Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, meine Damen und Herren. Die Sitzung ist eröffnet.
({0})
Am 30. Dezember 1998 verstarb nach schwerer
Krankheit unsere Kollegin und ehemalige Vizepräsidentin Michaela Geiger im Alter von erst 55 Jahren.
Der Deutsche Bundestag hat mit ihr eine Repräsentantin verloren, die in sich klassische Tugenden des
Parlamentariers vereinte: Leidenschaft in der Vertretung
des Volkes, Verwurzelung in den alltäglichen Problemen der Menschen, Augenmaß und Beharrlichkeit im
Verfolgen politischer Ziele, festen Glauben an die Lösungskompetenz der parlamentarischen Demokratie.
Am 29. September 1943 in Oberammergau geboren
und in Garmisch-Partenkirchen aufgewachsen, wurde
durch die kommunalpolitische Tätigkeit des Vaters ihr
Interesse an der Politik früh geweckt.
Der politische Lebensweg von Michaela Geiger von
der Kommunalpolitik in die Bundespolitik begann 1971
mit ihrem Eintritt in die CSU. 1980 zog sie über die
CSU-Landesliste zum erstenmal in den Deutschen Bundestag ein. Ab 1986 vertrat sie als Direktkandidatin den
Wahlkreis 212, den vor ihr Franz Josef Strauß innehatte.
Er wurde ihr zur politischen Heimat. Hier schuf sie sich
ihre Basis, die sie trug. Hier wurzelte ihre Volksnähe
und Volksverbundenheit. Herausragende Wahlergebnisse bestätigten immer wieder ihr intensives Engagement.
Michaela Geiger, die sich mit Leib und Seele als
Parlamentarierin fühlte, gehörte dem Deutschen Bundestag 18 Jahre lang an. In herausgehobenen Positionen hat sie in dieser Zeit die Geschicke unseres Landes
mitgestaltet: 1987 außenpolitische Sprecherin der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 1991 Parlamentarische
Staatssekretärin beim Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit, 1993 Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister der Verteidigung.
Ihr politischer Traum aber erfüllte sich mit ihrer Wahl
zur Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages am
16. Januar 1997; denn sie empfand das Parlament als das
Herz der Demokratie.
Beharrlich und eindringlich mahnte Michaela Geiger
nach innen dringend Reformen für das Parlament an. Sie
plädierte für mehr Frauen und junge Talente aus allen
Parteien, für mehr Spontaneität in den parlamentarischen
Abläufen, für weniger Hektik. Gleichzeitig warb sie
nach außen für mehr Verständnis für die Parlamentsarbeit und die Abgeordneten und rief energisch dazu auf,
jeder Geringschätzung oder Verächtlichmachung des
Parlaments entschieden entgegenzutreten.
Mit bewundernswerter Tapferkeit hat Michaela Geiger ihrer Krankheit trotzend bis zuletzt ihre parlamentarischen Aufgaben erfüllt. Wir gedenken ihrer in Dankbarkeit und Respekt. - Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, vor Eintritt in die Tagesordnung gibt es einige Mitteilungen. Für die verstorbene
Kollegin Michaela Geiger hat der Abgeordnete Matthäus Strebl am 12. Januar 1999 die Mitgliedschaft im
Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den uns
aus der letzten Wahlperiode bereits bekannten Kollegen
herzlich.
({1})
Sodann möchte ich einigen Kollegen nachträglich
zum 60. Geburtstag gratulieren. Kollege Eckhardt
Barthel ({2}) konnte ihn am 17. Dezember, Kollege
Norbert Geis am 13. Januar, Kollege Ulrich Irmer am
19. Januar und Kollege Dr. R. Werner Schuster gestern feiern. Ich gratuliere Ihnen nachträglich im Namen
des ganzen Hauses sehr herzlich.
({3})
Die Kollegin Antje Hermenau hat ihr Amt als Schriftführerin niedergelegt. Die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen schlägt als Nachfolgerin die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk als Schriftführerin gewählt.
Gemäß § 93a Abs. 6 unserer Geschäftsordnung können Mitglieder des Europäischen Parlaments an den Sitzungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der
Europäischen Union teilnehmen. Die Zahl und Zu1028
sammensetzung ist in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen und muß daher vom Plenum festgelegt werden.
Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, die Zahl
auf insgesamt 11 mitwirkungsberechtigte Mitglieder des
Europäischen Parlaments festzulegen. Davon entfallen
auf die CDU/CSU und SPD jeweils 5 Mitglieder und auf
Bündnis 90/Die Grünen ein Mitglied. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Für den Stiftungsrat der „Stiftung CAESAR“ müssen
drei neue Mitglieder des Bundestages benannt werden.
Die Fraktion der SPD, die eine Position an die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen abgetreten hat, benennt den
Kollegen Jörg Tauss, die CDU/CSU den Kollegen
Norbert Hauser ({4}) und die Fraktion Bündnis
90/Die Grünen den Kollegen Dr. Reinhard Loske als
Mitglieder für den Stiftungsrat. Ich gehe davon aus, daß
Sie mit diesen Benennungen einverstanden sind.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die Ihnen in einer Zusatzpunktliste
vorliegenden Punkte zu erweitern:
ZP1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.: Haltung der Bundesregierung zu den Vorkommnissen in der
Europäischen Kommission und deren Behandlung im Europaparlament ({5})
ZP2 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines . . . Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes ({6}) Drucksache 14/282 ZP3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren ({7})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus-Jürgen
Hedrich, Dr. Christian Ruck, Karl Lamers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Demokratische Entwicklung in Nigeria unterstützen - Drucksache 14/283 ZP4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU:
Äußerungen des Bundesumweltministers Trittin zu den
Kernenergieausstiegsplänen der Bundesregierung und
dem Verbot der Wiederaufarbeitung ohne Entschädigungsleistungen an Frankreich sowie der daraus entstehende außenpolitische Schaden und die großangelegten
Rücktransporte bestrahlter Brennelemente nach
Deutschland
ZP5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU: Beschäftigung fördern - soziale Sicherung verbessern - Flexibilisierung erhalten - Drucksache 14/290 ZP6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung der Bundesregierung zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Januar 1999 zur steuerlichen
Behandlung von Kinderbetreuungskosten und Haushaltsfreibetrag bei Ehepaaren im Zusammenhang mit der aktuellen Behandlung des Steuerentlastungsgesetzes und
seinen haushälterischen Auswirkungen
Des weiteren ist vereinbart worden, die Beratung des
Tagesordnungspunktes 11 - es handelt sich um die
Überlassung der Akten der Hauptverwaltung Aufklärung
des Ministeriums für Staatssicherheit - abzusetzen. Außerdem mache ich auf nachträgliche Ausschußüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam.
Der unbehandelte Teil des Koalitionsentwurfs zum Steuerentlastungsgesetz ({8}) soll nachträglich dem Rechtsausschuß
und dem Ausschuß für Kultur und Medien zur Mitberatung
überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN zum Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 Drucksache 14/23 überwiesen:
Finanzausschuß ({9})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Bildung und Forschung
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Der in der 9. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene
nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Finanzausschuß zur Mitberatung überwiesen werden.
Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Wiedereinführung
des Schlechtwettergeldes - Drucksache 14/39 überwiesen:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({10})
Finanzausschuß
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Jahresgutachten 1998/99 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 14/73 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({11})
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Oskar Lafontaine.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Der Sachverständigenrat hat ein umfangreiches Gutachten zur Beurteilung der wirtschaftlichen Lage vorgelegt
und zu einzelnen Entscheidungen der Politik Stellung
genommen und eigene Vorschläge gemacht. Für die
Bundesregierung will ich dazu folgendes erklären.
In der Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung
stimmen wir mit dem Sachverständigenrat überein. Wir
sind der Auffassung, daß die weltwirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Monate nicht spurlos an einer
Volkswirtschaft vorübergehen können, deren Exportanteil insgesamt gerechnet bei gut 25 Prozent liegt. Wir
haben diese Position bereits in der Mitte des letzten JahPräsident Wolfgang Thierse
res vertreten, weil wir der Auffassung waren, daß sich
bereits zu diesem Zeitpunkt abzeichnete, daß die deutsche Volkswirtschaft von den weltwirtschaftlichen Krisen beeinflußt werden würde und daß allzu optimistische
Aussagen hinsichtlich der weiteren wirtschaftlichen
Entwicklung nicht gerechtfertigt waren. Die jetzige
Entwicklung beweist dies. Sie ist im übrigen kein typisches deutsches Phänomen. Es wäre allzu billig, dies als
eine innerdeutsche Angelegenheit zu betrachten. In Gesamteuropa, ja in der ganzen Welt werden die Wachstumsprognosen korrigiert, und zwar nach unten.
Wir haben vor dem Sachverständigenrat eine Prognose für die wirtschaftliche Entwicklung dieses Jahres abgegeben, die natürlich auf bestimmten Voraussetzungen
fußt. Ich muß darauf immer wieder hinweisen, weil die
Beurteilung von Prognosen nur dann möglich ist, wenn
auch die Voraussetzungen einbezogen werden, auf denen diese Prognosen fußen. Vor dem Sachverständigenrat haben wir eine wirtschaftliche Entwicklung von real
plus 2 Prozent für dieses Jahr prognostiziert. Der Sachverständigenrat hat seine Prognose dann etwas später
ebenfalls so abgegeben. Insofern sind wir zunächst in
der Analyse der ökonomischen Rahmendaten mit dem
Sachverständigenrat einer Auffassung.
Es sind mittlerweile andere Prognosen abgeben worden. Wir von seiten der Bundesregierung halten es allerdings nicht für richtig, allmonatlich eine neue Prognose
aufzustellen. Wir glauben, daß hier eine Politik der ruhigen Hand erforderlich ist. Es ist nicht sinnvoll, jede Woche neue Vorschläge zu machen oder gar neue Prognosen bekanntzugeben.
({0})
- Herr Kollege Schäuble, das war jetzt keine Kritik an
Ihrer Politik als CDU-Vorsitzender. Das haben Sie mißverstanden. Es war eine generelle Aussage zur wirtschaftlichen Lage.
({1})
Bei den Fragen der grundsätzlichen Orientierung
der Wirtschaftspolitik - auch dies will ich in aller
Klarheit ansprechen - vertritt der Sachverständigenrat
eine andere Auffassung als die Bundesregierung. Der
Sachverständigenrat hat sich in mehreren Jahresgutachten dazu bekannt, einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik den Vorzug zu geben. Er führt die negative Entwicklung bei den Arbeitslosenzahlen in erster Linie darauf zurück, daß die Vorgängerregierung zwar
versucht hat, angebotsorientierte Politik zu machen, sie
aber in ihrer Politik nicht weit genug gegangen ist. Daher wäre es notwendig, diese angebotspolitische Orientierung weiter zu verschärfen und noch grundsätzlicher
vorzugehen.
Wir halten diesen Standpunkt nicht für richtig. Wir
halten es mit einem der großen Nationalökonomen Amerikas, Paul Samuelson, der sagt: Gott gab uns zwei Augen; eins für die Nachfrage und eins für das Angebot.
({2})
Jede Politik, die dies nicht berücksichtigt, ist unserer
Meinung nach falsch.
Wir sind vielmehr der Auffassung, daß die hohe Arbeitslosenzahl, die auch das Ergebnis der Wirtschaftspolitik der letzten Jahre ist, darauf zurückzuführen ist,
daß die Wirtschaftspolitik im Grundsatz falsch angelegt
war. Wer immer nur auf eine Seite schaut, bekommt die
in den letzten Jahren eingetretenen Ergebnisse: überbordende Staatsverschuldung und viel zu hohe Arbeitslosigkeit.
({3})
Ich möchte hier nur einmal sagen: Wenn die Wirtschaftspolitik beurteilt werden soll, dann muß man eben
auf die Arbeitslosenzahlen schauen. Wenn sich diese
positiv entwickeln, dann ist zumindest viel Veranlassung
gegeben, die wirtschaftspolitische Orientierung im
Grundsatz für richtig zu halten. Wenn die Arbeitslosenzahlen allerdings eine Rekordhöhe erreichen, wie es in
den letzten Jahren am Jahresabschluß immer wieder
festzustellen war, dann, so meine ich, ist Veranlassung
gegeben, den wirtschaftspolitischen Kurs grundsätzlich
zu überdenken. Dies tut die neue Bundesregierung mit
ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik.
({4})
Meine Damen und Herren, zu diesem Thema wird oft
die Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft herangezogen. Es wird immer wieder gesagt, daß uns diese
doch Hinweise geben könnte, wie wir zu mehr Wachstum und Beschäftigung kommen können. Das ist sicherlich richtig. Wenn man aber zu einer solchen Auffassung
gelangt, dann ist es gut, sich die amerikanischen Daten
vorurteilsfrei anzuschauen und daraus Konsequenzen zu
ziehen.
Ich betone noch einmal: Es ist in diesem Hause völlig
unstreitig, daß angebotspolitische Reformen notwendig
sind. Wir sagen aber - ich zitiere hier Herbert Giersch -:
Angebotspolitische Flexibilität ist notwendig, aber erst
eine hohe Gesamtnachfrage setzt sie in mehr Beschäftigung um.
({5})
Wenn wir die amerikanische Wirtschaftsentwicklung
betrachten, meine Damen und Herren, dann ist auffallend, daß diese im Jahre 1992 ebenfalls durch eine Rezession ging; die Arbeitslosigkeit nahm in diesem Jahr
um 1,5 Millionen zu. Danach traten auf einmal wieder
Wachstum und Beschäftigung ein, so daß die Arbeitslosigkeit bis zum heutigen Tag spürbar reduziert worden
ist.
Wenn man an diese Entwicklung vorurteilsfrei herangeht, dann wäre es doch notwendig, zu fragen: Was hat
sich denn im Jahre 1992 in Amerika im Vergleich zu
anderen Volkswirtschaften geändert? Hätte sich im Jahre 1992 dort vieles strukturell verändert, hätten beispielsweise die Angebotsbedingungen des Arbeitsmarktes eine fundamentale Veränderung erfahren, dann
wäre es selbstverständlich zulässig, richtig und auch
konsequent, auf diese Veränderungen hinzuweisen und
sie dann als Grundlage der Erholung der Volkswirtschaft
Amerikas heranzuziehen. Ich frage daher immer wieder,
wenn wir solche Debatten führen: Welche fundamentalen Veränderungen hat es in Amerika im Jahre 1992 auf
der Angebotsseite gegeben, die als Erklärung für die
hervorragende wirtschaftliche Entwicklung herangezogen werden können? Die Antwort ist immer die gleiche:
Es gibt keine Antwort, weil die Angebotsbedingungen,
insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, über lange Jahre
hinweg in Amerika die gleichen waren und weil sie daher nicht für den Abschwung und den Aufschwung der
Konjunktur in Amerika herangezogen werden können.
({6})
Grundsätzlich geändert haben sich im Jahre 1992 allerdings die makroökonomischen Rahmenbedingungen
in Amerika. Ich möchte zwei entscheidende Daten nennen.
Erstens hat die Geldpolitik reagiert und die Fiskalpolitik abgelöst, die in den 80er Jahren mit gewaltigem
Defizitaufbau über staatliche Programme und Steuererleichterungen entscheidende Impulse für die Konjunktur
Amerikas gegeben hat. Die Geldpolitik hat im Jahre
1992 grundsätzlich reagiert. Es kam zu einem Realzins
von null. - Ich möchte noch etwas zu einem Realzins
von null sagen: Eine solche Entwicklung gab es in den
letzten Jahrzehnten in Europa nicht. Das ist eine sachliche Feststellung, die man so oder so beurteilen mag. Ich
halte sie auch für konstituierend für die Veränderungen,
die sich seit dem Jahre 1992 in Amerika ergeben haben.
Die zweite Reaktion kam von der Fiskalpolitik. Es
gab im Jahre 1992 ein jahresbezogenes Defizit von 6 bis
7 Prozent. Im übrigen gab es eine ähnliche Entwicklung
in Großbritannien; ich weise aus Zeitgründen nur kurz
darauf hin.
Daraus leiten wir ab, daß es ein Fehler ist, bei der Erholung der Wirtschaft immer nur auf die Angebotsbedingungen zu starren. Wir befürworten angebotspolitische Reformen. Aber wenn wir die Gesamtnachfrage
aus den Augen verlieren und uns weigern, einen Politikmix zustande zu bringen, mit dem die Gesamtnachfrage gesteigert werden kann, dann werden wir die Arbeitslosigkeit in Deutschland und in Europa nicht abbauen können.
({7})
Ich möchte daher die Möglichkeiten nennen, mit denen die Gesamtnachfrage verbessert werden kann. Ich
beginne mit der Steuerpolitik, die zwischen uns streitig
ist. Es ist in der Demokratie kein Problem, wenn die
Steuerpolitik streitig ist. Die Wählerinnen und Wähler
urteilen letztendlich darüber - darüber haben wir schon
häufig gesprochen -, welche Steuerpolitik von der
Mehrheit unseres Volkes am ehesten akzeptiert wird.
Die Antwort, die wir auf diese Fehlentwicklung in den
letzten Jahren gegeben haben, korrigiert die Orientierung. Ein Politikmix, der auf dem Grundsatz basiert, daß
man, wenn man mehr Erfolg und bessere Bedingungen
auf dem Arbeitsmarkt erreichen will, die sozialen Leistungen kürzen, Lohnzurückhaltung üben und Unternehmensteuern senken muß, ist über viele Jahre hinweg
versucht worden. Mit ihm konnte aber auf dem Arbeitsmarkt eindeutig nicht der erwünschte Erfolg erzielt werden.
Wir setzen dagegen: Eine Steuerpolitik muß ausgewogen sein; sie muß auch der Mehrheit des Volkes
Rechnung tragen. Eine Steuerpolitik, die insbesondere
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einseitig belastet, ist falsch; sie ist letztendlich auch konjunkturschädlich. Deshalb haben wir hier angesetzt. Wir wollen
die Arbeitnehmer und Familien entlasten. Wir halten
dies für eine notwendige Korrektur, um zu mehr
Wachstum und Beschäftigung in Deutschland zu gelangen.
({8})
Im übrigen gibt der jüngste Beschluß des Bundesverfassungsgerichts nicht denjenigen Recht, die in den
vergangenen Monaten gegen diese Politik polemisch
Stellung bezogen haben.
({9})
Wir haben uns sowohl von Vertretern der Verbände als
auch von Experten Vorwürfe machen lassen müssen,
weil wir diese Orientierung haben und einen Schwerpunkt bei der Besserstellung der Familien gesetzt haben.
Das Bundesverfassungsgericht hat keinen konjunkturpolitischen Beschluß gefaßt. So einfach will ich es mir
hier nicht machen. Aber es hat sehr deutlich gemacht,
daß die Familien in den letzten Jahren schlecht behandelt worden sind, daß sie bessergestellt werden müssen
und daß der Staat die Aufgabe hat, die Familien so zu
stellen, daß die Kindererziehung auch steuerlich unterstützt wird. Dieser Beschluß ist richtig. Die Politik der
Bundesregierung geht in diese Richtung.
({10})
Ich möchte zur Fiskalpolitik und zur aktuellen Situation folgendes sagen: Wir glauben, daß in der aktuellen Situation im Rahmen der Fiskalpolitik keine falschen Impulse gegeben werden dürfen. Das gilt sowohl
für die Ausgabenpolitik als auch für die Steuerpolitik.
Wenn wir jetzt den Konsolidierungskurs dadurch verfolgen würden, daß wir in großem Umfange Ausgaben
kürzten, dann wäre das nach unserer Auffassung falsch.
Es wäre ebenso falsch - ich sage das auch in Abstimmung mit dem Bundeskanzler im Hinblick auf die aktuelle Diskussion -, eine Debatte darüber zu eröffnen,
welche Steuern demnächst erhöht werden sollten. Die
aktuelle Entwicklung bietet dafür keine Grundlage.
({11})
Ich bitte also darum, solche Debatten auch im Hinblick
auf die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu führen,
meine Damen und Herren.
({12})
Zweiter Punkt, Lohn- und Einkommenspolitik: Ich
spreche bewußt von Lohn- und Einkommenspolitik, weil
die Lohnpolitik allein natürlich diesen Sektor der
Volkswirtschaft nicht abdeckt. Auf Grund der strukturellen Veränderungen der letzten Jahre ist auch die Einkommensentwicklung immer mit anzusetzen. Daß die
Vermögenseinkommen und die Unternehmenseinkommen sich in den letzten Jahren gut entwickelt haben, ist
nicht zu bestreiten. Der Sachverständigenrat hat dazu in
seinem Gutachten eine Umsatzrendite von über 6 Prozent angegeben, ausgehend von gut 1 Prozent zu Beginn
der 90er Jahre. Allerdings wird diese Zahl von der Wirtschaft bestritten. Aber ich möchte noch einmal auf diese
Entwicklung hinweisen, ebenso auf den Bericht der
Deutschen Bundesbank, die für die Jahre 1997 und 1998
eine Gewinnentwicklung angegeben hat, die von der
Einkommensseite her sicherlich positiv zu beurteilen ist.
Wahr ist aber auch, meine Damen und Herren, daß
die Realeinkommen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den letzten Jahren - mit Ausnahme der Jahre
1992/93 - in Gesamteuropa, aber auch in Deutschland
deutlich hinter der Produktivitätsentwicklung zurückgeblieben sind. Darüber muß man sprechen, wenn man
über die Empfehlung des Sachverständigenrates spricht.
In diesem Zusammenhang muß man auch etwas über die
Entwicklung in anderen Ländern sagen.
Es ist zu einfach, zu sagen: Wir brauchen eine maßvolle Lohnpolitik. Vielleicht sollte den einen oder anderen zumindest einmal die Frage beschäftigen, warum
eigentlich niemand für eine maßvolle Gewinnentwicklung plädiert.
({13})
Natürlich muß, meine Damen und Herren, in unserem
Volke auch der Grundsatz beachtet werden, daß bei der
Verteilung dessen, was gemeinsam erwirtschaftet wird,
nicht nur nach ökonomischen Kriterien, sondern auch
nach dem Kriterium der sozialen Gerechtigkeit vorgegangen werden muß. Das heißt, die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer brauchen ihren Anteil an dem gemeinsam erwirtschafteten Erfolg.
({14})
Dies ist im übrigen ökonomisch nicht unvernünftig
und kein Widerspruch, wie vielerlei Betrachtungen ergeben haben. Daher möchte ich für die Bundesregierung
klar sagen: Debatten über „maßvoll“, „moderat“ usw.
helfen überhaupt nicht weiter, weil solche Debatten dazu
führen, daß jeder darunter etwas anderes versteht. Wir
halten es vielmehr für sinnvoll, dafür zu plädieren - hier
stimmen wir mit dem Sachverständigenrat überein,
wenn ich an dessen letzte Gutachten denke -, daß sich
die Lohnpolitik grundsätzlich an der Produktivitätsentwicklung orientieren muß und daß sie gleichzeitig natürlich die Inflationsentwicklung im Auge haben muß.
Das sind vernünftige, überprüfbare Kriterien, die, wie
ich glaube, auch in der Arbeitnehmerschaft akzeptiert
werden können, deren Zustimmung wir genauso wie die
der Wirtschaft brauchen, wenn wir Wachstum und Beschäftigung ansteuern. Die Produktivitätsorientierung
der Lohnpolitik ist ein Grundsatz, dem sich die neue
Regierung verpflichtet fühlt, natürlich bei voller Respektierung der Unabhängigkeit der Tarifvertragsparteien. Aber wenn wir über gesamtwirtschaftliche Entwicklungen reden, dürfen wir die Lohn- und Einkommenspolitik nicht ausklammern; im Grundsatz können
wir als Regierung dazu sehr wohl unsere Auffassung
äußern.
Es bleibt als dritter Punkt, meine Damen und Herren,
die Entwicklung der Geldpolitik, die in der letzten Zeit
streitig war. Ich habe die amerikanische Entwicklung
herangezogen. Bei dieser Debatte werden auch im Ecofin-Rat immer zwei Argumente gebracht, die wir nicht
für schlüssig halten. Einmal wird darauf hingewiesen,
daß die nominalen und die realen Sätze in Amerika derzeit eher noch etwas ungünstiger sind als in Europa. Das
ist nicht zu bestreiten, das ist aber auch folgerichtig. Auf
der anderen Seite muß man sehen, daß wir die amerikanische Entwicklung deshalb nicht heranziehen können,
weil wir natürlich sehr gerne die Wachstumsraten der
letzten Jahre gehabt hätten, die es in Amerika gab, und
weil wir auch sehr gerne eine Arbeitslosenrate von nur
gut 4 Prozent hätten. In einer solchen Situation muß sich
die Geldpolitik natürlich anders als in einer Situation
verhalten, in der die Wachstumsraten deutlich niedriger
sind und die Arbeitslosigkeit weitaus höher ist. Insofern
führen solche Vergleiche und Debatten überhaupt nicht
weiter. Wenn man vergleicht, muß man eben auch bei
Wachstum und Beschäftigung die Daten heranziehen;
dann kommt man zu einem vernünftigen Ergebnis.
Dann wird eingewandt, in Japan sehe man letztendlich, daß eine Geldpolitik, die Wachstum und Beschäftigung unterstützt, keinen Erfolg haben könne. Dieser
Vergleich ist ebenfalls nicht weiterführend; denn in Japan - dies ist international unstreitig - ist die Entwicklung im Bankensystem die Grundlage dafür, daß dort auf
Grund vieler fauler Kredite das Auslagegeschäft der Geschäftsbanken seit einigen Jahren sehr stark zurückgegangen ist. Das hat mit der Geldpolitik überhaupt nichts
zu tun, sondern mit vielen viel zu risikobehafteten Krediten, die dort in den letzten Jahren gewährt worden sind
und die jetzt zu einem völlig anderen Verhalten der Geschäftsbanken geführt haben.
Es ist unstreitig, daß wir auf der angebotspolitischen
Seite auch in Deutschland weiterhin Reformen brauchen. Wer diese allerdings fordert, der muß konkret sagen, welche Reformen er vorschlägt. Ich verweise etwa
auf die Veränderungen der Angebotsbedingungen auf
dem Arbeitsmarkt, auf Zeitverträge, auf 630-MarkArbeitsverträge - die Diskussion hierzu muß demnächst
geführt werden - und auf unsere steuerpolitischen Reformen.
Auch die ökologische Steuer- und Abgabenreform
ist eine Strukturreform, die wir nach wie vor für richtig
halten. Es hat keinen Sinn, nach der aktuellen Mode jeweils einmal dafür und einmal dagegen zu sein.
({15})
Der Sinn dieser Reform, Herr Vorsitzender Schäuble,
die Sie in Ihrer Partei vergeblich durchzusetzen versucht
haben, ist ein klares strukturreformerisches Ziel. Die
Arbeitsplätze sind zu hoch besteuert, der Umweltverbrauch ist relativ zu niedrig besteuert. Im Interesse notwendiger Strukturreformen wollen wir das ändern, um
zu mehr Wachstum und Beschäftigung zu kommen.
({16})
Ich fasse zusammen: Angebotspolitisch bedingte Reformen und Strukturveränderungen sind notwendig; aber
erst eine hohe Gesamtnachfrage setzt diese Reformen in
mehr Beschäftigung um. Das ist die Leitlinie der Politik
der Bundesregierung und das Leitprinzip der sozialen
Gerechtigkeit. Was wir tun, steht weder in der Steuerpolitik noch in der Einkommens- und Lohnpolitik dem
entgegen. Diesem Leitprinzip fühlt sich die Bundesregierung verpflichtet.
({17})
Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat nun Kollege Friedrich Merz.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag hat seit
1963 Anspruch darauf, daß ihm das Sachverständigenratsgutachten durch die Bundesregierung zugeleitet wird
und sich die Bundesregierung anschließend mit den wesentlichen und tragenden Argumenten des Sachverständigenratsgutachtens auseinandersetzt.
Herr Bundesfinanzminister, das mehr als 450 Seiten
umfangreiche Gutachten des Sachverständigenrates für
1998/99 hätte eine wesentlich fundiertere und eine wesentlich tiefergehende Analyse und Auseinandersetzung
verdient.
({0})
Wenn es eines Beweises bedurft hätte, daß die von Ihnen herbeigeführte Ausplünderung des Bundeswirtschaftsministeriums ein struktureller Fehler in der Zusammensetzung der Bundesregierung ist, wenn es eines
Beweises bedurft hätte, daß heute hier nicht der Bundesfinanzminister, sondern der Bundeswirtschaftsminister
hätte stehen müssen,
({1})
um sich mit dem Sachverständigenrat auseinanderzusetzen, dann ist es Ihre Rede gewesen, Herr Bundesfinanzminister.
({2})
Ich werde auf einzelne Fragen noch zu sprechen
kommen. Lassen Sie mich mit der hier schon wiederholt
geführten Auseinandersetzung um die richtige angebotsoder nachfrageorientierte Politik beginnen. Herr Lafontaine, man kann in den Grundsätzen der Wirtschaftsund Finanzpolitik anderer Meinung als der Sachverständigenrat sein. Aber alles in Frage zu stellen, was in den
letzten Jahren - bis weit in die 80er Jahre zurück - einmal richtig war und nachhaltige Erfolge, insbesondere
auf dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland,
gebracht hat,
({3})
so wie Sie das gerade getan haben, ist durch eindeutige
Zahlen vor allem über den Arbeitsmarkt wirklich widerlegt.
({4})
Der Beginn Ihrer Regierungszeit ist relativ; Sie sind
nun schon seit einigen Monaten im Amt. Damit wir zu
Beginn des Jahres 1999 gemeinsam von den richtigen
Zahlen und den richtigen Grundlagen ausgehen, möchte
ich aus der Statistik zitieren, die der Sachverständigenrat
selbst veröffentlicht hat, um etwas über die Arbeitsmarktentwicklung der 80er Jahre bis zum heutigen Tag
zu sagen. Wir haben im Jahr 1983 in der alten Bundesrepublik Deutschland nach der Statistik, die in diesem
Gutachten veröffentlicht worden ist, 26,3 Millionen Erwerbstätige gehabt. Es gab im Jahre 1992, zu dem Zeitpunkt, wo der Höchststand beim Aufbau neuer Beschäftigung in der alten Bundesrepublik erreicht wurde, 29,4
Millionen Beschäftigte in Deutschland. Das ist ein Zuwachs von mehr als 3,2 Millionen Beschäftigten in der
Bundesrepublik Deutschland.
Herr Lafontaine, der Sachverständigenrat sagt dazu
ausdrücklich - ich zitiere das noch einmal, weil das
notwendig ist -:
Die in den achtziger Jahren erzielten Erfolge, die
erst abbrachen, als unter den Belastungen der Vereinigung die bis dahin verfolgte Linie nicht mehr
durchgehalten wurde, ebenso positive Erfahrungen
in anderen Ländern, widerlegen die Behauptung
vom Scheitern der Angebotspolitik.
({5})
Wenn Sie in der Bundesrepublik Deutschland eine
Zunahme an Beschäftigung erzielen wollen - wir alle
sind uns in diesem Ziel, das vom Sachverständigenrat
als wichtigstes Ziel der Wirtschaftspolitik definiert wurde, einig -, dann müssen Sie zumindest auch nachhaltig
das Augenmerk auf die Verbesserung der Angebotsbedingungen legen. Ich werde Ihnen an einem konkreten
Punkt nachweisen, daß Sie mit Ihrer gegenwärtigen
Steuerpolitik genau das Gegenteil von dem tun, was Sie
als ausgewogenes Gleichmaß zwischen nachfrage- und
angebotsorientierter Politik bezeichnen.
Das konkrete Beispiel: Sie versuchen durch Ihre
Steuerreform den § 3 c des Einkommensteuergesetzes so
zu verschlechtern, daß in Zukunft sämtliche Betriebsausgaben für Auslandsbeteiligungen von Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr
steuerlich geltend gemacht werden dürfen. Gleichzeitig
behaupten Sie, daß dies etwas sei, was der Vereinheitlichung der Bilanzierungsregelungen gemäß internationalen Standards entspricht. Herr Lafontaine, das Gegenteil ist richtig. Sie können in allen maßgeblichen Industrienationen, in den USA, in Großbritannien, in KaBundesminister Oskar Lafontaine
nada, in Japan, in Frankreich, in Spanien, in Dänemark,
in Belgien, in Italien und in der Schweiz, die Betriebsausgaben absetzen, die mit Beteiligungen im Ausland
zusammenhängen. Sie wollen dies unter dem Stichwort
„Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen“ in
Zukunft unmöglich machen. Das wird zur Konsequenz
haben, daß in der Bundesrepublik Deutschland Auslandsbeteiligungen über den Umweg des Steuerrechts
praktisch unmöglich gemacht werden.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Büttner?
({0})
Bitte, Herr Kollege
Büttner.
Herr Kollege
Merz, Sie haben vorhin auf die Entwicklungen auf dem
Arbeitsmarkt hingewiesen und dargelegt, daß nach Ihrer
Auffassung durch die Angebotspolitik ein Zuwachs an
Beschäftigung bis 1990 oder kurz darüber hinaus stattgefunden habe. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen,
daß ausweislich einer Antwort der Bundesregierung auf
eine Anfrage der SPD-Fraktion in der letzten Legislaturperiode die Zunahme von Arbeitsplätzen zwischen 1984
und 1994 in erster Linie auf die in dieser Zeit stattgefundene Arbeitszeitverkürzung zurückzuführen ist, die
durch die Tarifpolitik der Gewerkschaften erreicht wurde?
({0})
Würden Sie das bitte zur Kenntnis nehmen und diese
Antwort der Bundesregierung aus der letzten Legislaturperiode auch einmal heranziehen, in der festgestellt
wurde, daß dieser Zuwachs an Arbeitsplätzen genau mit
dem Rückgang der Arbeitsstunden, die die einzelnen
Arbeitnehmer geleistet haben, einhergegangen ist; die
Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden in diesem
Zeitraum ist nämlich gleichgeblieben und hat sich nicht
erhöht.
Herr Kollege Büttner,
Sie befinden sich mit Ihren Ausführungen in eklatantem
Widerspruch zu allen Fachleuten, die die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland beurteilen.
({0})
Wir haben in den 80er Jahren eine Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse in
der Bundesrepublik doch nicht durch die Umverteilung
von Arbeit, sondern durch das erhebliche Anwachsen
des Volumens der vorhandenen Arbeit erzielt. Ich nehme Ihre Frage allerdings zum Anlaß, ein Versäumnis
auszugleichen.
Ich habe vergessen, darauf hinzuweisen, daß die Beschäftigung in den 90er Jahren in der Tat trotz oder sogar wegen weiterer Arbeitszeitverkürzungen
({1})
auf eine Zahl von 27,8 Millionen Erwerbstätigen in den
alten Bundesländern und 6,5 Millionen Erwerbstätigen
in den neuen Bundesländern, im Saldo 34,3 Millionen
Erwerbstätige, zurückgegangen ist.
Herr Büttner, wir können uns die rückwärtige Betrachtung schenken. Lassen Sie uns in die Zukunft blikken! Wir sind uns in der Analyse nicht einig; aber der
von uns ausgetragene Streit ist akademisch. Entscheidend ist vielmehr, daß diese Bundesregierung im Rahmen der Bilanz ihrer Politik in spätestens zwei Jahren,
wenn die Zahlen vorliegen, nachweisen muß, daß die
Zahl der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik
Deutschland von 33,9 Millionen im Jahre 1997 auf mindestens - Herr Lafontaine hat die Zahl ja selbst genannt
- 35 Millionen gestiegen sein muß; denn das ist der von
Ihnen an Sie selbst gestellte Anspruch.
({2})
Ich komme noch einmal zurück auf die steuerlichen
Rahmenbedingungen. Ich habe es als besorgniserregend
empfunden, daß nach erfolgter Fusion von einem der
größten und traditionsreichsten Unternehmen der Bundesrepublik Deutschland mit einem großen französischen Partner - ich meine die beiden Unternehmen
Hoechst und Rhône-Poulenc - die Verlagerung der
Hauptverwaltung vom Standort Frankfurt-Hoechst
zum Standort Straßburg so gut wie keine Aufmerksamkeit in der Bundesrepublik Deutschland erzielt hat.
({3})
Es ist notwendig, darauf hinzuweisen, Herr Lafontaine, daß wir ein elementares Interesse daran haben müssen, daß große Industrieunternehmen und deren Hauptverwaltungen ihren Standort in der Bundesrepublik
Deutschland behalten. Wenn Sie durch die Verschlechterung der steuerlichen Rahmenbedingungen in einem
der wesentlichen von mir hier genannten Punkte dafür
sorgen, daß in Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland weitere große Industrieunternehmen ihren Sitz in
das Ausland verlegen, dann werden Sie das von uns allen gewünschte Ziel, nämlich eine Zunahme an Beschäftigung und eine Abnahme der Arbeitslosigkeit, in
der Bundesrepublik Deutschland, nicht erreichen.
({4})
Diese Sicht hat überhaupt nichts mit dogmatischer
Betrachtung von Angebot und Nachfrage zu tun, sondern sie hat etwas mit der Überlegung zu tun, wie die
steuerlichen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik
Deutschland für die Zukunft gestaltet werden sollen. Ich
fordere Sie deshalb auf: Wenn Sie es mit einer wenigstens gleichgewichtigen Betrachtung der Angebots- und
Nachfrageseite ernst meinen, dann geben Sie die Regelungen in Ihrem Steuerkonzept auf, die die internatioFriedrich Merz
nale Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Bundesrepublik Deutschland nachhaltig verschlechtern!
({5})
Es ist kaum zu verstehen, daß bei der Debatte über
das Jahresgutachten 1998/99 des Sachverständigenrates
eines der wesentlichen Kapitel und Themen, die dieses
Sachverständigengutachten geprägt hat, in Ihrem Redebeitrag, Herr Lafontaine, mit keinem einzigen Wort erwähnt worden ist.
({6})
Ich meine die am 1. Januar 1999 in Kraft getretene Europäische Wirtschafts- und Währungsunion und die
sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland.
({7})
Wenn Sie als Finanzminister schon die Kompetenz an
sich reißen, über das Sachverständigenratsgutachten im
Bundestag vorzutragen, dann haben wir doch einen Anspruch darauf, daß Sie wenigstens einige Sätze zu den
Konsequenzen sagen, die mit diesem wichtigen historischen Datum verbunden sind und auf die der Sachverständigenrat ausführlich eingegangen ist.
({8})
Ich will nicht nachkarten. Jeder von uns hat am Ende
eines Jahres Urlaub verdient. Aber es ist schon ein beispielloser Vorgang in der Geschichte der Europäischen
Union, daß Sie es bei einem so wichtigen historischen
Datum und zudem noch einen Tag vor Beginn Ihrer
Ratspräsidentschaft nicht für notwendig gehalten haben,
am 31. Dezember 1998 in Brüssel zu sein.
({9})
Ich sage noch einmal: Die meisten von uns haben Familie, und die meisten von uns haben am Ende des Jahres
Urlaub verdient. Aber die Vorgängerregierung hätte sich
so einen Fehler mit Blick auf das psychologische Klima
und das Miteinander der Freunde und Partner in der Europäischen Union zu keinem Zeitpunkt geleistet.
({10})
Das internationale Echo in den Zeitungen über Ihr
Fernbleiben am 31. Dezember - ich meine jetzt nicht die
Murdoch-Presse in Großbritannien, vor der wir Sie ja in
Schutz nehmen; ich meine die seriöse Wirtschaftspresse
in ganz Europa - ist doch verheerend gewesen.
({11})
Ich bedaure in diesem Zusammenhang sehr, daß der
Bundeskanzler jetzt nicht anwesend ist. - Aber die Art
und Weise, wie Minister der Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland mit den Partnern in der Europäischen Union umgehen, ist bis in die jüngsten Tage
hinein ein beispielloser Skandal.
({12})
Sie setzen das in Jahrzehnten zum Teil mühsam erworbene Vertrauen und die Freundschaft der Partner untereinander mit dem Stil, den Sie hier an den Tag legen,
aufs Spiel.
({13})
Aber ich will auf das Sachverständigenratsgutachten
zurückkommen. Sie müßten doch auf die Frage eine
Antwort geben, welche neuen Herausforderungen mit
der Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion
jetzt insbesondere für die Bundesrepublik Deutschland
und deren Wirtschaftspolitik verbunden sind. Der Sachverständigenrat sagt doch nicht ohne Grund, daß es eine
erhebliche Veränderung der makroökonomischen
Rahmenbedingungen für alle Teilnehmerstaaten gibt.
Herr Lafontaine, die Antwort, die Sie - nicht heute, aber
an anderer Stelle - mehrfach gegeben haben, daß dies
ein Grund sei, innerhalb der Europäischen Wirtschaftsund Währungsunion und darüber hinaus zu mehr koordinierter, mehr abgesprochener Finanzpolitik zu kommen, ist eine Antwort, die vor den harten Herausforderungen eines sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs davonläuft.
({14})
Sie müssen doch auf die veränderten Rahmenbedingungen in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion in einer ganz anderen Weise reagieren. Der
Sachverständigenrat gibt Ihnen dazu eine klare Aufgabe.
In der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion
ist doch nicht weniger Wettbewerb angezeigt, sondern
gerade jetzt, in einer Phase, in der die Stärken und
Schwächen der einzelnen Volkswirtschaften innerhalb
der Eurozone noch deutlicher zutage treten, wäre es
doch angezeigt, daß wir in der Bundesrepublik
Deutschland zu größerer Wettbewerbsfähigkeit ausholen, statt einen Bundesfinanzminister zu haben, der europäisch und international zu einer Begrenzung und Einengung des Wettbewerbs aufruft.
({15})
Der Sachverständigenrat sagt im übrigen etwas sehr
Deutliches zu Ihrer falschen These, daß die Verteilung
der Güter und der Einkommenschancen zwischen den
einzelnen Volkswirtschaften statisch sei und man nur eine möglichst gerechte Verteilung herbeiführen müsse.
Wörtlich:
Die Vorstellung, im Systemwettbewerb könne ein
Land immer nur auf Kosten anderer Erfolg haben,
- das ist Ihre Vorstellung ({16})
ist falsch. Der Systemwettbewerb zwingt vielmehr
zu konsequenten Bemühungen um Verbesserung
der Angebotsbedingungen und ermöglicht LernproFriedrich Merz
zesse durch Beobachtung der Erfolge, die andere
Länder bei entsprechenden Bemühungen erzielen.
Im Ergebnis können verbesserte Angebotsbedingungen überall zu verstärkter ökonomischer Aktivität, zu mehr Beschäftigung und zu höheren Einkommen führen, es sei denn, daß ein Standort im
Systemwettbewerb allzu weit hinter den anderen
zurückfällt und damit auf der Verliererseite bleibt.
({17})
Das ist genau die Gefahr, in der die Bundesrepublik
Deutschland zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht. Wir
sind in der Gefahr, in einem sich verschärfenden europäischen und internationalen Wettbewerb zu den Verlierern zu gehören, weil Sie, Herr Lafontaine, den Versuch
unternehmen, der Bevölkerung der Bundesrepublik
Deutschland - Sie haben mehrfach über die Mehrheit
gesprochen, die Sie in dieser Frage hinter sich bringen
müssen; das war aufschlußreich - mit leichter Hand und
sehr populistisch einzureden, es gebe in diesem sich verschärfenden internationalen Umfeld einen leichten Weg.
Diesen leichten Weg gibt es nicht. In der Bundesrepublik Deutschland müssen wir insbesondere die Investitionsbedingungen für Betriebe und Unternehmen und
die Arbeitsplatzsituation verbessern. Das ist in erster Linie eine nationale Aufgabe. Die Flucht in die europäische Beschäftigungspolitik - auch dazu hat der Sachverständigenrat ausführlich Stellung genommen -, ist der
falsche Weg. Herr Lafontaine, Sie finden ganz offensichtlich auch in dem von Ihnen jetzt geführten EcofinRat auf europäischer Ebene außerhalb von Deutschland
und Frankreich dafür praktisch keine Zustimmung.
Der Sachverständigenrat bestätigt, daß dies ein falscher Weg ist - wörtlich -:
Es wäre eine Fehlentwicklung, wenn versucht würde, über eine Beschäftigungspolitik auf europäischer Ebene doch wieder Druck auf die Geldpolitik
auszuüben. Damit könnte die Lohnpolitik sich wieder der eindeutigen Aufgabenzuweisung entziehen.
Die Voraussetzungen für eine verbesserte Beschäftigungslage würden damit verschlechtert.
Wenn Sie auf diesem Weg voranschreiten, die zunehmende Reglementierung der Märkte statt die zunehmende Wettbewerbsfähigkeit als Ziel zu setzen, dann
werden Sie eine nachhaltige Verschlechterung der Investitionsbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland
und damit eine nachhaltige Abschwächung des wirtschaftlichen Wachstums und mit dieser Abschwächung
eine nachhaltige Absenkung der Beschäftigung in
Deutschland erzielen.
({18})
Ich will zum Schluß - auch dies hätte Ihrerseits eine
etwas vertiefende Betrachtung verdient - auf das internationale Umfeld und insbesondere auf das Thema der
Wechselkursbeziehungen zwischen den großen Wirtschaftsräumen eingehen. Ich bin schon etwas stutzig
geworden, als Sie in der letzten Woche in Frankfurt anläßlich der Konferenz der asiatischen und europäischen
Finanzminister ausgerechnet mit dem japanischen Finanzminister ein großes Einvernehmen demonstriert haben. Ich möchte nicht, daß das japanische Beispiel zum
Vorbild für die Bundesrepublik Deutschland wird.
({19})
Wir haben die Fehlentwicklungen in den letzten Jahren
insbesondere in Japan, was die Probleme im Bereich der
Bankenaufsicht und im Bereich eines korporatistischen
Staats- und Wirtschaftssystems betrifft, vielleicht unterschätzt.
({20})
Aber auch die Vereinbarung im Hinblick auf eine
weitere Fixierung der Wechselkurse zwischen dem Euro, dem Dollar und dem Yen, die Sie, Herr Lafontaine,
vorbereitet haben, ist ein Weg, der vom Sachverständigenrat als ein Weg in die völlig falsche Richtung charakterisiert wird. Herr Lafontaine, die Behauptung von
Ihnen und anderen, daß wir es auf den Märkten mit einer
zunehmenden Zahl von völlig unkontrollierten Finanzbeziehungen bzw. Finanztransaktionen zu tun haben, ist
nicht zuletzt vom amerikanischen Notenbankpräsidenten
schon vor fast drei Jahren in der Bundesrepublik
Deutschland in einer bemerkenswerten Rede widerlegt
worden. Wir haben es auf den Weltmärkten pro Tag mit
Devisentransaktionen in Höhe von rund 1,5 Billionen
Dollar zu tun. Greenspan hat seit fast drei Jahren immer
wieder darauf hingewiesen, daß wir dies auf Grund der
zunehmenden Kompliziertheit von Finanzierungssystemen und der Zunahme der weltwirtschaftlichen Verflechtung als eine normale Entwicklung anzusehen haben.
Es handelt sich hier nicht um Kapitaltransaktionen,
die, wie Sie immer wieder behaupten, gegen einzelne
Volkswirtschaften gerichtet sind und - Stichwort Soros
- allein wegen der höheren Renditeerwartungen ganze
Volkswirtschaften zugrunde richten. Diese Betrachtung
ist falsch.
({21})
Es ist noch nie eine Volkswirtschaft allein wegen Devisen- und Geldmarkttransaktionen zugrunde gerichtet
worden. Es ist in der Wirtschaftsgeschichte mittlerweile
nachgewiesen worden, daß es noch nie einen Fall gegeben hat, in dem Volkswirtschaften allein durch den unbegründeten Abzug von Kapital zugrunde gegangen
sind. Es war immer, Herr Lafontaine, die mangelnde
Anpassung der realwirtschaftlichen Daten an die Herausforderungen einer sich verschärfenden Wettbewerbslage.
({22})
Es ist mittlerweile nachgewiesen, daß es im Rahmen einer Finanzkrise nicht einen einzigen Fall einer sogenannten Ansteckung eines Landes durch ein anderes geFriedrich Merz
geben hat, bei dem nicht auch in dem anderen Land
nachhaltige strukturelle Verwerfungen vorhanden gewesen wären, die die eigentliche Ursache waren.
Lassen Sie mich schließen. Sie werden mit Ihrem
Versuch, Wechselkurszielzonen zu definieren, schon
wegen der richtigerweise ablehnenden Haltung der
Amerikaner keinen Erfolg haben. Aber selbst wenn Sie
diesen Versuch weiter betreiben, sollten Ihnen das
Schicksal des Plaza-Abkommens im Jahre 1985, das
Schicksal des Louvre-Abkommens im Jahre 1987 und
schließlich die große EWS-Krise in den Jahren 1992/93
ein warnendes Beispiel sein.
Sie werden mit der Fixierung von Wechselkursen
nicht mehr Stabilität, sondern weniger erzielen. Der
Sachverständigenrat hat recht, wenn er sagt, daß bei internationalen Finanzexperten der Umstand, daß gerade
von deutscher Seite die Bestrebungen zur Einführung
von Wechselkurszielzonen unterstützt werden, Erstaunen und Befremden ausgelöst hat, zumal in Verbindung
damit die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank
in Frage gestellt werde. Der Sachverständigenrat wörtlich:
Diese Pläne sollten so schnell wie möglich ad acta
gelegt werden.
Wir stimmen dem Sachverständigenrat ausdrücklich
zu.
({23})
Legen Sie Ihre Pläne, internationale Wechselkurszielzonen festzulegen, so schnell wie möglich ad acta! Wenden Sie sich den wirklichen Herausforderungen der
deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in einer Weise
zu, daß, wie der Sachverständigenrat es zu Recht verlangt, ein in sich schlüssiges, konsistentes, langfristig
angelegtes wirtschaftspolitisches Programm, das der
Angebots- und meinetwegen auch der Nachfrageseite
verpflichtet ist und das eine klare marktwirtschaftliche
Perspektive hat, angelegt wird! Sorgen Sie, Herr Lafontaine, dafür, daß sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland auf diesem Weg so verbessern, daß wir in zwei Jahren von dieser Stelle aus ein Sachverständigenratsgutachten zu diskutieren haben, in dessen Statistik nachgewiesen ist, daß
die Beschäftigung zugenommen und die Arbeitslosigkeit
in Deutschland abgenommen hat.
Vielen Dank.
({24})
Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
In weiser Voraussicht, wie es sich für die fünf Weisen
geziemt, und sicherlich angesichts der Erwartungen gegenüber der neuen Bundesregierung hat der Sachverständigenrat sein Gutachten 1998/99 mit der prosaischen
Überschrift „Vor weitreichenden Entscheidungen“ versehen. Er hat das, Kollege Merz, sicher auch auf Grund
seiner Erfahrungen mit der alten Bundesregierung getan,
die diese Gutachten in regelmäßiger Folge nicht beachtet
und keine Konsequenzen daraus gezogen hat. Zumindest
sind dementsprechende Maßnahmen nicht erkennbar
gewesen. Ansonsten wären wir nicht in der Situation,
daß wir einen so großen Handlungs- und Reformbedarf
haben und einen solchen Problemstau beklagen müssen.
Ich glaube, hier gibt es noch einiges auszumerzen.
Wie dringend die Bewältigung der Herausforderungen an der Schwelle zur Jahrtausendwende sind, zeigt
ein kurzer Blick auf das globale Geschehen. Das ist eine
äußerst vielschichtige und widersprüchliche Situation.
Wir haben einen traumhaften Euro-Start und auf der
anderen Seite eine fragwürdige, taumelnde EUKommission.
({0})
- Ich habe nie etwas gegen den Euro gehabt, Kollege
Haussmann. Ich war bezüglich des Datums der Einführung skeptisch. Ich korrigiere mich aber gern, es hat
meine Erwartungen wie die vieler anderer in unserem
Land durchaus übertroffen.
Wir sehen die zunehmende Akzeptanz und die große
Nachfrage nach dem Euro. Wir wären gut beraten, diese
positiv aufzugreifen. Vielleicht ist auch das Nachfragepolitik. Es ist ein entsprechender Prüfauftrag an die EUKommission ergangen, inwieweit eine frühere Einführung von Euro-Münzen und Euro-Scheinen in Erwägung
gezogen werden kann. Ich glaube, es wäre hilfreich, die
gestiegene Akzeptanz, den psychologischen Mitnahmeeffekt zu nutzen. Es trägt auch zur europäischen Integration bei, wenn wir mit diesem Geld nicht nur rechnen, sondern früher auch praktisch umgehen.
Ich will auf die widersprüchliche weltwirtschaftliche
Situation eingehen. Wir haben zwar einen Rekord in der
Außenhandelsbilanz, aber dennoch verschlechterte
Wachstumsaussichten. Wir hatten ein gutes Jahresendgeschäft, also ein Anziehen der Binnennachfrage, und
dennoch eine Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt.
Wir erleben weltweite Großfusionen, aber die Zahl der
Firmenzusammenbrüche wächst ebenfalls. Der Unsicherheit über die Zukunft der Schwellenländer steht andererseits eine stabile Wirtschaftsentwicklung in den
USA gegenüber. Und last, but not least drohen Handelskonflikte zwischen Amerika und Europa, um nur die
wichtigsten Felder zu benennen.
In dieser Situation - ich glaube, es lohnt sich, darüber
nachzudenken - kommt es auf die verstärkte transatlantische Zusammenarbeit an; das heißt, daß wir hier den
kooperativen Wettbewerb organisieren müssen. Der
Euro ist eine angemessene europäische Antwort auf die
Globalisierung, und deshalb kommt es darauf an, das
transatlantische Verhältnis nicht zu belasten, sondern zu
befördern. Das heißt vor allen Dingen, die Handlungsaktivitäten der Akteure in Deutschland und Europa zu
sichern, die eigenen Potentiale zu stärken, die verläßliche Partnerschaft zu den USA auszubauen und die notwendigen Reformen in Europa voranzutreiben.
Für uns selbst heißt das, daß die Modernisierung
schneller als geplant kommen muß, die häufig genannten Hausaufgaben jetzt also zügig erledigt werden müssen. Die Steuerentlastungen von Bürgern und Unternehmen müssen schneller kommen, genauso wie die Reformen zur Alterssicherung und Gesundheitsvorsorge.
Auch das Bündnis für Arbeit steht in diesem Zusammenhang natürlich unter hohem Erfolgsdruck. Wir müssen die Verkrustungen im Grunde genommen auf allen
Ebenen auflösen, damit wir in den einzelnen Bundesländern, in Deutschland und in Europa wieder neue Handlungsspielräume gewinnen, zugunsten der Bürger und
Unternehmen.
({1})
Wir erleben in den letzten Monaten sehr anschaulich,
was Globalisierung auch bedeuten kann: Internationale
Währungsspekulationen haben schonungslos die
Schwachstellen in einer ganzen Reihe von Schwellenländern bloßgelegt. Es gab einen Dominoeffekt; die
Weltwirtschaft bangt regelrecht vor einem Kollaps.
Nach Japan und den ASEAN-Staaten sind Rußland,
Brasilien und China in den Strudel einer Finanzkrise geraten. Diese Krisen haben zerstörerische Wirkung, vernichten Kapital und Existenzen. Sie verdüstern natürlich
auch die Wachstumsaussichten für diese Regionen und
erschweren Ländern wie den USA und Deutschland den
Export.
Man kann diesen Krisen allerdings auch ein positives
Moment abgewinnen. Sie zeigen die Abhängigkeit der
wirtschaftlichen Entwicklung von funktionsfähigen
Märkten, einer stabilen rechtsstaatlichen Ordnung, von
Demokratie und Menschenrechten. Es ist erstaunlich, an
welchen südostasiatischen Staaten diese Herbststürme
vorbeigegangen sind: an Australien, an Neuseeland und
bemerkenswerterweise auch an Taiwan. Das spricht eigentlich für sich.
Die Entwicklung der Weltwirtschaft hängt heute stärker denn je von Nordamerika und Europa ab. Es ist daher auch die Aufgabe der Vereinigten Staaten von Amerika und Europas, der globalen Gefahr zu begegnen. Die
USA weisen am Ende eines Konjunkturzyklus eine bemerkenswert robuste Konjunktur auf. Bill Clinton
konnte gestern im Kongreß eine erstaunliche Bilanz
vorlegen. Dem Land geht es im Gegensatz zu seinem
Präsidenten ausgesprochen gut.
Dagegen verzeichnen wir in Europa einen abgebremsten Aufschwung. Die Prognosen mögen sich zum
Teil widersprechen, aber in einer Tendenz treffen sie
sich dann doch: Die Konjunktur fällt in unserem Land
bei weitem nicht so gut wie erhofft aus, ist nicht sehr
solide, sondern eher schwach. Ich will mich jetzt nicht
über die einzelnen Vorhersagen streiten, aber wir müssen uns darauf einstellen, daß wir mit einem geringeren
Wirtschaftswachstum zu rechnen haben. Das wirkt sich
natürlich auf die Beschäftigung aus. Denn normalerweise rechnet man immer damit, daß es erst ab einem
Wachstum von 2,5 Prozent spürbare Beschäftigungseffekte gibt.
Europa hat eigentlich keinen Grund, den Globalisierungsprozeß zu fürchten. Mit der dritten Stufe der
Wirtschafts- und Währungsunion ist der größte Binnenmarkt der Welt gestärkt worden. In diesem Zusammenhang braucht Europa natürlich eine abgestimmte
Politik, eine Harmonisierung im Rahmen der EU, eine
Politik der ökologischen Modernisierung und Nachhaltigkeit. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Euro sind,
wie gesagt, gut, und die Eigendynamik spricht für sich.
Der Bundesfinanzminister hat in den vergangenen
Tagen mehrfach auf die Notwendigkeit hingewiesen,
nicht nur in Europa, sondern weltweit die Währungsstabilität voranzutreiben. Starke Wechselkursschwankungen beschwören eine globale Abwertungsspirale. Ich
halte es für einen durchaus produktiven Vorschlag, den
Märkten mit der Schaffung von Wechselkurszielzonen
zusätzlich Orientierung zu geben. Eine Verpflichtung
zur Verteidigung bestimmter Wechselkurse sollte sich
daraus jedoch nicht ergeben. Es dürfte nicht einfach und
überdies sehr kostspielig sein, dem Auseinanderdriften
mehrerer Währungen gegenzusteuern. Zudem lehrt die
Erfahrung, daß Stützungskäufe selten auf längere Sicht
Erfolg haben.
Finanzkrisen wird es weiter geben. Um sie einzudämmen, muß der berstende Handel mit immer neuen
Finanztiteln schärfer kontrolliert werden. Die Einführung des Euro war ein wichtiger Schritt zu größerer
Währungsstabilität. Wir sollten diesen Schritt nun sichern und vollenden, bevor wir den Euro neben dem unvermeidlichen inneren Druck zusätzlich einem äußeren
Druck aussetzen.
Stabilität in Europa bedeutet aber nicht nur Geldwertstabilität. Es kommt vor allen Dingen auch darauf
an, wie wir mit dem Human- und Sozialkapital umgehen. Auch der Abbau der Arbeitslosigkeit braucht, so
wie der Euro, eine entsprechende Zielgröße, eine Orientierungsgröße. Gerade die Erfahrung der letzten Jahre
hat gezeigt, daß sich einzelne Länder angestrengt haben,
weil es diese Orientierungsgröße zur Teilnahme an der
Europäischen Währungsunion gegeben hat. Wir wären
gut beraten, auch die Arbeitslosigkeit einer solchen Bewährungsprobe zu unterziehen. Hierzu ist natürlich eine
europäische Beschäftigungspolitik erforderlich, weil
es darauf ankommt, die nationalen Aktivitäten, die nationalen Maßnahmepläne aufeinander abzustimmen und
miteinander zu verzahnen. In dieser Hinsicht hoffe ich,
daß der Gipfel in Köln einen europäischen Beschäftigungspakt verabschiedet.
In dieser Beziehung hat sich die deutsche EUPräsidentschaft ehrgeizige Ziele gesetzt, vor allen Dingen, was die Beschäftigungspolitik anbelangt, aber auch,
was die Fragen der Agenda 2000 betrifft; denn Veränderungen auch in der Struktur- und der Agrarpolitik sind
Voraussetzung dafür, daß wir in Europa vorankommen,
daß wir die EU-Osterweiterung bewältigen können.
Zur Situation der Wirtschaft im eigenen Land sagt der
Sachverständigenrat: Wir befinden uns zwischen Hoffen
und Bangen. Es gibt also keinen Streit mehr darum,
wem der Aufschwung gehört. Das war eine kuriose Episode vor dem Wahlkampf. Ich glaube, im Moment
Werner Schulz ({2})
streitet sich niemand mehr darum. Wir haben ganz andere Sorgen, und zwar vor allem die Sorge, ein entsprechendes Wirtschaftswachstum zu sichern, das zur Investitionstätigkeit anregt und die geforderte neue Beschäftigung bringt.
In diesem Zusammenhang hat die Bundesregierung
wichtige Schritte eingeleitet: die erste Stufe der Steuerreform, ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, den Einstieg in die ökologische
Steuerreform, der die Lohnnebenkosten senken und natürlich auch den ökologischen Strukturwandel voranbringen wird. Ich sage das hier nur stichwortartig, weil
in den wenigen Tagen der neuen Regierung doch schon
eine Menge in die richtige Richtung passiert ist.
Natürlich wird es in den nächsten Wochen darauf ankommen, daß wir das drängendste Problem, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, in den Griff bekommen. Es hat eben nicht nur eine begriffliche Erweiterung
des ursprünglichen „Bündnisses für Arbeit“, das Helmut
Kohl so leichtfertig ausgeschlagen hat, gegeben; vielmehr ist dieses Bündnis für Arbeit, Ausbildung und
Wettbewerbsfähigkeit auch eine inhaltliche Neubestimmung - also kein Pappkarton mit leeren Worten, sondern Ausdruck der Absicht der Bundesregierung, in den
nächsten Wochen auf diesem Feld weiterzukommen.
Natürlich gehört eine moderate Lohnpolitik mit dazu. Hier sind wir, wie ich glaube, gut beraten, den Empfehlungen des Sachverständigenrates zu folgen. Herr
Wirtschaftsminister Müller hat das ja auch betont: Es ist
im Grunde genommen eine Binsenweisheit - über die
man sich öffentlich immer wieder aufregt -, daß sich die
Lohnzuwächse am Produktivitätszuwachs orientieren
müssen, daß allerdings immer noch genug übrigbleiben
muß, um die Investitionstätigkeit und die Schaffung von
Arbeitsplätzen zu ermöglichen. Aber diese Lücke muß
dann auch ausgefüllt werden. Es kann natürlich nicht so
sein, daß die einen nur zum Geben und die anderen nur
zum Nehmen an den Tisch gekommen sind. So wird das
„Bündnis für Arbeit“ mit Sicherheit nicht funktionieren, sondern nur in einer verbindlichen Absprache zwischen Geben und Nehmen auf allen Seiten, also in einer
festen Vereinbarung, die sich dann in der Praxis bestätigen muß.
Verstärkte Anstrengungen sind auch beim Aufbau
Ost erforderlich. Ich bin froh, daß der Bundesfinanzminister noch einmal ordentlich nachgelegt hat, was die
Wirtschaftsförderung anbelangt.
Herr Merz, ich verstehe Ihre Enttäuschung, daß Sie
Oskar Lafontaine hier nun nicht als den großen Schuldenmacher - also als „Oskar Lafontaine-Keynes“ - anprangern konnten.
({3})
- Es ist für Sie sicherlich eine Enttäuschung, daß das
alles nicht so aufgeht wie gedacht und vorgestellt. Das
ist die Erfahrung des 27. September. Die wird sich
wahrscheinlich noch mehrfach wiederholen.
({4})
Es kommt meistens etwas anders, als man es sich überlegt hat. Ihre Kritik geht im Grunde genommen an dem,
was die Bundesregierung im Moment tut, vielfach vorbei.
Wie gesagt, der Osten macht mir Sorge, weil das
Wirtschaftswachstum dort zurückgeblieben ist, zumindest hinter der Tendenz, die wir im Westen zu konstatieren haben. Allerdings gibt es einen positiven Trend in
der Industrie. Die Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe hat hier zweistellige Zuwachsraten zu verzeichnen. Für 1998 weist das Jahresgutachten des Sachverständigenrates einen Zuwachs von 11,7 Prozent aus.
Ich bin in dieser Hinsicht zumindest optimistisch gestimmt. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, dann
wird auch der Aufholprozeß wieder in Gang kommen.
Wir sollten aber nicht bei einer Bewertung der Einkommenzuwächse stehenbleiben. Vielmehr wird es für
den Osten viel wichtiger sein - wichtiger als Einkommenzuwächse -, daß Arbeitsplätze geschaffen werden.
Hier gibt es ja bei vielen Belegschaften durchaus die Bereitschaft, sich entsprechend flexibel zu verhalten. Ich
denke an den Investivlohn und ähnliche Dinge, die im
Osten bereits erprobt worden sind, um die Zahl der Arbeitsplätze zu stabilisieren und sie auszuweiten.
Die öffentlichen Finanzen auf verschiedenen Ebenen
befinden sich durchaus in einem kritischen Zustand. Ich
kann gut verstehen, daß es Fragen in bezug auf den
Länderfinanzausgleich und dementsprechende Klagen
gegeben hat. Wir werden es über kurz oder lang mit der
Frage zu tun haben, ob wir nicht gut beraten wären,
wirtschaftlich stärkere Regionen in Deutschland zu
schaffen. Das wird sich allein schon durch die Entwicklung Europas ergeben: Die Einführung einer gemeinsamen Währung und das engere Zusammenwachsen Europas setzen wirtschaftlich starke und moderne Regionen
voraus. Das ist eine Frage an unser gesamtes föderales
System; es steht, glaube ich, hier vor einer ernsten Belastungs- und Bewährungsprobe.
Abschließend möchte ich noch betonen: Das, was wir
jetzt in Deutschland und in Europa zu leisten haben,
nämlich weitreichende Entscheidungen zu treffen, ist die
Herkulesaufgabe der Modernisierung der sozialen
Marktwirtschaft und ihre Erweiterung in Richtung auf
eine soziale und ökologische Marktwirtschaft, die sich
im weltweiten Wettbewerb behaupten muß.
({5})
Das Wort hat nun
Kollege Paul Friedhoff, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte dem Sachverständigenrat
ausdrücklich dafür danken, daß er in seinem Jahresgutachten zu Beginn der neuen Legislaturperiode die wirtschafts- und finanzpolitischen Notwendigkeiten deutlich
gemacht hat. Er ist seinen angebotspolitischen Konzeptionen treu geblieben: Dem Druck, daß auch er sich dem
Werner Schulz ({0})
neuen wirtschaftspolitischen Kurs in Bonn unterordnen
müsse, hat er standgehalten; er hat mutig und abgewogen am Programm der rotgrünen Regierung Kritik geäußert.
Bisher hat sich gezeigt, daß in der neuen Bundesregierung Oskar Lafontaine den Kurs in der Wirtschaftsund Finanzpolitik klar bestimmt. Nicht nur, daß er das
Wirtschaftsministerium durch die Übertragung der wirtschaftspolitischen Grundsatzabteilung an das Bundesfinanzministerium geradezu enthauptet hat: Der neue
Bundeswirtschaftsminister ist darüber hinaus nicht bereit
oder nicht in der Lage, eigene und, wie ich meine, dringend notwendige ordnungspolitische Akzente zu setzen.
({1})
Der amerikanische Ökonom Rüdiger Dornbusch hat
zum Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik gesagt:
Nachdem schon die Regierung Kohl wenig marktwirtschaftliche Reformen durchsetzen konnte, geht die neue
Regierung nun in die völlig falsche Richtung, aber das
mit sehr viel Energie. Dies ist, in Kürze, auch die Zusammenfassung des Jahresgutachtens des Sachverständigenrates. Ich teile durchaus die Kritik Dornbuschs und
des Sachverständigenrates an der alten Bundesregierung.
Die F.D.P. ist in der alten Koalition stets für mehr und
raschere marktwirtschaftliche Reformen eingetreten. Die
Bremser saßen im Bundesrat, angeführt durch Oskar
Lafontaine. Das muß man immer wieder sagen.
({2})
Wenn auch der Fortschritt in vielen Bereichen klein war,
so stimmte doch die Richtung. Im letzten Jahr haben wir
ein Wachstum von 2,8 Prozent erreicht. Bei der Arbeitslosigkeit - hier hat der Bundesfinanzminister eben
so getan, als seien die entsprechenden Maßnahmen alle
überhaupt nicht erfolgreich gewesen, und deswegen
müßten sie jetzt alles ändern - hat es eine Trendumkehr gegeben: Im Oktober 1998 gab es 300 000 weniger
Arbeitslose als im Oktober 1997.
Der Aufbau Ost kam weiter voran. Die Förderung
wurde auf hohem Niveau durchgehalten.
Die Kriterien zur Teilnahme am Euro wurden erfüllt.
Damit hat die alte Koalition eine zentrale Grundlage geschaffen, auf der die Integration in Europa in wirtschaftlicher wie auch in politischer Hinsicht aufbauen kann.
({3})
Die rotgrüne Bundesregierung ist dabei, diese Erfolge
zu verspielen. Dies ist um so tragischer, als der Aufschwung in diesem Jahr - wie Herr Schulz hier eben
schon bemerkt hat - zwischen Hoffen und Bangen - so
der Sachverständigenrat - stattfindet. Die Wachstumserwartungen sind geringer und damit auch die Chancen, mehr Arbeitslosen eine Perspektive in bezahlter Beschäftigung zu eröffnen. Gern läßt uns die neue Bundesregierung glauben, daß dies die Folgen der außenwirtschaftlichen Entwicklung, insbesondere der Asienkrise,
seien. Auf diese Leimrute sollten wir nicht gehen. Die
Gefährdung des Aufschwunges ist zunächst und vor allen Dingen hausgemacht.
({4})
Die neue Bundesregierung hat einen Fehlstart hingelegt, den inzwischen auch Bundeskanzler Schröder offen
zugibt. Aber das sind Krokodilstränen; er ändert nichts.
Tatsache ist: Die deutsche Wirtschaft leidet unter der
Unprofessionalität der neuen Bundesregierung.
({5})
Sie leidet darunter, daß heute etwas vorgelegt und morgen zurückgezogen wird.
({6})
Sie leidet darunter, daß die rotgrünen Ideologen Sachargumenten unzugänglich sind, nach dem Motto: Mehrheit
ist Mehrheit.
Arbeitsplätze werden in Unternehmen geschaffen,
wenn die Auftragslage gut ist, wenn Zukunftsperspektiven gesehen werden. Das Hü und Hott der neuen Bundesregierung hat aber zu einer grundlegenden Verunsicherung in den Unternehmen geführt.
({7})
Gerade im Mittelstand ist der Vertrauensverlust, den
die neue Bundesregierung verursacht hat, groß. Investitionen in Arbeitsplätze werden zurückgestellt; es wird
abgewartet; es werden ausländische Standorte geprüft;
es werden Betriebe ins Ausland verlagert.
({8})
50 Prozent der Wirtschaftspolitik sind Psychologie,
sagt man. Hier versagt die neue Bundesregierung völlig.
Hier hat sich wirklich etwas geändert. Die Wirtschaftspolitik unter Lafontaine bietet keine Klarheit. Deutschland startet mit wirtschaftspolitisch deutlich schlechteren
Voraussetzungen in das Jahr 1999.
Die neue Bundesregierung unter Lafontaine vollzieht
einen grundsätzlichen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik. Um den Abbau der hohen Arbeitslosigkeit zu erreichen, setzt der Bundesfinanzminister - wir haben das
hier eben wieder gehört - auf nachfragepolitische
Konzepte. Er wendet der Angebotspolitik, die auf
strukturelle Reformen setzt, um den Standort Deutschland zu stärken, den Rücken zu. Er sagt, man müsse die
Kaufkraft stärken, dann würde die Wirtschaft boomen.
Er sagt, das Ende der Bescheidenheit bei den Lohnabschlüssen sei angesagt.
({9})
- Er hat dieses gesagt. Er hat das vorhin relativiert. Aber
das ist die Botschaft, die draußen angekommen ist.
({10})
Lafontaine gaukelt den Bürgern vor, daß man sich am
eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann. Baron
Münchhausen alias Oskar Lafontaine regiert die deutsche Wirtschaftspolitik. Da werden sich die Wähler
noch auf manche Geschichte gefaßt machen müssen.
Wer kann wirklich glauben, daß Arbeitslose eingestellt werden, wenn die Löhne hochgetrieben werden?
Jeder weiß doch, daß Löhne für Unternehmen Kosten
darstellen und höhere Löhne Produkte verteuern. Jeder
weiß doch, daß Lohnabschlüsse in erster Linie die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen berücksichtigen müssen. Das ist kein Nebensatz,
sondern das ist die Grundvoraussetzung dafür.
Im internationalen Bereich hat Lafontaine Wind gesät
und Sturm geerntet. Seine Forderungen zur Zinspolitik,
nach einer Politik des leichten Geldes, nach einer internationalen Steuerharmonisierung und nach Zielzonen
bei Wechselkursen haben Deutschland international diskreditiert.
({11})
Lafontaine vertritt die falsche Politik der 70er Jahre.
