonien müssen wir über die Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der KFOR, über den Appell an die USA - ich hoffe, dass der Bundeskanzler dies bei seinem gestrigen Besuch in den USA getan hat -, dass Europäer und Amerikaner innerhalb der NATO gemeinsam handeln, und über die Rückkehr der Flüchtlinge sowie die Gewährung eines sicheren Umfeldes diskutieren. Wir müssen auch darüber sprechen, was noch politisch Not tut, damit wir in dieser Region nachhaltige Ansätze durchsetzen können, die jetzt schon wieder in der Gefahr sind zu zerbrechen. Ich glaube nicht daran - viele in diesem Hause tun dies wohl auch nicht -, dass es mit den Scharmützeln um Tetovo herum sein Bewenden haben wird. Alle Kriege in Jugoslawien haben mit solchen Scharmützeln angefangen. Es ist zwar noch nicht nach zwölf; aber es ist dringend notwendig, dass wir versuchen, das, was wir in diesem Zusammenhang tun können, gemeinsam umzusetzen. Wir müssen darüber sprechen, ob beispielsweise das Konzept der nur teilweisen Entwaffnung, also der faktischen Nichtentwaffnung, der UCK nicht dazu geführt hat, dass die mazedonisch-albanische Irredenta aus dem Kosovo heraus unterstützt wird. Ich gestehe zu, dass es keine Patentrezepte gibt. Aber wir müssen wohl darüber diskutieren, wie wir in Zukunft robuste - vielleicht sogar noch robustere - Mandate schaffen. Ich meine nicht, dass wir die Art und Weise, wie bereits jetzt bestehende Mandate zustande gekommen sind, auf Mazedonien übertragen sollten. Ich bin sehr skeptisch, ob der bisherige Weg, zu sagen: „Wir lassen den Konflikt entstehen und schlichten dann den Streit“, funktioniert. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit kurz von einem Erlebnis berichten, das mich diese Woche sehr bewegt hat: Hier vor diesem Haus, vor unserem Parlament, sprach mich am Mittwoch nach der Ausschusssitzung ein albanischsprachiger Journalist an - der eine oder andere kennt ihn - und fragte nach der Position der CSU hinsichtlich der Sprachenfrage an der Universität in Skopje. Er stellte mir die Frage, ob wir nicht auch der Meinung seien, dass die Albaner ein Recht darauf hätten, dass Albanisch dort als Sprache zugelassen wird, und ob die Albaner nicht auch das Recht hätten, als Staatsvolk in Mazedonien angesehen zu werden. Dies sind an sich Fragen, deren Beantwortung aus unserer europäischen Vorstellung heraus gar nicht problematisch ist. Ja, man müsste über diese Fragen sprechen. Ich habe dem Fragesteller sehr deutlich geantwortet, dass Fragen des Zusammenlebens, das verbesserungsbedürftig ist, die eine Sache sind, dass aber die gegenwärtige verrückte und unvorstellbare Meinung in verwirrten Köpfen, man müsse diese Probleme mit Gewalt lösen, unverantwortlich ist. Ich habe ihn gebeten, zu berichten, dass es in Deutschland ein helles Entsetzen darüber gibt, dass Menschen in dieser Region nach vier Waffengängen innerhalb von zehn Jahren immer noch meinen, mit der Waffe in der Hand ihre Überzeugungen und Wünsche durchsetzen zu müssen, ({8}) und dass sie bei diesem Vorgehen nicht mit der Unterstützung des Westens rechnen können. Ich habe ihm gesagt, dass ich für meine Fraktion ganz klar sagen kann, dass wir auf eine politische Lösung setzen. Ich gehe davon aus, dass das auch für alle anderen in diesem Hause gilt. ({9}) Keiner der an diesem Konflikt Beteiligten sollte im Hinterkopf damit rechnen, dass dann, wenn es schlimme Entwicklungen gibt, die NATO kommt und ihn wieder herausholt. Nein, den Frieden müssen zuallererst die Menschen in diesem Lande selber schaffen. ({10}) Wir können nur helfen und gute Dienste leisten. Das allerdings müssen wir tun. Ich bedanke mich. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Winfried Nachtwei.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Seit Wochen und Monaten erleben wir im Kosovo und in den Anrainerregionen des Kosovo eine gefährlich zunehmende Gewalt. Da stellt sich natürlich die Frage: Was soll in einem solchen Moment eine Debatte über den KosovoKrieg vor zwei Jahren? Die Antwort darauf ist einfach: Christian Schmidt ({0}) weil die Beschäftigung mit den Erfahrungen des KosovoKrieges sehr hilfreich ist, um zu einer wirksameren Kriseneindämmung und Gewaltvorbeugung zu kommen. ({1}) Die erste Kriegsbeteiligung der Bundesrepublik Deutschland war eine historische Zäsur und - wir erinnern uns deutlich - heiß umstritten, auch hier im Haus, aber vor allem in der Gesellschaft. Was die Aufarbeitung des Kosovo-Krieges angeht, so haben wir, wie ich meine, einen unübersehbaren Nachholbedarf; denn auf der einen Seite steht die Verdrängung durch die Gesellschaft, aber auch durch die Politik, und auf der anderen Seite eine rechthaberisch orientierte Auseinandersetzung. Was verhältnismäßig zu kurz kommt, ist die schlichte, aber äußerst schwierige Suche nach der Wahrheit. Vorhin sind - auch vom Kollegen Brecht - sehr wichtige, unabhängige Kommissionsberichte von der OSZE und von der Independent International Commission on Kosovo genannt worden, die bei dieser Wahrheitssuche sehr hilfreich sein können. Auch die heute zur Diskussion stehende Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der PDS soll einen Beitrag zur Wahrheitsfindung leisten. In der letzten Zeit sind zunehmend Publikationen erschienen, in denen bestritten wird, dass damals, Anfang 1999, eine humanitäre Katastrophe gedroht hat. In diesen Publikationen wird behauptet, es habe einen schlimmen Bürgerkrieg gegeben, der aber keine - vor allen Dingen durch das Milosevic-Regime verursachte - humanitäre Katastrophe hervorgerufen habe. ({2}) Die Antwort der Bundesregierung macht zu Recht einiges deutlich, nämlich dass Krieg und Vertreibung im Kosovo nicht erst am 24. März 1999 begannen, ({3}) sondern dass der Nährboden der Gewalt durch das serbische Apartheidregime gegen die Kosovo-Albaner seit Anfang der 90er-Jahre gelegt wurde. ({4}) Es gab also einen Vorlauf von ungefähr zehn Jahren. ({5}) Nach diesen unabhängigen Untersuchungsberichten begannen die offenen Kämpfe und gezielten Vertreibungen ungefähr im März 1998 mit sehr vielen Vertriebenen und mit auf ungefähr 1 000 geschätzten getöteten Zivilisten auf kosovo-albanischer Seite. Es gab ungefähr 400 000 bis 500 000 Flüchtlinge und Vertriebene. Eine Wiederverschärfung der Kämpfe und Vertreibungen gab es seit Anfang 1999. Auch dies ist vom UNHCR und anderen eindeutig belegt. Schließlich gab es die Erinnerung der Staatengemeinschaft, geteilt von der Mehrheit dieses Hauses, an den Bosnienkrieg, wo die Staatengemeinschaft zu spät gekommen war und - daran denken viele heute nicht 200 000 Menschen umgebracht worden sind. ({6}) Das steckte uns allen in den Knochen. ({7}) Allerdings wird auch immer deutlicher, dass das Konfliktmuster der Kämpfe und bewaffneten Auseinandersetzungen im Kosovo komplexer war, als es damals teilweise in der Öffentlichkeit verbreitet wurde oder als es heutzutage von manchen Kritikern des NATO-Krieges behauptet wird. Die Bundesregierung deutet in ihrer Antwort dieses komplexere Konfliktmuster an, indem darin von dem bekannten Schema des unverhältnismäßigen Vorgehens serbischer Sicherheitskräfte als Reaktion auf UCK-Aktivitäten die Rede ist. In dem vorhin schon genannten WDR-Film wird das Beispiel des Ortes Rogovo gebracht, wo am 29. Januar 1999 24 tote Kosovo-Albaner gefunden wurden. In dem WDR-Film wird behauptet, das seien schlimme, aber normale Bürgerkriegsauseinandersetzungen gewesen. Ich habe noch gestern mit einem deutschen Polizeibeamten gesprochen, der dort bis zum Erstellen des Abschlussberichtes ermittelt hat, der nach Den Haag gegangen ist. Er hat gesagt: Als sie dort hinkamen, hätten sie einen toten serbischen Polizisten, sechs UCK-Kämpfer und darüber hinaus viele eindeutig willkürlich exekutierte Zivilpersonen gefunden. - Der Fall Rogovo ist beispielhaft für das übliche Konfliktmuster. Von der Independent International Commission on Kosovo wird das zusammengefasst mit der Beschreibung: ein Gemenge von bewaffnetem Aufstand, staatlicher Aufstandsbekämpfung und Krieg, der so genannten ethnischen Säuberung, gegen die Zivilbevölkerung. ({8}) - Wenn man genauer hinhört, weiß man, was ich eben gesagt habe. Die bemerkenswerte BBC-Dokumentation „Bomben und Moral“ konstatiert, das sei eine bewusste Eskalationsstrategie der UCK gewesen, die terroristische Antiterroreinsätze der serbischen Kräfte bewusst einkalkuliert habe. Hier stellt sich in der Tat die Frage, ob die Staatengemeinschaft das damals gebührend berücksichtigt hat. Zu den Kriegsopfern und den Kriegsschäden! Die Wahrnehmung der Kriegsopfer und Kriegsschäden fällt offenkundig schwer, und zwar einmal wegen objektiver Ermittlungsprobleme, aber auch wegen gegenläufiger Interessen, die die Wahrnehmung erschweren. Für eine Demokratie sollte eine offene Erfassung der Kriegsopfer aller Seiten selbstverständlich sein. Gestützt auf die Untersuchung verschiedener internationaler Organisationen macht die Bundesregierung konkrete Angaben zu den Flüchtlingszahlen und zu den Gesamtopferzahlen auf kosovo-albanischer Seite. Zwischen März und Juni 1999 sind schätzungsweise 10 000 Menschen im Kosovo von den serbischen Kräften umgebracht worden. Diese Zahl ist ein Abgleich der Informationen verschiedenster Menschenrechtsorganisationen. Wenn wir die geringe Bevölkerungszahl des Kosovo mit jener der Bundesrepublik vergleichen, dann wird deutlich, wie gigantisch die Opferzahlen waren. Allerdings muss ich auch sagen, dass die Angaben der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu den Opfern und Schäden der NATO-Luftangriffe dürftig sind. Sie könnten durchaus ausführlicher sein, wenn man sich einfach auf die Angaben der Independent International Commission on Kosovo stützen würde; diese hat dazu einige Ausführungen gemacht, zum Beispiel auch zu den Zerstörungen von Brücken und Industriebetrieben. Zu den Kriegsergebnissen: Erklärtes Ziel der NATOLuftangriffe war die Verhinderung einer humanitären Katastrophe, also einer Neuauflage der Kämpfe und Vertreibungen des Jahres 1998 auf schlimmerem Niveau; denn damit - das hatten wir gleichzeitig im Kopf - drohte ein Flächenbrand in der ganzen Region und deren umfassende Destabilisierung. Dieser umfassende regionale Flächenbrand wurde eindeutig verhindert. Das Problem daran ist allerdings, dass das eine unsichtbare Wirkung war. Das erste Ziel, die Verhinderung der humanitären Katastrophe, wurde offenkundig verfehlt. Ich glaube, vor dieser ernüchternden Feststellung sollten wir uns nicht drücken. Zuletzt zu den Schlussfolgerungen: Die Antwort der Bundesregierung ist ein Beitrag zur Aufarbeitung des Kosovo-Krieges. Diese Aufarbeitung ist damit selbstverständlich keineswegs abgeschlossen. Schon angesichts der Begrenztheit der Fragestellungen und ihrer großen Voreingenommenheit bleiben viele Fragen offen. ({9}) Es wäre enorm interessant, der Frage nachzugehen, welche Friedenschancen bestanden. Man sollte also noch einmal genauer untersuchen, ob mit der OSZE-Mission vom Oktober 1998 bis zum März 1999 alle Möglichkeiten ausgereizt worden sind. ({10}) - Gut, das sind aber Fragen, die man noch einmal genauer bearbeiten sollte. Man hat auf jeden Fall Konsequenzen daraus gezogen, nämlich durch den Aufbau schnell verfügbarer ziviler Kräfte gerade für solche Missionen. Bisher gibt es in der Bundesrepublik im Unterschied zu etlichen anderen NATO-Staaten keine umfassende - ich betone: umfassende - Überprüfung und Bilanzierung des Kosovo-Krieges und der deutschen Beteiligung daran. Notwendig ist meiner Meinung nach ein gesamtgesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess, zu dem Bundestag, Bundesregierung und relevante gesellschaftliche Kräfte, zum Beispiel Medien und Kirchen, beitragen sollten. Gehört werden sollten vor allem auch die vielen Frauen und Männer, die im Rahmen von Beobachtungs- und Friedensmissionen im Kosovo waren und bisher - so habe ich erfahren - kaum gefragt wurden. ({11}) Ein solcher gesamtgesellschaftlicher Aufarbeitungsprozess ist notwendige Voraussetzung, um angemessene sicherheits- und friedenspolitische Konsequenzen aus dem Kosovo-Krieg ziehen zu können, der für uns alle sicherlich kein Modell, sondern abschreckendes Beispiel ist. Danke schön. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Hildebrecht Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bilanz eines Krieges zu ziehen ist für den Bundestag eine ungewohnte Aufgabe. Schließlich hat sich die deutsche Bundeswehr erstmalig seit ihrem Bestehen an einem Friedenseinsatz unter Kriegsbedingungen beteiligt. Ich möchte das Ergebnis der Überlegungen an die Spitze stellen: Selten hat es in der Geschichte ein militärisches Eingreifen gegeben, bei dem die insgesamt positive Bewertung deutlicher auf der Hand liegt als im Kosovo-Konflikt. Ich will folgende Punkte herausstellen: Erstens. Seit dem Eingreifen der NATO im Kosovo müssen die Millionen von Menschen in der Region, die nicht Serben sind, nicht mehr in Angst vor serbischer Aggression leben. Das ist das wichtigste Ergebnis. Bosnier, Albaner, Ungarn, aber auch Kroaten, Slowenen und Bulgaren leben als friedliche Nachbarn zu einem friedlichen Serbien. Großserbische Bestrebungen und damit einhergehende Bedrohungen der nationalen Identität der Nachbarn, aber auch des Lebens der Menschen in diesen Ländern sind Vergangenheit. Zweitens. Eine Million Kosovo-Albaner, die von Serben vertrieben oder vergewaltigt wurden, die im Winter im Wald vor marodierenden Banden paramilitärischer serbischer Verbände Schutz suchen mussten, können ruhig in ihrem Land leben. ({0}) Sie waren die am meisten betroffenen Opfer serbischer Aggression seit 1988, als dieser unselige Milosevic, getragen von der zwanghaften Vorstellung, Kosovo-Albaner seien Menschen minderen Rechts, die auf eigentlich urserbischem Territorium - so sah er damals die Dinge nichts zu suchen hätten, mit der Unterdrückung begann. Drittens. Es ist gelungen, diesen geschundenen Menschen, deren Häuser gebrandschatzt und deren Felder vermint wurden, ihre Heimat wiederzugeben. Sie haben erstmalig eine Chance, ein freies Land mit Zukunft aufzubauen. Dies ist die direkte Folge des NATO-Eingreifens in Jugoslawien. ({1}) Viertens. Dass in Serbien und im Kosovo jetzt demokratische Strukturen entweder schon bestehen oder im Entstehen begriffen sind, ist eine weitere direkte Folge des NATO-Militärschlags. Es glaube doch keiner, dass es der Diktator Milosevic, der die Presse und die elektronischen Medien seines Landes beherrschte, zugelassen hätte, dass die Bürger seines Landes objektiv informiert und aufgrund dieser Informationen zu einer anderen politischen Haltung gekommen wären. Er säße nach wie vor im Sattel und würde nicht nur sein Land, sondern auch die Nachbarländer terrorisieren. Dieser Spuk ist nun vorbei. ({2}) Fünftens. Der gesamte Balkan hat seit dem KosovoKrieg eine völlig neue Perspektive. Das Heranrücken an die Europäische Union gibt den jungen Menschen im Balkan Zuversicht und eine Perspektive für das Verbleiben im Lande. Anstelle der totalen Depression und Zukunftslosigkeit ist Hoffnung auf den Anschluss an die Standards der westlichen Welt getreten. Dies betrifft alle Länder des Balkans und stellt eine Wende zum Besseren von größter Tragweite dar. ({3}) Sechstens. Der Balkan ist seit Jahrhunderten ein Konfliktherd erster Ordnung. Seit eineinhalb Jahren besteht die Aussicht, dass eine gerechte Friedensordnung an die Stelle des Rechts des jeweils Stärkeren tritt. Siebtens. Wir alle wissen, dass Millionen Kosovo-Albaner - auch das sollten wir im Kopf haben -, die ihr Land wegen der serbischen Aggression verlassen mussten, nicht etwa in Mazedonien oder in Albanien geblieben wären. Sie wären als Flüchtlinge nicht zuletzt in unser Land gekommen und hätten die Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft in Deutschland schlichtweg überfordert. Was das für das friedliche Zusammenleben der Menschen in unserem Land bedeutet hätte, mag sich jeder selbst ausdenken. Um es etwas konkreter zu sagen: Es glaube keiner, es wäre gelungen, die Republikaner aus dem Landtag von Baden-Württemberg herauszuhalten, wenn wir zusätzlich eine halbe Million Kosovo-Albaner im Lande gehabt hätten. ({4}) Achtens. Auch international hat das Eingreifen der NATO langfristige Wirkungen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist handlungsfähiger geworden. Ich glaube, die Annahme, dass die Grundsätze der Charta der UN wieder stärker als die nationalen Interessen zweier ständiger Mitglieder im Mittelpunkt stehen, dürfte zutreffen. Haben vor dem NATO-Angriff noch Russland und China in völliger Verkennung ihrer Verantwortung als Mitglieder des Sicherheitsrates letztlich Milosevic unterstützt, so wissen sie spätestens seit dem Eingreifen der NATO, dass sie durch ihr Veto nicht mehr Nothilfe zugunsten geschundener und unterdrückter Völker verhindern können. Die NATO hat sich als einzige funktionierende Ordnungsmacht erwiesen, die bereit und in der Lage ist, Völkermord entgegenzutreten. Russland und China wissen nun, dass sie sich durch ein Veto gegen humanitäre Hilfe nur blamieren, ohne den Gang der Geschichte aufhalten zu können. Dieser außerordentlich positiven Bilanz steht natürlich gegenüber, was wir auf der Minusseite verbuchen müssen: So sind bei den NATO-Angriffen und bei Aktionen der serbischen Streitkräfte circa 500 Menschen ums Leben gekommen. Natürlich bedauern wir das sehr, wissen aber, dass für diese Verluste an Menschenleben Milosevic verantwortlich ist. Bedenken wir bitte auch, wie viele weitere unschuldige Menschen dem Terror der verblendeten Serben zum Opfer gefallen wären, wenn wir nicht gehandelt hätten. Es wurden Einrichtungen in Serbien und im Kosovo zerstört, die nur mit viel Geld und viel Energie wieder aufgebaut werden können. Die Bevölkerung von Serbien hat einen großen Preis für die schreckliche Politik ihres früheren Diktators zahlen müssen. Der Westen, insbesondere die Europäische Union und unser eigenes Land, steht hinter der neuen demokratischen Regierung. Wir werden alles tun, um den Wiederaufbau - nicht nur bis zum früheren Standard, sondern in Richtung des Niveaus von ganz Westeuropa - zu unterstützen. ({5}) Wir müssen aber einräumen, dass trotz aller Bemühungen der KFOR-Streitkräfte, insbesondere auch der deutschen Soldaten, Serben und andere Minderheiten im Kosovo in Angst vor Kosovo-Albanern leben. Wir müssen auch feststellen, dass viele Serben aus dem Kosovo geflohen sind und fliehen mussten, weil sie Angst um Leib und Leben hatten. Sie zahlen den größten Preis für die Verbrechen, die Milosevic zu verantworten hat. Meine insgesamt positive Bilanz des Kosovo-Krieges markiert aber nicht das Ende der Akte Kosovo. Es herrscht nicht etwa Frieden, sondern nur Abwesenheit von Krieg. Ich selbst habe mehrfach - im Verteidigungsausschuss und darüber hinaus - gefordert, mit der konkreten Friedensarbeit zu beginnen. Es darf nicht sein, dass in den Medien vor Ort weiterhin gegen die andere Bevölkerungsgruppe gehetzt wird und dass das Ziel eines multiethnischen Kosovo in Zeitungen durch die Förderung von Vorurteilen und von Hass konterkariert wird. ({6}) Frieden muss in den Köpfen und in den Seelen der Menschen wachsen. Deshalb ist es vordringlich, dass in den Kindergärten und Schulen die Fähigkeit zum Frieden erlernt und geübt wird. Hier ist UNMIK gefordert. Deutschland muss diese Entwicklung sehr aufmerksam beobachten. Es darf nicht sein, dass mehrere tausend deutsche Soldaten unter schwierigen Bedingungen, auch in den kommenden Jahren, im Kosovo Dienst tun, um Frieden möglich zu machen, während vor Ort die Entwicklung zum Frieden durch friedensunfähige Nationalisten gefährdet wird. Wir wollen, dass der Kosovo und die angrenzenden Regionen nicht nur geographisch ein Teil Europas sind, sondern dass die Menschen im Balkan ein Teil Hildebrecht Braun ({7}) unseres Europas werden, das für Menschenrechte, Frieden und Wohlstand für alle steht. Vielen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Gernot Erler für die Fraktion der SPD das Wort.