Lassen wir uns nicht täuschen: Die USA, Frankreich
und Großbritannien sehen nicht nur in Oskar Lafontaine
den bösen Buben; vielmehr geraten die Bundesregierung
und damit auch Deutschland insgesamt in die Ecke des
Außenseiters und des Störenfrieds. Jahrelange vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Geldpolitik, in der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik werden zunichte gemacht. International - darüber gibt es keinen
Zweifel - ist in den letzten Monaten viel Porzellan zerschlagen worden.
Hinzu kommen nun die Pläne, aus der Wiederaufbereitung auszusteigen. Unsere verläßlichen Partner in
Europa, Frankreich und Großbritannien, werden vor den
Kopf gestoßen.
Gleichzeitig fordern wir die Senkung des deutschen
Beitrages zur EU, gleichzeitig will Schröder die ehrgeizigen Vorgaben der Agenda 2000 umsetzen, gleichzeitig
geht es darum, während der deutschen EUPräsidentschaft das Vertrauen der internationalen Kapital- und Finanzmärkte in den Euro zu stärken. All dies
paßt so nicht zusammen.
Die neue Bundesregierung hat viele Chancen. Sie
baut auf einem guten Fundament auf, sie erhöht aber die
Risiken. Unsere Konkurrenten im Standortwettbewerb
verbessern ihre Rahmenbedingungen, um Investitionen
und Beschäftigung zu fördern. Zu einer solchen Politik
der Verbesserung der Angebotsbedingungen raten fast
alle wirtschaftspolitischen Experten. Sie unterstützen
angebotspolitische Reformen, so wie sie auch die F.D.P.
in ihrem Wirtschaftsprogramm anregt. Die wirtschaftlichen Probleme Deutschlands sind nicht konjunktureller
Art. Das hat die EZB in ihrem ersten Monatsbericht gerade bestätigt. Nachfragepolitik durch mehr staatliche
Ausgaben ändert daran nichts. Notwendig sind weitere
strukturelle Reformen, notwendig sind bittere und unbequeme Wahrheiten und eine bittere Medizin, denn nur
sie ist wirksam.
Selbst hinter den eigenen Ansprüchen bleibt die neue
Regierung zurück. Betrachtet man die Steuerreform
unter dem Blickwinkel der Nachfrage, so hat die alte
Bundesregierung eine Nettoentlastung aller Steuerzahler
um 30 Milliarden DM geplant. Der Sachverständigenrat
hat die Notwendigkeit dieser grundlegenden Reform bekräftigt und ausdrücklich bestätigt, daß diese Nettoentlastung auch möglich sei. Die neue Bundesregierung dagegen will den Steuerzahler nur um 15 Milliarden DM
entlasten und verschiebt dabei diese Entlastung in eine
ungewisse Zukunft.
Selbst die eigene nachfragepolitische Zielsetzung
wird nur halbherzig verfolgt. Schröder und Lafontaine
betreiben weder Angebots- noch Nachfragepolitik, sie
betreiben weder moderne noch pragmatische Wirtschaftspolitik. Schröder und Lafontaine steuern keinen
klaren wirtschaftspolitischen Kurs, sie wurschteln sich
durch.
Die F.D.P. wird als Opposition jede Gelegenheit
wahrnehmen, um diese Defizite, die Mutlosigkeit und
auch die Schwäche der Wirtschafts- und Finanzpolitik
deutlich zu machen.
({12})
Wir werden weiterhin konstruktive Vorschläge machen,
so wie wir das bereits getan haben. Die F.D.P. weiß sich
dabei der Unterstützung wichtiger wirtschaftspolitischer
Experten, so des Sachverständigenrates, sicher. Darauf
sind wir ganz stolz.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat nun
Kollegin Barbara Höll, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Friedhoff, seit dem vergangenen
Freitag sehen die fünf Weisen schon ein bißchen alt aus.
Dank des Statistischen Bundesamtes wissen wir, daß die
deutsche Wirtschaft 1998 trotz der Turbulenzen in
Asien, Lateinamerika und Rußland mit 2,8 Prozent
Wachstum so stark wie nie zuvor zugelegt hat. Die
Ausfuhren sind um 5,9 Prozent gestiegen; auch hier hat
es nach dem Rekordjahr 1997 also einen Zuwachs gegeben.
Verfolgt man das etwas konkreter, so heißt das aber
auch, daß die Besitzstände der wirklich Reichen wieder
einmal enorm gestiegen sind: um 9 Prozent. Die Einkommen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind dagegen nur um 1,5 Prozent gestiegen. Also:
Wachstum an Produktion, Wachstum an Vermögen, und
was hat es bezüglich der Massenarbeitslosigkeit in diesem Lande gebracht? - Nichts. Ich finde es etwas dreist,
wenn Herr Merz hier sagt: Machen Sie aber bitte, bitte
weiter mit der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik in
Reinkultur. Nein, Sie müßten sagen: 16 Jahre haben wir
das versucht, 16 Jahre haben wir eine Umverteilung in
diesem Lande eingeleitet und durchgezogen, hören Sie
als neue Koalition endlich mit dieser Politik auf, und
setzen Sie da konsequente Zeichen!
({0})
Herr Lafontaine, Ihnen muß ich sagen: Die Worte Ihrer Rede hört' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Sie
haben auch heute die Kombination von nachfrageorientierter und angebotsorientierter Politik angemahnt. Sehe
ich konkret hin, welche Vorschläge Sie bezüglich Ihrer
Wirtschafts- und Steuerpolitik gemacht haben, die wir
jetzt diskutieren, so muß ich sagen, daß genau der Gedanke der Kombination fehlt. Wer forderte denn in letzter Zeit immer wieder zu Zurückhaltung bei den Lohnabschlüssen auf, obwohl Sie richtig gesagt haben, daß
gerade die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den
letzten Jahren viel zuwenig von dem abbekommen haben, was sie erwirtschaftet haben? Wenn wir das Steuerentlastungsgesetz diskutieren und wenn wir das Ökosteuergesetz diskutieren, so muß man erst einmal sehen,
was am Ende insbesondere für die Familien mit Kindern
übrigbleibt, was dann ermöglicht, daß die Nachfrage tatsächlich gestärkt wird.
Nach den bisherigen Vorlagen muß ich sagen: Das
überzeugt mich überhaupt nicht. Vielmehr verfehlt die
Ökosteuerreform die ökologische Zielsetzung und ist
außerdem noch total unsozial, weil sie gerade wieder
Familien mit Kindern, Seniorinnen und Senioren belasten wird.
({1})
Nebenbei gesagt - es ist ja bekannt, und Sie, Herr
Bundeskanzler, haben es allgemein als Zielsetzung für
das Arbeitsprogramm 1999 formuliert -: Man müßte
herangehen, die Energiepreise in Ost und West anzugleichen. Wir haben im Osten schon die höheren Energiepreise und werden dann durch die Ökosteuer noch
zusätzlich belastet. Das ist doch unsozial und wird nicht
dazu führen, daß die Nachfrage tatsächlich gestärkt
wird.
Sie mahnen an, daß sich die Vermögensverteilung
etwas ungleich entwickelt hat. Wo sind denn die wirklich neuen Vorschläge? Wo ist die Vermögensbesteuerung auf einer reformierten Grundlage? Wo sind neue
Ideen und Gedanken wie eine Wertschöpfungsabgabe?
Halten Sie nicht nur an den alten Instrumenten fest.
({2})
- Danke für das Stichwort.
Wenn wir in die Steuerdiskussion hineingehen, müssen wir zugeben: daß die Untersuchungen der letzten
Jahre doch eindeutig aussagen, daß die Steuerbelastungen der Unternehmen permanent gesunken sind. Professor Jacobs aus Mannheim hat das bereits 1997 nachgewiesen. Er hat den DAX für die 30 stärksten Unternehmen der Bundesrepublik untersucht. Die Steuerbelastungen sind gefallen. Ich nenne hier nur einmal zwei
Zahlen. 1989 lagen die Belastungen bei 54 Prozent,
1994 bei 31 Prozent. Ein konkretes Beispiel: Die Steuerbelastung der Allianz AG ist in diesem Zeitraum von
32 Prozent auf 1,4 Prozent gefallen, aber nicht, weil das
Unternehmen auf einmal nicht mehr ertragreich war und
vielleicht keine Gewinne mehr gemacht hat. Im Gegenteil: Bei vielen Unternehmen sind Jahresüberschüsse mit
Zuwächsen von 20 Prozent und mehr zu verzeichnen.
Das ist doch total widersprüchlich. Da muß man herangehen.
({3})
Aber Ihre Vorschläge zur Steuerreform machen genau dies nicht. Sie versuchen vielmehr, auch durch eine
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, wieder eine
Senkung der Spitzensteuersätze zu erreichen. Wir
hatten aber in den letzten Jahren vielfältige Steueränderungen. Ich nenne nur: Aussetzung der Vermögensteuer,
Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, Senkung der
Körperschaftsteuersätze.
({4})
Wir haben keine Schaffung von Arbeitsplätzen. Wir
haben keine Entlastung der öffentlichen Haushalte. Im
Gegenteil: Sie von der CDU/CSU und F.D.P. haben ein
Erbe hinterlassen, welches nicht nur uns, sondern auch
die zukünftigen Generationen belastet. Hier müssen wir
dann zielgenau herangehen.
Jetzt haben wir die neue Diskussion, durch eine
rechtsformunabhängige Betriebsteuer die Sätze zu senken. Wir werden sehen, was konkret vorgelegt wird.
Aber wie bisher in der Presse verlautbart wurde, streben
Sie an, Herr Bundesfinanzminister, auch für die von mir
gemeinten Unternehmen - ich nannte die Allianz AG,
man könnte auch Daimler-Benz und andere nennen noch einmal die Steuern zu senken. Das kann doch nicht
die Zielrichtung sein. Wir sind eindeutig auf dem Weg
in einen Lohnsteuerstaat; denn der Anteil der Lohnsteuer
an den Gesamtsteuereinnahmen ist in den letzten Jahren
permanent gestiegen.
Zudem sind Sie auf dem Marsch in einen Verbrauchsteuerstaat. Ich muß sagen, meine Damen und Herren
von der SPD, Sie haben sich in den letzten Jahren nicht
vehement gegen die Mehrwertsteuererhöhungen gewehrt. Es bleibt wirklich abzuwarten, ob Sie nicht doch
bereit sind, die Mehrwertsteuersätze spätestens im nächsten Jahr wieder zu erhöhen. Was ist denn die ökologische Steuerreform anderes als eine Erhöhung der Verbrauchsteuern mit einem ökologischen Deckmäntelchen? Die Entlastung durch die mit der in Verbindung
mit der Ökosteuer versprochene Senkung der Lohnnebenkosten wird gerade für Familien mit Kindern wesentlich geringer ausfallen als die Belastung durch diese
Steuerreform.
Wir fordern Sie auf, an die Probleme heranzugehen
und das Gutachten des Sachverständigenrates dahingehend abzuklopfen, inwieweit die Zielsetzungen der
Sachverständigen zu Wirkungen geführt haben, die wir
für eine sozial gerechte Gesellschaft brauchen. Die Massenarbeitslosigkeit muß endlich angegangen werden. Es
darf nicht so sein, wie der „Spiegel“ uns diese Woche
verkündete, daß wir in diesem Jahr wieder mit 4,1 Millionen Arbeitslosen zu rechnen haben und so in das neue
Jahrtausend gehen werden.
Wir fordern die rotgrüne Regierung, die Koalition
auf, sich nach neuen wirtschafts- und finanzpolitischen
Leitbildern umzusehen und die Aufgaben so in Angriff
zu nehmen, daß es nicht nur bei Worten bleibt, sondern
Taten folgen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat nun
Bundesminister Werner Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Die Bundesregierung muß und wird wirtschaftspolitische Reformen einleiten. Reformen sind unbequem und um so unbequemer, je länger sie verzögert
wurden. Alles, was unbequem ist, wird von denen kritisiert, die lieber eine Politik des bequemen „Weiter so“
zum Ziele hatten und oftmals mangels Einsicht dieses
„Weiter so“ auch noch immer zum Ziel haben. Die
Notwendigkeit von Reformen wird schnell einsichtig,
wenn ich eine kurze Bilanz der wirtschaftspolitischen
Ergebnisse der letzten 16 Jahre ziehe.
Erstens. Seit 1982 ist die durchschnittliche Lohnund Gehaltssumme je Beschäftigten bis heute real
praktisch nicht gestiegen. Salopp gesagt: Es gibt ein
reales Nullwachstum in der Lohntüte seit 1982.
Zweitens. Parallel dazu hat sich der Einsatz des Faktors Arbeit im Wirtschaftsprozeß um knapp 1 000 Milliarden DM verteuert.
Drittens. Parallel dazu ist die Arbeitsproduktivität
um rund 50 Prozent gestiegen.
Viertens. Parallel dazu ist die Arbeitslosigkeit enorm
gestiegen.
Fünftens. Parallel dazu ist die Staatsverschuldung
enorm gestiegen.
Diese fünf Eckpunkte zusammengenommen verdeutlichen eine Entwicklung, die erkennbar zukunftslos ist,
weil sie in erkennbare Krisen führen würde.
({0})
Ich weiß, daß sich die Lasten der Wiedervereinigung
auf Staatsquote und Staatsverschuldung ausgewirkt haben. Aber die negativen Trends waren schon vorher da.
Die Bewältigung der Aufgabe bleibt vor uns. Man muß
vor allem sehen, daß die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu kurz gekommen sind, weil man sie zu einer der Hauptquellen der wachsenden Staatsfinanzierung
gemacht hat.
({1})
Der in Eckpunkten skizzierte Prozeß zeigt überdeutlich, daß die soziale Marktwirtschaft seit 1982 an Substanz verloren hat; denn immer mehr Leben auf Kosten
der Zukunft ist nicht das Ziel einer sozialen Marktwirtschaft.
({2})
Immer mehr Produktivitätsfortschritt ohne realen Zuwachs in der Lohntüte ist auch nicht das Ziel einer sozialen Marktwirtschaft.
({3})
Immer mehr Arbeitslose sind ganz gewiß nicht das Ziel
einer sozialen Marktwirtschaft.
({4})
Im Grunde müssen wir uns auf Grundprinzipien der
sozialen Marktwirtschaft zurückbesinnen. Vor allem
müssen wir wieder an den ganz einfachen Grundsatz
denken: Die Wirtschaft hat dem Menschen zu dienen.
({5})
Das heißt konkret: Im Mittelpunkt der Wirtschaft darf
nicht etwa der Börsenkurs stehen, so wichtig und unverzichtbar gewinnstarke Unternehmen auch sind; im Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik muß der Mensch stehen,
seine lebenswerte Gegenwart und seine erlebenswerte
Zukunft.
({6})
Genau das ist die Kernaussage im SPD-Wahlprogramm,
und sie bleibt das Grundziel der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der neuen Bundesregierung.
({7})
Angesichts von vier Millionen Arbeitslosen heißt das:
Die Bundesregierung muß und wird eine Politik betreiben, die erstens das Maß an Rationalisierung beim
Faktor Arbeit wieder auf jenes normale Maß zurückführt, das zum normalen Wandel wirtschaftlicher
Strukturen gehört. Sie wird eine Politik betreiben, die
zweitens die Schaffung neuer Arbeitsplätze beflügelt.
({8})
Das geht nur, wenn die Kosten des Faktors Arbeit im
Wirtschaftsprozeß nicht weiter steigen, sondern auf
Sicht wieder sinken. Ich rede von den Kosten der Arbeit
und nicht etwa davon, was in der Lohntüte übrigbleibt,
was ja inzwischen nur noch einen Bruchteil ausmacht;
denn die genannte Verteuerung des Einsatzes des Faktors Arbeit um fast 1 000 Milliarden DM seit 1982 ist
eben ziemlich vollständig von Inflation und vor allem
durch Steuern und Abgaben aufgefressen worden.
Dr. Barabara Höll
Die Schere zwischen Nettolohn und Bruttoarbeitskosten hat sich immer weiter geöffnet, und zwar mit der
Besonderheit, daß der Nettolohn im Schnitt real eben
nicht, die Arbeitsproduktivität hingegen, wie gesagt, um
die Hälfte gestiegen ist. Jenseits aller nachfragetheoretischen Überlegungen muß man deutlich sehen, daß hier
auch eine Gerechtigkeitslücke besteht.
({9})
Folglich stellen sich zwei Aufgaben, nämlich erstens
den Produktivitätsfortschritt der Arbeit in ein reales
Wachstum der durchschnittlichen Nettolohn- und
-gehaltssumme zu überführen und zweitens zugleich die
Arbeitslosigkeit zu senken. Diese doppelte Aufgabe
setzt zwingend eine Senkung der Staatsquote voraus;
denn nur so ist eine dauerhafte Senkung der Steuer- und
Abgabenlast möglich.
({10})
Übrigens wird auch das Karlsruher Steuerurteil in diese
Richtung wirken, wozu ich die Ausführungen des Herrn
Bundesfinanzministers, dieses Urteil möglichst ohne
Steuererhöhungen umzusetzen, ausdrücklich begrüße.
({11})
Was an Senkung der Staatsquote generell erreichbar ist,
muß ganz überwiegend an den Faktor Arbeit zurückgegeben werden, weil er ganz überwiegend der Finanzier
des wachsenden Finanzbedarfes des Staates gewesen ist.
Ich sage das in dieser Deutlichkeit, damit zum Thema
Unternehmenssteuerreform nicht übertriebene Erwartungen bestehen oder geweckt werden.
Wir brauchen dringend eine Reform der Unternehmensbesteuerung, weil die ausgewiesenen Höchstsätze
unserer Unternehmensbesteuerung im internationalen
Vergleich viel zu hoch sind.
({12})
Das schreckt ausländische Investoren ab, die wir aber
verstärkt brauchen. Die Regierungsparteien haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, daß die Höchstsätze
der Unternehmensbesteuerung auf 35 Prozent gesenkt
werden. Aber wir haben in Deutschland im internationalen Vergleich nicht nur einmalig hohe Steuersätze für
unternehmerische Tätigkeit, sondern auch ein international einmaliges System, Gewinne vor der Versteuerung zu bewahren.
({13})
Darum steht die Unternehmenssteuerreform der Bundesregierung zuerst unter der Überschrift, daß diese
nicht mehr sinnvolle Kombination aufkommensneutral
beseitigt wird. Die Verwirklichung dieses Hauptzieles
der Unternehmenssteuerreform hat also das Streichen
vielfältiger Steuersubventionen zur zwingenden Voraussetzung.
Bei einer aufkommensneutralen Steuerreform wird es
- das ist vorgezeichnet - Gewinner und Verlierer geben.
Gewinner werden alle Unternehmen sein, die bislang
mehr und weit mehr als 35 Prozent Steuern zahlen. Das
sind eben vor allem Betriebe im Mittelstand und im
Handwerk.
({14})
Das ist ganz genau der Bereich der Wirtschaft, der am
meisten Arbeitsplätze hält und wo weniger Steuerbelastung auch am allerehesten die Schaffung neuer Arbeitsplätze erwarten läßt.
({15})
Auf der Gegenseite wird es Unternehmen geben, die
nach der Reform mehr Steuern als heute zahlen, weil sie
Steuerlastquoten haben, die unter, manchmal weit unter
35 Prozent liegen, also von dem Streichen von Steuersubventionen betroffen sind. Deswegen wird auch eine
aufkommensneutrale Steuerreform erwartbar weiterhin
öffentliche Kritik einbringen.
Die Ökosteuer, wie die Senkung der Lohnsteuern
und die Kindergelderhöhung ein Mittel, die Kaufkraft zu
stärken und zugleich die Steuer- und Abgabenlast auf
den Faktor Arbeit zu senken, wird ebenfalls heftig kritisiert. Sie belaste angeblich die Wirtschaft. Ich habe hier
schon einmal gesagt, daß das im Blick auf die gesamte
Wirtschaft falsch ist. Aber es gibt einzelne energieintensive Betriebe, die im Saldo belastet werden können. Ich
bitte daher die Fraktionen dieses Hauses, zu erwägen, ob
man dieser Kritik nicht ganz einfach den Boden entzieht,
indem man vereinbart, daß solchen Betrieben des produzierenden Gewerbes, die mehr Ökosteuer zahlen müßten, als sie Rentenbeiträge sparen, die Mehrbelastung
erlassen wird.
({16})
- Ich weiß, daß Ihnen das nicht paßt, weil Ihre Kritik
nicht mehr zum Ziel führen würde.
({17})
- Das ist ein Beitrag zur Steuervereinfachung.
({18})
Jedenfalls will ich erreichen - das wird ein Problem
für Sie sein -, daß die Kritik an der Ökosteuer jede Basis
verliert.
({19})
Was dann noch an Kritik bleibt, gehört zu der eingangs
genannten Kategorie der Uneinsichtigkeit.
({20})
Ich sage noch einmal deutlich: Diese Kritik wird an der
Notwendigkeit der Steuerreformen nichts ändern.
({21})
- Erlaubt ist sie. Man hört auch zu und wundert sich.
({22})
Eine ganz andere Frage ist, ob das Volumen an Unternehmenssteuern insgesamt gesenkt werden kann,
Stichwort Nettoentlastung. Dem stehe ich grundsätzlich
sehr positiv gegenüber. Aber auch dieses Ziel erfordert
eine dann noch weiter gehende Senkung der Staatsquote.
Hier ist jetzt nicht die Zeit, über die vielfältig positiven Wirkungen der Senkung der Staatsquote zu reden.
Vieles dazu steht übrigens auch im Wahlprogramm der
SPD.
({23})
- Sie haben das ja nicht gelesen.
({24})
- Moment, lassen Sie mich noch diesen zusammenfassenden Satz sagen, dann höre ich zu: Die zweifelsohne
vorhandenen lebendigen Kräfte in unserer Wirtschaft
müssen wiederbelebt und von uns zusammen in die Zukunft geführt werden.
({25})
Herr Minister, ich
muß Sie daran erinnern, daß Ihre Redezeit überschritten
ist.
Ich habe versucht, im Haushalt meines
Ministeriums den genannten Grundsätzen ein wenig
Rechnung zu tragen. Die neben den Kohlehilfen beabsichtigten Staatshilfen werden in Richtung Kürzung
dessen, was nicht zwingend notwendig erscheint, umstrukturiert: Verstärkung der Hilfen für marktnahe Forschung und Entwicklung, stärkere Teilhabe des Mittelstandes an diesen Mitteln und eine Verstärkung der Kofinanzierung. Das heißt, Länder und vor allem die zu
subventionierenden Unternehmen müssen selber stärker
ran.
({0})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Gerne, weil wir beim Thema Mittelstand sind.
({0})
Herr Minister, können
Sie mir einen Wirtschafts- oder Mittelstandsverband
nennen, der mit Ihrer Wirtschaftspolitik, so wie sie momentan aufgelegt ist und sich abzeichnet, zufrieden ist?
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich während der Anhörung der letzten Tage zur Ökosteuer über
90 Prozent aller angesprochenen Verbände negativ geäußert und Ihre Konzeption sogar in der Luft zerrissen
haben?
({0})
Meine persönliche Konzeption können
sie nicht in der Luft zerreißen. Ich habe aber noch
Schwierigkeiten, diese Konzeption endgültig durchzusetzen. Das sei nur einmal am Rande gesagt.
Ich kenne sehr wohl die Einstellungen der Mittelstandsverbände, der Industrie- und Handelskammern;
denn ich habe viele Tage lang an jedem Abend an einem
Neujahrsempfang teilgenommen und eine Rede gehalten. Ich weiß, wie man öffentlich begrüßt wird. Das
klingt so wie das, was wahrscheinlich auch Sie an verlautbarter Meinung hören.
Ich darf Ihnen sagen: Im internen Gespräch wird
deutlich respektiert, daß wir eine insbesondere das
Handwerk und den Mittelstand fördernde Politik machen. Sie werden erleben, daß die Ansprache der Verbände auch in der Öffentlichkeit anders werden wird.
({0})
Eine Nachfrage des
Kollegen Hinsken.
Herr Minister, da Sie
nur intern Zustimmung bekommen, würde mich in der
heutigen Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht interessieren, ob Sie uns sagen könnten, wer sich intern so
äußert und wer nicht bereit ist, sich in der Öffentlichkeit
so zu äußern, wie ich es bei Ihnen hinterfragt habe. Sagen Sie mir doch, welcher Verband Ihre Politik mit vertritt!
Es ist so, daß auch schon in den öffentlichen Meinungsäußerungen ein langsamer Wandel
eintritt. Ich möchte Sie auf Verlautbarungen von Handwerk und Mittelstand hinweisen, in denen die Steuerreform dieser Bundesregierung nicht mehr prinzipiell abBundesminister Dr. Werner Müller
gelehnt wird, sondern gesagt wird: Sie ist grundsätzlich
gut für unseren Wirtschaftszweig.
({0})
Das müssen Sie lesen.
Das, was noch immer zu tun ist und was noch gefordert wird - ich denke an den Veräußerungsgewinn,
wenn ein Handwerker seinen Lebensabend bestreiten
will -, wird alles in etwa kommen. Sie werden sehen:
Ganz zum Schluß werden Handwerk und Mittelstand
mit dieser Regierung das erreichen, was Sie in 16 Jahren
nicht geschafft haben.
({1})
Sie hätten die Höchststeuersätze für diese Unternehmen
16 Jahre lang senken können. Jetzt hat man vereinbart man hätte vielleicht in den Koalitionsvereinbarungen
etwas mutiger sein können -, dieses Ziel in kurzer Zeit
zu erreichen. Es nützt ja nichts, immer nur von niedrigen
Steuersätzen und Steuerbelastungen zu reden; dies muß
auch umgesetzt werden.
({2})
Herr Minister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Christa Luft, PDS-Fraktion?
Vielleicht kann ich meine Rede eben
noch zu Ende führen?
({0})
Herr Minister, ich möchte
nicht nach Stimmungen im Mittelstand fragen, sondern
ich möchte nach etwas ganz Konkretem fragen, das den
Entwurf des Bundeshaushaltes 1999 betrifft. Können Sie
bestätigen, daß im Entwurf des Bundeshaushaltes 1999
keine Zinszuschüsse an das ERP-Sondervermögen für
die Förderung kleiner und mittlerer mittelständischer
Unternehmen enthalten sind, während 1998 noch 550
Millionen DM vorgesehen waren? Meinen Sie nicht, daß
das noch korrigiert werden müßte?
Das kann ich Ihnen so im ersten Anlauf nicht bestätigen.
({0})
Ich war ganz kurz vor dem Ende meiner Rede stehengeblieben. Gestatten Sie, daß ich Ihnen noch 30 Sekunden lang meine Ausführungen vortrage,
({1})
die nur aus zwei Bitten bestehen.
Eine Bitte möchte ich an die Bürgerinnen und Bürger
richten: Haben Sie weiterhin Vertrauen in diese Regierung. Wir werden die wirtschaftliche Lage verbessern
und unser Land zukunftsfähiger machen.
({2})
Meine zweite Bitte richtet sich an die Wirtschaft
({3})
- ja, vor allem nach der zweiten Bitte -: Begleiten Sie
den wirtschaftspolitischen Kurs weiterhin mit kritischen
Mahnungen, aber mit mehr redlicher und konstruktiver
Kritik.
({4})
Dann finden Sie in dem Wirtschaftsminister einen sehr
aufgeschlossenen Partner.
Die Bundesregierung weiß, was die Führung in eine
sichere und sozial gerechtere Zukunft erfordert. Sie
weiß, was die Wähler und Bürger in diesem Lande während der letzten anderthalb Jahrzehnte vor allem vermißt
haben.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat nun die
Kollegin Dagmar Wöhrl, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Wenn der Herr Kollege
wieder zur Ruhe gekommen ist, können wir vielleicht in
der Debatte fortfahren.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Thema dieser Debatte sollten meines Erachtens nicht nur die Aussagen der fünf Weisen zur Wirtschaftspolitik sein, sondern auch die Frage, wie die
Bundesregierung mit der fachlichen Kritik unabhängiger
Beratungsgremien umgeht.
Herr Minister Lafontaine, Sie haben es als erster vorgemacht: Keine vier Wochen nach Vorlage des Jahresgutachtens, das Ihnen zweifelsohne nicht gepaßt hat,
wird bekannt, daß Sie die personelle Zusammensetzung
des Sachverständigenrates ändern wollen. Das heißt,
jetzt sind Nachfragetheoretiker erwünscht, die sozusagen dem veralteten wirtschaftspolitischen Glaubensbekenntnis von Ihnen höhere wissenschaftliche Weihen
erteilen.
Was passiert 14 Tage später? 14 Tage später löst
Bundesumweltminister Trittin die unabhängige ReakBundesminister Dr. Werner Müller
torsicherheitskommission und die Strahlenschutzkommission kurzerhand auf.
({0})
Auch hier ist der Grund nicht mangelnde wissenschaftliche Kompetenz, sondern allein ein falsches Glaubensbekenntnis. Das Motto heißt jetzt: Da müssen Atomkraftgegner her.
Dem will unsere Gesundheitsministerin natürlich
nicht nachstehen und kündigt kurzerhand den Mitgliedern des Sachverständigenrates für die konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Die Gründe dürfen Sie raten.
Die jetzige Regierung benimmt sich wie ein beleidigtes Kind.
({1})
Was bleibt denn von Ihrem Wahlkampfslogan „Wir
wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen“
übrig? Wie stellen Sie sich den Ablauf in der Zukunft
vor? Wollen Sie jegliche Kritik, die von außen kommt,
immer abwehren? Wollen Sie Kritiker zukünftig durch
Ja-Sager ersetzen? Das würde dazu führen, daß in der
Zukunft vieles anders und mit Sicherheit fast alles
schlechter gemacht wird.
Man fragt sich weiterhin: Welchen Rat wollen Sie
denn zukünftig noch akzeptieren? Der Rat der Wirtschaftsverbände gehört bestimmt nicht dazu. Wenn diese
sich äußern, dann handelt es sich nach Ihrer Meinung
entweder um „Schlachtenlärm“ oder um das „übliche
Gejammere“. Was die Gewerkschaften anbelangt, so ist
Ihre Wahrnehmung sehr selektiv. Zum Plädoyer des
Vorsitzenden der IG Bergbau, Chemie, Energie, Hubertus Schmoldt, gegen den Kernkraftausstieg habe ich von
seiten der Regierung noch nichts gehört.
Sie suchen einen neuen Nachfragetheoretiker für den
Sachverständigenrat. Aber anscheinend haben Sie ihn
bis jetzt noch nicht gefunden. Ich kann Ihnen einen Rat
geben: Suchen Sie einmal in den hinteren Reihen der
deutschen Nationalökonomen! In der vorderen Reihe der
Volkswirtschaftslehre werden Sie ihn bestimmt nicht
finden;
({2})
denn dort weiß man ebenso wie die fünf Weisen von den
Grenzen und den Gefahren einer rein auf Kaufkraftstärkung ausgerichteten Politik.
Im Zeitalter der Globalisierung funktionieren solche
Methoden nicht mehr. Kein beschäftigungspolitisch erfolgreiches Land hat auf Kaufkraftstärkung durch eine
expansive Lohnpolitik und höhere Staatsausgaben gesetzt. Im Gegenteil: Diese Länder, die beschäftigungspolitisch erfolgreich waren, haben fast ausnahmslos ihre
Lohn- und Preissteigerungsrate zurückgeführt. Das heißt
geringere Steuern und Abgaben und geringere Sozialausgaben. Das heißt auch echte Strukturreformen und
nicht eine reine Umverteilungspolitik, die uns von Ihnen
geboten wird.
({3})
Ich höre Sie immer nur fragen: Wie verteile ich Arbeit? Fragen Sie doch einmal: Wie schaffe ich Arbeit?
Ihre Diagnose ist falsch, liebe Kollegen von der Regierung. Das aktuelle Problem, das wir haben, ist nicht die
fehlende Nachfrage, sondern das ist die fehlende Investitions- und Innovationsbereitschaft unserer Unternehmen.
({4})
Ich kann Sie nur auffordern: Haben Sie den Mut zu
Reformen!
({5})
Ich kann Sie in Ihrem Vorgehen, Reformen anzumahnen, nur ermuntern, Herr Minister Müller. Aber ich frage Sie schon: Warum nehmen Sie Reformen zurück?
Wir werden Sie in Ihren Bemühungen, Reformen anzugehen, unterstützen. Ich bin überrascht, zu hören, daß
Sie Reformen schon in der Schublade haben. Wir freuen
uns darauf, von diesen Kenntnis zu nehmen.
Eine reine Kaufkrafttheorie hat sich in der Vergangenheit nie bewahrheitet. Sie wird es auch in der Zukunft nicht tun. Höhere Kaufkraft - das ist logisch kommt immer nur einem kleinen Teil der Wirtschaft zugute. Ein großer Teil - das wissen wir - fließt in Auslandsreisen und in ausländische Produkte.
Die große Gefahr bei sogenannten konjunkturellen
Strohfeuern liegt in den höheren Arbeitskosten, die sich
daraus ergeben. Das haben wir im Falle Japans erlebt.
Wir dürfen eines nicht vergessen: Wir sind nicht nur
Exportvizeweltmeister, sondern auch Importvizeweltmeister.
({6})
Es ist, glaube ich, sehr schwierig, den Verbraucher davon zu überzeugen, daß er für eine Ware nur deshalb
mehr bezahlen soll, weil sie aus Deutschland kommt.
Es ist überhaupt nichts gegen eine Kaufkraftstärkung
mittels einer Steuerentlastung einzuwenden. Wir wären
die letzten, die das behaupten würden. Aber - das muß
man ganz deutlich sagen - es muß zu einer Entlastung
für alle kommen, so, wie wir es vorgesehen hatten.
({7})
Diese Entlastung müßte durch eine strikte Sparsamkeit
bei den Staatsausgaben gegenfinanziert werden.
Aber ich muß ganz offen und ehrlich sagen: Es ist
nicht erkennbar - ich sehe es auf jeden Fall nicht -, wo
Sie konsolidieren, wo Sie zukünftig einsparen. Ich höre
immer nur von mehr Staatsausgaben in der Zukunft. Ich
stelle mir die Frage: Wie wollen Sie die ausufernden
Ausgaben in den Griff bekommen? Dafür sind keinerlei
Ansätze erkennbar.
({8})
Geringe Steuerentlastungen für die Arbeitnehmer
werden durch immense Steuermehrbelastungen für die
Wirtschaft gegenfinanziert,
({9})
allein 35 Milliarden DM bis 2002. Das heißt, die Wirtschaft, diejenigen, die die Arbeitsplätze schaffen sollen,
tragen fast 80 Prozent der Gegenfinanzierung.
Hier schreiben die fünf Weisen unmißverständlich:
...die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage trifft
besonders Unternehmen, die Nettoentlastung
kommt zu spät und ist zu gering.
({10})
Ich sage Ihnen noch etwas anderes: Ich bezweifle, ob
sie überhaupt kommt. Denn eine für alle Unternehmen
geringere Betriebsteuer ist bis jetzt nur eine vage Ankündigung. Mehr steckt bisher nicht dahinter. Sie nehmen das als Alibi, aber bis jetzt ist nichts in dieser
Richtung unternommen worden.
({11})
Es ist wieder einmal unser Mittelstand, der durch
diese Steuerpläne, die jegliches Gesamtkonzept vermissen lassen, besonders hart getroffen wird. Da muß ich
schon eines sagen: Ich finde es schäbig - ich meine das
so, wie ich es sage -, daß Sie gerade die Menschen, die
Sie im Wahlkampf als „neue Mitte“ hofiert haben, um
Wähler zu gewinnen, hier enttäuschen. Dabei sind es
nicht nur die steuerlichen Maßnahmen, sondern auch die
Verschärfungen des Arbeitsrechts, die hier speziell die
kleinen und mittleren Unternehmen treffen.
Die Ökosteuer, die neu eingeführt wird, ist nicht nur
sozial ungerecht, weil sie - das kann man nicht oft genug erwähnen - gerade die sozial schwachen Familien
trifft, sondern sie ist auch eine Strafsteuer für den Mittelstand und die Verbraucher insgesamt.
Auch mit den Ökosteuerplänen hat sich der Sachverständigenrat intensiv auseinandergesetzt. Er hat klar erkannt, daß die Energiebesteuerung ihrem Wesen nach
keine Ökosteuer, sondern eine reine Subventionsteuer
für die sozialen Sicherungssysteme ist. Das heißt, dies
ist ein klarer Mißbrauch des Wortes Ökologie.
Ihre Ökosteuer hat doch mit Umweltschutz überhaupt
nichts zu tun.
({12})
Es fehlt jegliche ökologische Ausgestaltung, denn die
Steuer wird an den Endverbrauch und nicht an die
Schadstoffemissionen geknüpft. Das heißt, sie ist eine
reine Schöpfsteuer ohne irgendwelche Lenkungswirkungen in der Zukunft.
({13})
Der Sachverständigenrat hat auch vor einer europäischen Tarifpolitik und einer europäischen Beschäftigungspolitik gewarnt. Er hat recht. Wir dürfen nicht zulassen, daß es zu einer Verlagerung der Verantwortung
auf die europäische Ebene kommt. Die Tarifparteien
dürfen sich nicht dazu verleiten lassen, sich weder beschäftigungsorientiert noch stabilitätskonform zu verhalten, nach dem Motto: „Brüssel, jetzt löse mal schön
unsere Probleme, wir haben mit dem Ganzen überhaupt
nichts mehr zu tun.“
({14})
Wir kommen doch so in Europa zu einer Transferunion,
die wir nicht wollen.
({15})
Das sind Fakten.
Und wer bezahlt die Rechnung? Die Rechnung bezahlt der Steuerzahler, die Menschen draußen. Wir müssen vor unserer eigenen Haustür kehren, unsere eigenen
Probleme lösen und unsere strukturellen Herausforderungen in der Zukunft meistern.
Meine Damen und Herren, alle Wirtschaftswissenschaftler geben zu, daß ein großer Teil der wirtschaftlichen Entwicklung auf Psychologie beruht. Deshalb kann
der Verlauf der Konjunktur nur in einem gewissen
Rahmen, in gewissen Grenzen vorausgesagt werden. Die
Konjunktur ist immer die Summe einer Vielzahl von
Entscheidungen, die von Menschen getroffen werden.
Diese Menschen sind Unternehmer und Unternehmerinnen. Deshalb ist die Stimmungslage draußen bei unseren
Unternehmen, Unternehmern, Selbständigen, Handwerkern, den freien Berufen und den Menschen, die sich
selbständig machen wollen, wichtig für unsere zukünftige wirtschaftliche Entwicklung.
({16})
Angesicht dessen ist es Gift, wenn die Unternehmer
verunsichert werden und deshalb vor Investitionen und
Neueinstellungen zurückschrecken. Das Hauptcharakteristikum der rotgrünen Wirtschaftspolitik von den Koalitionsverhandlungen bis zum heutigen Tage ist die
Verunsicherung der Unternehmen durch Ihre Politik.
({17})
Der Sachverständigenrat hat im Herbst des letzten
Jahres geschrieben:
Es ist im gegenwärtigen Zeitpunkt schwer zu erkennen, wie sich die vielfältigen Einzelmaßnahmen
zu einer konsistenten Wirtschaftspolitik zusammenfügen.
Das Schlimme daran ist, daß dieser Satz vom Herbst
immer noch voll zutrifft.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat nun
Kollege Oswald Metzger, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst
einmal ein Kompliment an den Bundeswirtschaftsminister: Zu einer so erfrischenden und gleichzeitig trockenen, aber ordnungspolitisch fundierten Rede möchte ich
ihn beglückwünschen.
({0})
An die Adresse der alten Regierung gerichtet möchte
ich sagen: Sie, Frau Kollegin Wöhrl, haben den Sachverständigenrat gegen die neue Regierung in Stellung
gebracht. Vor einem Jahr hat der gleiche Sachverständigenrat in seinem Gutachten die Politik der alten Regierung, die sie selbst mit dem Etikett „Angebotspolitik“
versehen hat, zerpflückt und von einer nicht nachhaltigen Konsolidierung gesprochen.
({1})
- Wenn Sie das nicht glauben, so nenne ich Ihnen die
Quelle: Textstelle 186. Da haben Sie ins Stammbuch geschrieben bekommen, welche strukturellen Defizite sich
in dem damaligen Haushalt befanden.
Es war eben immer eine Eigenwahrnehmung der alten Regierung - mit der sie sich selbst belogen hat -,
daß das steuerpolitische Konzept, das man 1996 auf den
Weg bringen wollte, allein an der Opposition im Bundesrat gescheitert ist.
({2})
Das ist sozusagen das angebotspolitische Alibi für Ihre
Politik der Vergangenheit.
({3})
- Mitnichten. Schauen Sie sich doch einmal die strukturellen Bedingungen an: Wir haben seit der Wiedervereinigung einen Anstieg der Lohnnebenkosten um 6,5 Prozent. Das war eine Fehlfinanzierung der Einheit zu Lasten derjenigen Menschen, deren Einkommen unterhalb
der Beitragsbemessungsgrenze in bezug auf die Rentenversicherung liegt. Dies ist eine soziale Schieflage, weil
an dieser Finanzierung Teile der Bevölkerung überhaupt
nicht beteiligt waren.
({4})
Dies hat vor allem dazu geführt, daß es insgesamt zu
einem Zwang zu Rationalisierung in unserer Wirtschaft
kam, die über das normale Maß hinausging und deshalb
Arbeitsplätze gekostet hat. Das ist eine strukturelle
Verwerfung, die beweist, daß sich die alte Regierung
mitnichten auf einem ordungspolitisch sauberen Pfad
befand, sondern ihn nur im Mund führte und „Mittelstand“ nur predigte. Gleichzeitig haben viele Mittelständler beispielsweise zu unserem Ökosteuerkonzept
immer gesagt - das kann ich selber wirklich bestätigen -:
Durch Senkung der Lohnnebenkosten und Verteuerung
der Energie wird der Mittelstand strukturell tatsächlich
begünstigt und hinsichtlich der Großindustrie in der
Tendenz eine Wettbewerbsneutralität bewirkt.
({5})
- Wissen Sie: Drei Monate nach dem Regierungswechsel darf man sich durchaus noch mit der alten Regierung
beschäftigen. Wir haben nicht beim Stand Null angefangen, sondern es gibt eine Entwicklung über Jahrzehnte
hinweg. Es gab sie auch schon während der Regierungszeit der sozialliberalen Koalition; das möchte ich überhaupt nicht wegdiskutieren.
Es gibt in unserer Gesellschaft ein Problem der
Wahrnehmung, das auch bei der Diskussion um den
Sachverständigenrat besteht: Wir alle unterschätzen, daß
unsere sozialen Sicherungssysteme, die wir über den
Faktor Arbeit finanzieren, angesichts der Globalisierung
unter einen gigantischen Finanzierungsdruck geraten,
mit der Folge, daß Beschäftigung heute anders organisiert werden muß als früher.
Wir werden deshalb steuerpolitische Akzente setzen,
mit denen wir nicht nur für soziale Gerechtigkeit, sondern auch für Investitionsanreize sorgen. Wir werden
dafür sorgen, daß wir nicht nominal hohe Tarife und
unter dem Strich eine Steuerlastquote haben, die international eher im unteren Bereich liegt. Diese Tarife
schröpfen den Mittelstand bisher wesentlich stärker als
die Großbetriebe, die in Gewinnen schwimmen, ihre
Gewinne zu Lasten des Fiskus aber ins Ausland verlagern. Das müssen wir durch ein intelligentes System abstellen.
Sie, Kollege Merz, rufen ständig: Wir haben das
Konzept im Juni 1997 im Bundestag beschlossen. Ich
sage Ihnen dazu: Angesichts der strukturellen Defizite in
den Haushalten - 40 Milliarden DM nennt der Sachverständigenrat in seinem Gutachten - wäre das Nettoentlastungsprogramm, das Sie vorgeschlagen hatten, nie und
nimmer finanzierbar gewesen. Ihre eigenen CDUMinisterpräsidenten würden im Bundesrat Amok laufen,
wenn man ein solches Schlaraffia-Steuerprogramm tatsächlich durchsetzen wollte.
({6})
Bleiben wir deshalb bei der Wahrheit! Wir brauchen
- das ist eine Kraftanstrengung wert - ein ordnungspolitisches Konzept, in das die Fiskalpolitik mit entsprechenden Anreizen für Investitionen und Wachstum und
die Sozialpolitik hineingehören. In der neuen Koalition
gibt es unterschiedliche Akzentuierungen. Das merken
Sie, wenn Sie den Finanz- und den Wirtschaftsminister
hören und wenn Sie die Akzentverschiebungen zwischen der grünen Fraktion und der SPD-Fraktion in Fragen der Konsolidierung sehen. Wir haben in der Reformagenda eine große Strukturreform in der Gesundheitspolitik, vor allem aber auch in der Rentenpolitik vorgesehen, die dem Alterungsprozeß in der Gesellschaft, der
zu immer höheren Lasten führt, Rechnung trägt. Wir
müssen natürlich auch im Bereich des Bundeshaushalts
Konsolidierungsmaßnahmen auf der Ausgabenseite prüfen.
Der Finanzminister strebt - vielleicht zu Ihrem Leidwesen - mit seinem Stabilitätsprogramm, das er als
Zielmarge der EU-Kommission in den ersten Januartagen vorgelegt hat, eine Begrenzung der Nettoneuverschuldung des Bundes in Relation zum Bruttoinlandsprodukt von etwa 1 Prozent an. Wissen Sie, was es
heißt, eine Halbierung der Neuverschuldung binnen
einer Legislaturperiode vorzunehmen?
({7})
Zur Erinnerung, Kollege Merz: In den letzten vier
Jahren, in denen Herr Waigel Finanzminister war, stieg
die jährliche Neuverschuldung im Durchschnitt um rund
60 Milliarden DM. Finanzminister Lafontaine hat ein
ehrgeiziges Ziel, das wir durch ein wachstumförderndes
intelligentes Steuersystem und Reformen in der sozialen
Sicherung unterstützen müssen. Wir werden daran arbeiten, und wir lassen uns daran messen. Insofern haben
alle recht, die jetzt von der Bringschuld der neuen Regierung reden.
Gemessen jedoch an dem, was Sie noch im November als Fehlstart beklagt hatten, haben wir uns in den
letzten Tagen doch relativ prächtig herausgemacht.
({8})
Schauen Sie sich das einmal an: Sie wollten sich zurücklehnen und grinsend feststellen, daß dieser Finanzminister die Verschuldungsgrenze des Grundgesetzes
nicht einhält.
({9})
Das wurde geschrieben und behauptet. Wir haben sie
deutlich unterschritten. Sie werden sehen, daß die
Wachstumsimpulse trotz eines verhalteneren Wirtschaftswachstums in den ersten beiden Quartalen - die
Volkswirtschaft befindet sich in einer robusten Verfassung - in der zweiten Jahreshälfte zunehmen werden
und daß sich die Steuereingänge nicht mehr wie in den
letzten vier Jahren vom volkswirtschaftlichen Wachstum
abkoppeln, sondern daß sich wieder die fundamentale
Verknüpfung von Steuereingängen und Wachstum einstellt. Das zeigen sogar schon die Steuereingänge des
letzten Jahres.
Mit diesem Pfund in der Hinterhand müssen wir den
Konsolidierungspfad gehen und ordnungspolitisch eine
neue steuerpolitische Weichenstellung durchsetzen.
({10})
Der entscheidende Punkt ist folgender: Gerade zu
diesem Zeitpunkt darf man nicht Aktionismus walten
lassen. Auf eine Entscheidung wie die des Bundesverfassungsgerichtes von vorgestern darf man nicht - niemand in diesem Hause, auch die Opposition nicht - einfach aus dem Bauch heraus reagieren.
({11})
Dazu gehört eine genaue Analyse,
({12})
da müssen Schlußfolgerungen für das Verfahren im Zusammenhang mit der Steuerreform gezogen werden.
Man muß auch überlegen, wie man es hinbekommt,
daß das Ziel einer einheitlichen Unternehmensbesteuerung von 35 Prozent mit einer entsprechenden aufkommensneutralen Gegenfinanzierung erreicht wird. Wir
werden uns in Zugzwang bringen und Steuererhöhungen
gedanklich zunächst ausschließen, damit die anderen
Maßnahmen, die man auch zur Verfügung hat, tatsächlich auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.
Jede Konsolidierungsmaßnahme muß in zweierlei
Hinsicht auf den Prüfstand: Ist sie ökonomisch verträglich im Hinblick auf Wachstumsimpulse für die Volkswirtschaft, und ist sie sozial gerecht? Nicht zuletzt
an der Gerechtigkeitslücke ihres Konsolidierungsprogramms ist nämlich die alte Regierung gescheitert. Es
lag nicht nur am Überdruß eines über 16 Jahre amtierenden Kanzlers, sondern vor allem auch an der sozialen
Schieflage Ihrer Politik.
Vielen Dank.
({13})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Gudrun Kopp, F.D.P.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen!
({0})
- Das ist gelebte Gleichberechtigung.
Gestatten Sie mir, nach den vielen Daten und Fakten,
die wir im Laufe des Vormittags gehört haben - dies
möchte ich ganz besonders in Richtung des Herrn Wirtschaftsministers sagen -, Ihnen eine andere Betrachtungsweise darzustellen. Es geht mir um die Situation
des Mittelstandes und um die Innensicht derjenigen
Menschen, die ihr Leben heute und morgen aktiv so gestalten müssen, daß sie eine Zukunft haben.
Anfangs möchte ich Ihnen darlegen, was mich wirklich besorgt stimmt: In diesem Land hoffen viele innovative Menschen auf ihre Entwicklungschancen. Sie haben, was nötig ist; viele von ihnen haben Wissen, Qualifikation und emotionale Intelligenz, sprich: Intuition und
das Vermögen, zum rechten Zeitpunkt die richtige Entscheidung zur Sicherung des wirtschaftlichen Überlebens treffen zu können. Beides sind Grundvorausetzungen für mehr Unternehmertum in Deutschland, das wir
dringend brauchen.
({1})
Diese kreativen Köpfe erwarten von dieser neuen Regierung - auch wenn schon ein wenig Alterungserscheinungen sichtbar werden -, daß sie selbst gestalten können und darüber hinaus noch mehr Freiraum für weitere
Entwicklungen bekommen. Aber derzeit scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Ich finde es außerordentlich bedenklich, daß sich in Teilen unserer Gesellschaft und
natürlich auch im Wirtschaftsleben Resignation breitmacht. Die ist Gift für das Klima und für das, was wir so
nötig brauchen, nämlich für mehr Arbeitsplätze.
({2})
Resignation, Zögerlichkeit und Zurückhaltung finde ich
bei den vorher genannten innovativen Kräften außerhalb
der Politik und bei einer Minderheit im Regierungslager.
Aber diese Exoten, die es derzeit auch gibt, können sich
nicht annähernd durchsetzen.
({3})
So lesen wir auf dem Papier, das wir heute diskutieren - wir wissen: Papier ist geduldig -, das, was die
F.D.P. für die absolut richtige Politik hält: Steuern senken, Haushalte konsolidieren, maßvolle Lohnabschlüsse,
Entwicklungsräume öffnen, den Mittelstand stärken.
Letzterer ist heute morgen wieder nur sehr abstrakt hofiert worden. Wenn es um die Praxis geht, sieht es
schlimm aus.
({4})
Ich kann mir gut vorstellen, daß sich die fünf Wirtschaftsweisen die Haare raufen angesichts von soviel
Ignoranz gegenüber dem, was sie an Sachverstand einbringen.
({5})
Bei der ideologischen Politik von gestern, die wir derzeit
erleben, stellt sich die Frage, welche politische Kompetenz eigentlich vonnöten ist, um eine deutliche Senkung
der Arbeitslosigkeit erreichen zu können.
({6})
- Jawohl, das sage ich auch.
Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß in erster Linie
eigene Erfahrungen vonnöten sind, um eine Situation
wirklich beurteilen zu können. Ich frage Sie: Wer von
Ihnen weiß eigentlich, wie es ist, wenn man Menschen
entlassen muß, die man persönlich kennt, deren privates
Umfeld man kennt, oder wie es ist, wenn man Arbeitslose, Arbeitsuchende abweisen muß, weil die Auftragslage
eine Mehrbeschäftigung einfach nicht hergibt? Ich denke, dies alles können Sie in der Praxis nicht wissen;
denn sonst würden Sie eine ganz andere Wirtschaftsund Finanzpolitik machen.
({7})
Wir brauchen tatsächlich dringend mehr Unternehmer in diesem Land, die mehr Arbeit schaffen. Das ist
der Punkt, auf den es ankommt. Dafür sind die Weichen
aber absolut nicht gestellt. Ich denke, daß es erheblich
zu kurz gesprungen ist, wenn wir uns nur im Umverteilen, im Regulieren und im Zuteilen erschöpfen. Das sind
keine Zukunftsrezepte, Herr Wirtschafts- und Herr
Finanzminister. Vielmehr sind das wirklich ideologische
Ladenhüter, die deutlich mehr staatliche Abhängigkeit
schaffen. Das ist in höchstem Maße unsozial.
({8})
Wer auf dem Markt, besonders als Mittelständler, überleben will, der braucht Kreativität, Flexibilität und den
Mut, es mit Konkurrenz aufzunehmen. Diese Eigenschaften brauchen Unternehmer.
Herr Minister Müller, ich habe mit großer Aufmerksamkeit weite Teile Ihrer heutigen Rede verfolgt. Die
gleiche Rede habe ich neulich im Rahmen eines öffentlichen Neujahrsempfangs in meinem lippischen Wahlkreis schon einmal gehört. Sie haben heute nur eine
Aussage ausgelassen - vielleicht ist das auch etwas, das
Sie sich auf Grund der Veröffentlichungen zu Herzen
genommen haben -, nämlich die pauschale Aussage, daß
die deutsche Wirtschaft erheblich mehr Subventionen
kassiere als Steuern zahle. Sehr geehrter Herr Minister,
dies trifft so garantiert nicht auf kleine und mittlere sowie auf Handwerksbetriebe zu.
({9})
Sie sollten sich in Zukunft bitte differenzierter zu diesem Thema äußern.
({10})
Ein Wundermittel - so wird es dargestellt - ist das
„Bündnis für Arbeit“. Nur, wir wissen alle: Ein Bündnis für Arbeit kann unmöglich Arbeitsplätze schaffen.
Es kann nur etwas nützen, wenn das Notwendige am
Markt tatsächlich geschieht und wenn diejenigen, die in
erster Linie betroffen sind, mit am Verhandlungstisch
sitzen. Da vermisse ich die Vertreter des Mittelstandes,
und ich vermisse die Arbeitslosen.
({11})
Das heißt, wenn es mit einer Wirtschaftspolitik, die
durch eine sogenannte Steuerreform, durch sogenannte
ökologische Steuern und durch Regelungen wie bei den
630-DM-Arbeitsverhältnissen gekennzeichnet ist, wenn
es mit einem konfusen Ausstieg aus der Kernenergie derzeit scheint sämtliche politische Energie ausschließlich in dieses Thema investiert zu werden - und mit der
Rückführung von Entlastungen für die Wirtschaft im
Rahmen des Kündigungsschutzes und bei Ausnahmeregelungen so weitergeht, dann, denke ich, ist dies insgesamt schlecht für die Wirtschaft. Es tabuisiert die wahren Probleme.
Ich stelle also abschließend fest: Schon jetzt liegt die
neue Bundesregierung in den ersten Ansätzen ihres
Scheiterns. Bitte nehmen Sie sich diese Entwicklungen
zu Herzen. Korrigieren Sie Ihre Fehlentscheidungen,
und machen Sie endlich eine verantwortungsvolle und
keine ideologische Politik!
Danke schön.
({12})
Frau Kollegin Kopp,
dies war Ihre erste Rede in diesem Hause. Ich beglückwünsche Sie im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
dazu.
({0})
Es spricht jetzt unsere Kollegin Nina Hauer, SPD.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dem Gutachten des Sachverständigenrates verbirgt sich ein ganz erstaunlicher Satz.
Der Sachverständigenrat - ich zitiere - „widerspricht der
Behauptung, die desolate Lage des Arbeitsmarkts nach
16 Jahren grundsätzlich angebotsorientierter Politik beweise deren Wirkungslosigkeit“. In diesem Satz sind
drei Aussagen enthalten. Erstens: Die Lage am Arbeitsmarkt ist nach wie vor desolat.
({0})
Zweitens: Die Verantwortung dafür trägt die alte Bundesregierung, deren Amtszeit ja 16 Jahre dauerte.
({1})
Und drittens: Angebotsorientierte Elemente in der Wirtschaftspolitik dürfen nicht per se als gescheitert angesehen werden.
Deswegen verstehe ich nicht, warum Sie hier versuchen, einen scheinbar akademischen Schlagabtausch
über die Frage „Angebotsorientierung oder Nachfrageorientierung“ zu führen. Politik - vor allen Dingen die
Politik der neuen Bundesregierung - muß sich daran
messen lassen, wie ihr Ergebnis aussieht. Das Hauptergebnis muß sein, die Arbeitslosigkeit in Deutschland zu
bekämpfen.
({2})
In diesem Punkt gibt der Sachverständigenrat überhaupt
keine Entwarnung. Ich kann nicht begreifen, warum Sie
hier so tun, als würde er ausgerechnet Ihre Politik, meine
Damen und Herren von der Opposition, unterstützen.
Die eigentliche Botschaft dieses Gutachtens ist, daß
wir Veränderungen brauchen, die es in den 16 Jahren Ihrer Verantwortung nicht gab, daß wir einen Aufbruch
brauchen und daß wir einen intelligenten Ausgleich zwischen Angebotsorientierung auf der einen Seite und
Nachfrageorientierung auf der anderen Seite brauchen.
Die neue Bundesregierung legt die Konzepte für eine
entsprechende Politik vor; zum Teil sind die diesbezüglichen Vorlagen ja auch schon verabschiedet worden.
({3})
Unsere ersten Unternehmungen werden sein: Wir
werden die nominalen Steuersätze senken und damit
das Investitionsklima in Deutschland wieder anreizen,
weil wir dadurch klarmachen: Einen Unterschied zwischen effektiver Besteuerung und den nominalen Steuersätzen darf es nicht geben. Das muß unsere Botschaft
auch an Investoren aus dem Ausland sein.
Zweitens. Wir bereiten eine Reform der Unternehmensbesteuerung vor, die zum Ziel hat, diejenigen zu
entlasten, die investieren. Jede Investition in eine neue
Idee, in ein neues Produkt schafft Arbeitsplätze. Ich
meine, daß wir mit dieser Reform, die wir jetzt begonnen haben, schon mehr Ideen in die Wirtschaftspolitik
eingebracht haben, als Sie das in den gesamten 16 Jahren geschafft haben.
({4})
Ferner senken wir die Lohnnebenkosten. Das machen wir vor allem für den Mittelstand, weil er ja unter
Druck geraten ist und dann, wenn er schlechte Absatzmöglichkeiten hat, nur wenige Leute einstellen kann.
({5})
Wenn Lohnkosten dadurch niedriger werden, daß die
Lohnnebenkosten sinken, dann kann der Mittelstand
mehr Personen einstellen und Arbeitsplätze schaffen.
({6})
Wir müssen aber dem Mittelstand auch noch anders
unter die Arme greifen. In unserem Land - bei der hohen Arbeitslosigkeit und den geringen Löhnen - geht die
Bereitschaft der Menschen, sich bei einem Handwerker
etwas fertigen zu lassen, Dienstleistungen in Anspruch
zu nehmen oder ein neues Produkt zu kaufen, zurück.
Die neue Regierung reagiert darauf mit der Steuerreform: Wir senken die Belastung der Bezieher unterer
und mittlerer Einkommen, damit sie wieder in den
Markt eintreten können und Produkte kaufen, die mittelständische Unternehmen verkaufen, so daß diese Unternehmen dafür Leute einstellen können. Das mag Ihnen,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, kompliziert vorkommen; es ist aber ganz einfach, und es ist
sehr wirksam.
({7})
Ich verstehe Sie, Frau Wöhrl, nicht, wenn Sie darauf
abheben, daß wir Exportvizeweltmeister sind. Das sind
wir, und deswegen können wir auch zufrieden sein.
Aber es ist nicht sachgerecht, zu sagen, daß Angebotsorientierung immer ausschließlich Exportorientierung
bedeutet. Das ist falsch. Wir haben ja mit der Einführung des Euro in diesem Jahr einen riesigen Binnenmarkt mit einheitlicher Währung bekommen, auf dem
wir vertreten sein wollen.
({8})
Die Bundesrepublik und auch die anderen europäischen
Staaten haben nur dann eine Chance, wenn auf diesem
großen Binnenmarkt, der durch die einheitliche Währung Euro zusammengeführt worden ist, Kaufkraft vor1052
handen ist, wenn gekauft werden kann, was wir produzieren.
({9})
Der Sachverständigenrat geht da noch weiter. Wir
folgen ihm. Wir werden, wenn wir die Haushaltsdebatte
führen, sehen, wie konkret die neue Bundesregierung ihre Schritte in diesem Punkt umsetzt.
Wir haben ein Defizit in bezug auf das, was wir in der
Bundesrepublik am nötigsten brauchen, nämlich in bezug auf den Bereich der Qualifikation. Wir müssen auch
in Ideen, in Produkte und in die Möglichkeit investieren,
einmal auszuprobieren, ob sich ein Produkt verkaufen
läßt. Wir brauchen auf dem Binnenmarkt nicht nur
Kaufkraft, sondern wir müssen auf diesem Markt auch
Produkte anbieten können.
Ich verstehe nicht, warum Sie noch immer gegen die
Ökosteuer polemisieren. Die Ökosteuer wirft mit Sicherheit viele Probleme auf, die wir lösen müssen. Aber
sie bietet auch eine Chance. Diese besteht darin, den
Unternehmen den Anreiz zu verschaffen, neue Produkte
zu erfinden und zu entwickeln.
({10})
Wir müssen uns damit beeilen, weil wir auf dem europäischen Markt sonst nicht mehr mitkommen. In den
anderen europäischen Staaten hat dieser Prozeß nämlich
bereits begonnen. Wir sollten dem schnell folgen, damit
wir sagen können: Auch wir können Produkte anbieten.
Ökosteuer ist nicht Askese. Ökosteuer ist die Entwicklung von High-Tech, die wir innerhalb der Bundesrepublik, in Europa, in der ganzen Welt verkaufen können. Dadurch entsteht wirtschaftliche Leistungskraft.
({11})
Dadurch entsteht Arbeit, die auch für die Zukunft
trägt und nicht nur kurzfristig an die Menschen vergeben
wird, damit diese zum Sozialstaat beitragen können. Wir
brauchen Arbeitsplätze, die auch in der Zukunft existieren werden. Wer die Umsetzung dieser Konzeption verhindert, der schädigt letztendlich den Mittelstand, tut
nichts gegen die Arbeitslosigkeit und bremst die wirtschaftspolitische Chance, Angebot und Nachfrage intelligent zu verknüpfen.
({12})
Unsere Steuerreform schafft dafür die Voraussetzungen.
({13})
Der Sachverständigenrat sagt ganz deutlich: Die Investitionen in unserem Land sind nicht in gleichem Maße angestiegen wie die Gewinne. Warum ist das der
Fall? Weil die Unternehmen keinen Sinn darin sehen,
hier zu investieren, wenn die Leute die Produkte nicht
kaufen können.
Die Unternehmen können auch nicht investieren,
wenn nicht auch der Staat seinen Teil dazu beiträgt,
Wirtschaft und Wissenschaft zu vernetzen, damit wir
überhaupt Ideen für Produkte haben.
Meine Damen und Herren, der Bericht des Sachverständigenrates trägt den Titel „Vor weitreichenden Entscheidungen“. Wir stehen vor weitreichenden Entscheidungen. Das ist die Hauptbotschaft dieses Berichts. Die
neue Bundesregierung wird Schluß machen mit dem
Stillstand der letzten 16 Jahre. Wir haben allein in den
ersten 16 Wochen unserer Regierungszeit mehr dazu
beigetragen, die wirtschaftliche Entwicklung in diesem
Land zu sichern, als Sie in den letzten 16 Jahren.
({14})
Wir haben Ideen. Wir werden diese weitreichenden Entscheidungen umsetzen und den Kurs in der Bundesrepublik für die Zukunft auf einen guten Weg bringen.
Vielen Dank.
({15})
Frau Kollegin Hauer,
auch für Sie war das die erste Rede in diesem Hohen
Hause. Ich beglückwünsche auch Sie im Namen aller
Kolleginnen und Kollegen dazu.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulla Lötzer, PDS.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie bereits seit 16 Jahren gibt
uns das vorliegende Gutachten zusammengefaßt nur folgenden Rat für die Wirtschaftspolitik: auf die Globalisierung weiterhin mit einem Kurs der Deregulierung, der
Umverteilung von unten nach oben, der Privatisierung
der sozialen Sicherungssysteme und der völligen Freiheit der internationalen Kapital- und Finanzmärkte zu
antworten. Auch wir leugnen die Globalisierung nicht.
Aber sie ist weder Mythos noch Entschuldigung für
neoliberale Wirtschaftspolitik, sie ist auch kein Argument für Angebotskonkurrenz, wie die Vertreterinnen
der CDU heute noch fordern.
Die Globalisierung betrifft auch die Finanzmärkte.
Neue Technologien und politische Liberalisierung des
Kapitalverkehrs haben dazu geführt, daß die Finanzmärkte heute alles dominieren. Seit 1980 stieg das Börsenkapital der Weltaktienmärkte um 1 388 Prozent, die
Wirtschaftsleistung nur um 60 Prozent. Waren die Börsen früher Seismograph der Wirtschaft, sind sie heute
Scharfrichter mit dem Shareholder Value als Fallbeil.
Der „Spiegel“ schreibt dazu treffend: Noch nie hatten
diese anonymen Besitzergruppen, die Fondsverwalter
der Großbanken, soviel Macht wie heute.
Neben den Großbanken sind die Global Players die
Profiteure der Globalisierung. Die Megafusionen wie die
von Daimler-Chrysler, die der Deutschen Bank, die
Strategie der Metro verdeutlichen diese Entwicklung
von Kapitalgiganten ungeheuren Ausmaßes. Aber die
Globalisierung ist kein Naturgesetz, das hingenommen
werden muß. Sie ist das Ergebnis nicht nur von IuKTechnologie, sie ist das Ergebnis einer Wirtschaftspolitik, die insbesondere vom damaligen Kanzler Kohl,
Margret Thatcher und Reagan betrieben wurde. Dem
Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems zur Aufrechterhaltung stabiler Wechselkurse wurde nicht die
Schaffung eines internationalen Währungssystems entgegengesetzt, wie es bereits 1994 von der BrettonWoods-Kommission gefordert wurde.
Die Tobin-Steuer, von uns mehrfach beantragt, wird
regelmäßig abgelehnt. Statt im Rahmen von WTOVerhandlungen soziale Grundrechte zu verhandeln,
verweigerte Kanzler Kohl auf dem Beschäftigungsgipfel
von Lille Vereinbarungen zu Sozial- und Umweltstandards. Selbst jetzt nach den Krisen in Asien, Rußland
und Lateinamerika, in deren Folgen das Wachstum zumindest sehr viel niedriger werden wird als angenommen, verweigern die Sachverständigen im Gutachten
den Antworten zur Regulation dieser Märkte die Weihe
wissenschaftlicher Erkenntnis.
Die Globalisierung ist - da gebe ich Kollegen Lafontaine recht - Herausforderung. Es ist Soros - den Sie,
Kolleginnen und Kollegen, sicherlich nicht als Verfechter einer sozialistischen Planwirtschaft ansehen -, der
anläßlich der aktuellen Krise formuliert: „Der heutige
Marktfundamentalismus ist eine wesentlich größere Bedrohung für die offene Gesellschaft als jede totalitäre
Ideologie.“
Aber auch die vom Kollegen Hombach geforderte
Ökonomisierung der Politik ist nicht gefragt. Genau das
hatten wir 16 Jahre; die CDU verfolgt dies mit ihrer
Forderung nach Angebotskonkurrenz weiter.
Tatsächlich brauchen wir eine Politisierung der
Ökonomie. Der Handlungsbedarf ist hoch, und Vorschläge dazu gibt es genug: Maßnahmen zu einem funktionierenden Weltwährungssystem, ein internationales
Kartellrecht zur Fusionskontrolle, eine verbesserte Bankenaufsicht, Tobin-Steuer und Tobin-Versicherung als
erste Schritte zur Regulierung der Finanzmärkte; eine
internationale Vereinbarung sozialer Grundrechte, verbunden mit einem Klagerecht der Betroffenen und internationaler Gewerkschaften. Sie, Kolleginnen und Kollegen von der Regierung, haben im Rahmen der EURatspräsidentschaft und im Vorsitz der G 7 die Chance.
Wir werden Sie daran sicher erinnern.
Der Markt kennt keine Werte wie soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung von Geschlechtern, Recht auf Arbeit, Frieden und Völkerverständigung. Dafür ist Politik
zuständig. Hören Sie auf, sich in die Tarifautonomie
einzumischen und mit der Förderung geringfügiger Beschäftigung und Kombilohn eine Niedriglohnzone zu
schaffen! Unternehmen Sie endlich ernsthafte Schritte
zur Nachfrageorientierung! Die Hoffnung, Wachstum
werde Beschäftigung schaffen, ist trügerisch. Fangen Sie
an mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch einen
öffentlich geförderten Beschäftigungssektor! Er nutzt
noch dazu dem sozialen und ökologischen Umbau. Führen Sie Mitbestimmungsrechte zur Beschäftigungssicherung ein, wie es der DGB fordert!
Folgen Sie solchen Ratschlägen, holen Sie sich solche
Wissenschaftler als Gutachter, die den Menschen und
dem Abbau der Arbeitslosigkeit nutzen, statt den Empfehlungen der Sachverständigen zur Kostenkonkurrenz
zu folgen!
Vielen Dank.
({0})
Es spricht jetzt der
Kollege Hans Martin Bury, SPD.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Sachverständigenrat ist
mit seinem Gutachten vom November des vergangenen
Jahres seiner Tradition treu geblieben. Begierig suchen
die Oppositionsfraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.
im Jahresgutachten die Argumente für die Fortsetzung
einer Politik, die am Arbeitsmarkt gescheitert ist und die
von den Bürgerinnen und Bürgern am 27. September
1998 eindeutig und eindrucksvoll beendet worden ist.
({0})
Wir verbinden nun eine solide Finanzpolitik mit einer
Stärkung von Nachfrage und Investitionen als Säulen für
Wachstum und Beschäftigung. Die Neuverschuldung
soll nach den Plänen des Bundesfinanzministers auch in
diesem Jahr nicht erhöht werden. Doch der Haushalt
setzt Akzente für Innovationen und Arbeitsplätze.
Wir haben versprochen, den Bundeshaushalt zu konsolidieren, und wir werden dieses Versprechen einhalten. Wir haben zugesagt, Innovationen zu fördern, und
wir setzen das um.
Wir haben versprochen, die Strukturprobleme der
Wirtschaft, des Arbeitsmarktes und der neuen Bundesländer aufzugreifen. Das tun wir jetzt.
Lassen Sie mich das konkret an folgenden Punkten
aufzeigen: Wir gehen die Strukturprobleme am Arbeitsmarkt an. Wir haben ein Sofortprogramm zum
Abbau der Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt, das
Bündnis für Arbeit gestartet und damit die von der alten Bundesregierung zerstörte Vertrauensgrundlage zwischen den Tarifpartnern und der Politik wieder hergestellt, die zur Lösung der Probleme am Arbeitsmarkt
notwendig ist.
({1})
Eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik zu fordern,
wie es der Sachverständigenrat Jahr für Jahr tut, ist die
eine Seite; die politische Vertrauensgrundlage und die
politischen Rahmenbedingungen dafür herzustellen, das
ist die Anforderung, der sich diese Bundesregierung und
die neue Regierungskoalition stellen.
({2})
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat mit der Initiierung des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit die Herausforderung angenommen, bei
der sein Vorgänger kläglich versagt hat. Der Themenkatalog des Bündnisses für Arbeit erfordert Herkulesarbeit. Wir werden den Bundeskanzler und die Bundesregierung dabei unterstützen.
Unser Ziel ist eine Unternehmensteuerreform mit
einem einheitlichen Höchstsatz von 35 Prozent. Die
Senkung der gesetzlichen Lohnnebenkosten ist bereits
mit unserer Gesetzesinitiative für eine ökologische Steuerreform auf den Weg gebracht. Wir werden die gesetzlichen Lohnnebenkosten in dieser Wahlperiode unter
40 Prozent senken.
Die strukturelle Reform der Sozialversicherung, eine
beschäftigungsfördernde Arbeitsverteilung und eine Tarifpolitik, die den Beschäftigungsaufbau unterstützt, sind
weitere Themen auf der Agenda des Bündnisses für Arbeit, mit denen die Strukturdefizite am Arbeitsmarkt
angegangen und beseitigt werden sollen.
({3})
Wir werden darüber hinaus die Forschungs- und
Technologiepolitik verstärken und dafür zusätzliche
Haushaltsmittel in einer Größenordnung von insgesamt
1 Milliarde DM bereitstellen und insbesondere die anwenderorientierte Innovationsförderung im Mittelstand
verstärken. Wir werden beispielsweise konkret das von
der alten Bundesregierung zum großen Schaden für die
mittelständische Wirtschaft im September eingestellte
Programm für Forschungskooperationen in der mittelständischen Wirtschaft wieder auflegen.
({4})
Wir halten nicht nur unsere Versprechen, sondern auch
noch Ihre, nachdem Sie dazu nicht mehr in der Lage
sind. Aber die Einstellung dieses Programms kurz nach
der Bundestagswahl, auf das viele mittelständische Unternehmerinnen und Unternehmer gebaut hatten, hat viel
Vertrauen zerstört. Es fortzusetzen - die Leute haben im
Vertrauen darauf Ideen entwickelt und Innovationen auf
den Weg gebracht - ist auch ein wichtiger Beitrag dazu,
das Vertrauen in die Politik insgesamt wieder herzustellen.
({5})
Wir werden ein Programm zur Förderung von Multimediatechniken und Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützen. Wir starten ein 100 000-Dächer-Solarprogramm
und eröffnen damit neue Marktchancen für mittelständische Unternehmen und forcieren den Einstieg in eine
neue Energiepolitik.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Lösung der
strukturellen Probleme in der deutschen Wirtschaft werden Bundesregierung und Koalition Tatkraft und Mut
brauchen. Beides hat die alte Bundesregierung über
16 Jahre hinweg vermissen lassen. Ich merke an Ihren
Beiträgen, Sie haben es auch in der Opposition noch
nicht wiedergefunden.
({7})
Mit ideologischen Auseinandersetzungen zwischen
Angebots- und Nachfragepolitik können und werden wir
uns nicht lange aufhalten. In Deutschland wird wieder
regiert, nicht mehr lamentiert.
({8})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Uldall, CDU/CSU.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine Damen! Meine Herren! Lieber Herr Kollege Bury, Sie sagen, Sie wollen sich nicht mit langen Diskussionen über Nachfragepolitik aufhalten. Wir wurden
doch heute vom Bundesfinanzminister mit einem Morgenkatalog über volkswirtschaftliche Nachfragepolitik
überrascht. Das schlimme ist nur, daß dies den Vorlesungen entspricht, die in den 60er Jahren, als ich studiert
habe, den mittleren Semestern gehalten wurden.
({0})
Heute gibt es nicht einen einzigen Wirtschaftswissenschaftler von Renommee mehr, der die Thesen vertritt,
die Minister Lafontaine vertritt. Dazu kann ich nur sagen: Lafontaine gegen den Rest der Wissenschaftler der
Welt.
({1})
Sie werden sich in der Regierung daran gewöhnen
müssen, daß der Sachverständigenrat Mahnungen erteilt.
Diese haben wir hinnehmen und befolgen müssen, als
wir in der Regierung waren, und das wird Ihnen jetzt
nicht anders ergehen. Aber es gibt einen Unterschied
zwischen den Mahnungen, die wir bekommen haben,
und den Mahnungen, die jetzt in dem jüngsten Gutachten enthalten sind. Zur CDU hieß es damals: Euer Weg
ist richtig. Aber ihr müßt schneller und konsequenter
handeln.
({2})
Zur SPD heißt es: Euer Weg ist falsch. Diesen Kurs
dürft ihr nicht weitergehen. - Das ist der Kernunterschied zwischen der bisherigen und der neuen Regierung.
({3})
Das Gutachten enthält nicht nur Mahnungen. Es beschreibt auch eine gute Wirtschaftsverfassung, in der
wir uns befinden. Alles in allem kann man sagen: Der
Sachverständigenrat stellt der bisherigen Regierung ein
exzellentes Abschlußzeugnis aus.
({4})
Dem Prognoseteil, der deswegen auch günstig ausfällt,
können wir entnehmen, daß auf dieser soliden Basis
durchaus günstige Zukunftsperspektiven bestehen. Unsere Wirtschaftsverfassung ist nach wie vor außerordentlich robust. Ich halte es für falsch, wenn sich der
Finanzminister hier hinstellt und versucht, dies alles zu
relativieren. Das ist nicht Aufgabe eines Finanzministers. Aufgabe der Regierung ist es, Optimismus auszustrahlen. Wenn Sie das nicht tun, werden wir in unserer wirtschaftlichen Entwicklung nicht weiter vorankommen.
({5})
Welche Prognosen werden in dem Gutachten des
Sachverständigenrates abgegeben? - Es ist weiterhin mit
Preisstabilität zu rechnen. Die Wirtschaft wird um solide
2 Prozent weiterwachsen. Der Außenwirtschaftsbeitrag
bleibt auf einem hohen Niveau bestehen. Die Zahl der
Erwerbstätigen steigt weiter um knapp 100 000. Entsprechend sinkt die Arbeitslosenzahl. Die Investitionsbereitschaft der Wirtschaft ist auf Grund günstiger Rahmenbedingungen robust - jedenfalls solange noch keine
Unsicherheiten über die Rahmenbedingungen durch die
neue Regierung hervorgerufen werden.
Das sind die Vorgaben, die der Sachverständigenrat
gegeben hat. An diesen Vorgaben werden wir Sie messen. Diesen Trend dürfen Sie nicht nur einhalten, sondern müssen ihn sogar verstärken. Erreichen Sie diese
vom Sachverständigenrat prognostizierten Werte nicht,
so ist das Ihrer Wirtschaftspolitik zuzurechnen.
({6})
An dieser positiven Lagebeschreibung ändern jetzt
auch nichts neuere Einschätzungen, die in den letzten
Tagen und auch heute morgen wieder von der Regierung
gestreut werden. Die Mehrheit des wirtschaftlichen
Sachverstandes ist sich einig, daß die Verwirrungen, die
jetzt aus Asien, Brasilien und Rußland auf unsere Wirtschaft zukommen, nicht entscheidend und dauerhaft sein
werden. So schreibt zum Beispiel das Institut für Weltwirtschaft in seinem jüngsten Kieler Kurzbericht:
Bei der erwarteten Wirtschaftsentwicklung außerhalb der Industrieländer wird die Konjunktur in den
Industrieländern durch die externe Nachfrage zwar
auch im kommenden Jahr nicht gestützt werden.
Der dämpfende Einfluß wird sich aber allmählich
abschwächen.
Man sieht also keinen Grund, von den positiven Prognosen für das Jahr 1999 abzuweichen.
Nun muß man sich fragen: Welchen Hintergrund haben eigentlich diese permanenten Probleme, die das Regierungslager hinsichtlich einer Verschlechterung des
weltwirtschaftlichen Szenarios herausstellt? - Sie sind
doch in erster Linie von der Absicht geprägt, möglicherweise schlechte Ergebnisse der eigenen Politik mit
schwierigen Umständen zu erklären. Das ist nur eine
neue Variante der Zinsdiskussion vom vergangenen
Herbst. Auch hier ging es Minister Lafontaine weniger
darum, eine Senkung des ohnehin schon niedrigen Zinsniveaus zu erreichen - nein; vielmehr sollte mit der
Bundesbank oder der Europäischen Zentralbank schon
rechtzeitig ein Schuldiger benannt werden, falls die eigene Wirtschaftspolitik erfolglos bleiben würde. Meine
Damen und Herren, wir können darin nur eines erkennen: Die Regierung selber hat wenig Vertrauen zu ihrer
eigenen Politik.
({7})
Nun zurück zum Sachverständigenrat: Er beschreibt
nicht nur eine gute Ausgangslage, sondern gibt auch
Hausaufgaben auf, die gemacht werden müssen, und
nennt zunächst moderate Lohnabschlüsse. Es paßt
überhaupt nicht, wenn Lafontaine rät, jetzt einen ordentlichen Schluck aus der Pulle zu nehmen. Das Faszinierende ist dabei nur, daß der Mann, der der Wirtschaft
sagt, sie müsse höhere Lohnsteigerungen verkraften, zugleich erklärt, als Finanzminister könne er sie nicht bezahlen.
({8})
Meine Damen und Herren, es ist überhaupt kein Unterschied, ob ein mittelständischer Unternehmer mit
Schwierigkeiten die Löhne aufzubringen hat oder ob das
ein Finanzminister für viele hunderttausend Arbeitnehmer in seinem Bereich machen muß; denn es gilt die
gleiche Wirkung: Eine D-Mark, die durch einen Beamten ausgegeben wird, ist genauso konjunkturwirksam
wie eine D-Mark, die von einem in einem privaten mittelständischen Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer ausgegeben wird. Wenn also das Rezept richtig wäre, das
Lafontaine predigt, dann müßte er zunächst einmal bei
sich selbst anfangen. Das tut er nicht, und das zeigt, daß
er von seinen Thesen wenig überzeugt ist.
({9})
Das gleiche gilt für die Steuerreform. Der Sachverständigenrat mahnt eine Erhöhung der Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer und eine Verbesserung der
Wettbewerbsbedingungen für die Unternehmer an. Die
Regierung will dagegen die Nachfrage stärken. Mit den
Regierungsvorschlägen wird aber nichts erreicht: weder
eine Stärkung der Angebotsseite noch eine Stärkung der
Nachfrageseite. Wie wirkt sich denn die Senkung der
Einkommensteuer im Jahr 1999 für den einzelnen Arbeitnehmer aus? Der Single wird pro Monat exakt um
3,83 DM entlastet, wenn er das Einkommen der „neuen
Mitte“, also etwa 70 000 DM pro Jahr, erzielt. Meine
Damen und Herren, das ist ein Bier mehr pro Monat,
damit löst Oskar Lafontaine einen gewaltigen Nachfrageschub hier in Deutschland aus.
({10})
Abschließend einige Worte zu der jüngsten Diskussion über Steuererhöhungen, die gestern und heute in der
SPD und bei den Grünen ausgebrochen ist. Für mich ist
zunächst einmal faszinierend, mit welcher Kreativität
Gedanken entwickelt werden, die nicht auf Sparen hinauslaufen, sondern immer nur darauf, wie wir neue
Steuern erheben können: Frau Simonis will das Ehegattensplitting abschaffen, Frau Titze will eine Mehrwertsteuererhöhung, Frau Scheel eine kräftige Anhebung der
Benzinpreise durchsetzen.
({11})
Ich habe immer noch die Worte über die ökologische
Steuerreform in Erinnerung. Es wurde doch versprochen, daß das, was durch die Benzinpreiserhöhung hereinkommt, genutzt werden soll, um die Lohnnebenkosten zu senken. Bevor dieses Gesetz überhaupt in Kraft
getreten ist, wird offensichtlich schon wieder schlichtweg gesagt, die Benzinpreise sollten erhöht werden, um
das Stopfen von Haushaltslöchern zu ermöglichen. Damit wird gezeigt, was diese Ökosteuerreform in Wirklichkeit ist. Wir sprachen damals einfach nur von einer
Mineralölsteuererhöhung; heute wird sie mit „ökologischer Steuerreform“ umschrieben.
({12})
Meine Damen und Herren, Oskar Lafontaine hat
heute morgen zu Recht seine Kollegen gemahnt, jetzt
nicht zu sehr über Steuererhöhungen zu sprechen. Diese
Mahnung gilt bis zum 7. Februar, dem Tag der Wahl in
Hessen. Danach wird es mit kräftigen Steuererhöhungen
losgehen.
({13})
Das Wort hat jetzt
unser Kollege Jörg Spiller, SPD.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Uldall,
Sie haben im Sachverständigengutachten ein gutes Abschlußzeugnis für die alte Regierung entdeckt. Darüber
haben Sie sich gefreut. Die Freude sei Ihnen gegönnt.
Aber ich darf Ihnen wirklich versichern: Viel mehr
Menschen in Deutschland freuen sich darüber, daß es zu
diesem Abgang gekommen ist.
({0})
Es ist schon eine besondere Wahrnehmung, sich
durch den Hinweis im Sachverständigengutachten bestätigt zu fühlen - Frau Hauer hat das zitiert -, daß der
Sachverständigenrat geradezu inständig darum bittet, der
Angebotspolitik doch nicht generell die traurige Hinterlassenschaft der Regierung Kohl in Deutschland anzulasten, sondern die Angebotspolitik nicht völlig beiseite zu
legen.
In diesem Risiko befinden sich unabhängige Sachverständige in der Auseinandersetzung politischer Gremien
eigentlich fast immer: Jeder sucht sich das heraus, was
ihm gefällt, redet gern darüber und schaut dann einmal,
wer gelobt und wer kritisiert wird. Das ist menschlich.
Ich darf allerdings sagen: Es entspricht nicht so ganz
dem Sinn wissenschaftlicher Beratung von Politik.
Im übrigen ist auch im Gesetz über den Sachverständigenrat - dessen Verabschiedung 1963 ist schon ein
paar Jahre her - festgelegt, was der Sachverständigenrat
tun soll. Ich zitiere einmal den entscheidenden Satz:
Der Sachverständigenrat soll Fehlentwicklungen
und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder deren Beseitigung aufzeigen, jedoch keine Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen aussprechen.
Das heißt, er soll unsere Debatte hier anreichern. Wir
sollen uns auch mit unbequemen Argumenten auseinandersetzen. Aber es geht nicht darum, Noten zu verteilen.
Dazu hat der Sachverständigenrat in letzter Zeit geneigt.
Ich möchte einmal kritisch anmerken, daß ich mich
freuen würde, wenn er künftig wieder etwas stärker seinen Anspruch darauf richtete, mit sauberer, sachlicher
Argumentation die politische Debatte zu bereichern.
({1})
Ich habe Verständnis dafür, Herr Kollege Uldall auch Herr Kollege Merz hat sich eigentlich sehr erleichtert über das Sachverständigengutachten ausgesprochen -, daß Sie im Vergleich zu dem, was uns der Sachverständigenrat vor einem Jahr vorgelegt hat, richtig
aufatmen. Vor einem Jahr hat das Sachverständigengutachten noch ein extra Kapitel über die Aktion Goldfinger von Herrn Waigel gehabt.
({2})
Es gab nämlich Mitte 1997 durch die damalige Mehrheit
den dreisten Versuch, die Bundesbank qua Gesetz zu
veranlassen, mitten im Jahr die Goldreserven neu zu
bewerten und den Buchgewinn dann an den Bundesfinanzminister auszuschütten. Da hat der Sachverständigenrat natürlich gegengehalten.
Im Vergleich dazu sind die vorsichtigen Mahnungen,
die neue Bundesregierung möge doch bitte respektieren,
daß die Europäische Zentralbank in ihrer Geldpolitik
unabhängig ist, richtig sanft und harmlos. Der Sachverständigenrat hat auch wenig Anlaß, das, was von der
neuen Regierung in Sachen Geldpolitik gesagt worden
ist, zu kritisieren. Er selbst äußert sich zur Geldpolitik
und auch zur Lohnpolitik. Er beschränkt sich keineswegs darauf, sich zu den Bereichen zu äußern, für die
Parlament und Regierung wirtschaftspolitische Zuständigkeiten haben; vielmehr führt er eine allgemeine breite
Debatte auch über Bereiche der Wirtschaftspolitik, die
aus guten Gründen unabhängig von der Politik zu regeln
sind. Das ist eine Bereicherung. Dazu gehört allerdings
auch, daß sich auch jeder von uns an einer Sachdebatte
über solche Fragen beteiligen kann.
Ich bin - diesen einen Punkt möchte ich doch noch
aufgreifen - dem Sachverständigenrat richtig dankbar,
daß er, wie ich finde, in getreuer Auslegung seines gesetzlichen Auftrags einen sehr respektablen und interessanten Beitrag zur Analyse der Turbulenzen an den
Finanzmärkten in Asien, Lateinamerika und jetzt leider
auch in Rußland geliefert hat. Ich empfehle allen, unseren Wirtschaftspolitikern und Finanzpolitikern sowie
insbesondere natürlich auch unserer Regierung, daß sie
sich das einmal ansehen; nicht nur, weil die Regierung
sich darüber freuen kann, daß sie hier eine Bestätigung
für ihre Auffassung findet, daß dieses Thema nicht vernachlässigt werden darf, sondern auch, weil konkrete
Hinweise gegeben werden, was man tun kann.
Ich will in diesem Zusammenhang nur einen Satz aus
dem Gutachten des Sachverständigenrates zitieren:
Im Bereich der Banken und Versicherungen darf es
keinen Wettbewerb um die geringste Regulierung
geben. Dazu sind die negativen externen Effekte zu
hoch; durch mangelhafte Bankenaufsicht verursachte Finanzkrisen können, wie geschehen, auf
weitere Länder oder Regionen ausstrahlen, auch auf
solche ohne erkennbare makroökonomische und
strukturelle Verwerfungen.
Wir dürfen dieses Thema nicht beiseite schieben. Ich
ermuntere ausdrücklich unsere Bundesregierung, daß sie
sich im Verein mit den Partnern in der OECD, insbesondere natürlich auch mit denen in der Europäischen
Gemeinschaft, dieses Themas annimmt, denn als ein
Land, das so stark mit der Weltwirtschaft verflochten
ist, können wir es uns nicht erlauben, abhängig von unkontrollierbaren, irrationalen Reaktionen fehlgeleiteter
Finanzmärkte zu werden.
({3})
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Michael Luther, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung wirbt zur Zeit in aktuellen Zeitungen und Zeitschriften für die Rücknahme von Reformen, die der
Deutsche Bundestag in der letzten Legislaturperiode auf
den Weg gebracht hat, mit dem Spruch von Friedrich
Sieburg: Es hat nie Privilegien gegeben, die nicht auf
Kosten anderer genossen wurden.
Man kann ja über die künstlerische Gestaltung dieser
Anzeige nachdenken, die aus Steuergeldern finanziert
wurde. Ich habe mir allerdings die Frage gestellt, welche
„Privilegien“ denn von wem genossen wurden. Ich nenne die Privilegien gerne: Es geht um die Entlastung der
Wirtschaft, damit Arbeitsplätze geschaffen und Investitionen getätigt werden können, damit die Wirtschaft
wächst und die Steuern gezahlt werden können, die es
uns in Deutschland ermöglichen, unseren gegenwärtigen
hohen sozialen Standard heute und in Zukunft zu finanzieren. Sie wollen diese „Privilegien“ wegnehmen. Die
Folgen sind für mich vollkommen klar. Ich empfehle Ihnen, hierzu ein anderes Zitat, diesmal von Abraham Lincoln, zur Kenntnis zu nehmen: Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihr die Starken schwächt. Diese Grunderkenntnis ist aber offensichtlich bei der
rotgrünen Bundesregierung nicht angekommen.
Vor diesem Hintergrund versteht man die Prognosen,
die zur Zeit im Raum stehen, besser. Während der Sachverständigenrat am 18. November 1998 noch von einem
Wachstum des Bruttoinlandsproduktes von 2 Prozent
für 1999 ausging, sagt die aktuelle Prognose des DIW,
daß das Wachstum im Westen 1,5 Prozent und im Osten
0,8 Prozent betragen werde. Was heißt das? Ich werte
das so: Die ursprüngliche Prognose, die vor dem Hintergrund der bis dahin vernünftigen Wirtschaftspolitik aufgestellt wurde, muß heute angesichts rotgrüner Chaospolitik relativiert werden.
({0})
Meine Damen und Herren, Sie wollen die Ursachen
dieser schlechten Prognosen zum Beispiel auf die Krisen
in der Welt schieben. Das ist mir zu einfach. Ich glaube,
die Wirtschaftskräfte vertrauen auf das, was in unserem
Land passiert. Wenn sie Vertrauen in den Wirtschaftsstandort Deutschland haben, werden sie sich auch in
Deutschland plazieren. Das Gegenteil ist aber der Fall.
Es ist unglaublich, welche Verunsicherung in Wirtschaftskreisen diese Bundesregierung in so kurzer Zeit
erzeugen konnte.
Das Grundübel ist - das ist heute schon mehrfach gesagt worden -, daß der Bundesfinanzminister zwischen
der absurden Vorstellung von einer nachfrageorientierten Politik und der hoffentlich auch bei ihm zunehmenden Erkenntnis über angebotsorientierte Erfordernisse
schwankt. Herr Minister, ich rate Ihnen an dieser Stelle,
den Sachverständigen zu folgen.
Im Interesse von Deutschland sage ich: Gerade in
schwieriger werdenden Zeiten zeigt sich die Güte der
Wirtschaftspolitik. Diese Güte zeichnet sich durch Kurshalten und durch das Befolgen der Ratschläge des Sachverständigenrates aus.
({1})
Der Sachverständigenrat hat doch deutlich gemacht, daß
viele Länder negative Erfahrungen mit einer verfehlten
Nachfragepolitik gemacht haben, weil diese Politik zumeist zu ungünstigeren Angebotsbedingungen auf seiten
der Unternehmen geführt hat. Auch eine Kombination
von angebots- und nachfragepolitischen Instrumenten,
die Sie heute morgen angesprochen haben, ersetzt keine
konsistente Wirtschaftspolitik.
Der Sachverständigenrat stellt klar: Unternehmerische Entscheidungen zugunsten von Investitionen oder
von Arbeitsplätzen werden stark durch Erwartungen bestimmt. Für die Wirtschaftspolitik kann dies nur bedeuten, daß die Erwartungen hinsichtlich künftiger Entwicklung noch wesentlich wichtiger genommen werden
müssen als die Erwartungen hinsichtlich der Entscheidungen, die in der Gegenwart getroffen werden. Deshalb
ist es so wichtig, verläßliche Rahmenbedingungen für
unternehmerisches Wirtschaften zu garantieren.
({2})
Gift für diese Entwicklung sind natürlich die andauernden Diskussionen, ausgelöst durch Ihre ständig neuen
Geistesblitze über Steuererhöhungen. Ich verstehe
schon, daß heute Herr Lafontaine - er ist leider nicht
mehr anwesend - einen Appell an seine eigene Fraktion
richtet, nicht ständig irgendwelche neuen Steuerdiskussionen zu beginnen. Beispielsweise wird - das muß man
sich einmal vorstellen - über eine Erhöhung der Mineralölsteuer nachgedacht, weil im Moment die Rohölpreise besonders niedrig sind. Wird die Erhöhung zurückgenommen, wenn die Rohölpreise wieder steigen? Das
kann ich mir nicht vorstellen. Auf der Grundlage dieser
Überlegungen in der Regierungskoalition kann kein
Unternehmer kalkulieren.
Welche Auswirkungen zum Beispiel die Diskussion
über die Energiesteuern hat, will ich kurz am Beispiel
der neuen Bundesländer erläutern. Deutschland liegt
bei den Energiepreisen im oberen Drittel. Das ist wahr;
aber das ist nur die halbe Wahrheit; denn im Unterschied
zum Saarland grenzen die neuen Bundesländer an Polen
bzw. Tschechien. Man muß diese Diskussion auch vor
dem Hintergrund der EU-Osterweiterung führen. Die
sich daraus ergebenden Fakten sind Grundlage zumindest für Investitionsentscheidungen in den neuen Bundesländern. Deshalb wird schon heute darüber nachgedacht, wie man in Zukunft handeln will.
Ich kann ein Zögern bei vielen Unternehmern verzeichnen, mit denen ich gesprochen habe. Dieses Zögern
betrifft nicht nur Entscheidungen über große Investitionen, sondern auch besonders Entscheidungen des Mittelstandes, der in der grenznahen Region mit den ungleichen Konkurrenzbedingungen hinsichtlich der Energiepreise kalkulieren muß.
Meine Aussage ist daher klar: Die Bundesregierung
liegt völlig falsch, wenn sie mit der sogenannten Ökosteuer die Energiebesteuerung im nationalen Alleingang
erhöhen will. Diese Erhöhung schadet Deutschland, aber
ganz besonders den neuen Bundesländern, weil für diese
Länder die EU-Osterweiterung und damit die Blickrichtung nach Osten entscheidend ist.
Der Sachverständigenrat weist auf eine weitere große
Differenz zwischen Ost und West hin, nämlich die Differenz beim Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner. Im
Osten beträgt die Quote zur Zeit 57,25 Prozent des
Westniveaus. Der Sachverständigenrat verweist aber
auch auf erkennbare Erfolge: Die Wettbewerbsnachteile
gegenüber dem Westen, gemessen an den Lohnstückkosten, verringerten sich 1997 merklich.
Wir befinden uns zur Zeit in einer Phase - das ist erfreulich -, in der das verarbeitende Gewerbe zunehmend
wichtiger für die wirtschaftliche Entwicklung in den
neuen Bundesländern wird und in der es den Wachstumsstab vom Baugewerbe übernimmt.
Die Zunahme der Wertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe betrug 1997 knapp 11 Prozent, 1998 deutlich über 11 Prozent. An der Spitze dieser Entwicklung
stehen - mit dem höchsten Anteil am verarbeitenden
Gewerbe - die Länder Sachsen und Thüringen, und das
trotz der schwierigen Standortbedingungen an der EUAußengrenze. Auch Brandenburg steht gut da, aber hier
muß man den Berlin-Effekt mit bedenken.
Die Qualität, die Güte ostdeutscher Industrieprodukte
ist zunehmend auch im Ausland gefragt. Der Auslandsumsatz konnte 1997 um 33,7 Prozent ausgeweitet werden. Diese Entwicklung war 1998 ungebrochen und gab
bislang berechtigten Anlaß zur Hoffnung. Doch die Prognosen, zum Beispiel vom DIW, stellen nun in Aussicht,
daß sich die Entwicklung so nicht fortsetzt. Ich hoffe,
daß dem durch eine Korrektur der bisher angedeuteten
Wirtschaftspolitik noch entgegengewirkt werden kann.
Aber ich glaube, das wird schwierig werden.
Ich möchte kurz noch etwas zu einem ganz anderen
Feld sagen, nämlich zu dem Feld der Lohnpolitik. Ich
meine - auch der Sachverständigenrat bringt das zum
Ausdruck -: Lohnsteigerungen ja, aber sie dürfen die
Produktivitätsentwicklung nicht überholen, wenn sie für
mehr Beschäftigung sorgen sollen. Die Tarifparteien haben hier einen wichtigen Beitrag zu leisten.
Sie haben das Bündnis für Arbeit geplant. Dieses
Bündnis für Arbeit wird aber nur dann funktionieren,
wenn Sie die regionalen Besonderheiten berücksichtigen. Ich weise darauf hin, daß Ostdeutschland besonders
davon betroffen ist, und zwar aus folgendem Grund: Es
ist Fakt, daß nur ein Drittel der Unternehmen und praktisch nur die Hälfte der Beschäftigten in tariflich gebundenen Unternehmen arbeiten. Warum? Weil die tariflichen Vorstellungen von den Unternehmen nicht erfüllt
werden können. Es werden von den Betriebsräten, gemeinsam mit den Unternehmen, Konzepte erarbeitet, die
versuchen, das auszugleichen, weil sie eines im Hinterkopf haben: Sie wollen gemeinsam überleben, leben und
dann besser leben. Sie wissen auch, daß das nur in dieser
Reihenfolge geht.
Wenn Sie also ein Bündnis für Arbeit auf den Weg
bringen wollen, dann beachten Sie bitte diesen wichtigen Punkt der Lohnentwicklung in den neuen Bundesländern. Schaffen Sie ein Bündnis für Arbeit, aber schaffen Sie vor allem ein Bündnis der Vernunft, das diese
regionalen Besonderheiten in den neuen Bundesländern
in den Vordergrund stellt.
Schönen Dank.
({3})
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist unsere Kollegin Sabine Kaspereit,
SPD.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Nach der doch eher allgemeingeführten Steuer- und Haushaltsdebatte bin ich
froh, daß das Stichwort neue Bundesländer noch gefallen ist. Ich möchte dieses Thema noch etwas näher beleuchten.
Uns allen ist schmerzhaft bewußt, daß die Wirtschaft
in den neuen Ländern nach acht Jahren vielfältiger
Bemühungen noch immer nicht den sich selbst tragenden Aufschwung erreichen konnte. Der Zeitbedarf für
das Ingangkommen eines nachhaltigen und sich selbst
tragenden Wachstumsprozesses ist von der alten Bundesregierung eindeutig unterschätzt worden. Diese Unterschätzung hat bei manchen die Vorstellung aufkommen lassen, es bedürfe nur eines einmaligen und zeitlich
eng begrenzten Kraftaktes für Ostdeutschland. Diese
Fehleinschätzung war auch ein Grund dafür, daß wir gefordert haben, den Aufbau Ost zur Chefsache zu machen. Die Bürgerinnen und Bürger sahen das genauso.
Das Aufbauprogramm Zukunft Ost ist jetzt Chefsache.
Bei unserem Ziel, die deutsche Einheit zu vollenden,
attestiert der Sachverständigenrat der neuen Bundesregierung denn auch die realistische Vorstellung, daß der
Aufbau noch längere Zeit in Anspruch nehmen wird.
Dies liegt
- so der Sachverständigenrat im Sinne einer auf Schaffung günstiger Wachstumsbedingungen gerichteten langfristig orientierten Politik.
Genau das ist unsere Politik. Die von taktischem Kalkül
geprägten kosmetischen Eingriffe der Kohl-Regierung,
zum Beispiel bei der Arbeitsmarktpolitik, sind nicht unsere Art. Schon gar nicht ist es unsere Art, wie CSUStaatsminister Huber den Solidarpakt aufkündigen zu
wollen.
({0})
Mit dieser Äußerung ist das Grundvertrauen der ostdeutschen Länder erschüttert worden. Die Vollendung der
deutschen Einheit kann nicht vom Wohlverhalten der
ostdeutschen Länder im Sinne einer christlich-sozialen
Ideologie abhängig gemacht werden.
({1})
Das Wort vom „Kommunismus-Aufbau Ost“ kennzeichnet eine erbärmliche Profilsuche der CSU mit den
Mitteln der Angst, ausgetragen auf dem Rücken der
Menschen in Ostdeutschland und im höchsten Maße abschreckend für investitionswillige Unternehmen. Beim
Aufbau Ost ist eine langfristig orientierte Strategie das
Maß, und Kontinuität und Nachhaltigkeit sind das erklärte Prinzip unserer Politik. Erst das schafft Vertrauen
und Planungssicherheit bei den Ländern, bei den Bürgern und bei den Investoren.
Unisono berichten die Wirtschaftsförderungsgesellschaften im Osten von einem wieder wachsenden Interesse ausländischer mittelständischer Unternehmen.
Warum ist das so? Weil sich erstens die ostdeutschen
Länder bemühen, die bürokratischen Hürden überwindbar zu machen, weil zweitens die meisten investitionswilligen ausländischen Mittelständler hochqualifizierte
und flexible Mitarbeiter in Ostdeutschland finden, weil
drittens Ostdeutschland innerhalb der Euro-Zone eine
spannende Region mit vielen Marktchancen ist und weil
viertens die ausländischen Investoren lieber auf verläßliche wirtschaftliche Rahmenbedingungen und HighTech-Infrastrukturen als auf Billigstandorte in politisch
instabilen Ländern Wert legen.
Aber auch das heimische verarbeitende Gewerbe
vermeldet eine weiterhin erfreuliche Entwicklung bei
den Auftragseingängen, und der Kreis der ostdeutschen
Industrieunternehmen, die ihre geschäftliche Situation
als gut bezeichnen, hat sich vergrößert. Zudem gelingt
es den Unternehmen mehr und mehr, sich auf Inlandsmärkten, aber auch auf den internationalen Märkten zu
behaupten.
Neben diesen Auftriebskräften wirken sich aber noch
immer vorhandene strukturelle Defizite wachstumshemmend aus - Defizite, die Kontinuität beim Aufbau
Ost weiterhin erforderlich machen. Noch immer ist die
industrielle Basis in Ostdeutschland zu schmal, der Kapitalstock zu niedrig und die Produktivitätslücke zu
groß. Darüber hinaus drückt die Lage am ostdeutschen
Bau auf das gesamtwirtschaftliche Wachstumsergebnis
in Ostdeutschland.
Zur Illustration: Während das reale Bruttoinlandsprodukt in den neuen Ländern 1994 die sehr erfreuliche
Wachstumsrate von 9,6 Prozent aufwies, verstetigte sich
dieser Trend leider nicht, sondern sank, unter anderem
bedingt durch die Lage am Bau, bis zum ersten Halbjahr
1998 auf nur 1,8 Prozent. Hier muß dringend gegengesteuert werden! Mit einem neuen Bündnis für Arbeit, der
Senkung der Lohnnebenkosten und der geplanten Reduzierung bei den Unternehmenssteuern, die sich im internationalen Vergleich durchaus sehen lassen können, hat
die neue Bundesregierung wichtige Eckpfeiler für die
wirtschaftliche Entwicklung gesetzt. Diese Politik ist
weder dirigistisch noch interventionistisch. Vielmehr
sind diese Eckpunkte Ausdruck einer ausgewogenen angebots- und nachfrageorientierten Politik
({2})
- einer Politik also, die die Investitionskraft von Unternehmen und die Kaufkraft von Arbeitnehmern gleichermaßen stärkt.
Für den Aufbau Ost sind erste Maßnahmen auf den
Weg gebracht.
Erstens. Wir haben die Bundesleistungen für den
Aufbau Ost stabilisiert. Mit 100 Milliarden DM im Vergleich zu 91 Milliarden DM im Vorjahr hat die Regierung im Bundeshaushalt in bezug auf die neuen Länder
einen deutlichen finanziellen Schwerpunkt gesetzt.
Zweitens. Das Sofortprogramm zur Schaffung von
100 000 zusätzlichen Stellen für Jugendliche ist aufgelegt worden. Gerade in Ostdeutschland sind junge
Menschen unter 25 Jahren von der Arbeitslosigkeit besonders hart betroffen. Die Arbeitslosenquote bei dieser
Personengruppe stieg in Ermangelung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik der alten Regierung immer weiter an.
Wir haben jetzt 2 Milliarden DM bereitgestellt. Gestützt
auf das Sonderprogramm „Lehrstellen Ost“ werden in
diesem Jahr zusätzlich 15 000 Jugendliche eine außerbetriebliche Ausbildung erhalten. Das haben wir versprochen, und wir haben Wort gehalten.
({3})
Drittens. Zur Verstetigung der aktiven Arbeitsmarktpolitik stehen im Haushaltsentwurf 1999 der
Bundesanstalt für Arbeit über 20 Milliarden DM bereit.
Viertens. Die Arbeit der BvS wird nicht abgebrochen, sondern in Abhängigkeit von den zu erledigenden
Aufgaben zu Ende geführt. Jetzt wird es darauf ankommen, daß die BvS ihre Möglichkeiten effektiv nutzt.
Fünftens. Der Solidarpakt von 1993 bleibt als finanzielles Rückgrat des wirtschaftlichen Aufbaus der neuen
Länder unangetastet.
Sechstens. Die Investitionsvorrangregelung wurde
über 1998 hinaus verlängert, um die Bereinigung weiterer noch offener Vermögensfragen nicht zu behindern
und um Planungssicherheit bei den Kommunen und Investoren zu schaffen.
Siebtens. Das Investitionszulagengesetz konnte
pünktlich am 1. Januar 1999 in Kraft treten und die Förderlücke nach Auslaufen der Sonderabschreibungen
nach dem Fördergebietsgesetz somit verhindert werden.
Achtens. Die Finanzhilfen für die ostdeutschen
Krankenkassen werden über das Jahr 2000 hinaus gewährt und sind damit wichtige Voraussetzungen für das
finanzielle Überleben der Ostkrankenkassen.
Die genannten acht Punkte sind erste Schritte in die
richtige Richtung und Ausdruck unserer langfristig orientierten Strategie, die von Kontinuität und Nachhaltigkeit getragen wird. Wir haben das alles in kürzester Zeit
auf den Weg gebracht. Hier haben Finanzminister Lafontaine und Staatsminister Schwanitz solide Arbeit geleistet. Das wird auch in Zukunft so sein.
({4})
Es reicht uns einfach nicht, nur die Defizite der alten
Bundesregierung auszugleichen. Wenn der Aufbau Ost
Chefsache ist, dann muß er auch die nachhaltige Konsolidierung der ostdeutschen Wirtschaft zum Ziel haben.
({5})
Der Aufbau einer gesunden Wirtschaftsregion muß mit
allen Mitteln unterstützt werden.
Es stimmt mich zuversichtlich, wenn aus dem Kabinett zu vernehmen ist, daß der Haushalt 1999 diesem
Ziel Rechnung trägt. Ein Beispiel: Wenn es nach der alten Regierung gegangen wäre, wäre das Wohnraummodernisierungsprogramm der KfW ausgelaufen. Die neue
Regierung möchte statt dessen das Programm aufstokken, und wir können mit unserer Zustimmung dazu beitragen, daß der Bausektor nicht noch weitere Dämpfungen erfährt.
({6})
Zu einer gesunden Wirtschaftsregion gehören beispielsweise auch die Ansiedlung und Stärkung produktionsorientierter Dienstleistungsunternehmen, die mittel- und
langfristig mehr Arbeitsplätze versprechen.
Wir werden auch weiterhin darauf zu achten haben,
daß der Anteil der Auftragsvergaben des Bundes an
Unternehmen in den neuen Ländern auf hohem Niveau
erhalten bleibt. Es wird ferner darum gehen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß neue Unternehmen
entstehen. Unter „Voraussetzungen“ verstehe ich bessere Startbedingungen durch unternehmensorientierte
Begleitung seitens der Banken, unbürokratische Verwaltungen und transparente Förderpolitik. Wir werden
eine Lösung finden müssen, um den Standortnachteil,
der sich aus der Strompreisdifferenz zwischen den alten
und den neuen Ländern ergibt, zu beheben.
Meine Damen und Herren, der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Ländern darf nicht als Last empfunden
werden. Der Aufbau Ost ist vielmehr eine Chance für
die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in
Europa, die wir sehr ernst nehmen müssen.
({7})
Die dafür im Haushalt erfreulicherweise eingestellten
Mittel dürfen nicht Manövriermasse mit Drohpotential
für profilierungssüchtige Politiker aus der südlichen
Provinz unseres Landes sein. Das ist ein Grund mehr,
über das Wahlergebnis vom 27. September froh zu sein.
({8})
Begreifen und ergreifen wir die Chance, die der wirtschaftliche Aufbau der neuen Länder uns allen gibt!
({9})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/73 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und b
und den Zusatzpunkt 2 auf:
4a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Guido Westerwelle, Ulrich Heinrich,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 14/207 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({1})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, Kersten Naumann und der Fraktion der PDS eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes ({2})
- Drucksache 14/279 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({3})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
ZP2 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes ({4})
- Drucksache 14/282 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({5})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Als erste spricht unsere Kollegin Marianne Klappert,
SPD.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir freuen uns, lieber Ulli Heinrich, daß die F.D.P., nachdem nun die
Fraktionszwänge weggefallen sind, plötzlich das Thema
Tierschutz wieder richtig entdeckt hat und sofort handelt.
({0})
Unsere Freude hindert uns aber nicht daran, noch einmal
kritisch anzumerken, daß es die damalige Koalition in
der letzten Legislaturperiode durch vielerlei Geschäftsordnungstricks geschafft hat, daß dieses Thema im Plenum und in den Ausschüssen nicht abschließend beraten
wurde. Ich denke, jetzt haben wir eine gute Chance, die
wir gemeinsam wahrnehmen müssen.
Der Kollege Heinrich hat, wenn meine Informationen
richtig sind, in einer Pressekonferenz mitgeteilt, daß die
F.D.P. keinen weiteren Beratungsbedarf sieht. Mich hat
das sehr gewundert; denn ich habe die Ausreden aus der
letzten Legislaturperiode noch sehr gut im Gedächtnis,
wonach immer wieder darauf verwiesen wurde: Es gibt
noch Beratungsbedarf, wir können nicht abschließend
beraten, deswegen vertagen wir. Aber vielleicht ist man
zu der Erkenntnis gekommen - jeder hat noch einmal
die Auswertung der Anhörungen nachlesen können -,
daß man jetzt eine andere Grundlage der Beratung hat.
Ich freue mich, daß wir jetzt eine Chance haben, den
Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. Denn der Kollege Heinrich hat auf der Pressekonferenz ebenfalls mitgeteilt, daß es mittlerweile auch bei
den Kollegen der CDU/CSU - wenigstens bei denen im
Agrarausschuß - ein bißchen Bewegung gegeben hat.
({1})
Vielleicht können wir gemeinsam daran arbeiten.
Liebe Kollegen und Kolleginnen der F.D.P, wir werden genau aufpassen, ob Sie das alles ernst meinen oder
ob Sie dieses Thema nur benutzen, um auf Stimmenfang
bei den zukünftigen Wahlen zu gehen.
({2})
- Das ist gut. Dann können wir sehr ordentlich arbeiten.
- Wenn das eben Gesagte alles so richtig ist, dann
kommen wir dem Ziel einer grundgesetzlichen Absicherung des Tierschutzes ein entscheidendes Stück näher. Es liegt an Ihnen, meine Damen und Herren von der
Union, dem Mehrheitswillen der Bevölkerung in dieser
Frage zum Durchbruch zu verhelfen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hält ihr Versprechen.
({3})
Wir haben vor der Wahl angekündigt, dieses Thema
unmittelbar nach der Wahl erneut auf die Tagesordnung
zu setzen. Dieses Versprechen haben wir gehalten: Wir
legen heute zusammen mit der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen einen Entwurf vor. Es freut mich, daß auch der
Bundesrat wieder eine Initiative zur grundgesetzlichen
Absicherung des Tierschutzes unternimmt.
Natürlich weiß ich, daß wir ohne Ihre Zustimmung
die nötige Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung nicht erreichen werden. Natürlich weiß ich,
daß unsere Initiative ohne Ihre Mitarbeit hinsichtlich des
Gesetzgebungsvorgangs ins Leere laufen muß. Wir respektieren, daß es in dieser Frage andere Ansichten gibt.
Wir respektieren auch, daß diese Ansichten interessengeleitet sind. Aber wir respektieren nicht - und können
es auch nicht respektieren -, wenn die Diskussion
künstlich in die Länge gezogen wird, weil man einer
Entscheidung ausweichen will.
Die parlamentarische Diskussion über ein Staatsziel
Tierschutz läuft seit 1992. Die Argumente dafür und dagegen sind genügend oft genannt und bewertet worden.
Neue Argumente gibt es kaum. Deshalb ist es an der
Zeit, endlich zu einem positiven Abschluß zu kommen.
Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, wollen diesen positiven Abschluß. Und wir sind bereit, in den Beratungen
über die unterschiedlichen Gesetzentwürfe berechtigte
Bedenken zu berücksichtigen und einen allgemein konsensfähigen Vorschlag zu erarbeiten.
({4})
Wir wollen das Staatsziel Tierschutz nicht, weil wir dem
Tierschutz plötzlich einen höheren Rang zuerkennen
wollen als anderen Grundrechten. Wer diese Gefahr beschwört, handelt unverantwortlich oder fahrlässig. Wir
wollen, daß der Tierschutz in Zukunft annähernd gleichVizepräsidentin Petra Bläss
gewichtig neben anderen durch die Verfassung garantierten Rechten steht.
Wir wollen, daß in der Konkurrenz zwischen den
Grundrechten auf Forschungsfreiheit, auf Lehrfreiheit,
auf Kunstfreiheit und dem Tierschutz die Abwägung in
Zukunft auf einer Rechtsebene stattfindet und nicht zwischen dem hohen Verfassungsrecht einerseits und dem
einfachgesetzlichen Tierschutzrecht andererseits. Wir
wollen Waffengleichheit herstellen, also die Lanzen
gleich lang machen.
Lassen Sie mich das an einem - zugegebenermaßen
recht krassen - Beispiel deutlich machen: Da wird eine
Künstlerin freigesprochen, nachdem sie bei einem Happening einen Wellensittich in Mayonnaise getaucht hat.
Argument der Richter: Zwar sei der Tatbestand der
Tierquälerei nicht zu bestreiten, doch sei die Kunstfreiheit grundgesetzlich geschützt, während der Tierschutz
nur in einem einfachen Gesetz geregelt sei.
({5})
Auch wenn es sich dabei nur um einen „Ausrutscher“
handeln sollte, dann zeigt er doch, zu welchen empörenden Konsequenzen die Tatsache führen kann, daß hier
Verfassungsrecht mit dem einfachen Gesetz kollidiert.
({6})
Die gewünschte Folge der geforderten Verfassungsänderung wäre, daß das Gericht eine Güterabwägung zwischen verschiedenen, sich im konkreten Fall
widersprechenden Grundrechtsgütern vornehmen müßte
- in diesem Fall zwischen der Freiheit der Kunst einerseits und dem Recht des zum Objekt eines Happenings
gemachten lebenden Tieres andererseits. Diese Konfliktlage läßt sich auch mit anderen Beispielen belegen,
von denen natürlich die, in denen es um die Forschungsund Lehrfreiheit geht, die häufigsten und die umstrittensten sind.
Aber es ist doch einfach nicht hinnehmbar, daß hinsichtlich der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen
der den Antrag prüfenden Behörde keine eigene ethische
Bewertung gestattet ist, sondern sozusagen nur eine
Plausibilitätskontrolle des Vorbringens des Tierexperimentators, weil auch hier die verfassungsrechtlich garantierte Forschungsfreiheit Vorrang vor den entsprechenden Regelungen des Tierschutzgesetzes habe.
Das oft gebrauchte Argument von Wissenschaftlern
und Industrie, daß mit einem Staatsziel Tierschutz der
Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland in
Gefahr gerate, stimmt so nicht. Ich will daran erinnern,
daß es in der Schweiz Wissenschaft gibt, daß es in der
Schweiz Wissenschaftler gibt und daß es in der Schweiz
noch Tierversuche gibt, obwohl der Tierschutz dort Verfassungsrang hat. Das sollte angesichts des so gern gebrauchten Menetekels von einer „Wissenschaftswüste
Deutschland“ zur Vorsicht gemahnen.
Ein Staatsziel Tierschutz kann und soll nach unserem
Verständnis nicht das Werkzeug sein, mit dem zum Beispiel die Möglichkeit, Tierversuche durchzuführen, ausgehebelt wird. Es soll und wird aber erhöhte Anforderungen an die Abwägung zwischen Tierschutz und Tiernutzung stellen. Es soll und wird die Abwägung verschärfen. Das, so denke ich, wollen wir alle. Vor diesem
Hintergrund sollte, so meine ich, die durchaus verständliche Angst, der Gesetzgeber würde die Forschung mit
einem solchen Staatsziel in unzuträglicher Weise zügeln,
durch die Klarstellung der gesetzgeberischen Motive
minimiert werden können.
Ich sage es noch einmal, weil es mir wichtig ist: Es
geht nicht um eine Entwertung von Menschenrechten.
Es geht lediglich um die Einschränkung von Grundrechten da, wo es um der Mitgeschöpflichkeit des Tieres
willens geboten ist.
Daß die verfassungsrechtliche Absicherung des Tierschutzes überfällig ist, wird nicht nur durch eine ForsaUmfrage von 1993, wonach 84 Prozent aller Deutschen
die Festschreibung des Tierschutzes in der Verfassung
wünschen, sondern auch durch eine Reihe von Gerichtsurteilen aus der jüngsten Zeit belegt, in denen der Tierschutz hinter vorbehaltlos gewährten Grundrechten zurückstehen mußte.
Das Thema ist ein Politikum von hohem Rang. Darüber sind sich alle Mitglieder dieses Hauses einig. Die
Bevölkerung ist durch die intensive Medienberichterstattung über unvertretbare Methoden in der Tierhaltung,
bei Tiertransporten, bei Tierexperimenten usw. hochgradig sensibilisiert. Der Tierschutz ist zu einer Sache unserer Humanität geworden, zu einer Anfrage an unser
politisch-moralisches Selbstverständnis. Der Tierschutz
ist eine Aufgabe, der sich unsere Gesellschaft annehmen
und der sie Verfassungsrang geben muß.
Art. 20 a des Grundgesetzes reicht aber dazu nicht
aus. Gerade in den kritischen Bereichen, in denen ein
verfassungsrechtlich festgeschriebener Tierschutz dringend geboten ist, etwa bei der Intensivtierhaltung, bei
den Tiertransporten, beim Tierhandel, hat das Staatsziel
Umweltschutz keine Verbesserung für den Tierschutz
gebracht. Denn - so ein Jurist - „die Rechtsprechung
verlangt, daß Tierschutz gesagt wird, wenn Tierschutz
gemeint ist“.
Den heute eingebrachten Gesetzentwurf sehe ich als
Angebot zu einer konsensfähigen Lösung. Dieser Konsens ist nicht nur wegen der erforderlichen Zweidrittelmehrheit nötig, er gebietet sich auch in der Sache. Wenn
es um das Grundgesetz geht, also um das normative
Fundament unseres demokratischen und sozialen
Rechtsstaates, ist es unabdingbar, einen Konsens in den
moralischen Grundfragen herbeizuführen. Aber eine
Formulierung nach dem Motto „Es muß etwas geschehen, aber es darf nichts passieren“ dürfen wir der Bevölkerung nicht zumuten. Wir sind nicht gewählt worden,
um symbolische Politik zu machen.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich appelliere an
Sie alle, sich einer grundgesetzlichen Absicherung des
Tierschutzes nicht länger zu verweigern.
({7})
Befürchtungen vor einer inflationären Tendenz bei den
Staatszielen sind unbegründet.
({8})
Wir sehen in einem Staatsziel Tierschutz nur die notwendige Ergänzung zum Staatsziel Umweltschutz in
Art. 20 a GG.
Lassen Sie mich zum Schluß den Ethiker NidaRümelin zitieren, der schon 1994 bei einer SPDVeranstaltung folgendes gesagt hat:
Das Grundgesetz darf nicht zu einer Barriere werden, welche die notwendige Fortentwicklung des
Rechtssystems in Richtung einer vermehrten Rücksichtnahme auch gegenüber nichtmenschlichen Interessen bindet.
Danke schön.
({9})
Nächster Redner ist
jetzt der Kollege Norbert Röttgen, CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir
können - das ist auch gut so - zu Beginn der Debatte
feststellen, daß es in bezug auf den Tierschutz in unserem Land einen ganz breiten gesellschaftlichen Konsens gibt.
({0})
Der Tierschutz ist fester Bestandteil unserer Rechtsordnung. Tierschutz gehört - das hat Frau Klappert völlig
zu Recht gesagt - zu einer humanen Gesellschaft. Für
Christen sind die Tiere Teil der Schöpfung und haben
daher eine eigene Würde. Kein vernünftiger Mensch in
unserem Land, der Herz und Verstand hat, ist gegen
Tierschutz. Das zu Beginn festzustellen ist, glaube ich,
richtig.
({1})
Aber so paradox es auf den ersten Blick klingt: Gerade weil das Thema Tierschutz ein Thema ist, über das
Konsens herrscht, gerade weil es so hohe Zustimmung
erfährt, streiten wir über die Einführung eines Staatsziels
Tierschutz in das Grundgesetz. Denn das wahre Motiv
- das muß hier ausgesprochen werden -, warum alle
Fraktionen, bis auf die CDU/CSU, solche Gesetzentwürfe vorlegen, ist ein rein parteitaktisches Kalkül.
({2})
Indem das emotionale Konsensthema des Tierschutzes
mit einer plakativen Forderung versehen wird, wird versucht, dieses Thema parteipolitisch zu okkupieren und
den Konsens parteipolitisch und parteitaktisch auszuschlachten. Herr Westerwelle, Sie wissen es ganz genau:
Es ist eine reine Marketingveranstaltung, die Sie hier
betreiben - allerdings auf Kosten der Verfassung.
({3})
Das ist eine bedauerliche Sache, gerade bei den Liberalen. Sie machen eine reine PR-Kampagne.
({4})
Sie betreiben parteipolitisches Trittbrettfahren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eva Bulling-Schröter?
Ja, bitte.
({0})
- Ich sage es insbesondere dem Generalsekretär. Ich
werde das gleich noch konkretisieren und ihm ein paar
Aussagen vorhalten.
Herr Kollege Röttgen,
können Sie mir sagen, warum der Tierschutz ausgerechnet in die bayerische Verfassung aufgenommen wurde,
und zwar mit den Stimmen der CSU? Ist es so, daß die
CSU in Bayern gerade bei diesem Thema besonders
populistisch war?
({0})
Ich kann Ihnen ganz
offen sagen, warum immer mehr Parlamente den Tierschutz in ihre Landesverfassungen aufnehmen. Die Gesetzgebungskompetenz beim Thema Tierschutz liegt in
wesentlichen Fragen allein beim Bund. Darum sind die
entscheidenden Regelungen auch in Bundesgesetzen
- inklusive des Grundgesetzes - festzulegen. Wenn man
den Tierschutz in eine Landesverfassung aufnimmt,
dann ist das ein Bekenntnis zum Tierschutz, das ohne
normative Folgen ist. Es ist ein wirkungsloses Bekenntnis, allemal wenn es in der Landesverfassung steht, aber
auch dann, wenn es in der Bundesverfassung verankert
ist.
Ich jedenfalls bin stolz darauf, daß die CDU/CSU in
diesem Parlament die einzige Fraktion ist,
({0})
die sich diesem parteitaktischen Kalkül widersetzt.
({1})
Wir tun das vor dem Hintergrund einer intensiven Beratung in der letzten Legislaturperiode.
({2})
Der Tierschutz war bei uns kein Streitthema; die F.D.P.
war inhaltlich immer auf unserer Seite. Ich werde Ihnen
gleich die Aussagen der Sachverständigen vorhalten, die
Sie benannt haben.
Wir haben in den letzten vier Jahren eine intensive
Beratung geführt. Wir hatten im Rechtsausschuß eine
Anhörung mit Experten, Naturwissenschaftlern, Juristen und engagierten Menschen. Da hat es klare Ergebnisse gegeben. Nach dieser Anhörung gibt es keinen
Zweifel daran, daß die Aufnahme des Tierschutzes in
die Verfassung, daß der Tierschutz als Staatsziel für den
Tierschutz wirkungslos und für die Verfassung schädlich ist. Dieses klare Ergebnis konnten wir verzeichnen.
({3})
Ich will hier konkret werden, weil immer die gleichen
Argumente vorgetragen werden. Das erste Argument ist
- dies wird gerade von der F.D.P. und ihrem Generalsekretär in der Presse angeführt -, man müsse den Tierschutz in die Verfassung aufnehmen, damit man eine
Handhabe gegen Quältransporte, gegen Tiertransporte
habe. Das hat der Generalsekretär ausdrücklich gesagt.
({4})
Das ist ohne jeden Zweifel eine Falschaussage, eine absolut fehlerhafte Aussage; denn die Tiertransporte sind
durch europäisches Recht geregelt. Es handelt sich nicht
um einen Regelungsgegenstand des nationalen Rechts.
Es sind europäische Rechtsakte, die den Tiertransport
regeln - übrigens mit einer erfreulichen europaweiten
Tendenz für mehr Tierschutz. Unsere hohen nationalen
Standards europaweit auszudehnen ist der beste Tierschutz. Das heißt, das Staatsziel im Grundgesetz hat juristisch nichts mit den Tiertransporten zu tun.
({5})
Wenn man über die Rechtsakte der EG hinausgehen
will, dann kann man natürlich auch das nationale Recht
noch verschärfen - das ist möglich -, allerdings nicht im
Grundgesetz, sondern durch eine Verordnung. Die Verordnung zu Tiertransporten muß verändert werden. Man
kann in vielen Fällen mit Verordnungen politisch viel
wirksamer handeln als mit der Schrotflinte, das heißt,
wenn man etwas im Grundgesetz regelt. Aber konkretes
Handeln ist ja nicht gewollt. Gewollt ist die PRKampagne.
Als wir im Ausschuß sachverständig, vernünftig und
ruhig über dieses Thema diskutiert haben, wurde das gar
nicht bestritten.
({6})
Das Thema Massentierhaltung ist das zweite Argument, das vorgetragen wird, um den Tierschutz im
Grundgesetz zu verankern. Auch diese Argumentation
ist schlicht und ergreifend falsch. Wenn die Bundesregierung in bezug auf die Massentierhaltung verschärfte
Maßnahmen ergreifen will, muß sie eine entsprechende
Verordnung erlassen. Dort, wo Sie handeln können,
werden wir Sie messen. Sie sollten keine Lippenbekenntnisse abgeben.
Das eigentliche Problem ist: Wir können die nationalen Vorschriften natürlich weiter verschärfen; das ist
richtig und auch sehr sympathisch, führt aber in ein
wirtschaftliches Dilemma: Wir müssen dann nämlich
befürchten, daß die Unternehmen, die Tierhaltung betreiben, Deutschland verlassen werden.
({7})
Es ist eine Frage der Abwägung, dann in andere Länder
zu gehen, insbesondere auch in die osteuropäischen
Länder, wo natürlich ein unvergleichbar geringeres Niveau des Tierschutzes herrscht. Ob man damit dem Tierschutz einen Gefallen tut - ({8})
- Da braucht man gar nicht so herumzuschreien.
({9})
- Herr Bachmaier!
({10})
- Darf man vielleicht einmal ein Argument zu Ende führen?
({11})
Es ist eine nüchterne Abwägung: Wie erreicht man
das höchste Niveau des Tierschutzes in Anbetracht des
Problems, daß es dann zu Verlagerungen aus Deutschland kommt und dem Tierschutz ein schlechter Dienst
erwiesen wird?
Auch dieses zweite Argument ist also falsch. Das
Staatsziel hat mit dieser Problematik nichts zu tun, wie
alle wissen, die sich mit diesem Thema befaßt haben.
Das dritte Argument lautet: Wir haben im Grundgesetz vorbehaltlose Grundrechte, das heißt Grundrechte
ohne einen Gesetzesvorbehalt: die Religionsfreiheit, die
Glaubensfreiheit, die Kunstfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit, fundamentale Persönlichkeitsrechte. Frau Klappert sagte eben, Sie wollen sie einschränken. Dazu mache ich drei Feststellungen.
Erstens. Ich finde es für eine liberale Partei bemerkenswert, daß sie einen gezielten Angriff auf vorbehaltslose Grundrechte führen möchte, denn offensichtlich ist ihr Ziel, Grundrechte einzuschränken.
({12})
Liberal sind Sie nur da, wo es opportun ist.
Zweitens ist die Behauptung, man brauche das, um
mit den vorbehaltlosen Grundrechten zu Rande zu
kommen, unehrlich und sachlich falsch.
({13})
Sie ist politisch unehrlich deshalb, weil man, wenn man
beklagt, daß es dort keinen Gesetzesvorbehalt gibt, dann
nicht die Einfügung eines Staatsziels beantragen muß,
sondern daß den Grundrechten ein Gesetzesvorbehalt
beigegeben wird.
({14})
Dann wird diesem Mangel abgeholfen, Frau Klappert,
nicht durch ein Staatsziel.
Es ist unbestritten, daß ein Staatsziel nicht die Fähigkeit hat und haben kann, ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht einzuschränken. Ich freue mich darüber,
daß Sie zustimmend nicken. Bringen Sie es auch einmal
unseren Kollegen von der F.D.P. bei. Die sind noch
nicht auf diesem Diskussionsniveau, weil sie es unter
anderem aus anderen Aspekten betrachten. Die Liberalen tragen also eine zutiefst unehrliche Argumentation
vor.
Es ist auch eine sachlich falsche Argumentation, wie
alle Staatsrechtler in der Anhörung vorgetragen haben.
Natürlich kann das Bundesverfassungsgericht nach vielen Jahrzehnten Tätigkeit mit vorbehaltslosen Grundrechten dogmatisch umgehen. Es gibt die immanenten
Schranken der vorbehaltslosen Grundrechte, die der
Gesetzgeber sichtbar machen kann. Er hat sie im Tierschutzgesetz sichtbar gemacht. Wenn das, was Sie sagen, stimmt, wäre das Tierschutzgesetz verfassungswidrig,
({15})
denn im Tierschutzgesetz steht, daß Tierversuche nur
gemacht werden dürfen, wenn sie unerläßlich sind. Das
Tierschutzgesetz wäre verfassungswidrig, wenn das keine immanente Schranke unter dem Gesichtspunkt des
Tierschutzes ist.
({16})
Im Tierschutzgesetz steht, daß Tierversuche nur unternommen werden dürfen, wenn sie im Hinblick auf ihren
Zweck ethisch vertretbar sind. In welchen anderen Gesetzen gibt es einen solchen Begriff, „ethische Vertretbarkeit“? Es ist eine massive Einschränkung, eine immanente Schranke der vorbehaltslosen Grundrechte.
Staatsziele haben damit nichts zu tun.
Das dritte Argument, das vorgetragen worden ist, ist
also unehrlich und falsch.
Darum, meine Damen und Herren, steht fest: Die
Aufnahme des Staatsziels ist für den Tierschutz wirkungslos. Allein das reicht schon aus, um die Aufnahme
in das Grundgesetz abzulehnen. Wir wollen keine geschwätzige Verfassung, in der alle möglichen Konsensthemen stehen.
({17})
Wir wollen keine rhetorische Verfassung. Wir wollen
eine normativ wirksame Verfassung.
Aber es ist nicht nur wirkungslos, sondern es ist auch
schädlich. Es ist für unsere Verfassung und für unsere
Demokratie schädlich. Beim Tierschutz ist entscheidend,
daß er eine Frage der politischen Bewertung ist: Wieviel Tierschutz wollen wir? Wie wollen wir die Konflikte lösen, die ich eben zum Teil beschrieben habe?
Das ist eine politische Wertung. Wenn man Fragen politischer Wertungen über den Weg des Staatsziels in das
Grundgesetz aufnimmt, dann macht man aus einer politischen Frage eine rechtliche Frage, man entmachtet das
Parlament. Das führt zu einer Politisierung des Rechts,
das führt dazu, daß Fragen politischer Wertung nicht
mehr im Parlament, wohin sie gehören, entschieden
werden, sondern vor Gerichten.
({18})
- Nein, das ist nicht der Untergang des Abendlandes,
Frau von Renesse, aber der tiefe demokratische Grund,
warum die Väter und Mütter des Grundgesetzes eine begründete Ablehnung gegen Staatsziele hatten. Sie wollten, daß politische Fragen im Parlament entschieden
werden. Sie waren gegen die Politisierung der Verfassung.
({19})
Das führt auch zur Rechtsunsicherheit. Sowohl die
Vertreter der Grundlagenforschung in Deutschland, als
auch die Vertreter der pharmazeutischen Wirtschaft - sie
wurden als Sachverständige bei der Anhörung von der
F.D.P. benannt - haben sich eindeutig gegen dieses
Staatsziel ausgesprochen, nicht wegen der rechtlichen
Wirkung, die ja nicht da ist, sondern wegen der faktischen Unsicherheit, weil nun politische Fragen vor Gerichten entschieden werden. Das ist ein Unsicherheitsfaktor für die Grundlagenforschung und für die pharmazeutische Wirtschaft. Das wollen auch wir nicht. Wir
wollen Wissenschaft und Forschung in Deutschland behalten und sie nicht psychologisch, durch faktische Wirkungen verunsichern.
({20})
Das letzte Argument rührt an die Frage: Warum haben eigentlich die Mütter und Väter des Grundgesetzes
von den Staatszielen Abstand genommen? Ich habe es
eben gesagt: aus gewaltenteilenden Gründen. Das ist
eine tiefe demokratische Einsicht. Aber es stellt sich
auch die Frage: Was für eine Verfassung wollen wir eigentlich? Wollen wir das Bonner Grundgesetz, das sich
als eine Verfassung mit konkretem normativen Gehalt
bewährt und entwickelt hat, eine Verfassung, die hält,
was sie verspricht, die einklagbare Rechte gibt? Dafür
sind wir als CDU/CSU. Oder wollen wir eine Verfassung, die vollgestopft ist mit Rhetorik, mit Willensbekundungen, mit schönen Sätzen, die völlig wirkungslos
sind?
({21})
Wir wollen die schlanke Verfassung, die einklagbare
Rechte gibt. Wir wollen eine Verfassung, die das hält,
was sie verspricht.
({22})
Darum, meine Damen und Herren, müssen wir hier
im Parlament eine Abwägung treffen, eine Abwägung
zwischen der klaren Sach- und Rechtslage, der Wirkungslosigkeit des Tierschutzes als Staatsziel, der
Schädlichkeit für die Verfassung,
({23})
und dem parteitaktischen Nutzen. Es geht darum, ob Sie
sagen: Wir gehen schlecht mit der Verfassung um, aber
es nutzt unserer Partei, es nutzt der F.D.P., wenn sie sich
jetzt an die Spitze dieser Bewegung setzt. Ob die Verfassung ein bißchen leidet, ist nicht so wichtig. Wir, die
F.D.P., die Parteien generell sind wichtiger als die Verfassung. - Das ist das Ergebnis Ihrer Abwägung, zu dem
Sie nach dieser Legislaturperiode gekommen sind, meine Damen und Herren.
({24})
Ich bin dafür, daß sich die Parteien weiter profilieren,
daß sie ihre Punktsiege machen. Aber die CDU/CSUFraktion appelliert: Suchen wir den kleinen parteipolitischen Punktsieg nicht in der Verfassung! Profilieren wir
uns, aber verschonen wir unsere Verfassung bei diesen
Profilierungsbemühungen! Sie kennen diese Grenze offensichtlich nicht mehr. Die CDU/CSU hält die Verfassung für ein zu hohes Gut, als daß sie für kleine parteitaktische Profilierungen herhält. Wir würden unsere
Verantwortung auch als Verfassungsgesetzgeber verletzen, wenn wir so wie Sie mit der Verfassung umgingen.
Darum bleiben wir bei unserem Nein gegen diese
PR-Kampagne.
Danke sehr.
Das Wort hat jetzt
die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Röttgen, wir haben schon einmal vor tausend
Tierschützern gesessen. Das wünsche ich Ihnen demnächst wieder. Tierschutz als Geschwätz, das ist letztendlich Ihre Aussage. Sogar Ihr Abgeordneter Scholz
hat den Tierschutz nach all dem, was er darüber gesagt
hat, in die Verfassung aufnehmen wollen. Er sah das nur
realisiert in Art. 20 a Grundgesetz, im Umweltschutz.
Aber nach all den Gerichtsurteilen, die es gegeben
hat, müssen wir doch zu dem Schluß kommen, daß dieses Vorhaben nicht gelungen ist, daß es eines Schrittes
bedarf, die Verfassung in diesem Punkt zu ergänzen.
Wir werden Sie sicher noch bei weiteren Beschlüssen
zum Thema Tierschutz beim Wort nehmen können,
wenn Sie sich dafür hier derartig in die Bresche werfen,
- scheinbar.
Sie tun ja gerade so, als ob es sich hier um Vatis
Dackel drehen würde, obwohl auch dieses Zuchtergebnis mit den kurzen Beinen und dem krummen Rücken
sicher leidet und kritisch zu bewerten ist. Aber es geht
um etwas ganz anderes. Bei diesem Gesetzentwurf geht
es darum, eine notwendige, wichtige Debatte um die gesellschaftliche Bewertung von Eingriffen des Menschen in die Umwelt, die Mitwelt und - wie es im Tierschutzgesetz formuliert ist - die Mitgeschöpfe zu führen, eine Debatte um den Respekt vor Leben.
Was die Väter des Grundgesetzes noch nicht wissen
konnten: Angesichts des Drucks, der derzeit durch die
Gen- und Klonierungstechnik aufgebaut wird - das ist
der Weg zur Umwidmung von Lebewesen zum Beispiel
zu definierten industriellen Maschinen für die Produktion von Insulin -, und angesichts dieser Entwicklungen im übrigen auch im menschlichen Bereich - muß diese
Debatte verschärft geführt werden. Das Tierschutzgesetz
ist eines der Gesetze, in denen eine Abwägung zur
Grundlage des Eingriffes gemacht wird. Aber Sie sagen,
daß Abwägung Unsicherheit bedeutet, Unsicherheit
durch die Verfassung, die sie nicht schaffen soll.
({0})
- Doch, genau das ist der Punkt. Dies ist übrigens nur
eines dieser Gesetze.
Abwägung ist eine Frage der ethischen Anforderung.
Es gilt, ökonomische, soziale und moralische Fragestellungen zu formulieren, zu präzisieren, in Relation zueinander zu setzen und auf dieser Grundlage zu entscheiden. Darauf kommt es uns bei der Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung an.
Auch bei der Nutzung von Tieren gilt: Es kann nicht
um blinde Machbarkeit gehen; vielmehr entscheidet sich
Zukunftsfähigkeit an einer sorgfältigen Folgenabschätzung. Die mangelnde Sorgfalt in diesem Bereich - auch
im Tierschutz - hat uns auch schon eine Menge gekostet. Denken Sie an BSE und die wahnsinnigen Folgekosten, an die Massentierhaltung und ihre Umweltschäden,
die Antibiotika-Fütterung im Tierbereich und ihre Auswirkungen auf die Humanmedizin, die qualvollen Tiertransporte, die dann doch in den übervollen EU-Lagern
oder in der entsetzlichen Vernichtung enden, sowie an
deren Kosten,
({1})
und an Tierversuche, die mangels Übertragbarkeit Schädigungen von Mensch und Umwelt nicht verhindern
konnten.
Die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung
läßt sich mit der mangelhaften Wirksamkeit - das ist
nun wahrhaftig ausreichend bewiesen - der einfachgesetzlichen Tierschutzgesetze gegenüber den schrankenlosen Grundrechten begründen, ebenso mit der Notwendigkeit, Rechtsgleichheit
({2})
angesichts der Änderung von sieben Landesverfassungen zu schaffen - das war keinesfalls eine bloße, wie Sie
sagen, PR-Kampagne, auch Ihrer Parteikollegen - und
mit der breiten Unterstützung der Bevölkerung in diesem Punkt.
Heute, wo Tierhaltung immer anonymer wird, wo
Schweineställe und Versuchsanlagen Hochsicherheitstrakten gleichen, können Menschen kaum noch individuell auf die Tiernutzung einwirken. Sie können
auch mangels Transparenz ihre Kaufentscheidung für
ein Produkt nicht, wie sie es wünschen, auf die Wahrung
des Tierschutzes hinausrichten. Hier ist es überfällig,
daß die Politik die notwendigen und verlangten Rahmenbedingungen mit der Aufnahme des Tierschutzes
in das Grundgesetz schafft, um diesen veränderten und
verstärkten ethischen Anforderungen der Gesellschaft
Rechnung zu tragen. Dazu sind noch andere Verbesserungen und andere Rahmenbedingungen - das würden
wir niemals bestreiten - in der Agrarpolitik und in der
Forschungsförderung notwendig, wie sie die Bundesregierung gerade in Angriff nimmt. Ihr Argument, daß die
Forschung auswandern würde, ist wahrhaftig nur so dahin gesagt;
({3})
denn alle Pharmafirmen haben sich dazu verpflichtet,
das Tierschutzgesetz einzuhalten. Das, was wir mit der
Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung bewirken
möchten, ist ja nichts anderes, als die Wirksamkeit des
Tierschutzgesetzes zur Geltung zu bringen. Dagegen
kann man doch kaum etwas haben.
Wir haben uns für die Einbringung des Tierschutzes
als Staatsziel in einem neu einzufügenden Art. 20 b des
Grundgesetzes mit der klaren Formulierung entschieden:
Tiere werden als Mitgeschöpfe geachtet. Sie werden vor nicht artgemäßer Haltung, vermeidbaren
Leiden und in ihren Lebensräumen geschützt.
Wir haben uns deswegen für sie entschieden, weil es die
Formulierung des Bundesrates, weil es die Formulierung ist, die wir in der letzten Legislaturperiode diskutiert haben, und weil auch die Kollegen von der F.D.P.
es leider Gottes versäumt haben, mit uns in die notwendige überfraktionelle Konsensbildung hinsichtlich dieses
Punktes einzutreten. Dies möchte ich ebenso wie die
Kollegin von der SPD an dieser Stelle noch einmal
deutlich anbieten.
Natürlich stellen wir uns bei Ihrer Formulierung, liebe Kollegen von der F.D.P., die Frage, warum auf der
einen Seite der Tierschutz in die Verfassung aufgenommen und auf der anderen Seite gleichzeitig wieder auf
das einfache Gesetz reduziert werden soll. Nichtsdestotrotz sehen wir hier die Möglichkeit, zu einem Konsens
zu kommen. Dazu haben wir hier ja schon eine ganze
Reihe von Vorschlägen auf dem Tisch.
Mit Spannung verfolgen wir dabei, ob sich die
CDU/CSU als einzige Fraktion weiter in die völlige
Isolation manövriert und sich einer modernen Tierschutzgesetzgebung verweigert,
({4})
die sich an dem Wertewandel der Gesellschaft und den
technischen Entwicklungen orientiert. An der Frage des
Tierschutzes, sehr geehrte Kollegen von der CDU/CSU,
wird sich zeigen, wieviel Wert Sie auf des Volkes
Stimme legen. 84 Prozent in den Umfragen und Millionen von Unterschriften - Sie sammeln sie ja nun gerade
zu einem anderen Thema - dokumentieren, wie stark die
Menschen daran interessiert sind, die Aufnahme des
Tierschutzes als Staatsziel in die Verfassung zu unterstützen. Sie haben mit ihrer Wahlentscheidung auch für
die Verbesserung des Tierschutzes grünes Licht gegeben. Ich hoffe, wir werden in drei Monaten mit einer anderen Ausgangsbasis hier sitzen.
({5})
Anderenfalls werden wir den Menschen sagen müssen,
wie wenig ihr Wille bei Ihnen berücksichtigt wird.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner in
der Debatte ist jetzt unser Kollege Dr. Guido Westerwelle, F.D.P.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! In regelmäßigen Abständen werden die Fernsehzuschauer
mit Bildern von grausam gequälten Tieren schockiert:
mit Bildern von unsachgemäßen Tiertransporten, ausgesetzten Tieren, mutwillig gequälten Tieren. Derartige
Untaten darf ein moderner Rechtsstaat nicht zulassen.