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Jahre nach dem Krieg fällt eine politische Bilanz ambivalent aus. Es gibt positive Entwicklungen: Jede Bilanz muss mit einem Hinweis auf die Rückkehr von mehr als 900 000 Flüchtlingen beginnen. Die gewaltsame Vertreibung war Auslöser der militärischen Intervention. Die angestrebte Rückkehrmöglichkeit ist erzwungen worden und die meisten Flüchtlinge haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Auch die Bedingungen für Frieden und Stabilität in der Region sind verbessert worden. Ich verweise auf die politische Entwicklung in Kroatien und den politischen Wechsel in Jugoslawien, der ganz wichtig war. Ich erinnere daran, dass es hier immer einen breiten Konsens darüber gab, dass die Beendigung des Regimes Milosevic eine Voraussetzung - wenn auch kein Automatismus - für Stabilität und Frieden in der Region des Balkans ist. Zu der positiven Kriegsbilanz gehört nach unserer Auffassung auch der Stabilitätspakt. Er hat dafür gesorgt, dass die meisten Länder der Region die Vorteile von Kooperation materiell schätzen gelernt haben. Die Tendenz zur Kooperation scheint sich inzwischen zu verselbstständigen. Kürzlich hat der Sonderkoordinator der EU für den Balkan, Bodo Hombach, den Fachausschüssen des Deutschen Bundestages berichten können, dass die grenzüberschreitende Zusammenarbeit inzwischen zum Regelfall geworden ist. Das ist ein sehr wichtiger Effekt des Stabilitätspaktes. ({0}) Wir dürfen allerdings die Augen nicht davor verschließen, dass wir noch weit von einer nachhaltigen Friedensordnung für die ganze Region entfernt sind. Hauptgrund dafür ist, dass eine weit verbreitete Krankheit noch nicht besiegt ist. Diese Krankheit besteht darin, dass noch immer auf eine gewaltsame Lösung der ethnischen Probleme gesetzt wird. Milosevic hat das im KosovoKrieg getan, von 1991 bis 1998 mit struktureller Gewalt und mit dem Ziel der Vertreibung, danach mit der Anwendung von physischer, brutaler und blutiger Gewalt. Das konnte nur durch eine militärische Intervention beendet werden. Herr Kollege Gehrcke, auch wenn Sie hier fünfmal dieselbe Rede halten: Sie werden nur dann einen Schritt weiterkommen, wenn Sie die Frage beantworten, welche denkbare Alternative es zu dieser Form der Beendigung der Vertreibung gegeben hätte. Diese Antwort haben Sie nie gegeben. ({1}) Allerdings muss man auch feststellen: Jede militärische Intervention lässt sich auf ein Versagen der Prävention zurückführen. ({2}) Das hat zu Konsequenzen in der Arbeit der Bundesregierung und in der Prioritätensetzung der Koalitionsfraktionen geführt. Das kann man hier allerdings nicht ausführen. Zur Kriegsbilanz gehört auch die logische Erkenntnis: Wenn die gewaltsame Lösung von ethnischen Problemen zu dieser militärischen Intervention geführt hat, nämlich zum Kosovo-Krieg, dann können gewaltsame Lösungen von ethnischen Problemen auch nicht Grundlage einer Friedensordnung für diese Region sein. ({3}) Wir beobachten Besorgnis erregende Fehleinschätzungen eines Teils der Albaner im Kosovo und neuerdings auch in Mazedonien. Auf diese müssen wir eine klare Antwort geben. Wenn eine Minderheit militanter Albaner im Kosovo weiter Jagd auf Vertreter anderer Minderheiten macht und andere militante Albaner im Presevo-Tal und anderswo versuchen, Grenzen gewaltsam zu verändern, während uns gleichzeitig moderate albanische Führer sagen: „Ihr könnt das ganze Problem nur dann lösen, wenn ihr ganz schnell die Selbstständigkeit des Kosovo ermöglicht“, dann können wir nur antworten: Diese faktische Doppelstrategie dient nicht den albanischen Interessen und wird nicht zum Ziel führen. ({4}) Es gibt keinen anderen Weg als die Beendigung der Gewalt, die Normalisierung des Zusammenlebens verschiedener ethnischer Bevölkerungsteile, die Respektierung der Grenzen und den Aufbau einer demokratischen Zivilgesellschaft. ({5}) Diese alternativlosen Prinzipien gelten nicht nur im Kosovo, sondern auch für Mazedonien. In Mazedonien leben nach der letzten Volkszählung von 1994 450 000 Albaner. Wahrscheinlich sind es heute mehr. Das bedeutet, dass Mazedonien nur dann eine Zukunft hat, wenn Slawo-Mazedonier und Albaner nach den eben genannten Prinzipien zusammenleben und wenn sie gemeinsam Transformation und Aufbau im Rahmen einer fairen Aufgabenteilung gestalten. ({6}) Hildebrecht Braun ({7}) Leider fehlen dafür im Augenblick noch viele Voraussetzungen. Es geht nicht an, dass in der Verfassung von Mazedonien steht, dass Mazedonien ein Nationalstaat des mazedonischen Volkes sei, ohne dass auch nur mit einem Wort auf die Albaner hingewiesen wird, die einen großen Anteil an der mazedonischen Bevölkerung ausmachen. Es geht nicht an, dass der Anteil der Albaner in Verwaltung, Regierung, Wirtschaft und im Bildungswesen weiterhin so gering wie bisher bleibt. Das gilt auch für die Lokalverwaltung. Deswegen mahnen wir entsprechende politische Veränderungen natürlich an. Gleichzeitig müssen wir aber denen oberhalb von Tetovo, die glauben, mit Gewalt solche Veränderungen herbeiführen zu können, ganz klar sagen, dass so nur Gegengewalt und nichts anderes erreicht wird und dass das nicht zu den notwendigen Veränderungen in Mazedonien führen wird. Im Gegenteil: Gerade jetzt, unter dem Druck von Gewalt, können solche Veränderungen nicht stattfinden. Bei aller Mahnung an die Verhältnismäßigkeit der Gegengewalt muss deswegen von dieser Debatte eindeutig das Signal ausgehen: Die wichtigste Voraussetzung dafür, dass die Bilanz insgesamt besser wird, ist eine Beendigung dieser weiteren Versuche, die tatsächlich vorhandenen ethnischen Probleme gewaltsam lösen zu wollen. Das ist aussichtslos. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun hat der Kollege Dr. Christian Schwarz-Schilling für die Fraktion von CDU und CSU das Wort.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002128, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Beantwortung der Großen Anfrage ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass der Krieg in Kosovo der vierte Krieg im ehemaligen Jugoslawien in weniger als einem Jahrzehnt gewesen ist. Wir haben Anfang der 90er-Jahre überall den Zusammenbruch des Kommunismus und die Befreiung der unterjochten Völker, auch in Osteuropa, erlebt. Die Tragik des ehemaligen Jugoslawien beruhte darauf, dass dort die Uhren zurückgestellt worden sind. Dort gab es einen Kommunisten, der seine Ideologie ganz flugs von der kommunistischen Doktrin hin zur Doktrin des Nationalismus und des ethnischen Absolutismus veränderte. Jeder weiß noch, was er sagte: „Wo ein Serbe lebt, dort ist Serbien.“ Das ist die absolute Verkehrung dessen, was Zusammenleben verschiedener Rassen und Völker zum Ziel hat. Der Bürgerkrieg, der dann über ein ganzes Jahrzehnt gegen die eigene Bevölkerung geführt wurde, war insofern eine logische Konsequenz dieser verhängnisvollen, verbrecherischen Ideen. Daher ist die Situation, dass eine an sich vernünftige Diskussion durch eine Große Anfrage veranlasst worden ist, in der sich der Antragsteller bemüht, die NATO als Täter in diesem Krieg und diejenigen, die die NATO zu bekämpfen hatte, als Opfer hinzustellen, nun wirklich absurd. Dass Antworten auf die umfangreichen Fragen gefunden werden müssen, die Sie, meine Damen und Herren von der PDS, gestellt haben - wie viele Menschen sind hier und dort als Tote oder Geschädigte zu verzeichnen? -, ist ganz klar; auch wir wollen das alles gerne wissen. Aber der Duktus Ihrer Anfrage war, die Rollen von Tätern und Opfern zu verdrehen; das ist doch die wirkliche Lage. ({0}) Man bekam bei Ihrer Anfrage das Gefühl, als ginge es um die Frage, wie viele Opfer es sein müssen, damit wir legaliter einen Eingriff unternehmen dürfen. ({1}) Sie müssen sich einmal die Frage stellen, wo Ihre Stimme - die der PDS und die von Herrn Gysi - eigentlich war, als zum Beispiel die Bevölkerung in BosnienHerzegowina niedergemetzelt worden ist. ({2}) Damals gab es keinen Eingriff und keine Intervention. Stattdessen haben wir zugeschaut - leider Gottes zu lange! -, wie dort systematisch eine Bevölkerung, auch Frauen und Kinder, in einem Ausmaß, wie man es damals kaum für möglich gehalten hatte, niedergemacht wurde. Während des Bosnien-Krieges sind - die Zahlen können Sie sich alle aus dem Internet besorgen - allein in 61 Gemeinden 150 000 Menschen getötet worden; darunter waren 17 000 Kinder, allein in Sarajevo mehr als 1 000. Es gab 175 000 Schwerverletzte in den Krankenhäusern; die Ungezählten außerhalb der Behandlungszentren sind dabei noch gar nicht eingeschlossen. Die Gesamtzahl der durch diesen Krieg Schwerversehrten und Behinderten liegt bei 70 000. 50 000 Kinder wurden physisch verletzt, von den psychischen Folgen ganz zu schweigen. 1,2 Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen außerhalb des Landes und 1,3 Millionen Menschen wurden innerhalb von Bosnien-Herzegowina von Hof und Heim vertrieben. 800 Moscheen wurden zerstört. - Sie wollten Zahlen hören. Das sind Zahlen. Wo war Ihre Stimme? Was haben Sie damals unternommen? Sie wissen, dass das Bewusstsein dafür, dass so etwas in Europa passieren kann und wir deshalb eingreifen müssen, zu Beginn noch nicht ausgeprägt genug war. Der Fehler war, den Geschehnissen nicht von Anfang an entgegengetreten zu sein; der Fehler war nicht, dort überhaupt eingegriffen zu haben. Zu den von mir vorgetragenen Zahlen kam es, ohne dass eine einzige NATO-Bombe gefallen war. Haben Sie sich das einmal überlegt? In Ihren Reden zeigen Sie mit dem Finger auf die NATO und sagen nichts zu dem, was nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ unendlich schwerwiegender als das ist, was Sie hier anzuprangern versuchen. Ich kann nur sagen: Wer ernst genommen werden will, wer glaubwürdig sein will, der hätte seine Stimme wirklich erheben müssen, als die Menschen in Srebrenica und in Bihac um Hilfe riefen. Um zu erfahren, was dort geschieht, habe ich mich bemüht, mit den Menschen vor Ort über Satellitentelefon zu sprechen. An diesem Punkt hat Europa versagt. In diese Wunde könnten Sie Ihren Finger legen. Aber in dieser Zeit habe ich von der PDS nichts gehört; Sie haben geschwiegen. Sie gehen einen anderen Weg. Sie orientierten sich insgesamt nicht an der Wahrheit. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass dieser Mann, Milosevic, dabei war - dies war nicht nur eine Idee -, in brutalster Art und Weise Völkermord zu betreiben. Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts war doch, dass Verbrecher dieser Art, wenn sie denn Diktatoren geworden sind, das tun, was sie ankündigen. Die Demokratien haben das nie für möglich gehalten. Das war schon bei Chamberlain und Daladier in München der Fall. Genauso war es bei Hitler während seines gesamten Werdegangs, bei Stalin und bei Mao Tsetung. Niemand glaubte, dass sie tatsächlich tun, was sie ankündigen: die Ausrottung ihrer Feinde. Als Milosevic in Bosnien-Herzegowina mit dem Völkermord begann, da haben Sie geschwiegen. Es war geradezu rührend, wie Sie der NATO den Vorwurf des Völkerrechtsbruchs und weitere schlimmste Vorwürfe gemacht haben und - nebenbei - mitteilten, dass Sie auch Herrn Milosevic zu kritisieren haben. Es ist ja furchtbar nett, dass auch Sie sich zu seinen Kritikern zählen. Wahrscheinlich ist er ein Freund von Ihnen! Man muss einmal das, was Sie der NATO vorwerfen, mit dem vergleichen, was Sie Herrn Milosevic vorwerfen. Dass Sie ihn kritisieren, besagt gar nichts. Wir kritisieren uns auch im Bundestag. Wenn man sich betrachtet, von welcher Ebene aus Sie über Herrn Milosevic sprechen, dann weiß man - das ist eine interessante Sache -, wes Geistes Kind Sie sind. ({3}) Ihre so genannte Kriegsbilanz ist in vergangenheitsorientierter Blindheit und, so möchte ich sagen, systemkonformer Naivität kaum zu schlagen. Am Ende der Einleitung Ihrer Kriegsbilanz werfen Sie der westlichen Welt vor, das Kosovo-Problem trotz des brutalen und rechtswidrigen Einsatzes immer noch nicht gelöst zu haben. Sie machen sich die Auffassung zu Eigen, dass die NATO bzw. KFOR und UCK dabei behilflich waren, ein System des Terrors zu etablieren. Sie wagen es sogar, für Ihre Beweisführung im Hinblick auf die Geschehnisse im Kosovo den Genozid an den Juden mit heranzuziehen. Wahrscheinlich werden Sie auch noch die jüngsten Geschehnisse in Mazedonien so uminterpetieren, dass Sie zu der Auffassung gelangen: Hätte man damals die Opposition in Serbien nicht derart unterstützt, dann wäre man nicht so frech geworden, in Mazedonien einzugreifen, und man hätte sich mehr auf die bisherige Auseinandersetzung konzentrieren müssen. Man kann, was den Zusammenhang von Ursache und Wirkung angeht, immer manipulieren; das haben Sie hier vorgeführt. Sie haben eines nicht begriffen und Sie wollen es auch nicht begreifen: Die Flucht und Ermordung der Kosovaren, die Vertreibung der Juden, Aschkali und Roma sind die Folgen von Totalitarismus und Hass der Menschen, die manipuliert und instrumentalisiert worden sind, und nicht die Folgen der Bomben der NATO gewesen. Es wurde eben schon darauf hingewiesen: Diese Gräueltaten wurden vor dem Eingreifen der NATO begonnen. Während es die Friedensgespräche mit Karadzic in Genf gab, wurde schnell die Eroberung von ganz Bosnien-Herzegowina vorangetrieben. Je länger die Verhandlungen dauerten, desto mehr breitete sich der Totalitarismus aus. Genau denselben Ablauf gab es zum Teil während der Gespräche in Rambouillet. Trotz der Tatsache, dass Vorbereitungen für die Eroberung des Kosovo getroffen wurden und es eine militärische Ausrichtung in Richtung Süden gab, wollen Sie uns erzählen, dass diese Entwicklung durch die Bomben der NATO ausgelöst wurde. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen sagen muss: Was ist das für eine historische Lüge! ({4}) Die UN-Resolution 1244 als Reaktion der westlichen Welt kam zu spät, nachdem etliche Friedensverträge mit diesem Diktator, der bei den Verhandlungen mit am Tisch saß, geschlossen, aber nicht eingehalten worden sind. Wir haben nicht glauben wollen, dass diese Gespräche nicht zu einem Ende des Krieges und des Hasses führten, sondern dass sie ein neuer Ausgangspunkt von Krieg und Hass waren. ({5}) Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts ist, dass wir Diktatoren so früh wie möglich entgegentreten müssen. Shakespeare hat einmal gesagt: Wenn sich Feuer ungehindert in der Fläche ausbreitet, reichen die Wasser der Flüsse nicht, um es zu löschen. - In dieser Lage befanden wir uns. Wir wussten überhaupt nicht mehr, wie wir das Feuer eindämmen konnten. Wir haben nicht etwa zu früh oder zu unüberlegt gehandelt. Wie viele Überlegungen haben wir angestellt - die Frage, ob wir eingreifen dürfen, wurde im Sicherheitsrat verhandelt -; was wurde nicht alles auf den Konferenzen, beispielsweise der Londoner Konferenz, besprochen! Die gesamte Europäische Union war involviert.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Schwarz-Schilling, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002128, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Ich möchte Ihnen ganz klar sagen: Wir sind entschlossen - wir müssen dies mit aller Macht tun -, in der Zukunft brutalen Diktatoren und Mördern rechtzeitig entgegenzutreten, die ihre Ideen mit Gewalt umsetzen. ({0}) Wenn wir das nicht tun, können wir die Friedlichen, die auf unserer Seite stehen, niemals zu einem demokratischen Aufbau bewegen. ({1}) Wir werden auch in diesem Jahrhundert solchen Diktatoren mit aller Macht entgegentreten müssen, wenn wir den Frieden auf dieser Welt erhalten wollen. Ich danke Ihnen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Bundesaußenminister, Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Entscheidung über Krieg und Frieden ist die schwerste politische Entscheidung, die politisch Verantwortliche - bei uns sind es die Parlamentarier - treffen können. Ich halte es deswegen für richtig und wichtig, solche Entscheidungen auch im historischen Rückblick immer wieder zu überprüfen. Daher hoffe ich, dass dies nicht die letzte Debatte über dieses Thema ist. Für mich persönlich war es die schwerste Entscheidung, an der ich in meinem bisherigen politischen Leben mitzuwirken hatte. Dies gilt unabhängig davon, dass ich zu diesem Zeitpunkt Bundesaußenminister war. Ich habe nämlich als Oppositionsabgeordneter der Actord-Entscheidung - dem Befehl zur Inkraftsetzung des NATO-Operationsplans „Allied Force“, in der letzten Legislaturperiode zugestimmt, weil ich von meiner früheren Position, dass man nicht eingreifen solle, seit Srebrenica unter dem Eindruck einer Gewaltpolitik, die vor Massenmord und vor Massenvertreibung zum Zwecke der gewaltsamen Änderung der Grenzen nicht zurückschreckt, nicht mehr überzeugt war. Im Zuge der Eroberung der UN-Schutzzone in Srebrenica, in die die Menschen geflüchtet waren, für deren körperliche Unversehrtheit die internationale Staatengemeinschaft die Garantie übernommen hatte, wurden alle Männer und männlichen Heranwachsenden ermordet und ihre Leichen in Massengräbern verscharrt. Ich war, wie auch Sie, vorher über Jahre Nichtinterventionist. Ich begreife das heute im Rückblick als Fehler. Insofern sollte man diese Debatte - ich bedauere es, dass das nicht geschieht - ehrlich führen, und zwar ausgehend von den möglichen Alternativen. Vor allen Dingen sollten wir uns nicht gegenseitig falsche Motive unterstellen. ({0}) Ich bedauere es, dass die PDS eine große Chance vertan hat; da kann ich Dr. Schwarz-Schilling nur zustimmen. Sie hat nämlich in der gesamten Anlage der Großen Anfrage Täter und Opfer verkehrt. Das ist, wie ich glaube, der Grundfehler. Warten wir einmal die weitere Entwicklung ab. Die Akten des Internationalen Kriegsverbrechertribunals zum Beispiel werden von Ihnen nicht herangezogen. Diese sind zugänglich, darin könnte man schon heute Erstaunliches finden. Milosevic wird vor Gericht kommen, und eines Tages auch vor ein internationales Gericht. Dann werden die Akten insgesamt geöffnet werden. ({1}) Das wird sehr bitter für Sie werden. Der Kern dieses Konfliktes geht meines Erachtens auf eine historisch-politische Frage zurück, die im 19. und im 20. Jahrhundert in ganz Europa virulent war. Gerade wir Deutschen haben dieses gespürt. Die Frage des deutschen Nationalstaates hat zu zwei Weltkriegen geführt. Bis zur Wiedervereinigung, zum deutsch-polnischen Grenzvertrag und zum Zwei-plus-Vier-Vertrag hingen Stabilität und Sicherheit in Europa von der zentralen Frage ab, welche Position Deutschland einnimmt. Mit der Anerkennung unserer Ostgrenze und damit der polnischen Westgrenze wurde diese definitiv entschieden. Ähnliche Konflikte gibt es noch heute auf dem Balkan. Hier liegt der Kern des Problems in der Bildung neuer Nationalstaaten nach dem Untergang des alten Jugoslawiens, das - ich bedauere es - leider nicht reformfähig war. Mir war schon damals klar, dass hiermit ein enormes Risiko verbunden war. In dieser Frage liegt in der Tat ein riesiges Gewaltpotenzial. Das ist ja auch aus der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ersichtlich. Es wurde jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass dieser Krieg nicht am 24. März 1999 begann. Er begann in Slowenien, führte über Kroatien und Sarajevo nach Bosnien. Eigentlich liegt sein Ursprung schon in der Aufhebung des Autonomiestatus des Kosovo bzw. noch früher in der Erklärung der serbischen Akademie 1986. Das dürfen wir nicht vergessen. ({2}) Wir tun Serbien wirklich keinen Gefallen - ich sage das als jemand, der die traditionelle Einteilung in Kroaten und Serben nicht für richtig hielt -, wenn wir diese teilweise auch in der demokratischen Opposition noch vorhandene Vorstellung von Serbien als Opfer durch Positionen, wie sie die PDS vertreten hat, unterstützen. Serbien muss aus seiner Sichtweise herausfinden; es wird herausfinden, da bin ich mir sicher, und seinen Platz - einen guten - innerhalb der europäischen Völkerfamilie einnehmen. Dieser Krieg begann also nicht am 24. März 1999, sondern früher. In diesem Zusammenhang wird eine entscheidende Frage von Ihnen nicht beantwortet, nämlich, ob eine Einbindung Milosevics bei einer Lösung für die gesamte Region mit einer europäischen Perspektive ohne Gewalt möglich war. Sie hätten Recht, wenn eine Lösung ohne Gewalt möglich gewesen wäre. Hier ist das Äußerste versucht worden. Dayton stellte leider einen unzureichenden Schritt dar. Ich kritisiere nicht diejenigen, die für das Abkommen von Dayton verantwortlich sind. Aber die Zeichen zur Zeit von Dayton - kluge Leute haben dies damals gesagt - haben bereits auf einen Konflikt im Kosovo hingedeutet. Christian Schwarz-Schilling hat das gerade noch einmal angesprochen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Resolution 1244, die dann unter der deutschen G-8-Präsidentschaft in Köln realisiert wurde, bereits ein Jahr früher zustande gekommen wäre. Wer hat denn Russland wieder ins Boot geholt? Wer hat denn dem Sicherheitsrat wieder seine Handlungsfähigkeit zurückgegeben? ({3}) - Entschuldigung, die Verantwortung dafür können Sie aber nicht nur auf einer Seite abladen. Ich hätte mir auch gewünscht, Russland - das habe ich in Moskau im internen Gespräch selbstverständlich auch gesagt - konstruktiv und gestaltend im Sinne von Kriegsprävention tätig geworden wäre und von einem Veto im Sicherheitsrat Abstand genommen hätte. Das wäre richtig gewesen. ({4}) Das stellt aber keine Schuldzuweisung, weder an die eine noch an die andere Seite dar, sondern ist eine realistische Beschreibung. Ich war unmittelbar nach Ende des Krieges in Belgrad und konnte feststellen, dass man dort zehn Jahre verloren hatte. Die Situation war genauso wie 1990 in einigen anderen Wendedemokratien. György Konrad hat gestern Abend gesagt, dass es dort heute noch so aussieht wie 1990 in anderen Volksdemokratien nach dem Ende der Sowjetherrschaft. Genauso war es damals auch dort, dass nämlich plötzlich Leute aus der Opposition höchste Staatsämter einnahmen. Das heißt, es sind zehn verlorene Jahre für ein Land, das, dem damaligen Ostblock nicht zugehörend, von einer kommunistischen Parteiendiktatur - unter Tito und danach - regiert wurde. Bei diesem Land, das im Grunde genommen am weitesten entwickelt war, die größten Potenziale hatte, ist diese zehnjährige Tragödie des Rückfalls in eine nationalistische Politik, in einen Prozess der Selbstblockade und teilweisen Selbstzerstörung eingetreten. Ich bin froh, dass die demokratische Revolution in Belgrad jetzt eine europäische Entwicklung ermöglicht. Die entscheidende Frage ist für mich: Wogegen haben wir dort gekämpft? Wir haben, nachdem alle politischen Möglichkeiten ausgelotet waren und es nicht mehr anders ging, gegen einen gewaltsamen Nationalismus und Gewalt gekämpft. Wofür haben wir dort gekämpft? Wir haben für die europäische Integration dieser Region, für Gewaltverzicht und friedliche Lösungen gekämpft. Genau dies ist die Perspektive, die wir dann mit dem Stabilitätspakt, mit der Sicherheitspräsenz in der Region umgesetzt haben. Wir werden dort selbstverständlich keinen Großnationalismus, weder einen großserbischen noch einen großalbanischen noch sonst irgendeinen, akzeptieren dürfen und wir werden dort keine Unterdrückung von Minderheiten zulassen dürfen. ({5}) Zur Zeitperspektive von 18 Monaten möchte ich Sie an die Zeit 18 Monate nach dem 8. Mai 1945 erinnern. Ich frage mich manchmal, ob wir angesichts der Zerstörung und des Hasses in den richtigen Dimensionen denken. Am 8. Mai 1945 haben in Europa die Waffen geschwiegen. Wo stand dieses Europa 18 Monate danach? Glaubt man denn allen Ernstes, man könnte solche historischen Konflikte in so kurzen Zeiträumen überwinden und nicht nur den realen Wiederaufbau, sondern auch eine Orientierung auf europäische Integration und Gewaltverzicht in den Köpfen und Emotionen erreichen? Ich glaube das nicht. Deswegen ist langfristiges Engagement notwendig. Man kann doch die ganzen positiven Veränderungen sehen. Ich hätte mir gewünscht, dass die internationale Staatengemeinschaft schon 1992 so weit gewesen wäre, wie sie es heute ist, und dass sie schon 1992, spätestens aber nach der völligen Zerstörung von Vukovar in Ostslawonien, dem heutigen Kroatien, oder allerspätestens nach der Zerstörung von Dubrovnik entsprechend reagiert hätte, nämlich geschlossen und entschlossen zu sagen, dass eine gewaltsame, großnationalistische Politik nicht akzeptiert wird, sondern in dem Fall interveniert wird bzw. sich alle am Verhandlungstisch wiederfinden, ({6}) um eine friedliche, gewaltfreie Lösung der Probleme herbeizuführen, unter Anerkennung der Grenzen, die nicht gewaltsam verändert werden dürfen, und auf der Grundlage von Gewaltverzicht, auf der Grundlage des Schutzes der Minderheiten. ({7}) Aber dies hätte, wenn Sie „sehr richtig“ sagen, nur funktioniert, wenn wir damals bereit gewesen wären, auch die notwendige Militärpräsenz ins Spiel zu bringen. Das eine ohne das andere - das ist die bittere Wahrheit - hätte es nicht gegeben. Deswegen bin ich froh, dass wir heute in Mazedonien in einer anderen Lage sind. Die Probleme sind mitnichten gelöst; das innerethnische Gleichgewicht zu erhalten ist extrem schwierig. Aber es ist völlig klar: Wir haben dort nicht gegen einen großserbischen Nationalismus und seine Gewaltpolitik gekämpft, um einen anderen Großnationalismus wirken zu lassen, ({8}) sondern wir wollen die gesamte Region an Europa heranführen. Die Frage der territorialen Integrität Mazedoniens, auch die Frage der Multiethnizität Mazedoniens ist für uns von entscheidender Bedeutung, genauso wie die Umsetzung der Resolution 1244 im Kosovo die Grundlage sein muss. Die Probleme sind noch nicht gelöst und sie werden ohne die beteiligten Völker nicht lösbar sein. Aber - das sage ich in Richtung CDU/CSU; ich weiß, dass nicht alle bei Ihnen diese Meinung vertreten, aber manche, ich habe es gerade gestern wieder gelesen - ich halte überhaupt nichts davon, dass wir uns jetzt mit einem Berliner Kongress oder, wie es Lord Owen vorgeschlagen hat, einer Berliner Konferenz - in Erinnerung an die Berliner Konferenz zu Bismarcks Zeiten - zur Neuordnung des Balkans aufhalten. Die heutige Perspektive heißt Europa. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn wir nicht bereit sind, diese europäische Perspektive in der ganzen Region unter der Beteiligung der dortigen Verantwortlichen und Völker langfristig zu organisieren, dann werden wir in die Untiefen des Nationalismus und eines blutigen Nationenschaffens hineingeraten. Deswegen dürfen wir, wenn wir darüber nachdenken, eine Gesamtlösung zu erreichen - in der Tat sind die Fragen um Bosnien-Herzegowina, um Montenegro, um das Presevo-Tal in Südserbien oder um Mazedonien noch nicht gelöst -, nicht damit beginnen, Grenzen zu verändern und Ähnliches mehr. Wenn wir über eine Gesamtlösung sprechen, müssen wir erst einmal die Energien, die dort vorhanden sind, in Richtung Europa kanalisieren. Das heißt, die Grundsätze, mit denen Lösungen gesucht werden sollen, sind wichtiger, als heute schon über die Substanz der Konfliktlösung zu sprechen. Das ist das Erste. Das Zweite ist, dass man in diesem Rahmen in der Tat so etwas wie eine Konferenz für Sicherheit und Stabilität ins Auge fassen sollte, aber nicht in der Perspektive des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sondern in der Perspektive europäischer Integration. Das ist der entscheidende Punkt. Dafür gibt es bereits wichtige Elemente - die albanische Regierung und andere haben sich in diesem Zusammenhang sehr verantwortlich verhalten - mit dem Stabilitäts- und Assoziationsabkommen und mit dem Stabilitätspakt. Es gibt Möglichkeiten, darüber nachzudenken, wie weit man in Richtung einer Zollunion geht, um hier auch die ökonomischen Kräfte zu stärken; denn die ökonomische Perspektive ist für politische Stabilität und Sicherheit von überragender Bedeutung. Die Frage von Schutzgarantien für Minderheiten, die Frage kultureller Autonomierechte und Ähnliches mehr werden meines Erachtens eine entscheidende Rolle bei der Anerkennung der Grenzen spielen. Dies alles muss auf den Prinzipien des Gewaltverzichts, des Verzichts auf gewaltsame Änderung von Grenzen und des friedlichen Austragens aller offenen Fragen und Probleme auf dem Verhandlungswege gründen und die Perspektive beinhalten, den langen Weg Richtung Brüssel zu gehen. Das scheint mir die Antwort zu sein. Wenn wir uns darauf einigen könnten, dann wird die Debatte über die Ursachen dieses Krieges zwar nicht unwichtig; aber viel wichtiger scheint mir zu sein, dass wir die historische Chance nutzen, der gesamten Region, die ein Teil Europas ist, den Weg zu einem dauerhaften Frieden im europäischen Kontext zu ermöglichen. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für die PDS-Fraktion.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, die Antwort auf die Große Anfrage stellt eines klar: Eine völkerrechtliche Grundlage für den Krieg gab es nicht; denn in der Antwort auf die diesbezügliche Frage sprechen Sie von Ultima Ratio sowie davon, dass nichts anderes gemacht werden konnte; Sie benutzen also das Argument der Alternativlosigkeit. Aber Sie nennen keinen einzigen völkerrechtlichen Artikel oder Vertrag, auf den Sie sich hätten stützen können, nicht einen! Schauen Sie sich die Antwort an. Nun gibt es in diesem Zusammenhang ja viele Argumente. Herr Kollege Brecht hat zum Beispiel in der letzten Debatte gesagt, er habe damals dagegen gestimmt, weil er die Bombardierung als illegal, wenn auch niemals als illegitim empfunden habe. Ich kann nur davor warnen, im Recht diese Unterscheidung zuzulassen. ({0}) Wer sagt, etwas möge zwar illegal sein, aber dennoch sei es legitim, stellt das Recht völlig auf den Kopf. Das gilt für das innerstaatliche Recht genauso wie für das Völkerrecht. Das halte ich für eine fatale Herangehensweise. Immer wieder werden die Kritiker des Krieges vor die Frage gestellt, welche Alternativen sie anzubieten gehabt hätten. Dazu sage ich Ihnen Folgendes: Erstens ist es die Aufgabe von Politik, Alternativen zu schaffen, nicht aber dafür zu sorgen, dass eine Situation entsteht, in der es zumindest scheinbar keine Alternative zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gibt. ({1}) Zweitens hat es selbstverständlich eine Alternative gegeben. Hier wird etwas Unlauteres gemacht. Man verweist - wegen des historischen Zusammenhangs natürlich nicht ganz zu Unrecht - auf die drei vorhergehenden Kriege und überträgt die dort begangenen Verbrechen auf das Kosovo, als seien sie dort schon geschehen oder wenigstens jederzeit möglich. So einfach ist es natürlich nicht. ({2}) - Das hat gar nichts mit Läuterung zu tun; das ist doch Quatsch. - Jeder dieser Kriege hatte einen anderen Charakter; sie hatten auch unterschiedliche Ziele. Vergessen wir doch Folgendes nicht, wenn wir damit schon anfangen: Das Auseinanderfallen Jugoslawiens und die Art und Weise, wie dies geschehen ist, waren ein großer Destabilisierungsfaktor für den Frieden, die Sicherheit und die ökonomische Entwicklung in Europa. Aber an diesem Auseinanderfallen war ja nicht nur Jugoslawien, sondern waren auch Regierungen außerhalb Jugoslawiens beteiligt. Das ist auch eine Wahrheit. ({3}) Tudjman war ebenso ein Nationalist wie Milosevic. Aber es wurde - nicht von Ihnen, aber von Ihrer Vorgängerregierung - stets zwischen den beiden unterschieden: Der eine blieb immer ein Guter, auch als Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina begangen wurden, während der andere zum Ungeheuer hochstilisiert wurde. Ich bin gegen jede Verharmlosung der Verbrechen von Milosevic. Wir wollen genau wie Sie, dass er dafür zur Verantwortung gezogen wird. ({4}) Ich bin aber auch dagegen, ihn durch maßlose Übertreibungen sozusagen zu benutzen und zu instrumentalisieren, ({5}) um sich durch maßlose Übertreibungen gerade in den eigenen Reihen eine Zustimmung zu organisieren, von der man befürchtet hatte, sie nicht zu bekommen. ({6}) Das zieht sich bis heute durch und wird täglich deutlicher. Auch der Vergleich mit dem Apartheidsystem in Ihrer Antwort - es ist mir unangenehm, darauf hinweisen zu müssen - stimmt natürlich nicht. Das wissen Sie doch. Es gab kein Verbot von Eheschließungen. Soweit es Wahlen gab, konnten die Angehörigen der Minderheiten daran teilnehmen. Auf Bänken durften sie auch sitzen. Was sollen also immer diese unsinnigen Vergleiche? Die tatsächlichen Verhältnisse waren doch schlimm genug. Machen Sie es doch nicht immer schlimmer, als es in Wirklichkeit war. ({7}) Nun noch einige Bemerkungen zu Alternativen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einschließlich Russlands und Chinas wäre zu Sanktionen bereit gewesen. Es gab vorher praktisch nur Sanktionen im Hinblick auf Rüstungsexporte bzw. Rüstungsimporte. Wirtschaftssanktionen wurden nicht beschlossen. Darf ich Sie daran erinnern, dass die Europäische Union zwei Wochen nach Beginn des Krieges Sanktionen gegen Jugoslawien beschlossen hat? Wer hat denn die Europäische Union daran gehindert, das drei oder sechs Monate vorher zu tun? ({8}) Das hätte erfordert, auf der einen Seite eine Drohung aufzubauen und auf der anderen Seite dann auch eine Perspektive. Wo war damals das Angebot an die Bundesrepublik Jugoslawien und an Serbien? Es hätte lauten können: Wenn ihr eine demokratische Entwicklung nehmt, ist euch der Weg nach Europa bis hin zur Europäischen Union geöffnet. ({9}) Das, was Bismarck noch machte, nämlich mit Zuckerbrot und Peitsche vorzugehen, hat es in diesem Fall nie gegeben. ({10}) - Ich will ja nicht sagen, dass ich ein Anhänger Bismarcks bin. ({11}) Außerdem hätte man auch in Rambouillet einen unterzeichnungsfähigen Vertrag vorlegen können. Es ist heute auch unstrittig, dass der vorgelegte Vertrag dies nicht war. ({12}) Insofern glaube ich nicht an die Alternativlosigkeit. Wenn Sie, Herr Schwarz-Schilling, sagen, jetzt wisse jeder mordende Diktator, dass die NATO eingreifen werde, so ist das Unsinn. Wer weiß denn das? Greift die NATO in Afghanistan ein? Das ist doch alles Quatsch. Das ist eine völlig selektive Wahrnehmung der Welt. ({13}) Deshalb, Herr Braun, sage ich Ihnen: Das, was Sie gesagt haben, hat mich wirklich erschüttert, weil Sie damit wahrscheinlich sogar einen der wahren Gründe genannt haben. Sie haben gesagt, wenn das so weitergegangen wäre, hätte Deutschland wahrscheinlich 500 000 kosovoalbanische Flüchtlinge aufnehmen müssen. Das hätte dazu geführt, dass der Rechtsextremismus in Deutschland erfolgreich gewesen wäre. Das heißt, weil Sie die Kosovo-Albaner nicht in Deutschland haben wollten, meinten Sie, man müsse Belgrad bombardieren. ({14}) Das ist schon eine sehr merkwürdige Begründung. ({15}) Ich nenne Ihnen noch etwas, was mich wirklich ärgert: Das ist die selektive Wahrnehmung auch von Resolutionen des UN-Sicherheitsrates. ({16}) Erstens hatte die entsprechende Resolution nicht nur Forderungen an Jugoslawien gestellt, sondern zum Beispiel auch festgelegt, dass die UCK nicht von außen finanziell oder mit Waffen unterstützt werden soll. Das Geld für die UCK floss die ganze Zeit über, vornehmlich aus der Schweiz und aus Deutschland. Ich kann nicht einschätzen, ob wir nicht in der Lage oder nicht willens waren, die Resolution umzusetzen. Auf jeden Fall ist es nicht geschehen. Zweitens wurde festgelegt, dass die UCK zu entwaffnen ist. Das hat nie wirklich stattgefunden. Drittens wurde festgelegt, dass die Grenze zu Mazedonien zu schützen ist. Das hat bis heute nicht wirklich stattgefunden. Im Verfassungsschutzbericht Bayerns war die UCK schon Anfang der 90er-Jahre als extremistische Organisation erfasst. Ich erwähne das nur einmal, weil wir später nicht nur mit ihnen verhandelt, sondern weil wir sie unterstützt haben, weil sie ausgerüstet worden sind und weil sie natürlich bestimmte Ziele verfolgen - jetzt auch in Südserbien und in Mazedonien -, die auch Sie nicht gutheißen. Ich meine, das hat auch etwas mit diesem Krieg zu tun. Ich sage nicht, dass die Ursache aller Probleme auf dem Balkan der Krieg ist. Ich sage nur: Dieser Krieg war nicht nur völkerrechtswidrig, sondern er hat auch die dortigen Probleme nicht gelöst, sondern sie zum Teil verschärft. Er hat das militärische Denken weiter geschürt, statt nach politischen Lösungen zu suchen. ({17}) Das ist meine Kernkritik.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Gysi, Sie müssten bitte zum Schluss kommen.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lassen Sie mich deshalb als letzten Satz sagen: Wenn Sie sagen, wir verwechselten Täter und Opfer, dann verstehe ich das wirklich nicht. Ich verstehe nicht einmal, was Sie damit meinen. ({0}) - Ich will Ihnen das erläutern. - Wenn Sie der Meinung sind, die NATO ist kein Täter, können Sie doch aber nicht im Ernst der Meinung sein, sie sei Opfer. Das ist ja wohl noch absurder. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Franz Thönnes, Doris Barnett, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Ekin Deligöz, Matthias Berninger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Jobrotation im Arbeitsförderungsrecht verankern - zu dem Antrag der Abgeordneten Birgit Schnieber-Jastram, Dr. Maria Böhmer, Rainer Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Bessere Erwerbsaussichten für ältere Arbeitnehmer durch bessere Qualifizierung - Drucksachen 14/5245, 14/2909, 14/5608 Berichterstattung: Abgeordneter Adolf Ostertag Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist die Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Es handelt sich hierbei um einen Rednertausch innerhalb der Koalition; das ist abgesprochen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir, die Koalitionsfraktionen, bringen heute einen Antrag zur Einführung der Jobrotation als ein Regelinstrument in der Arbeitsmarktpolitik ein. Dies ist ein weiterer Baustein der dringend notwendigen Modernisierung der Arbeitsmarktpolitik. Die 90er-Jahre waren ein Zeitraum, in dem die Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Arbeitsmarktpolitik den Schlaf der Gerechten geschlafen hat, in dem in unseren Nachbarländern schon längst begonnen wurde, die Arbeitsmarkpolitik zu modernisieren. Modernisieren in diesem Sinne heißt, Instrumente zu entwickeln, die sich auf die Entwicklungen in den Unternehmen einstellen, bei denen sich Qualifikation als ein wesentliches Schlüsselmerkmal herausstellt, bei denen Qualifikation über das gesamte Arbeitsleben immer wieder nachgebessert werden muss. Die in der Bundesrepublik Deutschland angewandte Technik ist innerhalb von zehn Jahren bereits zu 80 Prozent überlebt. Das bedeutet Druck auf die kleinen und mittleren Unternehmen, auf die Großunternehmen, aber insbesondere auch auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sich dieser Situation anzupassen. Weil diese Entwicklungen in den letzten zehn Jahren verschlafen wurden, ist heute die Situation dadurch gekennzeichnet, dass einerseits hohe Arbeitslosigkeit und andererseits Fachkräftemangel herrscht. Es gibt Fachkräftemangel im IT-Bereich und an den Schulen, während auf der anderen Seite 88 000 Elektriker Beschäftigung suchen, für die aber nur 20 Stellen angeboten werden. Dies alles wirft Schlaglichter auf die Entwicklung, die deutlich machen, dass Qualifikation auf der Seite der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auf der Seite der Betriebe oft nicht zusammenpasst. Gleichzeitig beschleunigt sich die technische Entwicklung. Das heißt, die Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss auch im Arbeitsprozess selbst weitergeführt werden. Daher hat das Bündnis für Arbeit, wie ich finde, völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass wir von einer Arbeitsmarktpolitik abgehen müssen, die immer erst agiert, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wenn zum Beispiel hohe Langzeitarbeitslosigkeit zu verzeichnen ist, müssen wir eine Arbeitsmarktpolitik in Angriff nehmen, die vorbeugt im Sinne sowohl der Verhinderung von Langzeitarbeitslosigkeit als auch der Qualifizierung der in den Betrieben Beschäftigten. ({0}) Aus diesem Grund haben wir uns bei unseren Nachbarinnen und Nachbarn in Dänemark etwas abgeschaut, nämlich das Instrument der Jobrotation. In Dänemark wird Jobrotation schon seit 1993 praktiziert. Dort werden in einer intelligenten Art und Weise zwei Elemente verbunden. Wir unterstützen gerade die kleinen und mittleren Betriebe bei der betrieblichen Qualifikation ihrer Beschäftigten. Wir machen für diesen Zeitraum das Angebot, Langzeitarbeitslose beispielsweise als Stellvertreter und Stellvertreterinnen in die Betriebe zu holen, im Betrieb quasi on the job weiterzuqualifizieren und sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen. Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir helfen den Betrieben und wir reduzieren die Langzeitarbeitslosigkeit. ({1}) Das ist nicht der Stein der Weisen; denn die Arbeitsmarktpolitik kennt keinen Stein der Weisen und keinen Königsweg, weil wir in der Arbeitsmarktpolitik sehr unterschiedliche Maßnahmen zusammenfügen müssen. Die Erfahrungen in Dänemark und auch in der Bundesrepublik Deutschland, Nordrhein-Westfalen beispielsweise, wo so etwas schon ausprobiert worden ist, zeigen: Es können mehr als 60 Prozent der Arbeitslosen, die auf diese Weise in Betriebe integriert werden, anschließend dort bleiben. ({2}) Von diesen 60 Prozent ({3}) wiederum sind 40 Prozent Langzeitarbeitslose. Das ist wirklich ein großartiger Erfolg. In Dänemark sind sogar 80 Prozent der so beschäftigten Arbeitslosen in den Betrieben weiter beschäftigt worden. Dies ist ein erster Schritt, ein Element zur Modernisierung der Arbeitsmarktpolitik, die überfällig ist. Wir werden die nächsten Schritte tun. Wir werden noch vor der Sommerpause eine Reform der Kernelemente des SGB III vorlegen, bei denen es um die aktive Arbeitsmarktpolitik geht. Ich danke Ihnen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Birgit Schnieber-Jastram für die CDU/CSU-Fraktion.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wundere mich schon sehr, dass Sie es, nachdem Sie unseren Antrag zur Einführung der Jobrotation ein Jahr lang im Ausschuss haben schmoren lassen, jetzt mit Ihrem Antrag so eilig haben. Aber Sie müssen das verlorene Jahr ein Stückchen einholen. Wir begrüßen das. Lieber späte Einsicht als keine Einsicht. Lernfähigkeit, wenn auch nur in diesem einzelnen Punkt, ist immer lobenswert. Sie werden mir auch heute nicht glauben, wenn ich sage, dass wir der schnelle Igel und Sie der eingebildete, aber dröge Hase sind. Jedenfalls waren wir da, wo Sie heute sind, schon vor einem Jahr. ({0}) Wenn wir den deutschen Arbeitsmarkt einmal im internationalen Maßstab betrachten, dann wird schnell klar, dass die Regierung Schröder zulasten von 5,7 Millionen offiziellen und verdeckten Arbeitslosen den begriffsstutzigen Hasen darstellt und unsere europäischen Partner der einfallsreiche Igel sind. Frau Dr. Dückert, Sie haben es eben schon gesagt: Unsere Nachbarländer haben Modernisierung und Deregulierung der Arbeitsmarktpolitik längst durchgeführt, während Arbeitsminister Riester noch immer nach Wegen sucht, den institutionalisierten Stillstand als Reform zu verkaufen. Die Arbeitsmarktpolitik des Hauses Riester ist ineffizient, behäbig und einfallslos. ({1}) Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Denn das bestätigen Ihnen die OECD und der Wirtschaftsweise Professor Siebert. Wenn Ihnen diese Fachleute nicht reichen, dann glauben Sie doch einfach den Zahlen, die die schlechte Bilanz der Schröder-Regierung eindeutig belegen. Schauen Sie doch einmal auf die Eurostat-Statistiken, die aufgrund einheitlicher und anerkannter Kriterien erstellt werden: Wir liegen bei der Arbeitslosenquote bei zwölf ausgewerteten Ländern auf dem neunten Platz, einen Prozentpunkt hinter Belgien, das im letzten Jahrzehnt nun wirklich einen ziemlich schwierigen Umstrukturierungsprozess zu durchlaufen hatte. ({2}) Ich nenne Ihnen einmal die Erfolgsdaten der anderen: Niederlande 2,8 Prozent, Portugal 4,4 Prozent, Dänemark 4,7 Prozent, Schweden 5,4 Prozent. Die Misserfolgsbilanz der Regierung Schröder in Deutschland lautet: 7,8 Prozent. Führen Sie sich das zu Gemüte und feiern Sie hier nicht Erfolge. Beim Grand Prix des Arbeitsmarktes bekommt die Regierung Schröder eindeutig null Punkte. ({3}) Es ist kein Zufall, Frau Dr. Dückert, dass Sie hier die Einführung der Jobrotation in Deutschland als ein Kernstück der geplanten Reform des SGB III verkaufen wollen. ({4}) In Dänemark, dessen Idee der Jobrotation die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion lange vor Ihnen übernommen hat, ist dieses Instrument nur ein Baustein unter vielen. Dort gibt es schon lange begleitend etwa eine obligatorische und gezielte Qualifizierung sowie eine Verpflichtung zur Arbeitsannahme nach drei Monaten. Die Riester-Baustelle hingegen versucht, mit diesem einen Baustein das gesamte Gebäude der Arbeitsmarktpolitik zu renovieren. So sieht das Ergebnis dann auch aus: Liebe Kollegen von der Regierungskoalition, die Fassade Ihrer angeblichen Erfolge auf dem Arbeitsmarkt bröckelt. ({5}) Es war schon sehr kennzeichnend, dass wir soeben in der Rede von Frau Dr. Dückert wieder kein einziges Wort zum Arbeitsmarkt Ost gehört haben. Sie versuchen schon gar nicht mehr, die Risse auf der Ostseite zu reparieren. Ich frage Sie: Was tun Sie für die gut 20 Prozent Erwerbslosen in den neuen Ländern? ({6}) Durch das bislang schützende Dach aus Konjunktur und Demographie regnet es inzwischen bedenklich herein. Denn die Wirtschaftsaussichten werden düsterer und obwohl jährlich 200 000 Arbeitnehmer mehr in Rente gehen als nachkommen, verbesserten sich die Arbeitsmarktzahlen nicht mehr. Die Fenster, durch die Sie die Erfolge unserer Nachbarn wahrnehmen können, haben Sie mit ideologischen Brettern zugenagelt. ({7}) Deshalb sehen Sie nicht, welche Ideen man hat und welche Erfolge in Europa in der Arbeitsmarktpolitik erzielt werden. Dort findet nämlich die Modernisierung statt, während niemandem im Hause Riester zum Thema „Reform des Arbeitsmarktes“ irgendetwas einfällt. Was macht der Bundeskanzler stattdessen? - Er plaudert im so genannten Bündnis für Arbeit am grünen Tisch mit den Tarifparteien über Arbeitsplätze. Die Erwerbslosen in Deutschland haben die Hoffnung auf dieses Teetrinken mit Gesprächen zum Thema Arbeit längst aufgegeben. Neu ist in der Tat, dass bei diesem Teetrinken ziemlich viel Porzellan zerschlagen wird: Die Gewerkschaften haben den Ausstieg aus der Tarifrunde angekündigt. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen, in den Vorschlägen, die Sie seit kurzem als Reform der Arbeitsvermittlung verkaufen wollen, steckt absolut nichts Neues. Sie machen den Leuten wirklich etwas vor. Wenn Sie mir als Rednerin der Opposition nicht glauben, dann glauben Sie doch immerhin einem Sprecher der Bundesanstalt für Arbeit. Der hat zu Ihren Vorschlägen nur einen Satz gesagt: „Im Prinzip steht dies alles schon im Sozialgesetzbuch III.“ Das wissen Sie - auch Sie, Herr Andres - so gut wie wir alle, die sich mit dieser Materie beschäftigen. Die Bundesanstalt für Arbeit hat wirklich Recht: Wiedereingliederungspläne für Langzeitarbeitslose werden in § 6 des SGB III gefordert. Eine Sperrfrist für Lohnersatzleistungen bei Verweigerung zumutbarer Arbeit existiert bereits heute im geltenden Recht. ({9}) Nachdem uns die Bundesregierung jahrelang Münchhausengeschichten über die angeblich so großen Erfolge des JUMP-Programms, über den angeblich so erfolgreichen Kampf gegen die Langzeitarbeitslosigkeit, über die Chefsache Ost, von der heute überhaupt niemand mehr spricht, und über den Arbeitsmarkt in den neuen Ländern erzählt hat, greift sie jetzt in die Märchenkiste. Was Sie, Herr Andres, vor kurzem als Schritte zur Reform des Arbeitsförderungsgesetzes vorgestellt haben, erinnert stark an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“: keine Substanz, nichts Neues, nichts Greifbares! Sie hoffen, dass niemand merkt, dass die Regierung mit ihrer Arbeitsmarktpolitik nackt dasteht. Sie sollten das in Ihren Reihen wirklich einmal hinterfragen. ({10}) Was mich am meisten verwundert, ist die Tatsache, dass sich die Bundesregierung im Vorfeld der Äußerungen des Staatssekretärs Andres überhaupt nicht mit der Bundesanstalt für Arbeit abgestimmt hat. Auch da hat der Sprecher der Bundesanstalt für Arbeit angesichts der - ich zitiere - „wenig konkreten“ Aussagen des Staatssekretärs erklärt, es sei wirklich zweifelhaft, ob die Arbeitsämter jemals die ihnen zugedachte Aufgabe leisten können. Man muss dabei wissen, dass jeder Arbeitsvermittler bereits heute zwischen 600 und 800 Arbeitssuchende betreut. In Zukunft sollen nach den Vorstellungen der Bundesregierung für 1,4 Millionen Langzeitarbeitslose noch so genannte maßgeschneiderte Wiedereingliederungsprogramme ausgearbeitet und überprüft werden. ({11}) Das ist absurd und jenseits jeder Realität. Hätten Sie doch vorher einmal die Bundesanstalt für Arbeit gefragt, Sie hätten wahrscheinlich einen solchen Schnellschuss nicht losgelassen. Meine Vermutung, wie diese völlig unausgegorenen Vorschläge aus dem Hause Riester zustande gekommen sind, ist folgende: Die Bundesregierung hat endlich gemerkt, dass ihre Arbeitsmarktpolitik völlig ineffektiv ist und dass sie von den Reformvorschlägen der Opposition überholt wird. Deshalb musste schnell irgendein Vorschlag her, so einfallslos und praktisch undurchführbar er auch sein mochte. ({12}) So kamen die Äußerungen von Staatssekretär Gerd Andres zustande. Sie waren mit heißer Nadel gestrickt, geltendes Recht wurde neu verpackt und in der Praxis sind sie kaum durchführbar. So sehen diese Vorschläge aus. ({13}) Die Bundesregierung tut so, als würde sie dem Arbeitsmarkt einen Turbomotor einbauen, dabei hat sie gerade erst entdeckt, dass es nicht nur zwei Getriebegänge gibt, sondern dass man auch in den dritten Gang schalten kann. ({14}) Ich sage Ihnen: Ein modernes Getriebe hat fünf Gänge und 5,7 Millionen offene und verdeckte Arbeitslose haben ein Recht darauf, dass Sie das endlich erkennen und beim Arbeitsmarkt hoch schalten und durchstarten. ({15}) Übernehmen Sie doch unsere Vorschläge und gehen Sie die notwendigen Reformen energisch an: Setzen Sie die 43 Milliarden DM für Arbeitsmarktpolitik endlich effektiv ein und verzichten Sie auf Ihre Gießkannenprogramme ohne Erfolgskontrolle! Sie wissen genau, dass das, was Sie in diesem Bereich machen, völlig ineffizient ist. ({16}) Schaffen Sie rasch die Voraussetzungen für eine Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe! ({17}) Bieten Sie endlich Anreize zur Arbeit und helfen Sie Geringqualifizierten, in Arbeit zu kommen. ({18}) - Frau Dr. Dückert, ich kann es nicht mehr hören. - Bauen Sie endlich die Überregulierung des Arbeitsmarktes ab wir messen Sie an Ihren Versprechen -, ({19}) damit in Deutschland zusätzliche Arbeitsplätze entstehen! ({20}) Sie tun trotz vollmundigster Versprechen nichts. Sie verlassen sich bei der Arbeitsmarktpolitik nur auf den Bevölkerungsrückgang und die Konjunktur. ({21}) Immer mehr Menschen erkennen, was auch die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ vor einiger Zeit schrieb: Die SPD versteht zu wenig von der neuen Arbeitswelt. Sie hat ihre Chance zur Reform verpasst. ({22}) Ihr Rückgriff auf Ideen der Opposition von vor einem Jahr und Ihr Alibi-Reförmchen des Arbeitsförderungsgesetzes belegen dies sehr deutlich. Ich freue mich, den Abgeordneten Andres in Ihren Reihen zu begrüßen. Vielen Dank. ({23})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt erteile ich dem Abgeordneten Gerd Andres zu einer Kurzintervention das Wort. ({0})

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das, was Sie als langjähriger Arbeitsvermittler von sich geben, kann man in den Zeitungen nachlesen. Darauf brauche ich nicht zu reagieren. Frau Schnieber-Jastram, Sie haben mich angesprochen. Darauf möchte ich kurz reagieren. Die Debatte ist nicht wegen meiner öffentlich gemachten Äußerungen anberaumt worden. Ich habe übrigens sehr bedauert, dass es in der letzten Sitzungswoche nicht zu einer Aktuellen Stunde über dieses Thema gekommen ist, denn darin hätte ich Ihnen einiges dazu gesagt. ({0}) Sie haben natürlich völlig Recht damit, dass bestimmte Dinge im SGB III stehen. Aber ich möchte Sie darauf hinweisen, dass es Kann-Regelungen sind. Machen Sie sich einmal die Mühe, bei der Bundesanstalt für Arbeit nachzufragen, wie viele Eingliederungsvereinbarungen es gibt. Mit dem Hinweis, es stehe schon im Gesetz, werden Sie nicht weit kommen. Ich möchte noch eine weitere Bemerkung machen. Sie haben mehrfach das Bild vom Hasen und Igel benutzt. Dazu kann ich nur sagen: gut gebrüllt. Sie haben aber leider viel zu kurz gedacht. Wenn Sie sich einmal an die eigene Nase fassen, werden Sie feststellen, wie viele Arbeitslose, insbesondere jugendliche Arbeitslose, und welch verpfuschte Arbeitsmarktpolitik Sie uns hinterlassen haben. Ich kann mit Stolz und Überzeugung sagen, dass diese Bundesregierung hier eine Menge auf den Weg gebracht hat. Unter Ihrer Regierungszeit sind die Zahlen der Langzeitarbeitslosen, der jugendlichen Arbeitslosen und der Arbeitslosen allgemein Jahr für Jahr bis auf Rekordhöhe im Jahre 1998 angestiegen. Bei uns geht die Arbeitslosigkeit zurück. ({1}) Ich halte das für einen ganz wichtigen Erfolg. Im Sommer werden wir eine schöne Reform des SGB III machen. Dann werden Sie sich wundern. Bis dahin können Sie das, was Sie hier heute erzählt haben, noch einmal nachlesen und darüber nachdenken. Schönen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Frau Kollegin Schnieber-Jastram, bitte.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Es tut mir für die Kollegen fast ein bisschen Leid, dass ich Ihre Zeit noch länger in Anspruch nehmen muss. ({0}) Herr Andres, Sie machen ein zweites Mal den Fehler, dass Sie so tun, als ob Ihre Arbeitsmarktpolitik in Ordnung sei. Sie ist nicht in Ordnung. Es gibt im Osten eine eklatante Zunahme der Arbeitslosigkeit. Ich habe bisher vermisst, dass diese Bundesregierung dazu klar Position bezieht. ({1}) Hinsichtlich der Arbeitsmarktdaten haben Sie von der Registrierung der 630-Mark-Verhältnisse und von dem demographischen Faktor profitiert, der bewirkt, dass jährlich rund 200 000 Menschen in den Ruhestand gehen, ohne dass entsprechender Nachwuchs da ist. Um einen Bereich haben Sie sich aber fast nicht gekümmert, nämlich um die Langzeitarbeitslosen. Wir müssen diesen Leuten helfen, in Arbeit zu kommen. Es reicht aber nicht, immer mehr Geld in Systeme zu stecken, sondern man muss schauen, mit welcher Effizienz dieses Geld in den Systemen verwendet wird, wo es landet und ob es dazu führt, dass sich Langzeitarbeitslose am Ende immer auf der Drehscheibe von Qualifizierung und ABM befinden. ({2}) Das ist die Situation. Das müssen auch Sie zugestehen. Ich will das Hase-und-Igel-Spiel gar nicht gerne spielen. Ich will Ihnen sagen, worum es uns geht: darum, diesen Menschen zügig zu helfen und nicht so zu tun, als ob dies längst passiert sei. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Debattenredner ist der Kollege Klaus Brandner für die SPD-Fraktion.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe gerade eben gedacht: Wenn Frau Schnieber-Jastram diese Rede zwischen 1987 und 1989 im Deutschen Bundestag gehalten hätte, hätte Sie von der SPD-Fraktion mit Sicherheit tosenden Beifall erhalten. ({0}) Sie hätte damals tolle Chancen gehabt, die Projekte, die sie jetzt anspricht, in praktische Politik umzusetzen. ({1}) Da war der Akku bei ihr aber leer. Lassen Sie mich grundsätzlich sagen: Es war viel Rhetorik und äußerst wenig Inhalt. Mit Ihrem Beitrag haben Sie vielleicht genug heiße Luft ablassen können, um Ihre Fraktion zu erwärmen. Sie haben aber keinen einzigen konstruktiven Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit geleistet. ({2}) Sie haben auch - das will ich Ihnen deutlich sagen - die Erfolgsbilanz der jetzigen Regierung beim Abbau der Arbeitslosigkeit völlig ignoriert. Da Sie hier Beispiele aus dem Ausland vorgetragen haben, will ich Ihnen die Zahlen von 1996, zur Zeit der CDU/CSU- und F.D.P.-Regierung, nennen: Arbeitslosenquote 10,4 Prozent, 37,27 Millionen Beschäftigte. Ein Jahr später, 1997, während Ihrer Regierungsarbeit, war die Arbeitslosenquote um 1 Prozent auf 11,4 Prozent gestiegen; das war ein Abbau der Zahl der Erwerbspersonen um 100 000. Wir haben 1998 die Regierungsverantwortung übernommen und haben 1999 die erste Jahresbilanz vorlegen können: Arbeitslosigkeit 10,5 Prozent, Aufbau der Beschäftigung um 600 000 auf 37,94 Millionen. Das sind Erfolgszahlen, die sich sehen lassen können. ({3}) Das setzt sich dann auch im Jahre 2000 fort: Die Arbeitslosenquote sinkt um 0,9 Prozent - von 10,5 Prozent auf 9,6 Prozent -, ein erneuter Anstieg der Zahl der Erwerbspersonen um 400 000 ist zu verzeichnen, eine Million Arbeitsplätze sind hinzugekommen. Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie hier darstellen. Sie malen schwarz. Ich sage es noch einmal: Sie haben Sprechblasen losgelassen, haben damit aber nicht einem einzigen Arbeitslosen geholfen, in ein neues Beschäftigungsverhältnis zu kommen. ({4}) Wenn man einen Blick in die aktuellen Zeitungen wirft, dann könnte man in der Tat zu dem Eindruck gelangen, dass die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leicht ist; denn glaubt man selbst ernannten Experten, dann lässt sie sich hervorragend auf statistische Weise bekämpfen. Man bereinigt nur die offizielle Arbeitslosenzahl um all diejenigen, die angeblich aus verschiedenen Gründen Arbeit suchen, und schon wäre die Arbeitslosenzahl halbiert. Dann aber würden dieselben Gazetten ein Geschrei über Taschenspielertricks und Milchmädchenrechnungen anstimmen. Dann würde plötzlich auch wieder die stille Reserve erwähnt. Es würden die erwähnt werden, die in Qualifizierungs- und Beschäftigungsmaßnahmen sind. Es würde plötzlich ein ganz anderes Bild gezeichnet werden. Deshalb sage ich hier heute ganz deutlich: Mit solchen Taschenspielertricks lässt sich die Arbeitslosigkeit nicht bekämpfen. ({5}) Die anderen Schlagzeilen der letzten Wochen lauten: Mehr Druck auf Arbeitslose, Zuckerbrot und Peitsche, die Daumenschrauben gegenüber Arbeitslosen wieder anziehen. - Das sind im Kern mittelalterliche Methoden, mit denen in der Öffentlichkeit ein Zerrbild über die Arbeitslosigkeit dargestellt wird, aber nicht ein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen worden ist. ({6}) Es ist eben ein neoliberaler Trugschluss, dass man nur mehr Druck auf Arbeitslose ausüben muss, damit sie vorhandene Arbeitsplätze auch annehmen. Sie wissen, dass das Unsinn ist. Sie wissen, es fehlen Arbeitsplätze, nicht Arbeitswillige. Zuckerbrot und Peitsche - das ist nicht sozialdemokratische Politik. Damit lässt sich die Arbeitslosigkeit jedenfalls nicht senken. Seit dem Regierungswechsel - ich habe die Zahlen angesprochen - können wir eine äußerst positive Bilanz vorlegen. Wir werden diesen erfolgreichen Weg zum Abbau der Arbeitslosigkeit natürlich weiter fortsetzen. Wir werden auf diesem Erfolgsweg weiterkommen, indem wir eine Vermittlungsoffensive starten, ({7}) die jetzt ganz konkret angegangen wird. Sie, liebe Frau Schnieber-Jastram, schlagen stattdessen den Aufbau einer Arbeitslosenpolizei vor. Ich sage dazu: Anstatt die Vermittlungs- und Qualifizierungsbemühungen der Arbeitsämter zu stärken, wollen Sie dafür sorgen, dass der Missbrauchsverdacht und die Ressourcen der Arbeitsämter - ({8}) - Ich habe die Vorschläge von Herrn Merz gelesen. Wollen Sie sich von dem, was Ihr Fraktionsvorsitzender dazu gesagt hat, distanzieren? Das ist ja noch schöner. Es ist hoch interessant, dass Sie sich von Ihrem Fraktionsvorsitzenden distanzieren wollen. Wir stellen das fest. Sie werden dann also gemeinsam mit uns die Arbeitsmarktpolitik offensiv angehen und sich von Ihren Irrwegen distanzieren. Die CDU hat auf diesem Gebiet, wie ich es einschätze, doch einige Schwierigkeiten. Ich will es deutlich sagen: Wenn sie mit dieser Missbrauchsdebatte fortfährt, dann müsste ich fragen: Was macht sie eigentlich, wenn die Steuerfahndung jeden Unionspolitiker durchleuchtet, weil einige wenige Kollegen bei der Verbuchung von Spenden nicht korrekt gehandelt haben? ({9}) - Das ist nicht unverschämt, sondern das ist der Kern dessen, was Sie durch Ihr Zündeln bezüglich der Nichtarbeitswilligkeit von Arbeitslosen an den Tag legen. ({10}) Auch der zweite Vorschlag Ihrer Fraktion geht fehl, weil Sie vorschlagen, in den neuen Bundesländern - das habe ich sehr wohl gelesen - arbeitsrechtliche Regelungen außer Kraft zu setzen, um zum Beispiel Sozialdumping, Tarifdumping und Niedriglöhne zu ermöglichen. Glauben Sie etwa ernsthaft, dass mit diesen Mitteln ein Zuwachs an Beschäftigung erzielt werden kann? Sie haben den Menschen im Osten vor 1998 etwas vorgemacht und Ihr Ehrenvorsitzender a. D. hat blühende Landschaften versprochen. Das war eine Fehleinschätzung. Dafür müssen Sie sich auch heute in die Verantwortung nehmen lassen. ({11}) Wenn es nämlich ein Erfolg versprechender Weg wäre, dass mit Tarif- und Sozialdumping neue Arbeitsplätze entstehen könnten, dann müssten wir im Osten das Paradies in dieser Republik vorfinden. Das muss einmal ganz deutlich gesagt werden. ({12}) Das Leitbild sozialdemokratischer Arbeitsmarktpolitik lautet: fördern und fordern. Die Reihenfolge war ganz bewusst gewählt: erst das Fördern, dann das Fordern. Die Koalitionsfraktionen haben sich in dieser Legislaturperiode darauf verständigt, das Arbeitsförderungsrecht wirksamer auszugestalten. Dabei sollen möglichst viele Mittel von passiven in aktive Leistungen umgeschichtet werden. ({13}) Besondere Bedeutung haben die Beschäftigung von Frauen und eine bessere Verzahnung mit regionaler Strukturpolitik. Soweit unsere grundsätzlichen Ziele. Zur Umsetzung haben wir gesagt: Eine Reform des SGB III braucht eine gründliche Vorbereitung. Andererseits bestand aber auch Handlungsdruck. Ich habe auf die Daten zu Beginn der Regierungsübernahme hingewiesen. Deshalb haben wir aufgrund der hohen Dimension der Jugendarbeitslosigkeit, die keinen Aufschub duldete, sofort gehandelt, haben das JUMP-Programm aufgelegt und es erfolgreich fortgesetzt. Im Übrigen haben wir auch den Ausbildungskonsens im Bündnis für Arbeit, das Sie als Teestunde bezeichnen, zustande gebracht. ({14}) Die entsprechenden Zahlen machen heute deutlich, dass das Bündnis für Arbeit ein erfolgreiches Projekt dieser Bundesregierung ist. ({15}) Die Vorschriften, die Sie uns hinterlassen haben, waren teilweise schlicht verfassungswidrig. Ich will hier nur das Stichwort Einmalzahlungen bringen. Auch hier haben wir sofort gehandelt. Wir haben verfassungsmäßiges Recht geschaffen. Seit Jahresanfang ist gesetzlich sichergestellt, dass Sozialbeiträge auf Weihnachts- und Urlaubsgeld tatsächlich zu höheren Lohnersatzleistungen führen. Für einen Empfänger von Arbeitslosengeld bedeutet dies im Durchschnitt 8 Prozent mehr Geld in der Börse. Das ist gerecht. Das ist notwendig. ({16}) - Herr Niebel, ich höre gerade, dass Sie die Leistungen im Kern senken wollen. ({17}) Das ist keine sozialdemokratische Politik. Sie wollen die Leistungen senken. Das haben Sie gerade gesagt. Das werden wir den Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land deutlich machen. ({18}) Lassen Sie mich einen dritten Punkt ansprechen: Sie haben Vorschriften geschaffen, die aus meiner Sicht unsinnig sind und im Übrigen die Vermittlungsbemühungen der Arbeitsämter lähmen. Ich will das Stichwort Meldefristen für Arbeitslose aufgreifen. Wir haben diese unsinnige Regelung aus dem Arbeitsförderungsgesetz gestrichen, weil wir nicht mehr Bürokratie, sondern mehr Zeit für aktive Vermittlungsgeschäfte brauchen. Deswegen haben wir, viertens, auch aus dem Bündnis für Arbeit wichtige Impulse aufgenommen. Ich nenne das Beispiel Altersteilzeit. Das Gesetz zur Altersteilzeit, das Sie 1997 verabschiedet haben, war ein Fehlschlag und Sie wissen das, Frau Schnieber-Jastram. Ihre Maßnahme hat dazu geführt, dass weniger als 5 000 Beschäftigte pro Jahr die Möglichkeiten des Gesetzes in Anspruch genommen haben, weil Ihr Gesetz eben nicht praxistauglich war. Wir haben es verbessert. Wir wissen heute, dass durch das Altersteilzeitgesetz viele junge Menschen erstmals eine Beschäftigungsmöglichkeit erhalten haben. Insofern ist auch dieses Instrument - ein Ergebnis aus dem Bündnis für Arbeit - erfolgreich. Ich will als fünften Punkt ansprechen: Die jetzige Bundesregierung hat die Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau verstetigt. Das war ein Wahlversprechen und wir haben es gehalten. In diesem Jahr stehen allein 44 Milliarden DM - also 6 Milliarden DM mehr als 1998 unter Ihrer Regierung - für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung. Die Arbeitslosenzahlen sind deutlich gesunken, weil wir noch mehr finanzielle Mittel für ein hohes Aktivierungsniveau einsetzen. Das zeigt: Wir haben mit der Stop-and-go-Politik der Vorgängerregierung Schluss gemacht, die für den Arbeitsmarkt keine verlässliche Planungssicherheit geschaffen hat. ({19}) Schauen Sie sich einmal die Datenlage an: Sie haben 1997 den Haushalt stark aufgestockt, um im Wahlkampfjahr 1998 massenhaft ABM-Stellen schaffen zu können, damit die Arbeitsmarktmisere verschleiert wird. ({20}) Lassen Sie mich klar sagen: Wir sind nicht für Strohfeuer, sondern für eine verlässliche, konkrete und kontinuierliche Arbeitsmarktpolitik. Dazu müssen die Mittel, die zur Verfügung stehen, auf hohem Niveau verstetigt werden. ({21}) Wir sind, im Gegensatz zu Ihnen, eine Reform des Arbeitsförderungsgesetzes angegangen, eine Reform, die im nächsten Jahr umgesetzt wird. Bei dieser Reform geht es nicht darum, kurzfristig mehr Geld in die Bundesanstalt für Arbeit zu pumpen, sondern darum, dauerhaft die Möglichkeiten der Arbeitsförderung zu verbessern. Wir werden dazu noch vor der Sommerpause - das ist unsere Absicht - einen Gesetzentwurf vorlegen. Wir wollen dabei gute Beispiele aus unseren Nachbarländern, die hier schon mehrfach angesprochen worden sind, aufgreifen. Die Förderung von Jobrotation ist eines dieser erfolgreichen Beispiele. Über unseren Antrag hierzu werden wir im Anschluss an die Debatte abstimmen. ({22}) Von Jobrotation ist in den letzten Monaten vielfach die Rede gewesen. Meine Koalitionskollegin, Frau Dückert, hat es angesprochen, Frau Schnieber-Jastram. Ich will dazu ganz deutlich sagen: Dieses erfolgreiche Instrument - in den Nachbarländern, aber auch bei uns in NordrheinWestfalen und in anderen Bundesländern erprobt - ist ein Baby, das viele Väter und Mütter hat. ({23}) Weil das so ist, hat keiner der hier Anwesenden einen Anspruch auf ein alleiniges Copyright in Bezug auf diese Aktivitäten. Arbeitgeber und Gewerkschaften wollen mehr Jobrotation. ({24}) - Ihr Antrag - das müssen Sie den Bürgerinnen und Bürgern sagen - ist eingeschränkt und zielt auf ältere Beschäftigte ab. Unser Antrag geht erheblich weiter und ist damit erheblich zukunftsweisender. Sie müssen die Öffentlichkeit darüber aufklären, welche Elemente Ihr Antrag tatsächlich enthält. Er unterscheidet sich von dem, was wir vorgelegt haben, doch ganz erheblich, Frau Schnieber-Jastram. ({25}) Ich bin froh, dass die Opposition heute dafür ist. Die Union ist allerdings nur zaghaft dafür; ich habe es bereits angesprochen. ({26}) - Sie sind deswegen nur zaghaft dafür, weil Sie ja nur befristete Modellprojekte, begrenzt auf ältere Arbeitslose, fordern. In diesem Zusammenhang sollten sich die Christdemokraten dieses Hauses ein Beispiel an Ihren Freunden an Rhein und Ruhr nehmen, die dort zusammen mit den Sozialdemokraten eine Initiative zur Jobrotation in NRW ausdrücklich unterstützen. ({27})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brandner, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir werden im Arbeitsförderungsgesetz vieles ändern, was insbesondere den Bereich Jobrotation betrifft, das heißt, wir wollen Beschäftigte für Weiterbildungszwecke freistellen und deren Arbeitsplätze mit Arbeitslosen befristet besetzen. Sie sollen Lohnkostenzuschüsse erhalten. Wir wollen keine Beschäftigung zweiter Klasse. Wir wollen insbesondere auch nicht in das Tarifgefüge eingreifen. Vielmehr wollen wir ({0}) sozial abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse durch das Jobrotations-Programm schaffen. Bei der Jobrotation werden zwei Ziele miteinander verknüpft, nämlich einerseits Arbeitslosen neue Chancen zu eröffnen und andererseits den in den Betrieben Beschäftigten die Möglichkeit zur Weiterbildung zu geben. Lassen Sie mich als letzten Gedanken sagen:

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, das muss wirklich ein kurzer Gedanke sein. Sie hatten ausreichend Redezeit.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- Nach Untersuchungen werden im Jahr 2005 80 Prozent der Arbeitnehmer Ausbildungen haben, die älter als zehn Jahre sind. Gleichzeitig werden 80 Prozent der Technologien jünger als zehn Jahre sein. Das zeigt die Bedeutung des lebenslangen Lernens

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brandner, das ist unfair gegenüber den anderen Kolleginnen und Kollegen.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- und die Notwendigkeit flexibler Instrumente zur Förderung der beruflichen Weiterbildung. Diese Ziele verfolgen wir. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel für die F.D.P.-Fraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Selbstverständlich werde ich das verbotene Wort nicht benutzen. Aber Herr Brandner war mit seinen Ausführungen so weit weg von der Wahrheit, dass es schwierig sein wird, das in dreieinhalb Minuten richtig zu stellen. ({0}) Herr Brandner, beim besten Willen, eines muss man klarstellen, weil Sie hier versuchen, alte und von Ihrer Seite gerne gepflegte Vorurteile weiterhin zu verbreiten: Die F.D.P. ist unter anderem deshalb die Partei der sozialen Verantwortung, weil wir dafür sorgen wollen, dass es sich wieder mehr lohnt, zu arbeiten als nicht zu arbeiten. Deswegen müssen Anreize, eine Arbeit aufzunehmen, geschaffen und erhöht werden. ({1}) Ein Sozialhilfeempfänger kann, wenn er arbeitet, im Höchstfall 275 DM dazuverdienen. Sie müssen die Freibeträge erhöhen, damit der Anreiz, eine Tätigkeit, auch wenn sie schlechter bezahlt ist, aufzunehmen, deutlich stärker wird, als in der Arbeitslosigkeit und im System der Transferleistungen zu verharren. Herr Kollege Brandner, man muss ganz klar feststellen: Es lebt sich in diesem Land zwar nicht komfortabel von Sozialhilfe. Aber man muss dafür sorgen, dass sich Arbeit lohnt. Derjenige, der arbeitet, muss mehr in der Tasche haben als derjenige, der nicht arbeitet. Wenn Sie behaupten, wir wollten die Sozialleistungen kürzen, dann sage ich Ihnen ganz klar: Das ist falsch. Das Lohnabstandsgebot lässt sich dadurch einhalten, dass man die Einkommen der Arbeitnehmer von Steuern und Abgaben entlastet, dass man also dafür sorgt, dass derjenige, der beschäftigt ist, mehr von dem hat, was er sich erarbeitet hat, und nicht dadurch, dass man denjenigen, die ohnehin fast nichts haben, noch etwas wegnimmt. ({2}) - Herr Brandner, Sie hatten Zeit genug, zu reden. Herr Kollege Andres, Sie haben richtigerweise auf die Veröffentlichungen der letzten Wochen hingewiesen und unter anderem auf einen Bericht im „Focus“ von letztem Montag angespielt, in dem es um das Pro und Kontra hinsichtlich der Meldepflicht geht. Sie haben festgestellt - das stimmt auch -, dass ich mehrere Jahre Arbeitsvermittler gewesen bin, ehe ich in den Deutschen Bundestag gewählt worden bin. Deswegen nehme ich mir auch das Recht heraus, meine Fachkompetenz, die ich mir auf diesem Gebiet erworben habe, in die politische Arbeit einzubringen. Sie schlagen uns verschiedene Wundermittel aus der rot-grünen Mottenkiste vor, die alle in höchstem Maße personalintensiv sind. Der Einarbeitungsplan bedingt ebenso wie die Jobrotation die Erhebung eines umfassenden Bewerberprofils. Qualifizierungsnotwendigkeiten müssen erkannt werden. Die Menschen müssen während und auch nach der Vermittlung betreut werden, also auch dann, wenn sie eine Stellvertreterstelle bekommen haben. Der Arbeitsvermittler muss sich ein Bild von dem zu vermittelnden Arbeitslosen machen können. Das kann er sich nur ganz schwer machen, wenn er 600 bis 800 arbeitslose Menschen betreut und wenn der Arbeitslose, wie von Ihnen beschlossen, noch nicht einmal die Pflicht hat, einmal in drei Monaten zu seinem Arbeitsvermittler zu gehen. Das ist doch völlig widersinnig. Sie müssen bedenken, wie arbeitsintensiv die Tätigkeiten sind, die Sie von den Arbeitsvermittlern verlangen. Als Erstes müssen Sie vermittlungsfremde Tätigkeiten abbauen. 685 Mitarbeiter der Bundesanstalt für Arbeit beschäftigen sich mit nichts anderem als mit der Erteilung von Arbeitsgenehmigungen. Die Zahl der Vermittler, die das Prüfverfahren durchführen, ist darin noch nicht enthalten. Herr Jagoda und Herr Bsirske fordern schon mehr Beamtenstellen für die Bundesanstalt für Arbeit. Gehen Sie doch einmal andere Wege: Machen Sie eine Ausschreibung und vergeben Sie den Auftrag an Externe. Lassen Sie Privatleute das Profiling, das Coaching und das Controlling durchführen. Vielleicht erreichen Sie dann eher einen Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt, der dazu führt, dass die tatsächlich Benachteiligten vernünftig betreut werden. ({3}) Das von Ihnen vorgeschlagene Instrumentarium ist nicht neu. Sowohl der Eingliederungsplan als auch die Sanktionen, die bei Ablehnung zumutbarer Beschäftigung oder Qualifizierung verhängt werden, stehen schon im Gesetz. Neu ist nur - das muss man festhalten; das befürworten wir ausdrücklich -, dass sich insbesondere die Sozialdemokratie zu diesem Instrumentarium bekennt. Wir müssen zu einem Punkt kommen, an dem es selbstverständlich ist, dass derjenige, der eine Leistung von der Allgemeinheit bezieht, auch grundsätzlich selbst die Bereitschaft hat, eine Gegenleistung zu erbringen. Die kann darin bestehen, eine Tätigkeit aufzunehmen; die kann darin bestehen, in Qualifizierungsmaßnahmen zu gehen; die kann darin bestehen, gemeinnützige Arbeit zu leisten; mit Sicherheit gehört aber dazu, wenigstens einmal alle drei Monate zu seinem Arbeitsvermittler zu gehen, damit der bei 600 bis 800 zu betreuenden Personen überhaupt weiß, mit wem er es zu tun hat. An diesem Punkt sind Sie mit Ihrer Politik bisher auf dem falschen Weg. ({4}) Der Bundeskanzler hat sein Ziel, auf 3,5 Millionen Arbeitslose zu kommen, außerordentlich niedrig angesetzt. Das schafft er auf jeden Fall - selbst wenn er unter einem Stein sitzt und nicht regiert - schon allein aufgrund der demographischen Entwicklung. Sie wollen sich jederzeit an Ihrem Erfolg in diesem Punkt messen lassen. Das werden wir tun; dem müssen Sie sich stellen. Sie brauchen aber nicht mit Spielchen aus der Statistik zu kommen. Vielen Dank. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Klaus Grehn für die PDS-Fraktion.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Schnieber-Jastram, ich würde gerne bei Ihrem Bild mit dem Autofahren bleiben. Ich habe in den Jahren Ihrer Regierungszeit das Gefühl gehabt, Sie haben mit dem Versprechen des ehemaligen Bundeskanzlers, die Zahl der Arbeitslosen zu halbieren, den fünften Gang einlegen wollen. Doch anstatt im fünften Gang loszufahren, hat das Auto gebockt, ist zurückgerollt und den Arbeitslosen über die Füße gefahren, ({0}) weil Sie alle Bedingungen für die Arbeitslosen verschärft haben. ({1}) Was die Regierungskoalition nunmehr vorgelegt hat Jobrotation -, ist zwar nicht in ihrem Garten gewachsen, aber auch Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, legen - um bei dem erwähnten Bild zu bleiben - sozusagen den ersten Gang ein, haben aber die Kupplung noch getreten. Nehmen Sie den Fuß von der Kupplung. ({2}) - Ja, Sie haben den Gang drin. Nehmen Sie das Bein von der Kupplung! ({3}) Sie haben jetzt angekündigt, Sie würden den Fuß von der Kupplung nehmen, indem Sie das SGB III novellieren wollen. Aber das scheint mir auch so eine Geschichte zu sein! Wenn daraus das wird, was der Herr Staatssekretär Andres verkündet hat, wenn es sich also - obwohl es doch um Rechte und Pflichten geht - auf eine Verschärfung der Pflichten beziehen wird, dann wird das sehr problematisch. ({4}) - Na ja, gut, Herr Brandner, ich beziehe mich auf den Jahreswirtschaftsbericht 2001. ({5}) - Nein, da steht drin, dass die Bereitschaft der Arbeitslosen zur Arbeitsaufnahme durch entsprechende Anreize erhöht und die Beschäftigungsfähigkeit verbessert werden sollen. Nun beantworten Sie mir doch einmal die Frage, für wie viele der Arbeitslosen das zutrifft und was Sie eigentlich bei den anderen machen, die keinen Anreiz, sondern bloß einen Arbeitsplatz brauchen. ({6}) Darauf haben Sie keine Antwort. Wir stimmen der Jobrotation natürlich zu, weil damit - wie gesagt - der erste Gang drin ist. Wir hoffen, dass Sie all jene, die zu der Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit, die nach wie vor unerträglich hoch ist, etwas zu sagen haben, bei der Vorbereitung der Novellierung des SGB III an den Tisch holen, dass Sie zu einem Vorschlag kommen, der akzeptabel ist und nicht nur in der Übernahme alter Ideen, ({7}) sondern darin besteht, dass Sie eigene Wege, und zwar neue und angemessene, beschreiten und dass Sie nicht im eigenen Saft weiterschmoren. An diesem Punkt ist momentan nichts zu hören und nichts zu sehen. Deswegen bleibt es dabei, dass die Arbeitslosen und ihre Organisationen nach Ihren Äußerungen, Herr Staatssekretär, genau das Gleiche wie bei der Vorgängerregierung befürchten, nämlich dass die Arbeitslosen und nicht die Arbeitslosigkeit bekämpft werden, dass sie also vom Regen in die Traufe kommen und erneut der Bekämpfung unterliegen, statt dass ihnen neue Arbeitsplätze angeboten werden. Gestern Abend haben wir ja gemeinsam in einer Runde gesessen. Ich habe Ihnen dabei Vorschläge unterbreitet; Sie haben darauf eher ideologisierend geantwortet. Lassen Sie das! Lassen Sie uns lieber in die Sachdiskussion einsteigen! Dann können wir uns mit Sachargumenten gegenseitig befruchten und zu Ergebnissen kommen, die dem Land gut tun und die den Arbeitslosen gut tun. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Ich rufe die Be- schlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und So- zialordnung, Drucksache 14/5608, auf. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Jobrotation im Arbeitsförderungsrecht verankern“, Drucksache 14/5245. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- tion der CDU/CSU mit dem Titel „Bessere Erwerbsaus- sichten für ältere Arbeitnehmer durch bessere Qualifizierung“, Drucksache 14/2909. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Frak- tion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar Wöhrl, Dr. Heinz Riesenhuber, Gerda Hasselfeldt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Steuerliche Rahmenbedingungen für die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter ({0}) verbessern - Drucksache 14/5318 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Keine Steuer beim Aktientausch - Drucksache 14/3009 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir reden in Deutschland seit über einem Jahr über Aktienoptionen. Professor Schindler, Sprecher einer Initiative von 40 Unternehmen aus dem IT-Bereich, hat schon vor einem Jahr gefordert, dass die Aktienoptionen in Deutschland so besteuert werden, dass wir im internationalen Vergleich konkurrenzfähig sind. Wir waren voller Zuversicht, als der Staatssekretär Siegmar Mosdorf im Frühling letzten Jahres eine energische Initiative der Bundesregierung angekündigt hat. Wir waren noch hoffnungsvoller, als wir zu unserer Freude bemerkten, dass der hochverehrte Herr Bundeskanzler im Sommer des vergangenen Jahres angekündigt hat, diese Angelegenheit zur Entscheidung zu führen und im Bündnis für Arbeit zu behandeln. Die damals eingesetzte Arbeitsgruppe ist für uns bis heute nicht erkennbar. Wir waren glücklich, als wir gehört haben, dass unsere Kollegin, die Parlamentarische Staatssekretärin Wolf, im Januar dieses Jahres die Verbesserung der Besteuerung von Aktienoptionen zum Thema gemacht hat. ({0}) Der BDI hat mit großem Fleiß seine Hausaufgaben gemacht und im September ein Konzept vorgelegt. Der DIHT hat sich eindeutig geäußert. Das Deutsche Aktieninstitut hat sich kürzlich in gleicher Art und Weise geäußert. Die Bundesregierung hat mit großer Zuversicht dargestellt, was sie tun will. Aber Sie wissen: Ein großer deutscher Philosoph hat einmal festgestellt: „Mögen täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns leider nicht getraut.“ Das war eine der bedeutenden Aussagen von Karl Valentin. ({1}) Wir haben im Vertrauen auf die Bundesregierung geglaubt, ein Antrag sei nicht nötig. Heute legen wir unseren Antrag vor. Ein breiter Konsens, der anscheinend die Voraussetzung für ein markiges Handeln der Bundesregierung ist, zeichnet sich zwischen den Betroffenen, den Sachverständigen und den Verbänden ab. Die BundesreDr. Klaus Grehn gierung, die den Konsens braucht, bevor sie „springt“, kann jetzt also in der Tat handeln. Die Angelegenheit ist dadurch vorangebracht worden, dass der Bundesrat inzwischen einen Beschluss gefasst hat. Dieser Beschluss, dessen Inhalt sich mit dem unseres Antrages deckt, war eindeutig und einstimmig. Wir stellen mit Freude fest, dass die Bundesratsvorlage von Rheinland-Pfalz eingebracht worden ist. Dort regieren derzeit SPD und F.D.P. Es gibt also einen Konsens zwischen CDU/CSU, F.D.P. und SPD. Damit ist die Grundlage für ein mutiges, entschlossenes und tatkräftiges Handeln der Bundesregierung gegeben. Was wollen wir? Wir wollen, dass Mitarbeiter in einem wachsenden Maße Anteilseigner werden. Das ist ein altes Thema. Den Durchbruch auf ganzer Linie haben wir eigentlich noch nicht geschafft. Vor fast 40 Jahren habe ich über dieses Thema mit Schorsch Leber - er war damals Abgeordneter aus meinem Wahlkreis - diskutiert. Er hat dieses Ziel mit Vehemenz vertreten; doch er scheiterte am Widerstand der Gewerkschaften. Jahre später hat Professor Burgbacher - er stand den Arbeitgebern nicht fern die Sache mit Vehemenz vertreten; doch er scheiterte am Widerstand der Arbeitgeber. Es ist schon wahr, dass sich die ganze Angelegenheit nur mühsam und schrittweise in die richtige Richtung entwickelt hat. Diese kleinen Schritte sind aber nicht ausreichend. Entscheidend ist, dass wir jetzt weiter vorankommen. Wo müssen wir ansetzen? Mitarbeiter müssen Anteilseigner werden. Dann sind sie sehr stark daran interessiert, dass ihre Unternehmen erfolgreich sind. Sie können dann an diesem Erfolg teil haben. Das gilt besonders für die jungen und innovativen Unternehmen, die am Neuen Markt gelistet sind. Das sind Firmen im Bereich des Internet, der Software und der Biotechnologie, die mit einer ganz neuen Strategie den Technologietransfer aus der Wissenschaft in die Märkte organisieren. Hierin liegt die größte Chance unserer Wirtschaft. Bisherige Mechanismen des Technologietransfers aus der Wissenschaft waren nur begrenzt erfolgreich. Diese Firmen organisieren jetzt den Transfer auf direkte Weise. Dabei kämpfen die einzelnen Mitarbeiter um Erfolge. Wir müssen ihnen helfen, in diesem Wettbewerb erfolgreich zu sein. ({2}) Die neuen Unternehmen haben Kompetenz und Engagement, aber sie haben kein Geld; sie leben davon, die besten Köpfe aus unserem Land und aus anderen Ländern als Mitarbeiter zu gewinnen. Diese Spezialisten sind flexibel; sie sind in den verschiedensten Ländern zu Hause. Die entscheidende Frage lautet daher: Können wir Bedingungen bieten, die so gut sind wie die in anderen Ländern? In Bezug auf Aktienoptionen muss man feststellen, dass die Situation bei uns ungünstiger ist als in anderen Ländern. Wie sieht der Vergleich mit anderen Ländern aus? Man kann die Steuersysteme der Länder untereinander nur schlecht vergleichen, weil sie völlig unterschiedlich sind. Auch können wir feststellen, dass in den einzelnen Steuersystemen Aktienoptionen ganz unterschiedlich behandelt werden. Beispielsweise erfolgt in Belgien zum Zeitpunkt der Gewährung der Option eine Besteuerung mit 7,5 Prozent. Dieser Steuersatz erhöht sich geringfügig, wenn die Aktie länger gehalten wird. Wir haben hier also eine frühzeitige und günstige Besteuerung. In Großbritannien liegt die „capital gains tax“ - ich will jetzt nicht die Sondervorschriften erläutern - bei 20 Prozent. Trotz der unterschiedlichen Ansätze handelt es sich um sehr attraktive Konstruktionen in diesen Ländern. Wir aber haben immer noch einen viel zu hohen Spitzensteuersatz. Selbst nach der „kühnen“ und „energischen“ Steuerreform der Bundesregierung ist er mit knapp unter 50 Prozent noch beachtlich. Hinzu kommt noch der Solidaritätszuschlag und bei manchen die Kirchensteuer. Die Steuern läppern sich auf rund die Hälfte des Einkommens zusammen. Unsere im Vergleich zu anderen Ländern nicht übermäßig attraktiven Bedingungen bergen das Risiko, dass die guten Leute abwandern oder dass deutsche Firmen, wie es schon geschehen ist, einen neuen Standort in anderen Ländern suchen, um dort die guten steuerlichen Rahmenbedingungen zu nutzen. Dieser Vorgang ist unerfreulich und ärgerlich. ({3}) Man kann in diesem Zusammenhang über verschiedene Konstruktionen sprechen. Es ist unter psychologischen Gesichtspunkten schon verständlich, dass vor einiger Zeit viele Menschen glaubten, Aktienoptionen seien nichts anderes als eine Lizenz zum Gelddrucken; denn es war schon faszinierend zu beobachten, wie der Neue Markt bis zum März des vergangenen Jahres immer neue Höchststände erreichte. Es ist klar, dass man angesichts dieser Entwicklung auf die Idee kam, einen immer größeren Anteil des Einkommens auf Aktienoptionen umzuschichten, um Steuern zu sparen. Diese Psychologie müsste auch ein tüchtiger Finanzstaatssekretär verstehen. Dass aber die Entwicklung der Aktienmärkte nicht nur in eine Richtung geht, sondern dass die Aktienkurse aufgrund der komplexen Marktsituation auch fallen können, wie es zurzeit mit einer gewissen Nachhaltigkeit der Fall ist, das ist die andere Seite der Medaille. ({4}) Aktienoptionen sind nicht nur ein Teil des Einkommens im klassischen Sinne; ein Arbeitnehmer setzt nämlich ein Teil seines Einkommens einem Risiko aus. Wenn er Pech hat, verringert sich im Falle sinkender Aktienkurse der Wert dieses Teils. ({5}) Gerechterweise muss man in die Überlegung die Tatsache einbeziehen, dass es sich nicht um ein klassisches Einkommen handelt und somit ein Sondertatbestand gegeben ist. Wir müssen also eine Lösung finden, die dem Risiko des Arbeitnehmers gerecht wird. ({6}) Wie wollen wir das angehen? Sich in diesem schwierigen Gelände auf ein Modell festzulegen ist heikel, denn dann muss man über die Details sprechen. Es ist nicht Aufgabe des Bundestages, die Arbeit der tüchtigen Beamten zu erledigen. Wir sollen die politische Richtung bestimmen und Eckpunkte vorgeben, und die Beamten werden dann schon mit der großen Weisheit, die ihnen Eigen ist, einen vorzüglichen Weg finden, das umzusetzen. Ob die Unterscheidung zwischen handelsfähigen und nichthandelsfähigen Optionen nötig ist, scheint mir eher eine technische als eine politische Frage zu sein. Dass man die Wahlfreiheit des Besteuerungszeitpunktes gewährt, scheint mir allerdings eine vernünftige Regelung. So kann man nämlich entscheiden, ob die Aktienoptionen zum Zeitpunkt der Gewährung oder der Ausübung der Option besteuert werden sollen. Die beiden Beispiele aus Großbritannien und aus Belgien, die ich eben gebracht habe, zeigen, welche Bandbreite bei diesem Modell möglich ist. Wichtig ist, dass wir insgesamt konkurrenzfähige Steuersätze - in welcher Konstruktion auch immer - gegenüber den Bedingungen in anderen Ländern bekommen. Schließlich muss es zunächst europäisch und dann auch international so geregelt werden, dass es beim Übergang eines Mitarbeiters von einem Land ins andere Land - auch hierzu gibt es konkrete Vorschläge, die europäisch abgestimmt worden sind - keine Steuerprobleme bei der Mitnahme der Optionen gibt. Ob man jetzt in dem Land besteuert wird, wo die Option gewährt wurde, oder in dem, wo die Option ausgeübt wird, ist nicht der Streitpunkt. Die Hauptsache ist, dass wir ein konkurrenzfähiges Steuersystem aufbauen, in dem die Sache mit einfachen und klaren Vorschriften geregelt wird. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, der Neue Markt befindet sich in einer schwierigen Phase. Aber in schwierigen Zeiten ist es sinnvoll, ein wenig zu helfen. Auch wenn die Optionen, die früher bei Höchstkursen gewährt wurden, heute nicht mehr sehr viel wert sind, so haben doch die Leute, die heute Aktienoptionen bekommen, die Chance, dass die Kurse vom heutigen Level aus wieder steigen. Somit ist dieses Gesetz auch attraktiv, wenn das Geld am Neuen Markt knapp wird. Schließlich müssen wir die Innovationen, die von Neugründungen ausgehen, stärken. Dazu braucht man entsprechende Rahmenbedingungen. Hier könnte die Bundesregierung eine gute Tat vollbringen. Gestern hatte man die große Freude, in der Diskussion zu hören, dass man nur stolz sein darf auf das, was man selber gemacht hat. Das ist zwar nicht mein Standpunkt, aber es mag für die Damen und Herren zur Linken, die damit sehr vertraut waren, als vorzüglicher Grundsatz dienen. Machen Sie etwas, damit auch Sie ein wenig stolz auf unser Land sein können. So kommen wir zusammen und werden in schöner Brüderlichkeit durch neue Gesetze vereint, die unserer Wirtschaft helfen. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Nina Hauer.