Dies muß auch durch die Verfassung als gemeinsames
Wertegerüst unserer Bürgergesellschaft deutlich zum
Ausdruck kommen.
({0})
Deswegen wollen wir in unserem Grundgesetz dokumentieren, was für die allermeisten Menschen längst
tägliche Erfahrung ist: Tiere leben und leiden. Der
Schutz der Tiere sagt auch etwas über das zivilisatorische Selbstverständnis unserer Gesellschaft aus. Beim
Umgang mit Tieren darf Menschlichkeit nicht fehlen.
({1})
Welcher Stellenwert dem Tierschutz von den Bürgerinnen und Bürgern eingeräumt wird, zeigt die Zahl der
Eingaben, die der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat zu diesem Thema
vorlagen: Es waren 170 000 Eingaben; nur die Themen
Volksentscheid und Volksbegehren stießen auf größeres
Interesse.
Wir als F.D.P. nehmen die Sorgen der Menschen um
den Tierschutz sehr ernst. Die Liberalen haben als erste
Fraktion im Bundestag eine Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz gefordert und dieses Vorhaben imUlrike Höfken
mer intensiv vorangetrieben. Unser Antrag in der Verfassungskommission, daß Tiere per Grundgesetz vor
vermeidbaren Leiden und Schäden geschützt werden
müssen, verfehlte 1992 nur knapp die notwendige Zweidrittelmehrheit, woran ich heute erinnern möchte. Wir
starten jetzt im Deutschen Bundestag erneut eine Initiative, um für neue Mehrheiten für den Tierschutz zu werben. Seit der Arbeit der Verfassungskommission ist in
Wahrheit eine Bewegung in allen Parteien zugunsten der
Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz sichtbar
geworden.
Zwischenzeitlich liegt ein Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor,
der in die gleiche Richtung wie der Gesetzentwurf der
Freien Demokraten zielt; über Detailformulierungen
wird man reden müssen. Auch die PDS hat einen entsprechenden Antrag vorgelegt.
In der Gemeinsamen Verfassungskommission von
Bundestag und Bundesrat fand der Vorschlag der F.D.P.
im Jahr 1992 zwar eine absolute Mehrheit; eine notwendige Zweidrittelmehrheit zur Änderung des Grundgesetzes scheiterte seinerzeit aber am Widerstand der
CDU/CSU. Deshalb begrüßt die Freie Demokratische
Partei, daß entgegen dem, was Sie, Herr Kollege Röttgen, als geschlossene Meinung der Unionsfraktion darstellen wollen, auch in der CDU/CSU mittlerweile eine
Bewegung für einen besseren Tierschutz einschließlich
dessen Verfassungsverankerung festzustellen ist.
({2})
Ich begrüße ausdrücklich, daß die CSU im Bundestagswahlkampf für die Aufnahme des Tierschutzes in
die Verfassung gestritten und geworben hat, und ich zitiere hier aus den Argumenten der CSU im Bundestagswahlkampf vom 1. Juli 1998,
({3})
in denen sich die CSU für die Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung ausspricht und dafür wirbt. Wir
begrüßen dies als Freie Demokratische Partei.
({4})
Damit ist eine Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag in greifbare Nähe gerückt, und der Tierschutz
wird meiner Einschätzung nach in dieser Legislaturperiode im Grundgesetz verankert werden.
Meine Damen Kolleginnen, der Grund, warum wir
diese Formulierung vorgelegt haben, ist ein sachlichrechtlicher. Wir halten es für die klügste Formulierung,
was die Abwägungsfragen angeht. Aber wir haben auch
daran gedacht, daß dies diejenige Formulierung ist, die
schon einmal eine absolute Mehrheit in der Gemeinsamen Verfassungskommission gefunden hat. Lassen Sie
uns darüber reden. Etwas muß in dieser Richtung passieren.
Herr Kollege Röttgen, es stimmt nicht, was Sie gesagt
haben. Die gewählte Gesetzesformulierung stellt sicher,
daß bei rechtlichen Abwägungsprozessen der Tierschutz
eine verfassungsrechtliche Qualität bekommt. Jeder
Jurist und erst recht jeder Staatsrechtler weiß, daß
Rechtsprechung auch zwischen der Abwägung von
Rechtsgütern besteht. Diejenigen Rechtsgüter, die in der
Verfassung verankert sind, haben zunächst einmal eine
stärkere Abwägung auf ihrer Seite. Deswegen möchten
wir, daß der Tierschutz eine Verfassungsqualität bekommt; denn dann wissen die Gerichte und auch die
Verwaltung bei Abwägungsentscheidungen künftig, daß
der Tierschutz Verfassungsqualität hat und damit von
der rechtlichen Qualität her wie die anderen Verfassungsgüter bei den Abwägungsentscheidungen zu berücksichtigen ist.
Das ist der Sinn, warum wir in vielen Bereichen Abwägungsentscheidungen und auch Staatsziele in der
Verfassung verankert haben. Wenn Sie sich beispielsweise Art. 20 a, Art. 6 oder Art. 7 des Grundgesetzes ansehen, dann werden Sie feststellen, daß unsere Verfassung Staatsziele hat. Der Grund, warum wir Staatsziele
in der Verfassung haben, besteht darin, daß der Gesetzgeber damit allen Kräften der Gesellschaft klarmacht:
Dies ist von größter Bedeutung; dies ist bei rechtlichen
Abwägungsentscheidungen mit zu berücksichtigen. Deswegen ist die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz eine echte Verbesserung des Tierschutzes.
Sie ist überfällig. Sie geht nicht zu Lasten der Forschungsfreiheit. Niemand will das. Sie geht nicht zu Lasten der Landwirtschaft. Niemand will das. Aber dort,
wo Tiere - zum Teil willkürlich - gequält und mißhandelt werden, sollten wir als Teile des Verfassungsgebers
klarmachen: Dies wollen wir nicht. Wir wollen die
nachgeordnete Gewalt binden und den Tierschutz aufwerten. - Das ist der Sinn unserer Initiative.
Ich appelliere an Sie, meine Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, das nicht als
Populismus abzutun, sondern sich in der Sache damit
auseinanderzusetzen und sich diesem Vorhaben doch
noch anzuschließen.
({5})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede
mit einem Zitat von Johann Wolfgang von Goethe beginnen:
Die Größe und den moralischen Fortschritt einer
Nation kann man daran messen, wie sie die Tiere
behandelt.
Unter dieses Leitmotto möchte ich die heutige Debatte
stellen.
Wir befassen uns mit einem Thema, das große Emotionen hervorruft und dessen Klärung seit Jahren von
Tierschützern und der Tierrechtsbewegung angemahnt
wird. Die Diskussion um den Tierschutz hat in
Deutschland inzwischen einen Stellenwert erreicht, der
zum Handeln zwingt, wie wir an der schnellen Aufsetzung der Anträge in der neuen Legislaturperiode sehen.
Für mich heißt das: Die Aktivitäten der Tierschutzverbände blieben nicht ungehört, und die Wahlversprechen
der einzelnen Parteien und einzelner Abgeordneter müssen jetzt in die Tat umgesetzt werden.
Die Bemühungen um die Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz haben eine lange Vorgeschichte,
und es ist heute nicht das erste Mal, daß dazu eine Debatte im Bundestag geführt wird. Erinnern wir uns: In
der letzten Legislaturperiode wurde eine Beschlußfassung von seiten der CDU/CSU verhindert, indem die
Anträge einfach in der letzten Sitzungswoche vor der
Bundestagswahl nicht mehr zur Abstimmung kamen. So
macht man das ganz einfach. Um so erfreulicher sehe
ich die Tatsache, daß sich die F.D.P. jetzt, wo sie nicht
mehr an ihren Koalitionspartner gebunden ist, des Themas aktiv annimmt.
Eine Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz
ist seit langem überfällig, und ich wünsche uns allen,
daß eine Mehrheit für diese Ergänzung unserer Verfassung zustande kommt, zumal der Tierschutz ja schon
fast flächendeckend in die Länderverfassungen aufgenommen wurde, im übrigen auch in Bayern; dort wurde
er sogar durch einen Volksentscheid sanktioniert, Herr
Röttgen. Deshalb fordere ich Sie, meine Damen und
Herren von der CDU und der CSU, auf: Haben Sie endlich den Mut, stimmen Sie auch im Bund und nicht nur
in den Ländern zu, damit in diesem Bereich endlich
Recht gesprochen werden kann und eine juristische Abwägung der verschiedenen Grundrechtsgüter möglich
wird. Diese juristische Abwägung zwischen dem Leiden
der Tiere und der Freiheit der Forschung und Wissenschaft kann nur dann ernsthaft betrieben werden, wenn
endlich die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen
werden. Die Juristen haben uns das in der Anhörung in
der letzten Legislaturperiode immer wieder bestätigt.
({0})
- Ich habe mir gestern abend die Unterlagen noch einmal angeschaut.
({1})
Es gibt aber natürlich auch andere Meinungen
- wahrscheinlich vertreten auch Sie diese -, die vor allem von der Pharmaindustrie und einer ganzen Reihe
von Forschungsinstituten vorgetragen werden.
({2})
Sie warnten davor, daß der Standort Deutschland gefährdet und die Forschung ins Ausland abwandern werde. Das haben wir heute schon gehört. Diese Drohgebärden sind uns bekannt und nicht etwa neu. Wir sollten
uns von ihnen nicht beeindrucken lassen, weil wir sie
immer wieder bei allen Diskussionen hören.
({3})
Die Standortideologen müssen sich dann schon einmal einige Dinge fragen lassen: Warum müssen Tierversuche doppelt und dreifach für einen identischen Forschungsgegenstand durchgeführt werden? Warum lenken sie nicht endlich ihre Aktivitäten auf Alternativmethoden? Warum werden nach wie vor Tierversuche
durchgeführt, deren Resultate dann noch nicht einmal
auf den Menschen übertragen werden können? Es dürfen
auch nicht die Tierversuche an Primaten verschwiegen
werden, die von führenden Wissenschaftlern als überflüssig und ethisch unvertretbar bezeichnet werden. Außerdem müssen sie sich fragen lassen, warum sie denn
eine juristische Abwägung zweier Rechtsgüter fürchten,
wenn sie sich an Recht und Gesetz halten. Das würde
mich wirklich einmal interessieren.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die PDS hat wie in
der 13. Legislaturperiode auch jetzt einen Gesetzentwurf
eingebracht, um zu signalisieren, wie wichtig uns dieses
Thema ist. Wir meinen, nur mit einer Staatszielbestimmung Tierschutz kann sich Deutschland wirkungsvoll
für die Schaffung effektiver europäischer Tierschutznormen einsetzen. Diese sind dringend notwendig, wie
die überfällige Streichung der Subventionen der EU für
Tiertransporte und der unsäglichen Kälberschlachtprämien zeigen.
({5})
Mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft hat
Deutschland eine besondere Verantwortung übernommen. Eine Übernahme des Tierschutzes in europäische
Verträge muß angestrebt werden. Dies kann Deutschland allerdings nur dann durchsetzen, wenn dem Tierschutz auch bei uns ein wesentlicher Stellenwert eingeräumt wird, er also eindeutig im Grundgesetz verankert
wird.
Zum Schluß zu einem von Herrn Röttgen angesprochenen Punkt: Sie haben ja allen Parteien, die für die
Verankerung des Tierschutzes im Grundgesetz eintreten,
Populismus vorgeworfen. Ich denke, es handelt sich
nicht um Populismus, sondern wir kümmern uns um die
Belange der Menschen. Das Volksbegehren gerade in
Bayern, das ja nicht rotgrün, sondern eher schwarz gefärbt ist und schon sehr lange von einer staatstragenden
Partei regiert wird,
({6})
zeigt, daß auch die Menschen dort das wollen. Sie sehen
also, wir kümmern uns um die Bedürfnisse der Menschen. In Ihrem Sinne hätte dann die CSU auch populistisch gehandelt, als sie den Beschluß zugunsten des
Tierschutzes kurz vor den Landtagswahlen gefaßt hat.
Ihre Politiker machen es sich in den Ländern natürlich
sehr leicht, wenn sie sagen: In Bonn können wir nichts
machen, aber im Land. - Ich kenne das aus den letzten
vier Jahren. Jetzt haben Sie die Möglichkeit, Butter bei
die Fische zu tun und sich für die Menschen und vor allem für die Tiere einzusetzen.
Danke.
({7})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hermann Bachmaier.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Erinnern wir uns: Die nach
der deutschen Einheit eingesetzte Gemeinsame Verfassungskommission aus Vertreterinnen und Vertretern des
Bundestages und des Bundesrates hat im Jahre 1994 mit
recht eindeutiger Mehrheit empfohlen, den Tierschutz
als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. In der
Schlußabstimmung des Bundestages am 30. Juni 1994
- ich habe das Protokoll dieser Sitzung nachgelesen ist dieses Vorhaben an der CDU/CSU-Fraktion gescheitert.
Statt dessen wurde damals auf Initiative Ihrer Fraktion, Herr Geis, eine recht unverbindliche Entschließung
des Bundestages durchgesetzt, in der behauptet wurde,
daß ein wirksamer Tierschutz verfassungsrechtlich von
der Staatszielbestimmung Umweltschutz mit umfaßt sei.
Daß von dieser Entschließung - das wußten Sie damals
genauso gut wie wir - keine rechtliche und erst recht
keine verfassungsrechtliche Wirkung ausgehen konnte,
war allen Beteiligten bewußt und ist mittlerweile durch
die recht eindeutige Rechtsprechung der Gerichte bestätigt worden. Es blieb also dabei, daß dem Tierschutz
weiterhin ein angemessener Platz in unserer Verfassung versagt blieb. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Nur dann, wenn dem Tierschutz Verfassungsrang
eingeräumt wird, kann er sich endlich auch in den oft
schwierigen Abwägungsentscheidungen von Gerichten
und Behörden gegenüber anderen verfassungsrechtlich
geschützten Belangen - dazu gehören zum Beispiel die
Belange der Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, der
Berufsfreiheit und des Eigentumsschutzes - wenigstens
einigermaßen behaupten.
Solange aber der Tierschutz als Staatsziel nicht Eingang in das Grundgesetz gefunden hat, so lange wird er
bei diesen sehr schwierigen Abwägungsentscheidungen
gegenüber verfassungsrechtlich geschützten Belangen
immer unter die Räder kommen. Auch dies zeigen etliche Gerichtsentscheidungen aus der jüngeren Zeit recht
eindrucksvoll.
Da hilft es auch nicht, Herr Geis, wenn es in § 1
des Tierschutzgesetzes so schön heißt - ich zitiere
wörtlich - :
Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf
dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund
Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.
({0})
Viele uns tagtäglich immer wieder vor Augen geführte Beispiele zeigen - seien es Beispiele von Tiertransporten, unnötigen Tierversuchen oder anderen
Formen unerträglicher Tierquälerei -, daß diesen so
schön formulierten Forderungen des Tierschutzgesetzes
in der tagtäglichen Praxis kaum Rechnung getragen
wird.
({1})
- Das ist ein grundlegender Irrtum von Ihnen. Herr
Röttgen, ich traue Ihnen zu, daß Sie wissen, daß Sie in
diesem Punkt die Unwahrheit sagen; ich traue Ihnen zu,
daß Sie die Wahrheit kennen.
({2})
Auch die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in
mittlerweile der Hälfte der Landesverfassungen wird
weitgehend folgenlos bleiben, wenn der Tierschutz nicht
endlich auch im Grundgesetz als Staatsziel angemessen
zum Ausdruck kommt.
({3})
Herr Geis, in Ihrem schönen Land Bayern hat man
dieses Staatsziel, das in etwa wortgleich mit dem von
uns beantragten Staatsziel ist, sogar mittels Volksabstimmung in die bayerische Staatsverfassung aufnehmen
lassen. Warum verweigern Sie dem Tierschutz im
Grundgesetz das, was Sie so ausdrücklich in der bayerischen Staatsverfassung verankert haben?
({4})
Herr Kollege
Bachmaier, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, immer gern, Herr
von Klaeden.
Herr Kollege
Bachmaier, ich habe zwei Fragen. Die erste Frage lautet:
Stimmen Sie mir zu, daß die Landesverfassung in der
Normenhierarchie unserer Rechtsordnung dem einfachen Bundesgesetz nachfolgt und daß sich daraus unterschiedliche Bewertungen für die Staatsziele ergeben
können, die in den einzelnen Verfassungen enthalten
sind?
Sie führen Gerichtsentscheidungen an. Meine zweite
Frage lautet daher: Könnten Sie eine Entscheidung
schildern, die nach Ihrer Ansicht explizit anders ausgefallen wäre, wenn der Tierschutz Verfassungsrang in
Form eines Staatszieles hätte? Die Beispiele, die Sie für
die Verletzung des Tierschutzes angeführt haben, sind
praktische Fälle, in denen gegen das Tierschutzgesetz
verstoßen wurde. Man kann daraus aber nicht schließen,
daß die Rechtspraxis anders wäre, wenn der Tierschutz
als Staatsziel in der Verfassung entsprechend verankert
wäre.
Zu Ihrer letzten Frage.
Herr Kollege von Klaeden, wenn Sie die Entscheidungen nachgelesen hätten, die wir auch im Rahmen der
Anhörung des Rechtsausschusses im vergangenen Jahr
durchgesprochen haben, dann hätte Ihnen unschwer die
Erkenntnis kommen müssen, daß eine verfassungsrechtliche Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel
eine andere Ausgangslage für die entsprechenden
Prozesse hervorgebracht hätte. Lesen Sie es nach. Vielleicht haben wir wieder einmal Gelegenheit, im Zuge
der Beratungen diese Dinge nochmals zu dokumentieren.
Sicher, es ist richtig, nach der Funktionsverteilung
von Bund und Ländern steht in der Normenhierarchie
das einfache Bundesgesetz natürlich vor den Landesverfassungen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß
der Tierschutz so lange überhaupt keine Chance hat, in
den Abwägungsprozeß einbezogen zu werden, solange
er nicht als Staatsziel im Grundgesetz verankert ist. Das
ist Ihnen auch klar; da besteht kein Zweifel. Deshalb
lassen wir jetzt diese Ablenkungsmanöver und fahren
fort.
Die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel in
mittlerweile der Hälfte aller Landesverfassungen wird
- dabei bleibe ich - weitgehend folgenlos bleiben, wenn
nicht auch im Grundgesetz eine Verankerung des Tierschutzes als Staatsziel erfolgt. Deshalb haben neben dem
Bundesrat alle Fraktionen, mit Ausnahme der
CDU/CSU-Fraktion, bereits in der letzten Legislaturperiode Anträge eingebracht mit dem Ziel, den Tierschutz
als Staatsziel endlich auch in unsere Verfassung aufzunehmen. Immer wieder durchgeführte Umfragen - Frau
Klappert hat darauf hingewiesen - und viele Zuschriften, die Sie tagtäglich erhalten, bestätigen, daß dieses
Vorhaben von der ganz überwiegenden Mehrheit der
Bevölkerung unterstützt und gefordert wird.
Im Sommer des vergangenen Jahres - jetzt wird es
interessant, auch was die F.D.P. angeht - ist es der
CDU/CSU-Fraktion nochmals - ich hoffe, ein letztes
Mal - gelungen, eine Abstimmung in den Ausschüssen
und im Plenum des Bundestages zu verhindern. Allerdings hätte die F.D.P., Herr Westerwelle, im Rahmen ihrer Regierungsbeteiligung schon damals sehr wohl die
Möglichkeit gehabt, die CDU/CSU-Fraktion zu einem
anderen Verhalten im Interesse des Tierschutzes zu bewegen. Oft genug, auch in der letzten Legislaturperiode,
haben Ihre Partei und Ihre Fraktion in der alten Koalition unter Beweis gestellt, daß sie ihrem größeren Koalitionspartner immer dann Zugeständnisse abringen
konnten, wenn es ihren ökonomischen und steuerpolitischen Zielsetzungen entsprach. Beim Tierschutz allerdings - das kann ich Ihnen nicht ersparen, Herr Kollege
Westerwelle - hat die F.D.P. nie den ernsthaften Versuch unternommen, sich gegen ihren größeren Koalitionspartner zu behaupten bzw. durchzusetzen. Lippenbekenntnisse allein reichen eben nicht aus. Es ist für Sie,
Herr Kollege Westerwelle, in der Opposition sicherlich
manches leichter, aber wirkungskräftiger wäre es gewesen, wenn Sie diesen Versuch in der Koalition der letzten Legislaturperiode unternommen hätten.
({0})
Lassen Sie uns deshalb in den kommenden Wochen
und Monaten alles daransetzen, um dem Tierschutz
endlich einen angemessenen Platz in der Verfassung zu
verschaffen. Ich bin mir sicher - dies auch an die Adresse der CDU/CSU -, daß es im Bundestag dann, wenn
alle Mitglieder des Hauses frei und nur nach ihrem Gewissen abstimmen können, für dieses Ziel eine verfassungsändernde Mehrheit gibt.
Deshalb sollten wir den Schwerpunkt der Beratungen
- das geht auch an Sie als Einladung zu Gesprächen jetzt auf die Formulierung des Staatszieles legen und
den zur Genüge ausgetragenen Grundsatzstreit endlich
zu den Akten legen. Wir haben Ihnen, zusammen mit
den Grünen, einen Formulierungsvorschlag vorgelegt,
von dem wir meinen, daß er dem gemeinsamen Anliegen am ehesten Rechnung trägt. Dieser Vorschlag orientiert sich, wie Sie wissen, an Formulierungen in den
Landesverfassungen - auch der bayerischen Staatsverfassung, Herr Geis - und in § 1 unseres Tierschutzgesetzes. Wir sind aber gerne bereit, mit Ihnen gemeinsam
auch über Formulierungsalternativen nachzudenken und
zu verhandeln, die dem Anliegen ebenso Rechnung tragen und bei denen sichergestellt ist, daß sie im Bundestag und im Bundesrat die notwendige verfassungsändernde Mehrheit finden.
So lassen sich durchaus - um einmal einen Hinweis
zu geben - Formulierungen denken und finden, die einen wirksamen Tierschutz in Kombination mit dem
Staatsziel Umweltschutz gewährleisten. Dazu müßte
allerdings der jetzige Art. 20 a des Grundgesetzes um
den Schutz der Tiere angemessen erweitert werden.
Denn es hat sich ja inzwischen gezeigt, daß Ihre damalige Entschließung wirkungslos verpufft ist und nur für
entsprechende Presseerklärungen im Jahre 1994 herzuhalten hatte. Wenn Sie es also ernst meinen, müßten Sie
mit uns darüber nachdenken und gemeinsam mit uns
nach Lösungen suchen.
Lassen Sie uns deshalb die Beratungen in den Ausschüssen zügig aufnehmen. Ich meine, es ist an der Zeit,
noch vor der Sommerpause zu einer Entscheidung im
Bundestag zu kommen, so daß sich dieses wichtige Anliegen nicht wieder eine ganze Legislaturperiode hinschleppt.
({1})
Wir sollten endlich verfassungsrechtlich deutlich machen, daß ein wirksamer Tierschutz - das ist heute schon
einmal gesagt worden - und auch ein ethisch verantwortbarer Umgang mit Tieren ein wesentlicher Teil einer humanen Gesellschaftsordnung ist. Wir sollten nicht
so tun, als würde sich das nicht notwendigerweise gegenseitig bedingen.
Seit 1990 steht im Bürgerlichen Gesetzbuch, daß Tiere keine Sachen sind. Allzu große Konsequenzen haben
wir daraus bis zum heutigen Tage nicht gezogen. Deshalb sollte der Tierschutz endlich als grundlegender
Wertmaßstab Einzug in das Grundgesetz finden. Es
würde dem Bundestag gut anstehen, wenn er diesem
Anliegen möglichst bald und in möglichst großer Geschlossenheit Rechnung tragen würde.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile dem
Kollegen Ronsöhr das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An
einem Punkt habe ich die Debatte nicht verstanden.
Vielleicht liegt es daran, daß ich Landwirt bin. Diesen
Punkt müßten mir die Juristen einmal genauer erklären:
Es wurde immer davon gesprochen, daß es sehr viel
nützt, wenn der Tierschutz in die Landesverfassungen
aufgenommen wird und daß dies die Rechtsprechung
sehr stark beeinflußt. Das wurde hier von einigen Debattenrednern gesagt. Wenn das wirklich so ist - wenn
es nicht so wäre, müßte es ja so sein, wie das mein Kollege von Klaeden hier geschildert hat -, dann müßte es
in der Bundesrepublik Deutschland eine unterschiedliche Rechtsprechung im Bereich des Tierschutzes geben.
Ich bitte einmal darum, daß mir das die Juristen, die das
hier ständig behaupten, auch nachweisen.
Ich sage das ganz deutlich auch als Landwirt, weil ich
zu dem Berufszweig in der Bundesrepublik Deutschland
gehöre, der wie kein anderer mit den Tieren verbunden
ist. Im Zuge der Spezialisierung in unserer Gesellschaft,
die nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch viele
andere Wirtschafts- und Lebensbereiche erfaßt hat, ist
die Beziehung zwischen Mensch und Tier allerdings
nicht mehr so ausgeprägt und kein Allgemeingut mehr,
wie das in früheren Agrargesellschaften der Fall war.
Diese Beziehung findet weitestgehend abgekoppelt von
großen Teilen der Bevölkerung statt. Manchmal läßt das
die eine oder andere verallgemeinernde - ich spreche
bewußt davon -, diskriminierende Bezeichnung über
landwirtschaftliche Tierhaltung zu.
Deshalb nehme ich diese Debatte zum Anlaß, um
mich als Landwirt und Agrarpolitiker ausdrücklich für
einen sinnvollen Tierschutz auszusprechen. Ich glaube,
daß es eine Selbstverständlichkeit für jeden in unserer
Gesellschaft sein muß, das Tier als Mitgeschöpf zu achten. Ich als Landwirt weiß, daß ich von einem Tier eine
gewünschte Leistung nur erwarten kann - mancher mag
diese Einschränkung kritisieren -, wenn ich das Tier
tierschutzgerecht behandele. Die Landwirtschaft hält die
Nutztiere gleichsam als Dienstleister für die gesamte
Bevölkerung. Leider hat sich in der Betrachtung des
Bildes der Landwirtschaft eine Schieflage eingestellt,
weil manche den Tierschutz nicht so eingehalten haben
({0})
- lassen Sie mich doch ausreden -, wie sie das hätten
tun müssen. Dagegen müssen wir mit der gesamten
Schärfe eines Gesetzes vorgehen.
({1})
Wir haben eines der schärfsten Tierschutzgesetze dieser
Welt.
({2})
Mir muß nun wirklich jemand erklären, in welcher
Rechtsprechung die Tierquälerei zugelassen wird. Wo
wird sie zugelassen?
({3})
Hier müssen wir konkret werden. Der Bundestag hat eine Anhörung durchgeführt. An dieser Anhörung haben
alle Fraktionen teilgenommen. Wenn man sich die Protokolle dieser Anhörung vergegenwärtigt, stellt man
fest, daß etwas anderes zum Ausdruck gekommen ist,
als es hier von den meisten Rednern dargestellt wurde.
Natürlich haben wir heute leider eine Anonymität bei
der Herstellung von Lebensmitteln. Diese hat die Bevölkerung in der Vergangenheit teilweise in Kauf genommen. Heute wollen viele sicher sein - das ist positiv zu
bewerten -, daß die Lebensmittel tierschutzgerecht erzeugt werden. Dazu haben - das will ich ganz deutlich
sagen - die Protestwellen der Tierschützer beigetragen.
Die Mißstände bei den Tiertransporten wären der Bevölkerung ohne die Fernsehbilder natürlich nicht vermittelt worden.
Dem Tierschutz ist eine hohe Priorität einzuräumen.
Wir haben in den letzten Jahren - auch auf europäischer
Ebene - einiges für den Tierschutz erreicht. Das darf in
einer solchen Debatte nicht untergehen.
Es wird manchmal darüber diskutiert, ob in Europa
Kompetenzen im Bereich des Tierschutzes angesiedelt
werden sollen. Ich bin der Auffassung: Tier- und Verbraucherschutz müssen zu einem Bestandteil europäischer Integration und europäischer Politik werden. Das
muß immer wieder betont werden. Wir als Parlamentarier müssen zum Motor des Tierschutzbewußtseins in der
Europäischen Union werden.
({4})
Wenn die Kommission Kompetenzen im Bereich des
Tierschutzes erhält, dann muß sie diese Kompetenzen
natürlich auch kontrollierend wahrnehmen.
Eines kann nicht angehen: Wir können nicht sagen bei Ulrike Höfken ist das angeklungen, während ich Marianne Klappert ganz eindeutig herausnehmen möchte -,
wir hätten BSE verhindern können, wenn wir hier im
Bundestag schon früher eine Verfassungsänderung bezüglich des Tierschutzes vorgenommen hätten. BSE ist
in Großbritannien und in der Schweiz entstanden. Die
Schweiz ist hier übrigens wegen ihrer Verfassungsänderung gelobt worden; doch dort ist BSE entstanden. Wieso argumentieren wir manchmal eigentlich so eigenartig? Wir haben BSE zu bekämpfen. Die Krankheit ist jeHermann Bachmaier
doch nicht in Deutschland entstanden, sondern durch eine entsprechende Agrarpolitik in anderen Ländern. Wir
haben uns eine solche Agrarpolitik wie die Briten und
Schweizer nicht geleistet.
({5})
- Ich lasse keine Zwischenfrage zu, weil ich noch nach
Berlin möchte, wie du auch.
Ist es nicht nur eine plakative Forderung, die hier
aufgestellt wird?
({6})
- Herr Bachmeier, ich habe Sie ausreden lassen, lassen
Sie auch mich ausreden.
({7})
Was verändert sich konkret? Einige haben gesagt, die
Rechtsprechung verändert sich. Manche argumentieren
in der Öffentlichkeit - hier wird alles mögliche hineininterpretiert -, es gebe einen Stopp der Tierversuche.
Soll ich Ihnen einmal die Zeitungsberichte vorhalten, die
das aussagen? Hier sagt Marianne Klappert, in der
Schweiz finden Tierversuche nach wie vor statt. Was
gilt denn nun? Gilt die Veränderung, die man erreichen
will, oder gilt sie nicht? Ist es dann nicht doch eine plakative Forderung? Müssen wir nicht vielmehr als Motor
des Tierschutzbewußtseins auch in andere Bereiche hineinwirken?
Wenn Tiertransporte krimineller Art im Ausland
stattfinden, dann reicht für deren Abschaffung nicht die
Änderung der deutschen Verfassung aus, sondern dann
muß insbesondere die EU dagegen vorgehen. Wir müssen bei Welthandelskonferenzen die Argumente von
Agrarpolitikern, auch die der sehr liberalen, aufnehmen,
damit wir nicht Tiere in die Europäische Union importieren, die anderswo nicht artgerecht gehalten wurden.
Ich stelle diese Forderung. Ich glaube, in dieser Forderung bin ich mir mit den Agrarpolitikern aller Fraktionen einig. Nach meiner Auffassung tun wir so viel mehr
für den Tierschutz.
Natürlich dürfen wir in der Europäischen Union beim
Tierschutz nicht so versagen, wie wir neulich beim Verbraucherschutz versagt haben. Da haben alle Fraktionen einen Antrag zum Verbot, britisches Rindfleisch zu
importieren, verabschiedet. Und trotzdem waren wir auf
europäischer Ebene unterlegen. Ich gebe ja zu, der deutsche Landwirtschaftsminister hat dagegengestimmt, aber
er hat keinen Verbündeten gefunden.
Angesichts der Tatsache, daß so etwas beim Verbraucherschutz passiert ist, habe ich Angst, daß ihm das auch
beim Tierschutz passiert. Das Thema muß natürlich auch in Gesprächen mit den anderen Europäern - vorbereitet werden. Ich glaube nicht, daß Herr Funke das gemacht hat. Nun kann es in der Anfangsphase ja noch das
eine oder andere Versagen geben. Aber ich hoffe, daß
dieses Parlament in anderen Bereichen dieses Versagen
nicht zuläßt, zum Beispiel in der Tierschutzpolitik.
Ich finde es schon richtig - auch wenn es immer mal
wieder mißverständlich ausgedrückt sein mag -: Ein
Mehr an Tierschutz darf nicht zum Wettbewerbsvorteil
des anderen werden. Deshalb gilt es, dem Tierschutz in
unterschiedlichen Ländern Geltung zu verschaffen.
Viele deutsche Tierschützer - an deren Adresse ich
das sage - haben in der Europäischen Union als Motor
des Tierschutzgedankens gewirkt. Deshalb hoffe ich,
daß sie uns auch in Zukunft mit der notwendigen Aufgeschlossenheit gegenüberstehen, um den Tierschutz in der
Europäischen Union, aber auch anderswo voranzubringen. Ich möchte mich dem stellen. Ich unterstütze ganz
ausdrücklich jede Regierung, die das zur Absicht hat.
Hinter einer solchen Regierung - egal welcher Couleur
- stehe ich dann. Wir können nicht hinnehmen, daß sich
eine positive Absicht mangels Unterstützung nicht umsetzen läßt. Wir brauchen diese positiven Absichten im
Tierschutz. So haben wir als Parlament in der Vergangenheit gemeinsam etwas erreicht, und so werden wir
auch in der Zukunft etwas erreichen.
Fragwürdig bleibt für mich ein Tierschutzgedanke,
der nur auf Transparenten geschrieben steht, der sich nur
plakativ darstellt und keine konkreten Ziele benennt.
Tierschutz muß konkret sein. Das voranzutreiben sind
wir aufgefordert. Deshalb meine ich: Wir sollten uns,
statt über Verfassungsänderungen beim Tierschutz zu
diskutieren, lieber darauf einlassen, wie wir stringenteren Tierschutz in der Europäischen Union und weltweit
durchsetzen.
Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben.
({8})
Ich war etwas großzügiger als sonst mit der Redezeit, aber ich glaube, es
war richtig, den Kollegen aussprechen zu lassen.
({0})
Der Kollege Geis möchte eine Intervention zu dem
Beitrag von Herrn Westerwelle machen.
Herr Westerwelle hat die
CSU zitiert, und demnach hat diese - offenbar in einer
Absichtserklärung im Wahlkampf vom Juni oder Juli
des letzten Jahres - erklärt, sie werde für die Aufnahme
des Tierschutzes in die Verfassung eintreten. In der gemeinsamen Wahlplattform der Unionsparteien, von
CDU und CSU, findet sich diese Erklärung nach meinen
bisherigen Recherchen nicht.
({0})
Ich will nicht ausschließen, Herr Westerwelle, daß eine
solche Erklärung im Rahmen des damals stattfindenden
Landtagswahlkampfes gemacht worden ist. Das kann ich
jetzt nicht verifizieren. Wie in fünf anderen Bundesländern auch - meines Wissens in drei neuen Bundesländern und in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz - ist der
Tierschutz in Bayern in die Verfassung aufgenommen
worden. Aber wir wissen alle, daß ein Unterschied zwiHeinrich-Wilhelm Ronsöhr
schen dem Grundgesetz und einer Landesverfassung besteht. Ich muß das hier nicht weiter ausbreiten.
Der Bundestag hat sich bislang zweimal abschließend
mit dieser Frage befaßt; jetzt ist es das dritte Mal. In der
letzten Anhörung des Rechtsausschusses vom 1. April
1998 haben die Verfassungsrechtler Löwer und Depenheuer, die von uns benannt worden sind, und der Verfassungsrechtler Di Fabio, der von der SPD benannt worden ist, uns ausdrücklich abgeraten, den Tierschutz als
Staatsziel in die Verfassung aufzunehmen. Sie haben eine solche Aufnahme als Populismus bezeichnet. Aus
diesem Grund meinen wir, bei unserer Auffassung bleiben zu müssen, die wir 1994 und die wir auch 1998 vertreten haben.
Danke schön.
({1})
Es antwortet der
Kollege Westerwelle. Bitte sehr.
Ich will dazu nur
kurz zwei Sachen sagen. Ich habe nicht behauptet, daß
dies im gemeinsamen Regierungsprogramm von
CDU/CSU verankert ist. Wenn dieser Eindruck entstanden sein sollte, hätte ich mich fahrlässig ausgedrückt.
Aber ich meine, das so nicht gesagt zu haben. Im Gegenteil: Im gemeinsamen Regierungsprogramm von
CDU/CSU - so hat mir ein Mitarbeiter aufgeschrieben ist der Tierschutz namentlich überhaupt nicht erwähnt.
Ich will dazu noch eine zweite Bemerkung anfügen.
Die CSU-Landesgruppe hat sogar eine eigene Arbeitsgruppe „Tierschutz“ eingesetzt. Diese Arbeitsgruppe
„Tierschutz“ hat - das habe ich im bayerischen Landtagswahlkampf selber erlebt - vehement mit dem Argument Verbesserung des Tierschutzes einschließlich auch
rechtlicher und verfassungsrechtlicher Verbesserungen
des Tierschutzes geworben.
Ich kann das übrigens nur begrüßen. Ich finde es
richtig. Das sage ich noch einmal ganz klar. Mein Punkt
ist aber ein anderer. Es ist verfassungsrechtlich kaum
akzeptabel, den Eindruck zu erwecken, was auf Landesebene möglich sei, habe eine Null-Qualität und überhaupt keine rechtliche Konsequenz; man könne dies
deshalb machen, weil die Kompetenz eigentlich beim
Bundesgesetzgeber liege.
Das kann überhaupt nicht passen, wie man als Verfassungsjurist relativ leicht feststellen kann. Erstens bindet natürlich auch die Landesverfassung zum Beispiel
die jeweilige Landesverwaltung bei verwaltungsrechtlichen Abwägungsentscheidungen. Zweitens ist jede Verfassung - ob Landesverfassung oder Bundesverfassung
- Ausdruck auch des ethischen und politischen Willens
des Verfassungsgebers.
Wenn man sagt, Staatsziele sind in Landesverfassungen sinnvoll, weil sie einen bestimmten politischen
Willen ausdrücken, und dies sogar in Bayern durchsetzt,
dann kann man verfassungsrechtlich nicht ernsthaft argumentieren, Staatsziele auf Bundesebene machten keinen Sinn. Wenn man Staatsziele verfassungspolitisch
und verfassungsrechtlich grundsätzlich richtig findet,
dann gilt das für alle Ebenen, wo wir mit Verfassungsrecht konfrontiert werden; denn natürlich ist die bayerische Landesverfassung nicht irgendein beliebiges Stück
Papier, sondern hat eine harte rechtliche Qualität, auf die
die Bayern in weiten Teilen auch zu Recht stolz sein
können.
({0})
Ich erteile nun dem
Kollegen Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Für den Schutz der Tiere haben wir in der
Vergangenheit schon sehr viel bewirkt. Wir haben in der
vergangenen Legislaturperiode das Tierschutzgesetz novelliert. Wir haben dort wichtige Verbesserungen im Bereich der Tierversuche, der europäischen Regelung für
Transporte von Tieren, im Bereich von Systemen der
Tierhaltung und auch im Bereich des Verbots der Aggressionszucht, der Qualzucht usw. durchgesetzt.
Trotzdem muß der Tierschutz weiterentwickelt werden. Wir wollen deshalb, daß durch die Änderung im
Grundgesetz der Tierschutz eine besondere Qualität bekommt. Wenn es hier eine Diskussion darüber gibt, ob
wir den Tierschutz als Staatsziel in unsere Verfassung
aufnehmen wollen oder nicht, dann ist dies natürlich
auch eine prinzipielle Diskussion unter Juristen, wie puristisch man eine Verfassung formulieren will.
In Art. 20 a des Grundgesetzes, ist der Schutz der
natürlichen Lebensgrundlagen als Staatsziel verankert. Auch die Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU haben damals diesem Staatsziel zugestimmt,
wohl wissend, daß der individuelle Schutz der Tiere mit
diesem Staatsziel verfassungsmäßig nicht erreicht wird.
Deshalb war dies schon 1992 das erste Mal unser Anliegen. Die Historie ist hier auch schon bemüht worden.
Wer uns jetzt Populismus vorwirft, der kann dann allerdings unterstellen, daß wir in dieser Frage sehr hartnäkkig sind.
({0})
Denn wie im Jahre 1992 und im Jahre 1994 halten wir
auch jetzt, im Jahre 1999, eine entsprechende Änderung
auch im Hinblick auf die veränderte Situation in unserer
Gesellschaft für notwendig. Die Verfassung ist im Jahre
1949 niedergeschrieben worden. Die Zeit ist ja inzwischen nicht stehengeblieben; die Menschen haben heute
ein anderes Verhältnis zum Tier. Der Kollege Ronsöhr,
der leider Gottes schon weg mußte, hat ja darauf hingewiesen: Die Art und Weise, wie wir in der Landwirtschaft mit dem Problem der Massentierhaltung konfrontiert werden, hat sich in den letzten 40, 50 Jahren einfach verändert, und dem müssen wir Rechnung tragen.
Deshalb brauchen wir auch eine andere Grundlage, eine
entsprechende Staatszielbestimmung im Grundgesetz,
um künftigen gesetzlichen Regelungen, die erforderlich
sein könnten, eine entsprechende Bedeutung und einen
entsprechenden Rang zu geben.
({1})
Das ist auch ein Auftrag an den einfachen Gesetzgeber. Wir werden die Dinge in Zukunft bei Beachtung
dieses Staatsziels unter Umständen in einem anderen
Licht sehen, und wir werden - das kann daraus resultieren - dann auch andere Formulierungen finden, die uns
bislang in dieser Form nicht gelungen sind.
Trotz allem meine ich, daß in dem Entwurf der SPD
und der Grünen - wir werden sicherlich darüber noch
ausführlich diskutieren - eine Richtung eingeschlagen
worden ist, die nicht gut ist. Wenn mit einer „Mitgeschöpflichkeit“ argumentiert wird, dann muß ich sagen:
Das ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der in ethischtheologischer Betrachtungsweise einen unglaublich
weiten Spielraum eröffnet und der wohl kaum faßbar
sein wird. Etwas Ähnliches gilt für den Entwurf der Regierungskoalition: Dort sind auch die Haltungsbedingungen expressis verbis angesprochen. Ich halte es
nicht für richtig, daß so etwas in der Verfassung
steht. Das gehört in einfachgesetzliche Regelungen hinein und sollte nicht in die Verfassung aufgenommen
werden.
({2})
Ich glaube, daß wir im Zuge der Beratungen durchaus zu
einer sinnvollen Regelung kommen werden.
Abschließend will ich unterstreichen: Die Mehrheit in
dieser Gesellschaft erwartet vom Deutschen Bundestag,
daß wir die notwendigen Änderungen in Richtung einer
Staatszielbestimmung vornehmen. Wenn 85 Prozent der
Bürgerinnen und Bürger das heute von uns erwarten,
dann, meine ich, sind auch einige Stimmen aus der
Union dabei.
({3})
Das könnten Sie als Begründung dafür heranziehen,
dann, wenn wir abstimmen, die Abstimmung freizugeben und zu sagen: Wir werden denjenigen, die dem zustimmen wollen - es gibt ja eine ganze Reihe solcher
Kollegen -, das auch ermöglichen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich schließe die
Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Ge-
setzentwürfe auf den Drucksachen 14/207, 14/279 und
14/282 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? - Dies ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so-
wie Zusatzpunkt 3 auf:
12a) Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002
- Drucksache 14/265 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuß ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für Kultur und Medien
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
12b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 18. August 1998 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland,
den Vereinten Nationen und dem Sekretariat
des Übereinkommens der Vereinten Nationen
zur Bekämpfung der Wüstenbildung über den
Sitz des Ständigen Sekretariats des Übereinkommens
- Drucksache 14/228 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 3 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten KlausJürgen Hedrich, Dr. Christian Ruck, Karl
Lamers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Demokratische Entwicklung in Nigeria unterstützen
- Drucksache 14/283 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Abschließende Beratungen ohne Aussprache
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P.
und PDS
Erneute Überweisung von Vorlagen aus früheren Wahlperioden
- Drucksache 14/272 Ulrich Heinrich
Wer stimmt für diesen interfraktionellen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Der Antrag ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes
- Drucksache 14/43 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({3})
Innenausschuß
Aussschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Aussschuß für Gesundheit
Aussschuß für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
der Kollege Pofalla, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion soll § 2 des DNAIdentitätsfeststellungsgesetzes um eine Regelung ergänzt
werden, die eine Verpflichtung des Bundeszentralregisters zur sachgerechten Mitwirkung bei der Übermittlung der Eintragung einschlägiger Personen vorsieht.
Die DNA-Analytik im Strafverfahren hat sich in
der Praxis bewährt. Mit dem DNA-Identitätsfeststellungsgesetz vom 7. September 1998 sind die Entnahme von Körperzellen und die Durchführung weiterer
Untersuchungen zum Zweck der Vorsorge für künftige
Strafverfolgung einer besonderen Regelung zugeführt
worden.
§ 2 des Gesetzes berücksichtigt, daß der Schutz der
Bevölkerung auch die Erfassung schon verurteilter
Straftäter in erheblichem Umfang erfordert. Angeknüpft
wird in § 2 unter anderem daran, daß die Eintragung im
Zentralregister oder Erziehungsregister nicht getilgt ist.
Schon daraus ergibt sich im grundsätzlichen, daß das
Zentralregister bzw. Erziehungsregister bei der praktischen Umsetzung des Gesetzes mitwirken muß.
Im Laufe der Umsetzung des Gesetzes hat sich unerwartet ein Problem ergeben, nämlich in welcher Form
das Bundeszentralregister mitwirken muß. In diesem
Zusammenhang ist wohl weithin unstreitig, daß die neuen Möglichkeiten sowohl zur besseren Aufklärung von
Straftaten als auch zur Abschreckung rasch und umfassend genutzt werden müssen. Weitgehend unstreitig war
auch, daß das Bundeszentralregister durch einen Suchlauf die Verurteilten feststellt, die für die DNA-Datei auf
Grund ihrer Straftat in Betracht kommen. Entsprechend
ist im Bereich der Innenverwaltungen im September
1998 ein Konzept erarbeitet worden. Dieses kann im
Moment auf Grund der Differenzen über das Bestehen
einer Rechtsgrundlage zur Auskunft leider nicht umgesetzt werden.
Nach, wie ich finde, vertretbarer Auffassung lassen
die §§ 41 und 42 des Bundeszentralregistergesetzes einen Suchlauf beim Bundeszentralregister zur Erfassung
der wegen erheblicher Straftaten Verurteilten - und ihnen gleichgestellten Personen - sowie eine Übermittlung
an die Strafverfolgungsbehörden zu. Ein wesentliches
Argument dafür ist der Wortlaut; ein weiteres, daß man
bei Ablehnung dieser Auffassung zu dem, wie wir finden, merkwürdigen Ergebnis kommt, daß über § 42 Abs.
2 des Bundeszentralregistergesetzes die Wissenschaft in
weiterem Umfang Daten erhalten kann als die Strafverfolgungsbehörden.
Gleichwohl hat sich bei der Konferenz der Justizministerinnen und -minister am 5. November 1998 mehrheitlich die Auffassung durchgesetzt, daß die gesetzlichen Grundlagen im Bundeszentralregistergesetz nicht
ausreichen. Folgt man dieser Auffassung, besteht nach
unserer Meinung sofortiger - ich betone: sofortiger gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Zum Schutz der
Bürgerinnen und Bürger darf die Umsetzung des DNAIdentitätsfeststellungsgesetzes nicht dadurch konterkariert werden, daß das Bundeszentralregister nicht im erforderlichen Umfang mitwirkt.
Diesem gesetzgeberischen Handlungsbedarf, der
auf der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und
-minister am 5. November 1998 mehrheitlich festgestellt
worden war, hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion mit
ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des DNAIdentitätsfeststellungsgesetzes mit Datum vom 17. November 1998 schnellstmöglich entsprochen.
Die Bundesjustizministerin hat am 5. November 1998
angekündigt, eine unverzügliche Änderung der bisher
entgegenstehenden Vorschriften im Deutschen Bundestag einzubringen, hierbei jedoch nach unserer Auffassung durch unverantwortbaren Zeitverzug wichtige erkennungsdienstliche Maßnahmen hinausgezögert. Hierauf werde ich im weiteren Verlauf noch näher eingehen.
Zur praktischen Umsetzung des § 2 des bestehenden
DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes schlagen wir nun
eine ganz einfache Regelung vor. Das Bundeszentralregister muß die in § 2 genannten Personen auf Ersuchen
mitteilen, auch wenn deren Namen im Ersuchen nicht
angegeben sind und erst durch Angabe von Suchkriterien gefunden werden sollen. Dies wird nach unserem
Entwurf im neuen § 2 Abs. 2 klarstellend oder konstitutiv - das kann jeder für sich selber entscheiden - geregelt. Keiner Regelung bedarf, daß das Bundeszentralregister zunächst intern die Personen, die sodann übermittelt werden müssen, durch einen Suchlauf herausfiltert. Die entsprechende Zweckbindung des bestehenden
DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes wird durch unseren
Gesetzentwurf ausdrücklich gewährleistet. Auch die
Maßnahmenbindung im Sinne des § 2 des DNAIdentitätsfeststellungsgesetzes bleibt nach unserem Gesetzentwurf erhalten.
In unserem Gesetzentwurf ist des weiteren ausdrücklich geregelt, daß der Zweck in dem Ersuchen anzugeben ist. Schließlich ist in unserem Gesetzentwurf auch
geregelt, daß der Empfänger der Auskunft in einem Ersuchen anzugeben ist. Die Regelung ist für das BundesVizepräsidentin Anke Fuchs
zentralregister bei anderen Ersuchen verbindlich. Die
Regelung ist erforderlich, weil es möglich sein muß zu
differenzieren.
Durch diese einfache textliche Ergänzung des bestehenden DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes beweist die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, daß - das richtet sich
jetzt an die neue Bundesregierung - auch kurzfristig das
bei den Beratungen zum DNA-Identitätsfeststellungsgesetz nicht gesehene Problem gelöst werden kann. Daß
die Bundesregierung, speziell die Bundesjustizministerin, nicht in der Lage war, hierzu kurzfristig einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen, hat seinen Ursprung in tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der rotgrünen Bundesregierung. Schon bei den
Beratungen zur Einführung des genetischen Fingerabdrucks
({0})
- Herr Beck, zu Ihnen komme ich gleich noch - in die
Strafprozeßordnung gegen Ende 1996 ist dieser Meinungsunterschied zwischen der SPD-Bundestagsfraktion
und den Bündnisgrünen deutlich geworden. Seinerzeit
wurde hier im Deutschen Bundestag zunächst der genetische Fingerabdruck zur Identitätsfeststellung in die
Strafprozeßordnung eingeführt. Seinerzeit wurde dieser
Gesetzentwurf mit den Stimmen der damaligen Regierungskoalition und im übrigen mit den Stimmen der
SPD, aber, Herr Beck, bei Enthaltung der Bündnisgrünen angenommen.
({1})
Noch deutlicher, Herr Beck, wurde dieser Meinungsunterschied schließlich bei der Verabschiedung des geltenden DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes. Die Bündnisgrünen waren die einzige Fraktion im Deutschen
Bundestag, die bei der Abstimmung vom 24. Juni 1998
wegen angeblicher rechtsstaatlicher Bedenken seinerzeit
gegen das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz gestimmt
haben. Ich bin nun gespannt, wie der damalige und heutige rechtspolitische Sprecher der bündnisgrünen Bundestagsfraktion, der Kollege Volker Beck, begründen
wird, warum er damals wegen angeblicher rechtsstaatlicher Bedenken gegen das DNA-Identitätsfeststellungsgesetz gestimmt hat und er im Rahmen der Beratungen über die Ergänzung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes vermutlich einer Formulierung zustimmen wird, die lediglich die aufgetretene Gesetzeslücke schließt, ohne dabei aber die angeblich rechtsstaatlichen Bedenken gegen dieses Gesetz aufzugreifen.
Herr Kollege Beck, ich bin gespannt darauf, wie Sie sich
in diesem Beratungsverfahren winden und biegen werden, um dann anschließend einer Formulierung der
Bundesregierung Ihre Zustimmung zu geben, die Ihre
am 24. Juni 1998 vorgetragenen angeblichen rechtsstaatlichen Bedenken nicht beseitigen wird.
Herr Kollege Beck, Sie sind in der Tat in keiner beneidenswerten Situation, und die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion auch nicht. In diesem Beratungsverfahren wird sich zeigen, daß die Bündnisgrünen von der
SPD-Bundestagsfraktion und damit von der Mehrheit
der Bundesregierung domestiziert werden. Für die Grünen wahrlich keine angenehme Situation, aber eine Situation, die sie in den vergangen Wochen schon des öfteren erlebt haben und die wir in den nächsten Wochen
und Monaten immer wieder erleben werden.
Nun zum Verhalten der neuen Bundesjustizministerin
und damit der Bundesregierung. Ausweislich eines
Rundschreibens des Bundesjustizministeriums vom
1. Dezember 1998 ist geplant, befristet eine Recherche,
einen Suchlauf für die DNA-Analysedatei durch Regelungen im Bundeszentralregister und im DNAIdentitätsfeststellungsgesetz zu ermöglichen. Diese Regelung soll aber in ein Strafverfahrensänderungsgesetz eingestellt werden, welches datenschutzrechtliche
Regelungen enthält und in den vergangenen Jahren bereits intensiv diskutiert worden war, ohne daß es im übrigen zu einem Abschluß gekommen ist. In diesem Zusammenhang kann man auf die Beratungen zum StVÄG
1994 und dem StVÄG 1996 mit den dazugehörigen
Drucksachen verweisen.
Dieser Entwurf, Herr Kollege Professor Meyer, der
im Rundschreiben des BMJ vom 1. Dezember 1998 dargestellt worden ist, ist offensichtlich in der Kabinettssitzung am 23. Dezember 1998 nach meiner Kenntnis
beschlossen worden. Der Entwurf der CDU/CSUBundestagsfraktion könnte bereits nach dieser heutigen
Debatte im Rechtsausschuß am 27. Januar 1999 beraten
und gegebenenfalls geändert werden. Die zweite und
dritte Lesung im Plenum des Deutschen Bundestages
könnte somit noch im Februar 1999 abgeschlossen werden. Dieses würde ermöglichen, daß der Bundesrat noch
für die Sitzung am 26. Februar 1999 unseren Gesetzentwurf in der möglicherweise auch geänderten Fassung
zugeleitet bekommen könnte.
Damit könnte bereits im März/April 1999, nach Verkündung im Bundesgesetzblatt, die Voraussetzung für
einen Suchlauf im Bundeszentralregister geschaffen
werden. Bei günstiger Prognose könnten also die sogenannten Altfälle auf der Grundlage unseres Gesetzentwurfes Mitte bzw. Ende dieses Jahres in der BKA-Datei
gespeichert werden. Wird dagegen eine entsprechende
Regelung in einen umfassend zu beratenden Gesetzentwurf zum Strafverfahrensänderungsgesetz - wie von der
Bundesregierung beabsichtigt - eingestellt, so könnte
eine Verzögerung eintreten, die weit über das Ende des
Jahres 1999 hinausgeht.
Die Regierungskoalition sollte sich daher einen Ruck
geben, um auf der Grundlage unseres Gesetzentwurfes
zu einer zügigen Beratung und Verabschiedung im Interesse von Opfern und zukünftigen potentiellen Opfern
zu kommen. Daß Sie vermutlich daran nicht interessiert
sind, haben die Beratungen im Ältestenrat gezeigt, wo
uns nach meiner Information verwehrt wurde, diesen
Gesetzentwurf noch im Dezember 1998 im Plenum des
Bundestages - was im Einvernehmen aller Fraktionen
möglich gewesen wäre - in erster Lesung zu beraten.
Die neue Regierungskoalition hat damals ihr Instrumentarium und ihre Mehrheit benutzt, so daß dieser GeRonald Pofalla
setzentwurf mit einer über einmonatigen Verzögerung
erst heute hier im Plenum in erster Lesung beraten werden kann. Die Regierungskoalition sollte eingestehen,
daß wir auf Grund unserer zügig eingebrachten Gesetzesinitiative vom 17. November 1998 zu einer rechtsstaatlich korrekten Regelung des angesprochenen Problems
zeitnah kommen könnten, wenn es auf Ihrer Seite die
wirkliche Bereitschaft gäbe, das Problem zügig regeln
zu wollen. Aber, wie gesagt, es gibt tiefgreifende Meinungsunterschiede zwischen den Bündnisgrünen und der
SPD. Die SPD hat die Bündnisgrünen erkennbar über
den Tisch gezogen; diese haben inhaltlich ihre Bedenken
aufgegeben.
({2})
Das alles erfordert Zeit. Diese Zeit geht verloren
beim Schutz von Opfern und zukünftigen Opfern. Wir
halten dieses Verhalten der neuen Regierungskoalition
für empörend.
Herzlichen Dank.
({3})
Wir fahren in der
Aussprache zur Ergänzung des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes fort. Ich wollte diesen Begriff noch
einmal erwähnen, weil mir sehr imponiert hat, wie oft
der Herr Kollege ihn ohne zu stolpern ausgesprochen
hat.
Das Wort hat jetzt Professor Jürgen Meyer.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion ist der handwerklich
mißglückte Versuch, ein kriminalpolitisch richtiges Ziel
zu erreichen. Außerdem greift er erheblich zu kurz.
Deshalb stelle ich zu den schon vor dieser Debatte verbreiteten Ausführungen des Kollegen Pofalla eingangs
lediglich fest: Die Qualität der Opposition bemißt sich
nicht nach ihrer parteipolitischen Aggressivität, sondern
nach der Substanz ihrer Entwürfe. Diese läßt bislang wie ich darlegen werde - zu wünschen übrig.
({0})
Nach dem kriminalistischen Siegeszug des genetischen Fingerabdrucks und seiner auf mehrere Gesetzesinitiativen der SPD zurückgehenden rechtsstaatlichen
Regelung im Jahre 1997 haben wir uns im vergangenen
Jahr darauf verständigt, das Verfahren auch auf sogenannte Altfälle anzuwenden. Dies ist ein wichtiger Inhalt des neuen § 81 g StPO. Danach darf die DNAAnalyse für die Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren auch bei Personen durchgeführt werden, die
wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung rechtskräftig verurteilt worden sind, sofern und solange die
entsprechenden Eintragungen im Bundeszentralregister
noch nicht getilgt sind. Die Erwähnung des Bundeszentralregisters diente dabei - nach dem klaren Gesetzeswortlaut und entgegen der irrigen Auffassung des Kollegen Pofalla - allein dem Zweck, eine zeitliche Begrenzung für die Zulässigkeit der Maßnahmen herbeizuführen. § 2 des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes ist insoweit eindeutig.
Es besteht offensichtlich ein Interesse der Strafverfolgungsbehörden daran, den Datenbestand des Bundeszentralregisters auszuwerten und dadurch die Altfälle systematisch herauszufinden. Eine entsprechende
Ermächtigungsgrundlage oder Mitwirkungspflicht des
Bundeszentralregisters läßt sich im Gegensatz zur
Rechtsauffassung der Entwurfsverfasser aus dem geltenden Bundeszentralregistergesetz nicht ableiten. Es ist,
Herr Kollege Pofalla, auch nicht befremdlich, daß die
Wissenschaft mehr an Daten auswerten kann als die
Strafverfolgungsbehörden. Ich verweise nur auf die
Vielzahl getilgter oder zu tilgender Daten, soweit diese
einem gesetzlichen, aber natürlich nicht wissenschaftlichen Verwertungsverbot unterliegen.
Die fehlende Ermächtigungsgrundlage bzw. Mitwirkungspflicht des Bundeszentralregisters sollte aber auch
nach unserer Auffassung geschaffen werden.
({1})
- Dabei müssen allerdings, Herr Kollege Geis, das verfassungsrechtliche Gebot der Gesetzesbestimmtheit und
die Anforderungen des geltenden Datenschutzrechts beachtet werden.
({2})
Zudem darf eine entsprechende gesetzliche Ergänzungsregelung nicht im inhaltlichen Widerspruch zu
dem Gesetz stehen, das sie ergänzen soll. Diese Anforderungen werden von dem vorliegenden Gesetzentwurf,
der offenbar mit heißer Nadel gestrickt worden ist, nicht
beachtet. Die von Ihnen, Herr Kollege Pofalla, so bezeichnete „ganz einfache Regelung“ ist offenbar zu einfach.
({3})
Ich weise nur darauf hin, daß der Entwurf zwar eine
Übermittlungsermächtigung des Generalbundesanwalts vorsieht, aber keine Anfragebefugnis der im einzelnen aufgeführten Behörden, daß er den Verwendungszweck nur pauschal durch Verweis auf § 2 Abs. 1
des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes beschreibt, der
dazu nichts enthält, und daß er keine Löschungsbestimmungen vorsieht.
Der entscheidende Mangel besteht aber darin, daß der
Entwurf den datenschutzrechtlichen Grundsatz der Begrenzung der Datenübermittlung auf das erforderliche
Maß verletzt. Neben der Staatsanwaltschaft nennt der
Entwurf nämlich als auskunftsberechtigte Stellen unter
anderem alle den Kriminaldienst verrichtenden Stellen
der Polizei sowie alle obersten Bundes- oder Landesbehörden. Eigentlich hätte auffallen müssen, daß oberste
Bundes- und Landesbehörden im Rahmen des Identitätsfeststellungsgesetzes nicht samt und sonders Zuständigkeiten haben. Sollen eigentlich auch die Kultus- oder
Landwirtschaftsminister als oberste Landesbehörden
künftig einen Auskunftsanspruch erhalten?
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ja, gerne.
Bitte schön, Herr
Kollege.
Sie wissen, Herr Kollege, daß wir Ihren Sachverstand sehr hoch schätzen und
für jeden Rat dankbar sind, den Sie uns geben. Wären
Sie denn bereit, die Ratschläge, die Sie jetzt hier vom
Rednerpult erteilen, auch in die Beratungen des Rechtsausschusses einzubringen, so daß wir gemeinsam eine
auch Ihren Vorstellungen entsprechende Lösung finden
können?
Herr Kollege Geis,
ich werde nachher noch ausführen, daß eine gemeinsame Gesetzesberatung durchaus auch im Interesse der
SPD-Fraktion liegt. Aber Sie werden einräumen, daß es
Beratungsvorlagen gibt, die so mangelhaft sind, daß wir
alle froh sein müssen, wenn eine bessere kommt. Darauf
hoffen wir, und ich denke, daß die Frau Bundesjustizministerin dazu nachher einiges ausführen wird.
({0})
Im Zusammenhang mit der Frage, welche Behörden
einen Auskunftsanspruch erhalten sollen, hätte man neben der Staatsanwaltschaft - wohl in erster Linie noch
an das Bundeskriminalamt denken können. Es müßte
auch bekannt sein, daß die Kripo neben vorbereitenden
Tätigkeiten bei der DNA-Analyse, die bekanntlich einem strengen Richtervorbehalt unterliegt, keinerlei Zuständigkeiten hat und deshalb für diesen Zweck auch
keine Auskünfte des Bundeszentralregisters verlangen
kann.
Schließlich fehlt im CDU/CSU-Entwurf nicht nur eine Regelung, die sicherstellt, daß die Vorschrift nur für
die einmalige Maßnahme der sogenannten Altfälle herangezogen wird, sondern auch ein Straftatenkatalog.
Dieser ist notwendig, weil es nicht Sache der Registerbehörde sein kann, zu bewerten, was „erhebliche Straftaten“ im Sinne § 81 g StPO sind. Die Registerbehörde
ist dazu weder berechtigt noch in der Lage. Ein dem Gesetzentwurf beizufügender Katalog ist auch notwendig,
damit die Registerbehörde die erforderlichen Programmierungsarbeiten vornehmen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sagte eingangs,
daß der Entwurf auch zu kurz greift. Nach den beispielhaft aufgeführten Mängeln des Entwurfs kann es nicht
mehr zweifelhaft sein, daß es sich hier um eine Materie
des strafverfahrensrechtlichen Datenschutzrechts handelt, das seit vielen Jahren durch das immer wieder angekündigte Strafverfahrensänderungsgesetz geregelt
werden müßte. Der Übergangsbonus des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts von 1983
ist bekanntlich längst verbraucht. Es ist schon bemerkenswert, daß die lange Amtszeit der früheren Bundesregierung etwa mit der nicht genutzten Zeit identisch ist,
in welcher der Auftrag des Volkszählungsurteils hätte
erfüllt werden müssen.
Ich erinnere daran, daß wir uns im vergangenen Jahr
in langen Verhandlungen darum bemüht haben, eine
konsentierte Fassung des StVÄG zu erarbeiten. In einer
letzten Sitzung im August 1998 in Frankfurt, Herr Kollege Geis, schien die Einigung erreicht. Ein aus der Sicht
aller Verhandlungsteilnehmer tragfähiger Kompromißtext war vollständig ausgehandelt. Wenige Tage danach
genügte ein kurzes Schreiben des bayerischen Justizministers, um der CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Mut
zum Kompromiß zu nehmen.
({1})
Es ist ja richtig, daß ohne Datenschutz manches im
Strafverfahren leichter machbar zu sein scheint. Das böse Erwachen wird aber folgen, wenn demnächst überführte Verbrecher freigesprochen werden müssen, weil
die Vorgaben des Volkszählungsurteils bis heute nicht
erfüllt sind. Dafür tragen Sie, meine Damen und Herren
von der CDU/CSU-Opposition, dann eine besondere
Verantwortung.
({2})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pofalla?
Ja, ich habe sie
schon im Vorgriff gestattet.
Herr Kollege Meyer,
würden Sie mir zubilligen, daß auch die SPDBundestagsfraktion dem bestehenden DNA-Identitätsfeststellungsgesetz bei seiner Beratung im Juni des vergangenen Jahres einstimmig zugestimmt haben? Könnten Sie mir bitte erklären, warum Sie die gerade von Ihnen vorgetragene Kritik in Erwartung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und möglicher
Rechtswidrigkeit hinsichtlich der Erfassung von Daten
in das Verfahren nicht eingebracht haben, obwohl Sie
am Schluß dem bestehenden DNA-Identitätsfeststellungsgesetz zugestimmt haben?
Wir haben diese
Bedenken sehr wohl eingebracht und sind davon ausgegangen, daß wir uns auf dieses StrafverfahrensändeDr. Jürgen Meyer ({0})
rungsgesetz, das eine umfassende Regelung des Datenschutzes im Strafverfahren enthält, würden einigen können. Bis zum August vergangen Jahres schien das möglich. Es war - das sage ich auch für die Kollegen von
CDU/CSU und F.D.P. im Bundestag - für alle, vorsichtig formuliert, eine Enttäuschung, daß unsere gemeinsamen Bemühungen letztlich durch einen ganz kurzen
Brief des Justizministers Leeb aus München zunichte
gemacht worden sind. Ich hätte mir gewünscht, daß Ihre
Fraktion in dieser Situation zu dem ausgehandelten
Kompromiß gestanden hätte.
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ja, bitte schön.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Herr Kollege, stimmen
Sie mir zu, daß der Regelungsinhalt dieses jetzt vorgelegten Gesetzes nichts mit dem damals verhandelten
StVÄG zu tun hatte? Der Regelungsinhalt, den wir jetzt
diskutieren, hatte nichts mit dem StVÄG zu tun, so daß
nach meiner Auffassung dieses Beispiel - vielleicht
können Sie mir zustimmen - weit hergeholt ist.
In diesem Punkt
kann ich Ihnen leider nicht zustimmen; denn der Sinn
meiner vorangegangenen Ausführungen war, darzustellen, daß es bei diesem Spezialgesetz genau um diejenige
Materie geht, die im StVÄG umfassend zu regeln ist.
Daß kein Normwiderspruch entstehen darf, macht es
notwendig, die Materie, wie wir es vorhatten, entweder
parallel oder gleichzeitig oder sogar in einem Gesetz zu
regeln.
({0})
Wir wollen die Ausschußberatungen nicht hier im Plenum vollziehen. Sie
haben noch eine Frage. Bitte, Herr Kollege Geis.
Herr Meyer, ist Ihre ablehnende Haltung nicht vielmehr darauf zurückzuführen,
daß dieses Gesetz von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und nicht von Ihrer Fraktion oder von der Regierung vorgelegt worden ist? Könnte es sein, daß Sie
deswegen alle möglichen Gegenvorschläge machen, um
diesem Gesetz nicht zustimmen zu müssen?
({0})
Diese Unterstellung ist hart am Schwarzen vorbei getroffen. Zutreffender ist die Annahme, daß in Sachen Datenschutz und
genetischer Fingerabdruck in aller Regel SPD-Entwürfe
die Gesetzgebung beeinflußt haben. Aber wenn künftig
etwas Gutes von der CDU/CSU kommen sollte,
({0})
dann werden wir das gerne übernehmen. Heute allerdings ist dieser Sachverhalt leider nicht gegeben.
Nach der schwierigen Verhandlungssituation über das
Strafverfahrensänderungsgesetz im vergangenen Sommer freuen wir uns natürlich, daß wir nun eine neue
Bundesregierung haben,
({1})
die beabsichtigt, demnächst dem Parlament den Entwurf
eines Strafverfahrensänderungsgesetzes zuzuleiten.
Selbstverständlich wird ein Bestandteil dieses Entwurfs
auch die notwendige Ergänzung des Bundeszentralregistergesetzes sein. Wer diese Änderung, wie etwa der
Freistaat Bayern, will, hat so einen zusätzlichen Grund,
sich bei der Verabschiedung des StVÄG verfassungstreu
und kooperativ zu verhalten. Die vom Kollegen Pofalla
befürchtete Verzögerung wird dann nicht eintreten.
Gestatten Sie mir eine abschließende Bemerkung: In
den Debatten der vergangenen Jahre hatten wir häufig
darauf hinzuweisen, daß sich eine seriöse Rechtspolitik
nicht in Einzelschritten erschöpfen darf, die letztlich
Stückwerk bleiben müssen. Deshalb vertrauen wir darauf, daß wir in naher Zukunft eine seriöse Beratungsgrundlage haben werden, die nicht lediglich ein einzelnes, neu aufgetauchtes datenschutzrechtliches Problem,
sondern die Vielzahl der Probleme des Datenschutzes im
Strafverfahren umfassend regelt.
Die intensiven interfraktionellen Verhandlungen im
vergangenen Jahr haben eine gute Grundlage für diesen
Entwurf geschaffen. Es kann dem guten Ruf des Gesetzgebers nur dienen, wenn er sich nach der häufigen Adhoc- oder Hau-ruck-Gesetzgebung der letzten Jahre, die
vielfach mit Recht kritisiert worden ist, wieder mehr um
Gesetze bemüht, die diesen Namen wirklich verdienen.
Ich bedanke mich.
({2})
Das Wort hat der
Kollege Volker Beck.
Jetzt hoffe ich, daß Sie von der CDU/CSU einmal ganz
ruhig und gespannt sind, während ich zu meiner Rede
schreite, auf die Sie ja schon seit Minuten warten.
({0})
Dr. Jürgen Meyer ({1})
Herr Pofalla hat ja schon ausgeführt, wie sehr er daran
interessiert ist. Ich fand seine Rede auch sehr interessant, da ich von Streitigkeiten innerhalb der Bundesregierung erfahren habe, von denen ich gar nichts wußte.
Insofern hat das durchaus zur Information beigetragen.
Ich werde mich erkundigen, worum es da gegangen sein
soll.
Meine Damen und Herren, die Genomanalyse kann
helfen, Straftäter, insbesondere Sexual- und Gewaltstraftäter, zu überführen. Die Gendatei kann ein effektives Fahndungsmittel sein und Wiederholungstaten verhindern. Hierüber besteht und bestand auch im letzten
Bundestag im Grundsatz Einigkeit. Die Frage des Ob
der Errichtung der Gendatei hat der Bundestag im vergangenen Jahr positiv beantwortet. Dissens besteht im
wesentlichen in der Frage des Wie.
Die Gendatei ist keineswegs die Wunderwaffe gegen
das Verbrechen, zu der sie von manchem hochstilisiert
wird. Bei der Bewertung darf niemals vergessen werden,
daß es sich bei den gespeicherten Informationen um
hochsensibles Material handelt; angesichts der rasanten
Entwicklung in der Genforschung ist heute nicht auszuschließen, daß daraus irgendwann einmal Informationen
gewonnen werden können, die über die reine Identitätsfeststellung hinausgehen. Auch rechtsstaatliche Grundsätze wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oder die
Unschuldsvermutung müssen bei der Gesetzgebung beachtet werden.
In der Hektik, mit der die alte Regierungskoalition
das Gesetz im vergangenen Jahr durch die parlamentarischen Beratungen gepeitscht hat, wurde jedoch vieles
nicht geregelt, was eigentlich hätte geregelt werden
müssen. Nur deshalb führen wir heute hier diese Debatte. So fehlt zum Beispiel - Herr Pofalla hat meine Kritik
daran schon angesprochen - noch die gesetzliche
Grundlage für die Errichtung der Datei bzw. für die
Speicherung ganz bestimmter Daten.
Die Speicherung von Daten in den Fällen, in denen
bereits in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
ein genetischer Fingerabdruck genommen wurde - das
sind die Fälle nach § 81 e Strafprozeßordnung -, erfolgt
ohne gesetzliche Grundlage allein auf Grund einer Anordnung des aus dem Amt geschiedenen Bundesinnenministers. Ich weiß, wie aufrecht Herr Schmidt-Jortzig
ein bis zwei Tage darum gestritten hat, das zu regeln,
dann hat er sich aus der Debatte verabschiedet. Die
Strafprozeßordnung bietet jedenfalls keine gesetzliche
Grundlage, die die erforderliche Speicherung regelt.
Das BKA-Gesetz reicht als Ermächtigungsgrundlage
unseres Erachtens nicht aus. Es läßt im übrigen eine
strafverfolgungsfremde Nutzung von Daten unter bestimmten Voraussetzungen zu. Ich verstehe nicht, warum wir für einen Teil der Gendaten dieses im letzten
Jahr per Gesetz ausgeschlossen haben und es für den anderen Teil ausdrücklich erlauben wollen. Das macht ja
keinen Sinn. An dieser Auffassung und an dieser Kritik
hält unsere Bundestagsfraktion - darauf haben Sie so
gespannt gewartet - weiterhin fest.
Daß Sie jetzt allerdings einsehen, daß es da ein Problem gibt, Herr Pofalla, und uns in unserer Kritik bestärken und uns auffordern, diese in gesetzliche Regelungen umzusetzen, freut mich. Ich freue mich immer
über Unterstützung, auch aus der Opposition, für vernünftige Vorhaben. Lassen Sie uns im Ausschuß weiter
über dieses Problem reden.
Andere handwerkliche Fehler des Gesetzes kommen
bei der praktischen Anwendung zum Tragen. So gibt es
zum Beispiel keinen Straftatenkatalog, der bestimmt,
bei welchen Delikten überhaupt Gendaten erhoben werden dürfen. Statt dessen nennt das Gesetz Straftaten von
erheblicher Bedeutung. Schon heute ist damit zu rechnen, daß mit Hilfe dieser Generalklausel der betroffene
Personenkreis rapide erweitert wird.
Versäumnisse bei der Gesetzesfassung rächen sich
jetzt. Für diese Fehler und Versäumnisse, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU, tragen allein Sie als
Mitglieder der alten Regierungskoalition die Verantwortung.
({2})
- Die SPD hat in vielen Punkten unsere Kritik geteilt.
Sie hat sich aber bei der Abstimmung auf Grund der
unterschiedlichen Gewichtung von Kritik und Notwendigkeit der Regelung anders verhalten. Dieses Verhalten, das sich aus der unterschiedlichen politischen Akzentuierung ergab, haben wir immer respektiert.
Bündnis 90/Die Grünen wird die praktische Anwendung des Gesetzes genau beobachten. Ich glaube, unser
Koalitionspartner wird dabei mithelfen. Wir werden
überprüfen und gegebenenfalls, wenn es sich als notwendig erweist, aus der Praxis heraus erforderliche Korrekturen anmahnen. Wir wollen es Ihnen nicht gleichtun
und den Fehler begehen, aktionistisch eine Nachbesserung des Gesetzes nach der anderen zu verabschieden,
die dann in ein paar Monaten erneut korrigiert werden
muß.
Einer der Punkte, auf die sich der Bundestag in der
vergangenen Wahlperiode verständigt hat, war die Erweiterung der Zugriffsmöglichkeit auf die genetischen
Informationen bereits verurteilter Straftäter, von denen
noch keine verformelten DNA-Profile vorlagen. Die
Einräumung der Möglichkeit der nachträglichen Erhebung von Gendaten bei bereits Verurteilten war ein Novum. Zwar dürfen auch diese Daten nur dann erhoben
werden, wenn Grund zur Annahme besteht, daß gegen
den Betroffenen künftig erneut wegen Straftaten von erheblicher Bedeutung ermittelt wird. Wann dies der Fall
ist und wie sich dies feststellen läßt, daran scheiden sich
allerdings die Geister.
In einigen Bundesländern vertritt man beispielsweise
die Auffassung, bereits die Schwere des Delikts reiche
aus, einen entsprechenden Verdacht zu begründen. Aus
der Presse war zu entnehmen, allein in Bayern werde die
Erhebung der Gendaten von über 89 000 bereits entlassenen Straftätern für erforderlich gehalten. Diese Zahl
erscheint mir sehr hoch. Auch aus anderen Bundesländern ist bekannt, daß Strafgefangene unter schlichtem
Hinweis auf den Gesetzestext zum „freiwilligen“ Gentest geladen werden - bei Weigerung mit richterlichem
Beschluß.
Volker Beck ({3})
In den Ländern wird nun beklagt, daß diese Vorschrift leerlaufe, weil die Ermittlungsbehörden oftmals
schlicht nicht wissen, welche Personen überhaupt für einen Gentest in Betracht kommen. Die Durchsicht der
Akten und Dateien wird als zu aufwendig angesehen.
Eine Auswertung des Datenbestandes des Bundeszentralregisters könnte hier Hilfestellung leisten. Das Bundeszentralregistergesetz enthält jedoch bisher keine
Ermächtigungsgrundlage zur Datenweiterleitung.
Ich erkenne an, daß ein Problem bei der Ermittlung
von Personaldaten verurteilter Straftäter besteht. Meine
Fraktion ist auch bereit, an der Lösung dieses Problemes
mitzuwirken. Der entsprechende Vorschlag der Union
ist aber für uns nicht tragbar.
({4})
Eine Regelung der Datenübermittlung, die wir mittragen können, muß gewisse Mindestkriterien erfüllen.
Dies ist zum einen ein Straftatenkatalog, der sicherstellt,
daß nur Daten über schwere Straftaten übermittelt werden. Darüber hinaus ist eine klare Verwendungsregelung
erforderlich. Zum anderen halten wir auch eine Befristung der Möglichkeit der Registerabfrage für erforderlich. Nur so kann sichergestellt werden, daß die Vorschrift nur für die einmalige Ermittlung der sogenannten
Altfälle herangezogen wird und nicht zum dauernden
Abgleich des Registerbestandes mit der beim BKA geführten Gendatei benutzt wird.
Der Unionsentwurf erfüllt keine dieser Bedingungen.
Er schießt in vielerlei Hinsicht über sein vorgebliches
Ziel hinaus. Weder wird der Verwendungszweck der
Daten konkret bestimmt, noch findet man irgendwelche
Löschbestimmungen.
({5})
- Der ist so kurz und bescheiden, daß man ihn ziemlich
schnell durchlesen kann.
({6})
Auch der von Ihnen vorgesehene Kreis der Auskunftsberechtigten ist viel zu weit gefaßt. Neben den
Staatsanwaltschaften wollen Sie der Kriminalpolizei wie
auch den obersten Bundes- und Landesbehörden einen
Auskunftsanspruch zubilligen. Die obersten Landwirtschaftsbehörden gehören allerdings noch nicht zu dem
Kreis. Vielleicht erleben wir aber im Rechtsausschuß eine entsprechende Forderung, Herr Meyer.
Allerdings verfügen sowohl die Kriminalbehörden
wie auch die obersten Bundes- und Landesbehörden
über keine bzw. nur geringe Kompetenzen im Verfahren
zur DNA-Feststellung. Daher stellt sich mir die Frage,
was diese Institutionen Ihrer Auffassung nach mit den
übermittelten Personaldaten anfangen sollen. Unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten dürften diese Regelungen keinen Bestand haben. Ich rate Ihnen, einmal
den § 15 des Datenschutzgesetzes - Grundsatz der Begrenzung der Datenübermittlung auf das erforderliche
Maß - anzuschauen. Dort finden Sie wichtige Grundgedanken des Datenschutzes wieder, die auch hier zu beachten sein werden.
Meine Damen und Herren aus der Union, so kann
man mit dem hochsensiblen Datenmaterial nicht umgehen. Sie setzen die rechtspolitische Flickschusterei in
der Opposition fort, die in den letzten Jahren bestimmendes Element Ihrer Rechtspolitik war.
({7})
Ich bin froh, daß in der Rechtspolitik jetzt ein anderer
Wind weht.
({8})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die bisherige Diskussion, die auch
ein sehr interessantes juristisches Kolleg darstellt, zeigt,
daß wir hier ein ganz wichtiges Problem angesprochen
haben, denn schließlich ist es in unser aller Interesse,
daß über die DNA-Analytik im Strafverfahren, insbesondere bei späteren Ermittlungsverfahren, genügend
Daten von einschlägig Verurteilten gespeichert sind, um
bei aktuellen Vorfällen, zum Beispiel bei Vergewaltigung mit Körperverletzung oder gar Todesfolge, einen
genetischen Fingerabdruck der in Frage kommenden
Täter, also auch der Altfälle, zur Verfügung zu haben.
Wir waren in der letzten Legislaturperiode hier bereits einig, daß dieses DNA-Identitätsfeststellungsgesetz
so zu verabschieden ist. Wir waren uns - das ist völlig
richtig, Herr Professor Meyer - viele Jahre nicht einig,
auch in der Koalition nicht, hinsichtlich des zu regelnden StVÄG. Der Bonus, den wir vom Bundesverfassungsgericht eingeräumt bekommen haben, wird sich
langsam zu einem Malus verändert haben. Wir müßten
dieses StVÄG wirklich alsbald ins Bundesgesetzblatt
aufnehmen. Es ist damals - da haben Sie völlig recht am Landesjustizminister von Bayern gescheitert.
Man war sich in der letzten Legislaturperiode, vielleicht auch, weil man die Tragweite nicht immer erkannt
hat - das gilt unter Umständen auch für den einen oder
anderen SPD-Abgeordneten im Rechtsausschuß -, nicht
hundertprozentig über die Frage der Dateien und der
Abfragemöglichkeiten beim Zentralregister im klaren.
Der damalige Bundesinnenminister - das haben Herr
Beck, und ich glaube, auch Sie, Herr Professor Meyer,
zu Recht deutlich gemacht - hat gedacht, er könne hier
durch den schlichten Hinweis auf das BKA-Gesetz Abhilfe schaffen. Das ist natürlich nicht der Fall. Für solche
sensiblen Daten - da gebe ich Herrn Beck völlig recht bedarf es einer befriedigenden Rechtsgrundlage. Diese
muß nun alsbald geschaffen werden.
Ich bin fast sicher, daß die Bundesjustizministerin
jetzt auch vorschlagen wird - es wird auch Zeit -, wie
Volker Beck ({0})
das aussehen soll, und vor allem erklären wird, in welcher Zeit sie die Rechtsgrundlage schaffen kann. Denn
es ist in der Tat ein großes Problem. Wenn wieder ein
solcher Fall passiert wie in den letzten zwei Jahren - wir
alle kennen die Fälle namentlich -, dann ist das Geschrei
in der Öffentlichkeit groß. Dann wird es nicht darum
gehen, ob jemand aus dem Bundesjustizministerium gerügt wird oder nicht, sondern dann besteht schlicht die
Notwendigkeit, schnell zu ermitteln. Dazu, daß das geschehen kann, müssen wir alle beitragen.
Aber auch die Landesjustizverwaltungen müssen mit
dazu beitragen - darauf hat Herr Beck dankenswerterweise hingewiesen -, und dazu gibt es schon eine Reihe
von Möglichkeiten. Den Landesjustizverwaltungen ist es
nur zu mühsam, in die JS-Karteien und in die Akten zu
schauen und daraus eine vernünftige Datei zu erstellen.
Sie wollen es sich durch einen Abruf der Daten beim
Bundeszentralregister, um vielleicht schneller an diese
heranzukommen, sehr einfach machen. Hierzu bedarf es
aber in der Tat einer ausreichenden Rechtsgrundlage.
Die Landesjustizverwaltungen wollen jedenfalls wir
nicht aus der Verantwortung entlassen. Die sollen sich
gefälligst auf die Hosen setzen und ihre Daten selber
ermitteln. Wenn es dann noch Lücken gibt, dann kann
sicherlich auch das Bundeszentralregister mitwirken.
Das muß es dann auch. Dafür muß sehr schnell auch mit
Hilfe der Bundesjustizministerin die Rechtsgrundlage
geschaffen werden.
Wir sind bereit, im Rechtsausschuß auf Grund der
Initiative der CDU/CSU-Fraktion intensiv mitzuberaten
und dann, wenn vom Bundesjustizministerium bessere
Vorschläge kommen sollten, diesen zuzustimmen. Wir
sind für die Beratung offen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der
Kollege von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was macht man als
Regierungskoalition, wenn einem die Opposition zuvorgekommen ist?
({0})
- Ich will nicht verschweigen, daß wir darin eine gewisse Erfahrung haben. - Man kündigt an oder stellt fest,
daß handwerkliche Fehler gemacht wurden. Man kündigt ein größeres, umfangreicheres Werk an, in dem alle
Bedenken der Opposition aufgenommen werden. Man
macht verfassungsrechtliche und datenschutzrechtliche
Bedenken geltend, und man trägt schließlich zur Unterstreichung all dieser dilatorischen Vorhaltungen einen
orangen Kommentar zum Rednerpult und trägt ihn unaufgeschlagen wieder zurück, Herr Professor Meyer.
({1})
Das ist ein beeindruckender dilatorischer Schleiertanz,
den Sie hier vorführen. Aber das Thema ist dafür letztlich zu ernst.
Herr Kollege, Kollege Dreßen möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Gestatten Sie das?
Ja, gerne.
Bitte sehr.
Auf Grund Ihrer Eingangsbemerkung möchte ich fragen: Was machen eigentlich die
jungen Wilden im Hinblick auf das Staatsangehörigkeitsrecht?
Herr Kollege, da
empfehle ich Ihnen die Lektüre der Zeitung.
({0})
Denn ich kann hier nur fünf Minuten sprechen. Ich würde mich freuen, wenn sich eine so intensive und vielschichtige Diskussion, wie sie seit Jahren in der Union
geführt wird, jetzt endlich auch einmal in der SPD zu
diesen und anderen Fragen durchsetzen würde.
Meine Damen und Herren, dieses Thema, so meine
ich, ist sehr ernst. Ich will Ihnen zunächst sagen, daß die
Dinge, die wir versuchen, rechtsstreitfrei zu stellen, nach
unserer Ansicht schon längst möglich sind. Denn die
§§ 41 und 42 BZRG in Verbindung mit § 2 des DNAIdentitätsfeststellungsgesetzes bieten nach unserer Ansicht schon heute die Möglichkeiten, die von allen fraktionsübergreifend gefordert werden.
Wenn Sie tatsächlich handwerkliche Mängel geltend
machen und unsere Vorlage verbessern wollen
({1})
- oder müssen -, dann laden wir Sie dazu sehr herzlich
ein, Herr Professor Meyer. Unser Appell aber lautet:
Nehmen Sie die Möglichkeiten des Gesetzgebungsverfahrens wahr, die durch die Einbringung unseres Gesetzentwurfes gegeben sind. Denn nach unserem Entwurf wäre es möglich, daß der Rechtsausschuß bereits
am 27. Januar dieses Jahres über diese Frage berät, daß
die zweite und dritte Lesung im Februar dieses Jahres
stattfindet und daß schließlich der Bundesrat bereits am
26. Februar 1999 dieser Regelung zustimmt.
Das hätte den Vorteil, daß die Altfälle, die ja auch erfaßt werden sollen und auf die hier im Zusammenhang
mit § 81 g der Strafprozeßordnung hingewiesen worden
ist, möglichst umfassend in diese Regelung einbezogen
werden könnten und daß die - jedenfalls theoretische Möglichkeit vermieden wird, daß eine Löschung von
Täternamen stattfindet, die wir für diese Identitätsfeststellung doch noch gebrauchen könnten.
Deswegen von unserer Seite nochmals - auch wenn
Sie Bedenken geltend machen - der Appell, an unserem
Gesetzentwurf mitzuarbeiten und für die von mir beschriebene rasche Verabschiedung zu sorgen.
Vielen Dank.
({2})
Nun erteile ich das
Wort der Bundesministerin der Justiz, Frau Professor
Dr. Herta Däubler-Gmelin.
Liebe Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich muß sagen: Der Parlamentarismus ist
schon etwas Schönes - nach dieser Debatte sage ich das
in doppelter Weise -, vor allen Dingen dann, wenn der
Parlamentarismus, wie wir es gerade erlebt haben, zu einem lange erwarteten, fälligen und notwendigen Regierungswechsel führt, wie er jetzt stattgefunden hat. Was
kann da alles passieren?
Da kann passieren, daß wir heute, am 87. Tag der
neuen Regierung der rotgrünen Koalition vor folgende
Situation gestellt sind: Wir haben ohne Zweifel ein
wichtiges Thema vor uns. Wir müssen Korrekturarbeiten
vornehmen, weil die letzte Regierung - lassen Sie mich
das ganz freundlich sagen - bestimmte Punkte nicht gesehen hat. Man könnte, wenn man ein „junger Wilder“
wäre und ihre liebenswürdigen und besonderen Ausdrücke benutzen würde, auch sagen, daß sie in unverantwortlicher Weise geschlampt hat.
({0})
- Lieber Herr Pofalla, seien sie doch nicht so hektisch.
Sie wissen es doch ganz genau; so lange ist die Debatte
doch noch nicht her. Sie dürften sich noch ganz gut daran erinnern. Wir haben gesagt: Ja, wir wollen den genetischen Fingerabdruck zur Aufklärung und Strafverfolgung. Das ist keine Frage. Wir wollen ihn aber auf
einer rechtsstaatlichen Grundlage einführen.
({1})
Das war die Äußerung, die Professor Meyer und ich seit
Jahren gemacht haben.
Was haben Sie getan? Sie haben damals gemeint, Sie
könnten husch, husch über die Probleme hinweggehen.
Jetzt sind wir dabei zu reparieren. Wir werden das reparieren müssen, weil es ohne Zweifel so ist, daß wir den
Datenbestand des Bundeszentralregisters in rechtsstaatlich einwandfreier Weise nutzbar machen müssen. So
einfach ist der Sachverhalt.
Daß Sie es jedoch in einigen Punkte immer noch
nicht ganz verstanden haben - das ist nicht mehr so komisch -, zeigt sich in dem, was Herr Pofalla sagte. Lieber Eckart von Klaeden, auch Sie haben es gerade wiederholt. Sie müssen sich jetzt schon irgendwann darauf
verständigen, ob Sie meinen, die Rechtsgrundlage reiche für den hier notwendigen Suchlauf aus oder nicht. In
der Rede von Herrn Pofalla war beides enthalten, auch
Sie haben gemeint, es sei beides drin. Wir sagen Ihnen
genau das gleiche wie vor einem halben Jahr: Wir brauchen eine klare Rechtsgrundlage.
Lassen Sie mich hinzufügen, liebe Kolleginnen und
Kollegen: Der Datenschutz, der auf der Basis des Art. 2
GG dringend erforderlich und verfassungsrechtlich abgesichert ist, ist nicht ein Streusel oder ein Zuckerguß,
der auf einem Stück Kuchen nicht notwendig wäre.
Nein, er ist ein Teil unserer Verfassungsordnung. Deshalb brauchen wir beides: eine klare Strafverfolgung und
klare rechtsstaatliche Grundlagen.
({2})
- Gut, wenn Sie das teilen. Dann ist übrigens auch alles,
was hier sonst an Aufgeregtheiten verbreitet wurde, relativ schnell zu beseitigen. Dann kann man sich, lieber
Herr von Klaeden, darauf verständigen, daß wir eine
Rechtsgrundlage für den Suchlauf, für die Gruppenanfrage brauchen. Dann kann man sich auch darauf verständigen - hier hat der Kollege Funke völlig recht -,
daß dieses von Bund und Ländern gemeinsam gemacht
werden muß. Keine Frage!
Eigentlich hätte mich Herr Pofalla loben müssen, und
zwar einfach deswegen - ich weiß, es fällt ihm furchtbar
schwer -,
({3})
weil wir nicht nur am zehnten Tag der Berufung ins
Amt, verehrter Herr Kollege Geis, der Justizministerinnen- und Justizministerkonferenz zugesagt haben, wir
machen das, sondern weil wir das bereits im Kabinett
beschlossen haben. Nicht an dem Tag, den Sie genannt
haben, verehrter Herr Kollege Pofalla, aber das macht ja
nichts.
Wir haben das im Kabinett beschlossen, übrigens zusammen mit einem anderen Gesetz, das von Ihnen ebenso - ich will mir noch einmal die Sprache eines „jungen
Wilden“ kurz borgen - in unverantwortlich zögerlicher
Weise hinausgeschoben wurde, nämlich mit dem
StVÄG, bei dem uns die Länder in gleicher Weise sagen, das hätte schon längst kommen müssen, weil ihnen
die Gerichte erklären: Wenn die rechtsstaatlich einwandfreie Grundlage nicht bald kommt, dann bekommen wir
enorme Probleme.
Sie, lieber Herr Kollege von Klaeden, haben völlig
recht: Sie als Opposition können ganz schnell irgend etwas hinschreiben und als Fraktion in den Bundestag
einbringen. Wer wüßte das nicht besser als die Opposition der letzten 16 Jahre. Natürlich finde ich das ganz toll.
Wenn es Ihnen um diesen Triumph geht, dann sollen Sie
ihn gern haben, übrigens mit Blumen.
Daß Sie mit Ihrem Vorschlag jedoch Hilfe versprechen und keine Abhilfe schaffen, daß Sie Brot versprechen und Steine bringen, wissen auch Sie.
({4})
Ich will Ihnen gern noch einmal sagen, was in ein solches DNA-Reparaturgesetz, das wir wegen Ihrer Säumigkeit machen müssen, gehört. Das steht auch in dem
Entwurf, den das Bundeskabinett beschlossen hat.
Wir brauchen erstens die Anforderung von Auskünften aus dem Bundeszentralregister durch Staatsanwaltschaften und das Bundeskriminalamt an Hand eines
Straftatenkatalogs für die Durchführung von DNAAnalysen bzw. zum Abgleich mit der Haftdatei des
BKA, also Regelungen über die Erhebungsbefugnis.
Wir brauchen zweitens die Erteilung der Auskünfte
durch das Bundeszentralregister an Staatsanwaltschaften
und das Bundeskriminalamt, also Regelungen über diese
Übermittlungsbefugnis.
Wir brauchen drittens die Durchführung des Abgleichs der Registerauskünfte mit der Haftdatei des
BKA - wenn Sie möchten, kann ich Ihnen auch noch die
entsprechende Bestimmung sagen: § 9 Abs. 2 des entsprechenden Gesetzes - zur Ermittlung der Fälle baldiger Haftentlassung, also Regelungen über die sogenannte Abgleichsbefugnis.
Wir brauchen - ich will das gar nicht zu weit fortführen - weitere Regelungen über die Ermittlungsbefugnis,
wo es um die Übermittlung der Ergebnisse des Abgleichs an die zuständigen Landeskriminalämter durch
das BKA und die Weiterleitung an die zuständigen
Staatsanwaltschaften durch die Landeskriminalämter
oder sonstige Stellen geht.
Schließlich brauchen wir die sofortige Löschung der
Registerdaten mit negativem Abgleichergebnis - das
hätte Ihnen übrigens auch bei „schnell hingeschlappten“
Formulierungen auffallen müssen - und die Löschung
der Daten über die Trefferfälle beim BKA innerhalb einer kurzen Frist sowie die Löschung der Daten bei den
sonstigen Empfängern, wenn sie dort für den Zweck des
§ 2 des DNA-Identitätsfeststellungsgesetzes nicht mehr
benötigt werden, also Regelungen über die Löschungspflicht.
Bei Ihnen fehlen drei dieser wichtigen Regelungen.
Das zeigt, daß man auf der Basis Ihres Gesetzentwurfes
nicht vorankommen kann.
({5})
- Zu Ihnen, lieber Herr Kollege, darf ich sagen: 60 Jahre
und noch kein bißchen leise. Aber so sind Sie uns am
liebsten.
({6})
- Vielen Dank, daß Sie mir das zutrauen.
Lieber Kollege Geis, wenn Sie sich in die Materie
vertiefen, werden Sie feststellen: Ich habe an dieser
Stelle recht.
({7})
Am besten wäre es gewesen, Sie hätten damals, als Sie
die Mehrheit hatten, darauf gedrängt, daß das Gesetz
kommt. Dann hätten wir heute die Probleme nicht.
({8})
- Entschuldigung, das haben wir ja getan.
({9})
- Wir haben es schon längst getan.
({10})
- Einen besseren Beweis für „60 Jahre und kein bißchen
leise“ hätten Sie, lieber verehrter Kollege Geis, gar nicht
geben können.
({11})
- Sie rufen laut „Haltet den Dieb!“, aber haben sich selber in die Lage des Diebes begeben. Angesichts dessen
dürfen Sie sich nicht wundern, daß das nur komisch
klingt.
({12})
- Ich sage es Ihnen jetzt zum drittenmal - und tue es
auch, wenn Sie mich noch ein viertes Mal auffordern -:
Wir haben bereits einen Gesetzentwurf beschlossen.
({13})
- Ich werde ihn Ihnen nachher persönlich übergeben.
({14})
- Das freut mich wirklich. Das halte ich auch für eine
gute Gesprächsgrundlage.
({15})
- Lieber Herr Kollege Geis, Sie wissen ganz genau: Das
war jetzt nur noch komisch. Wir haben gehandelt,
({16})
und wir beziehen die Länder - das wissen Sie ganz genau - auch mit ein. Deswegen hat es gar keinen Sinn,
daß Sie sich weiter aufregen.
({17})
Lassen Sie uns jetzt einmal darüber reden, wie wir die
Versäumnisse der CDU/CSU in dieser Frage vernünftig
bereinigen.
({18})
Wir haben die entsprechenden Bestimmungen im Kabinett beschlossen; jetzt werden die Länder drüberschauen. Sie haben zur Kenntnis zu nehmen - ob Ihnen
das paßt oder nicht - und wissen ja genauso gut wie ich,
daß die Länder ein entscheidendes Wort mitzureden haben.
Jetzt komme ich zu dem, was Sie - auch in der Opposition - und Ihre besonderen Freunde in den Ländern tun
können: Sie können dazu beitragen - was Sie in den
letzten 16 Jahren versäumt haben -, daß die Regelungen
auf eine gute Rechtsgrundlage gestellt werden und diese
schnell beraten wird. Das gilt für das StVÄG, und das
gilt für § 2 des DNA-Korrekturgesetzes, den wir - leider
so gestückelt, wie Sie ihn uns überlassen haben - ändern
müssen.
Ich bin ganz sicher: Wenn es denn nicht nur komisch
gemeint war, sondern wenn Sie dazu beitragen wollen,
daß das rechtsstaatlich umgesetzt wird, dann werden wir
Wege finden.
({19})
Aber wenn Sie - gerade Sie von der CDU/CSU - in den
Versäumnissen der letzten 16 Jahre verharren
({20})
und die Blockade beim StVÄG nicht aufgeben, wird es
leider Gottes länger dauern. Wir wollen das nicht.
Ich darf zum Schluß meiner Rede kommen.
({21})
Am 87. Tag der neuen Bundesregierung erklären wir
hier, daß wir das bereits beschlossen haben.
({22})
- Keine Sorge, lieber Herr Geis: Im Moment habe ich
das Mikrophon. Wenn Sie nachher ans Mikrophon gehen, dann können Sie lauter sein. Es nützt überhaupt
nichts.
({23})
Wir machen Ihre Schlamperei wieder gut. Wir korrigieren, was Sie unterlassen haben. Wir machen es
schnell und in rechtsstaatlich einwandfreier Weise.
Herzlichen Dank.
({24})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/43 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr.
Heidi Knake-Werner, Dr. Klaus Grehn, Monika
Balt, Dr. Ruth Fuchs und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Wiederherstellung des Interessenausgleichs zwischen
Arbeitslosen und Beitragszahlern - Interessenausgleichsgesetz ({0})
- Drucksache 14/208 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Grehn, PDS. - Er ist nicht da.
({1})
Ich möchte die Geschäftsführer bitten, die Rednerliste
zu vervollständigen.
Meine Damen und Herren, was halten Sie davon,
wenn wir diesen Tagesordnungspunkt von der Tagesordnung absetzen? Wer dafür ist, den bitte ich um das
Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das ist
so beschlossen.
Der nächste Tagesordnungspunkt ist die Aktuelle
Stunde. Bis zum Aufruf dieses Punktes müssen wir noch
einen Augenblick warten, bis alle herbeizitiert sind, die
an dieser Aktuellen Stunde teilnehmen, aber davon ausgegangen sind, daß sie zu einem späteren Zeitpunkt aufgerufen wird. Ich unterbreche die Sitzung daher bis
15 Uhr.
({2})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich eröffne die Sitzung erneut und rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Äußerungen des Bundesumweltministers Trittin zu den Kernenergieausstiegsplänen der
Bundesregierung und dem Verbot der Wiederaufarbeitung ohne Entschädigungsleistungen an Frankreich sowie der daraus entstehende außenpolitische Schaden und die großangelegten Rücktransporte bestrahlter Brennelemente nach Deutschland
Das Wort als erster Redner in der Aktuellen Stunde
hat der Kollege Dr. Peter Paziorek von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Vor dem Hintergrund einer
drohenden Klimakatastrophe regte der Club of Rome
1991 in seinem Bericht „Die globale Revolution“ eine
neue Güterabwägung an. Er schrieb:
Heute räumen wir widerwillig ein, daß die Verbrennung von Kohle und Öl aufgrund des dabei
entstehenden Kohlendioxyds für die Gesellschaft
wahrscheinlich noch gefährlicher ist als die Atomkraft. Darum gibt es triftige Gründe dafür, die nukleare Option offenzuhalten.
So schrieb der Club of Rome 1991.
Eine solche ernsthafte Auseinandersetzung mit diesem - ich gebe zu: schwierigen - Thema fehlt völlig bei
der rotgrünen Regierungskoalition und bei der SchröderRegierung.
({0})
Im Rahmen der hektischen Beschlußfassung innerhalb
der Regierungskoalition zum Atomausstieg in den letzten Tagen wird vielmehr vor einer vorurteilsfreien Bewertung gekniffen, dem Druck einer grünen Parteibasis
nachgegeben und somit aus rein koalitionsarithmetischen Gründen der kurzfristige Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen.
({1})
Sie verunsichern damit nicht nur die Wirtschaft, sondern
fügen Deutschland außenpolitischen Schaden zu und
geben alle nationalen und internationalen Bemühungen
zum Klimaschutz auf und der Lächerlichkeit preis.
({2})
Das Festhalten am nationalen Klimaschutzziel, das
Sie selber in der Koalitionsvereinbarung formuliert haben, ist vor dem Hintergrund des beabsichtigten Ausstiegs aus der Kernenergienutzung nicht einmal das Papier wert, auf dem es steht. Sie verschließen nämlich vor
folgenden Tatsachen die Augen: Die Kernenergie trägt
heute in Deutschland zu rund einem Drittel zur öffentlichen Stromversorgung bei. Das entspricht zirka 160
Milliarden Kilowattstunden. Sie erspart uns somit pro
Jahr 150 Millionen Tonnen des klimarelevanten Gases
CO2.
Sie täuschen die Menschen in unserem Land, wenn
Sie vollmundig erklären, Kernenergie lasse sich kurzoder mittelfristig durch Energiesparen oder erneuerbare
Energien ersetzen. Dabei unterschlagen Sie nämlich folgende Tatsachen: Die jährliche Nutzung der Energie aus
Windkraft, die wir grundsätzlich unterstützen, beträgt
zur Zeit zirka 3 Milliarden Kilowattstunden. Das muß
man vor dem Hintergrund der 160 Milliarden Kilowattstunden sehen, die aus der Kernenergie gewonnen werden. Die Energieversorgung aus der sonnenscheinabhängigen Photovoltaik beträgt 0,01 Milliarden Kilowattstunden. Berechnungen zu Ihrem avisierten 100 000Dächer-Programm haben ergeben, daß damit nicht einmal die Leistung eines Blocks des Kernkraftwerks Nekkarwestheim ersetzt werden kann. Um einen von zwei
Blöcken in Neckarwestheim abschalten zu können, benötigt man 3 Millionen Dächer. Das Ihnen nahestehende
Wuppertal Institut hat errechnet, daß bei einem Ersatz
der Kernenergienutzung durch modernste Gas- und
Dampfkraftwerke der CO2-Ausstoß in Deutschland um
37 Prozent zunehmen würde.
Bundeskanzler Schröder hat 1995 in seiner damaligen
Eigenschaft zumindest Ehrlichkeit an den Tag gelegt, als
er am 19. Juni im „ZDF-heute-journal“ sagte:
Wir glauben, daß wir das schaffen können, aber wir
müssen dazu eine andere Energieversorgungsstruktur schaffen. Und das braucht mehr Zeit, als
der eine oder andere sich das wünscht - mich eingeschlossen.
Ja, genau das ist es. Dies ist die Beschreibung einer realistischen Perspektive für den Ausstieg, wenn man den
Ausstieg will. Aber die Realität ist, Sie haben etwas anderes beschlossen, und zwar weitgehend wider besseres
Wissen. Dies ist unverantwortlich.
Sie sind nämlich nicht den Fragen nachgegangen:
Wie kann der Ausstieg tatsächlich bewirkt werden, und
welche Konsequenzen kommen auf uns zu? Für den
Ausstieg müssen die Castor-Transporte rollen. Zur Zeit
werden - das sagen die einen - 400 Transporte veranschlagt; andere sagen, bis zu 600 Transporte. Dazu fehlen zum Beispiel die Transportkapazitäten, so daß die
Mainzer Umweltministerin Klaudia Martini, die SPDMitglied ist, recht hat, wenn sie vorgestern vor einem raschen Ausstieg gewarnt hat.
Viel schlimmer ist, wie Sie, Herr Minister Trittin, mit
Ihren eigenen Aussagen von 1997 und 1998 umgehen.
Sie haben gesagt:
Jeder Atommülltransport bedeutet ein hohes Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung und die eingesetzten Polizeibeamten.
({3})
Sie wollten damit sagen, daß die Castor-Behälter nicht
sicher seien. Das war nicht richtig. Wie stehen Sie heute
zu Ihrer damaligen Aussage? Geben Sie vielleicht heute
zu, daß Sie damals aus parteipolitischen Gründen überzogen haben; denn wenn vor zwei Jahren Sicherheitsstandards eingehalten worden sind, dann waren damals
die Transporte sicher. Aber dann müssen unter den heutigen Sicherheitsbedingungen auch die heutigen Transporte sicher sein. Klären Sie diesen Widerspruch auf.
Sie sind nämlich sonst der „Castor-Transport-Umfaller“.
Sie werden vielleicht jetzt vielmehr als der Panikmacher
aus dem Jahre 1997 entlarvt werden.
({4})
Ich weiß, wie die Menschen im Münsterland - ich
komme aus dem Münsterland - und in Ahaus darüber
denken. Es gab immer eine kommunalpolitische Mehrheit für das Zwischenlager in Ahaus. Dies wurde von
der CDU getragen, nicht von der SPD, den Grünen oder
der FWG vor Ort. Wie stehen Sie jetzt zu der Sorge der
Menschen, daß durch eine veränderte Endlagerpolitik
das Zwischenlager in Ahaus quasi ein Endlager werden
könnte? Wie stehen Sie zu den Aussagen des NRWWirtschaftsministers Steinbrück, der gesagt hat, er beDr. Peter Paziorek
fürchte, daß es auf Bundesebene zu einer Gesetzesänderung kommt, die dazu führen werde, daß die Glaskokillen von La Hague tatsächlich in Ahaus eingebracht werden könnten?
Sie haben Ihren Koalitionspartner und Bundeskanzler
Schröder in Sachen Atompolitik an der Nase herumgeführt. Aber machen Sie das bitte nicht mit den Menschen in Ahaus! Die wollen wissen, welche konkreten
Aussagen Sie hier zu den Castor-Transporten machen.
({5})
Sie stehen in der Pflicht, der Bevölkerung deutlich zu
erklären, welche unerwünschten Auswirkungen Ihre
übereilte Ausstiegspolitik haben wird. Verschanzen Sie
sich nicht hinter pauschalen Formulierungen, die letztlich nur eine breite Diskussion mit der Bevölkerung verhindern.
Vielen Dank.
({6})
Als
nächster Redner hat Bundesminister Jürgen Trittin das
Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union, Sie versuchen mit Ihrer heutigen Aktuellen Stunde einen lautstarken, aber, wie ich finde, wenig gehaltvollen Angriff auf die Energiepolitik der Bundesregierung.
({0})
So, wie Sie es hier eben vorgeführt haben, gestartet mit
Bezug auf den Club of Rome und gelandet beim heiligen
St. Florian, wird Ihr Angriff scheitern.
({1})
Diese Bundesregierung läßt sich von dem Grundsatz
leiten, daß der Schutz von Leben und Gesundheit der
Menschen oberste Priorität hat. Dies ist der Grund, warum wir eine Energieversorgung, die mit einem bis heute
nicht beherrschbaren Restrisiko belegt ist und bei der es
erheblicher Anstrengungen bedarf, um das Problem der
Lagerung hochgiftiger Abfälle zu lösen, einer schrittweisen, geordneten Beendigung zuführen wollen.
({2})
Eine erhebliche Belastung von Menschen und Umwelt - werter Herr Kollege Hirche - stellt insbesondere
die Wiederaufarbeitung von abgebrannten Brennelementen dar. Sehen Sie sich einmal die Liste der Störfälle
in Sellafield an; sie füllt Bände. Mehrmals entwich aus
dieser Anlage Plutonium, und zwar so viel, daß selbst
die dort Beschäftigten zu Streiks gegriffen haben. Krebs
gilt dort heute als beruflich induziert, ist eine vom Betreiber der Anlage anerkannte Berufskrankheit.
({3})
- Ich war ja eben beim Stichwort „St. Florian“. Jetzt
kann ich nur sagen, Herr Kollege: quod erat demonstrandum.
({4})
Es macht mich besorgt, wenn 1992 in Sellafield 30 Liter
flüssiges Plutonium in die Nordsee ausgelaufen sind.
Das bleibt nicht an den Grenzen Großbritanniens liegen.
Heute haben wir die Situation, daß durch die Politik
der Wiederaufarbeitung, die Sie in Ihrer Regierungszeit
zu verantworten haben, die Mengen an hochgiftigem
Plutonium nicht mehr in Milligramm, nicht mehr in
Gramm, nicht mehr in Kilogramm, sondern nur noch in
Tonnen zu messen sind. Diese Erblast haben wir von Ihnen übernommen: Tonnen des höchst giftigen Plutoniums.
({5})
Deswegen ist die Beendigung der Plutoniumwirtschaft
die einzige ökologisch verantwortbare Konsequenz aus
dieser Entwicklung.
Die Wiederaufarbeitung stellt keine Entsorgung dar,
weil sie nicht zu einer Verringerung des atomaren Mülls
führt, sondern den schon jetzt vorhandenen Müllberg
noch erhöht. Das ist der Grund, weshalb die Koalition
übereingekommen ist, das gesetzliche Verbot der Wiederaufarbeitung zum 1. Januar 2000 in ihren Entwurf der
Atomgesetznovelle aufzunehmen. Damit wird die Menge des einzulagernden radioaktiven Mülls deutlich reduziert. Die vorgesehene Übergangsfrist ermöglicht es, die
Rückabwicklung der Verträge mit den Wiederaufarbeitern in angemessener Zeit zu regeln. Die von uns eingeleitete geordnete Beendigung der Atomenergienutzung,
die nach Abschluß der Konsensgespräche auch gesetzlich festgeschrieben werden wird, wird im übrigen auf
jeden Fall wegen fehlender Verwertungsmöglichkeit des
abgetrennten Plutoniums zwangsläufig zu einem Verbot
der Wiederaufarbeitung führen.
Die direkte Endlagerung aber - um auch das an dieser
Stelle zu sagen - ist nicht etwa teurer, sondern deutlich
billiger als die von Ihnen betriebene Entsorgung über die
Wiederaufarbeitung, übrigens auch und gerade für die
Energiewirtschaft. Das ist der Grund, warum bereits
1994 einige Energieversorger ihre Verträge mit der
BNFL in Sellafield - in diesem Fall sogar unter Inkaufnahme von Vertragsstrafen - gekündigt haben.
({6})
Die Opposition, werter Herr Hirche, ist nicht gut beraten, wenn sie, um den Ausstieg zu diskreditieren, ohne
Rücksicht auf die Interessen der Bundesrepublik
Deutschland für ausländische Unternehmen einseitig
Partei ergreift und hier die Position der Schadenersatzforderung hochhält.
({7})
Hierzu ist festzustellen: Schadenersatzforderungen zu
erheben heißt noch lange nicht, hierfür auch eine rechtliche Grundlage zu haben. Für Schadenersatzleistungen
gibt es im Falle eines gesetzlichen Verbotes keine rechtliche Grundlage. Die Betreiber selbst haben gegenüber
ihren Vertragspartnern in den Wiederaufarbeitungsverträgen für den Fall eines Verbots in Übereinstimmung
mit der deutschen Gesetzeslage dies ausgeschlossen.
Ich will hier gar nicht die Frage thematisieren, ob
nicht vielleicht umgekehrt deutsche Energieversorger
Anspruch auf Schadenersatz haben, weil die von ihnen
vorfinanzierte und zu 100 Prozent finanzierte Anlage
UP3 auch von anderen entsprechend genutzt wird.
Was nun die angebliche außenpolitische Belastung
des Verhältnisses zu den Ländern Frankreich und Großbritannien angeht, kann ich Sie beruhigen. Wir haben
beide Regierungen - wie sich das unter guten Nachbarn
gehört - zeitig und umgehend unterrichtet.
({8})
Frankreich wie das Vereinigte Königreich haben ausdrücklich betont, daß die Frage der Beendigung der
Atomenergie und der Wiederaufarbeitung eine souveräne Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland ist,
die sie respektieren.
({9})
Wir haben einvernehmlich die Einsetzung von bilateralen Arbeitsgruppen beschlossen. Unser Ziel ist es,
Probleme durch wirtschaftliche Schäden bei der Wiederaufarbeitung, etwa bei der Nutzung von sowieso
notwendigen Konditionierungsmaßnahmen, mit ihnen
gemeinsam zu diskutieren und zu lösen.
Wir stehen aber selbstverständlich zu unserer völkerrechtlichen und politischen Verpflichtung, deutschen
Atommüll zurückzunehmen. Wir können unser atomares
Erbe nicht zu Lasten anderer Länder und anderer Gesellschaften beseitigen.
({10})
Ich füge eines hinzu: Durch das Verbot der Wiederaufarbeitung wird die Zahl der durchzuführenden Transporte drastisch reduziert. Derzeit werden pro Jahr zwischen 50 und 60 Transporte durchgeführt. 1997 waren es
75. Hinzu kommen die daraus resultierenden Rücktransporte hochradioaktiven Abfalls in Glaskokillen, die etwa
sieben Transporte pro Jahr ausmachten. Alle diese
Transporte werden zukünftig entfallen. Ebenso entfallen
die absehbaren Rücktransporte, die nach einer Fortsetzung der Wiederaufarbeitung zusätzlich fällig wären.
Der von der Koalition vorgesehene Ausstieg aus der
Atomenergie und der Ausstieg aus der Plutoniumwirtschaft beenden langfristig nicht nur die Produktion
hochgiftigen Mülls, sondern schrittweise auch den von
Ihrer Regierung veranstalteten Atommülltourismus quer
durch Europa.
({11})
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Kubatschka von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Paziorek, ich bin ja froh, daß Sie endlich die CO2-Problematik
erkannt haben. Ich wäre noch froher gewesen, wenn Sie
das bereits vor fünf Jahren in der Enquete-Kommission
„Klimaschutz“ gemacht hätten.
({0})
Da haben Sie nämlich auf Teufel komm raus gemauert,
wenn die SPD Vorschläge zur Lösung der CO2-Problematik gemacht hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalition betreibt den Einstieg in eine andere Energieversorgung.
Dazu ist es notwendig, den Ausstieg aus der Kernenergie einzuleiten. Die Kernenergie ist eine strahlende
Sackgasse. Sie stellt keine zukunftsfähige Lösung für
unsere Energieprobleme dar. Um die zukünftigen Energieprobleme zu lösen, ist als erste Stufe der Ausstieg aus
der Wiederaufbereitung notwendig.
({1})
Ist dieser Ausstieg aus der Wiederaufbereitung sinnvoll? In Deutschland hat er ja bereits stattgefunden.
Selbst die CSU konnte nicht gegen den Willen der Bürgerinnen und Bürger, gegen den Willen der Bevölkerung
in Wackersdorf, die Wiederaufbereitung durchsetzen.
Am Bürgerprotest in Wackersdorf ist die Wiederaufbereitung in Deutschland gescheitert.
Dann, meine Damen und Herren, haben wir das Problem verschoben, und zwar nach La Hague und teilweise nach Sellafield. Es ist schon erstaunlich, daß der Abtransport ins Ausland bei uns kaum Proteste hervorgerufen hat. Man ist ja das Teufelszeug sozusagen losgeworden.
Den Franzosen bescherte die Wiederaufbereitung Arbeitsplätze. Das ist unbestreitbar. Deswegen ist ihr Protest teilweise verständlich. Aber neben Arbeitsplätzen
bescherte die Wiederaufbereitung auch eine verstrahlte
Umgebung. Ich möchte nur daran erinnern, daß im Jahre
1997 eine dreifach erhöhte Leukämierate bei Kindern
und Jugendlichen in der Region um die Wiederaufbereitungsanlage von La Hague nachgewiesen wurde. Die
Franzosen versündigen sich also an der Zukunft ihrer
Kinder. Das wäre für mich eigentlich schon ein ausreiBundesminister Jürgen Trittin
chender Grund, auszusteigen und die Wiederaufbereitung endgültig zu beenden.
({2})
Grund Nummer 2: Die Wiederaufbereitung ist viel teurer als die direkte Endablagerung. Grund Nummer 3:
Das endzulagernde Volumen wird durch die Wiederaufbereitung größer. Grund Nummer 4: Die Endablagerung
wird dadurch erschwert. Grund Nummer 5: Es entsteht
atomwaffenfähiges Plutonium. Grund Nummer 6: Plutonium ist hochgiftig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach dem Scheitern
der Schnellen-Brüter-Technologie hat es überhaupt keinen Sinn mehr, die Wiederaufbereitung weiterzubetreiben. Das Scheitern der Brütertechnologie war übrigens
auch eine große Niederlage für die Kernenergie; vor allem war es eine technologische Niederlage und keine
andere, weil das Problem nicht beherrschbar war.
Angesichts dieser Gründe kann also nur ein klares Ja
als Antwort auf die Frage des Ausstiegs aus der Wiederaufbereitung gegeben werden; das ist sinnvoll. Weil diese Politik sinnvoll ist, fordere ich die Bundesregierung
auf, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit die
deutschen Kernkraftwerksbetreiber ihren radioaktiven
Abfall nicht weiter zur Wiederaufbereitung nach Frankreich oder nach Großbritannien schicken. Wir wissen,
dieses Material zu verschicken ist die schlechteste Lösung. Nein, in Wirklichkeit ist es überhaupt keine Lösung: Irgendwann bekommen wir das strahlende Erbe
zurück. Darum sind wir für den Ausstieg aus der Kernenergie.
({3})
Als
nächster Redner hat unser Kollege Dr. Günter Rexrodt
von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Vorstoß von Herrn Trittin hat
aus meiner Sicht zunächst einmal parteipolitische Hintergründe. Die Grünen haben ja in letzter Zeit nicht viel
zu melden gehabt. Kleine Brötchen sind in der Steuerpolitik, in der Ausländerpolitik, bei Sicherheitsfragen
und außen- und europapolitischen Fragen gebacken
worden. Nun muß ein grünes Thema her, das der Partei
auf den Leib geschrieben ist. Das macht sich Herr Trittin
zunutze, auch ein Stück weit, um zu Herrn Fischer einen
Gegenpart aufzubauen. Er glaubt, das nötig zu haben.
Das ist der eigentliche Hintergrund.
({0})
Nun will ich gar nicht darüber diskutieren, ob der
Atomausstieg richtig oder nicht richtig ist. Da kann man
immer noch sagen, der Wähler hat so entschieden; das
geht in Ordnung: Wir steigen aus. Ich sage aber mit aller
Deutlichkeit: Der Wähler hat sich in diesem Zusammenhang nicht so entschieden,
({1})
daß er erstens deutlich mehr bezahlen muß und daß
zweitens das Theater mit den Transporten weitergeht.
({2})
Das war nämlich der eigentliche Grund dafür, daß eine
bedingte Akzeptanz des Ausstiegsszenarios der Öffentlichkeit vermittelt werden konnte. Drittens hat der Bürger sich nicht dafür entschieden, daß diesem Land ein
enormer, ein immenser europa- und außenpolitischer
Schaden zugefügt wird. Das sind die Fakten, meine Damen und Herren.
({3})
Die Fakten sind weitgehend bekannt. Es gibt völkerrechtlich bindende Verträge aus den Jahren 1978 und
1991. In diesen Verträgen erklären die Regierungen,
„daß sie der Lieferung von bestrahlten Brennelementen
deutscher Stromerzeuger an die Wiederaufarbeitungsanlagen … kein rechtliches oder verwaltungsmäßiges
Hindernis entgegensetzen werden“.
Daneben gibt es noch privatrechtliche Verträge, die in
der Tat vorsehen, daß bei höherer Gewalt keine Entschädigungen fällig sind. In diesem Fall liegt aber keine
höhere Gewalt vor. Es werden vielmehr völkerrechtliche
Vereinbarungen nicht eingehalten. Das ist nicht höhere
Gewalt, von der Herr Trittin immer spricht; das ist sozusagen plumpe Gewalt, die von ihm angewendet wird.
({4})
Diese plumpe Gewalt wird nicht dazu führen, daß die
Franzosen und die Engländer auf ihre Entschädigungsforderungen verzichten werden.
Gemäß einer dpa-Meldung von heute mittag sagte der
französische Premierminister Jospin, es sei wohl nötig,
daß angemessene Entschädigungen gefunden werden,
wenn die Zusammenarbeit, die bis jetzt bestehe, in Frage
gestellt werde. Auch die Frage der Rückführung des
Atommülls in das Ursprungsland stelle sich nun mit
größter Schärfe. - Das sind die Fakten. Die Verbraucher,
die Stromkunden werden also mehr zahlen müssen.
Daneben gibt es einen - ich habe diesen Punkt schon
angesprochen - enormen europapolitischen Flurschaden,
der hier von Herrn Trittin angerichtet wird.
({5})
Herr Bundeskanzler, ist es der Bundesregierung angesichts des Vorhabens, die Nettozahlerposition Deutschlands im Zusammenhang mit der Diskussion über die
Agenda 2000 zu verbessern, eigentlich gleichgültig, wie
ein solches Vorgehen auf unsere französischen, englischen und anderen Partner wirkt? Glaubt man, diesbezüglich etwas erreichen zu können, wenn man auf diese
Art und ohne Not aus den Verträgen aussteigt? Herr
Trittin hat einen Geisterfahrerkurs eingeschlagen. Der
finanzielle Schaden für unser Land ist enorm.
Was die Glaubwürdigkeit und die europapolitische
Überzeugungskraft unseres Landes angeht: So ein Verhalten können wir uns nicht leisten. Ihr Verhalten war
unnötig; man hätte ganz andere Ausstiegsszenarien
wählen können, Herr Trittin. Sie wissen ganz genau, daß
das nicht aufgeht, was Sie und Herr Müller im Hinterkopf haben, nämlich mit den Engländern und den Franzosen klarzukommen, indem man ihnen den Auftrag
gibt, in ihren Anlagen zu konditionieren. Sie besitzen
dazu keine Genehmigung und werden sie auch nicht bekommen. Ihre Rechnung geht nicht auf. Die Entschädigung muß gezahlt werden, und der finanzielle Schaden
wird enorm sein.
Glaubt man denn, daß unsere französischen und englischen Partner uns zur Seite stehen werden, die Agrarfinanzierung auf eine neue Grundlage mit einer nationalen
Kofinanzierung zu stellen, die mehr kostet, wenn wir auf
diese Art und Weise aus unseren völkerrechtlich verbindlichen Verpflichtungen aussteigen? Das wird nicht
passieren. Das gleiche gilt auch für die Reform der
Strukturfonds, für die es ebenfalls deutsche Interessen
gibt.
Ideologen sind am Werk. Es trifft zu, daß hier Politik
mit ideologischem und parteipolitischem Hintergrund
gemacht wird. Da spielt sowohl die parteipolitische
Position Herrn Trittins und der Fundamentalisten als
auch die Ideologie eine Rolle.
({6})
Eine Politik auf dieser Grundlage ist mit Blick auf die
angestrebte Neuordnung der Finanzen im Rahmen der
Agenda 2000 schädlich für unser Land und geht zu Lasten der Stromverbraucher.
Lassen Sie ab von diesen Plänen! Hören Sie auf, unserem Land durch ungeschicktes Taktieren und durch
Verletzung völkerrechtlicher Vereinbarungen Schaden
zuzufügen!
({7})
Diesen Appell richte ich besonders an Sie, Herr Minister
Trittin.
({8})
Als
nächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Hustedt hat gestern
im Wirtschaftsausschuß in dankenswerter Offenheit dargestellt, daß es in diesen Wochen und Monaten nicht um
Konsensgespräche, sondern um Ausstiegsgespräche geht,
das heißt, sie hat unseren Eindruck bestätigt, daß die
EVUs gezwungen werden sollen, sich der politischen
Leitlinie der Mehrheit dieses Hauses anzuschließen.
Herr Kubatschka, ich will aus dem, was Sie hier, zum
Teil vollkommen falsch, angesprochen haben, nur einen
Punkt herausgreifen. Wenn Sie heute den Schnellen
Brüter als einen Irrweg bezeichnen, dann ist das insofern
eine Selbstkritik der SPD, als der Schnelle Brüter der
Baugewordene Traum der SPD von unbegrenztem
Wachstum und unbegrenztem Wohlstand ist. Das ist der
Schnelle Brüter - und nichts anderes.
({0})
Ich will an dieser Stelle ein paar Punkte aufgreifen,
die in den Papieren und den Erklärungen der letzten
Wochen deutlich geworden sind.
Zunächst einmal: Die Mehrheit dieses Bundestages
hat zweifelsohne das Recht, einen Ausstieg aus der
Kernenergie zu beschließen.
({1})
Wer wollte das bestreiten! Aber was wir dieser Mehrheit
vorwerfen, ist, daß sie in einer geradezu arroganten
Weise davon spricht, daß das, was sie jetzt beschließt,
unumkehrbar sei. Demokratie und Unumkehrbarkeit
schließen sich aus. Der Regierungswechsel ist in
Deutschland noch nicht abgeschafft.
({2})
Das zweite ist, daß neben die Arroganz, die Sie deutlich werden lassen, die Konfrontation tritt. Wenn man
nach der Regierungserklärung des Bundeskanzlers noch
glauben durfte, der Ausstieg gehe sozusagen in einem
verträglichen Stil und mit langfristigen Perspektiven vor
sich, dann hat sich anschließend gezeigt, daß die Richtlinienkompetenz allenfalls bis zum 31. Dezember letzten
Jahres gedauert hat. Der jüngste Entwurf zur Änderung
des Atomgesetzes zeigt deutlich, daß die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers das Verbot der Wiederaufarbeitung nicht verhindert und so zu einer Konfrontation besonderer Art geführt hat.
Was Sie betreiben, ist Abbruchpolitik. Es ist keine
ökonomisch, ökologisch und sozial verträgliche Politik,
denn Sie vernichten 100 000 Arbeitsplätze. Während Sie
an anderer Stelle - im Bündnis für Arbeit und wo auch
immer - um jeden Arbeitsplatz kämpfen, vernichten Sie
hier auf einen Schlag 100 000 Arbeitsplätze.
({3})
Im Grunde genommen wird die Frage des Konsenses
und der Konfrontation auch dadurch deutlich, daß Sie
sich diejenigen vornehmen, die bei ihren Investitionen
auf Ihre gesetzlichen Grundlagen und auf Ihr Handeln
angewiesen sind. Gewerkschaften, Verbraucher, Wirtschaft und Umweltverbände - alle diejenigen, die für einen gesellschaftlichen Konsens gebraucht würden bleiben bei dem, was Sie hier tun, außen vor.
Die sensiblen Fragen der Außenpolitik werden eher
mit dem Holzhammer behandelt. Was Sie hier tun, verstößt gegen das Verfassungsrecht, gegen das Europarecht und gegen das Völkerrecht. Die Behauptung, daß
es keine Entschädigungspflicht gebe, ist schlicht und
einfach falsch, Herr Minister Trittin.
({4})
In einem Papier des Bundesjustizministeriums heißt es:
Funktion des Notenwechsels ist es, die vereinbarte
Lieferung gegen staatliche Verbote ... zu sichern.
Aus der Auslegung der beiden Notenwechsel ergibt
sich, daß die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet ist, die Lieferung zuzulassen.
Weiter heißt es im BMJ-Papier:
Zuwiderlaufende Initiativen ({5}) stellen einen Verstoß
gegen völkerrechtliche Verpflichtungen dar.
An einer weiteren Stelle dieses Papiers aus dem Bundesjustizministerium vom Januar 1999 heißt es dann:
Kann die Bundesrepublik Deutschland ... die völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht erfüllen, dann
stellt das einen völkerrechtlichen Verstoß dar, für
den das Völkerrechtssubjekt Bundesrepublik
Deutschland auch haftet.
Das heißt, ein Teil dieser Bundesregierung, das Bundesjustizministerium, stellt im Januar 1999 fest, daß das,
was Sie öffentlich vermitteln, nämlich daß es um eine
schadensersatzfreie Abwicklung der Wiederaufarbeitungsverträge gehe, einer rechtlichen Prüfung überhaupt
nicht standhält.
Das andere ist, daß Sie für sich reklamieren, Sie seien
höhere Gewalt.
({6})
Sie reisen durch Europa und erklären, Sie seien in
Deutschland die höhere Gewalt. Nach dem BGB ist höhere Gewalt zum Beispiel eine Katastrophe.
({7})
Das ist nicht falsch, wenn man das hier zitiert, weder juristisch noch im übertragenen Sinne, aber die höhere
Gewalt hat noch eine weitere Eigenschaft: Sie steht außerhalb der Rechtsordnung. Auch das paßt in diesen Zusammenhang.
({8})
Politiker wie der Bundeskanzler und der Bundesumweltminister - also wie Sie, Herr Trittin - haben als
Niedersachsen von 1990 bis 1994 stillschweigend geduldet, daß die VEBA und die PreussenElektra die Wiederaufarbeitungsverträge genutzt haben, um an Stelle
der Transporte nach Gorleben die Transporte nach La
Hague und Sellafield durchzuführen. Das ist die Realität. Sie wollten keinen Ärger im eigenen Lande und haben ihn nach Frankreich und England transportiert. Das
ist Ihre Vergangenheit!
({9})
Noch schöner wird es, wenn sich der Ministerpräsident von Niedersachsen, Herr Glogowski, jetzt querstellt, der noch als Innenminister von der Gemeinde
Dannenberg und der BLG einen Ausbau der Umladestation für sechs Castor-Behälter gefordert hat.
Meine Damen und Herren, ich stelle schlicht und einfach fest, daß das, was Sie hier tun, so beschrieben werden kann - ich habe Ihnen das schon in der letzten Legislaturperiode gesagt -: Wenn die CDU/CSU bzw. Frau
Merkel entscheidet, es müsse transportiert werden, dann
ist das unsicher und gefährlich. Wenn der Lokführer
wechselt und Jürgen Trittin vorne auf der Lok steht,
dann ist das Signal: Jungs, ich bin es. Es ist nicht mehr
gefährlich. Geht nach Hause und demonstriert nicht
mehr.
Herr
Kollege, bitte kommen Sie zum Schluß.
({0})
Ich komme sofort
zum Ende. - Es ist mit Sicherheit so, daß Sie weder gegenüber den Kernkraftbefürwortern noch gegenüber
denjenigen, die an einer Option festhalten und sie für
ökologisch und ökonomisch sinnvoll halten, Moral und
Ethik für sich gepachtet haben. Man könnte es auch so
charakterisieren:
Herr
Kollege, kommen Sie jetzt bitte wirklich zum Schluß!
Sie lösen die Probleme, indem Sie neue schaffen. Oder, um mit Goethe zu
sprechen: „Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm
an Wahrheit und an Kräften fehlt.“
({0})
Als
nächster Redner hat das Wort Bundesminister Werner
Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Die Kernenergiepolitik der neuen Bundesregierung ist weit weniger ideologisch, als hier dargestellt
wird. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer ehrlichen Bilanz dessen, was Lage und Zukunft des Kernkraftwerksbetriebes und der Entsorgung betrifft.
({0})
Eine ehrliche Bilanz beginnt zunächst einmal damit,
daß in diesem Land seit 20 Jahren kein neues Kernkraftwerk bestellt wurde. In den verschiedenen GespräKurt-Dieter Grill
chen, die ja meist überparteilich waren, hat jeder gehört,
daß dies in den nächsten 20 Jahren aus betriebswirtschaftlichen Gründen auch nicht ansteht. Wenn aber
über einen Zeitraum von 40 Jahren kein neues Kernkraftwerk bestellt wird, dann befindet man sich, nüchtern betrachtet, auf dem Weg eines Ausstieges aus der
Nutzung dieser Technologie, wobei ich zugebe, daß das
Wort „Ausstieg“ politisch benutzt wird. Insofern sollte
man es nicht verwenden. Aber an der Sache ändert das
nichts.
({1})
Wenn das also klar ist, dann kann man sich ernsthaft
fragen: Warum streitet man sich dann eigentlich so über
das Thema Option?
({2})
Der frühere Ministerpräsident von Niedersachsen und
jetzige Bundeskanzler hat seit 1992 immer wieder erlebt, daß überparteiliche Ergebnisse an dieser Frage
scheitern,
({3})
weil einige die Kernenergiefahne hochhalten und sagen:
Ohne die Option geht die Nation unter. Diejenigen, die
die Kernkraftwerke bauen sollen, sagen: Wir wollen
aber nicht bauen.
({4})
Insofern ist das eine völlig fiktive Diskussion - ähnlich
fiktiv wie beispielsweise die Kernenergiepolitik in einem bestimmten Bundesland. Da wird die Fahne besonders hochgehalten. Da fordert man sogar, standortunabhängige Genehmigungsverfahren in das Atomgesetz
aufzunehmen.
({5})
Wenn das dann Gesetz ist, bittet man, daß in Bayern
solche Anträge nicht gestellt werden mögen,
({6})
und streicht hernach die Bauplätze aus der Planung, die
dort für Kernkraftwerke noch vorhanden sind. Auch so
kann man Politik betreiben. Nur, das bewegt nichts in
Richtung Zukunft.
Nun möchte ich folgendes sagen: Warum soll hier ein
Kernkraftwerk nicht mehr gebaut werden? - Nicht aus
ideologischen Gründen. Es ist schon jetzt nicht wirtschaftlich, und es wird in einer Wettbewerbswirtschaft,
wie sie auf dem Strommarkt eingeführt worden ist, aus
verschiedenen Gründen noch auf lange Zeit nicht wirtschaftlich sein.
({7})
Infolgedessen geht diese Bundesregierung ganz einfach
von dem aus, was Lage ist. Lage ist: Die Kernenergie
befindet sich in einem Auslaufprozeß. Nun muß er endlich geordnet werden. Denn es darf nicht so sein, daß
Energiepolitik nur im Diskutieren über Auslaufprozesse
besteht und sonst nichts geschieht. Der Auslaufprozeß
muß geordnet werden, damit parallel dazu die Alternativen aufgebaut werden können, die zukunftsfähig sind.
({8})
Wenn ich sage, die Kernenergiepolitik dieser Bundesregierung ist viel weniger ideologisch als vielmehr das
Ergebnis einer ehrlichen Bilanz, dann gehört zu der ehrlichen Bilanz auch, daß wir, höflich gesagt, beim Thema
Entsorgung allesamt Probleme haben.
({9})
Ich weiß gar nicht, warum das Entsorgungskonzept, das
im Koalitionsvertrag zwischen Rot und Grün vereinbart
wurde, so viele Diskussionen auslöst.
({10})
Warum frage ich mich das? Ich tue das, weil es vor zwei
Jahren überparteilich, einschließlich Branchenvertretern,
schon einmal entworfen worden war.
({11})
- Einen Moment! Es wurde überparteilich auf Beamtenebene und dann auf politischer Ebene diskutiert. Es ist
dabei nicht zu einem überparteilichen Beschluß gekommen, weil man sich wieder über das Thema Option usw.
nicht einig wurde. Das heißt ganz konkret: Das Entsorgungskonzept ist nicht zeitgemäß; es ist das einzige Relikt der Energiepolitik aus der Mitte der 70er Jahre.
({12})
Es fordert beispielsweise zwei Endläger, obwohl vom
Volumen her schon ein „halbes Gorleben“ reicht, um
sowohl hoch- als auch mittelaktiven Müll zu lagern. Es
ist so - ich spreche davon, daß wir Altlasten abarbeiten
müssen -, daß ein wirklich geeigneter Endlagerstandort
nicht vorhanden ist. Zum Abarbeiten der Altlasten gehört, daß diese Regierung macht, was die alte Regierung
16 Jahre lang in ihren Programmen stehen hatte.
({13})
16 Jahre lang haben Sie vor sich hergetragen: Wir müssen alternative Standorte in alternativen Formationen
untersuchen, um ein Endlager zu finden. Geschehen ist
nichts. Es besteht eher der Verdacht, daß Gorleben so
lange geprüft werden sollte, bis es paßt.
({14})
Das ist nicht das, was diese Koalition unter verantwortlicher Endlagersuche versteht.
Beim Thema Transporte müssen Sie selber zugeben,
daß der Müll nach der Wiederaufarbeitung nach
Deutschland zurück muß. Hier ist nicht viel geschehen,
es gibt einen Riesenstau, der abgearbeitet werden muß.
Auch das gehört zur ehrlichen Bilanz. Zur ehrlichen Bilanz gehört ebenso, daß man erkennt, daß der Betrieb
von Kernkraftwerken Transporte verursacht. Ich sehe im
Prinzip keinen Unterschied, ob Sie das nach Ahaus oder
Gorleben oder nach Frankreich transportieren. Sie müssen transportieren, wenn Sie keine Zwischenlager am
Kraftwerk haben. Infolgedessen sieht das Konzept den
Bau von Zwischenlägern am Kraftwerk vor.
({15})
- Lassen Sie das mal!
Weil die Zwischenlager- und Transportfrage miteinander verknüpft sind, hat man schon einmal, vor zwei
Jahren, überparteilich erkannt, daß man die Transporte
minimieren muß und einen Übergangszeitraum braucht.
Ich fasse deswegen ganz einfach zusammen: Alles, was
die Kernenergiepolitik dieser Regierung kennzeichnet,
ist nichts anderes als das Abarbeiten von Altlasten und
das Erkennen der realen Lage.
({16})
Unter diesem Aspekt bitte ich um Verständnis, daß
man niemandem einen Gefallen tut, wenn man die Fragen teilweise so überspitzt diskutiert, wie das hier geschieht. Ich will keinen Kommentar zu der einen oder
anderen Äußerung abgeben.
({17})
In der Hitze des Gefechts passiert immer wieder einmal
die eine oder andere unbedachte Äußerung. Aber die
Ernsthaftigkeit dieses Themas erfordert einen überparteilichen Konsens.
({18})
Der heißt heute ganz einfach: Akzeptieren Sie die Altlasten, die Sie hinterlassen haben! Akzeptieren Sie die Lösungsvorschläge dieser Regierung!
({19})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Grill,
Herr Rexrodt, Ihre Befürchtungen um die deutschfranzösische Freundschaft in allen Ehren, aber ich glaube nicht, daß sie gefährdet ist. Im Gegenteil, wir haben
eine Arbeitsgruppe gegründet,
({0})
in der wir einen Kompromiß finden werden. Zwischen
Freunden muß es auch in dieser Frage eine Verständigung geben können.
Die schrillen Töne in diesem Zusammenhang kommen nicht von der französischen Regierung - sie hat
sich hier nicht geäußert -, sondern von der Opposition.
({1})
Sie mißbrauchen dabei die deutsch-französische Freundschaft für Ihre eigenen politischen Geschäfte.
({2})
Das ist, so finde ich, unverantwortlich.
({3})
Ihnen geht es nicht um ein gutes Verhältnis zu Frankreich; Sie funktionalisieren dieses Verhältnis.
Ich möchte an den Beitrag von Herrn Müller anknüpfen und das, was er zum Entsorgungskonzept gesagt hat,
zuspitzen: Ihr Entsorgungskonzept war ein einziges Lügengebäude.
Lüge Nummer eins: Gorleben als Endlager. - Die
Spatzen pfeifen es von den Dächern: Gorleben ist nicht
geeignet. Sie haben das nur weiter erforschen lassen, um
den Anschein zu erwecken, Sie seien auf dem Weg zu
einem Endlager.
Lüge Nummer zwei: die Zwischenlager Gorleben und
Ahaus. - Länder wie Baden-Württemberg und Bayern
haben da ihre Probleme nach NRW und Niedersachsen
verschoben,
({4})
haben diese Länder als Atomklo benutzt, um ihrer eigenen Bevölkerung die Konsequenzen des Betriebs von
Atomkraft nicht zuzumuten.
Lüge Nummer drei: die Wiederaufbereitung. - Die
Wiederaufbereitung ist hundertmal teurer als die direkte
Zwischenlagerung. Warum wurde sie trotzdem gemacht? Weil sie als Warteschleife benutzt wurde, um einen Entsorgungsnachweis zu bekommen. 550 Tonnen
sind bezahlt, nur 60 Tonnen sind wiederaufbereitet. Im
Grunde handelt es sich dabei um eine illegale Zwischenlagerung deutschen Atommülls in Frankreich und
Großbritannien - mit Duldung der damaligen Bundesregierung.
({5})
Ihr Entsorgungskonzept war ein einziges Lügengebäude. Es gibt in der jetzigen Situation keinen Entsorgungsnachweis. Das kommt jetzt eindeutig ans Licht.
({6})
Sie haben diesen Tatbestand verschleiert, um an der
Atomkraft festzuhalten. Wir stehen vor dem Scherbenhaufen Ihrer Politik und sind nun für riesige Mengen
hochradioaktiven Mülls verantwortlich. Wir werden uns
dieses Problems verantwortungsbewußt annehmen, auch
wenn wir - dies ist für uns Grüne völlig klar - das Problem nicht verursacht haben.
Wenn wir in Gesprächen mit den Energieversorgungsunternehmen ein Entsorgungskonzept entwickeln,
dann unter der Voraussetzung, daß die Menge des
Atommülls nicht weiter unbegrenzt anwächst, sondern
im Zuge der Festlegung von Restlaufzeiten für jedes
AKW begrenzt wird. Erst dann wird es einen Konsens
über ein vernünftiges Entsorgungskonzept geben - wenn
für jedes Atomkraftwerk eine spezifische Restlaufzeit
vereinbart ist.
Als letztes möchte ich noch etwas zu dem von Herrn
Paziorek angesprochenen Aspekt des Klimaschutzes sagen. Angesichts Ihrer Klimaschutzpolitik und angesichts
der Tatsache, daß Sie diesbezüglich in den letzten vier
Jahren nichts, aber auch gar nichts unternommen haben,
halte ich Ihre Besorgnis in diesem Punkt für freche Heuchelei.
({7})
Ich möchte noch hinzufügen: Die Energiekonsensgespräche sind nie an der Frage einer zukunftsfähigen
Energiepolitik gescheitert. Ich glaube, daß es in dieser
Gesellschaft - auch bei der Opposition - einen relativ
breiten Konsens darüber gibt, daß die drei großen Säulen
die eigentliche Herausforderung darstellen: die Energieeinsparungen voranzubringen, die regenerativen Energien dynamisch zu entwickeln und eine Effizienzrevolution einzuleiten, auf hocheffiziente Kraftwerke zu setzen.
({8})
Diese drei Säulen sind in unserer Gesellschaft nicht umstritten. Wenn wir die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft, die das Betreiben von Atomkraft verursacht,
überwinden, indem wir die Nutzung von Atomenergie
beenden, dann wird sich diese Gesellschaft, vereint im
Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen, diesen großen Herausforderungen wesentlich besser stellen können
als bisher, als jedes Gespräch an der Frage der Atomenergie scheiterte.
Von daher befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie beim Bündnis für Arbeit, wo Sie dem DGB die
kalte Schulter gezeigt und damit die Gesellschaft polarisiert haben. Mit den Energiekonsensgesprächen unternehmen wir einen neuen Versuch, das Problem zu lösen.
Seit 20 Jahren hat Atomkraft diese Gesellschaft gespalten, weil Sie immer noch einen draufgelegt haben und
nicht in der Lage waren, einen Konsens zu finden. Wir
machen jetzt den Versuch, dieses Problem zu lösen, einen Kompromiß zu finden und dann für eine zukunftsfähige Energieversorgung alle Kräfte in dieser Gesellschaft zu mobilisieren. Ich bin sehr zuversichtlich, daß
uns dann auch die Erreichung des Klimaschutzziels vergönnt sein könnte.