Nina Hauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003139, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Mich freut, dass mittlerweile auch die CDU zur Anhängerin der wachsenden Mitarbeiterbeteiligung geworden ist. ({0}) Wir behandeln dieses Thema schon länger. Genau deshalb haben wir die Besteuerung und die Möglichkeiten der materiellen Beteiligung durch Aktien, Aktienoptionen oder anderes auch zum Thema im Bündnis für Arbeit gemacht. Es ist natürlich richtig, dass gerade viele der kleinen Unternehmen und der jungen Start-ups, die sich im Moment in vielen Bereichen so hoffnungsvoll gründen, ihre Innenfinanzierung nur dadurch gewährleisten können, dass sie Aktien ausgeben oder ihren Mitarbeitern Aktienoptionen gewähren. Sie wollen diesen kleinen Start-ups helfen, aber in Ihrem Antrag wird deutlich, dass Sie nicht wissen, wie. Es wird auch deutlich, dass Sie nicht wissen, was Sie wollen. Die von Ihnen genannten Beispiele sind nämlich Teil einer breiten Angebotspalette von Möglichkeiten. Darüber reden wir jetzt einmal. ({1}) In der Schweiz werden Aktienoptionen zum Zeitpunkt der Gewährung besteuert. Wenn Sie die Option nicht ausüben, haben Sie einen persönlichen Nachteil, da Sie trotzdem der Steuer unterworfen wurden. Dies scheint mir ein Modell zu sein, welches für uns nicht sinnvoll ist. ({2}) Das andere gern genannte Beispiel betrifft die Situation in den USA. Dort gibt es sehr wenige Aktienoptionen - das sind die, bei denen der Marktpreis sofort feststellbar ist -, die schon bei der Gewährung besteuert werden. Dabei besteht also dasselbe Problem wie in der Schweiz. Sie bekommen die Aktienoption und sind dann steuerpflichtig. Wenn Sie sie nicht ausüben, haben Sie eine Steuer auf etwas gezahlt, was Sie am Ende nicht als Gewinn verbuchen können. ({3}) Die andere Möglichkeit ist, dass Sie erst steuerpflichtig werden, wenn Sie die Aktie veräußern. Dafür nennen Sie die USA als leuchtendes Beispiel. Da kann ich Ihnen nicht folgen. In den USA gibt es eine Spekulationsfrist, die genauso lang wie bei uns in Deutschland ist, nämlich zwölf Monate. Wenn Sie Ihre Aktien innerhalb dieser zwölf Monate verkaufen, sind Sie voll steuerpflichtig zum Einkommensteuersatz, genauso wie in der Bundesrepublik auch. Wenn Sie danach veräußern, müssen Sie in den USA nur noch 20 Prozent Ihres Gewinns versteuern. In diesem Fall ist Deutschland ein leuchtendes Beispiel, denn das ist in Deutschland steuerfrei. Deshalb erscheinen uns die beiden in Ihrem Antrag gewählten Länder nicht als Beispiele dafür geeignet, wie wir in Deutschland Aktienoptionen besteuern sollten. ({4}) Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten 1998, kurz vor der Bundestagswahl, zur Motivation der Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion Optionen auf Ihre Umfrageergebnisse im März 2001 erhalten. ({5}) Sie wären jetzt pleite und die Optionen wären nicht mehr besonders viel wert. ({6}) Aber nach Ihrem Schweizer Modell hätten Sie sie bereits versteuert und dadurch Verluste gemacht. Die Steuern, die Sie gezahlt hätten, hätten Sie vielleicht dazu nutzen können, das riesige Haushaltsloch, das Sie uns hinterlassen haben, zu stopfen. Daran können Sie sehen, dass eine Option auf die Zukunft immer auch ein Risiko birgt. Wir wollen nicht, dass der Mitarbeiter dieses Risiko in jeder Hinsicht alleine zu tragen hat. Es gibt eine Menge Mitarbeiter, für die die Aktienoptionen in der Tat eine Möglichkeit darstellen, die viele auch nutzen. ({7}) Aber es gibt gerade jetzt viele in den neuen oder auch in den alten Unternehmen, die - nachdem sie sich darauf verlassen haben, dass sie ihre Optionen, die einmal viel wert waren, ausüben können, in der Hoffnung, dass sie ihnen Reichtum bescheren - in die Röhre gucken, weil die Kurse fallen und die Optionen nicht ausgeübt werden, sodass die Option, die als Ersatz für Gehalt zugeteilt wurde, eigentlich nichts wert ist. Es ist also noch immer ein Geschäft für Mitarbeiter, die ein besonders hohes Einkommen haben. Dafür ist es auch gut. Aber es ist kein Weg, der ohne weiteres für alle Mitarbeiter gangbar ist. Damit würde man manchen dem Risiko aussetzen, sein Gehalt auf die Zukunft zu setzen, aber keinen Gewinn für sich verbuchen zu können. ({8}) Als Grund für die bessere Besteuerung der Aktienoptionen nennen Sie auch die Mitarbeitermotivation. Ich bin mir nicht sicher, ob es in den mittelständischen Unternehmen, in denen es keine Aktienoptionen geben kann, keine motivierten Mitarbeiter gibt. Aber ich hoffe, dass Sie damit nicht meinen, dass, wenn die Kurse fallen, auch die Motivation fällt. Wenn die Motivation so unmittelbar an das Risiko des Kurses gebunden ist, kann das ja passieren. Wir sind froh, wenn Sie mit uns über Motivation und mehr Beteiligung von Mitarbeitern reden wollen, ({9}) weil wir das so verstehen, dass Sie mit uns endlich auch über die Gestaltung der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes reden wollen. ({10}) Denn dabei geht es vor allen Dingen um mehr Motivation für Mitarbeiter, um mehr Beteiligung, ({11}) um mehr Teilhabe am Sagen und im Bündnis für Arbeit jetzt auch um mehr Teilhabe am Haben. ({12}) Wir wollen mehr Chancen für die Teilhabe, ({13}) und das heißt nicht Optionen auf Teilhabe in der Zukunft, sondern heißt die sichere gesetzliche Garantie, dass Mitarbeiter durch mehr Beteiligung am Sagen und Haben in ihren Unternehmen motiviert werden. Das halten wir für den richtigen Weg. Wenn Sie sich daran beteiligen wollen, dann erwarten wir in diesem Sinne von Ihnen konstruktive Vorschläge. ({14}) Jetzt bin ich einmal gespannt, wie die F.D.P. nachher bei ihrem Antrag argumentieren wird. ({15}) Sie fordert, den Aktientausch im Falle der Unternehmensübernahme steuerfrei zu stellen, wenn ein Aktionär, der Aktien in einem bestimmten Unternehmen hält, andere zum Tausch angeboten bekommt. Mich freut, dass Sie nach Ihrem anfänglichen Widerstand gegen die gesetzliche Regelung von Übernahmen überhaupt jetzt eine gesetzliche Regelung in diesem Bereich wollen. Deswegen bitte ich Sie, abzuwarten, bis wir im parlamentarischen Beratungsprozess bei diesem Punkt sind. Die Besteuerung von Aktien beim Aktientausch ist im Einkommensteuerrecht ja geregelt; wir sehen uns also nicht einer Situation gegenüber, die eine sofortige Regelung erforderlich macht, weil etwas Neues auf uns zukommt. Ich habe den Eindruck, dass sich die F.D.P. mit ihrem Antrag dafür entschuldigen will, dass sie auf der Fehleinschätzung beharrte, wir brauchten keine gesetzliche Regelung der Unternehmensübernahmen in Deutschland, womit sie dazu beigetragen hat, dass viele deutsche Unternehmen in eine schwierige Lage gebracht wurden und noch werden. Wir wissen diesen Versuch einer Entschuldigung zu schätzen. Aber wir wollen diese Anträge dann mit Ihnen im parlamentarischen Prozess beraten, wenn wir zuvor die Meinung von Experten haben einholen können. Vielen Dank. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto Solms für die F.D.P.-Fraktion.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zuerst möchte ich auf den F.D.P.-Antrag zum Aktientausch im Zusammenhang mit Unternehmensübernahmen eingehen, auf den Frau Hauer gerade Bezug genommen hat. Wir haben uns übrigens nicht grundsätzlich gegen ein Übernahmegesetz gewandt, ({0}) sondern wir haben nur gesagt, dass man erst einmal wissen muss, was man regeln will, was man für regelungsnotwendig hält und welche Interessen dort geschützt werden müssen, bevor man sich an die Gesetzgebung macht, ({1}) anstatt auf jeden Fall etwas regeln zu wollen und erst dann darüber nachzudenken, was man regeln will. ({2}) Das war die erste Diskussion. Sie ist ruhiger geworden und jetzt auf einem vernünftigen Wege. Aber wir müssen nun von der Bundesregierung allmählich hören, was sie tun will; denn bald beginnt das nächste Wahljahr und dann wird sie nicht mehr agieren können, sodass wieder viel Zeit verloren gegangen sein wird. Jedenfalls ist an der Übernahme von Mannesmann durch Vodafone - das war der die Öffentlichkeit am meisten interessierende Vorgang - offensichtlich geworden, dass es immer mehr üblich wird, für die Übernahme von Aktien wiederum Aktien als Kaufpreis zu gewähren. Heute ist dieser Vorgang steuerpflichtig. In unseren Augen ist dies aber kein steuerpflichtiger Vorgang, da kein Barzufluss für den Betroffenen entsteht; er hat keinen Gewinn. Wenn die an einem solchen Aktientausch Beteiligten der Meinung sind, dass das gewählte Tauschverhältnis das richtige sei, dann heißt dies ja, dass es dem Marktwert entspricht. Er bekommt zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen höheren Wert als den Marktwert und deswegen ist das kein besteuerungspflichtiger Vorgang. ({3}) Langer Rede kurzer Sinn: Man sollte klarstellen, dass dies nicht zu versteuern ist; damit wäre wieder Rechtssicherheit geschaffen. Nun komme ich zu dem Antrag der CDU/CSU, in dem eine sehr viel kompliziertere Frage angesprochen ist. Zunächst einmal möchte ich Frau Hauer sagen, dass - Sie sind ja noch nicht so lange im Parlament; vielleicht werden Sie in Zukunft länger als Herr Riesenhuber und ich im Parlament sein - sich die SPD in der Vergangenheit gerade in der Frage der Vermögensbeteiligung immer auf die Position von Tariffonds, also von gewerkschaftsgebundenen Fonds, zurückgezogen hat. Das wollten wir nicht, weil es sozusagen Gesellschaftspolitik durch die Hintertür gewesen wäre. ({4}) Wir wollten hingegen den Weg eröffnen, tatsächlich zu mehr individueller Beteiligung der Arbeitnehmer am Unternehmenserfolg, aber auch am Unternehmensvermögen bzw. Unternehmenskapital zu kommen. ({5}) In der Zeit der alten Koalition sind eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet worden, insbesondere die drei Finanzmarktförderungsgesetze, mit denen wir den Weg in die Aktiengesellschaft eröffnet haben und die Möglichkeiten eröffneten, den Beteiligten Aktienoptionen zu geben. Das ist im Aktienrecht dann auch technisch einfach zu handhaben. Nun stellt sich die Frage, wann der besteuerungspflichtige Vorgang entsteht. Entsteht er bei der Gewährung der Option oder bei der Ausübung der Option? Wann entsteht ein besteuerungsfähiger Gewinn? Diese Fragen sind tatsächlich nicht einfach zu beantworten. ({6}) - Einen kleinen Moment, Herr Tauss. Beschäftigen Sie sich erst einmal selbst mit dem Problem, bevor Sie andere auffordern, Vorschläge zu unterbreiten. ({7}) Dazu gehört schon ein bisschen Sachverstand, nicht nur die dummen Sprüche, die Sie hier immer machen. ({8}) Das Problem ist, dass im Moment der Gewährung einer Aktienoption noch nicht klar ist, welchen Wert sie dem Betroffenen vermittelt; denn dahinter stehen Börsenentwicklungen, die hoch und runter gehen können. Das erleben wir ja tagtäglich. ({9}) Wenn Sie also im Zeitpunkt der Gewährung versteuern - zu welchem Preis auch immer; es ist eine offene Frage, ob er überhaupt feststellbar ist -, dann kann es sein, dass es eine Scheinbesteuerung ist, weil der Wert der Option anschließend dramatisch sinkt und zum Schluss vielleicht gar nichts mehr wert ist. Dann wäre der Arbeitnehmer der Betrogene; denn er hat eine Hoffnung auf etwas gehabt, was sich am Ende als Luftnummer herausstellt und nichts mehr wert ist. Diese Erwartung ist aber schon real versteuert worden. Wenn Sie es umgekehrt machen, wenn Sie den Gewinn bei der Ausübung der Option als Lohn versteuern - was nach meiner Auffassung dem heutigen Steuerrecht entsprechen würde -, dann hätten Sie natürlich unter Umständen eine sehr hohe Steuerpflicht, die die Attraktivität dieses Instruments dramatisch senken würde. Nun kann man so vorgehen, wie es Herr Riesenhuber zu überlegen gegeben hat, indem man ein Wahlrecht einräumt. Man kann aber auch vielleicht so vorgehen - das ist ein Weg, den ich im Moment präferieren würde, aber auf den ich mich nicht festlege, weil das eine noch offene Diskussion ist -, dass man bei Ausübung der Option besteuert, aber dann zu einem begünstigten Steuersatz. Dafür würde sich der hälftige Durchschnittssteuersatz anbieten, den wir auch in anderen Bereichen des Steuerrechts schon heute haben ({10}) - Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wieder haben!) und bei der Steuerreform im Vermittlungsverfahren - auch unter Mitwirkung der F.D.P. - wieder eingeführt haben. Das wäre ein Weg. Die Richtschnur für die Entscheidung müsste sein, wie wir mit diesem Optionsrecht im internationalen Wettbewerb stehen. Unsere Mitarbeiter sollen weder besser noch schlechter als in anderen Wettbewerbsländern behandelt werden, sondern etwa auf gleichem Niveau. Da es dort, wie Frau Hauer schon darstellte, unterschiedlichste Regelungen gibt, muss man einen Mittelweg anpeilen oder man muss darauf drängen, dass man zumindest in der Europäischen Union zu einer Richtlinie kommt, die diesen Bereich einigermaßen einheitlich regelt; denn nur so ist die von uns angestrebte Wettbewerbsneutralität zu erzielen. Die Motivation, der Reiz, die Attraktivität der Option muss erhalten und gesichert werden. Wir müssen im internationalen Wettbewerb ein faires Verfahren erreichen. Darüber sollten wir diskutieren. Ich bin sehr daran interessiert, die Vorschläge von Herrn Diller zu hören. Vielen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion des Bündnisses 90/ Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Einschätzung ist meiner Meinung nach klar: Ein zentrales Ziel und ein wichtiger Inhalt der Regierungspolitik ist die Schaffung und die Sicherung vor allem auch von hoch qualifizierten Arbeitsplätzen. Das muss ein ganz wesentliches Element der Politik sein, nicht zuletzt auch deshalb, weil diese Arbeitsplätze immer auch eine Voraussetzung dafür sind, neue Arbeitsplätze im Bereich weniger qualifizierter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen. Die Realität sieht im Moment so aus - das wird allgemein bedauert, muss aber anerkannt werden -, dass wir gerade im Bereich von hoch qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, zum Beispiel im Bereich Informationstechnik oder Biotechnologie, häufig Schwierigkeiten haben, Arbeitsplätze überhaupt zu besetzen oder - das ist auch ein wesentliches Problem - diese hoch qualifizierten Arbeitskräfte zu halten. Die Mitarbeiterbeteiligung ist ganz sicherlich ein wesentliches Element, ein wesentlicher Ansatz, den Unternehmen gerade in den genannten Bereichen die Möglichkeit zu geben, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in hoch qualifizierten Bereichen zu halten und die Kosten dafür auf einen vernünftigen Umfang zu begrenzen. Ich will hinzufügen, dass das Element der Beteiligung breiter Schichten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - also nicht nur der hoch qualifizierten Arbeitskräfte - am Produktivkapital für uns ein wesentlicher Beitrag dazu ist, die soziale Marktwirtschaft im modernen Sinne zu stärken, weil mit der Mitarbeiterbeteiligung neue Managementstrukturen, die beispielsweise mit abgeflachten Hierarchien arbeiten oder auch Teamarbeit mehr in den Mittelpunkt stellen, zukünftig vernünftig begleitet werden können. Deswegen ist diese Debatte, die auch hier geführt wird, notwendig. Sie ist bereits im letzten Jahr vom Bündnis für Arbeit aufgegriffen worden. Dazu gehört nicht einfach nur der gesamte Komplex der Mitarbeiterbeteiligung, sondern auch die Frage der Besteuerung von Aktienoptionen. Ich meine, es ist unumstritten, dass das bisherige Verwaltungshandeln und die bisherige Rechtsprechung gerade hinsichtlich der Besteuerung von Aktienoptionen nicht zufriedenstellend sind. Ich muss auch sagen, dass ich die Behandlung von Aktienoptionen als eine bloße Chance im Hinblick auf die Besteuerung von Arbeitnehmeraktien, wie wir sie heute vorfinden, nicht zwangsläufig für vernünftig halte und dass die Rechtssicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch der Unternehmen aufgrund der gültigen Rechtslage nicht optimal ist. Nun hat sich in der Praxis ein ganzes Set von unterschiedlichen Optionsmöglichkeiten entwickelt, auch so etwas wie virtuelle stock options, alle mit dem Ziel, Unwägbarkeiten in der Bilanzierung oder aber auch Nachteile im internationalen Vergleich abzufedern. Verbindliche Auskünfte seitens der Oberfinanzdirektionen wurden aber zurückgenommen. Dieser Zustand ist mittelfristig nicht zufriedenstellend. Herr Riesenhuber und Herr Solms, Sie lassen in Ihren Anträgen mehr Fragen offen, als Sie beantworten. ({0}) - Die richtigen Fragen, Herr Kollege Riesenhuber, sind bei dieser Regierung schon angekommen. ({1}) Sie wurden auch ins Bündnis für Arbeit eingebracht. Ich möchte die Fragen noch einmal aufgreifen, die Sie stellen, und auf die Antworten gefunden werden müssen. Was wollen Sie? Wollen Sie eine Anfangsbesteuerung? Wollen Sie eine Endbesteuerung? Wollen Sie die Gleichbehandlung mit Einkünften aus Kapitalvermögen? Wollen Sie steuerliche Privilegierung? Das alles ist offen. Insofern ist dies ein netter Anlass zur Diskussion. Aber ich meine, dass der Antrag der CDU/CSU in keiner Weise weiterhilft. ({2}) Allein die Überlegung, dass wir einen ganzheitlichen Ansatz brauchen, während auch heute noch die steuerliche Privilegierung von Führungskräften beim Erwerb von Aktien gilt, ({3}) scheint mir nicht auszureichen. Das ist eine sehr einseitige Sicht; denn die Beteiligung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern muss breitflächiger angegangen werden. Auch der internationale Vergleich - das hat Kollegin Hauer schon gesagt - hilft hier nicht weiter. Man weiß nicht ganz genau, was Sie wirklich vorschlagen, zum Beispiel die capital gain tax als einen umfassenden Ansatz, ja oder nein? Sie müssen da schon deutlicher werden. Das Problem ist, dass die Realität nicht einfach Lösungen auf dem Tablett präsentiert. Wir haben gesehen, dass die in Großunternehmen vorgesehene Anfangsbesteuerung beispielsweise bei Daimler-Chrysler im letzten Jahr dazu geführt hätte, dass Aktienoptionsprogramme überhaupt nicht wahrgenommen worden wären. Wir wissen auch, dass Startups die Besteuerung bei der Ausübung der Option - das kann man verstehen - nicht sonderlich gern sehen. Ich will damit sagen, dass Sie wie wir an einem Punkt angekommen sind, wo eines ganz deutlich wird: Es gibt keine einfachen Lösungen, wir brauchen differenzierte Lösungen. Dazu ist auch noch eine längere Diskussion nötig. Das, was der Bundesminister für Wirtschaft im letzten Jahr im Bündnis für Arbeit hinsichtlich eines Wahlrechts vorgeschlagen hat - Sie haben das auch zitiert -, ist sicher ein vernünftiger Ansatz, über den wir weiter diskutieren müssen. Es macht sicher Sinn, die Detaildiskussion im Bündnis für Arbeit sehr aufmerksam zu führen. Es macht aber überhaupt keinen Sinn, von Ihrer Seite jetzt einzuklagen, dass wir uns an den Empfehlungen der OECD orientieren sollten; denn sie ist selbst noch nicht so weit. Sie ist gerade in einem Zustand des fact finding bei grenzüberschreitenden Besteuerungsfragen. Wir wissen nicht einmal, ob die OECD die Grundsatzfrage, nämlich die schwierige Frage einer Harmonisierung insgesamt, wird lösen können. Eine Orientierung an den Punkten, die Sie in Ihrem Antrag vorschlagen, scheint mir doch verfehlt zu sein. Wir wissen auch, dass die Präsidentin des Bundesfinanzhofes für die zweite Jahreshälfte eine Grundsatzentscheidung in Sachen Aktienoptionsbesteuerung angekündigt hat. Ich rate davon ab, hier - wie Sie es gerne möchten Schnellschüsse zu produzieren. Aus Sicht meiner Fraktion ist es vielmehr notwendig, dass die Bundesregierung im Herbst die Prüfung von adäquaten Regelungen stärker voranbringt. Dieses Sammelsurium von Textbausteinen, das Sie in Ihrem Antrag geliefert haben, hilft da nicht weiter. Vielleicht können Sie Ihre Anträge in der Folgezeit etwas präzisieren. Das würde die Diskussion voranbringen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die Kollegin Dr. Barbara Höll, PDS-Fraktion, hat ihre Rede zu Proto- koll gegeben.1) - Ich sehe Einverständnis im Hause. Deshalb spricht jetzt der Kollege Lothar Binding für die SPD-Fraktion.