({9})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Frau Angela Marquardt von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die PDS-Fraktion unterstützt die
Beendigung der atomaren Wiederaufarbeitung auf gesetzlicher Grundlage als einen ersten notwendigen
Schritt zum auch von uns gewollten Ausstieg aus Kernkraft und Atomwirtschaft. Uns war klar, daß sich dieser
Ausstieg nicht geräuschlos und ohne massiven Widerstand der Atomlobby vollziehen läßt. Allein durch gute
Worte werden diejenigen, die jahrzehntelang Atomenergie gefördert und massiv von ihr profitiert haben, nicht
zur Einsicht gelangen. Was wir brauchen, sind konsequente politische Vorgaben.
Das Ziel des Ausstiegs aus der Atomkraft lohnt auch
eine Auseinandersetzung mit den Regierungen Frankreichs und Großbritanniens. Umweltgruppen und große
Teile der Bevölkerung dieser Länder sind durchaus
dankbar für den Anschub, den die Diskussion über die
Kernenergie auch in ihren Ländern erfährt.
Wenn Sie, CDU/CSU und F.D.P., die Auseinandersetzungen mit den Regierungen Frankreichs und Großbritanniens zu einer Katastrophe für die beiderseitigen
Beziehungen aufbauschen, dann doch nur deshalb, weil
Sie den Ausstieg aus der Atomkraft generell verhindern
wollen. Aber leider fallen Ihnen keine anderen Argumente ein als die seit 20 Jahren verbreiteten Horrorszenarien über die Folgen dieses Ausstieges.
Die Entschädigungsforderungen der französischen
oder britischen Wiederaufarbeitungsfirmen sind nicht
aufrechtzuerhalten, wenn auf gesetzlicher Grundlage eine Änderung der Entsorgungspolitik durchgesetzt wird.
Ich füge aber grundsätzlich hinzu, daß Kosten, die möglicherweise auf die Atomkraftwerksbetreiber zukommen, durchaus von diesen getragen werden müssen.
Über Jahrzehnte das Geschäft zu machen, die Kosten
aber abwälzen zu lassen, das ist einfach nicht hinnehmbar.
({0})
- Ich bin Sozialistin!
({1})
Für die Änderung der Entsorgungspolitik spricht eindeutig, daß die atomare Wiederaufarbeitung nicht
schadlos erfolgt, so wie es selbst das Atomgesetz verlangt. Auch wenn Sie es immer wieder bestreiten - Herr
Kubatschka von der SPD hat es schon gesagt -: Französische Studien gehen von einem engen Zusammenhang
zwischen Leukämieerkrankungen in der Bretagne und
dem Verzehr von Meeresfrüchten oder dem Aufenthalt
am Strand aus. In zahlreichen Messungen wurden die
Belastungen des Bodens und der Sedimente mit radioaktiven Stoffen nachgewiesen.
Auch die von der Bremer Universität gemessene radioaktive Kontamination von Tauben aus Sellafield belegt, daß es durch die britische Anlage zu einer andauernden radioaktiven Verseuchung der Umwelt kommt.
Das zeigt ganz klar: Die Wiederaufarbeitung muß sofort
beendet werden.
Wie der endgültige Kompromiß mit Frankreich und
Großbritannien auch aussieht: Die Bundesrepublik muß
den Atommüll zurücknehmen. In jedem Fall tun Sie,
Herr Trittin, gut daran, vor Beginn der CastorTransporte das Gespräch mit der Bevölkerung an den
vorgesehenen Standorten zu suchen. - Um diese Aufgabe beneide ich Sie wirklich nicht. - Es sind noch wichtige Fragen zur Sicherheit der Transporte und der Lagerung zu beantworten. So bestehen Zweifel an der Dichtheit der Deckel bei den eingesetzten Lagerbehältern
ebenso wie bezüglich der ausreichenden Abschirmung
von Neutronenstrahlungen bei den Castor-Behältern.
Die im vergangenen Jahr bekanntgewordenen Oberflächenkontaminationen an Transportbehältern müssen geklärt und für die Zukunft ausgeschlossen werden. Wird
eine größere Menge Behälter gelagert, ist die zu erwartende Strahlenbelastung der Umwelt zu prüfen.
Nach wie vor vermissen wir eine Klarstellung der
Bundesregierung, daß sie es mit einem zeitnahen Ausstieg ernst meint. Rückführung und Zwischenlagerung
von Brennelementen und Glaskokillen dürfen auf gar
keinen Fall dem Weiterbetrieb der Anlage dienen. Wir
fordern die Bundesregierung auf, zur Aufgabe der Endlagerprojekte in Gorleben, im Schacht Konrad und zur
Sanierung des Endlagers Morsleben klar Stellung zu beziehen.
An diesen Festlegungen werden Sie, liebe Bundesregierung, nicht vorbeikommen, wenn Sie mit Ihrem Bemühen um den Ausstieg ernst genommen werden wollen. Ich denke, es ist an der Zeit, wirklich auszusteigen.
Danke.
({2})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Ganseforth
von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Herren und Damen! Es wird ernst mit dem Ausstieg aus
der Atomenergienutzung; er wird umgesetzt. Man merkt
das an den Begleiterscheinungen, die sich auch heute in
dieser Aktuellen Stunde wieder zeigen.
Wir wollen die Energiepolitik umstrukturieren, und
zwar nicht nur in Richtung - das haben Sie, Herr Paziorek, eben angesprochen - erneuerbare Energien - auch
das ist dringend erforderlich -, sondern auch in Richtung
rationelle Energieanwendung.
({0})
Die Energieeinsparpotentiale, die es gibt - wir haben sie
in der Enquete-Kommission nach dem heutigen Stand
des Wissens mit 40 Prozent angegeben -, müssen endlich auch in den Markt eingeführt werden.
({1})
Beides gehört zusammen: der Ausstieg aus der Atomenergie und der Einstieg in erneuerbare Energien und in
die rationellere Energieanwendung. Das haben wir vor,
und das gehen wir jetzt ernsthaft an.
({2})
Das widerspricht nicht dem Ziel des Klimaschutzes,
im Gegenteil: Es ermöglicht Klimaschutz sogar erst,
weil dazu dezentrale Energiestrukturen notwendig sind.
Klimaschutz - das muß man auch noch einmal sagen ist nicht nur ein Thema, das sich bis zum Jahre 2005
stellt; vielmehr geht es weit darüber hinaus. In der Enquete-Kommission haben wir Ziele bis zum Jahre 2050
vorgegeben. Es handelt sich also um einen langen Prozeß; ihn beginnen wir jetzt. Wir haben dafür eine Mehrheit in der Bevölkerung bekommen.
Herr Grill, Sie haben hier in der letzten Legislaturperiode immer gesagt: Die Akzeptanz der Atomenergie in
der Bevölkerung sei da.
({3})
Deswegen hätten Sie in Ihrem Wahlkreis in LüchowDannenberg eine so große Mehrheit bekommen. Richtig
ist: Sie haben in diesem Wahlkreis derart hoch verloren,
daß ich Ihnen in bezug auf dieses Argument - Sie haben
es jetzt auch nicht wiederholt - sagen muß: Die Bevölkerung hat uns die Mehrheit für eine andere Energiepolitik gegeben.
({4})
Das zeigt sich auch daran, von wem jetzt hier die Regierung gestellt wird. Wir sind da im Wort - nicht nur den
Wählerinnen und Wählern, sondern auch den Verbänden
und Organisationen gegenüber.
({5})
Ich möchte dazu einen kurzen Auszug aus dem Beschluß der 9. Synode der Evangelischen Kirche in
Deutschland vom 6. November 1998 vorlesen. Dieser
Beschluß bezieht sich auf einen weiteren Beschluß, der
nach Tschernobyl gefaßt worden ist. Es heißt da: Der
Tschernobyl-Beschluß
gewinnt gegenwärtig dadurch eine besondere Aktualität, daß sich die jetzige Bundesregierung in ihren Koalitionsvereinbarungen darauf festgelegt hat,
verbindliche politische Absprachen im Konsens mit
den anderen Parteien und der Energiewirtschaft zu
treffen, um aus der Kernenergienutzung auszusteigen und diesen Ausstieg gesetzlich zu regeln. Die
Synode begrüßt diese Bemühungen der Bundesregierung.
Weiter heißt es:
Die Synode sieht in der sich abzeichnenden Entwicklung einen Beitrag zum inneren Frieden.
Zum Schluß steht dort:
Damit wird der biblische Auftrag, die Schöpfung zu
bewahren, konkret.
Das sage ich ausdrücklich an die Adresse der anderen
Seite, die sich nicht zu schade ist, zu versuchen, mit der
nationalen und internationalen Atomenergie-Connection
uns Hindernisse in den Weg zu legen. Auch diese Aktuelle Stunde gehört zu diesem Versuch. Was soll denn Ihr
Versuch, hier angebliche Äußerungen des Umweltministers Trittin anzuführen, um einen behaupteten außenpolitischen Schaden zu belegen? Keiner hat bis jetzt gesagt, welche Äußerungen das gewesen sein sollen.
({6})
Ich habe Herrn Trittin gestern nach der Ausschußsitzung
gefragt, und er hat gesagt, er wisse auch nicht, was Sie
da meinen. Keiner Ihrer Redner hat hier gesagt, welche
Äußerungen das sein sollen. Das ist für Sie nur ein
populistischer Aufhänger, mit dem Sie verunsichern und
gegen die Energiepolitik der Regierung polemisieren.
({7})
Der Hintergrund der heutigen Debatte ist ja sehr viel
ernster - das ist schon angesprochen worden -: Das sind
die ungelösten Probleme, die Altlasten, die Sie uns hinterlassen haben. Wir wollen wieder zurück zu einem
Primat der Politik; wir wollen, daß die Politik wieder
Handlungsmöglichkeiten bekommt und nicht verlängerter Arm der Industrie oder bestimmter Interessen ist.
Herr Grill hat vorhin noch kritisiert, daß wir in die Konsensgespräche mit Vorgaben und mit der Absicht hineingehen, das, was wir festgelegt haben, auch durchzusetzen.
({8})
Wir erwarten, daß die Akteure der Energiewirtschaft die
Konsensgespräche offen angehen und den Primat der
Politik wieder anerkennen. Das ist die Bedingung für
Mitwirkung und für Gespräche. Meine Fraktion unterstützt diesen Weg.
Daß die rechte Seite des Hauses nur Öl ins Feuer
gießt und den Weg nicht konstruktiv mitgehen will, ist
sehr bedauerlich. Es wäre schön, wenn wir die Spaltung
unserer Gesellschaft bei diesem Thema, die in den vergangenen Jahren auch mit einer Blockade verbunden
war, endlich aufheben könnten. Wir werden unbeirrt an
dem festhalten, wofür wir eine Mehrheit und die Unterstützung der Bevölkerung bekommen haben. Wir werden auch für die Akzeptanz der damit verbundenen
Konsequenzen werben; denn es ist ein Unterschied, ob
man die Transporte durchführt, ohne zu wissen, wie sich
die Mengen entwickeln, oder ob man die Transporte
durchführt und der Bevölkerung sagen kann: Das Ende
ist abzusehen. - Das ist unser Weg. Dafür haben wir eine Mehrheit bekommen. Das werden wir in aller Sachlichkeit und mit aller Konsequenz durchsetzen.
Schönen Dank.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor wenigen
Wochen hat sich der Bundeskanzler im Babelsberger
Filmstudio medienwirksam mit dem französischen Präsidenten präsentiert. Gemeinsam haben sie erklärt: An
der Schwelle zum 21. Jahrhundert sind wir entschlossen,
die deutsch-französischen Beziehungen zu vertiefen und
ihnen neuen Schwung zu verleihen.
({0})
Von einer neuen Beseelung des Verhältnisses zu Paris
war die Rede.
({1})
Auf der Bühne der realen Politik aber brüskiert der
Bundeskanzler die Franzosen und verkündet den
Atomausstieg, noch ehe die Bundesregierung mit den
Betroffenen geredet hat. Über die französischen Reaktionen auf diesen Affront brauchen wir uns nicht zu
wundern. Jetzt kommt es, Frau Ganseforth: Deutschland
vernichtet Tausende französische Arbeitsplätze - so der
Titel der linksgerichteten französischen Tageszeitung
„Libération“ am letzten Freitag.
({2})
- Trittin kommt noch.
Der französische Wirtschafts- und Finanzminister
Strauss-Kahn hat die Bundesregierung in einem Brief an
das EU-Recht und an ihre Vertragsverpflichtungen erinnert. Als Antwort mußte er sich in einem Zeitungsinterview von Trittin belehren lassen, sein Brief sei unnötig
und auf den eigenen Vorteil bedacht. - Herr Trittin, die
Arbeiter, die gestern in La Hague verzweifelt protestiert
haben, suchen keinen Vorteil; sie haben Angst um ihre
Arbeitsplätze und die Existenz ihrer Familien.
({3})
Das Schlimme ist: Diese Angst ist eine Angst vor einem
unberechenbaren Deutschland, das Verträge bricht.
({4})
Wer so mit unseren Freunden und Partnern umspringt,
liebe Kolleginnen und Kollegen, der verspielt das Vertrauen, das wir in Europa und in der Welt erarbeitet haben.
Daß daraus Schadensersatzansprüche resultieren,
räumt die Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf inzwischen selbst ein. Nur Herr Schröder sagt vor dem
SPD-Präsidium selbstherrlich: Ich habe nicht vor, über
Schadensersatzforderungen nachzudenken. Bei den Genossen mag diese Arroganz ankommen; im Ausland
vergrößert sie den Schaden noch.
({5})
Herr Minister Trittin, über Ihre höhere Gewalt - das
wurde schon dargelegt - lacht die ganze Welt. Aber Sie
machen sich nicht nur zum Gespött; sondern unsere
Nachbarn haben in dieser Bundesregierung keinen verläßlichen Partner mehr. Trotzig verkünden Sie vor der
Presse, Sie hätten bei Ihren französischen Gesprächspartnern keine Verärgerung verspürt. Wie sollten Sie
auch, Herr Trittin? Strauss-Kahn hat den Termin mit Ihnen doch kurzfristig abgesagt. Sie sind gar kein Gesprächspartner mehr für den zuständigen französischen
Ressortminister.
({6})
Nun könnten wir als Opposition sagen: Jeder blamiert
sich, so gut er kann. Aber nach dem, was Sie, Herr Trittin, in dem Interview gegenüber der „Libération“ dazu
gesagt haben, ist die Sache zu ernst. Frau Ganseforth,
passen Sie gut auf! Auf die Frage, ob Sie wirklich eine
schnelle Rückführung aller deutschen Brennstäbe wollten, auch der nicht aufgearbeiteten, haben Sie, Herr
Trittin, geantwortet, Frankreich werde nun in der Eile
wohl kaum waffenfähiges Plutonium nach Deutschland
abschieben. Wenn Sie gegenüber einer französischen
Zeitung die Trennung zwischen ziviler und militärischer
Nuklearnutzung in Deutschland aufheben, wenn Sie andeuten, Frankreich habe ein Eigeninteresse, waffenfähiges Plutonium nicht zurückzuschicken, dann unterstellen
Sie, Frankreich verstoße gegen seine eigenen Atomgesetze. Außerdem zeichnen Sie im Ausland wieder einmal das Zerrbild des gefährlichen Deutschen.
({7})
Die Antiatomideologie des Herrn Trittin hat mit der
Realität in Deutschland nichts, aber auch gar nichts zu
tun. Der Bundeskanzler muß schleunigst vorhaben,
nachzudenken, wenn ein Mitglied seiner Regierung einen so unglaublichen Popanz aufbaut.
Gestern hat der Umweltminister in London noch
mehr Porzellan zerschlagen. Die Briten sind noch aufgebrachter als die Franzosen, weil er sich über völkerrechtlich verbindliche Verträge hinwegsetzt. Sie drohen
mit Ausgleichszahlungen und dem Gang vor Gericht,
weil sie nicht mehr glauben, daß sich die deutsche Bundesregierung an Recht und Gesetz hält. Innerhalb weniger Wochen hat diese Regierung das internationale Vertrauen in Deutschlands Verläßlichkeit und Berechenbarkeit verspielt.
({8})
Der Vorstoß zur Nukleardoktrin der NATO isoliert
uns im transatlantischen Bündnis. Der Versuch, in die
Kompetenzen der Europäischen Zentralbank einzugreifen, gefährdet die Stabilität des Euro. Die Bundesregierung setzt sich über internationales Recht hinweg und
greift einseitig in regionale Wirtschaftsstrukturen unserer Nachbarn ein. Ein Minister macht sich im Ausland
nicht nur zum Hampelmann, sondern weckt dumpfe
Ängste vor den Deutschen. Diese Bundesregierung
schadet dem Ansehen und den Interessen unseres Landes.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Winfried Hermann vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
diese Art Debatte zum Atomausstieg mit einer gewissen
Distanz beobachtet und sich anhört, was hier gesprochen
wird, dann kann man schon meinen, man sei im Theater,
und zwar im absurden. Ausgerechnet diejenigen, die
über Jahre hinweg dieser Technologie das Wort geredet
haben, die jede kritische Einwendung, jedes Bedenken
gegen den Müll weggefegt haben, treten jetzt als die
großen Bedenkenträger auf. Ausgerechnet diejenigen,
die nahezu jeden Castor-Transport schier gefeiert haben,
tun jetzt so, als wäre es wirklich etwas besonders
Schlimmes, wenn man sich heute Gedanken macht, wie
man zu einem Entsorgungskonzept kommt und wie man
die Transporte nach Deutschland zurückbringt.
({0})
Betrachten wir die andere Seite - ich will das ganz
offen und selbstkritisch tun -: Es ist schon merkwürdig,
daß ausgerechnet wir, also diejenigen, die seit vielen
Jahren, manche sogar seit Jahrzehnten, gegen die
Atomtechnologie gestritten haben, sich gegen die Transporte gewehrt haben, den Dreck wegräumen müssen,
den wir Ihrer Politik zu verdanken haben. Das ist schon
bitter.
({1})
Das ist zweifellos die bittere Kehrseite des Ausstiegs.
Aber, meine Damen und Herren, wir nehmen diesen
Preis in Kauf, weil es der Ausstieg ist. Unsere Wählerschaften und die Gegner der Atomenergie sind natürlich
bereit, diese Belastungen, die zweifellos kommen, zu
tragen, wenn sie sehen und anerkennen, daß es ein Teil
eines Ausstiegskonzepts ist. Ich sage Ihnen klipp und
klar - das vielleicht auch an die Adresse derjenigen in
der SPD gerichtet, die darüber nachdenken -: Je länger
der Ausstieg dauert, desto problematischer wird es mit
dem Verstehen. Da haben wir eine besondere Verantwortung. Es ist völlig klar: Wer den Ausstieg über Jahrzehnte hin ausgleiten läßt, der wird nicht glaubwürdig
sein und auch kein Verständnis finden. Laßt uns also
schauen, daß wir es möglichst rasch schaffen!
({2})
Zwei Argumente werden in der Ausstiegsdebatte
auch heute immer wieder angeführt. Das ist zum einen
das Thema Arbeitsplätze, zum anderen das Thema Klimaschutz. Dazu einige Argumente und einige Fakten.
Wer nur die Atomenergie abschaltet und statt dessen
Kohle benutzt, wird in der Tat einen erheblichen Klimaschaden anrichten. Aber das, meine Damen und Herren,
ist die einfache Logik Ihrer Oppositionspolitik. Kein
Mensch bei den Grünen und auch irgendwo anders will
den Ausstieg zugunsten der Kohle haben. Wir wollen
eine ganz andere Energieversorgung, einen neuen Energiemix und eben nicht einen höheren Verbrauch von
Kohle. Dieser neue Energiemix wird zuallererst auf
Energiesparen setzen, dann auf regenerative Energien.
Wir haben ein großes Programm mit mehreren 100 Millionen DM dazu aufgelegt bzw. in Vorbereitung. Wir
haben mit dem 100 000-Dächer-Programm für Photovoltaik das weltweit bisher größte Programm in diesem
Bereich gestartet. Dies sind Punkte, denen Sie über Jahre auch nicht annähernd Bedeutung geschenkt haben.
({3})
Insofern ist es heute ziemlich unglaubwürdig, wenn Sie
als der Oberhüter des Klimas auftreten.
Ein anderer Punkt. Sie sagen - das sagen Sie gern -,
Atomenergie sei CO2-frei. Das ist aber zu einfach betrachtet. Denn wenn man die gesamte Prozeßkette der
Atomtechnologie vom Uranabbau, von den Transporten,
der Aufbereitung, der Wiederaufarbeitung, dem Abtransport und der Endlagerung betrachtet, dann ergibt
sich, daß die Kernenergie sehr wohl CO2-belastet ist.
Wenn Sie heute - darüber gibt es seriöse Studien Atomtechnologie mit Kraft-Wärme-Kopplung oder mit
Biogasanlagen vergleichen, dann schneidet die Biogasanlage im CO2-Vergleich besser ab als das Atomkraftwerk.
Leider muß ich jetzt das Argument der Arbeitsplätze
auslassen, weil ich an dieser Stelle darauf hingewiesen
werde, daß meine Redezeit zu Ende ist.
Ich will Ihnen am Schluß aber folgendes deutlich machen: Wenn Sie heute beim Thema „Ausstieg und
Transport“ nur jammern und maulen, dann werden Sie
in der Gesellschaft keinen Fuß auf den Boden bekommen. Ich möchte Sie ernst nehmen, wenn Sie sagen: Der
Klimaschutz liegt uns am Herzen. Wir warten auf Ihre
Anträge zum Klimaschutz; wir warten auf Anträge zu
regenerativen Energien und zum Energiesparen. Machen
Sie mit bei einer neuen Energiepolitik, die vor allen
Dingen den Klimaschutz im Auge hat! Vergessen Sie
Ihre Atomtechnologie, denn die ist von gestern und gefährlich!
({4})
Herr
Kollege Hermann, im Namen des Hauses gratuliere ich
Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Als nächster Redner hat Dr. Christian Ruck von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte
gleich auf Ihre Jungfernrede eingehen, Herr Hermann.
Wir sind ausdrücklich für einen vernünftigen Gedankenaustausch, auch über Konzepte der Energieversorgung
der Zukunft. Nur kann ich mich diesmal des Eindrucks
nicht erwehren, daß Sie überhaupt kein Konzept haben.
Sie haben eher zu viele Konzepte. Die Fragen zum Beispiel, die der Wirtschaftsminister Müller an uns gerichtet hat, muß er erst einmal mit Herrn Trittin klären; denn
die Meinungen gehen weit auseinander.
({0})
Lassen Sie mich, Frau Kollegin Hustedt, etwas zum
Thema Wahrheit sagen. Sie haben anderen vorgeworfen,
daß sie lügen. Das, was Sie hier vorgetragen haben, hat
meiner Ansicht nach aber auch nicht viel mit der Wahrheit zu tun. Ich erinnere nur daran, daß es Ministerpräsident Rau war, der nach Ahaus eingeladen hat, und niemand anderer. Er gehört ja schließlich nicht zur
CDU/CSU.
({1})
- Das stimmt.
Meine Damen und Herren, ich halte es für eine traurige, aber auch gerechte Ironie des Schicksals, daß denjenigen, die innerhalb und außerhalb dieses Parlaments
mit unsachlichen und unwahren Argumenten gegen die
Castor-Transporte Angst und Widerstand schürten, nun
die eigene Stimmungsmache von damals auf die Füße
fällt. Auch wenn Sie, Herr Trittin, heute auf einem anderen Gleis stehen: Die Geister, die Sie gerufen haben,
sind geblieben und bedrohen und verängstigen die Menschen vor Ort nach wie vor.
({2})
Mit Ihren Äußerungen und Plänen zum Verbot der Wiederaufbereitung haben Sie einen Affenzirkus entfesselt,
der erstens viel Geld kosten wird, der zweitens in der
Sache völlig ungerechtfertigt ist und drittens Deutschland außenpolitischen Schaden zufügt.
({3})
Die Technologie der Wiederaufbereitung ist anerkannt, ausgereift und gefahrlos.
({4})
Überstürzte Rücktransporte aus dem Ausland stellen
Deutschland vor ungelöste organisatorische Probleme.
Es gibt nicht genügend Transportbehälter und auch keine geeigneten Zwischenlager an den Kernkraftwerken.
Sie, Herr Trittin, lösen eine neue Welle bürokratischer
Genehmigungsverfahren mit ungewissem Ausgang aus.
Diese Wirrnis Ihrer Politik registrieren natürlich auch
unsere betroffenen Nachbarn.
Daß Ihnen aus England offiziell Wortbruch vorgeworfen werden kann, ist schlimm genug. Aber noch ernster ist die Situation in Frankreich. Französische Freunde aus der Politik haben mir gestern noch einmal die Befindlichkeiten unserer Nachbarn geschildert. Die
deutsch-französischen Beziehungen sind in den letzten
Monaten ohnehin sehr angespannt gewesen. Alles Bilaterale liegt quasi auf Eis, zum Beispiel in der Agrarpolitik, in der Sicherheitspolitik und in der Verteidigungspolitik. Ihre gegen deutsch-französische Verträge gerichtete energiepolitische Geisterfahrt ist nun ein spektakulärer Tiefpunkt. Auch die Franzosen sehen natürlich, daß es nicht um vernünftige Gründe geht, sondern
um reine Ideologie. Nichts beunruhigt unsere Freunde
um uns herum mehr als deutsche Ideologien, verbunden
mit bilateralem Vertragsbruch.
({5})
Natürlich wissen wir und zunehmend auch das Ausland, daß dies erst der Anfang eines absurden Wahnsinns ist. Der ausstiegsorientierte Vollzug rotgrüner
Länder hat den deutschen Steuerzahler schon bis jetzt
35 Milliarden DM gekostet. Dazu sollen noch andere
ausstiegsorientierte Eckpfeiler kommen, zum Beispiel
die Beweislastumkehr zuungunsten der Betreiber oder
die Verzehnfachung der Deckungsvorsorge.
({6})
Für Ihre verstaubte Ideologie, Herr Trittin, beerdigen
Sie und Ihre rotgrünen Gesinnungsgenossen das Klimaschutzziel, setzen Sie weitere dreistellige Milliardenbeträge in den Sand und zeigen so dem Ausland, wie man
mit großer Effizienz Umwelt und Wirtschaft gleichermaßen ruiniert.
Herr Müller, Sie haben Bayern angesprochen. Lassen
Sie mich dazu zum Schluß sagen: In Bayern haben wir
eine boomende Wirtschaft und trotzdem einen um ein
Drittel geringeren Kohlendioxid-Ausstoß pro Kopf als
im Bundesdurchschnitt. Die Kombination von erfolgreicher Klima- und Wirtschaftspolitik werden wir verteidigen. Wir machen uns auch nicht zum Handlanger von
Rechtsbrüchen und sind notfalls auch in Bayern bereit,
in der Energiepolitik die letzten Preußen zu sein.
({7})
Das
Wort hat nun der Kollege Michael Müller von der SPDFraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Regierungsparteien haben ein dreistufiges Verfahren für die Neuordnung der
Energieversorgung beschlossen. Der erste Schritt dazu
ist die Atomrechtsnovelle. Wir von der SPD unterstüzen
die Ziele, die dort enthalten sind. Das ist ein erster
wichtiger Schritt, um die Blockade zu überwinden und
die Energiepolitik neu zu ordnen.
Aber es ist eben nur ein Schritt neben zwei weiteren.
Es kommt jetzt darauf an, die Gespräche dazu zügig zu
führen. Wir wollen bei diesen Gesprächen nicht nur über
den Ausstieg sprechen, sondern vor allem über eine zukunftsfähige Energieversorgung. Wir wollen die Chance, Klimaschutz mit der Neuordnung der Energiepolitik
zu verbinden, wahrnehmen. Wenn diese Gespräche und
das Angebot, gemeinsam die Energiezukunft zu gestalten, scheitern, dann müssen wir den dritten Schritt machen. Das heißt: Wir werden dann die gesetzlichen Instrumente einsetzen, um auf diesem Weg zu einem Ausstieg aus der Atomkraft zu kommen. Das ist nicht Willkür; vielmehr ist das bei uns eine über lange Zeit gewachsene Position, die Sie kennen. Sie können nicht
überrascht sein. Das ist immer unsere Position gewesen.
Wir stehen zu dieser Position.
({0})
Zu einer sicheren Energieversorgung ohne Atomkraft
gehört auch das Ende der Wiederaufbereitung. Das ist
die logische Konsequenz daraus. Auch diese Position ist
nicht neu. Sie wissen es: Das ist die Position der SPD
seit 1987. Sie wissen, daß beispielsweise im Staatssekretärsausschuß über unterschiedliche Entsorgungsvarianten sehr oft geredet worden ist, auch über die Kostenberechnungen. Vielleicht kennen Sie ja noch die Zahlen.
Der Kostenvorteil, der entsteht, liegt nach den Untersuchungen der Staatssekretärsrunde bei etwa 11 Milliarden
DM wenn man die Wiederaufbereitung zugunsten der
direkten Endlagerung aufgibt. Man muß noch hinzufügen: Schon damals haben Sie diese Diskussion nicht offen geführt, sondern abgebrochen, weil Sie gleichzeitig
die Verträge über die Wiederaufbereitung verlängert haben. Sie waren schon damals nicht am Konsens orientiert. Das ist die Wahrheit.
({1})
Wir sagen klar: Wir können uns nicht vorstellen, daß
durch internationale Verwaltungsvereinbarungen der
Deutsche Bundestag daran gehindert werden kann, ein
Gesetz zum Ausstieg aus der Atomkraft zu beschließen.
Sollte dies der Fall sein, dann hat die alte Regierung
grob verfassungswidrig gehandelt. Wir können uns das
nicht vorstellen. Aber wir glauben eben nicht, daß durch
solche Verträge die Handlungsfähigkeit des Bundestages
eingeschränkt werden kann. Wir machen da nicht mit.
({2})
- Nein, wir sprechen hier von den Verträgen von
1990/91.
({3})
- Wir sprechen von denen, in denen die Wiederaufarbeitung festgelegt wurde, Herr Hirche. In den alten Verträgen stand sie noch nicht.
({4})
- Woran wir uns eigentlich vorbeimogeln, kann ich Ihnen sagen: daß wir über Jahrzehnte das Problem der
Entsorgung tabuisiert und auf künftige Generationen abgeschoben haben. Im Augenblick wird ein Problem, das
lange existiert, deutlich. Sie haben doch nie ein Konzept
gehabt. Sie tun nur so, als hätten Sie eins. Wenn wir auf
dieser Ebene debattieren, können wir das zurückgeben.
({5})
Wir wollen ein konsensuales Verfahren. Aber der
Wirtschaftsminister hat völlig recht: Wir haben hier
Altlasten, weil Sie sich lange Zeit an der Wahrheit vorbeigedrückt haben. Die Wahrheit ist, daß wir für eine
hochgefährliche Technologie kein Lösungskonzept im
Hinblick auf Atommüll haben. Das ist die Wahrheit, die
jetzt überdeutlich geworden ist. Und: Je länger wir mit
der Problemlösung noch warten, desto größer wird das
Problem.
({6})
Deshalb ist es wichtig anzufangen; das ist unsere Botschaft.
Natürlich kann man über die eine oder andere Frage
reden, aber es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, daß
es sowohl bei der Wiederaufbereitung als auch bei der
Beendigung der Nutzung der Atomkraft nur noch um
den Weg, aber nicht mehr um das Ziel geht. Das Ziel
steht für uns fest, und insofern kann ich nur raten, über
diesen Weg konstruktiv zu reden, statt ihn zu blockieren.
Meine Damen und Herren, wir wollen ein belastbares
Entsorgungskonzept. Dazu hat die Bundesregierung anders, als Sie behaupten, sehr wohl klare Positionen bezogen, indem sie sich an der direkten Endlagerung orientiert und aufzeigt, daß nun schnell neue Standorte gesucht und gefunden werden müssen.
({7})
- Der Standort, an dem Sie festhalten, war kein Standort. - Zu unserer klaren Position gehört ferner, daß wir
Zwischenlager in der Nähe der Kraftwerkstandorte einrichten.
Im übrigen muß ich darauf hinweisen, daß in privatrechtlichen Verträgen auch die Option eines Zwischenlagers in La Hague enthalten ist. Das sollten Sie bitte zur
Kenntnis nehmen. Ich will das jetzt nicht als Lösung ansehen; wir stehen zu der Verantwortung, die Endlagerung hier in der Bundesrepublik zu lösen. Dazu haben
wir immer gestanden. Aber es gibt sicherlich Möglichkeiten für einen vernünftigen zeitlichen Rahmen.
Meine Damen und Herren, im Kern geht es - da
sollte man sich nicht hinter anderen Argumenten verstecken - um unterschiedliche energiepolitische Konzepte. Wir werden unser Konzept des Atomausstiegs, für
das wir immer gestanden haben, umsetzen und können
Sie nur auffordern, das konstruktiv zu begleiten.
({8})
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Klinkert von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! „Die Welt lacht über
die Deutschen“ ist die zutreffende Schlagzeile einer
deutschen Tageszeitung, die die Situation charakterisiert, in die uns wenige Wochen rotgrüner Energiepolitik
gebracht haben. Mit der Begründung höherer Gewalt
untersagt diese rotgrüne Bundesregierung den Kernkraftwerksbetreibern die vertraglich vereinbarte Wiederaufarbeitung von Kernbrennstäben in Frankreich und
Großbritannien.
Erst gestern war Herr Trittin wieder auf Reisen,
diesmal in Großbritannien,
({0})
um den Partnern internationaler Verträge zu erklären,
warum die deutsche Bundesregierung glaubt, vertragsbrüchig werden zu können. Wie schon in Frankreich ist
dieser Versuch kläglich gescheitert. Das einzige, Herr
Trittin, was Sie mitgebracht haben, sind eine schallende
Ohrfeige und glasharte Schadenersatzansprüche.
({1})
Weder Briten noch Franzosen konnte beeindrucken, daß
Trittin erklärte, höhere Gewalt, also er, sei im Spiel. Ich
bin davon überzeugt, daß in dem sich anbahnenden
Rechtsstreit, der möglicherweise bis vor dem Europäischen Gerichtshof ausgetragen werden muß, auch diese
spirituelle Anmaßung des deutschen Umweltministers
nicht anerkannt werden wird. Bezahlen wird dieses
Spektakel, meine sehr verehrten Damen und Herren, auf
jeden Fall der Steuern und Gebühren zahlende Bundesbürger.
({2})
Möglicherweise müssen wir auf den Ausgang dieses
Streits lange warten. Worauf wir allerdings nicht lange
warten müssen, ist eine Vielzahl zusätzlicher CastorMichael Müller ({3})
Transporte kreuz und quer durch Europa. Hier zeigt sich
die ganze Verantwortungslosigkeit und Doppelzüngigkeit dieses Umweltministers. Entweder sind CastorTransporte - O-Ton Trittin - „ein hohes Sicherheitsrisiko für die Bevölkerung und die eingesetzten Polizeibeamten“ - dann wäre es Ihre dem Amtseid entsprechende
Pflicht, die Transporte möglichst zu vermeiden -, oder
das Risiko existiert nicht - dann haben Sie die Öffentlichkeit belogen.
({4})
Herr Trittin, Sie haben auch heute nicht erklären können, warum die Strahlung von Castor-Transporten 1999
weniger gefährlich als 1998 ist.
({5})
Die Beendigung der Wiederaufarbeitung ist aber nur
ein Punkt im rotgrünen Ausstiegschaos. Nach dem Willen dieser Bundesregierung soll Deutschland, das die
anerkanntermaßen sichersten Kernkraftwerke der Welt
hat - da wird sicherlich niemand von der Bundesregierung widersprechen -, als eines von ganz wenigen Ländern aus der Nutzung dieser Energieart aussteigen.
({6})
Allerdings sind die Meinungen über das Tempo des
Ausstiegs - wie so vieles in dieser Regierung - höchst
unterschiedlich. Während der Umweltminister möglichst
schnell aussteigen will, verdrängend, daß dabei Kosten
in der Größenordnung von mehr als 100 Milliarden DM
anfallen könnten - was auch mit höherer Gewalt vom
Tisch gewischt wird -, sichert der Bundeskanzler bei
Gesprächen mit der Energiewirtschaft, an denen sein zuständiger Fachminister dann wieder nicht teilnehmen
darf - irgendwie kann ich den Bundeskanzler verstehen -, Restlaufzeiten von mehreren Jahrzehnten zu.
Ich sage nichts gegen die langen Restlaufzeiten, die
möglicherweise an die technisch absehbaren Restlaufzeiten herankommen. Aber warum man der Welt suggeriert, deutsche Kernkraftwerke seien unsicher, wenn
man sie andererseits noch 20 bis 30 Jahre in Betrieb läßt,
bleibt ein Geheimnis rotgrüner Regierungskunst.
({7})
Herr Minister Müller, Ihre wahrscheinlich eher rhetorisch gemeinte Frage, warum man sich über die Optionen streitet, ist eine Frage, die Sie einmal in einer der
nächsten Kabinettssitzungen stellen sollten.
({8})
Den Energieversorgern ist eh nicht anzuraten, einem
solchen, über Nötigung zustande gekommenen Konsens
zuzustimmen; denn über den Restlaufzeiten schwebt das
Damoklesschwert des ausstiegsorientierten Vollzugs
rotgrüner Landesregierungen. Ob der derzeitige Bundesumweltminister wie seine Vorgänger bundesaufsichtliche Weisungen erteilen wird, um dem Kernkraftverhinderungswahn seiner Landeskollegen entgegenzuwirken, bleibt zumindest zweifelhaft. Ich bin übrigens
sehr gespannt, ob Herr Trittin am Montag zu den wiederaufgenommenen sogenannten Konsensgesprächen
zugelassen wird oder ob er wieder auf den Hof geschickt
wird.
Egal, wie sich Rotgrün entscheiden wird, diese Entscheidung wird keinen Einfluß auf die weitere Nutzung
von mehr als 400 weltweit in Betrieb befindlichen und
auf die 32 in Bau befindlichen Reaktoren haben. Aber
die Entscheidung wird Einfluß darauf haben, ob deutsche Experten mit ihrem Rat zur Verbesserung internationaler Sicherheitsstandards, zum Beispiel in Osteuropa, beitragen können. Sie wird Einfluß darauf haben, ob
die deutsche Wirtschaft auf dem rasant wachsenden
Weltmarkt weiter Fuß fassen kann oder ob sich die Welt
dafür entscheiden wird, eine Technik, die im eigenen
Land als unsicher angesehen wird, dann natürlich auch
nicht mehr zu importieren.
Dies wird weitere Milliardenverluste für die deutsche
Wirtschaft bringen und vor allen Dingen Verluste von
Arbeitsplätzen. Dies alles geht auf das Konto von Rotgrün. Die Welt lacht über die Deutschen,
Herr
Kollege Klinkert, ich bitte, zum Schluß zu kommen.
- und das ist eher traurig.
({0})
Als
letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege
Volker Jung von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, in unserem Land eine sichere, wettbewerbsfähige und umweltverträgliche Energieversorgung ohne Atomkraft durchzusetzen, die nicht durch
Schadenersatzklagen oder Investitionsblockaden behindert wird. Das liegt in der Logik des Wahlergebnisses.
Ich kann nur sagen: Der Souverän hat gesprochen, und
auch die Franzosen und die Briten akzeptieren das. Wir
haben es ihnen rechtzeitig gesagt.
Wir haben keinen Zweifel daran gelassen, daß wir
dies im Konsens mit der Elektrizitätswirtschaft organisieren wollen, daß der Ausstieg selbst aber nicht verhandelbar ist. Die Elektrizitätswirtschaft hat eindeutig erklärt, daß sie den Primat der Politik akzeptiert. Damit
sind alle Voraussetzungen geklärt.
Es ist seit Jahren bekannt - mein Kollege Michael
Müller hat es noch einmal hervorgehoben -, daß wir die
Entsorgung des atomaren Abfalls auf die direkte Endlagerung beschränken wollen. Das liegt nach meiner Auffassung auch im Interesse der deutschen Elektrizitätswirtschaft, weil jene zweifellos kostengünstiger und, ich
füge hinzu, nicht so gefährlich wie die Wiederaufbereitung ist. Das müßte ja eigentlich auch die Auffassung
von Ihnen in der Opposition sein, denn sonst hätten Sie
bei der vorletzten Atomgesetznovelle nicht die direkte
Endlagerung erlaubt, zweifellos in der Annahme, daß
sich dieser Entsorgungsweg früher oder später durchsetzen wird.
({0})
Die logische Konsequenz daraus ist die Aufgabe, das
Verbot der Wiederaufbereitung bei uns.
Es muß in diesem Zusammenhang daran erinnert
werden, daß die Wiederaufbereitungsanlage in Wakkersdorf nicht von der Politik verboten wurde, sondern
von der Elektrizitätswirtschaft freiwillig aufgegeben
wurde. Gründe dafür waren nicht nur die Akzeptanzprobleme, sondern insbesondere die Ergebnisse von Kostenvergleichen. Wenn es seinerzeit die Möglichkeit der
direkten Endlagerung gegeben hätte, die jetzt geschaffen
werden muß, wäre die Elektrizitätswirtschaft auch nicht
den Weg der Wiederaufbereitung im Ausland, jedenfalls
nicht in dieser extensiven Form, gegangen. Das ist sozusagen alles atomare Vergangenheit.
Bundeswirtschaftsminister Müller hat von der Abarbeitung von Altlasten gesprochen, die nicht wir, sondern
die damaligen politischen Mehrheiten und die Elektrizitätswirtschaft selber zu verantworten haben.
Strittig kann also gar nicht das Ob, sondern allenfalls
das Wie, der Zeitrahmen für die Aufgabe der Wiederaufbereitung, sein. Das innerhalb eines Jahres schaffen
zu wollen ist sicherlich ein ehrgeiziges Ziel. Die Konsensgespräche und die Verhandlungen mit Frankreich
und Großbritannien werden zeigen, ob diese Vorgabe
realistisch ist. Auf jeden Fall sind wir zur Rücknahme
des atomaren Inventars aus Frankreich und Großbritannien verpflichtet. Das ist eindeutige Vertragslage. Das
technische Problem ausreichender Zwischenlagerkapazitäten ist nach meiner Auffassung lösbar, wenn der
zwischen Wirtschafts- und Umweltminister vereinbarte
Satz seine Gültigkeit behält, daß der Betrieb von Kraftwerken auch bei erschöpfter Lagerkapazität gewährleistet ist.
Zu den finanziellen Belastungen: Der Bundeswirtschaftsminister hat berechtigterweise darauf hingewiesen, daß die direkte Endlagerung auch erhebliche Einsparungen mit sich bringt; privat- und völkerrechtliche
Probleme würden im übrigen überhaupt erst dann auftreten, wenn wir national wie international auf den Weg
des Rechtsstreits verwiesen wären. Das wollen wir vermeiden.
Es ist uns, meine Damen und Herren, natürlich bewußt, daß Cogema in La Hague und BNFL in Sellafield
in erheblichem Umfang mit der Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente aus Deutschland beschäftigt
sind. Es ist natürlich verständlich, daß sich Franzosen
und Briten Gedanken über die Auslastung ihrer Anlagen
machen. Darüber muß verhandelt werden. Dazu muß innerhalb von Jahresfrist schon deswegen eine Lösung gefunden werden, weil wir nicht die industrielle Kooperation mit diesen Ländern gefährden wollen. Hier müssen
wir mit unseren europäischen Partnern nach Kompensationslösungen suchen. Es gibt keinen Grund, die Suche
nach solchen Lösungen übers Knie zu brechen. Dazu
haben wir ein Jahr Zeit. So könnten auch die Transportund Zwischenlagerprobleme ganz erheblich entschärft
werden.
Es wäre gut, wenn sich alle Beteiligten darauf besinnen würden, daß die Wähler in unserem Land eine eindeutige Richtungsentscheidung getroffen haben. In keiner Frage war die Alternative so klar wie bei der Frage
der Nutzung der Kernenergie. Deswegen bin ich überzeugt: Wenn wir diese Fragen im Konsens statt im Dissens lösen, werden die Interessen aller Beteiligten besser
gewahrt. Vor allen Dingen wird der Ausstieg dann zügiger vonstatten gehen.
Danke schön.
({1})
Liebe
Kolleginnen und Kollegen, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines . . . Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung
- § 100 a StPO
- Drucksache 14/162 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({0})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster
Redner der Kollege Norbert Geis von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir legen einen Gesetzentwurf vor, mit dem wir die Telefonüberwachung
auf schwere Korruptionsdelikte, Bestechung und Bestechlichkeit, und auf Sexualdelikte ausdehnen wollen.
Dieser Gesetzentwurf hätte wie der Gesetzentwurf zur
Ergänzung der DNA-Analyse, den wir vor zwei Stunden
behandelt haben, eigentlich von der Bundesregierung
vorgelegt werden müssen. Die Bundesregierung ist säumig, wirft uns aber vor, wir würden unfertige Gesetzentwürfe vorlegen.
Wir haben vor etwa zwei Stunden etwas erlebt, was
ich bisher in Debatten zur Rechtspolitik noch nicht gekannt habe. So viel Arroganz und Überheblichkeit, wie
man unseren Gesetzentwürfen entgegenbringt, habe ich
Volker Jung ({0})
in der Rechtspolitik noch nicht von einem Justizminister
erlebt, solange wir die Regierung gestellt haben.
({1})
Es ist unerhört, wie die Damen und Herren von den Regierungsfraktionen glauben, mit ihrer Mehrheit umgehen
zu dürfen. Ein wenig mehr Respekt vor der parlamentarischen Auseinandersetzung sollte man hier schon erwarten.
({2})
Statt dessen beleidigt uns die Justizministerin, die leider nicht mehr anwesend ist. Ich kann es ertragen, wenn
sie zu mir sagt „60 Jahre und kein bißchen weise“. Aber
ob diese Äußerung zu einer Justizministerin paßt, wage
ich doch sehr zu bezweifeln.
({3})
Das ist eine Frechheit, die nicht zu einer deutschen Justizministerin paßt und die bisher nicht Stil des Justizministeriums war.
({4})
Dieser Stil in der Rechtspolitik ist in höchstem Maße
übel. Dagegen wehren wir uns.
({5})
Er zeigt die Arroganz und die Überheblichkeit der
Macht, die an allen Ecken und Enden zum Vorschein
kommt.
({6})
Mit allen Mitteln demonstrieren Sie Ihre Macht und vergessen dabei Ihre gute Kinderstube. So ist es.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der hier
vorgelegte Gesetzentwurf hätte von der Regierungskoalition längst vorgelegt werden müssen.
({7})
- Herr Hartenbach, ich zitiere Sie nachher. - Wir wissen
doch, um was es hier geht. Wir haben das Gesetz gegen
die Korruption Ende Juni 1997 verabschiedet. Wir waren uns damals darüber einig, daß wir die Telefonüberwachung für diesen Bereich durchsetzen müssen. Herr
Hartenbach, Sie selbst haben bei der ersten Beratung im
Jahre 1996 gesagt, daß wir sie brauchen. Im Bundesratsentwurf von 1995 steht fast wortgleich, daß die Telefonüberwachung vorgesehen ist.
Wir haben damals die Telefonüberwachung deshalb
nicht in den Gesetzentwurf aufgenommen - Herrn Hofmann habe ich dies damals im Rahmen einer Kurzintervention gesagt -, weil wir untereinander vereinbart hatten, daß diese Regelung in das Gesetzespaket zum
Lauschangriff aufgenommen werden sollte. In diesem
Punkt waren wir uns einig. Herr Hofmann hat nach meiner Zwischenbemerkung diese Position akzeptiert.
Inzwischen hat das Gesetzespaket zum Lauschangriff
vorgelegen. Wir wissen, wie schwer sich die SPD getan
hat, dieses Paket mit uns zu verabschieden. Wir wissen,
welche Querelen es innerhalb der SPD gegeben hat. Mit
diesem Gesetz steht uns zwar das viel stärkere Mittel des
Lauschangriffs gegen Bestechung und Bestechlichkeit
zur Verfügung,
({8})
aber nicht das weit mildere Mittel des § 100 a StPO. Wir
haben diese Regelung deshalb nicht in dieses Gesetzespaket aufgenommen - Herr Hartenbach, ich kann
nachher die entsprechende Stelle zitieren -, weil wir
damals auf die SPD Rücksicht genommen haben, um
das gesamte Paket hinsichtlich des Lauschangriffs nicht
zu gefährden und noch in der alten Legislaturperiode zu
verabschieden.
Inzwischen hat die neue Legislaturperiode bereits begonnen. Inzwischen haben wir nicht mehr die Regierungsverantwortung. Es hätte also von seiten der Regierungsparteien längst das geschehen können, was wir
jetzt von der Opposition her nachholen und was wir Ihnen vorlegen. Es hätte längst die Ausdehnung der Telefonüberwachung auf schwere Bestechlichkeit, Bestechung und Sexualdelikte erfolgen müssen. Wir müssen
vorangehen. Während wir vorangehen, werden wir von
Ihnen lächerlich gemacht, werden von Ihnen irgendwelche dümmlichen Argumente vorgebracht - die wir im
Ausschuß leicht widerlegen werden -, und zwar von allen Rednern der Koalition, die Justizministerin eingeschlossen. Ich möchte einmal wissen, welcher Referent
im Justizministerium das ausgekocht hat. Alle Redner
haben fast wortgleich dasselbe vorgetragen. Auch darin
zeigt sich die ganze Arroganz. Sie sind nicht einmal bereit, sich eigene Gedanken zu machen. So kann man
nicht verantwortlich Rechtspolitik machen.
({9})
- Nein, was ich vorhin erlebt habe, hat das Faß zum
Überlaufen gebracht. So kann man nicht mit uns umgehen, und so lassen wir auch nicht mit uns umgehen.
({10})
Da tut man ein bißchen schön, ist im Ausschuß ganz
freundlich und bringt das kameradschaftlich über die
Bühne, und dann versucht man hier, uns in kalte Wasser
zu werfen bzw. in den Mist zu stoßen und unseren Gesetzentwurf so darzustellen, als wäre er ein Fetzen Papier, den man auf der Toilette abgeben soll. Was ist das
für eine Arroganz! Das habe ich noch nicht erlebt.
({11})
So mit der Macht umzugehen, so Rechtspolitik zu betreiben ist schlimm, und das muß man in aller Deutlichkeit sagen. Davon lasse ich mich auch nicht abbringen.
({12})
- Ich lasse mich auch nicht durch solche Zwischenrufe
davon abbringen. Wenn es nicht anders geht, dann wird
man beleidigend.
({13})
- Na ja, Sie waren nicht da.
({14})
Die Frau Ministerin möge es im Protokoll nachlesen.
Ich kann damit leben. Aber ich meine schon, daß das
so nicht geht.
({15})
Ich meine, daß wir hier ein wichtiges Gesetz vorlegen. Ich fordere Sie auf, zur sachlichen Beratung zurückzukehren
({16})
und nicht mit Arroganz, Überheblichkeit und Machtbesoffenheit zu glauben, all das, was wir hier vorlegen,
wäre nichts und könnte man gleich in den Papierkorb
werfen. So geht das nicht.
({17})
Wir wissen, daß die Korruption, die Bestechlichkeit
und die Bestechung bei uns Platz greifen. Anfang dieses
Jahres hat ein bekanntes deutsches Magazin den, wie es
ihn nennt, Korruptionsexperten der SPD, Herrn Hofmann, interviewt, der große Gesetzentwürfe der SPD zur
Korruption angekündigt hat. Wenn er damit die materielle Seite meint, muß ich sagen: Wir haben in der letzten
Legislaturperiode die Gesetzgebung zur Korruption mit
Ihrem Einverständnis entscheidend verbessert.
({18})
- Das will ich ja zugeben: mit Ihrer Beratung. Wir haben
im Gegensatz zu Ihnen Beratungen mit Ihnen immer
sehr ernst genommen. Das wissen Sie, lieber Herr Hartenbach. Wir haben uns zu den Berichterstattergesprächen zusammengesetzt und wirklich versucht, gemeinsam eine Lösung zu finden.
({19})
- Ich weiß es nicht. Für Sie mag das ja zutreffen. Aber
das, was ich heute hier von seiten der Justizministerin
erfahren habe, schlägt dem Faß den Boden aus. So kann
man sich nicht verhalten. So darf sich eine deutsche Justizministerin nicht verhalten. Das möchte ich noch
einmal sagen.
({20})
- Ja, ich kann es nicht deutlich genug sagen. Das muß
deutlich gesagt werden, Herr Ströbele. Wenn Sie das
nicht hören wollen, dann gehen Sie halt raus. Sie sind ja
nicht gezwungen hierzubleiben.
({21})
Dieser Gesetzentwurf ist deshalb notwendig, weil wir
uns völlig einig waren, daß § 100 a StPO auf die schwere Bestechung und die Bestechlichkeit ausgedehnt werden muß. Wir wollen ihn nicht nur auf Bestechung und
Bestechlichkeit ausdehnen, sondern auch auf schwere
Sexualdelikte. Auch hier ist es notwendig, mit solchen
Mitteln gegen die Verbrecher vorzugehen. Sie verzögern
beim DNA-Ergänzungsgesetz
({22})
die Möglichkeit, gegen Verbrecher vorzugehen, und Sie
verzögern heute wahrscheinlich wieder die Entscheidung, im Rahmen des § 100 a gegen Verbrecher vorzugehen. Aber wir werden Ihnen das nicht durchgehen lassen. Wir werden dieses Gesetz beraten. Wenn Sie meinen, es genauso schnöselig behandeln zu können, wie
Sie das vorhin demonstriert haben, dann werden wir Ihnen, vielleicht mit Hilfe von Sachverständigen, zeigen,
daß Sie auf dem Holzweg sind.
Danke schön.
({23})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen Meyer
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich kann gut
verstehen, Herr Kollege Geis, daß Ihnen - das ist nicht
ironisch gemeint - die Rolle in der Opposition nicht
leichtfällt. Auch wir haben 16 Jahre lang sehr häufig das
Gefühl gehabt, einer gewissen Arroganz der Macht zu
begegnen. Ich bitte Sie einfach, folgendes in der Sache
zur Kenntnis zu nehmen - ich will mit diesem Hinweis
die Diskussion beruhigen -: Wir sind durchaus bereit wir haben das auch in der Vergangenheit erklärt -, den
Deliktskatalog des § 100 a der Strafprozeßordnung hinsichtlich der Telefonüberwachung zu erweitern. Aber
ähnlich wie vor zwei Stunden - über Stilfragen will ich
jetzt gar nicht sprechen - muß ich Ihnen sagen: Der von
Ihnen vorgelegte Entwurf überzeugt so nicht. Ich stelle
das mit allem kollegialen Respekt und überhaupt nicht
belehrend fest. Ich hoffe, daß auch Sie diesen Eindruck
haben.
Aber die Absprache, die wir in den mehr als ein Jahr
dauernden Verhandlungen über die bessere Bekämpfung
organisierter Kriminalität getroffen haben - wir beide
haben ja an diesen Verhandlungen teilgenommen -, war
nach meiner Erinnerung ein wenig anders, als Sie, Herr
Kollege Geis, das wiedergegeben haben. Wir haben
übereinstimmend betont: Man muß Delikte, die typischerweise in den Bereich der organisierten Kriminalität
fallen - dazu gehört ohne jeden Zweifel die Korruption,
also die aktive und passive Bestechung, und auch die
Verbreitung von Kinderpornographie -, in den Katalog
des § 100 a StPO aufnehmen. Aber wir haben auch gesagt - das haben Sie ausgelassen -: Dies muß Hand in
Hand mit einer Verbesserung der rechtsstaatlichen Kontrolle der Telefonüberwachung gehen.
Weil wir darüber einig waren, haben wir am 1. Oktober 1997 einen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU,
SPD und F.D.P., Drucksache 13/8652, eingebracht, Herr
Kollege van Essen, auch Sie werden sich daran erinnern.
In diesem Antrag haben wir die Konferenz der Justizministerinnen und -minister, zu der mit beratender Stimme
bekanntlich auch der Justizminister des Bundes gehört,
gebeten, die statistische Erfassung der Telefonüberwachungen nachzubessern und Vorschläge zur Verbesserung des Verfahrens der richterlichen Anordnung vorzulegen. Das ist leider nicht geschehen.
Weiter haben wir in dem Antrag gefordert, die Bundesregierung solle dem Deutschen Bundestag künftig
jährlich einen Bericht über Anlaß, Verlauf und Ergebnisse der Telefonüberwachungen in Bund und Ländern
vorlegen. Dies war unser Ausgangspunkt, nämlich die
Erweiterung des Deliktskatalogs auf für organisierte
Kriminalität typische Verbrechen und gleichzeitig eine
Verbesserung der rechtsstaatlichen Kontrolle.
Wir hatten einen guten Grund, diese Forderung zu erheben. Denn in der Antwort auf unsere Große Anfrage
zur organisierten Kriminalität in der Bundesrepublik
Deutschland durch die Bundesregierung im Juni 1996,
Drucksache 13/4942, haben wir auf Grund einer Umfrage bei allen Bundesländern erfahren, daß sich die Anzahl der Anordnungen von Telefonüberwachungen
zwischen 1985 und 1991 ziemlich genau verdoppelt
hatte, und zwar von 1 399 im Jahre 1985 auf 2 797 im
Jahre 1991. Danach gab es auf Grund des größeren Gebietes der Bundesrepublik Deutschland noch einmal eine
Steigerung auf annähernd 4 000 Anordnungen im Jahr.
Es ist ein Verdienst des Kollegen van Essen, daß er
dann Jahr für Jahr immer wieder die Zahl der Anordnungen von Telefonüberwachungen erfragt und öffentlich gemacht hat.
({0})
Das ist ein Beweis rechtsstaatlicher Sensibilität, von
der in Ihrem Gesetzentwurf leider nichts zu spüren ist.
Unsere Absprache bestand in einer Erweiterung des Deliktskataloges, aber gleichzeitig auch in einer Verbesserung der rechtsstaatlichen Kontrolle der Telefonüberwachung.
Ich finde es ganz interessant, daß dieses Problem
nicht nur den Deutschen Bundestag, sondern - übrigens
auf Initiative des früheren Bundesjustizministeriums,
damals noch unter dem Justizminister Engelhard - auch
die Wissenschaft beschäftigt hat. Ich bitte um Nachsicht,
daß ich hier darauf hinweise, daß das Freiburger MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales
Strafrecht im Frühjahr 1990 ein rechtsvergleichendes
Gutachten vorgelegt hat. Der rechtsvergleichende Querschnitt und die rechtspolitischen Empfehlungen, die ich
zu verantworten hatte, sind damals dem Justizministerium übergeben worden. Ich erwähne das nicht etwa wegen der Autorenschaft, sondern aus einem anderen
Grund. In den Empfehlungen war nämlich unter anderem vorgeschlagen worden, die richterliche Anordnung nach österreichischem Vorbild grundsätzlich durch
ein Kollegialgericht vornehmen zu lassen und nur bei
Gefahr im Verzuge durch einen Einzelrichter. Es wurden weiter - ich will nur ein paar der Empfehlungen
nennen - die öffentliche Berichterstattung über Telefonüberwachungen und die parlamentarische Kontrolle vorgeschlagen.
Nun werden Sie gleich sagen, das haben wir doch alles. Wir haben das aber nicht bei der Telefonüberwachung, sondern bei der technischen Überwachung von
Wohnräumen. Da haben wir das alles auf Initiative der
SPD im Rahmen der Debatte und Abstimmung über den
sogenannten großen Lauschangriff eingeführt.
Herr Kollege Geis, Sie werden sich daran erinnern.
Ich habe in den langen Verhandlungen immer wieder
gefragt: Worin besteht eigentlich der Unterschied hinsichtlich des tiefen Eingriffs in die Persönlichkeitsrechte, ob jemand im Schutz seiner Wohnung ein Telefongespräch führt und dieses durch die technische Überwachung des Wohnraums aufgenommen wird oder durch
die Telefonüberwachung? Vor allem: Ist nicht beiden
Vorgängen, egal ob sich die technische Überwachung
nur auf das Telefon bezieht oder auf den Wohnraum,
gemeinsam, daß immer auch eine große Zahl von nichtbetroffenen, offensichtlich unschuldigen Bürgern tangiert ist?
({1})
Wenn man diese Frage stellt, dann muß man doch erkennen, daß wir auch Reformbedarf hinsichtlich der
rechtsstaatlichen Kontrolle bei der Telefonüberwachung
haben könnten. Dies hat inzwischen auch der Bundesgerichtshof erkannt. Ihnen ist wahrscheinlich das Urteil
des Bundesgerichtshofs vom 11. November 1998 bekannt. Es geht auf einen Mißbrauch ein, der sich bei der
Telefonüberwachung eingeschlichen hat. Der Mißbrauch
bestand darin, daß eine richterliche Anordnung herbeigeführt und als Vorratsbeschluß auf die Seite gelegt
wurde, um ihn irgendwann einzusetzen.
In seiner erwähnten Entscheidung vom 11. November
1998 hat der Bundesgerichtshof gesagt: So geht das
nicht. Die Dreimonatsfrist für die Telefonüberwachung
nach richterlicher Anordnung beginnt mit der Anordnung und nicht erst mit dem Beginn der Maßnahme. Das ist ein ganz wichtiger Vorgang, der zeigt: Es gibt so
etwas wie Mißbrauch. Wir müssen uns damit befassen
und dürfen nicht einfach sagen: Wir weiten dieses Instrument aus.
Deshalb mein Appell an die Kolleginnen und Kollegen der Opposition: Lassen Sie uns die Gespräche, die
ich soeben referiert habe, über eine sinnvolle Erweiterung des Deliktskatalogs - dazu gehören nach unserer
Ansicht neben der Korruption die Verbreitung von Kinderpornographie und Delikte - und die gleichzeitige
Verbesserung der rechtsstaatlichen Kontrollen wiederaufnehmen. Eines muß ich Ihnen aber klipp und klar sagen: Eine einseitige, rechtsstaatlich unsensible Rechtspolitik ist mit der SPD nicht zu machen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg van Essen von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Dr. Jürgen Meyer ({0})
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich bin ohne Manuskript ans Rednerpult gegangen, weil ich es mir eigentlich relativ einfach machen könnte. Auch wir stimmen natürlich zu,
daß schwere Kriminalitätsformen grundsätzlich auch mit
der Telefonüberwachung bekämpft werden müssen.
Daß zum Beispiel der Menschenhandel dazugehört - wir
alle wissen, was gerade mit osteuropäischen Frauen passiert -, ist nach meiner Auffassung ohne Zweifel. Ich bin
dem Kollegen Meyer sehr dankbar, daß er nachdenkliche Töne in diese Debatte gebracht hat, weil ich glaube,
daß die Telefonüberwachung das verdient hat.
Vielen von Ihnen ist bekannt, daß ich von Beruf
Oberstaatsanwalt bin.
({0})
- Ich bin es noch, lieber Herr Kollege. Ich bin im Augenblick im einstweiligen Ruhestand, aber Oberstaatsanwalt bleibt man. - Von daher wissen Sie, daß ich natürlich auch aus der praktischen Erfahrung heraus für die
Telefonüberwachung bin, weil ich weiß, daß wir damit
schwerste Kriminalität aufklären und - das ist für uns
Liberale ganz wichtig - auch weitere schwerste Straftaten verhindern konnten und somit Menschen nicht Opfer
von Straftaten wurden. Dieser Aspekt ist für uns immer
besonders wichtig.
({1})
Gerade im Bereich des Menschenhandels ist das ein
Aspekt, der diskussionswürdig ist.
Ich weiß natürlich auch - Sie haben es angesprochen -, daß es Tendenzen gibt, Anträge auf Vorrat zu
stellen und alles auszunutzen. Wer sich die Zahlen anschaut - seitdem ich im Bundestag bin, habe ich mich
dieser Frage in besonderer Weise gewidmet -, der muß
doch nachdenklich werden: Bezogen auf das Bundesgebiet ist die Zahl der Telefonüberwachungsmaßnahmen innerhalb eines Jahres um 10,7 Prozent gestiegen was enorm viel ist -, aber in Mecklenburg-Vorpommern
um 182 Prozent. Es mag ja Erklärungen dafür geben,
aber zumindest belegt es, daß dies diskussionswürdig ist,
daß dies nachgeprüft werden muß, daß überlegt werden
muß, was die Gründe dafür sind. Es sind ja einige mögliche Gründe genannt worden, aber das sind nur mögliche Gründe. Wir wissen nicht, ob sie tatsächlich zutreffen. Das macht deutlich, daß das diskutiert werden muß.
Eine Diskussionsnotwendigkeit ergibt sich, so glaube
ich, auch aus folgendem: Wenn eine öffentliche kritische Diskussion stattfindet, geht in deren Folge die Zahl
der Maßnahmen sofort zurück. Als es eine kritische Diskussion über die Zahl der U-Haft-Anordnungen gab,
konnten wir im darauffolgenden Jahr auf einmal einen
erheblichen Rückgang dieser Zahlen verzeichnen. Insofern hat sich gezeigt, daß die kritische Diskussion offensichtlich zu einem Prozeß des Nachdenkens bei den Angehörigen der Justiz führt.
({2})
Auch das gehört dazu, wenn wir diese Frage diskutieren.
Über die Frage der Schwere der Delikte hinaus
möchte ich eine weitere Frage diskutiert sehen, nämlich
ob die Telefonüberwachung gerade bei der Bekämpfung
dieser Delikte hilfreich sein kann. Ich weiß, daß bei
Menschenhandel mit Frauen sehr häufig Telefonverkehr
stattfindet, daß - mir fällt kein anderer Ausdruck ein; ich
finde ihn schrecklich - „Bestellungen“ per Telefon aufgegeben werden. Von daher ist Telefonüberwachung bei
der Bekämpfung des Frauenhandels natürlich hilfreich.
Aber als jemand, der in diesem Gebiet als Staatsanwalt
tätig war, weiß ich, daß im Bereich der Kinderpornographie vom Telefon praktisch kein Gebrauch gemacht
wird. Dort werden andere Wege genutzt. Deshalb erwarte ich mir von der Möglichkeit der Anordnung der
Telefonüberwachung in diesem Bereich - so sehr ich
mir eine bessere Bekämpfung der Kinderpornographie
wünsche - eher keine Erfolge.
Ich denke, auch das müssen wir sorgfältig überprüfen: Kann das neue Mittel tatsächlich zu einer besseren
Verfolgung führen? Nur wenn wir diese Frage tatsächlich mit Ja beantworten können, sollten wir uns entschließen, den Straftatenkatalog entsprechend zu erweitern.
Für mich gehört zu einer Diskussion auch, einmal zu
überprüfen, ob die verschiedenen Katalogtaten noch
stimmig sind und ob wir wirklich noch alle Katalogtaten
brauchen. Ich habe die Zahlen auch deshalb immer jährlich abgefragt, um herauszubekommen, ob es möglicherweise Katalogtaten gibt, für die wir nie Anordnungen brauchen.
({3})
- Auch das gehört dazu, sicherlich, Herr Ströbele. Aber
allein die Tatsache, daß keine Anordnungen stattfinden,
muß doch Druck erzeugen, nachzuprüfen, ob die Notwendigkeit besteht, die entsprechenden Straftaten im
Katalog zu belassen.
Von daher rate ich uns allen zu einer sachlichen Erörterung. In der Zielsetzung sind wir uns - das haben ja
auch die Ausführungen des Kollegen Meyer gezeigt weitgehend einig. Wir sollten zu guten Ergebnissen
kommen. Ich bin sehr gespannt, was die Bundesregierung sagt. Herr Staatssekretär Dr. Pick, ich freue mich,
daß Sie als Zivilrechtsprofessor jetzt etwas zu einem besonders interessanten Rechtsgebiet, nämlich dem Strafrecht, sagen können. Ich freue mich schon auf Ihre Ausführungen. Wir sind in der Vergangenheit vom Bundesjustizministerium in diesen Fragen immer gut unterstützt worden. Ich hoffe, daß das auch jetzt der Fall ist.
Wir sollten eine breite Diskussion führen, nicht verengt
auf Ihren Vorschlag.
Herzlichen Dank.
({4})
Als
nächster Redner hat der Kollege Volker Beck von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum zweiten
Mal heute diskutieren wir über einen Gesetzentwurf,
von dem ich sagen würde: Da hat die CDU/CSU rechtspolitisch mit Schrot geschossen, hat sie es an der notwendigen Präzision und Ausgewogenheit fehlen lassen.
({0})
Mit diesem Gesetzentwurf zur Ausweitung des kleinen Lauschangriffs verfährt die Union nach ihrem gewohnten kriminalpolitischen Muster: Es werden Kriminalitätsängste der Bevölkerung aufgegriffen und Handlungskompetenz vorgetäuscht, indem die weitere Ausweitung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsinstrumentariums gefordert wird.
Dies geschieht ungeachtet der Tatsache, daß bereits
unter der alten Bundesregierung vereinbart wurde, das
Instrument der Telefonüberwachung insgesamt mit dem
Ziel zu überprüfen, die hohe Zahl der Telefonüberwachungen - Sie haben es angesprochen, Herr Kollege van
Essen - deutlich zu reduzieren. Wir haben auf Grund eines Antrages von CDU/CSU, F.D.P. und SPD am
1. Oktober 1997 einen Beschluß gefaßt, in dem wir die
Länder aufgefordert haben, uns im einzelnen zu berichten und Vorschläge zur Verbesserung des Verfahrens
der richterlichen Anordnung zu machen.
Auf dieser Grundlage soll künftig die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag jährlich einen Bericht
vorlegen. Diesen wollen wir dann wirklich zur Grundlage machen, um zu überprüfen, inwieweit der Deliktskatalog eingeschränkt werden kann oder gegebenenfalls
auch in Einzelpunkten eine Erweiterung erforderlich ist.
Der Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt
hat für Bündnis 90/Die Grünen immer eine hohe Priorität gehabt. Wir haben in den vergangenen Jahren oftmals
Initiativen angestoßen, die auch zu einer Verbesserung
des strafrechtlichen Schutzes in diesem Bereich geführt
haben.
Wir sind auch sehr daran interessiert, alles Rechtsstaatliche zu tun, um hier zur Aufklärung von Straftaten
zu kommen. Aber ich sehe es genauso wie Sie, Herr
Kollege van Essen: Ich glaube, wenn man vom Deliktscharakter und von den Tatumständen ausgeht, sollte man
sich von der Telefonüberwachung auf jeden Fall keine
kriminalistischen Wunder erwarten. Ich habe große
Zweifel, daß wir mit diesem Mittel wirklich vorankommen. Wenn sich gleichwohl für einzelne Bereiche eine
Verbesserung im Hinblick auf die Ermittlungsmethoden
ergeben sollte und dies auch begründet ist, sind wir bereit, darüber zu reden.
Wenn man hier aber den sexuellen Mißbrauch von
Kindern hineinnimmt, dann frage ich Sie von der Union:
Warum lassen Sie den Deliktsbereich der Vergewaltigung außen vor? Das macht für mich aus sich heraus
keinen Sinn. Sie, Herr Geis, haben von Sexualdelikten
gesprochen. Sie haben nur die §§ 176 bis 176 b des
Strafgesetzbuches in den Gesetzentwurf aufgenommen.
Das scheint mir einfach nicht ausgewogen und deshalb
auch als Grundlage für die Diskussion untauglich zu
sein.
Auch am Beispiel der Korruption wird der populistische Charakter des neuerlichen Vorstoßes der Union
deutlich. Während Sie sich jahrelang geweigert haben,
das von der Fachwelt und von uns immer wieder geforderte bundesweite Korruptionsregister einzuführen,
nehmen Sie nun die Bekämpfung der Korruption als
Vorwand für Ihr Lieblingskind, nämlich den Lauschangriff auszuweiten.
Unsere Koalition hat diesbezüglich bei der Steuerreform gehandelt. Wir sorgen dafür, daß die steuerliche
Absetzbarkeit von im Rahmen der Korruption im Ausland gezahlten Geldern endlich abgeschafft wird. Ich
denke, das ist ein wichtiger Erfolg und zeigt, daß wir
hier rechtspolitisch anders als die alte Koalition herangehen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Aber gerne doch.
Herr Kollege Geis,
bitte.
Herr Beck, ist Ihnen bekannt, daß der Bundesrat in seinem Gesetzentwurf aus
dem Jahre 1995 zur Korruptionsbekämpfung und zur
Bekämpfung der Bestechung und der schweren Bestechung vorgeschlagen hat, dafür die Telefonüberwachung
einzubeziehen? Würden Sie sagen, dies sei leichtfertig,
wenn mehrere Justizministerien der Länder auf Grund
ihrer praktischen Erfahrung der Meinung sind, dies müsse so sein?
Herr Kollege, hätten Sie mir Zeit gelassen, meine Rede
fortzuführen, dann hätten Sie erfahren, daß ich durchaus
bereit bin, hierüber in der Sache zu reden. Bloß ist die
Telefonüberwachung sicher nicht das einzige und schon
gar nicht das tauglichste aller denkbaren Mittel, um die
Korruption zu bekämpfen. Hier gehören andere Instrumentarien dazu. Diese haben Sie vernachlässigt.
Wir müssen bei der Korruption darüber reden, ob wir
durch die Telefonüberwachung Fortschritte bei der
Strafverfolgung erzielen können. Wenn sich das bestätigen läßt - dafür gibt es Anzeichen und Argumente -,
dann sind wir bereit, darüber in der Sache zu reden und
nachzudenken.
Für uns stellen sich die Grundfragen zur Kriminalpolitik aber andersherum als bei Ihnen. Wir wollen fragen: Welches sind die am besten geeigneten Mittel zur
Bekämpfung bestimmter Kriminalitätsformen? Welche
Nebenwirkungen haben diese Instrumente für die Bürgerrechte? Auf Grund dieser Fragen werden wir dann
entscheiden, welche Maßnahmen wir gemeinsam in der
Koalition ergreifen.
Die neue Regierung hat die Gelegenheit, eine rationale Kriminalpolitik durchzusetzen, so wie wir sie immer gefordert haben. Diese Gelegenheit wollen wir erVolker Beck ({0})
greifen; dabei werden wir aber das Pferd nicht mehr
vom Schwanz aufzäumen, wie Sie das jahrelang gemacht haben. Bündnis 90/Die Grünen drängen seit langem auf eine Überprüfung der Vorschriften zur Telefonüberwachung.
({1})
Die Bundesrepublik ist Weltmeister bei der Überwachung von Telefongesprächen. Im Jahre 1997 gab es
nach Angaben der damals von Ihnen gestellten Bundesregierung 7 356 richterliche und 420 staatsanwaltschaftliche Anordnungen zur Überwachung des Fernmeldeverkehrs; dies war eine Steigerung von 50 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Ich denke, diese Tendenz ist
schlichtweg erklärungsbedürftig; dieser Sache müssen
wir auf den Grund gehen.
Dabei sollte man sich immer wieder bewußtmachen:
Bei den Personen, deren Telefone abgehört werden,
handelt es sich nicht um überführte Verbrecher, sondern
eben um Verdächtige und deren Gesprächspartner. Bei
mehr als 70 Delikten höchst unterschiedlichen Gewichts
räumt das Gesetz die Befugnis zur Anordnung einer
Überwachungsmaßnahme ein; hierzu zählen neben
Straftaten wie Mord und schwerem Menschenhandel
auch Taten wie die Anstiftung zur Fahnenflucht oder
Straftaten gegen die Sicherheit der im Lande Berlin anwesenden Truppen der drei Mächte. Das ist totes Recht;
das kann man streichen. Das zeigt, daß man sich den
Katalog auch einmal anschauen muß, um herauszufinden, was überflüssig ist oder was sich schlichtweg durch
die Geschichte erledigt hat.
Die genehmigenden Richter verfügen über keine
eigenen Erkenntnisse über den zu Überwachenden und
sind deshalb auf Treu und Glauben auf die Angaben der
Ermittlungsbehörden angewiesen, wenn sie die Notwendigkeit der Telefonüberwachung bejahen sollen. Deshalb ist die richterliche Ablehnung einer beantragten
Telefonüberwachung heutzutage fast schon eine Rarität.
Darüber hinaus werden die Richter noch nicht einmal
über Erfolg oder Mißerfolg der Abhöraktion unterrichtet. Ein detailliertes Berichtssystem, wie wir es etwa in
den USA kennen, existiert in der Bundesrepublik nicht.
Für problematisch hält meine Fraktion auch die derzeit mögliche Dauer der Überwachungsmaßnahmen.
Die Überwachung kann für die Dauer von drei Monaten
angeordnet werden - mit der Möglichkeit jeweils dreimonatiger Verlängerung. Eine Begrenzung dieser
Überwachungsdauer wollen wir überprüfen.
Wird die Überwachung durch die Staatsanwaltschaften angeordnet, kann die richterliche Genehmigung bis
zu drei Tagen auf sich warten lassen. Auch hier möchten
wir über eine zeitliche Eingrenzung diskutieren.
Für befremdlich halten wir ferner, daß Anordnungen
gegenüber Berufsgeheimnisträgern möglich sind. Die
ehemalige Bundesregierung mußte in ihrer Antwort auf
die Große Anfrage unserer Fraktion einräumen, daß in
den vergangenen Jahren mehrfach der Fernmeldeverkehr
von Berufsgeheimnisträgern überwacht worden sei.
Hiervon waren auch Abgeordnete der Landtage von Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hamburg betroffen. Wir haben hier bei der Grundgesetzänderung im
Zusammenhang mit dem Lauschangriff eine andere
Grundentscheidung getroffen.
Die Koalition wird sich der Aufgabe der sorgfältigen
Überprüfung der Telefonüberwachung annehmen. Im
Rahmen dieser Prüfungen werden wir Streichungen und
Erweiterungen des Straftatenkatalogs diskutieren. Dann
werden wir auch eine politische Entscheidung zur Aufnahme des Kindesmißbrauchs sowie der Korruptionsdelikte fällen.
({2})
Rein populistisch begründete Ausweitungen der Ermittlungsbefugnisse hat meine Fraktion bereits in der Opposition abgelehnt; diese Haltung wollen wir auch in der
Regierung beibehalten. Deshalb hat Ihr Entwurf keine
Chance auf eine parlamentarische Mehrheit.
({3})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Sabine Jünger, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! In der Debatte über den sogenannten großen Lauschangriff hat der Gutachter Dr. Gössner
auf den Widersinn hingewiesen, daß für Delikte, für die
bislang nicht einmal eine Telefonüberwachung vorgesehen ist, die akustische Überwachung von Wohnungen
eingeführt wird. Der vorliegende Gesetzentwurf der
CDU/CSU macht es nun umgekehrt: Weil es nach der
Einführung des großen Lauschangriffs mittlerweile legal
ist, bei Verdacht auf Sexualstraftaten oder Korruptionsdelikte Wohnungen abzuhören, müsse auch das - wie es
heißt - „mildere Mittel“ der Telefonüberwachung gestattet sein.
Das ähnelt einer Spirale, wie wir sie seit einer Reihe
von Jahren kennen: Eine neue Regelung, die - vorgeblich staatssichernd - Bürgerrechte einschränkt, schafft
die Ausgangsbasis, um weitere Eingriffe in Bürgerrechte
zu verlangen. Heute sind es weitgehende Beschränkungen des Fernmeldegeheimnisses durch § 100 a der
Strafprozeßordnung. Morgen wird es möglicherweise
die Forderung nach einem Spähangriff sein.
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU verdeutlicht - um
mit Winfried Hassemer zu sprechen - die Misere der
Kantherschen Law-and-order-Hinterlassenschaft. Es ist
meiner Ansicht nach an der Zeit, diese Spirale zu stoppen und nicht auch in diesem Bereich auf die vielbeschworene Kontinuität zu setzen.
Die bisherige Politik des angeblich notwendigen Tausches von Freiheit gegen Sicherheit muß hinterfragt
werden. Wir brauchen hier im Parlament und auch in der
Öffentlichkeit eine Debatte um eine sinnvollere und
Volker Beck ({0})
wirksamere Kriminalpolitik. Wir sollten der Frage nach
der Spezifik und den Ursachen der Kriminalität in ihren
verschiedenen Erscheinungsformen nachgehen. Dabei
werden wir nicht an gesellschaftlichen Entwicklungen
vorbeikommen, die in der Kriminalität ihren Ausdruck
finden. Zu diesen Entwicklungen hat gerade die
CDU/CSU in ihrer Rolle als Regierungsfraktion nicht
unwesentlich beigetragen.
Im Rahmen einer solchen Debatte wäre es sicherlich
erforderlich, über Eckpunkte eines erfolgreichen Kampfes gegen Sexualstraftaten und gegen die sogenannte organisierte Kriminalität zu sprechen. Allerdings sollten
wir auch die Wirtschafts-, die Umwelt- und die Massenkriminalität stärker thematisieren. Immerhin liegt der
Schaden allein durch Steuerhinterziehung mit 100
Milliarden DM jährlich deutlich höher als der Schaden
durch die sogenannte organisierte Kriminalität.
Die bisherige Politik hat in der Eindämmung der
Kriminalität primär auf strafrechtliche und strafverfahrensrechtliche Mittel gesetzt. Das hat sich weitgehend
als untauglich erwiesen. Wozu also sind die Bürgerrechte eingeschränkt worden?
Die Bundesrepublik Deutschland ist im internationalen Vergleich längst einsame Spitze im Abhören von
Telefongesprächen. Dabei fehlt nach wie vor eine Analyse der kriminalpolitischen Wirksamkeit von Einschränkungen des Fernmeldegeheimnisses. Es geht nicht
nur um die Strafprozeßordnung. Es geht auch um das
Außenwirtschaftsgesetz, um das Abhörgesetz nach Art.
10 GG, um das Telekommunikationsgesetz und um das
Fernmeldeüberwachungsgesetz. Letzteres gestattet zumindest nach der Rechtsprechung des BGH - mittlerweile sogar die Meldung sogenannter Funkzellen und
ermöglicht damit die Erstellung von Bewegungsprofilen.
Die davon betroffenen Personen sind in ihrer übergroßen
Mehrheit nicht etwa Gangster, sondern Verdächtige und
auch gesetzestreue Bürgerinnen und Bürger.
Wir kennen mittlerweile das Ergebnis der computergesteuerten elektronischen Rasterfahndung aller Auslandsgespräche, die im April 1996 legalisiert wurde.
Die geradezu gigantische Abhöraktion von täglich zirka
8 Millionen Gesprächen hat in den vergangenen zwei
Jahren nichts als Wortmüll gebracht.
Die „Süddeutsche Zeitung“ vom 18. August 1998
schrieb dazu wörtlich:
Bei dem ganzen großen Lauschangriff kam kein
einziger für die Polizei interessanter Tip heraus.
Eine grundrechtsorientierte Kritik der Kriminalpolitik
der letzten Jahre muß deutlich machen, daß Grundrechte
nicht schlechthin lästige Hindernisse effektiver Polizeiarbeit sind. Obrigkeitsstaatliche Eingriffe in Grundrechte sind sowohl unter dem Gesichtspunkt ihrer kriminalpolitischen Wirkung zu analysieren als auch unter
dem Aspekt der Vermeidbarkeit.
Dabei kommen wir auch nicht umhin - die Kollegen
van Essen und Beck haben es bereits angesprochen -,
über eine Entrümpelung des § 100 a der Strafprozeßordnung und über eine bessere rechtsstaatliche Kontrolle zu
sprechen. Vor allem im Kampf gegen die Korruption
benötigen wir, wenn er erfolgreich sein soll, eine konsequente Ahndung von Straftaten und bessere Präventionsmittel. Dazu gehören für mich zwingend die Schaffung transparenter Strukturen und Abläufe in der Staatsverwaltung sowie ein verfassungsmäßiges Recht auf
Akteneinsicht.
Wir brauchen also mehr Rechte für Bürgerinnen und
Bürger und nicht noch weitere Einschnitte in ihre Rechte. Ich bin der Meinung, daß die Korruption damit besser
bekämpft werden kann als mit der bisherigen Politik der
isolierten strafverfahrensrechtlichen Aufrüstung.
Der CDU/CSU-Entwurf ist aus unserer Sicht kontraproduktiv. Er ist ein Beispiel für altes kriminalistisches
Denken, ein falsches Signal und ein untauglicher und
gefährlicher Weg, der insgesamt einer Korrektur bedarf,
ein Weg, dem wir unsere Zustimmung nicht geben werden.
({1})
Frau Kollegin Jünger, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag.
Ich gratuliere Ihnen im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Alfred Hartenbach, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Kollege
Geis, angesichts Ihrer Erregtheit soeben ändere ich den
Text des ersten Blattes meiner Rede
({0})
- doch, Herr Geis -, weil es mir wirklich auf Sachlichkeit ankommt. Ein, zwei kleine Spitzen werde ich bringen. Ansonsten ist für mich das sachliche Argument
wichtiger.
Wir sind über das, was Sie mit dem vorgeschlagenen
§ 100a StPO gebracht haben, einigermaßen enttäuscht.
Wenn man so etwas macht, wozu man in der Regierungsverantwortung lange genug Zeit hatte, an dem man
vom kleineren Koalitionspartner in der 13. Legislaturperiode möglicherweise gehindert wurde und bei dem das
damalige Justizministerium uns die Tatsachen nicht lieferte, sollte man zumindest dann, wenn man aus der Opposition heraus einen solchen Antrag stellt, nicht den
Eindruck erwecken, als ob man ihn angesichts eines für
die Union sehr bedeutenden Landtagswahlkampfes in
die Debatte bringe, um in den schon angeheizten Diskussionen zur Ausländerpolitik zwei Themen herauszugreifen, nämlich den Kindesmißbrauch und die Korruption, von denen man weiß, daß man damit an den
Stammtischen Pluspunkte sammelt.
Dafür sollten Sie sich eigentlich, verehrter Herr Kollege Geis, zu schade sein.
({1})
Ich will, damit Sie mir ab sofort in Ruhe zuhören
können, für meine Fraktion sozusagen vor der Klammer
erklären: Wir wollen die Korruption vor allem in den
Amtsstuben mit aller Ernsthaftigkeit und gewissenhaft
verfolgen und ausmerzen. Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, dem sexuellen Mißbrauch von Kindern durch konsequente Aufklärung der Taten und Ermittlung der Täter entgegenzuwirken. Wir wissen, daß
sich die Korruption in aller Regel in der Stille, ohne Opfer und damit ohne wirkliche Zeugen ereignet, sich nur
unter Tätern abspielt. Deshalb bedarf es eines wirksamen Mittels zur Erlangung von aussagekräftigen Beweismitteln.
Bei der Ermittlung von Kindesmißbrauch sind wir
allerdings der Ansicht, daß weniger die Kontrolle des
gesprochenen Wortes, sondern vielfach die Kontrolle im
Internet die Möglichkeit der Aufklärung bringen wird.
({2})
Bei allem aber müssen wir zuvörderst bedenken, daß
es sich bei den Maßnahmen der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs um einen Eingriff in Grundrechte handelt, und zwar um einen sehr heftigen und
sehr tiefgehenden Eingriff. Dieser Eingriff ist schon
dann zulässig, wenn bestimmte einfache Tatsachen den
Verdacht begründen, eine der Katalogstraftaten komme
in Betracht. Es genügt also ein einfacher Verdacht; ein
hinreichender Verdacht wie bei der Anklageerhebung
oder gar ein dringender wie beim Haftbefehl ist nicht
Voraussetzung. Um so genauer müssen wir daher prüfen, ob und in welchen Fällen eine Abhörmaßnahme, also ein Eingriff in Grundrechte, den Professor Meyer an
Hand des Telefonierens sehr plastisch geschildert hat,
erfolgen darf, welche Voraussetzungen wir wollen und
wie hoch wir die Meßlatte legen.
In der vergangenen Legislaturperiode herrschte doch
große Übereinstimmung in der Beurteilung, daß in
Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern die Anzahl von Überwachungsmaßnahmen überproportional
groß sei. Zahlen aus dem Jahr 1997, die mir bekannt
sind, bestätigen dies. Sie gehen weit über das hinaus,
was Professor Meyer noch für 1995 angegeben hat. Es
geht um nahezu 8 000 Maßnahmen. Wir müssen daher,
bevor wir den Katalog erweitern, prüfen, ob wir die
Voraussetzungen enger, korrekter fassen können; wir
müssen prüfen, ob und wie weit wir den Grad des Verdachts verschärfen, ob er nicht eine Stufe höher sein
muß, vielleicht ein hinreichender Verdacht oder ein
dringender Verdacht.
Wir werden aber auch die Frage stellen müssen, ob
wir der Staatsanwaltschaft - das haben meine Vorredner
Herr van Essen und Herr Beck schon gesagt - drei Tage
Zeit lassen, die richterliche Genehmigung ihrer Anordnung einzuholen. Wir werden in der Beratung darauf
dringen müssen, den alten, bestehenden Katalog regelrecht zu entrümpeln.
In diesem Zusammenhang hat Herr Beck das Beispiel
gebracht, das auch ich gerne gebracht hätte - manchmal
denkt man, man hat die Jungfräulichkeit gepachtet -,
nämlich den immer noch vorhandenen Tatbestand der
Straftaten gegen die Sicherheit der im Lande Berlin anwesenden Truppen der drei Mächte. Die Union hätte Herr Geis, hören Sie mir gut zu, denn wer seriös arbeitet, sollte das tun - in ihrer Regierungszeit schon einmal
auf eine Entrümpelung dieses Katalogs achten können.
Sie hatte acht Jahre Zeit dazu.
({3})
Deswegen, verehrter Herr Geis, glaube ich, daß es
schon ein bißchen Effekthascherei ist.
Sie haben auch in einem weiteren Punkt unsauber gearbeitet. So wollen Sie zum Beispiel, daß die Beamtenkorruption nach § 332 und § 334 StGB in den Katalog
aufgenommen wird. Mit dem gleichen Strafrahmen, mit
dem gleichen Strafmaß ist auch die Richterbestechung
bedacht. Warum nehmen Sie die nicht auf? Für mich ist
die Richterbestechung genauso verwerflich wie das korrupte Verhalten eines anderen Staatsdieners.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Natürlich, Herrn Geis
gestatte ich sie immer.
Herr Kollege Hartenbach, können Sie zur Kenntnis nehmen, daß Sie am
26. September 1996, als wir das Gesetz zur Korruption
eingebracht haben, in Ihrer Rede hier im Bundestag,
nachzulesen im Protokoll, wörtlich erklärt haben:
Wir wollen, daß in besonders schweren Fällen der
Post- und Telefonverkehr überwacht werden darf
und Aufzeichnungen möglich sein dürfen.
Das wollen mir mit unserem Gesetzentwurf. Ich
stimme mit Ihnen überein, Herr Hartenbach, daß § 100 a
StPO vielleicht durchforstet werden muß. Meine Frage
an Sie ist: Muß das unbedingt jetzt bei diesem Gesetzentwurf sein? Kann man sich das nicht für längere Zeit
vornehmen? Ist es nicht richtig, übereinstimmend über
die Parteigrenzen hinweg wichtige Maßnahmen trotzdem sofort zu treffen?
Herr Geis, ich glaube,
ich habe Ihnen einmal bei einer anderen Gesetzesberatung - es ging um die Frage der Hauptverhandlungshaft
- gesagt: Schnelles Recht ist nicht immer gutes Recht.
Dazu stehe ich auch heute noch. Wenn wir derart tiefgehende Grundrechtseingriffe vornehmen, dann müssen
Sie folgendes bedenken - ich wollte das in meiner Rede
eigentlich gar nicht so weit ausführen, aber da Sie mir
zuhören, geben Sie mir Gelegenheit, jetzt ein paar Takte
dazu zu sagen -: Die Korruption, die wir bekämpfen
wollen, findet in Amtsstuben statt. Das heißt, es wird
über öffentliche Telefonleitungen telefoniert, denn die
Täter telefonieren selten mit ihrem Handy; warum auch,
das wäre ja Quatsch. Sie telefonieren auf der Telefonleitung der Stadt.
Nun ruft zum Beispiel Norbert Geis in Aschaffenburg
bei seinem Stadtkämmerer an und versucht, mit ihm
darüber zu verhandeln, die Grundsteuer zu ermäßigen,
weil man sie möglicherweise zu hoch angesetzt habe.
Dieser Stadtkämmerer - natürlich nicht der aus Aschaffenburg, sondern aus der Stadt X; sonst wird mir der
Stadtkämmerer aus Aschaffenburg noch böse - steht
unter Korruptionsverdacht, und die Polizei hört dieses
Gespräch mit. Was würde das für ein Bild auf den von
mir sehr geschätzten Abgeordneten Norbert Geis werfen?
Deswegen, Herr Geis, sage ich eines: Die schwere
Korruption wollen und müssen wir bekämpfen. Wir
werden dies tun und werden eine Lösung finden. Ich bin
aber der Meinung, daß wir das nicht im Schnellschuß
tun dürfen. Herr Geis, es hat Jahre gedauert. Nun haben
wir Vorstellungen und Vorschläge, wie wir dieses regeln
wollen.
Nun hören Sie mir nun noch eine Minute und dreißig
Sekunden zu, dann wissen Sie auch, wie es weitergeht.
Ich war bei den Richtern stehengeblieben; auch diese
gehören mit in den Katalog.
Ich habe noch einen Punkt: Warum muß die Anstiftung zur Fahnenflucht mit der Telefonüberwachung
bedacht werden? Wir haben hier eine völlig geänderte
Sicherheitslage.
Wir wissen doch auch - das konnte man beobachten -: Jedesmal, wenn wir eine Maßnahme zusätzlich in
den Katalog aufgenommen haben, ist die Zahl der
Überwachungsmaßnahmen gestiegen. Da drängt sich
schon der Verdacht auf, daß die Erhöhung der Zahl von
Katalogtaten zu einer verstärkten Überwachung führt.
Das kann und darf nicht unser Ziel sein. Ich erinnere
daran: So wichtig die Aufklärung von Korruption und so
dringend geboten der Schutz von Kindern vor sexuellem
Mißbrauch und vor Ausbeutung ist, wir dürfen nicht um
irgendwelcher momentaner vermeintlicher oder tatsächlicher politischer Vorteile willen die Grundrechte des
allgemeinen Persönlichkeitsrechts und des Fernmeldegeheimnisses aufs Spiel setzen. Ich möchte nicht, daß
wir Verhältnisse bekommen, wie ich sie kürzlich in einem Film mit Gene Hackman und Will Smith gesehen
habe. Den sollten Sie sich, Herr Geis, einmal anschauen,
dann würden Sie nicht mehr ruhig schlafen.
({0})
- Hören Sie doch erst einmal zu! - Es wäre für uns alle
hilfreich, wenn wir auf wissenschaftlicher Grundlage erforschen könnten, welche Taten bisher Grundlage für
eine Telefonüberwachung waren, welcher Schweregrad
des Vorwurfs zugrunde lag, wie stark die Verdachtsgründe waren
({1})
und welche Ergebnisse bezüglich Einstellung, Anklage
oder auch Verurteilung dabei herausgekommen sind.
Wir müssen doch wissen: Immer wenn es eine Einstellung gegeben hat, dann hat die Ermittlungsbehörde bei
einem Unschuldigen abgehört. Wenn wir das wissen,
dann können wir, so glaube ich, auf einer vernünftigen
Basis den Katalog erweitern, beschränken und neu fassen.
Ich biete Ihnen an, eine faire Verhandlung und Beratung zu führen. Das Justizministerium und die Bundesregierung bitten wir, sich diesem von mir zuletzt geäußerten Vorschlag anzuschließen und uns in den Beratungen mitzuhelfen, hier auf wissenschaftlicher Grundlage
zu einer vernünftigen Lösung zu kommen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat jetzt
der Kollege Volker Kauder, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Meyer, ich
möchte mich in meiner ersten Rede, die ich in diesem
Hause zur Rechtspolitik halte, gleich an Sie wenden.
Wir wissen, daß Sie mit Rotgrün die Mehrheit in diesem
Deutschen Bundestag haben und deshalb aufgerufen
sind, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Aber
Sie können nicht ein Gesprächsangebot an die Opposition richten und zugleich - auch durch das Verhalten der
Frau Justizministerin heute morgen - deutlich machen,
daß Ihnen dieses Gesprächsangebot völlig wurschtegal
ist. Das ist nicht in Ordnung.
({0})
Gerade in der Rechtspolitik, in der der Grundsatz des
fairen Umgangs im Prozeß und in der juristischen Auseinandersetzung ein besonderes Mittel ist, sollten Sie
dies auch bei solchen Sachverhalten berücksichtigen.
Machen Sie uns ein Gesprächsangebot - wir stellen uns
darauf sofort ein -, dann nehmen wir dieses an und sprechen miteinander. Aber wir sind nicht bereit, ein Gesprächsangebot anzunehmen, das nur dazu dienen soll,
uns als Opposition nicht ernst zu nehmen. Das ist heute
morgen so nicht geschehen. Deswegen sage ich ja zu einem Gesprächsangebot, aber nicht einfach nach dem
Motto: Just for fun beschäftigen wir die Opposition. Da
haben wir doch etwas anderes zu tun.
({1})
Nun zu Ihnen, Herr Hartenbach. Sie sollten bei einem
solchen wichtigen Anliegen, das im übrigen von Ihnen
und auch von Herrn Beck von den Grünen in der Substanz überhaupt nicht bestritten worden ist, nicht solche
Sätze formulieren wie den, es ginge uns darum, an den
Stammtischen Punkte vor einer Wahl zu sammeln. Dies
ist dem Thema nicht angemessen.
Im übrigen kann ich dazu nur sagen, Herr Hartenbach: Wenn ich mich an das erinnere, was der damalige
Kandidat und heutige Bundeskanzler Gerhard Schröder
vor der Bundestagswahl an Stammtischparolen auch im
Bereich der Rechtspolitik zugelassen hat, dann stelle ich
fest, daß das, was wir hier fordern, geradezu harmlos ist.
Dazu kann ich nur sagen: Fassen Sie sich einmal an Ihre
eigene Nase, fangen Sie nicht mit Kritik in diesem Bereich an!
({2})
Nun zu Ihnen, Herr Beck. Sie haben gesagt: Wir werden dieses Thema prüfen. - Dies ist in Ordnung. Ich
stelle mich auch auf diese Prüfung ein. Der Vorschlag,
der hier von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgelegt wird, ist richtig und berechtigt.
Die Korruption - um es einmal mit diesem Globalbegriff zu sagen - ist kein Einzeldelikt mehr, das irgendwann einmal vorkommt, sondern sie hat - das wissen
Sie nicht nur aus Fachzeitschriften, sondern inzwischen
auch aus Boulevardzeitungen und Magazinen - immer
stärker um sich gegriffen. Baden-württembergische
Zahlen, über die ich verfüge, zeigen eine enorme Vervielfachung der Ermittlungen im Bereich der Korruption. Dabei will ich gleich hinzufügen, daß ich nicht der
Meinung bin, daß wir jetzt von einem Land sprechen
können, in dem der öffentliche Dienst insgesamt korrupt
ist. Es sind Einzelerscheinungen; der große Teil der Beamten nimmt seine Aufgaben korrekt wahr. Trotzdem
nimmt dieses Delikt zu, im übrigen auch in der Wirtschaft.
Nun muß man überlegen, wie man gegen dieses Delikt vorgeht, das immer stärker um sich greift. Wenn ich
keine neuen Instrumente einsetzen will, muß ich prüfen,
welches der vorhandenen Instrumente am besten geeignet ist, gerade diesen Kriminalitätsbereich aufzuklären.
Da müssen Sie in die Praxis hineinschauen; hier geht es
gar nicht um Politik. Die Ermittlungspraktiker - Staatsanwälte, Polizeibeamte - sagen, bei einem Verbrechen,
bei dem es in hohem Maße konspirativ zugeht, indem
zwei ein Verbrechen verabreden, bei dem es kein Opfer
gibt und bei dem es wenige Zeugen gibt, sei die Kontrolle dessen, was verabredet worden ist, wichtig, und
dazu eigne sich in besonderer Weise die Telefonüberwachung.
Da Sie die Telefonüberwachung überhaupt nicht
ablehnen - wir brauchen hier ja gar keine Diskussion
über Moral zu führen; auch Sie sagen, Telefonüberwachung sei zulässig -, ist jetzt nur noch zu prüfen, ob dieses Mittel in diesem ganz konkreten Fall verhältnismäßig ist oder nicht. Bei dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung - Herr van Essen, ich respektiere Ihre Erfahrungen
aus der Praxis, die Sie als Oberstaatsanwalt haben müssen Sie dann aber nicht nur die besondere Art des
Deliktes und die Schwere der kriminellen Energie berücksichtigen, sondern Sie müssen auch berücksichtigen,
wie sich das Delikt in der Summe entwickelt. Bei der
Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Telefonüberwachung gibt es zwei Ansätze: einmal die Zahl der Delikte
und einmal die Schwere des Delikts. Die Schwere kann
gering sein, die Zahl hoch.
({3})
- Ich lasse keine Zwischenfrage zu.
Wir sind uns auch darüber einig, daß Korruption,
wenn sie als Einzeldelikt aufkommt, zwar durchaus problematisch ist, aber daß für die Staatsgrundlagen und für
das Vertrauen der Bürger in den Staat und auch untereinander die Häufigkeit eine ganz entscheidende Rolle
spielt. So kann ein Delikt, das vielleicht in den Augen
mancher als gar nicht so schwerwiegend erscheint,
durch die Häufung in der letzten Zeit zu einem sehr
schwerwiegenden Angriff auf die Grundlagen unseres
Staates werden. Deswegen ist die Telefonüberwachung
hier schon angebracht.
Lassen Sie mich noch auf das zurückkommen, was
vom Kollegen Geis zur Überwachung des Wohnraumes
sowie dazu gesagt worden ist, daß es sich bei der Telefonüberwachung um das geringere Instrument handele.
Herr Meyer, natürlich kann bei der Überwachung auch
jemand, der unbeteiligt ist, betroffen sein.
({4})
- Es können sich ja durchaus zwei Verdächtige zusammenfinden; sonst gäbe es keine Verurteilungen, und wir
könnten den Tatbestand streichen.
Das weiß ich sehr wohl, und deswegen wäge ich auch
ab und sage: Es muß die Schwere der Tat und die Häufigkeit von Taten berücksichtigt werden. Aber tun wir
bitte nicht so, als betreffe die Abhörung des Telefons in
einem größeren Umfang Fremde oder Unbeteiligte als
die Überwachung der Wohnung. Ich gehe einmal davon
aus, daß derjenige, der abgehört wird, ab und zu Besuch
hat und daß auch Besucher dabeisein werden, die nicht
alle tatverdächtig sind.
Deren Gespräche werden ebenfalls abgehört.
({5})
Da kann man also nicht damit argumentieren, bei der
Überwachung von Wohnraum seien weniger Leute als
bei der Überwachung des Telefons betroffen. Jeder, der
zu Unrecht betroffen ist, ist eben zu Unrecht betroffen.
Deswegen auch der Abwägungsvorgang!
Dann ist der Kollege Geis auf den Kreisdezernenten
und Kreiskämmerer angesprochen worden. Dazu kann
ich nur sagen, daß wir ein bißchen mehr Vertrauen in die
Polizei haben sollten - dort handelt es sich auch um Beamte - und daß die Polizeibeamten mit dem, was sie abhören, sorgfältig genug umgehen. Wir wissen ja auch,
daß die Gesprächsprotokolle nicht auf dem offenen
Markt gehandelt werden. Viel häufiger wird etwas aus
geheimen und vertraulichen Sitzungen politischer Gremien an die Öffentlichkeit getragen. Insoweit habe ich
damit überhaupt kein Problem.
({6})
Lassen Sie mich noch einen letzten Satz zu dem äußern, was zur Kinderpornographie gesagt worden ist.
Herr Beck, ich spreche vor allem Sie und die Bündnisgrünen an. Nachdem ich über viele Jahre die Entwicklung der Kinderpornographie und dessen, was da alles
gemacht worden ist - Freigabe usw. -, verfolgt habe,
kann ich es schlecht ertragen, daß dann, wenn sich auf
einmal in der Masse bestimmte Probleme wie bei der
Kinderpornographie auftun, dicke Krokodilstränen verVolker Kauder
gossen werden, weil man nicht frühzeitig eingegriffen
hat.
Ich sage Ihnen: Die Vorbereitung von Kinderpornographie findet im Internet statt. Das Internet kann auch
durch Telefon überprüft werden. Deswegen ist es richtig, wenn wir auch in diesem Bereich die Telefonüberwachung einsetzen.
({7})
- Da ich Sie direkt angesprochen habe, will ich eine
Zwischenfrage zulassen.
Aber erst frage ich
Sie einmal, Herr Kollege: Sie lassen also eine Frage zu?
Jawohl.
Bitte sehr.
Vielen Dank für die Großzügigkeit. Vielleicht läßt sich
etwas klären.
Ich habe Ihre Ausführungen gerade etwas als Vorwurf an unsere Partei verstanden. Ich möchte das mit einer Frage klären: Ist Ihnen bekannt, daß Bündnis 90/Die
Grünen und früher die Grünen in Westdeutschland immer sehr energisch gefordert haben, Lücken beim strafrechtlichen Schutz von Kindern zu schließen, und daß es
lange Jahre gebraucht hat, bis wir zum Beispiel die damalige Regierungskoalition davon überzeugen konnten,
eine Verschärfung der Verjährungsfristen im Zusammenhang mit dem sexuellen Mißbrauch von Kindern
durchzusetzen? Ist Ihnen bekannt, daß unsere Partei in
der Behandlung dieses Themas eine lange Tradition hat?
Gerade die Frauenbewegung, die in unserer Partei sehr
stark vertreten ist, hat dies immer zum Thema gemacht.
Wären Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß das, was
Sie hier gerade geäußert haben, nicht als Vorwurf gegenüber Bündnis 90/Die Grünen formuliert werden
kann?
Herr Beck, ich habe
Sie nur angesprochen, weil Sie durch ein Gespräch abgelenkt waren und ich der Meinung war, daß Sie mir an
diesem Punkt zuhören sollten. Ich habe keinen Vorwurf
an Sie gerichtet. Aber vielleicht können wir bei einer
anderen Gelegenheit auch einmal über all das, was die
Bündnisgrünen zum Thema Sexualität, Pornographie
usw. und deren Bekämpfung formuliert haben, in einer
anderen Form sprechen.
Was ich gesagt habe, war kein Vorwurf, sondern nur
die Aufforderung, an dieses Thema - weil Sie es angesprochen haben - mit besonderer Sensibilität heranzugehen, nicht nur beim Vergießen von Tränen, wenn das
Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern auch schon
vorher, wenn es darum geht, das Problem zu bekämpfen. Das war mein Anliegen, das ich Ihnen mitteilen
wollte.
Ich freue mich nun auf die Diskussion in unserem
Ausschuß. Ich gehe davon aus, daß wir etwas erreichen
können. Sie haben ja gesagt, es sei Ihnen ein Anliegen.
Letztlich entscheiden Sie, was passiert. Das ist klar.
Aber wir werden nicht davon abgehen, Sie in den uns
wichtigen Fragen anzutreiben.
({0})
Herr Kollege, Sie
haben die Gelegenheit, eine Frage von Herrn Professor
Meyer zu beantworten.
Aber bitte.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Jetzt tut es mir leid,
daß ich eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele abgelehnt habe, nachdem es nun ständig weitere Zwischenfragen gibt. Aber so ist das.
Aber wir wollen zu
keinen weiteren Fragen ermuntern, weil das den Ablauf
sonst ein bißchen behindert.
Herr Kollege, da
Sie ein Kollege aus Baden-Württemberg sind, frage ich
Sie, ob Ihnen bekannt ist, daß der Landtag von BadenWürttemberg einen Untersuchungsausschuß zur Praxis
der Telefonüberwachungen eingesetzt hat, der vor einigen Jahren durch fraktionsübergreifende Bemühungen
eine Fülle von Erfahrungsmaterial zur Praxis der Telefonüberwachung erarbeitet hat. Stimmen Sie mir darin
zu, daß man dieses Material und auch die Vorschläge
zur Verbesserung rechtsstaatlicher Kontrolle gemeinsam
in einem ernsthaft angebotenen Gespräch prüfen sollte
und sich nicht darauf beschränken darf, nur den Deliktskatalog auf die eine oder andere Art zu verändern?
Herr Meyer, es ist mir
bekannt, daß ein solcher Ausschuß eingesetzt wurde und
daß man darüber diskutiert, warum die Anzahl der Telefonüberwachungen ausgedehnt wurde. Ich habe Herrn
van Essen schon ein Beispiel genannt. Wenn die Zahlen
zunehmen, dann wird das auch so sein.
Ich möchte jetzt einmal folgendes sagen: Dies ist ein
Thema. Auch Sie sind allerdings nicht auf die Idee gekommen, nachdem man einen solchen Ausschuß eingesetzt hat und überprüft hat, warum die Zahlen gestiegen
sind, die Telefonüberwachung grundsätzlich auszusetzen
und nicht mehr durchzuführen. Es geht doch ausschließlich darum, ob für diese Form des Delikts die Telefonüberwachung geeignet ist.
Ich habe heute noch mit einer Person aus der Praxis
telefoniert, die mir gesagt hat: Die einzige Enttäuschung
über das Gesetz zur Korruptionsbekämpfung war, daß
dieses spezifisch richtige Instrument bei dieser Deliktsart nicht eingesetzt worden ist. Daß das geschieht, wollen wir jetzt mit diesem Gesetzentwurf erreichen. Wenn
wir diesen Gesetzentwurf gemeinsam verabschieden und
die Telefonüberwachung einsetzen, dann entbindet uns
dies natürlich noch lange nicht, zu überprüfen, was mit
der Telefonüberwachung passiert. Grundsätzlich hat eine Überprüfung dessen, was bei der Telefonüberwachung passiert, nichts damit zu tun, daß man für bestimmte Deliktsarten eine Ausweitung will.
Ich kann nur sagen: Wer Bestechung und Korruption
wirklich bekämpfen will, kommt an diesem Mittel nicht
vorbei.
({0})
Nun erteile ich das
Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Eckhart
Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt als ausgesprochen sachlich, wenn auch
engagiert geführt, empfunden. Ich finde, Herr Geis, es
gehört zu den Aufgaben der Opposition, daß sie ihre
Ideen möglicherweise unter dem Gesichtspunkt, die Regierung zu treiben, in den Bundestag einbringt. Wir haben in dieser Frage langjährige Erfahrung. Wir haben Ihre Aufgabe genauso ernst zu nehmen, wie Sie sicherlich
auch uns ernst nehmen. Für uns sind Sie ein Gesprächspartner. Insofern sollten wir auf den Boden der Sachlichkeit zurückkehren. Ich habe das eben auch so empfunden.
({0})
Ich möchte betonen, daß die Bekämpfung des sexuellen Mißbrauchs von Kindern und die effektive strafrechtliche Verfolgung der Korruption auch für die
Bundesregierung Ziele von herausragender Bedeutung
darstellen. Die Bundesregierung wird deshalb intensiv
prüfen, ob über die im letzten Jahr erfolgten Strafverschärfungen im Bereich des materiellen Strafrechts hinaus weitere Verbesserungen des strafrechtlichen Ermittlungsinstrumentariums zur Bekämpfung dieser Kriminalitätsformen geeignet und erforderlich sind.
Der von der Opposition vorgelegte Gesetzentwurf zur
Erweiterung der Abhörmöglichkeiten ist aber - ganz
vorsichtig gesagt - noch nicht ausgereift. Der Vorschlag,
zumindest in bestimmten Fällen des Verdachtes des sexuellen Mißbrauchs von Kindern und der Verbreitung
pornographischer Schriften, die den sexuellen Mißbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, Maßnahmen der Telefonüberwachung zuzulassen, ist zwar erwägenswert. Dieser Vorschlag verkennt aber, daß für die
Frage, ob eine Tat in den Vortatenkatalog der Telefonüberwachung aufgenommen wird, nicht allein die Strafandrohung maßgeblich sein kann. Die Telefonüberwachung muß vielmehr nach kriminalistischer Erfahrung
für die jeweilige Art des Delikts auch einen Erkenntnisgewinn versprechen. Es kommt also, sehr geehrter Herr
Kollege, nicht nur auf die Zahl der Maßnahmen oder die
Strafandrohung an, sondern auch auf die Frage, ob dieses Mittel geeignet ist, einen Erkenntnisgewinn herbeizuführen.
({1})
Anders als bei Taten, die typischerweise durch einen
allein handelnden Täter begangen werden, dürfte dies im
Regelfall bei organisiertem, bandenmäßigen oder zumindest gemeinschaftlichen Vorgehen, der Fall sein.
Man muß daher - darum bitten wir - entsprechend differenzieren und kann nicht, wie die Opposition das macht,
pauschal Tatbestände zur Erweiterung der Abhörmöglichkeiten einführen.
Auch bei der Einbeziehung der Tatbestände der Bestechlichkeit und Bestechung, also im Amte begangener
Straftaten, muß sehr genau differenziert werden. Ich
könnte mir beispielsweise eine Einbeziehung von
schweren Korruptionsfällen im geschäftlichen Verkehr
durchaus vorstellen. Jedenfalls sollte man hier nicht das ist meine Bitte - alle Straftatbestände über einen
Kamm scheren.
Wir dürfen bei all dem einen Gesichtspunkt nicht aus
den Augen verlieren. Ich bin froh, daß dies auch bei
vielen meiner Vorredner nicht der Fall war. Bei der Telefonüberwachung handelt es sich um Ermittlungsmaßnahmen, die ganz besonders tief in Grundrechte eingreifen. Herr Kollege Meyer hat auf die jüngste Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom November letzten
Jahres hingewiesen, in dem der Bundesgerichtshof dieses in einem anderen Zusammenhang ganz deutlich zum
Ausdruck gebracht hat.
({2})
- Wir wissen, daß es in diesen Fällen den Lauschangriff
gibt. Es darf aber, Herr Geis, dieser Katalog des § 100 a
StPO nicht einfach automatisch erweitert werden, sondern ich bitte darum, daß wir uns die Tatbestände sehr
genau anschauen und insbesondere auch den Gesichtspunkt des Erkenntnisgewinns mit einbringen.
Wir müssen uns auch bewußt sein, daß die Anordnung einer Telefonüberwachung immer eine größere
Anzahl Bürger treffen kann. Es sind nicht nur die Beschuldigten, sondern auch die Kontaktpersonen oder die
sogenannten Nachrichtenmittler, wie man so schön sagt,
unmittelbar betroffen.
In den vergangenen Jahren wurde darüber hinaus der
Vortatenkatalog der Telefonüberwachung bereits um eine ganze Reihe weiterer Straftatbestände erweitert. Ich
erinnere Sie an das OrgKG und an das Verbrechensbekämpfungsgesetz. Wir haben zum größten Teil gemeinsam die entsprechenden Regelungen durchgesetzt. Es
gab also einen sehr weitgehenden Konsens.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß die Zahl
von Telefonüberwachungen - im übrigen auch aus unseVolker Kauder
rer Sicht - schon sehr hoch ist und eine steigende Tendenz aufweist. Dieser Umstand ist zu Recht in den vergangenen Jahren rechtspolitisch lebhaft und kritisch diskutiert worden. Herr van Essen hat sich in diesem Zusammenhang sehr bemüht.
Ich möchte jetzt nicht die einzelnen Zahlen bezüglich
der Abhörmaßnahmen für die Vorjahre nennen. Zum
Teil sind sie nicht ganz vergleichbar, weil heute in vielen Fällen ein Verdächtiger mehrere Telefonanschlüsse
besitzt. Insofern kann man die Zahlen nicht vergleichen.
Aber eines ist klar: Die unterschiedlichen Statistiken
weisen eindeutig eine steigende Tendenz auf. Vor diesem Hintergrund bedarf es nach Auffassung der Bundesregierung stets einer strengen Überprüfung, ob Katalogerweiterungen erforderlich sind.
Damit allein darf es aber nicht sein Bewenden haben.
Vor fast genau einem Jahr, im Januar 1998, hat der
Deutsche Bundestag im Zusammenhang mit den Beratungen zur akustischen Wohnraumüberwachung
- Herr Geis, Sie erinnern sich - eine Entschließung zur
Telefonüberwachung gefaßt, in der die Justizministerkonferenz unter anderem gebeten wurde, Vorschläge zur
Verbesserung des Verfahrens der richterlichen Anordnung vorzulegen. Hintergrund dafür war, wie auch bei
den zur akustischen Wohnraumüberwachung beschlossenen richterlichen Kompetenzen, verfahrenssichernde
Maßnahmen einzufügen. Der Eingriff in die Grundrechte, der mit einer solchen Ermittlungstätigkeit verbunden ist, muß auf das gebotene Maß beschränkt werden.
Im Zusammenhang mit den parlamentarischen Erörterungen hat der Deutsche Bundestag hierzu im letzten
Sommer auf eine Beschlußempfehlung des Innenausschusses hin seiner Erwartung Ausdruck gegeben, daß
die Bundesregierung verfahrenssichernde Maßnahmen
bei der Telefonüberwachung prüft und hierüber dem
Bundestag berichtet. Das entspricht Ihrer Anregung,
sehr geehrter Herr Hartenbach. Die Bundesregierung
wird entsprechend handeln. Sie nimmt diese Anregungen sehr ernst.
Die Bundesregierung wird deshalb die Ausschußberatungen zu dem vorgelegten Entwurf konstruktiv begleiten, aber auch in jedem Fall ihre Sicht einbringen,
um den berechtigten Forderungen nach verfahrenssichernden Maßnahmen in sachgerechtem Umfang Rechnung zu tragen. Es kann nicht sein, daß hohe und steigende Zahlen der Telefonüberwachung nur achselzukkend zur Kenntnis genommen werden, ohne nach Möglichkeiten für eine Begrenzung auf das Erforderliche zu
suchen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Ich schließe die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 14/162 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({0}), Dirk Fischer ({1}), Kurt-Dieter Grill, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Folgerungen aus der Havarie der „Pallas“ vor
Amrum
- Drucksache 14/160 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette
Faße, Ulrike Mehl, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Gila Altmann ({3}), Albert
Schmidt ({4}), Angelika Beer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN
Optimierung des Sicherheits- und Notfallkonzepts für Nord- und Ostsee
- Drucksache 14/281 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Wirtschaft und Technologie
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Tourismus
Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Wolfgang Börnsen, CDU/CSU.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum war
Helmut Schmidt bei der Flutkatastrophe 1962 so erfolgreich? Er hat nicht danach gefragt, ob das Wasser,
das Hamburg gefährlich überschwemmte, aus nationalen
oder internationalen Gewässern stammte, sondern er hat
gehandelt. Er faßte alle Dienststellen am Portepee, mobilisierte die Nachbarn Hamburgs, konzentrierte die
Kräfte und bündelte die Kompetenzen. Er entschied, er
führte.
In Kiel und an der Küste hat die Katastrophe der
„Pallas“ schonungslos ein schlimmes Defizit an Krisenkompetenz aufgedeckt. Gegen den verantwortlichen
grünen Umweltminister wurde Strafantrag gestellt. Ihm
wird die fahrlässige Gefährdung schutzbedürftiger Gebiete vorgeworfen. Er habe bei sachgerechten Entscheidungen versagt und weder eine optionale Kooperation
noch eine echte Koordinierung betrieben. Auch ist die
Kritik noch nicht geklärt, er habe sich in den dramatischen Tagen Ende Oktober einen Kurzurlaub gegönnt.
Nachgefragt wird auch hinsichtlich der Verantwortung
der Ministerpräsidentin, und zwar wegen des Festhaltens
an einem Minister, der mit der Aufgabe eines Krisenmanagers vollkommen überfordert war und dessen eingeleitete Ölbergung bisher über 14 Millionen DM gekostet
hat.
Hunderte Menschen befanden sich bei ihrem Einsatz
für das in Havarie befindliche Schiff in Lebensgefahr.
Tausende Tiere wurden getötet, Gewässer und Landschaft auf Jahre hinaus belastet, weil die vorliegenden
Katastrophenpläne zu spät, zu zögerlich, zu zaghaft und
zu wenig abgestimmt umgesetzt wurden.
Wie Hohn muß es klingen, wenn der Umweltminister
nur vier Wochen vor dem Unglück öffentlich verkünden
ließ, beim Küstenschutz sei alles klar, SchleswigHolstein sei für die Winterstürme gut gerüstet.
({0})
Die Fülle von Pannen bei der Pallas hat jetzt zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses im Kieler
Landtag geführt. Die Debatte heute hat also einen
durchaus aktuellen Bezug.
({1})
Bis zum Abschlußbericht darf jedoch nicht mit Konsequenzen aus der Krise im Nordseenaturschutzgebiet gewartet werden.
({2})
Die Angst geht weiter um an der Küste. Die Frühjahrsstürme stehen bevor. Das vor Amrum liegende Wrack ist
Mahnung und Warnung zugleich.
Was ist, was bleibt zu tun? Es gilt, die Sicherheitsstrukturen in der Nordsee zu optimieren. Das gilt auch
für die Ostsee. Die kleinstaatlichen Reibereien zwischen
den norddeutschen Ländern im Küstenschutz sind zu beenden. Die Amerikaner machen uns mit der Coast
Guard vor, wie man einen effizienten Schutz zur See
organisiert. Unser Ziel muß sein: Konzentration aller
Kräfte, Zusammenfassung der Seerettungskompetenz
Norddeutschlands in einer Hand, eine Bundesküstenwache mit Beteiligung der betreffenden Bundesländer.
({3})
Es ist ein Unding, daß ein Schiff des Bundesgrenzschutzes bis zur Zwölfmeilenzone agieren darf und dann die
jeweilige Wasserschutzpolizei eines Bundeslandes zur
Hilfe gerufen werden muß. Das ist verkehrt.
({4})
Ein erster richtiger Schritt ist bereits getan. In der Küstenwache sind BGS, Wasser- und Schiffahrtsdirektion
und Fischereiaufsicht zusammengefaßt.
({5})
Trotzdem: Eine echte Küstenwache mit Polizeikompetenz gibt es noch immer nicht. Bremser sind die Bundesländer, als Neinsager an der Spitze leider SchleswigHolstein.
Doch von der Flensburger Förde bis zur Weser
wächst die Einsicht, in einem Boot zu sitzen und Verantwortung für eine gemeinsame Sicherheitsstruktur in
Nord- und Ostsee zu haben. Ein Hauch von Meinungswechsel bei den Innenministern der Länder ist spürbar.
In ihren Ressorts sind die Kompetenzen zur Katastrophenbewältigung angesiedelt. Da sollten sie in Zukunft
auch bleiben und nicht von anderen Ministern praktiziert
werden, die davon nichts verstehen.
Doch es war nicht nur das Versagen des überforderten schleswig-holsteinischen Umweltministers, das zur
Umweltkatastrophe geführt hat. Es war auch die mangelhafte internationale Kooperation, die einen maroden
Frachter zum Unglückskahn werden ließ. Wir können
nicht immer darauf vertrauen, daß, wie in Hamburg, die
richtigen Politiker zur richtigen Zeit am richtigen Ort
sind. Wir benötigen Rahmenbedingungen, die mögliche
personenbezogene Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen minimieren.
Dazu schlagen wir einen sechs Punkte umfassenden
Aktionsplan vor.
Erstens. Wir erwarten von der Bundesregierung noch
in diesem Jahr die Vorlage einer Handlungskonzeption
bei Seeunfällen.
({6})
Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung zur Bildung eines Schiffssicherheitsbündnisses für Nord- und
Ostsee unter Mitwirkung aller Betroffenen auf.
Drittens. Wir halten die Schaffung einer internationalen Küstenwache unter Einbeziehung aller Rettungskräfte von Bund, den Ländern und privaten Organisationen unter einer Befehlsstruktur für erforderlich.
Viertens. Die mit viel Kompetenzen ausgestattete
US-Coast-Guard kann dafür Beispiel, muß aber nicht
das Vorbild sein.
Fünftens. Bereits mittelfristig ist eine europäische
Küstenwache zu schaffen. Da die beiden Nordseeanrainer, Deutschland und das Königreich Dänemark, gemeinsam das Drama mit der „Pallas“ durchstehen mußten, ist derzeit hoffentlich ausreichend Problembewußtsein vorhanden, gemeinsam zur nächsten Nordseeschutzkonferenz das Konzept einer Euro-Coast-Guard
vorzulegen.
Sechstens. Doch es gilt, auch die internationale
Schiffssicherheit insgesamt zu überprüfen, die Seelenverkäufer, die schwarzen Schafe auf See, auszugrenzen
und anerkannte Sicherheitsstandards auch in den BilligFlaggen-Ländern zur Pflicht zu machen.
Wolfgang Börnsen ({7})
Mehr als 80 000 Schiffe passieren jährlich die Deutsche Bucht. Es war ein reiner Zufall, daß im Oktober ein
maroder Frachter wie die „Pallas“ und kein Großtanker
havarierte. Das muß eine Warnung sein. Jetzt ist Handeln angesagt.
({8})
Unser Antrag, aber auch der kenntnisreiche Antrag der
Regierungsfraktionen sind eine gute Grundlage dafür,
aus dem Unglück der „Pallas“ für die Zukunft eine Lösung für alle gemeinsam zu schaffen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Annette Faße, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Börnsen, vielen
Dank für das große Lob bezüglich des Antrages der
SPD. Wenn man Ihren dagegenhält, ist zu erkennen, daß
Ihre Anmerkung berechtigt ist. Ziehen Sie Ihren Antrag
doch zurück, und stimmen Sie unserem zu! Dann hätten
wir heute eine vernünftige Beschlußlage.
({0})
Es ist klargeworden, daß eine Optimierung des Konzepts zum Schutz von Mensch und Natur erfolgen muß.
Ganz besonders stellen wir das fest, wenn wir sehen,
welche Resonanz die Informationsveranstaltungen vor
Ort haben. An diesem Montag waren in Cuxhaven über
500 Menschen anwesend, als der Nautische Verein zu
einer Veranstaltung eingeladen hatte. Es haben nicht
einmal alle einen Stehplatz gefunden. Sie sehen daran,
wie sensibel dieses Thema an der Küste auch weiterhin
ist.
Es ist aber auch deutlich geworden, daß derzeit wild
über mögliche Fehler spekuliert wird und Schuldzuweisungen ohne jegliche Basis erfolgen. Die Verantwortlichen an Land haben nach bestem Wissen gehandelt.
Deshalb lehne ich eine Vorverurteilung der die Verantwortung tragenden Personen eindeutig ab.
({1})
Eine Beurteilung sollte später nach Vorlage gesicherter
Erkenntnisse erfolgen.
Die Besatzungen aller an der Bergung beteiligten
Schiffe haben zum Teil unter Lebensgefahr gearbeitet.
Für ihren mutigen Einsatz verdienen alle Helfer unseren
größten Respekt.
({2})
Trotz ihres Einsatzes konnte die Strandung der „Pallas“
und der folgende Austritt von rund 60 Tonnen Schweröl
aber leider nicht verhindert werden.
Die Bundesregierung setzt sich seit Amtsbeginn in
Abstimmung mit den zuständigen Ministerien dafür ein,
daß mögliche Schwachstellen im bisherigen Sicherheitskonzept beseitigt werden. Dazu gehört unter anderem
die umgehende Verlängerung des Chartervertrages mit
dem Hochseeschlepper „Oceanic“. Eine solche Charterung - dies nur zur allgemeinen Erinnerung -, haben übrigens Herr Kohl und Herr Wissmann als nicht notwendig angesehen; sie wollten sie ersatzlos streichen.
({3})
Noch eine Bemerkung am Rande: Die alte Bundesregierung wollte einen Bericht, der sich mit der Verbesserung der Schiffssicherheit befaßte, in der letzten Legislaturperiode nicht beraten. Er ist nicht vorgelegt worden.
Damit können wir uns jetzt in der 14. Legislaturperiode
befassen.
Herr Börnsen, Sie sollten uns hier nichts von Versäumnissen, Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen der jetzt politisch Verantwortlichen erzählen. Der
Bumerang landet viel schneller bei Ihnen, als es Ihnen
lieb ist. Auch Sie sollten statt dessen für eine detaillierte
schonungslose Aufklärung und Aufarbeitung der „Pallas“-Havarie sorgen. Bereits jetzt erkennbare Schwachstellen müssen unverzüglich beseitigt werden, um die
Gefahr weiterer Havarien zu minimieren.
Die vom federführenden Ministerium eingesetzte
Expertenkommission muß umgehend mit ihrer Arbeit
beginnen. Ich denke, der Staatssekretär wird dazu noch
Ausführungen machen. Sie sollte zunächst eine lückenlose Chronologie des Hergangs erstellen und die Koordination des Einsatzes analysieren. Wer hat zum Beispiel wann welche Einsatzbefehle gegeben? Wie effizient war die Zusammenarbeit zwischen den Behörden,
Bund und Land, der Einsatzleitung an Land und vor Ort,
den Helfern und den Reedereien?
Es muß aber auch kritisch nach der Zusammensetzung, Ausbildung und den Notfallkenntnissen der unter
Bahama-Flagge fahrenden Besatzung der „Pallas“ gefragt werden. Wie wirkt sich denn im Notfall das Fehlen
einer gemeinsamen Sprache an Bord aus? Darauf haben
uns viele Fachkundige in den vergangenen Jahren hingewiesen.
Auch Aspekte des Brandschutzes müssen aufgearbeitet werden; denn es stellt sich schon die Frage, wie es
überhaupt zum Brand auf der „Pallas“ kommen konnte.
Schließlich beginnt eine Holzladung, wie sie an Bord
des Schiffes war, nicht unvermittelt und in Sekundenschnelle zu brennen. Es fragt sich allerdings, ob heute
die wahre Brandursache überhaupt noch festzustellen ist.
Mit dem Land Schleswig-Holstein muß gemeinsam
geklärt werden, was mit dem Wrack zu geschehen hat.
Hierbei sind die Umweltbedingungen zu bedenken.
Wir werden die Strandung der „Pallas“ darüber hinaus zum Anlaß für die Verbesserung des Notfallmanagements durch Bund und Länder, für die Vorhaltung der
Wolfgang Börnsen ({4})
notwendigen Technik, aber auch für die Weiterentwicklung der Sicherheitsstandards in der internationalen Schiffahrt und einen verbesserten Wattenmeerschutz nehmen. Wir wollen, daß weitreichende Konsequenzen gezogen werden. Dies gilt für die Frage
nach der notwendigen Kapazität an Schleppern, Mehrzweck-, Feuer- und Ölbekämpfungsschiffen und Hubschraubern.
({5})
Es stellt sich auch die Frage - da gebe ich Ihnen
recht -, ob die Einrichtung einer zentralen Koordinierungsstelle ein früheres Eingreifen bei Schiffsunfällen
und ein besseres Krisenmanagement auf nationaler und
internationaler Ebene ermöglicht hätte. Dazu muß ich
Sie, Herr Börnsen, fragen: Wo blieben in der Vergangenheit Ihre Anträge, um aus der Küstenwache ein
schlagkräftigeres Gremium zu machen? Sie meinen
doch, daß es so sein muß. Ich habe in den letzten Jahren
nichts davon erfahren. Statt dessen findet eine einseitige
Schuldzuweisung an die Länder statt. Sie wissen, daß
fünf Bundesministerien für die Küstenwache verantwortlich sind. Dann hätte doch die Initiative von dieser
Seite kommen müssen, wenn man etwas anderes gewollt
hätte.
Meine Damen und Herren, internationale wie bilaterale Verbesserungen stehen an. Man muß sich schon
fragen: Wie konnte das Schiff in deutsche Gewässer
kommen, wenn die Dänen die Besatzung bis auf einen
Menschen retten konnten?
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Börnsen?
Ja.
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Frau
Kollegin, würden Sie vielleicht zur Kenntnis nehmen,
daß die F.D.P.-Fraktion im Schleswig-Holsteinischen
Landtag im vergangenen Jahr eine Anfrage an die SPDgrüne Regierung in Schleswig-Holstein mit der Aufforderung gestellt hat, sich doch mit einer Küstenwache am Küstenschutz zu beteiligen, und daß die
Antwort der schleswig-holsteinischen Landesregierung mit Bezug auf Bremen und Hamburg war, auf
Grund der Länderkompetenz würde man eine solche Zusammenarbeit ablehnen? Das war Wirklichkeit im
Sommer 1998.
Nichtsdestotrotz, Herr Börnsen, wären Sie, wenn Sie es hätten anders machen wollen, auf Bundesebene durchaus in der Lage gewesen,
diesen Punkt zu thematisieren. Von daher muß ich Ihnen
sagen: Wenn Sie alles vorher gewußt haben, sind Sie als
Bundestagsabgeordneter Ihren Aufgaben nicht gerecht
geworden.
({0})
Lassen Sie mich noch einen wichtigen Punkt ansprechen. Er betrifft die Fragen des Haftungs- und Bergungsrechts. Wir müssen an diesem Fall feststellen, daß
es bereits Übereinkommen gibt, daß diese jedoch leider nicht in Deutschland gelten. Das Haftungsübereinkommen wurde zwar 1996 international geändert, von der alten Bundesregierung aber schlicht und
einfach nicht ratifiziert. Wäre dies der Fall gewesen, hieße das, in zwei Bereichen gäbe es die doppelte
Versicherungssumme. Wenn Herr Carstensen jetzt die
Frage stellt, wer denn nun was zahlt, muß ich ihm entgegnen: Wer hat denn in der Vergangenheit geschlafen,
so daß diese Übereinkommen nicht umgesetzt worden
sind?
({1})
Sowohl im Interesse der Umwelt als auch der Menschen - und damit des Tourismusbereichs, der sehr stark
betroffen ist - müssen wir aktiv werden. Aber lassen Sie
jetzt die Experten tagen, lassen Sie uns das in offiziellen
Anhörungen diskutieren, lassen Sie uns dies offen und
offensiv angehen!
Noch eines zum Schluß: Eine hundertprozentige Sicherheit vor Unfällen auf See wird es nicht geben. Die
Natur hat ihre eigenen Regeln. Von daher hoffe ich, daß
wir zu einem Konzept kommen, das auch für Fälle wie
den der „Pallas“ Alternativen aufzeigt. Ich hoffe, daß
wir dieses Konzept gemeinsam - Bund und Länder, zusammen mit Nachbarn und auf internationaler Ebene erarbeiten und dies uns hilft, Sicherheit an unseren Küsten zu garantieren.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat nun
Frau Ulrike Flach von der F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte meine erste Rede im Deutschen Bundestag natürlich sehr gerne zu einem erfreulicheren Thema gehalten als ausgerechnet zur Havarie des
Frachters „Pallas“ vor der Nordseeküste.
({0})
Um so dringlicher erscheint es mir, daraus zu lernen.
Der Verlust von Menschenleben, der Tod von Tausenden von Seevögeln und die starke Verschmutzung des
Wattenmeeres sind schließlich Warnung genug. Wir
müssen zu wirksameren Maßnahmen für den Küstenschutz kommen und dürfen uns nicht zurücklehnen, frei
nach dem Motto: Es ist ja noch einmal alles gutgegangen.
({1})
Klar ist eines: Die Auswirkungen des Unfalls der
„Pallas“ sind nicht als Katastrophe einzustufen. Katastrophal war lediglich die Organisation der Bekämpfung.
({2})
Wäre die „Pallas“ ein Öltanker gewesen, dann wäre es
bei einer derartig mangelhaften Gefahrenabwehr zu einer Mega-Katastrophe gekommen.
Ich will meine kurze Redezeit nicht ausschließlich
der Vergangenheit und den Fehlern der Katastrophenbekämpfung widmen, sondern den Blick etwas in die Zukunft richten. Gestatten Sie mir aber eine kurze Anmerkung an die Adresse der Grünen. Wenn es noch eines
Beweises bedurft hätte, daß sich Ihre Partei von ihren
ökologischen Wurzeln gelöst hat, dann war es die kalte,
selbstgefällige Art und Weise, wie Umweltminister
Steenblock mit dieser Havarie umgegangen ist:
({3})
untätig, als es darum ging, Schaden abzuwenden, unwillig, die angebotene Hilfe des Innenministeriums in Anspruch zu nehmen,
({4})
und unfähig, den Betroffenen Beistand zu leisten.
({5})
Die Menschen an der Küste und auf den Inseln wissen genau, daß Seefahrt auch mit Risiken verbunden ist
- da stimme ich Frau Faße ausdrücklich zu - und daß
sich Unfälle nie völlig ausschließen lassen. Sie erwarten
aber vom zuständigen Minister, daß er alles in seiner
Macht Stehende tut, um bei einem Unfall den Schaden
zu minimieren.
({6})
Da hilft es auch wenig, wenn der Bundesparteitag der
Grünen am 12. Dezember letzten Jahres einstimmig beschließt, bei der „Pallas“-Havarie habe es ein „dilettantisches Krisenmanagement“ gegeben.
({7})
Minister Steenblock hätte daraus natürlich Konsequenzen ziehen müssen.
Sehr gespannt sind wir allerdings auch, wann Minister Müntefering die Bund-Länder-Kommission zur von
ihm angekündigten „gründlichen Untersuchung“ einsetzt. Das scheint ja selbst den eigenen Leuten nicht
schnell genug zu gehen, wenn ich Ihren Antrag richtig
interpretiere.
({8})
Auch Minister Trittin hielt sich mit markigen Worten
nicht zurück. Im „Spiegel“ vom 23. November kündigte
er an, er wolle künftig jedes Schiff unter einer sogenannten Billigflagge kontrollieren lassen und, wenn nötig, an die Kette legen. Meine Damen und Herren, die
„Pallas“ fuhr nicht unter einer klassischen Billigflagge
und war technisch in einem guten Zustand. Hier von
„Schrottkahn“ zu sprechen, ist - Frau Altmann, richten
Sie es dem Minister bitte aus - völlig unberechtigt.
({9})
Die Ankündigungen waren großspurig. Ich bin gespannt, ob Sie damit nicht alle beide als Orkawal gesprungen sind und als Plattfische landen.
({10})
Wir haben heute über zwei Anträge zu beraten, einen
von der CDU/CSU und einen von SPD und Bündnisgrünen, wobei ich es schon für eine Zumutung der Regierungskoalition halte, einen solchen Antrag am 19. Januar, also vorgestern, vorzulegen, so daß wir ihn gerade
Mittwoch in der Post hatten. Ich halte das nicht für sehr
professionell.
({11})
Die F.D.P.-Fraktion hat die Bundesregierung in einer
Kleinen Anfrage bereits vor zwei Wochen gebeten, die
Pannen und Versäumnisse bei der Bekämpfung der
Auswirkungen der Havarie lückenlos aufzuklären, um
zukünftig wirksame Präventionsmaßnahmen ergreifen
zu können. Im Schleswig-Holsteinischen Landtag - das
wissen Sie - ist ein Untersuchungsausschuß konstituiert
worden, nicht zuletzt auf Grund des Einflusses von CDU
und F.D.P.
({12})
CDU, SPD und Grüne fordern allerdings richtigerweise Minister Müntefering auf, schnellstmöglich eine
Kommission unter Einbeziehung der Länder mit unabhängigen Experten einzusetzen. Ich frage mich allerdings, warum wir alle diese Untersuchungsaufträge erteilen, aber weder CDU/CSU noch Rotgrün die Ergebnisse abwarten.
Die Regierungskoalition will - so steht es in Ihrem
Antrag die „Pallas“-Havarie zum Anlaß nehmen, um weitergehende Maßnahmen zur Verhinderung von
Schiffsunfällen und etwaigen Havarien … zu erarbeiten.
Sie trauen Ihren eigenen Kommissionen offenbar wenig
zu.
({13})
Inhaltlich habe ich natürlich für viele Forderungen
Sympathie, zum Beispiel für eine Verbesserung der
technischen Ausrüstung, des Trainings der RettungsUlrike Flach
mannschaften, für eine Überarbeitung der Verantwortlichkeiten im gemeinsamen Ausschuß „Küstenschutz“
und eine bessere Zusammenarbeit mit unseren dänischen
und niederländischen Nachbarn. Daß diese dazu bereit
sind, haben wir vor kurzem erst von den Dänen sehr
deutlich gehört.
Der rotgrüne Antrag enthält manches, was wir sicher alle einvernehmlich beschließen können.
({14})
Andere Forderungen bedeuten jedoch einen massiven
Eingriff in den Schiffsverkehr und damit eine Gefährdung von Arbeitsplätzen. Die Ausweisung des Wattenmeers und der angrenzenden Seegebiete als besonders
empfindliches Meeresgebiet nach den IMO-Richtlinien
bedeutet nicht nur, den Schadstoffeintrag zu verringern
- das wissen Sie genau -, sondern auch Schiffahrtsrouten einzugrenzen und Schiffen die Durchfahrt zu verwehren.
Die Route, auf der die „Pallas“ gelaufen ist, ist eine
der Hauptrouten der Nordsee. Bevor wir solche gravierenden Auswirkungen ganz locker beschließen, wüßte
ich schon gerne, zu welchen Beschlüssen die gerade geforderten Kommissionen oder der Untersuchungsausschuß kommen.
({15})
Auch der Antrag der CDU/CSU enthält Forderungen, ohne die Ergebnisse der Kommission und des Untersuchungsausschusses abzuwarten. Allerdings bleiben
mir als Umweltpolitikerin diese Forderungen - das sage
ich ganz ehrlich - zu schwach. Nur nach Ausgleichszahlungen zu rufen und internationale Abkommen überprüfen zu wollen ist nicht ausreichend. Wir werden dazu
kommen müssen, daß der Schutzstandard der Nordsee
erhöht wird und daß wirkliche Schrottkähne, wozu die
„Pallas“ nicht gehörte, draußen bleiben.
Da es aber auch um die wirtschaftliche Seite und um
die Menschen an der Küste und auf den Inseln geht,
wird die F.D.P. einschneidenden Maßnahmen nur nach
einer gründlichen Auswertung der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses, der Kommission von Herrn
Müntefering und der Antwort auf unsere Kleine Anfrage
zustimmen.
({16})
Küstenschutz ist eine langfristige Aufgabe, die nur
EU-weit zu lösen ist. Sie ist nicht mit markigen Worten
à la Trittin und auch nicht mit Anträgen, die ohne ausreichende Sachverhaltsprüfung von einem Tag auf den
anderen herausgehauen werden, zu lösen.
({17})
Zur zweiten und dritten Lesung werden wir die Ergebnisse hoffentlich haben.
Liebe Kollegen, ich würde mich freuen, wenn es uns
im Interesse der Menschen an der Nordsee gelänge, zu
einem gemeinsamen Antrag zu kommen, der einen
wirklichen Schutzgewinn mit sich bringt.
Herzlichen Dank.
({18})
Frau Kollegin Flach,
das war Ihre erste Rede. Das gesamte Haus gratuliert Ihnen zu Ihrer Rede. Herzlichen Glückwunsch.
({0})
Man kann sagen, was man will, aber daß die F.D.P.Fraktion so großzügig Blumensträuße verteilt, finde ich
sehr gut. Es ist eine Anregung an alle anderen Fraktionen, es genauso zu machen.
({1})
Ich erteile der Abgeordneten Gila Altmann das Wort.
Bitte sehr.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte
Frau Flach, wenn man die Äußerungen der Entrüstung,
die hier gefallen sind, hört, dann kann man schon denken, man sei im falschen Film. Das bezieht sich nicht
auf Sie. Sie können vieles von dem nicht wissen, was in
der vergangenen Legislaturperiode in dieser Angelegenheit gelaufen ist.
({0})
Ich kann Ihnen nur sagen: Es hat auch ein Leben vor Ihrer Existenz in dieser Fraktion hier gegeben. Ich empfehle Ihnen - da Sie ja so gern in meinen Reden und
Anträgen nachlesen -, meine Äußerungen zum Thema
Seesicherheit nachzulesen.
({1})
Dann werden Sie nämlich entdecken, daß sich Ihre Entrüstung mit der der Fraktion der Grünen deckt, die sie in
den letzten vier Jahren hier zum Ausdruck gebracht hat.
({2})
Das ist aber damals leider ignoriert worden.
({3})
Was Sie, Frau Flach, hier einklagen - ich muß sagen:
zu Recht -, das ergibt sich aus den Versäumnissen der
Koalition und Ihrer Fraktion in der Vergangenheit. Denn
als Sie das Heft des Handelns in der Hand hatten, da haUlrike Flach
ben Sie eben nicht gehandelt. Vielmehr haben Sie alles
auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben.
({4})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ja.
Herr Kollege, bitte
sehr.
Frau Kollegin, nachdem
Sie die Vorwürfe an die Adresse der alten Koalition gerichtet haben, darf ich Sie einmal fragen: War die alte
Koalition oder die neue Koalition für das Krisenmanagement zuständig? Denn die Kollegin Flach hat ja mit
Recht darauf hingewiesen und gefragt - das tue ich
auch -: Wie kommt ein Parteitag von Bündnis 90/Die
Grünen dazu, einstimmig zu beschließen - ich zitiere
wörtlich -, es habe sich um ein „dilettantisches Katastrophenmanagement“ gehandelt? Waren Sie und Herr
Steenblock verantwortlich, oder war die alte Koalition
dafür verantwortlich?
({0})
Herr Kollege Koppelin, ich bin Ihnen natürlich
sehr dankbar für diese Frage,
({0})
weil ich so diesen Sachverhalt außerhalb meiner kostbaren Redezeit darlegen kann.
Wie Sie sich erinnern, ist die Havarie des Frachters
„Pallas“ genau in die Zeit des Regierungswechsels gefallen.
({1})
- Wir können das Spielchen jetzt gern weitertreiben.
Dann stehe ich noch in einer halben Stunde hier. Ich
weiß nicht, ob Sie das wollen.
({2})
- Darum wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir zuhören wollten.
In erster Linie hat
die Kollegin das Wort, meine Damen und Herren von
der F.D.P. und der CDU/CSU. Wenn Sie sich bitte bemühen würden, zuzuhören, wenn auf eine Frage geantwortet wird.
Bitte sehr.
Danke schön.
({0})
- Ja. Ich rede als Abgeordnete.
({1})
- Nein, das ist, wie gesagt, aus meinem alten Leben.
({2})
Das Problem bei dieser traurigen Angelegenheit ist,
daß es eine sehr lange Vorgeschichte gibt. Das meine
ich jetzt sehr ernst, und deswegen sollten wir uns auf ein
etwas höheres Niveau begeben.
({3})
- Nein, Herr Koppelin, bleiben Sie stehen. Ich wollte
Ihnen jetzt antworten, da ich bisher noch nicht dazu gekommen bin.