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es hat sich ein wenig eingebürgert, dass man im Laufe seiner Rede ein kleines Bekenntnis abgibt. Herr Riesenhuber hat vorhin von Stolz geredet. Das will ich auch tun. Früher wäre ich stolz darauf gewesen, ein Schweizer Konto zu haben. Heute, muss ich sagen, bin ich stolz darauf, kein Schweizer Konto zu haben. ({0}) Insofern sieht man, dass sich das mit dem Stolz im Laufe der Zeit wandeln kann. Ich möchte zu dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion eine Vorbemerkung machen. Der Antrag geht von Voraussetzungen aus, die man möglicherweise noch einmal überprüfen muss; denn rein logisch ist es so - das ist bekannt -, dass von falschen Voraussetzungen ausgehend sowohl Wahres als auch Falsches abgeleitet werden kann. Deshalb ist es immer äußerst gefährlich, eine gute Implikation auf einer falschen Voraussetzung zu gründen. Sie gehen grundsätzlich davon aus, dass eine hohe Gewinnerwartung auch realisiert wird. Seit zwei oder drei Jahren aber merken wir, dass das a priori nicht der Fall ist. Ich glaube, das muss man kritisch hinterfragen. Herr Riesenhuber ist in seiner Rede darauf eingegangen. Allerdings findet sich das in den vielen Thesen in Ihrem Antrag nicht explizit wieder. Ferner gehen Sie davon aus, dass wir weltweit genug qualifizierte Arbeitskräfte hätten, wenn wir doch nur am internationalen Markt mit stock options entsprechend gut operieren würden. Ich sage Ihnen: Das ist weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung. Zumindest notwendig, vielleicht sogar hinreichend wäre es aber, wenn wir noch einmal etwas genauer über die Ausbildung in diesem Land nachdenken würden; denn davon hängt ab, ob wir hier gute Arbeitskräfte haben oder nicht. ({1}) Der Kollege Riesenhuber hat auch gesagt - das möchte ich unterstützen -, dass Mitarbeiter Anteilseigner werden sollten. Das heißt, er hat das SPD-Programm gelesen. ({2}) Nun ist es ein bisschen einfach, zu sagen, das sei eine gute Idee, aber sie lasse sich nur schwer realisieren, sodass wir das Ganze an die Beamten weitergeben müssten in der Hoffnung, sie würden das Problem schon lösen. Ich glaube, damit würden wir es uns eine Spur zu einfach machen. Wenn man sich ein bisschen mit den Details befasst, dann merkt man, dass es sehr kompliziert ist. Dieser Meinung ist auch Herr Solms; denn wie wir eben in der Arbeitsgruppe besprochen haben, hat sich Herr Solms alle Optionen offen gehalten. ({3}) 1) Anlage 3 Er hat gesagt, wir sollten den Reiz der Optionen steigern. Jetzt frage ich, ob es ökonomisch wirklich klug ist, den Reiz dieser Optionen durch steuerpolitische Maßnahmen zu steigern. Wäre es nicht viel wichtiger, die Attraktivität dieser Optionen dadurch zu steigern, dass wir eine vernünftige Unternehmenspolitik machen, die verhindert, dass die Arbeitnehmer neben ihrem Vermögen auch noch den Arbeitsplatz verlieren? ({4}) Die Hoffnung auf diese Optionen birgt das große Risiko, dass man neben seinem Vermögen auch noch den Arbeitsplatz verliert mit der besonderen Qualität, dass man als stock options holder auf die Entscheidungen, die in diese Misere führen, möglicherweise überhaupt keinen Einfluss hat. Das halte ich für ein sehr großes Problem. In den letzten zwei Jahren haben viele Arbeitnehmer gesehen, dass dieses Risiko kein theoretisches ist, sondern ganz real für sie große Verluste bedeuten kann. Es gibt da einen Zusatztrick, nämlich dass die Manager, die stock options halten, das umsatzabhängige Einkommen definieren. Damit können sie einen dritten Hebel gegenüber den Arbeitnehmern in Gang setzen. Das halte ich für eine extrem große Gefahr. Das belgische Beispiel, das Sie, Herr Riesenhuber, angeführt haben, halte ich für besonders schwierig. Für das Schweizer Modell gilt das ebenso. Denn da wird man möglicherweise für ein Einkommen Steuern zahlen, das man niemals realisieren kann, ohne dass es zurückgezahlt wird. Das halte ich für eine sehr gefährliche Sache. ({5}) Noch eine weitere Bemerkung: Sie sagten, dass wir bereits seit einem Jahr über stock options sprechen. Das ist nur bedingt richtig; es ist ungefähr um den Faktor 300 falsch. Denn wir sprechen ja schon seit Mai 1998 über stock options. Mit Ihrem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich, dem KonTraG, wurden ja stock options erlaubt. Insofern ist Ihr Antrag von einer gewissen Ehrlichkeit geprägt. Denn Sie sagen jetzt: Dieses Gesetz war nicht hinreichend. Sie haben vergessen, ergänzend steuerpolitische Maßnahmen so zu formulieren, dass die Optionen die Attraktivität erlangen, die Sie ihnen heute gerne geben würden. ({6}) Es ist bedenkenswert, dass Sie nach drei Jahren immer noch nicht beschreiben können, wie Sie die wesentlichen Gesetzesvorhaben formulieren würden. Das ist natürlich nicht ganz unverständlich. Denn der einfache Hinweis in Ihrem Antrag auf internationale Zusammenhänge ist einfach nicht zielführend. ({7}) Wir wissen doch, dass in den USA und in Großbritannien im Vergleich zu Zentraleuropa völlig andere Unternehmensphilosophien vorzufinden sind. Wir haben andere Bilanzierungsgrundsätze. Bei uns gibt es im Aktienbereich eine andersartige Behandlung von Veräußerungsgewinnen, die in Deutschland nach einem Jahr immerhin steuerfrei sind. In sehr vielen anderen Ländern wird auf Kapitalerträge eine so genannte capital gain tax erhoben, was für die stock options holders einen großen Nachteil bedeutet. Wir haben aber auch eine ganz andere Aktienkultur. Insofern war es sicher ganz sinnvoll, dieses Gesetz damals zu verabschieden. Wir müssen feststellen, dass auch heute noch die Idee, solche Wetten auf die Zukunft abzuschließen, eher im gehobenen Management zu Hause ist als bei den Arbeitnehmern, die wir sehr gern stärker an den Unternehmen beteiligt sehen würden. ({8}) - Wenn es so wäre, dass man das eine tun kann, ohne das andere zu lassen, dann wären wir für irgendeinen konstruktiven Vorschlag Ihrer Seite sehr dankbar gewesen. Sie hätten nicht nur den Hinweis geben sollen, dass die Beamten das schon richten werden. ({9}) Man sollte auch noch ein paar Fallunterscheidungen vornehmen, die Sie, wenn die Vorschläge in Zusammenarbeit mit den Beamten erarbeitet werden, etwas genauer ansehen sollten. Neben den klassischen stock options haben wir die virtuellen. Allein der Begriff deutet schon darauf hin, dass wir uns hier im Wesentlichen im Bereich des Wettens und Hoffens befinden. Immerhin ist das ja eine Möglichkeit, um einen Aktienkauf zu tätigen, bei dem von vornherein klar ist, dass der Arbeitnehmer ökonomisch äquivalent durch Geld abgefunden wird und diesen Aktienkauf niemals realisieren wird. Wir müssen auch noch einmal genauer schauen, wie sich die genannten Vor- und Nachteile auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer verteilen. Natürlich, der Arbeitnehmer partizipiert, wie Sie schreiben, an der positiven Kursentwicklung. Aber er partizipiert eben auch an dem extrem hohen Risiko einer negativen Kursentwicklung. Sie sagen, die Motivation steige durch die Hoffnung auf eine positive Kursentwicklung. Aber was passiert denn? Ich kenne Betriebe, in denen die Mitarbeiter jeden Morgen zuerst einmal im Internet nachsehen, wie die eigene Unternehmensaktie steht. Die gehen dann, wenn die Aktie gefallen ist, total motiviert an die Arbeit und sagen: Jetzt wollen wir einmal so richtig gegen unseren Aktienverfall anrennen! Ich kann Ihnen sagen, dass das in einem Betrieb äußerst demoralisierend wirkt. Dass der Arbeitgeber dabei einen Liquiditätsvorteil hat, das ist eindeutig gegeben. Wir müssen darüber nachdenken, ob die Risikoverteilung und die Vorteilsnahme zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gerecht verteilt sind. Wie schon gesagt, geht der Arbeitnehmer ein größeres Risiko ein. Oft ist es auch so, dass durch Revisionsklauseln in Bezug auf einen Arbeitsplatzwechsel die Option verfällt und dadurch natürlich die Flexibilität des Arbeitnehmers eingeschränkt wird. Insofern lohnt es sich, genauer darüber nachzudenken, warum es eigentlich keinen Sinn macht, die Besteuerung Lothar Binding ({10}) von Aktienoptionen heute zu verändern, und zwar sowohl aus allokationspolitischen Gesichtspunkten - Aktienoptionen als Lohnbestandteile - als auch aus distributionspolitischen Gesichtspunkten, nämlich unter der Fragestellung: Wer hat eigentlich den größeren Nutzen, eher die tendenziell höher verdienenden oder eher die tendenziell niedriger verdienenden Mitarbeiter eines Betriebes? Die Antwort darauf habe ich implizit bereits gegeben. Wir wissen jedenfalls, dass Aktienoptionen im Vergleich zu normalen Gehaltszahlungen steuerlich weder begünstigt noch benachteiligt werden. An dieser Neutralität der Besteuerung bezüglich verschiedener Entlohnungsformen wollen wir festhalten. Wer ein wenig die Mathematik bemüht, wird schnell erkennen, dass unter Einschluss der Parameter Gehalt, Nettoeinkommen, Unternehmensteuersatz - Körperschaftsteuer plus Gewerbesteuer -, Zeitdifferenz zwischen Einräumung und Ausübung der Option, Einkommensteuersätze und Zinssatz eine notwendige Bedingung ist, dass der Unternehmensteuersatz und der Einkommensteuersatz des Mitarbeiters annähernd gleich sein müssen. Wer diese Überlegung richtig wertet, muss erkennen, dass mit der drastischen Steuersenkung, die wir bis zum Jahre 2005 abschließen werden, eine riesengroße Gestaltungsmöglichkeit dahin gehend besteht, schon jetzt den Lohn in Optionen umzuwandeln und diese Optionen im Jahre 2005 zu einem dann sehr viel niedrigeren Einkommensteuersatz zu realisieren. Dies ist fiskalpolitisch natürlich ein sehr großes Risiko. Hierfür noch weitere Steuervorteile zu verschaffen wäre volkswirtschaftlich absolut kontraproduktiv. Deshalb halten wir diesen Antrag gegenwärtig für nicht zielführend. Vielleicht erkennt die CDU/CSU, dass ihr Antrag inzwischen aufgrund der auf dem Neuen Markt gewonnenen Erkenntnisse obsolet geworden, also veraltet ist, und trifft die kluge Entscheidung, ihn einfach zurückzuziehen. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den beiden Anträgen, die wir jetzt behandeln, geht es um steuerrechtliche Fragen im Zusammenhang mit Aktien. Zunächst komme ich zu dem Antrag der Freien Demokraten, der letztlich darauf hinausläuft, dass Aktientausch im Rahmen von Unternehmensübernahmen steuerfrei wird. Herr Solms hat die Argumente vorgetragen. Wir können den Argumenten folgen und werden diesem Antrag unsere Zustimmung geben. Der sicher umfangreichere Antrag ist unser eigener. Darin geht es um die steuerlichen Rahmenbedingungen für die Gewährung von Aktienoptionen an Mitarbeiter. Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass dieses Instrument der Aktienoptionen in den letzten beiden Jahren sehr stark an Bedeutung gewonnen hat. ({0}) Zurzeit gibt es in Deutschland etwa 300 Aktiengesellschaften, die ihren Mitarbeitern solche Optionen eingeräumt haben. Es ist vielleicht interessant, darauf hinzuweisen, dass etwa 200 dieser Firmen am Neuen Markt notiert werden. Die Aussage, dies werde im Wesentlichen nur Führungskräften eingeräumt, ist - zumindest bezogen auf den Neuen Markt - so nicht richtig. Etwa zwei Drittel der Optionen, die dort gegeben werden, stehen allen Mitarbeitern offen. ({1}) Unser Antrag läuft darauf hinaus, die steuerlichen Rahmenbedingungen zu verbessern und dafür ein Gesetz einzubringen. Nun wird hier kritisiert, dass wir nicht selbst einen Gesetzentwurf eingebracht haben. Aber hierbei handelt es sich um eine Materie, die manche Diskussion erfordert. In dieser Debatte sind sowohl von unserer Seite als auch vonseiten der F.D.P. Ansatzpunkte für einen solchen Gesetzentwurf genannt worden. Wir haben etwa vorgeschlagen, ein Wahlrecht, bezogen auf den Zeitpunkt, wann versteuert wird, einzuführen. Herr Solms hat vorgeschlagen, den halben Steuersatz zu nehmen. Ferner gibt es die Idee - die bei uns diskutiert wird -, ob dann, wenn man sich dafür entscheidet, dass die Besteuerung zum Zeitpunkt der Ausnutzung der Option erfolgen soll, vielleicht das Halbeinkünfteverfahren gelten soll. Das alles sind konkrete Ansatzpunkte, die diskutiert werden müssen. Die Diskussion hat für mich gezeigt: Die freien Demokraten sind dafür, in dieser Richtung tätig zu werden. Die Grünen sind nachdenklich und sagen: Hier besteht der Bedarf, etwas zu tun. Die erste Rednerin der SPD, die Kollegin Hauer, brachte kritische Ansatzpunkte, bei denen vielleicht noch etwas passieren müsse. Der letzte Redner, Herr Binding, hat ganz klar gesagt: Wir sehen keine Notwendigkeit zum Handeln. Jetzt kommt Ihr Fehler. Ich weiß, Sie sind kein Mann der Wirtschaft. Ich glaube, Sie haben hier etwas nicht verstanden, Herr Binding. Sie sagen, es gebe im Grunde genommen keinen Unterschied zwischen einem Einkommen in Form einer Option und einem ganz normalen Einkommen; deshalb müsse dieses Einkommen auch ganz normal versteuert werden, wie es heute der Fall ist. Wenn Sie auch nur eine Stellungnahme eines Fachmannes durchgelesen hätten, dann wüssten Sie, dass es zumindest zwei Gesichtspunkte in der Diskussion gibt, die verdeutlichen, dass man diese Einkommensarten unterschiedlich behandeln sollte. Der eine Punkt: Wenn ich hundert Mark Lohn bekomme, dann sind mir diese hundert Mark sicher. Wenn ich aber auf einen Teil meines Lohnes verzichte und dafür eine Option bekomme, dann - das zeigt die aktuelle Entwicklung am Aktienmarkt - kann das null werden. Das heißt, unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit bietet sich durchaus eine unterschiedliche Besteuerung an. ({2}): Sie haben in diesem Moment bereits Verzicht geübt, das ist das Problem! Die Zuflussfragen haben ich gar nicht behandelt! Vorsicht!) Lothar Binding ({3}) Es gibt einen zweiten Punkt, den Sie wahrscheinlich auch nicht kennen. Wenn es darum geht, Gewinne zu versteuern, dann wissen Sie - hoffentlich; Sie sitzen ja im Fachausschuss -, dass ein privater Anleger Kursgewinne nach einem Jahr überhaupt nicht versteuern muss. Dies sind zwei Punkte , die zumindest in der Fachwelt zu dem ziemlich übereinstimmenden Urteil führen: Hier sollte man etwas verändern. Wenn Sie einmal einen Blick über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus werfen, werden Sie merken, dass Aktienoptionen kein deutsches Instrument sind. Sie werden in fast allen Industrieländern angewandt. Wir stellen fest, dass Aktienoptionen in fast allen dieser Länder steuerlich günstiger behandelt werden als bei uns. ({4}) - In fast allen. Sie können zwei Länder nennen, in denen das nicht so ist. Deshalb sage ich abschließend ganz deutlich: Es ist nun einmal ein Kampf um Führungs- und Fachkräfte der Wirtschaft ausgebrochen. Im Rahmen der Globalisierung ist dies ein internationaler Kampf. Um diese Fachkräfte zu gewinnen, misst man dem Thema Aktienoptionen weltweit eine immer höhere Bedeutung zu. Hier hat Deutschland zurzeit einen Standortnachteil. Mit unserer Initiative wollen wir erreichen, dass dieser Nachteil aufgehoben wird. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5318 und 14/3009 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe Einverständnis im ganzen Hause. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt, den TOP 19, auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Pieper, Ulrike Flach, Horst Friedrich ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Sonderprogramm zur Sicherung und Erhöhung des Niveaus der Landes- und Hochschulbibliotheken am Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland - Drucksache 14/5105 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Auch hier gibt es keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die F.D.P.-Fraktion ist die Kollegin Cornelia Pieper.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind beim letzten Tagesordnungspunkt und es geht wieder einmal um den Hochschulstandort Deutschland. Als die F.D.P.-Fraktion sich dem Thema der Situation der deutschen Hochschulbibliotheken gewidmet hat, waren wir uns nicht ganz darüber im Klaren, was für eine Welle der Entrüstung das bei den Betroffenen auslösen wird. Fakt ist, dass viele Bundesländer ihrer Verpflichtung zu einer ausreichenden Finanzierung der Landes- und Hochschulbibliotheken nicht mehr in erforderlichem Umfang nachkommen. An den Bibliotheken wird gespart. Das hat katastrophale Folgen, nicht nur für die fach- und sachgerechte Ausstattung der Bibliotheken, sondern eben auch für die Attraktivität des Wissenschaftsstandortes Deutschland. ({0}) Deswegen haben wir Ihnen einen Antrag vorgelegt, der mit „Sonderprogramm zur Sicherung und Erhöhung des Niveaus der Landes- und Hochschulbibliotheken“ überschrieben ist. Wir wollen, dass die Auffassung nicht nur der Bundesvereinigung der deutschen Bibliothekenverbände, sondern auch der Hochschulrektorenkonferenz in diesem Hohen Hause Gehör findet; denn am Beispiel der Bibliothekenfinanzierung wird deutlich, welche katastrophalen Folgen selbst eine nur geringfügige Senkung des Etats haben kann. ({1}) Parallel zu diesem Prozess verläuft nämlich die Verteuerung wissenschaftlicher Zeitschriften, bedingt auch durch den hohen Wechselkurs des Dollars. Nicht zu vergessen sind die gestiegenen Abgaben der Hochschulen an die GEMA und die Verwertungsgesellschaft Wort. Jede eingesparte Mark bekommen die Bibliotheken an den Hochschulen dreifach zu spüren. Das muss geändert werden. ({2}) Völlig zu Recht - das sehen wir genauso - erinnert der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Professor Landfried, daran, dass die Finanzierung der Universitätsbibliotheken den Hochschulen obliegt und deren Finanzierung natürlich in die Zuständigkeit der Länder fällt. Mit anderen Worten: Die Länder nehmen in der Tat in diesem Bereich im Moment ihre Aufgaben nicht genügend wahr. Aber ich kann diese Aussage auch nicht verallgemeinern. Nachdem im Land Hessen das Bund-LänderHochschul-Sonderprogramm ausgelaufen ist, hat die Wissenschaftsministerin bereits im letzten Jahr eine eigene Initiative gestartet und ein Bibliotheksförderprogramm mit einem Budget von 2,5 Millionen DM aufgelegt. ({3}) Das ist die eine Seite der Medaille. - Es gibt ein paar gute Beispiele, Kollege Tauss. Die andere Seite der Medaille ist aber, dass die großen Defizite in den Hochschulbibliotheken nicht allein dadurch gedeckt werden können, dass strukturstärkere Länder aus ihren Haushalten die Finanzierung vornehmen, während strukturschwache Länder beim Thema Wissenschaftsstandort Deutschland zurückfallen. Wir ergreifen in unserem Antrag Partei für die Landesbibliotheken. Das wissen Sie. Ich will nur ein Beispiel nennen: Die Zentral- und Landesbibliothek Berlin hat allein in diesem Jahr ein Defizit von 2,4 Millionen DM. Das heißt, es kann immer weniger aktuelle internationale Forschungsliteratur beschafft werden. Längst hat Berlin seinen herausragenden Standort als führende Bibliothek dieser Welt nach New York und Paris verloren. Die Direktorin hat es so kommentiert: „Wir sind nur noch lächerlich.“ Die Vernachlässigung der Bibliotheken führt aber auch zu längeren Studienzeiten; denn ohne Bücher und Fachzeitschriften kann ein ordentliches Studium nicht absolviert werden. Auch das Niveau der Lehre kann nicht auf internationalem Niveau gehalten werden. Das alles sind Alarmsignale. Deswegen haben wir vorgeschlagen, dass die Bundesregierung ab dem Jahr 2002 im Bundeshaushalt finanzielle Mittel in Höhe von 120 Millionen DM im Einzelplan 30 bereitstellt und für das Jahr 2001 ein Sofortprogramm mit 80 Millionen DM auflegt. Jetzt werden mich meine Kollegen von der Regierungskoalition - für die Regierung, aber auch für uns in der Opposition ist dies wichtig - fragen: Wie finanzieren wir das? Wir sind uns als Bildungspolitiker alle einig, dass wir bei der Wissenschaftspolitik Prioritäten setzen müssen. Ich nenne als erstes Argument: Das Glück, das passende Buch aus einer deutschen Bibliothek zu bekommen, darf nicht der richtigen Zahl auf einem Glücksrad überlassen werden. Zweites Argument - das ist mir wichtiger -: Unser Sonderprogramm braucht keine Sondermittel des Bundes, sondern es soll vernünftig in das Hochschulbauförderprogramm des Bundes bzw. in andere Wissenschafts- und Forschungsförderprogramme eingefügt werden. ({4}) Dies ist ein vernünftiger Finanzierungsvorschlag, auch unter dem Aspekt, dass die Mittel, die wir im Hochschulbauförderprogramm eingestellt haben, von einigen Bundesländern nicht abgerufen werden. Als Letztes will ich sagen: Die deutschen Bibliotheken haben einen Verfassungsauftrag, der sich in Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes widerspiegelt und als Meinungs- und Informationsfreiheit erklärt wird. Ich zitiere: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Wir haben die Aufgabe, dafür die Rahmenbedingungen zu schaffen. Vielen Dank. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Peter Eckardt.

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir sind hier im Hause, Frau Pieper, alle der Meinung, dass für Wissenschaft, Forschung und Lehre in Deutschland nicht genug getan werden kann. Die Universitäts- und Landesbibliotheken gehören als integraler Bestandteil der Wissenschaft zu den unverzichtbaren Einrichtungen, die Forschung und Wissenschaft fördern und die Studierenden bei ihrem Bemühen um Erkenntnisse unterstützen. Sie bedürfen deshalb der bildungspolitischen und finanziellen Hilfe. Das ist keine Frage. An den Bibliotheken ist aber die technische Entwicklung der Medien in den letzten Jahren nicht spurlos vorübergegangen. Man kann sich eine Unibibliothek heute nicht mehr allein als eine Aneinanderreihung von Regalen vorstellen, in denen verstaubte und ehrwürdige Bücher stehen. Die Förderung von Bibliotheken muss deshalb heute anders aussehen als in der klassischen Zeit, in der nur nach der Vollständigkeit der Bücher und Zeitschriften in den Regalen oder im Magazin gefragt wurde. Der F.D.P.-Antrag beschreibt im Wesentlichen die richtigen Tatbestände dieser klassischen Zeit, verkennt aber die Problemsituation von heute und vor allen Dingen die Zahlungspflichten, für die allein die Länder zuständig sind. Ich sage auch noch etwas zur Kreativität des F.D.P.-Antrages: Dieser Antrag ist mit dem Text einer Presseerklärung des Deutschen Kulturrates vom 22. Januar 2001 identisch, ({0}) der die Interessen der Verlage vertritt, den Bücher- und Zeitschriftenbestand der Bibliotheken im Auge hat und, mit einigen wissenschaftspolitischen Schlagworten versehen, dem Deutschen Bundestag vorgelegt wird. Die Interessenvertretung des Deutschen Kulturrates via F.D.P. ist legitim, hilft aber wenig bei der notwendigen Umstrukturierung der deutschen Bibliotheken zu nutzerfreundlichen Zentren, in denen mediengestützte Informationen, die auf die geänderten Bedürfnisse der Studierenden und Lehrenden eingehen, vorhanden sein müssen. ({1}) Ich will als Beispiel die Universität Hannover anführen. Diese finanzpolitisch budgetierte Hochschule hat ein finanzielles Interesse - sie hat entsprechende Beschlüsse gefasst -, von jeder Zeitschrift nur noch ein Exemplar zu abonnieren und es durch Medienpräsentation oder Kopieranforderung in jeder Institutsbibliothek über Drucker und Bildschirm für nachfragende Nutzer verfügbar zu machen. Die Vernetzung aller norddeutschen Universitätsbibliotheken ermöglicht eine sofortige Ausleihe aller Zeitschriften und Buchauszüge auch über große Distanzen. Das ist eine komfortable Angelegenheit. Die eingeforderte Verbesserung der Lehre an den Hochschulen bringt zwangsläufig didaktisch gut aufgearbeitete Materialien hervor, die, von den Dozenten selbst hergestellt, an die Studierenden verkauft werden und damit den Umfang der Buchausleihe verringern. Dies sind einige Gründe dafür, warum die Ausgaben für Bücher und Zeitschriften zurückgegangen sind. Ich gehe davon aus, dass diese Entwicklung weitergehen wird. Verlage werden sich in der Präsentation ihrer Produkte auf diese Entwicklung einstellen müssen, anderenfalls werden die Nutzer sie dazu zwingen. Ich glaube nicht, dass der Wissenschafts- und Forschungsstandort Deutschland unter dieser Entwicklung leiden wird, so wie es der F.D.P.-Antrag unterstellt. Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. ({2}) Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert deshalb schon seit einiger Zeit virtuelle Fachbibliotheken, in die nicht nur Bücher, sondern auch elektronische Medien, Online-Zeitschriften, Internetadressen, Videobänder sowie Mitschnitte von Vorlesungen und Seminaren eingestellt sind.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Eckardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Eckardt, Sie reden von virtuellen Bibliotheken. Ich stimme Ihnen insofern zu, als auch die Hochschulbibliotheken online gehen sollen. Ist Ihnen aber bekannt, dass die Kosten für Lizenzverträge, die von den Verlagen erhoben werden, so hoch sind, dass sie das Budget der Hochschulbibliotheken derart stark belasten, dass man eben gerade nicht sparen kann, wenn man die entsprechenden Lizenzen von den Verlagen erwirbt? Ein Abschluss entsprechender Lizenzverträge wäre aber notwendig, damit solche virtuellen Bibliotheken, wie Sie sie vorgeschlagen haben, entstehen können.

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Pieper, es ist mir natürlich bekannt, dass die Lizenzgebühren deutscher und ausländischer Verlage sehr hoch sind. Ich denke aber, dass sich die Verlage entscheiden und entsprechend umorientieren müssen, ob sie ihre Produkte dauerhaft für die Zukunft per Medien oder per Bücher präsentieren wollen. Im Moment tun sie meist noch beides und kommen damit in finanzielle Schwierigkeiten, die sie letztlich zu einer Entscheidung zwingen werden. Ich denke aber, dass in den nächsten Jahren entsprechende Entscheidungen fallen werden. Ich vermute, dass sich die Verlage fast ausschließlich auf Medienpräsentationen konzentrieren werden und dass damit das klassische Buch, das Zweitbuch in deutschen Bücherregalen - auch in den deutschen Bibliotheken -, auf dem Rückzug sein wird. ({0}) - Das müssen wir abwarten. Vielleicht treffen wir uns in ein paar Jahren wieder und können dann entscheiden, wer Recht gehabt hat. Natürlich sind mediengestützte Informationen sehr teuer. Natürlich ist auch ein hoher Dollar- und Pfundkurs nicht hilfreich. Aber die Formulierung „Die Nutzung des Internets verschleiert das eigentliche Problem“ hilft in der Sache wenig weiter. Ein Sonderprogramm des Bundes für die Bibliotheken, wie von der F.D.P. gefordert, wird den notwendigen Modernisierungsprozess nicht beschleunigen, sondern, denke ich, die bestehende Situation verfestigen. ({1}) Eine koordinierte Erwerbspolitik, eine stärkere Kooperation der Verlage und die Nutzung moderner Lieferanten von Dokumenten und Informationen sind die Wege, auf denen die deutschen Universitätsbibliotheken voranschreiten sollten. Hier haben sie die gemeinsame Hilfe von Bund und Ländern verdient, die auch geleistet wird. Ein Sonderprogramm ist dafür nicht sehr hilfreich. Danke schön. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Norbert Hauser für die CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ende November 2000 haben die Bibliotheksverbände ein Notprogramm zur Rettung der Hochschulbibliotheken von der Bundesregierung gefordert. Sie warnten vor einem Ausbluten der wissenschaftlichen Bibliotheken und appellierten, die „Strukturkrise der Bibliotheksetats“ zu überwinden. Seitdem ist aufseiten der Bundesregierung nichts passiert. Insofern ist der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.-Fraktion nur folgerichtig. ({0}) Dass dieser Antrag überhaupt gestellt werden musste, ist traurig, und zwar deshalb, weil die Bundesregierung und die Koalition die Sorgen und Nöte der Hochschulbibliotheken wieder einmal ignoriert haben. ({1}) Anstatt diese Sorgen und Nöte ernst zu nehmen, setzt die Bildungsministerin ganz andere Prioritäten. Am Dienstag nahm sie sich Guildo Horn zur Hilfe, um die neue BAföG-Kampagne vorzustellen. ({2}) Klamauk statt Programm, so verkauft die Bundesregierung ihre Politik. Edelgard haben wir deshalb trotzdem nicht lieb. ({3}) - Herr Catenhusen, Sie sind schon sehr bescheiden geworden, wenn es Ihnen reicht, dass man über Sie redet. ({4}) Zum Thema „Bildung durch Guildo“ möchte ich einen Kommentar aus der „Berliner Morgenpost“ vom 28. März 2001 zitieren: Deshalb wird die Kampagne ankommen - und auch, weil sein - gemeint ist Guildo Horn Bekanntheitsgrad in Deutschland bei 90 Prozent liegt. Womit er weit vor Edelgard Bulmahn liegt. Bei einer repräsentativen Umfrage konnten sich 10 Prozent an den Namen der aktuellen Bundesbildungsministerin erinnern. Macht zusammen 100 Prozent. Na, wenn das nichts ist. Edelgard Bulmahn und Guildo Horn als Center of Excellence zur Rettung des Standortes Deutschland! ({5}) - Herr Tauss ist auch wieder aufgetausst. Meine Damen und Herren von der Koalition, Frau Bulmahn gibt sich als Unterstützerin des Projektes „Bildung für alle“ und gibt vor, alles besser gemacht zu haben als ihre Vorgänger. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus. Hören Sie genau zu! Als 1997 Probleme mit der Ausstattung der Hochschulbibliotheken auftraten, hat Herr Rüttgers ein 40-Millionen-DM-Sonderprogramm ins Leben gerufen, ({6}) das die Bundesländer mit der gleichen Summe unterstützt haben. Sie haben dieses Programm nicht fortgeführt. Sie haben den Bibliotheken mit dieser Entscheidung keine Zukunft gegeben, sondern ihnen sogar die Zukunft genommen. ({7}) Die Bibliotheksverbände haben mit ihrem Notruf auf den Verfall der Bibliotheken und auf die nicht mehr korrigierbaren Folgen von entstandenen Fehlbeständen in den Buch- und Zeitschriftenbeständen hingewiesen. Reaktion der Bundesregierung: keine. Es gab kein Wort der Unterstützung und kein Sonderprogramm. Es geschah einfach nichts. Der Unterschied zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb ist: Die jetzige Bundesregierung redet, die alte hat gehandelt. ({8}) Bundesbildungsministerin Bulmahn möchte zwar, dass jeder Schüler einen Laptop bekommt. Aber Bücher und Zeitschriften für die Studenten interessieren sie anscheinend nicht. Am vergangenen Dienstag haben Berliner Schüler von Frau Bulmahn 250 Computer geschenkt bekommen, die natürlich nicht Frau Bulmahn und auch nicht die Bundesregierung, sondern die Firma Siemens bezahlt hat. Wie könnte es bei Ihrem Verständnis von Public-Private-Partnership auch anders sein: Sie lassen sich auf Kosten anderer die Siegeskränze winden. Ergebnis: Das Lob ist „public“, die Kosten aber „private“. Moderne Technologien allein reichen aber nicht aus. Um sich Wissen anzueignen, braucht man im 21. Jahrhundert sowohl die elektronischen Medien als auch die Printmedien. ({9}) Dr. Eckhardt, nur beides zusammen führt Wissenschaftler und Studenten zum Erfolg. In die Welt hinauszusurfen ist nicht genug. Nicht alles, was in Fachbüchern und -zeitschriften steht, ist auch im Internet verfügbar. Wer die Bibliotheken der Hochschulen vernachlässigt, vernachlässigt damit auch die Wissensvermittlung. ({10}) Sie wissen genau, Kollege Dr. Eckhardt, dass Onlinerecherchen über eine gewisse Zeit funktionieren. Wenn Sie aber wirklich einsteigen und das Wissen durch intensivere Recherchen verstärken wollen, dann greifen Sie doch wieder zum Buch und damit zum guten alten Papier, weil es so einfacher als am Bildschirm ist, etwas aufzunehmen. Noch schlimmer ist, meine Damen und Herren von der Koalition: Mit Ihrer Politik schaffen Sie Klassenunterschiede innerhalb der Studentenschaft. Konsequenz: Nachdem man schon im Gesundheitswesen von einer Zweiklassenmedizin spricht, folgt nun auch noch das Studium nach dem Geldbeutel. Denn wenn die Bibliotheken der Universitäten und Fachhochschulen nur noch unzureichend ausgestattet sind, kann nur noch der umfassend wissenschaftlich forschen, der sich Computer, Bücher und Zeitschriften leisten kann. Wer dazu nicht in der Lage ist, bleibt auf der Strecke. Hinzu kommt - das sollten wir nicht vergessen - der Zeitverlust. Längere Suche und Fernleihe führen nun einmal zwangsläufig zu einer Verlängerung der Studienzeit. Diplomarbeiten können durchaus an wissenschaftlicher Substanz verlieren, wenn nicht alle Quellen immer erreichbar sind. Wie heißt es in der Broschüre des BMBF anlässlich des Amtsantritts von Ministerin Bulmahn doch so schön: Wer Begabungsreserven erschließen will, wer Chancengleichheit anstrebt, muss dazu beitragen, soziale Barrieren abzubauen. ({11}) Anspruch und Wirklichkeit klaffen wieder einmal weit auseinander. Frau Bulmahn ist bekannt dafür, Großes anzukündigen und Kleines zu leisten. ({12}) Die Bundesregierung hätte bereits längst handeln können, wie es die betroffenen Verbände denn auch forderten. Handlungsbedarf gibt es genug; die Zahlen sprechen für Norbert Hauser ({13}) sich: Circa 30 Prozent der früher in den Hochschulbibliotheken erhältlichen Zeitschriften wurden inzwischen abbestellt, Dr. Rossmann. Fallen bei wichtigen Zeitschriften ein oder mehrere Jahrgänge aus, so ist eine wissenschaftliche Recherche nahezu unmöglich. Außerdem werden die auftretenden Fehlbestände später nicht wieder aufgefüllt und gehen für das Wissen somit verloren. 500 000 dringend benötigte Bücher konnten in den letzten Monaten nicht beschafft werden. Dies hat für die verschiedenen Hochschulbibliotheken unmittelbare Folgen. Beispiel Göttingen: Seit Mai 2000 konnte in Göttingen keine Monographie mehr angeschafft werden. Beispiel Hamburg: Weil die Hochschulbibliotheken ausbluten, wurde die Spendenaktion „Ex libris - Wissen spenden“ ins Leben gerufen, die innerhalb kürzester Zeit über 1 Million DM erbrachte. Beispiel Stuttgart: Die Universität Stuttgart hat seit Ende der 90er-Jahre rund 400 Zeitschriften abbestellt. Beispiel Bonn: In Bonn soll die Landwirtschaftsbibliothek geschlossen und ihre Bestände sollen zur Zentralbibliothek nach Köln verlagert werden. Folge: Die weltweit zweitgrößte Spezialbibliothek für das Fach Landwirtschaft steht vor dem Aus, obwohl gerade sie ein umfassendes Angebot von Büchern aus dem Bereich Lebensmittelsicherheit und -qualität hat. ({14}) - In die Zentralbibliothek, Herr Kollege. Sie ist dann keine Spezialbibliothek mehr. - Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion über Verbraucherfragen ist das ein geradezu abstruses Ergebnis der Politik im Umgang mit den wissenschaftlichen Bibliotheken. ({15}) Natürlich - Dr. Eckardt hat darauf hingewiesen - tragen auch die Länder Verantwortung für die Hochschulbibliotheken. ({16}) Da das so ist, muss man den Ländern die Möglichkeit für eine entsprechende Finanzierung lassen; man muss ihnen die Luft zum Atmen lassen. Nach einer Berechnung dieser Bundesregierung führt allein das Steuerbereinigungsgesetz 1999 in den Jahren 2000 bis 2003 zu einem Einnahmeverlust von fast 2,5 Milliarden DM bei den Ländern. ({17}) Angesichts der jetzigen Finanznot in den deutschen Hochschulbibliotheken kann man von einer geplanten Büchersammlung nicht mehr sprechen. Eine wirksame Ergänzung zum örtlichen Angebot könnte - darüber ist eben schon einmal gesprochen worden - eine virtuelle Bibliothek sein. Durch hochschulübergreifende Zusammenarbeit sollten vernetzte, bundesweit zugängliche virtuelle Schwerpunktbibliotheken entstehen, die multimediale Informationen digital abrufbar speichern. Wenn den Bibliothekaren das Geld für das Nötigste fehlt, dann können sie keine neuen Felder erschließen. Die Folge ist auch in diesem Fall, dass der Wissenschaftsstandort Deutschland den Anschluss verliert. Die Union hatte bereits am 20. Januar 1999 im Bildungsausschuss des Deutschen Bundestages gefordert, die Hochschulbibliotheken als moderne Kommunikations- und Dienstleistungszentren auszubauen. Vertreter der Koalition hatten dies auch zugesagt. Einmal mehr ist nichts geschehen. Je länger der Bund bei der Frage der Hochschulbibliotheken zögert, desto tiefer werden die Lücken im Bestand, die nicht mehr geschlossen werden können. Die Länder können dem Problem nicht allein begegnen; daher muss der Bund in die Bresche springen. Nichtstun führt zu Zeitverlust. Zeitverlust bedeutet noch stärkere Einschnitte in das Bibliothekssystem. Das Gebot der Stunde heißt, den Hochschulen zu helfen. Wenn Sie in Ihren Bibliotheksbeständen noch ein Stammbuch haben, dann schreiben Sie sich dies dort hinein. Gehen Sie dazu über, die Bibliotheken zu unterstützen, und hören Sie auf, nur darüber zu reden! Danke schön. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Loske für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich etwas zu Herrn Hauser sagen. Ich habe mir zum Beispiel den Satz „Natürlich ... tragen auch die Länder Verantwortung für die Hochschulbibliotheken“ aufgeschrieben. Ich darf darauf verweisen, dass dafür vor allen Dingen die Länder Verantwortung tragen. ({0}) Das sollte man feststellen. Ich möchte auf Guildo Horn eingehen. Musik ist bekanntermaßen Geschmackssache. Ich kann gut verstehen, dass Sie ein Problem damit haben, dass die Studentinnen und Studenten jetzt mehr Nussecken knabbern können, weil sie zu Ihrer Zeit am Hungertuch nagen mussten. ({1}) Nichts gegen Guildo Horn. Wenn Sie einen anderen Geschmack haben, dann akzeptieren Sie das bitte. Was die Popularität von Frau Bulmahn betrifft: Umfragen sind ohnehin immer so eine Sache. Herr Rüttgers Norbert Hauser ({2}) war zwar etwas bekannter - er hat wie verrückt auf die Pauke gehauen -, aber bildungspolitisch ist dabei nichts herausgekommen. Frau Bulmahn ist im Auftreten zwar etwas zurückhaltender, sie erreicht aber viel mehr. Die zweite Variante ist mir lieber. ({3}) Jenseits der parteipolitischen Auseinandersetzungen ist es doch klar, dass die Bildungspolitiker wollen, dass mehr Geld in den Bibliothekssektor fließt, während die Haushälter sparen wollen. Das ist doch wirklich kein Novum. Insofern sollten wir uns hier nicht wechselseitig beschuldigen - Herr Hauser, das geht an Ihre Adresse -, wir ließen zu, dass ein bildungspolitisches Proletentum heranwächst. Wir sind für Bildung. Man muss nur überlegen, wie man sie finanzieren kann und ob es nicht andere Potenziale gibt, die man ausschöpfen kann. Eines ist definitiv klar - das kann ich als Hochschullehrer sagen -: Die Misere der Hochschulbibliotheken ist mindestens schon zehn Jahre alt, vielleicht noch älter. Wir haben es hier also nicht mit einem neuen Phänomen zu tun, sondern mit einem Problem, das in den letzten fünf Jahren rasant an Bedeutung zugenommen hat. Im Folgenden möchte ich auf die Gründe der Finanzprobleme eingehen: Erstens. Die alte Vorstellung, dass die neuen Medien, die CD-ROMs, die Computer oder das Internet, das Buch oder die Zeitschrift ersetzen würden, trifft nicht zu. ({4}) - Ich rede hier für mich. - Es entwickelt sich eine Parallelstruktur, die sogar kostenintensiver ist. Das muss man feststellen. ({5}) Es gibt aber bei den Zeitschriften die Möglichkeit, verstärkt das Internet zu nutzen. Darauf gehe ich nachher noch ein. Zweitens. Auch die ungünstigen Wechselkurse sind problematisch. Gerade die Preise für die englischsprachige Literatur steigen, was zu Abbestellungen von Zeitschriften führt. Drittens. Was die allgemeinen Sparzwänge der Hochschulen betrifft, so ist überall zu beobachten, dass zuerst die Sachmittel - vorneweg die Mittel für die Bibliotheken - gekürzt werden. Das führt dazu, dass Zeitschriftenabonnements gekündigt werden müssen. Ich konzediere, dass es sich hierbei um problematische Entwicklungen handelt. Aber man muss auch auf folgenden Punkt hinweisen: Man kann zwar durchaus mehr Geld für Bibliotheken fordern. Aber man muss sich schon fragen, was der Bund und was die Länder unternehmen. Einfach aus der Opposition heraus zu fordern, der Bund solle mehr Geld geben, weil die Länder ihrer Aufgabe nicht nachkommen, halte ich nicht für angemessen. Das ist ja nichts anderes als eine Forderung nach Ersatzfinanzierung von Landesaufgaben durch den Bund. ({6}) Man muss ferner darauf verweisen, dass durch Strukturveränderungen erhebliche Einsparpotenziale zu realisieren sind; das wurde bereits von den Vorrednern gesagt. Diese Einsparpotenziale ergeben sich vor allen Dingen aus einer koordinierten Einkaufspolitik der Bibliotheken und aus einer gemeinschaftlichen Nutzung des Literaturbestandes. Man muss - mit Ausnahme der Bücher in Präsenzbibliotheken - die Bücher sowieso bestellen. Daher ist es nicht problematisch, wenn es ein zentrales Lager gibt und wenn mehrere Universitäten zumindest in den Ballungsräumen kooperieren. Es kann mir völlig egal sein, ob das Buch aus der Bibliothek meiner Universität oder ob es aus einem Pool stammt. Zentralarchive eröffnen diesbezüglich gute Möglichkeiten. Was den Erwerb von Lizenzen und die Schaffung von Einkaufskonsortien betrifft, gibt es sicherlich noch Möglichkeiten zur effektiven Zusammenarbeit. Langer Rede kurzer Sinn: Der Tenor dieses Antrages ist sicherlich zu begrüßen. Obwohl unsere Bibliotheken mehr Geld brauchen, halte ich es aber nicht für richtig, die Verantwortung allein auf den Bund zu schieben. Wir müssen schauen, wie man durch eine effizientere Mittelverwendung noch mehr herausholen kann, als es heute der Fall ist. Das Geld muss eben auch an den richtigen Stellen ausgegeben werden. Danke schön. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die CeBIT und die Leipziger Buchmesse waren gleichermaßen erfolgreich und machen eines deutlich: Auch im Zeitalter von PC und Internet hat das Buch eine große Zukunft vor sich. ({0}) Ein kulturelles Leben ohne Bücher ist und bleibt schlicht unvorstellbar. „Big Brother“ und Co. wie auch Guildo Horn können diese Lücke nicht schließen. Wichtig ist, dass alle Menschen einen breiten Zugang zur Literatur haben. Darin ist die Forderung nach einem ausreichend finanzierten öffentlichen Bibliothekswesen begründet. Das gilt analog für Wissenschaft und Forschung. Die Lektüre von Fachbüchern und Fachzeitschriften bestimmt auch im 21. Jahrhundert den Alltag von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, von Studentinnen und Studenten. Zur aufgabengerechten Infrastruktur eines modernen Wissenschaftssystems gehört daher die bedarfsgerechte Bereitstellung von Fachliteratur. Diese Infrastruktur - da gibt es nichts zu beschönigen - ist substanziell gefährdet. Darauf hat jetzt auch der Deutsche Kulturrat, der Spitzenverband der Bundeskulturverbände, in einer Resolution aufmerksam gemacht. Die Forderung des Deutschen Kulturrats nach einer Soforthilfe des Bundes für die Hochschul- und Landesbibliotheken ist als dringender Hilferuf zu verstehen, den wir nicht überhören dürfen. Die Lage der Hochschulbibliotheken ist katastrophal: Buch- und Zeitschriftenpreise schießen in die Höhe; die öffentlichen Wissenschaftsetats stagnieren. Die Folge sind Verzicht auf wichtige Neuanschaffungen und Abbestellungen von Fachzeitschriften. Auf diese Weise entstehen Lücken in Bibliotheksbeständen, die auch nachträglich nicht oder nur unter erschwerten Umständen geschlossen werden können. Universitäten, Fach- und Kunsthochschulen suchen heute händeringend Mäzene und Sponsoren, um die Schäden wenigstens zu begrenzen. So hat mich beispielsweise ein Spendenaufruf der Universitätsgesellschaft Potsdam erreicht, in dem allein für die Universität Potsdam im Jahr 2001 über fehlende Mittel in Höhe von 6 bis 7 Millionen DM geklagt wird. So hilfreich privates Engagement im Einzelfall sein mag, so klar ist doch auch, dass sich das Problem der chronischen Unterfinanzierung der Hochschulen auf diese Weise nicht lösen lässt. ({1}) Wir können und dürfen den Staat nicht aus einer Verantwortung entlassen und wir fordern, dass sich auch der Bund dieser Verantwortung stellt. ({2}) Der Bund ist mit seiner Steuer- und Finanzpolitik dafür mitverantwortlich, dass viele Länder ihren Bildungs- und Wissenschaftsetats den Hahn abdrehen. Der Bund hat daher die Pflicht, dort Soforthilfe zu leisten, wo irreversible Schäden der wissenschaftlichen Infrastruktur drohen. Die PDS unterstützt daher die Initiative des Deutschen Kulturrates und den heute hier behandelten Antrag der F.D.P.Fraktion. ({3}) Ein Umdenken ist auch zur Sicherung der Chancengleichheit im Studium dringend geboten. Es ist doch bereits heute so, dass Studierende, die jeden Pfennig umdrehen müssen, viel stärker unter dem katastrophalen Zustand der Hochschulbibliotheken leiden als jene, die sich fehlende Literatur mal eben im Buchhandel beschaffen können. Wenn die neuesten Auflagen von Lehr- und Fachbüchern nicht im Bibliotheksregal stehen und Zeitschriftenaufsätze mühsam und mit ungewissem Erfolg per Fernleihe bestellt werden müssen, schlägt sich dies in den Studienleistungen und auch in der Studiendauer nieder. Darauf hat Kollegin Pieper schon aufmerksam gemacht. ({4}) Studiengebühren - ich füge ausdrücklich hinzu: auch Benutzungsgebühren für Bibliotheksleistungen - verschärfen das Problem der Chancenungleichheit im Studium zusätzlich. Ein Ausbau der Finanzierung von Hochschulund Landesbibliotheken durch Gebühren wäre also der falsche Weg. ({5}) Meine Damen und Herren, Buchrestauratoren kämpfen erfolgreich dagegen, dass jahrhundertealte Schätze in unseren Bibliotheken zu Staub zerfallen. Die eigentliche Gefahr für den Literaturbestand unserer Bibliotheken geht allerdings von den Rotstiften der Sparkommissare in Bund und Ländern aus. Damit ist die PDS nicht einverstanden. Wir unterstützen daher die Forderung des Deutschen Kulturrates nach einem Sonderprogramm für die Hochschul- und Landesbibliotheken. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jörg Tauss für die SPD-Fraktion.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir diskutieren heute Nachmittag in der Tat ein wichtiges Thema an. Ich habe allerdings, Frau Kollegin Pieper, erhebliche Zweifel, ob der F.D.P.Antrag dem Thema insgesamt gerecht wird. Es ist doch keineswegs geklärt, dass die Bibliotheksprobleme nur mit Geld zu lösen sind, wie die F.D.P. es hier behauptet. Es ist ja interessant, wie sich die Zeiten ändern. Nun sagt sie: Wenn ein Problem besteht, soll der Staat dafür Steuermittel aufwenden. Bezüglich der Frage der Finanzierung haben Sie nur einen Hinweis im Zusammenhang mit den Gewinnmöglichkeiten beim Glücksrad gegeben; das habe ich mir aufgeschrieben. Diese müsste aber auf andere Füße gestellt werden. Der Antrag ist zwar in den Punkten, die direkt auf Vorschläge des Kulturrates zurückgehen, richtig, ({0}) - seien Sie doch nicht gleich wieder eingeschnappt -, er beinhaltet aber darüber hinaus auch noch den einen oder anderen Fehler. In der Begründung steht zum Beispiel, dass die Belastung durch eine Mehrwertsteuer in Höhe von 16 Prozent ein Problem darstelle. ({1}) Das ist in diesem Bereich kein Problem; denn für Printmedien gilt der reduzierte Mehrwertsteuersatz. Diese Unkorrektheiten nehmen dem Antrag leider etwas von seiner Ernsthaftigkeit. ({2}) Ich habe zwar gesagt, dass Geld nicht alles ist; trotzdem möchte ich noch einmal auf die Strukturprobleme zu sprechen kommen. Die finanziellen Faktoren bis hin zum gestiegenen Dollarkurs sind hier hinreichend beschrieben worden. Wenn wir aber eine Debatte über das gesamte Bibliothekswesen führen wollen, müssen wir tiefer gehen. Ihre Behauptung, Frau Pieper, das Internet führe in den Etats der Bibliotheken nicht zu Spareffekten, ist in dieser Einseitigkeit übrigens auch nicht richtig. ({3}) - Nein, sie ist natürlich nicht richtig. - Selbstverständlich führt dies auch zu Spareffekten, aber um diese zu erreichen, sind vorher Investitionen nötig. Das muss an dieser Stelle ganz klar gesagt werden. Aus diesem Grund unterstützt die Bundesregierung mit sehr viel Geld und verschiedenen Programmen einen Ausbau der Möglichkeiten von Bibliotheken, eine Internetpräsenz herzustellen. ({4}) - Stellen Sie doch eine Frage, wenn Sie etwas wissen wollen! Der Kollege Dr. Eckardt hat hier beispielsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft angesprochen, die mit sehr viel Geld virtuelle Fachbibliotheken fördert. Wir können uns doch darüber freuen, dass sich in diesem Bereich etwas tut. Mit der digitalen Bibliothek entstehen natürlich auch ganz neue, vernetzte Informationssysteme. Wir kümmern uns deshalb um Ansätze für künftige derartig vernetzte Informationssysteme und für die wissenschaftliche Fachinformation. Frau Kollegin Pieper, Sie wollten, wenn ich das recht in Erinnerung habe, das alles in der Amtszeit des Kollegen Rüttgers, der hier mehrmals zitiert worden ist, Herr Hauser, privatisieren. Damals haben Sie auch die elektronische Information als gesellschaftliche Aufgabe ausgliedern wollen. Sie wollten sie an die Verlage verscherbeln. ({5}) - Entschuldigen Sie bitte, genau das waren die Pläne, die wir vorgefunden haben. - Das hätte, wie bei den Fachzeitschriften, möglicherweise dazu geführt, dass die elektronische Fachinformation unbezahlbar geworden wäre. ({6}) Deshalb haben wir gesagt, wir bremsen das jetzt erst einmal, wir machen ein Moratorium, privatisieren nicht und holen die Verleger mit ins Boot; denn es ist notwendig, dass die Verlegerinnen und Verleger mit im Boot sitzen. Aber eines machen wir nicht, Frau Pieper - darauf liefe Ihr Antrag hinaus -: Wir machen kein Verlagssubventionsprogramm, finanziert durch Steuermittel. Das will ich hier in aller Klarheit sagen. ({7}) - Das ist eine Aufgeregtheit heute Nachmittag! Entspannen Sie sich doch, es ist gleich Wochenende! Die Hochschulen und die Universitäten müssen - der Kollege Loske hat darauf hingewiesen - gegenüber den Verlagen verstärkt Marktmacht entwickeln. Sie müssen zusehen, dass gemeinsam bestellt wird. Die Länder können das durchsetzen und sie tun es auch. Schauen Sie sich einmal die Zusammenarbeit benachbarter Universitätsbibliotheken an, zum Beispiel in Bonn und Köln. Dort wird sie allerdings vom Kollegen Hauser kritisiert. Auch in Bochum und Dortmund haben wir ein hervorragendes Beispiel einer intelligenten Zusammenarbeit der Bibliotheken. ({8}) Das sind gute Beispiele. Herr Kollege Loske hat in diesem Punkt völlig Recht: Das ist ein Weg, der weiter beschritten werden muss. Die Universitäten und Hochschullehrer sollten sich im Übrigen selbst stärker in diese Debatte einbringen. Es ist gut und wichtig, wenn das der Kulturrat tut, ({9}) dies sollten aber auch die Universitäten, die Hochschullehrer und die Bibliotheksverbände selbst stärker tun. In diesen Tagen zum Beispiel, Frau Pieper, fordern 12 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 120 Ländern in einem offenen Brief an die Verleger, und zwar ausgehend von den neuen Erkenntnissen im Bereich der Biotechnologie, dass wissenschaftliche Artikel nach geraumer Zeit über das Internet frei verfügbar sein müssen. Das halte ich für eine extrem wichtige Debatte. Dabei geht es nämlich um die Frage: Werden wissenschaftliche Erkenntnisse frei zur Verfügung gestellt oder kommen wir in die Situation, dass die mit sehr viel öffentlichem Geld, auch öffentlichem Forschungsgeld, errungenen Erkenntnisse von Verlagen mit wiederum knappen öffentlichen Mitteln zurückgekauft werden müssen? Das ist eine ernsthafte Frage, die wir uns stellen müssen, die aber natürlich bei den Verlagen gelegentlich zu Aufregung führt. Deswegen sage ich ganz deutlich: Niemand will den Verlagen etwas Böses. Aber die Frage, wie wir in einer Informationsgesellschaft zu fairen Preisen und fairen Bedingungen an den Rohstoff Information kommen, ist eine zentrale Frage, die über die Ausstattung der Bibliotheken natürlich weit hinausreicht. Kommen wir zurück auf eine Debatte, die wir hier schon einmal geführt haben, Herr von Klaeden. Als ich damals gesagt habe, der freie, ungefilterte Zugang zu Information zu fairen Bedingungen sei eine zentrale Frage, haben Sie noch gerufen, das sei Sozialismus. Das habe ich Ihnen nicht übel genommen, weil Sie sich mit dem Thema noch nicht sehr intensiv beschäftigt hatten. Aber ich glaube, heute sind wir zumindest in diesem Punkt weiter: Der freie Zugang zu dem Rohstoff Information ist eine zentrale, strategische Aufgabe, die allerdings allein über das, was Sie mit Ihrem Antrag vorgelegt haben, nicht bewältigt werden kann. Ich freue mich allerdings sehr auf die Debatte, die wir in den Ausschüssen miteinander führen können. Da werJörg Tauss den wir interessante Diskussionen haben. Dann wird die spannende Frage sein: Mit welchen neuen Mitteln gewährleisten wir diesen Zugang? Sagen Sie dann aber bitte nicht: über Glücksrad und Steuermittel. Lassen Sie uns versuchen, wieder Geld in ein System zu pumpen, das an einigen Stellen große strukturelle Defizite aufweist, die zunächst einmal beseitigt werden müssen. Ich wünsche Ihnen trotz Ihrer Aufregung ein schönes Wochenende. Schönen Dank. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5105 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe Einverständnis im ganzen Hause. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unser heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 4. April 2001, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.