Also noch einmal: Es läßt sich an Hand der Datenlage
eindeutig beweisen, daß die Havarie der „Pallas“ genau
in die Zeit des Regierungswechsels gefallen ist und daß
die von Ihnen gestellte alte Regierung sogar formal noch
hätte handeln können und es nicht getan hat. Das ist
Punkt eins.
({4})
Das heißt, wir haben es hier wirklich mit Ihren Erblasten
zu tun. Ich habe Ihnen in den letzten vier Jahren immer
wieder die Schwächen des Sicherheitskonzeptes und die
Versäumnisse der Bundesregierung und der nachgeordneten Behörden vorgebetet. Es ist ignoriert worden. Ich
brauche das hier nicht alles aufzulisten, weil es dokumentiert ist. Vor dem Hintergrund muß ich sagen: Wir
hatten es mit den alten Strukturen zu tun, die leider - das
war vorauszusehen - versagt haben.
Vor dem Hintergrund kann ich nur wiederholen, daß
ich die Kritik, die Herr Börnsen hier geäußert hat, die er
übrigens 1996 schon geäußert hat - damals hat er wie
ein einsamer Rufer in der Wüste vor seinen eigenen Koalitionsfraktionen gestanden; niemand hat auf ihn gehört
-, nur bekräftigen kann. Sie ist richtig. Aber das ist unsere Kritik gewesen. Man kann jetzt nicht so tun, als
hätte es ein Leben vor dem Regierungswechsel nicht gegeben. Es sind Ihre Altlasten, die Sie hier beklagen. Wir
sind jetzt dabei, die Trümmer dieser Altlasten wegzuräumen.
({5})
Gila Altmann ({6})
Vor dem Hintergrund ist auch der Antrag der Grünen
auf der Bundesdelegiertenkonferenz zu verstehen.
Frau Kollegin, wollen Sie noch eine Zwischenfrage beantworten?
Ja, munter drauflos.
({0})
Bitte sehr, Herr
Kollege.
Frau Kollegin, habe ich
Ihre Antwort richtig verstanden, daß der grüne Umweltminister in Schleswig-Holstein, Herr Steenblock,
nicht tätig werden konnte, weil wir hier in Bonn einen
Regierungswechsel hatten?
({0})
Herr Koppelin, ich finde, das Thema ist viel zu
ernst, als es für billige Wahlkampfpropaganda zu mißbrauchen.
({0})
Hier in dieser Art und Weise auf Minister Steenblock
herumzuhauen ist mehr als durchsichtig. Das heißt nämlich, von den eigenen Verfehlungen und Versäumnissen
abzulenken.
Ich bin Ihnen in dem Zusammenhang übrigens sehr
dankbar für die Kleine Anfrage, in der Sie wissen wollen: Welche Antworten hat die Staatssekretärin Altmann
bei ihrem Besuch auf Amrum bekommen? Wenn Sie es
mir erlauben, gebe ich Ihnen die Antwort auf diese
Kleine Anfrage als Abgeordneter vorab mündlich. Ich
habe zwei wichtige Antworten bekommen. Aus der ersten Antwort ging hervor, daß sich die Inselbewohner
überhaupt nicht über die Aktivitäten des Umweltministers Steenblock beschwert haben. Ganz im Gegenteil:
Nach gewissen Anlaufschwierigkeiten, hervorgerufen
durch die schwerfälligen, komplizierten Entscheidungsstrukturen, die auf Bundesebene zu verantworten sind,
seien die Maßnahmen, die Umweltminister Steenblock
angeschoben hat, zu aller Zufriedenheit durchgeführt
worden. Herr Steenblock war dafür zuständig, den
Dreck wegzuräumen, der durch die Havarie der „Pallas“
entstanden ist.
Aus der zweiten Antwort, die ich bekommen habe,
ging hervor, daß man eine dauerhafte Stationierung der
„Oceanic“ möchte, das heißt eines Hochseeschleppers
mit einem entsprechenden Pfahlzug, damit das erbärmliche Gewürge um die „Oceanic“, das wir in der letzten
Legislaturperiode durch Ihre Handlungen immer wieder
hinnehmen mußten, endlich aufhört.
Insofern sollten Sie endlich aufhören, mit dem Finger
immer auf Schleswig-Holstein und den Umweltminister
Steenblock zu zeigen, und hier im Bundestag endlich
konstruktiv mitarbeiten.
({1})
Während wir uns hier die Köpfe einschlagen - Gott
sei Dank nur rein verbal -, kann eine solche Havarie jeden Tag wieder passieren. Auch da, Frau Flach, gebe ich
Ihnen recht: Es könnte dann ein Tanker sein. Es war
diesmal „nur“ ein Holzfrachter.
Für uns sind drei Punkte wichtig. Erstens. Es muß
darum gehen, die Vorkommnisse und Entscheidungen
bei der „Pallas“-Havarie vollständig aufzuklären, die
richtigen Konsequenzen zu ziehen und die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten. Dazu haben wir in dem
rotgrünen Antrag verschiedene Forderungen formuliert.
Dieser Antrag ist nicht einfach so herausgehauen. Auch
dazu finden Sie in den Unterlagen der vergangenen vier
Jahre, Frau Flach, hinreichend Literatur - vielleicht als
Gutenachtlektüre.
Zweitens. Es geht darum, Sofortmaßnahmen einzuleiten, um direkt erkennbare Schwachstellen schnell beseitigen zu können. Vor dem Hintergrund begrüßen wir
es natürlich, daß der Chartervertrag der „Oceanic“ wieder verlängert worden ist, und zwar bis zum 15. April
1999. Aber wir brauchen die dauerhafte Stationierung.
Ich finde, die Küstenländer, die Inseln haben es verdient; sie haben genug mitgemacht.
({2})
Wie richtig und wichtig eine dauerhafte Stationierung
ist, hat sich erst vor einer Woche erneut bestätigt. Da
mußte nämlich die „Oceanic“ den russischen 3 000Tonnen-Holzfrachter MS „Suna“ nach Emden schleppen. Ursache der Havarie war ein Brand im Maschinenraum. Der „Suna“ gelang noch knapp eine Notankerung
10 Meilen nördlich von Juist. Da hätten wir dann schon
wieder eine Neuauflage gehabt. Nicht auszudenken was wir im Ansatz auch schon hatten -, wenn zwei
Schiffe gleichzeitig in eine solche Situation kämen.
Dann hätten wir gar nicht genügend Rettungsschiffe zur
Verfügung.
({3})
- Ich komme noch darauf, was das als Konsequenz nach
sich ziehen müßte.
Als nächsten Schritt brauchen wir eine vollständige
und lückenlose Aufklärung der Havarie, was die Begleitumstände, was die Informationsabläufe und Einsatzbefehle aller beteiligten Akteure sowohl national auf
Bundes- und Landesebene wie auch international angeht. Diese Analyse muß dann die Grundlage für eine
Überarbeitung des Sicherheitskonzepts bilden. Es ist
ganz wichtig, daß unabhängige Experten beteiligt werden. Der Bundesverkehrsminister hat heute die Weichen
gestellt, damit diese Expertenkommission jetzt arbeiten
Gila Altmann ({4})
kann. Dazu gehört dann auch die Überprüfung der vorhandenen technischen Kapazitäten.
Es kann nicht angehen, daß das Absetzen von Bergungsmannschaften, wie jetzt bei der „Pallas“ geschehen, dadurch verzögert wird, daß kein schlechtwettertauglicher Hubschrauber zur Verfügung steht. Solche
Dinge sind unvorstellbar und müssen wirklich der Vergangenheit angehören.
Genauso wichtig ist, daß die Organisationsstrukturen
überprüft werden. Das Ziel sollte eine zentrale Koordinierungsstelle sein, die über ausreichende Handlungskompetenzen verfügt, um Verfahrensabläufe zu straffen
und eine optimale Zusammenarbeit auf allen Ebenen zu
garantieren. Denn das beste Equipment nützt nichts,
wenn es nicht vernünftig und koordiniert eingesetzt
wird.
Schließlich muß auch das Haftungs- und Versicherungsrecht überarbeitet werden, damit sich der Reeder,
wie es sich hier zeigt, nicht aus seiner Verantwortung
stehlen kann und die Lasten letztendlich von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern getragen werden müssen.
Ich komme zu einem sehr komplizierten, aber dennoch wichtigen Feld, den internationalen Aktivitäten.
Es muß eine bessere Abstimmung zum Beispiel im
Rahmen der trilateralen Wattenmeerkonferenz geben. In
diesem Fall hat die Zusammenarbeit mit Dänemark nicht
funktioniert. Nach unseren Informationen stand sogar
am 25. Oktober 1998 in Esbjerg der Ankerschlepper
„Havila Champion“ mit einem Pfahlzug von 120 Tonnen zur Verfügung, aber er wurde weder von den dänischen Behörden noch vom Reeder angefordert. Es
scheint so zu sein, daß die Situation falsch eingeschätzt
worden ist. Es wurde kein Grund zum Einschreiten gesehen, da die „Pallas“ nach Einschätzung der Dänen
keine Gefahr für die Schiffahrt dargestellt hat. So etwas
darf in Zukunft nicht mehr passieren.
({5})
Wir wollen, daß die International Maritime Organization durch Ausweisung des ökologisch besonders
sensiblen Wattenmeers und der angrenzenden Seegebiete als Schutzgebiet den Wattenmeerschutz verbessert. Dazu gehören dann auch Durchfahrtverbote für
Substandardschiffe. Sie haben recht, es war formal kein
Billigflaggenfrachter, aber es war ein Substandardschiff.
Das muß man ganz klar sehen. Die Hafenstaatenkontrolle muß verbessert werden, und die internationalen
Übereinkommen zum Schutz der Meere müssen weiterentwickelt werden.
Im Zuge der Debatte um die „Pallas“ ist noch eines
deutlich geworden. Ein Sicherheitskonzept für die
Ostsee - wir haben bisher nur über die Nordsee geredet
- existiert faktisch nicht. Auch hier gibt es nur mangelhafte Vorarbeiten der alten Bundesregierung. Es existieren noch nicht einmal Daten über Verkehrsaufkommen
und Gefährdungspotentiale für die Ostsee. Da braucht
man sich natürlich nicht zu wundern, daß es logischerweise auch kein abgestimmtes Sicherheitskonzept gibt.
Frau Kollegin, ein
Kollege von der F.D.P. möchte eine Frage stellen.
Gerne
Bitte schön.
Frau Kollegin
Altmann, Sie haben eben behauptet, die „Pallas“ sei ein
Substandardschiff. Nach mir vorliegenden Informationen war es das eindeutig nicht. Ganz im Gegenteil, in
Berichten, die Sie ja sicherlich aus Cuxhaven kennen,
steht, daß sich das Schiff in einem hervorragenden technischen Zustand befand. Auch die Rettungsausstattung
war, wie Sie wissen, hervorragend, denn die Materialien
des Schiffes wurden ja für das Schleppen des Schiffes
genutzt.
Darf ich Sie also fragen, woran Sie die Kriterien festgemacht haben, daß das Schiff „Pallas“ ein Substandardschiff war?
In solch einem Fall bietet es sich an, sich vor Ort
zu informieren. Genau das habe ich gemacht. Wenn man
dieses Schiff in Augenschein genommen hat, dann stellt
man diese Frage nicht mehr.
({0})
Eine Zusatzfrage,
Herr Kollege Goldmann? - Bitte sehr.
Frisch voran!
Frau Kollegin,
frisch voran: Auch ich war in Cuxhaven, auch ich habe
mich erkundigt. Wenn ich mich richtig erinnere, werden
Sie doch das Schiff im tiefen Wasser nach den ganzen
Rettungsaktionen gesehen haben, wahrscheinlich auch
noch in Dunkelheit, denn das Ganze hat sich in einer
Situation abgespielt, wo die Wasserverhältnisse und die
Windverhältnisse extrem schwierig waren.
Wie kommen Sie nach dem Schleppen, nach dem
Hin-und-her-Geworfenwerden des Schiffes im Meer zu
dem Eindruck, es habe Substandard gehabt? Wo war es
als Substandardschiff registriert? Diese Schiffe werden
ja registriert.
({0})
Die Kriterien, was ein Substandardschiff ist, machen sich nicht nur an der Technik fest, sondern zum
Gila Altmann ({0})
Beispiel auch an der Qualität der Mannschaft und der
Reederei. Man muß sich darüber nur informieren.
Man konnte das Schiff nach der Strandung übrigens
wunderbar in Augenschein nehmen. Es war durch das
Auflaufen zwar ramponiert, man sah aber noch immer
dasselbe Schiff.
({1})
- Herr Hirche, da fährt man nach Amrum, begibt sich
auf ein Schiff, und dann kann man um die „Pallas“ herumfahren und kann sich visuell aus erster Hand informieren und sich vom Kapitän zusätzlich informieren lassen. Ich hätte Sie sehr gerne mitgenommen.
({2})
- Es tut mir leid, wenn Ihnen meine Antworten nicht
passen. Sie müssen sich einfach nur aus erster Hand informieren, müssen die Fachbegriffe kennen und auch die
Kriterien. Dann stimmt der Laden. Es tut mir leid, daß
ich Ihnen keine andere Antwort geben kann.
Frau Kollegin, ich
glaube, damit ist die Frage beantwortet. Wir fahren in
der Debatte fort, und ich bitte die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., nun keine Zwischenfragen mehr
zu stellen, damit wir in dieser für uns wichtigen Debatte
vorankommen und sie ordentlich abschließen können.
Frau Kollegin, bitte sehr.
Ich möchte nur noch einmal darauf eingehen, daß
wir das Heft des Handelns nicht nur in die Hand bekommen haben, sondern daß wir das Ganze auch ernst
nehmen werden. Wir werden uns nicht wie die alte Bundesregierung immer wieder damit begnügen, alles auf
die EU-Ebene abzuschieben und damit auf den SanktNimmerleins-Tag zu vertagen. Insofern übernehmen wir
eine sehr schwere Hypothek, denn die ehemalige Bundesregierung hat so nachhaltig und gründlich Versäumnisse begangen, daß sie sogar die Aufforderungen der
eigenen Ministerien, internationale Abkommen zu ratifizieren und umzusetzen, konsequent - mit der Begründung, man habe keine Arbeitskapazitäten - ignoriert hat.
Frau Faße hat das schon angesprochen. Zum einen kann
man das 1996 in Kraft getretene Bergungsübereinkommen und zum anderen das internationale Übereinkommen über die Beschränkung der Haftung von Seeforderungen nennen. Zu der Begründng mit den Arbeitskapazitäten kann ich Ihnen nur sagen: Da lacht die verölte
Sardine; denn wären die Abkommen jetzt in Kraft, dann
stünde die Bundesrepublik besser da, die Handlungsmöglichkeiten vor der Strandung wären besser gewesen,
und die Versicherung der „Pallas“ müßte wesentlich
mehr als nur schlappe 3,3 Millionen DM für diesen ganzen Schaden zahlen. Wir werden dafür sorgen, daß diese
Übereinkommen umgehend in Kraft gesetzt werden.
({0})
Zum Abschluß möchte ich sagen: Unser Ziel ist es,
ein Sicherheitskonzept für die Nord- und Ostsee zu erarbeiten, das diesen Namen auch verdient. Meine Damen
und Herren von der Opposition, Sie sind herzlich eingeladen, mitzumachen, auch wenn Sie vielleicht jetzt noch
sauer sind.
({1})
Aber im Interesse der Sache sollte uns daran gelegen
sein, hier schnellstens zu Potte zu kommen, damit sich
eine Katastrophe nicht in dieser Form wiederholt.
({2})
Nun erteile ich dem
Kollegen Dr. Winfried Wolf, PDS-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Vorneweg möchte ich sagen: Selbstverständlich
betreiben wir nicht das durchschaubare Spiel der ehemaligen Regierungsparteien. Gila Altmann war, glaube
ich, zu höflich, als sie die christlichen BaywatchKollegen in der Aktuellen Stunde am 18. November
1998 zur „Heiligen Johanna des Küstenschutzes“ befördert hat. In der damaligen und in der heutigen Parlamentsdebatte erlebten und erleben wir vielmehr eine
Prozession von Scheinheiligen der christlichen Seefahrt
am norddeutschen Meeresbusen.
({0})
Blumen an die Adresse der Liberalen am Rande: Ihnen ist es gelungen, in die Vorbemerkung Ihrer Kleinen
Anfrage eine politische Wertung hineinzuschmuggeln,
nach der „politische Inkompetenz“ zu „Schaden für Flora und Fauna in der Nordsee“ geführt habe. Mein in
Kleinen Anfragen durchaus geübtes Büro hätte es nicht
geschafft, so etwas an der Bundestagsverwaltung vorbeizuschleusen. Sie haben eben noch alte „Connections“.
({1})
Zum Antrag von SPD und Grünen: In der Bilanz
stimmen wir diesem Antrag zu. Wir nehmen dabei zur
Kenntnis, daß einige der besten Vorschläge wie die
Ausweisung des Wattenmeeres als besonders sensibles
Seegebiet erst einmal nur Absichtserklärungen sein können. Nachdem ich mich unter anderem bei Umweltverbänden kundig gemacht habe, würde ich den Regierungen in Bonn und Kiel wie auch der Kollegin Gila Altmann dennoch zu einer selbstkritischeren Bilanz raten.
Die sehr präzisen Kritiken, die in der Zeitung „Waterkant“ von Klaus-Rüdiger Richter und Claudia Reese am
Krisenmanagement, insbesondere am zentralen Meldekopf Cuxhaven und an der Einsatzleitergruppe, ELG,
vorgetragen wurden, scheinen mir durchaus überzeugend zu sein. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß
Umweltminister Steenblock in diesem Text ausdrücklich
von dieser Kritik ausgenommen wurde. Dazu kann ich
mich nicht äußern.
Gila Altmann ({2})
Ich möchte bei dieser Selbstkritik nur den Aspekt
„Hochseeschlepper“ herausgreifen: Zu Recht wird darauf verwiesen, daß im Rahmen der falschen Sparmaßnahmen und der Deregulierung der vorausgegangene
Verkehrsminister den Vertrag für das Schiff „Oceanic“,
das für solche Bergungsarbeiten optimal zu sein scheint,
nur für wenige Monate verlängerte. Doch dasselbe Frau Altmann und Frau Faße - tat dann der neue Verkehrsminister mit seinem Vertrag für den Zeitraum vom
1. Februar bis 15. April 1999.
Darüber hinaus wirft Ihnen, Herr Müntefering und
Herr Ibrügger, die erwähnte Zeitschrift detailliert vor, in
die Ausschreibung für ein mögliches neues Notfallhochseeschleppschiff verzögernde und falsche Versuchsbedingungen hineingeschrieben zu haben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Faße?
Ja.
Herr Wolf, ist Ihnen bekannt,
daß die Verträge deshalb nicht weiter verlängert werden
konnten, weil es europäische Fristen einzuhalten galt?
Das heißt: Es muß wieder europaweit neu ausgeschrieben werden. Diese Verlängerung war nicht anders möglich. Ist Ihnen bekannt, daß die weiteren Ausschreibungsunterlagen schon angefertigt worden sind, damit
die europaweite Ausschreibung stattfinden kann?
Frau Kollegin Faße, ich
bin nicht Fachfrau oder Fachmann, wie Sie es auf diesem Gebiet sind. Das wissen Sie auch. Mir ist bekannt,
was Sie gesagt haben. Ich habe aus der Fachzeitschrift
genau zitiert, in deren Kritik beides formuliert wird:
Durch die Art der Ausschreibung wären neue zeitverzögernde Faktoren hineingekommen, so daß es - jedenfalls
bisher - wiederum keine Sicherheit gebe, ob es zu dieser
Anschaffung komme. Nach Ihrem Antrag müßte es dazu
kommen.
Werte Kolleginnen und Kollegen, zu Recht wird in
der Debatte zum „Pallas“-Unglück darauf verwiesen,
daß dieses relativ kleine Schiff mit seinen geringen Ölmengen bereits zum Tod von mehr als 10 000 Seevögeln
und zu erheblichen Schäden in den betroffenen Küstenregionen geführt hat. Bei der auch nach Annahme des
Antrags von SPD und Bündnisgrünen weiterhin geltenden Gesetzeslage sind jederzeit weit folgenreichere Unfälle - dann wirkliche Katastrophen - durch größere
Schiffe, zum Beispiel durch einen Öltanker, möglich.
In jedem Fall erleben wir eine kontinuierlich wachsende Verschmutzung der Meere. Daher sollten wir
uns einig sein, daß hier auch einige grundsätzliche Fragen an- und Forderungen ausgesprochen werden müssen. Ich nenne zum Schluß nur drei.
Erstens. Es muß ein Konzept gegen den weniger
spektakulären, schleichenden Tod der Nordsee durch die
legale und illegale Einleitung von jährlich mehr als
80 000 Tonnen Öl durch Schiffe und Ölplattformen entwickelt werden. Wer für die Entsorgung direkt bezahlen
muß, wird angesichts der Konkurrenz und des Kostendrucks immer versucht sein, illegal zu verklappen.
Zweitens. Es muß durch internationale Vereinbarungen darangegangen werden, bei Antriebs- und Schmierstoffen in wachsendem Maß weniger belastende Stoffe
zu verwenden, also auf Schiffen wieder Diesel statt
Schweröl und auf Ölplattformen Schmierstoffe auf Wasserbasis. Letztere werden bei einigen norwegischen Unternehmen bereits eingesetzt, ohne daß die Bohrköpfe
dabei beschädigt werden.
Drittens. Sie wissen, daß wir als PDS Deregulierung
und Liberalisierung für grundsätzlich falsch halten, was
nicht heißt, daß wir umgekehrt Staatszentralismus für
sinnvoll halten.
({0})
Die Mehrheit des Hauses wird uns hier nicht folgen;
insbesondere Konservative und Liberale lassen sich
höchstens in Intervallen von einem halben Jahrhundert
davon überzeugen, wie zerstörerisch diese Entwicklung
sein kann; ich denke beispielsweise an das „Ahlener
Programm“ der CDU.
Gleichwohl sollte unabhängig von der grundsätzlichen Frage das „Pallas“-Unglück Anlaß zu der Aussage
sein, daß Deregulierung im Bereich der Sicherheit hier konkret beim Küstenschutz, zum Beispiel bei den
Lotsen, bei der Vorhaltung ausreichender Schleppkapazitäten - für Mensch und Natur tödlich ist. Sie kommt
uns heute im übrigen auch schon meßbar teuer. Das
„Pallas“-Unglück kostet die Steuerzahlenden gut 11
Millionen DM;
({1})
die Versicherung wird maximal 3,3 Millionen DM beisteuern. Nicht reden will ich von den Kosten für
Mensch und Natur, die sich in vielen Fällen erst nach
langer Zeit bemerkbar machen und aufaddieren. Hier
könnte ein Konsens oder zumindest eine breite Mehrheit
im Bundestag hergestellt werden: keine Deregulierung
von Sicherheit.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der
Kollege Kurt-Dieter Grill, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte,
anknüpfend an den letzten Redner, die Bemerkung über
die Frage des Verhältnisses der Schadstoffeinträge in
der Normalität des Alltages und bei Unglücken doch ein
bißchen zurechtrücken. Unglücke sind in einer Quote
von 5 bis maximal 10 Prozent an der Belastung unserer
Meere beteiligt; das, was das tagtägliche Geschäft der
Schiffahrt ausmacht, trägt dazu immer noch zu 90 bis 95
Prozent bei. Nur aus diesem Blickwinkel kommt man in
die richtigen Dimensionen dessen, was hier zu diskutieren ist.
Zum zweiten möchte ich in dieser Debatte gerne eine
offizielle Stellungnahme des Bundesumweltministeriums vorgetragen bekommen;
({0})
denn die Kollegin Altmann hat hier nicht als Parlamentarische Staatssekretärin, sondern als Abgeordnete gesprochen. Das heißt, sowohl in der letzten als auch in
der heutigen Debatte gab und gibt es keinen offiziellen
Beitrag des Bundesumweltministers zu diesem angeblich so wichtigen Sachverhalt. Ich halte das für einen
Skandal.
({1})
Ich gehe noch einen Schritt weiter. Am Rande der
letzten Debatte, die aus unmittelbarem Anlaß dieses Unglücks stattfand, hatte ich Gelegenheit, zusammen mit
der Kollegin Altmann „Phoenix“ ein Interview zu geben. In diesem Gespräch mit der Journalistin und mir hat
Kollegin Altmann gesagt - das war für mich ausgesprochen interessant -, eigentlich habe das Bundesverkehrsministerium versagt. Sie sollten also heute hier zu dem
Vorwurf der Abgeordneten Altmann Stellung nehmen,
daß das Bundesverkehrsministerium in dieser Frage versagt habe. Das Bundesumweltministerium scheint wirklich vollkommen unbeteiligt zu sein.
Was die EU-Ebene und den Sankt-Nimmerleins-Tag
angeht: Frau Altmann, auch in den europäischen Vereinbarungen besteht das eigentlich Schwierige darin ich kenne das seit dem Unfall der „AmocoCadiz“ -, daß
wir zwar eine Fülle internationaler Vereinbarungen haben, daß aber die Einhaltung und Durchsetzung dieser
Vereinbarungen ein Stück des Gesamtproblems ist, das
wir allerdings nicht nur in diesem Bereich kennen.
Ihre beredte Kritik an Dänemark zeigt deutlich, daß
alle Abkommen und Geräte nichts nützen, wenn niemand sie einsetzt. Sie wissen genausogut wie ich, daß
die „Oceanic“ an dem Tag gar nicht angefordert wurde,
weil es aus Gründen des technischen Sachverstands
nicht für notwendig befunden wurde.
({2})
Die „Oceanic“ ist in diesem Zusammenhang gar nicht
unser Problem.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Altmann?
Ich habe noch vier
Minuten. Ich möchte jetzt am Stück reden.
Ich finde es ganz interessant, daß die Kollegin Frau
Faße hier am Schluß ihrer Betrachtungen zugegeben hat,
daß es etwas nicht gibt, was von Ihnen, solange wir in
der Regierung waren, immer behauptet worden ist: daß
es eine hundertprozentige Sicherheit nicht gebe. Sehen
Sie: In diesem Bewußtsein müssen wir viele Fragen des
täglichen Lebens betrachten. Ohne daß ich das weiter
ausführen will: Es ist hochinteressant, welche Risiken
die Menschen in einem bestimmten Zusammenhang
ganz ohne jeden Zweifel in Kauf nehmen, ohne sich
über die Quantität und die Qualität des Risikos zum Beispiel des Autofahrens im klaren zu sein.
Ich hoffe, daß heute nicht nur das Bundesverkehrsministerium hier offiziell spricht, sondern daß auch das
Bundesumweltministerium seine Meinung noch einmal
offiziell darstellt.
({0})
Ich will im übrigen auch eine Bemerkung zur Frage
der Ostsee machen. Wer sich mit dem beschäftigt, was
die ehemalige Bundesregierung an Abkommen zur Verbesserung der Situation der Umwelt auch und gerade im
Zusammenhang mit den Ostseeanrainerstaaten auf den
Weg gebracht hat - manches war erst nach 1990 möglich -, der sollte zu einer solch arroganten Behauptung
nicht kommen, Frau Altmann.
({1})
Die Umweltpolitik in diesem Lande und in Europa beginnt nicht mit der rotgrünen Regierung in Bonn; vielmehr hat sie lange vor Ihnen begonnen, und sie wird
auch noch existieren, wenn Sie wieder abgewählt sind.
({2})
Sie haben im Grunde genommen hier zwei Ausreden
vorgebracht. Die eine lautete, das sei ein schlechtes
Schiff gewesen - ich möchte das Bundesverkehrsministerium bitten, hier einmal zu erklären, ob es ein Substandardschiff gewesen ist oder nicht -, und die zweite
lautete, Sie hätten ein schweres Erbe angetreten.
Nur, das paßt nicht zu dem, was Herr Steenblock und
andere behauptet haben. Auch ich habe hinreichend
parlamentarische Erfahrungen mit Beamten - positive
wie negative. In der Anhörung des Umweltausschusses
ist mir der Vertreter des Landes Schleswig-Holstein
wirklich nachteilig aufgefallen. Warum? Weil er jede
Frage von Parlamentariern für überflüssig hielt, weil er
im Auftrag seiner Landesregierung die These vertrat,
man habe sich keines fehlerhaften Verhaltens schuldig
gemacht; vielmehr habe man alles getan, was notwendig
war, und Herr Steenblock sei vollkommen in Ordnung.
Wenn Ihre Landesregierung diese Auffassung vertritt,
dann können Sie doch nicht hier herkommen und behaupten, das sei das schwere Erbe von Frau Merkel.
({3})
Sie müssen wirklich einmal anfangen, logisch zu denken. Wenn Sie das tun, dann können Sie Ihre Vorwürfe
vortragen.
({4})
- Substandard ist richtig, ja.
Die Kritik an schwerfälligen Strukturen kann ich nur
nachvollziehen. Sie ist richtig. Eine zentrale Koordinierung gibt es im übrigen. Ich kann Sie wirklich nachvollziehen, wenn ich mich in diesem Zusammenhang an das
Wort von Frau Simonis erinnere, Herr Steenblock solle
doch erst einmal ausschlafen.
Ihr Antrag macht deutlich, daß Sie eigentlich alles
wissen, was Sie wissen müssen oder wissen wollen, und
eigentlich auch schon wissen, wie das alles geht. Wenn
das so ist, dann könnten wir das Geld für die Expertenkommission eigentlich sparen. Da ich aber sicher bin,
daß es richtig ist, auch hier einmal den Rat der Fachleute
zu hören, plädiere ich dafür, daß wir die Debatte dann
wiederaufnehmen, wenn die Fachleute ihre Arbeit getan
haben.
Eines sage ich Ihnen mit aller Gewißheit: Die, die in
der ELG und anderswo ihre Arbeit getan haben, haben
nach bestem Wissen und Gewissen versucht, mit der
Katastrophe umzugehen. Wir sollten sehr vorsichtig mit
Schuldzuweisungen sein, Frau Altmann.
({5})
Ich gebe Ihnen den guten Rat: Wenn Sie Herrn Steenblock hier freisprechen, sollten Sie sich gewaltig davor
hüten, anderen für etwas die Schuld in die Schuhe zu
schieben, was zu einer Zeit passierte, wo Sie und niemand anders die Verantwortung hatten.
({6})
Nun erteile ich das
Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Lothar
Ibrügger.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter Einsatz ihres Lebens haben sich Seemänner des Deutschen
Seenotrettungsdienstes, Bergungsfachmänner und Seeleute darum bemüht, schwersten Schaden von der deutschen Küste abzuwenden. Es ist ihnen leider nicht gelungen, wie die heutige Debatte zeigt. Es besteht aber
Anlaß, ihnen zu danken, daß sie alles versucht haben,
um einen schweren Unglücksfall zu verhindern.
({0})
Deswegen wird die Bundesregierung alles in ihren
Kräften Stehende tun, um den Erwartungen dieser Menschen und der Menschen an der Küste durch eine klare
und solide Aufarbeitung der Folgerungen aus der Havarie der „Pallas“ Rechnung zu tragen.
({1})
Ich habe Ihnen am 18. November im Umweltausschuß des Deutschen Bundestages und am Nachmittag
im Plenum des Deutschen Bundestages den Zwischenbericht zur Havarie des Frachters „Pallas“ vorgestellt.
Die Arbeiten an dem Endbericht stehen kurz vor dem
Abschluß. Er wird Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Kürze zur Verfügung stehen. Als Einleitung wird
er eine Chronologie der Ereignisse enthalten. Zudem
wird er auf die Zuständigkeiten bei verschiedenen Arbeitsbereichen wie Notschleppen, Einsatz der kommerziellen Berger, Brandbekämpfung, Bekämpfung der
Ölverschmutzung zu Wasser und am Strand sowie Löschen der verkohlten Holzladung eingehen. Darüber
hinaus wird dieser Endbericht auf die bis jetzt bekannten Folgen für das empfindliche Wattenmeer und die
Kosten der gesamten Aktion eingehen.
Ich bin zuversichtlich, daß der Endbericht die Diskussion über den Seeunfall der „Pallas“ versachlichen wird.
Wir benötigen eine nüchterne, an den Fakten orientierte
Debatte über Ursachen und Konsequenzen des Unglücks. Nur so, meine Damen und Herren, kommen wir
auch zu wirklichkeitsnahen Ergebnissen. Ich hoffe, daß
vorschnelle Folgerungen und Vorverurteilungen damit
auch der Vergangenheit angehören werden.
({2})
Nachdem mittlerweile die schlimmste Gefahr gebannt
ist, dürfen wir das Unglück, wie ich schon zu Anfang
sagte, nicht auf sich beruhen lassen. Die Einberufung einer unabhängigen Expertenkommission ist vorbereitet, für die Minister Müntefering folgenden Arbeitsauftrag formuliert hat:
Unter Auswertung der „Pallas“-Havarie ist eine
Bewertung des bisherigen Notfallkonzeptes und
dessen Weiterentwicklung für die Sicherung der
deutschen Küste an Nord- und Ostsee vor den Folgen von Schiffsunfällen zu erarbeiten. Dieses soll
sowohl Vorschläge für Optimierungen im
Bund/Küstenländer- als auch im internationalen
Bereich enthalten.
({3})
Die Kommission wird den Fall „Pallas“ unter Einberufung von Sachverständigen gründlich aufarbeiten. Sie
wird Anhörungen mit Bergungsunternehmen, Rettungsorganisationen, Nautikern, Tarifpartnern, Umweltverbänden und Rechtsexperten durchführen. Sie sollen die
Optimierungsvorschläge für das bestehende Notfallsystem im nationalen und internationalen Rahmen unterbreiten. Den Vorsitz wird der ehemalige Bremer Senator, unser früherer Kollege Claus Grobecker führen.
({4})
Ihm werden als Stellvertreter Rechtsanwalt Wolfgang
Paul und Professor Knud Benedict zur Seite stehen. Die
fünf Küstenländer sowie das Bundesumweltministerium
und das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Wohnungswesen werden auf Abteilungsleiterebene beteiligt.
Wir erwarten von der Kommission vor allem Aussagen zu folgendem: erforderliche Kapazitäten an Hochseeschleppern - ich betone hier: flachgehend genug, um
im Küstenvorfeld eingesetzt zu werden - und zusätzlich
benötigte Feuerbekämpfungsschiffe; technische AusrüKurt-Dieter Grill
stung von Unfallbekämpfungsschiffen, Ausbildung und
Training der Mannschaften; Eingriffsmöglichkeiten bei
Bergungsaktionen sowie Verbesserung des Haftungsund Versicherungsrechtes.
Die Bundesregierung hält es für erforderlich, Initiativen für eine verbesserte Zusammenarbeit, insbesondere
im Notschleppsektor, auf alle Nord- und Ostseeanliegerstaaten auszudehnen. Diese Zusammenarbeit betrifft
nicht nur Dänemark, sondern auch alle anderen Anliegerstaaten.
({5})
Wir erwarten auch Vorschläge, die im Rahmen der
Internationalen Seeschiffahrtsorganisation vorangetrieben werden können und die sich vor allen Dingen auf
die Koordination und die Zusammenarbeit konzentrieren.
Der Landtag von Schleswig-Holstein hat einen
parlamentarischen Untersuchungsausschuß - darüber
ist schon berichtet worden - eingesetzt. Er wird die in
der Landeszuständigkeit liegenden Abläufe untersuchen.
Die von der Bundesregierung einzusetzende Kommission unterscheidet sich von dem schleswig-holsteinischen
Ausschuß in der Aufgabenstellung. Ich bin aber davon
überzeugt, daß sich die verschiedenen Ausschüsse sinnvoll ergänzen werden.
Wenn ich mir die Kommentare zu Einzelthemen der
„Pallas“-Havarie anhöre, stelle ich fest, daß unter dem
Eindruck des Ereignisses nicht immer alles zutreffend
berichtet wird. Dazu gehört insbesondere die Berichterstattung über den Hochseeschlepper „Oceanic“. Es waren die jetzigen Regierungsfraktionen, die sich bei den
letzten Haushaltsverhandlungen dafür eingesetzt haben,
daß Mittel für den ganzjährigen Einsatz der „Oceanic“
zur Verfügung gestellt werden.
({6})
- Nein, noch im Frühjahr erklärte der damalige Minister
Wissmann, das Konzept sei ausreichend.
Herr Minister Müntefering hat im Vorgriff auf eine
endgültige Regelung der Notschleppkapazitäten in der
Deutschen Bucht noch als designierter Bundesminister
dafür gesorgt, daß die „Oceanic“ durchgängig für diese
Wintersaison gechartert wurde. Die Frage, ob die „Oceanic“ im Havariefall der „Pallas“ zu spät oder nicht
richtig eingesetzt wurde, wird von der Expertenkommission mit genauem Blick auf die tatsächlichen Zeitabläufe
zu prüfen sein. In diesem Zusammenhang legen wir
Wert auf die Aussagen der unmittelbar betroffenen Kapitäne, die bei hohen Windstärken und bei Wellenhöhen
von zehn Metern unter Einsatz ihres Lebens versucht
haben, ihrer Aufgabe gerecht zu werden.
({7})
Sie müssen gehört werden und werden uns sicherlich
helfen, ein Urteil zu fällen. Ich warne deswegen vor
weiteren sachfremden Spekulationen.
Die Bundesregierung wird sich der nötigen Aufarbeitung mit der gebotenen Sorgfalt und Seriosität stellen. Das gilt ebenso für die beteiligten Ausschüsse.
Bei der bisherigen Aufarbeitung stießen wir auf die
von der Kollegin Faße und von der Kollegin Altmann
schon angesprochenen internationalen Abkommen, die
hier im Deutschen Bundestag noch zu ratifizieren sind.
Erstens nenne ich das Abkommen für die Beschränkung der Haftung für Seeforderungen. In diesem Abkommen geht es um Haftungshöchstsummen, die international vereinbart und geltendes Recht sind. Dieses
Abkommen ist 1996 durch die Regierung Kohl novelliert worden; es wurde aber bis zur Bundestagswahl dem
Deutschen Bundestag nicht zur Ratifizierung vorgelegt.
Damit konnten die Rechtsgrundlagen nicht verändert
werden. Nach mir vorliegenden Schätzungen sind so
4,7 Millionen DM vermeidbare Kosten für den Steuerzahler entstanden. Wäre das Übereinkommen durch die
Ratifikation im Deutschen Bundestag in Kraft gesetzt
worden, wären die Kosten auf Grund der Schadensbewältigung für die Steuerzahler niedriger.
({8})
Zweitens: Das internationale Bergungsabkommen
wurde 1996 gezeichnet. Da es durch den Deutschen
Bundestag nicht ratifiziert werden konnte, fielen wir auf
die Regelung des Jahres 1910 zurück.
({9})
Das heißt, daß auch die Kosten für die Bergungsversuche dem Reeder der „Pallas“ nicht angelastet werden
können.
({10})
Warum wurde dem Parlament durch die frühere Bundesregierung dieses Abkommen nicht zur Ratifizierung
vorgelegt? Die Antwort, die mir gegeben wurde, lautete:
keine Arbeitskapazität in den verantwortlichen Ministerien. Ich gebe Ihnen diesen Sachverhalt so wieder, wie
er sich mir darstellt.
({11})
Wir müssen leider festhalten, daß für den Steuerzahler vermeidbare Kosten durch Fehler und Versäumnisse
im parlamentarischen Beratungsverfahren entstanden
sind. Sie wären vermeidbar gewesen.
({12})
Im übrigen müssen wir uns auch damit auseinandersetzen, ob alle Kräfte, die dem Bund zur Verfügung stehen, in das frühere Sicherheitskonzept eingebaut worden sind. Ich nenne hier insbesondere die Fähigkeiten
und Unterstützungsmöglichkeiten der über 20 000 Pioniere im norddeutschen Raum, die bei solchen Unglücksfällen hätten eingesetzt werden können. Auf die
Nachfrage, ob dem Sicherheitskonzept auch das Wissen
zugrunde liege, welche Fähigkeiten die Pioniere einzubringen haben, lautete die mir heute gegebene Antwort:
Nein, es liegen keine Kenntnisse vor. - Manche rasche
Hilfestellung hätte noch besser erfolgen können, wenn
in dem bisher so lobend herausgestellten Sicherheitskonzept für die Deutsche Bucht und insbesondere auch
im Katalog für die Einsatzleitgruppe die Fähigkeiten der
Bundeswehr mit bedacht worden wären. Sie waren aber
nicht Teil dieses Konzeptes. Dies ist zu bedauern. Sie
gehören in Zukunft in dieses Konzept hinein.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Brähmig.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die heutige
Debatte zur Havarie der „Pallas“ vor Amrum hat einen
Aspekt vernachlässigt, das Thema: Folgerungen für den
Tourismus in den betroffenen Regionen. Ich verweise
hierbei auf unseren Antrag auf der Drucksache 14/160,
der sich mit konkreten Forderungen an die rotgrünen
Regierungen in Bund und Land wendet.
Grundsätzlich muß dieser tragische Unfall ganzheitlich betrachtet werden, das heißt, nicht nur aus der Sicht
der Verkehrs- und Umweltpolitik, sondern auch aus der
Sicht der Regional- und Tourismuspolitik. Während sich
die verkehrs- und umweltpolitischen Folgerungen darauf
konzentrieren müssen, ein solches Szenario wie die Havarie der „Pallas“ zukünftig zu vermeiden, muß die Regional- und Tourismuspolitik Sofortmaßnahmen entwikkeln, um den eingetretenen Imageverlust und die damit
verbundenen wirtschaftlichen Konsequenzen für die betroffene Tourismus- und Nationalparkregion so gering
wie möglich zu halten.
Insofern verwundert es mich schon, daß sich der Antrag der rotgrünen Regierungskoalition mit diesem
Thema nur in einem einzigen Satz befaßt. Ich zitiere:
Der Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb
auf: . . . Die Region des nordfriesischen Wattenmeeres bei ihren Bemühungen um einen natur- und
umweltverträglichen Tourismus zu unterstützen.
Meine Verwunderung über diese lapidare Aussage der
Regierungskoalition wird erst klar, wenn man sich die
Bedeutung des Wirtschaftsfaktors Tourismus für die
Region genauer betrachtet: Nach Angaben des Nordseebäderverbandes ist der Tourismus auf den nordfriesischen Inseln und an der Westküste Schleswig-Holsteins
der bedeutsamste Wirtschaftsfaktor. An der Westküste
erwirtschaftet der Tourismus 20 Prozent aller Einkommen und liegt damit um ein Vielfaches über dem Landes- und Bundesdurchschnitt. Auf den nordfriesischen
Inseln liegt der Anteil noch höher; hier ist der Tourismus
oft der einzige Motor der Wirtschaft. Die betroffene Region erwirtschaftete in der Saison 1997 nach Angaben
des Bäderverbandes mit weit über 7 Millionen Übernachtungen einen Umsatz von zirka 875 Millionen DM.
Der Tourismus ist damit auch für den Groß- und Einzelhandel, das Handwerk, das produzierende Gewerbe und
sonstige Dienstleistungsunternehmen lebenswichtig.
Die Havarie der „Pallas“ hat nun aber unzweifelhaft
für einen enormen Imageverlust für diese beliebte Ferien- und Nationalparkregion gesorgt. Das läßt sich an
Hand folgender Zahlen beweisen: Das Nationalparkamt,
der WWF und der Bericht von Staatssekretär Siegmar
Mosdorf melden einheitlich, daß bedauerlicherweise
16 000 Seevögel dem aus dem Wrack der „Pallas“ ausgetretenen Öl zum Opfer gefallen sind. Durch Ölbekämpfungsschiffe wurden etwa 30 Kubikmeter ausgelaufenes Öl aus dem Wasser aufgenommen. Zusätzlich
mußten an den Stränden von Föhr, Amrum und Sylt 870
Tonnen Ölsandgemische entsorgt werden. In der Zeit
der Jahreswende berichteten Mitarbeiter von Reedereien, daß sich täglich bis zu 500 Katastrophentouristen
ausschließlich das Wrack in der Nationalparkregion ansehen wollten.
({0})
In diesen Zusammenhang gehört auch die deutschlandweite, über Wochen fortgesetzte negative Berichterstattung der Medien. Wieder einmal konnte man sich
davon überzeugen, daß sowohl die elektronischen wie
auch die Printmedien ihrem Motto treu bleiben: „Only
bad news are good news.“ Während zu Beginn der Havarie fast stündlich neue Bilder von auslaufendem Öl
und langsam verendenden Seevögeln gezeigt wurden,
nahm die Medienberichterstattung ab, als die Ölbekämpfung ihre ersten Erfolge zeigte und eine weit größere
Katastrophe vermieden werden konnte. Besonders verärgert waren die Einheimischen darüber, daß die Medien
keinerlei Interesse daran zeigten, daß die Strände schon
einige Tage später weitestgehend vom Öl-Sand-Gemisch
und von verendeten Vögeln gereinigt worden waren.
Dies muß hier noch einmal ausdrücklich betont werden.
Unser Dank muß nicht nur den Seeleuten gelten, die
auf hoher See unter Einsatz ihres Lebens gegen die Katastrophe ankämpften, sondern auch jenen vielen Helfern, die die Schäden an Land so schnell beseitigten und
die Natur ihrer Heimat - soweit möglich - vor größerem
Übel bewahrten.
({1})
Wie aber wird sich der eingetretene Imageverlust
ökonomisch auf die Umsatzzahlen auswirken? Selbst
wenn die nordfriesischen Inseln und die Westküste
Schleswig-Holsteins einen sehr hohen Prozentsatz an
Stammkunden vorweisen können, ist das große Potential
neuer Gäste stark verunsichert über die tatsächliche Situation vor Ort. Der Nordseebäderverband geht für die
kommende Saison in einer nach eigenen Angaben vorsichtigen Schätzung von einem zu erwartenden Umsatzrückgang in Höhe von zirka 5 Prozent aus. In D-Mark
bedeutet das einen Umsatzverlust von fast 44 Millionen
für die Region. Ein 10prozentiger Rückgang der Übernachtungszahlen, der durchaus im Bereich des Möglichen liegt, entspräche einem Umsatzverlust in Höhe von
87,5 Millionen DM.
Wie das Thema der Debatte festlegt, geht es heute um
Folgerungen aus der Havarie der „Pallas“ und damit um
die Folgen aus dem entstandenen Schaden für die Region. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert daher in
Punkt 4 ihres Antrages die Bundesregierung und die
Landesregierung Schleswig-Holsteins auf, sofort geeignete Marketingmaßnahmen zu initiieren und zu finanzieren, die dabei helfen werden, den eingetretenen Imageverlust so gering wie nur möglich zu halten und damit
eine steigende Arbeitslosigkeit in der Region zu verhindern. Die regionale Tourismuswirtschaft und die betroffenen Gemeinden schätzen den Finanzierungsbedarf für
eine effektive Imagekampagne auf zirka 1 Million DM.
Mit Bedauern habe ich vernommen, daß die in erster Linie zuständige rotgrüne Landesregierung in Kiel diese
Forderung abgeschmettert hat. Auch ein ähnlicher Antrag der CDU-Landtagsfraktion anläßlich der Haushaltsberatungen, der die Bereitstellung einer halben Million
DM für Marketingmaßnahmen vorsah, wurde mit der
rotgrünen Stimmenmehrheit des Landtages niedergestimmt.
Nach meinen Informationen kosten die bisherigen
Bergungs- und Ölentsorgungsmaßnahmen den Steuerzahler zirka 20 Millionen DM.
({2})
Der Deutschen Zentrale für Tourismus - Frau Faße, das
wissen Sie genausogut wie ich - stehen aus Steuermitteln gerade einmal 36 Millionen DM pro Jahr zur Bewerbung des gesamten Tourismusstandortes Deutschland im In- und Ausland zu.
Nachdem sich die schleswig-holsteinische Landesregierung der Verantwortung entzogen hat,
({3})
ist nun um so dringlicher die Bundesregierung aufgefordert, schnelle Hilfe zu leisten und die Folgen für die
nordfriesischen Inseln und die Schäden für die Westküste Schleswig-Holsteins zu minimieren. Angesichts der
beginnenden Buchungsphase für die Saison 1999 und
der in den nächsten Monaten stattfindenden Fach- und
Tourismusmessen ist in dieser Angelegenheit, Frau
Faße, höchste Eile geboten und ein sofortiges Sondermarketingprogramm für die unverschuldet geschädigten
Leistungsanbieter aufzulegen.
({4})
Es war die rotgrüne Bundesregierung, die der Bevölkerung im Wahlkampf versprach, die Arbeitslosigkeit
deutlich zurückzuführen. 100 Arbeitslose in der Zeit der
Hochsaison kosten den Staat mehr als 1 Million DM.
({5})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion versteht sich als
Anwalt der betroffenen touristischen Leistungsanbieter.
Unser Appell an das Hohe Haus lautet: Folgen Sie unserem Antrag auf Drucksache 14/160! Investieren Sie jetzt
in Marketingmaßnahmen!
({6})
Investieren Sie in die Zukunft der Nationalparkregion
Wattenmeer! Investieren Sie in Arbeit und nicht in Arbeitslosigkeit!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Frau Kollegin,
die Zeit des Redners war schon abgelaufen. Deswegen
habe ich Sie nicht mehr zu Ihrer Zwischenfrage aufgerufen. Ich bitte um Entschuldigung.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anke Hartnagel.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Bundestag diskutiert heute zum
zweiten Mal über die „Pallas“-Katastrophe. Sie hat uns
alle mit Sorge erfüllt, vor allem aber mit dem Willen,
aus der Katastrophe zu lernen. Havarien werden nicht
gänzlich auszuschalten sein. Das wird niemals der Fall
sein. Worauf es jedoch ankommt, ist, alles zu unternehmen, damit Unfälle vermieden werden können, und den
Schaden soweit wie möglich zu begrenzen, wenn eine
Havarie dennoch eintritt.
Zur Erinnerung: Bei der laut WWF größten Ölpest im
Wattenmeer kamen rund 16 000 Seevögel ums Leben.
Der Kollege Brähmig hat das soeben gesagt. Das ist etwa die Hälfte des Meeresentenbestandes. Ich finde, das
ist in der Tat eine Katastrophe.
({0})
Den Koalitionsfraktionen geht es mit ihrem Antrag
- darum muß es uns allen gehen - um eine Optimierung des Sicherheits- und Notfallkonzeptes für die
Nord- und Ostsee, ganz besonders aus der Sicht des
Umwelt- und Naturschutzes. Es ist gar nicht auszudenken, wenn statt der „Pallas“ Öltanker wie die „Sea
Empress“, die „Äegean Sea“ oder die „Braer“ vor Amrum brennend gestrandet wären. Das wäre ein ökologischer und ökonomischer Super-GAU für die Nordsee.
Das macht deutlich, daß wir endlich handeln und alles
tun müssen, um eine weitere Schiffshavarie im empfindlichen Wattenmeer zu verhindern. Ich hoffe doch,
meine Damen und Herren von der Opposition, daß dies
ebenfalls Ihr Anliegen ist; ich glaube das heute herausgehört zu haben.
Was Ihren Antrag betrifft, so muß ich jedoch sagen:
Sie führen das fort, was Sie bereits in der Aktuellen
Stunde am 18. November 1998 getan haben. Schon damals war für Sie ganz klar, an wen die Schuldzuweisungen zu richten sind. Auch in Ihrem jetzt vorliegenden Antrag gehen Sie so vor. Erst stellen Sie ganz klar
fest, wer schuldig ist, und dann verlangen Sie eine vollständige Aufklärung, die Sie dann eigentlich nicht mehr
bräuchten. Das paßt nicht zusammen, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU.
({1})
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ich würde jetzt gern zu Ende reden. Ich habe auch nicht so viel Zeit.
Wir wollen, daß die „Pallas“-Havarie gründlich aufgearbeitet wird. Die heute schon erkennbaren Schwachstellen am bisherigen Sicherheits- und Notfallkonzept
müssen unbedingt beseitigt werden. Klar ist aber auch,
daß der unglückliche Verlauf der Schlepp- und Ölentsorgungsversuche viel mit den Wetterbedingungen zu
tun hatte, wie Sie alle wissen. Aber auch wenn diese
neue Bundesregierung schon vieles erreicht hat und
noch erreichen wird - für Sturmstärken ist sie nicht zuständig.
({0})
Sie ist aber dafür zuständig, die Versäumnisse der alten
Bundesregierung aufzuarbeiten. Es fällt auf, daß Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU und
F.D.P., durch einfache Schuldzuweisungen vom Unvermögen der bisherigen Bundesregierung ablenken wollen.
Wir brauchen eine schlagkräftige europäische Küstenwache, die bei Schiffsunfällen ein frühes Eingreifen
sicherstellt. Dazu gehören die technischen Kapazitäten
an Hochsee- und weiteren flachgehenden Schleppern, an
Feuer- und Ölbekämpfungsschiffen sowie die erforderlichen Hubschrauber für Nord- und Ostsee. Dies ist bereits gesagt worden; dem kann man sich nur anschließen. Es muß doch möglich sein, hierüber mit den Nordund Ostseeanrainerstaaten zu Vereinbarungen zu kommen. Wir werden uns auf jeden Fall verstärkt dafür einsetzen.
Die bilateralen und internationalen Übereinkommen
zum Schutz der Meere müssen weiterentwickelt werden, um einen wirksamen Schutz zu gewährleisten. Die
internationalen Übereinkommen, unter anderem erstens
über die Änderung der Haftung für Seeforderungen von
1996, zweitens über die Bergung in Seenot von 1989
sowie drittens über Haftung und Entschädigung für
Schäden bei der Beförderung schädlicher und gefährlicher Stoffe auf See von 1996, müssen endlich - darauf
hat Herr Staatssekretär Ibrügger bereits hingewiesen - in
Kraft gesetzt werden. Das Verursacherprinzip muß wenigstens ansatzweise durchgesetzt werden. Es kann doch
nicht sein, daß die durch die Havarie der „Pallas“ entstandenen Schäden nur zum Teil durch die Schiffsversicherung gedeckt sind. Es kann absolut nicht angehen,
daß der größte Teil vom Bund und vom Land Schleswig-Holstein getragen werden muß.
Lassen Sie mich noch etwas zur bisher nicht beendeten Bergung der „Pallas“ sagen. Da sich immer noch Öl
in dem Wrack befindet, das offensichtlich schwer zu
entfernen ist, muß sorgfältig geprüft werden, wie das
Wattenmeer vor weiteren Umweltschäden geschützt
werden kann. Es muß geprüft werden, ob es ökologisch
verträglicher ist, das Wrack versanden zu lassen oder es
aus dem Wattenmeer zu entfernen. Eines ist für mich
klar: Das Wattenmeer darf nicht als preiswerte Mülldeponie mißbraucht werden.
({1})
Ich schließe mich der Meinung vieler in meiner Fraktion an, daß auch intensiv zu prüfen ist, ob das Wattenmeer als besonders empfindliches Meeresgebiet ausgewiesen werden sollte. Abgesehen von dieser „Pallas“Katastrophe ist auch die fast tägliche Belastung des
Meeres durch Altöleinleitungen aus Schiffen ein nicht
hinnehmbarer Mißstand, der Handeln erfordert. Schätzungen gehen davon aus, daß in der Nord- und Ostsee
pro Jahr rund 300 bis 400 Ölverschmutzungsfälle stattfinden. Nur 2 Prozent der Verursacher mußten bisher
mit einer Verurteilung rechnen. Auch hier muß sich etwas ändern. Dies gilt auch für die Einleitung von Stickstoffverbindungen aus der Landwirtschaft und dem Autoverkehr.
({2})
Meine Damen und Herren, wir sind verpflichtet, die
natürlichen Lebensgrundlagen auch für zukünftige Generationen zu schützen. Lassen Sie uns das über alle
Parteigrenzen hinweg endlich ernsthaft angehen! Ich
bitte Sie daher um die Unterstützung des SPD-Antrages.
Vielen Dank.
({3})
Frau Kollegin,
ich habe gehört, das war Ihre erste Rede im Parlament.
Ich möchte Ihnen im Namen des Hauses dazu herzlich
gratulieren und Sie besonders belobigen, weil Sie sogar
eine Minute weniger geredet haben, als Sie hätten reden
dürfen. Das passiert selten.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/160 und 14/281 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an
den Auswärtigen Ausschuß sowie an den Ausschuß für
die Angelegenheiten der Europäischen Union vorgeschlagen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen auf
Drucksache 14/281 soll nicht an den Innenausschuß und
an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Ostrowski, Dr. Klaus Grehn, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Sofortige Bauunterbrechung an der Bundesautobahn A 17
- Drucksache 14/128 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. - Kein
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst
die Abgeordnete Christine Ostrowski.
Ich kann ja zur Not
verstehen, daß niemand gern Invest-Ruinen verantwortet. Nur: Bei der A 17 ist bisher außer einem stolzen
Bauschild und zwei kümmerlichen Betonklötzen nichts
zu sehen. Wenn jetzt gestoppt wird, passiert gar nichts
- außer daß der Bund mindestens 1,3 Milliarden DM
spart; Landschafts- und Naturschutzgebiete nicht beeinträchtigt werden; die Kaltluftzufuhr der Stadt Dresden
nicht behindert wird; induzierter Verkehr, Umweltbelastung, Zersiedlung, alles, was eine Autobahn an langfristig bekannten Folgen mit sich bringt, vermieden wird.
Eigentlich wollte schon die alte Bundesregierung nie
so recht ran an den Bau, zeigte kaum finanzielle Freizügigkeit und großes Engagement. Noch 1998 stritten der
damalige Staatssekretär Nitsch und Wirtschaftsminister
Schommer, beide CDU, öffentlich verbissen über Finanzierung und Fertigstellung. Aber die sächsische CDU
- mein Kollege wird ja noch sprechen - wollte ihr
„Frühstück in Prag 2002“, koste es, was es wolle, am
liebsten als Verkehrsprojekt „Deutsche Einheit“.
Nun steht die A 17 im vordringlichen Bedarf des
Bundesverkehrswegeplanes, veranschlagt mit 625 Millionen DM. Tatsächlich kostet sie 1,3 Milliarden DM,
was im übrigen schon bei der Linienbestimmung klar
war. Das Nutzen-Kosten-Verhältnis hat sich damit
halbiert. Jeder Student an einer deutschen Uni würde
heutzutage schon wegen der veralteten Berechnungsmethode, die zum Beispiel den induzierten Verkehr als
Kostenfaktor völlig außer acht läßt, durch die Prüfung
fallen. Das würde selbst dem Herrn Verkehrsminister
passieren.
({0})
Bizarr ist, daß die Autobahn in den vordringlichen
Bedarf per Kunstgriff rutschte. Unter mehreren möglichen Trassen entschied man sich für die anerkanntermaßen konfliktreichste Trasse, am Südrand von Dresden.
So nimmt sie den innerstädtischen Verkehr auf und erbringt dort - und nur dort - Belegungszahlen, die sie als
reine europäische Autobahn niemals erreichen würde.
Der eigentliche grenzüberschreitende Verkehr wird mit
25 000 Kfz pro Tag prognostiziert. - Damit Sie wissen,
wovon ich rede: Allein über die Carolabrücke in Dresden fahren täglich 55 000 Kraftfahrzeuge. - Zum Glück
liegt die reale Verkehrsentwicklung noch unter dieser
Prognose.
Spannend ist auch das Verhalten der Parteien: eisern A17 natürlich die CDU. Die SPD übt sich in Kontinuität - sie wird gleich noch zu Wort kommen -, der
Kontinuität des permanenten Wechsels: scharfer Gegner
der Autobahn - im Bürgerentscheid 1995 Seit' an Seit'
mit der PDS - bis zu den Wahlen. Kurz vor dem Kanzlerwechsel schrieb der Vorsitzende der sächsischen SPD
besorgten Bürgern zu Herzen gehende Briefe: Erst muß
Kohl weg und die SPD an die Macht, dann kommt die
ökologische Verkehrspolitik und das Ende dieser Autobahn. - Nach der Wahl kam keine ökologische Verkehrspolitik. Dafür soll die Autobahn kommen. Derselbe
sächsische SPD-Chef kämpft jetzt - wie auch die Bundes-SPD - Seit' an Seit' mit Biedenkopf für die A 17.
({1})
Die Grünen kämpften einst ebenfalls Seit' an Seit' mit
der PDS. Sie sind bekanntermaßen sowieso gegen Autobahnen. Aber jetzt regiert man. Also ist man in der
Klemme. Erst bekräftigt Rezzo Schlauch, begonnene
Projekte weiterzuführen, dann fordert er den Baustopp.
Noch gestern verlautete „Ali“ Schmidt, daß keine Transitautobahnen gewollt würden, sondern die Stärkung der
Eisenbahn. Heute verkündet er in derselben Zeitung,
kein „sofortiger Baustopp“, der erste Abschnitt der A 17
soll fertiggestellt werden.
Absurd auch die Finanzierung. Aus 625 Millionen
DM wurden 1,3 Milliarden DM, egal, der Bund finanziert es, so das Hauptargument im Dresdner Bürgerentscheid. Danach faßt man für den Abschnitt Pirna/Grenze
eine Privatfinanzierung samt Maut ins Auge. Weil es gesetzlich nicht anders geht, ernennt man dafür das
400 Meter hohe Erzgebirge zum Gebirgspaß. Eine Studie soll die Verdrängungseffekte durch die Maut untersuchen und Anfang 1998 vorliegen. - Sie liegt bis heute
nicht vor, obwohl sie fertig ist. Sachsen verkündet schon
öffentlich, daß sich ein Betreibermodell nicht rechnet
und der Bund konventionell finanzieren muß. Interessanterweise haben die Grünen genau an diesem Punkt
den Baustopp gefordert: nicht etwa wegen der Ökologie,
sondern weil sie es „ziemlich dreist“ finden, was Sachsen hier fordert. Wie auch immer: Die Autobahn ist
nicht zu finanzieren; nicht nur, weil sowieso kein Geld
vorhanden ist, sondern weil man für ein verkehrlich unsinniges Projekt keine Steuergelder verschwenden darf.
({2})
Die A 17 wird die Verkehrsprobleme der Stadt und
der Region nicht lösen: Erstens wird zusätzlicher Verkehr induziert, weil Menschen auf der Autobahn fahren
werden, die das eigentlich nicht müssen, und damit längere Wege zurücklegen. Zweitens wird sich auf den
Zulaufstrecken von Dresden der Verkehr zwangsläufig
erhöhen, auch im Nebennetz. Irgendwo beginnen und
enden die Fahrten. Die Mehrzahl der dortigen Verkehre
sind Dresdner Binnenverkehre. Drittens wird sich ein
neues Gleichgewicht einstellen. Stau wird an anderen
Stellen eintreten, dafür auf höherem Niveau. Viertens
wird es weniger Rad-, Fuß- und öffentlichen Verkehr
geben. Der Nutzen des öffentlichen Verkehrs sinkt, sein
Zuschußbedarf steigt, das Geld fehlt. Also legt man
weitere Linien still, wie es bereits jetzt schon geschieht.
Sachsen hat eines der dichtesten Straßennetze
Deutschlands. Für den Fernverkehr von Nord nach Süd
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
reicht es, die vorhandenen Bundesstraßen und Grenzübergänge auszubauen.
Sparen Sie also kostbare Steuergelder! Sie werden an
anderer Stelle dringender gebraucht. Vollziehen Sie
endlich den Wechsel in der Verkehrspolitik und fangen
Sie damit bei der A 17 an!
({3})
Jetzt hat der
Abgeordnete Wieland Sorge das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns also heute
mit dem Antrag der PDS zum Baustopp der A 17 zu befassen. Wir haben eben von der Antragstellerin gehört,
womit das begründet wird.
Es handelt sich um die Autobahn von Dresden nach
Prag. Logischerweise treten, wenn ein solch großes Verkehrsprojekt in Gang gesetzt wird, Konflikte auf: zwischen denen, die dieses Projekt kalt werden lassen wollen, und denen, die es verhindern wollen. Das ist eine
ganz natürliche Sache. Man muß versuchen, diese Konflikte miteinander auszutragen. Dabei geht es oft sehr
hitzig zu, und Emotionen überwiegen häufig den Sachverstand.
Lassen Sie mich einiges zu dem sagen, was den Freistaat Sachsen und auch den Bund veranlaßt hat, eine
solche Autobahn zu bauen.
Es geht in erster Linie darum, eine schnelle Straßenverbindung von Oslo über Kopenhagen, Rostock, Berlin,
Dresden, Prag bis nach Süditalien zu schaffen. Ein
zweiter wichtiger Punkt ist, eine schnelle Straßenverbindung von Dresden über Prag, Budapest, Sofia bis nach
Istanbul zu schaffen, den sogenannten paneuropäischen
Korridor.
({0})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Ostrowski?
({0})
Bitte schön, Frau Ostrowski.
Das ist freundlich. Ich
danke Ihnen. Da Sie jetzt gerade von dieser Nord-SüdTrasse, die in Oslo anfängt und weiter durch Europa
führt, gesprochen haben, möchte ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, daß die offiziellen Verkehrsprognosen einen Anteil des Fernverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen auf dieser Autobahn von nur 10 Prozent vorhersagen?
({0})
Ja, warten Sie ab. Ich werde
dazu noch Stellung nehmen, Frau Ostrowski.
Ich darf Sie einmal mit Hilfe einer Karte davon in
Kenntnis setzen, wie das Ganze aussieht.
({0})
Es soll also eine Straßenverbindung vom Norden
durch ganz Europa hindurch bis zum Süden geschaffen
werden und dann der paneuropäische Korridor, der diese
Verbindung darstellt. Es handelt sich also um ein großes
internationales Vorhaben.
({1})
- Das bleibt mein Geheimnis. ({2})
Es ist natürlich auch eine wirtschaftliche Erschließung
des Raumes um Dresden vorgesehen. Es geht auch darum, die Bevölkerung in diesem Raum besser anzubinden. Das ist natürlich für die Entwicklung der neuen
Bundesländer sehr wichtig.
Von den Gegnern werden entsprechende Gegenargumente angeführt. Es ist ja auch nicht auszuschließen:
Ein solch großes Projekt hat natürlich immer zur Folge,
daß man Einschnitte in die Landschaft, in die Natur vornehmen muß. Das steht außer Frage. Aber von den Gegnern wird alles andere auch angezweifelt, nämlich das
Kosten-Nutzen-Verhältnis, die geschätzten Baukosten
und die erwartete Entwicklung, nämlich eine Entlastung
der Bürger in den einzelnen Städten. All das wird von
den Gegnern immer wieder in Frage gestellt. Es wird
immer wieder gesagt, daß es nicht zu Vertragsverhandlungen zwischen der Tschechischen Republik und
Deutschland kommen könne, weil das Böhmische Mittelgebirge ein sehr sensibler Raum und Landschaftsschutzgebiet sei. Dafür müsse der tschechische Umweltminister eine Ausnahmegenehmigung erteilen, bevor man eine solche Baumaßnahme verwirklichen könne.
Zu dem Sachstand bis jetzt: Wir haben auf der deutschen Seite eine Autobahn in einer Länge von rund
45 Kilometern. Die Kosten wurden schon von Frau
Ostrowski genannt. Ursprünglich waren einmal
625 Millionen DM vorgesehen. Mittlerweile ist die
Summe auf 1,321 Milliarden DM gestiegen. Das hat
seine Ursachen. Schon zu Zeiten der DDR hat man gesehen, daß der Weg von Dresden nach Prag von außerordentlicher Wichtigkeit ist, und hat eine umfangreiche
Planung durchgeführt. Ursprünglich hat man auf diese
Planung zurückgegriffen und an Hand dieser Planung
einen Kostenvoranschlag aufgestellt. Mittlerweile hat
man diese aus der damaligen DDR stammende Planung
beiseite gelegt und eine völlig neue Planung vorgenommen. Man hat rund sieben Trassen vorgeschlagen, und
diese sieben Trassen sind untersucht worden. Man hat
sich dann für die auf dieser Zeichnung dargestellte Trasse entschieden.
Die Baumaßnahmen auf deutscher Seite gliedern sich
in drei Abschnitte. Beim ersten Bauabschnitt haben wir
das Stadium der Planfeststellung und der Baureife erreicht. Mit den ersten Baumaßnahmen wurde im vergangenen Jahr begonnen. Man hat dort angefangen, wo
die A 17 die A 4 berührt. Es ist bereits klar zu sehen, wo
das Autobahndreieck entsteht. Es gab auch eine Ausschreibung für eine Brücke, mit deren Bau in diesem
Jahr begonnen wurde.
Von den zwei Abschnitten, die noch verbleiben, befindet sich ein Teil in der Planfeststellung, der andere in
der Planung. Dies wird noch in diesem Jahr zum Abschluß kommen. Damit wird auch in diesen beiden Abschnitten Baureife erreicht werden.
Die Länge der Autobahn auf der tschechischen Seite
beträgt 90 Kilometer. Die Kosten liegen bei rund
270 Millionen DM.
Herr Kollege
Sorge, die Kollegin Ostrowski möchte noch eine Zwischenfrage stellen. Erlauben Sie das?
Bitte schön, Frau Ostrowski.
({0})
Ganz so dicht wohnen
wir ja nicht beieinander. - Entschuldigen Sie, Herr Sorge, ich möchte Sie nach den 45 Kilometern auf deutscher Seite fragen. Sie haben ja gerade so schön über die
Bauabschnitte referiert, sind auch auf die Kosten eingegangen und haben gesagt, daß der Bau tatsächlich
1,321 Milliarden DM kostet. Weil die sächsische SPD
und auch die Bundes-SPD so ernsthaft hinter dem Bau
der Autobahn stehen: Haben Sie eine Idee, woher das
Geld kommt?
Zur Finanzierung werde ich
später noch etwas sagen.
Zurück zum Sachstand. Auf der tschechischen Seite
sind bereits vier Abschnitte dem Verkehr übergeben.
Drei Abschnitte befinden sich in der Planung; dies wird
aber in diesem Jahr abgeschlossen werden. Dann kann
auch in diesen Gebieten mit dem Bau begonnen werden.
Nun komme ich zu dem Antrag der PDS. Die PDS
- Frau Ostrowski hat es hier dargestellt - zweifelt all das
an, was da von der Bundesregierung und dem sächsischen Freistaat bisher getan wurde. Man möchte einen
Baustopp erreichen, weil man der Meinung ist, daß mit
Überprüfung des Bundesverkehrswegeplanes auch eine
Überprüfung dieser Strecke erfolgen muß. Man möchte
zumindest erreichen, daß der Bau dieser Strecke aus
dem vordringlichen Bedarf herausgenommen wird.
Ich möchte noch eine Bemerkung machen zu den
Konflikten und dazu, wie sie bereinigt werden können.
Im dritten Bauabschnitt ist eine schwierige Situation
eingetreten; das gebe ich zu. Die Bundesregierung hatte
geplant, daß die gesamte Autobahn im Jahre 2005 befahrbar und dem Verkehr übergeben ist. Die sächsische
Landesregierung möchte einen früheren Abschluß, und
zwar im Jahre 2003. Man hat überlegt: Wie kann man
das schaffen? So kam man auf die Privatfinanzierung.
Mit Hilfe des Betreibermodells soll eine Maut festgelegt
werden, um die Refinanzierung durchführen zu können.
Dafür hat man eine Kommission eingesetzt.
Für eine solche Privatfinanzierung ist die Zustimmung des betreffenden Landes, natürlich auch die der
Tschechischen Republik, notwendig. Aus diesem Grunde hat man eine Untersuchung eingeleitet, mit der festgestellt werden soll: Ist das zwischen den beiden Staaten
überhaupt auszuhandeln? Da muß ich Sie korrigieren,
Frau Ostrowski: Die Ergebnisse liegen eben nicht vor.
Es sind zwei Gruppen aus Vertretern der Tschechischen
Republik und Deutschlands gebildet worden. Die sind
dabei, diese Dinge zu koordinieren. Wahrscheinlich
wird man zu dem Ergebnis kommen, daß dies nicht zu
machen ist, weil die tschechische Seite sehr große Bedenken hinsichtlich der Maut hat. Aus diesem Grunde
wird es wahrscheinlich nicht zu einer Privatfinanzierung
kommen.
Falls die Finanzierung - das war Ihre Frage - nicht
privat erfolgen kann - die Finanzierung der ersten beiden Abschnitte ist bereits klar; der Bund übernimmt
sie -, will man eine Gruppe bilden, und zwar unter dem
Vorsitz von Minister Franz Müntefering und dem zuständigen Minister des Freistaates Sachsen, Herrn Dr.
Schommer. Diese beiden werden, wenn dieses Projekt
an der privaten Finanzierung scheitert, eine andere
Möglichkeit suchen müssen, zum einen eine Beteiligung
des Bundes, zum anderen, da es sich um eine transeuropäische Verbindung handelt, eine Beteiligung möglicherweise der EU. Mit dem Zusammenbruch der beiden großen Systeme hat sich die Dringlichkeit dieses
Projekts gegenüber der damaligen Sicht der DDR
stark erhöht. Die EU-Erweiterung ist natürlich ein wesentliches Argument, eine solche Autobahn zu bauen,
denn damit schaffen wir die Voraussetzung für eine gute
Verbindung zu den Staaten, die in die EU eintreten werden.
({0})
Ich halte folgendes Ergebnis fest: Die Regierung des
Freistaats Sachsen hat sich mit klarer Mehrheit zu dieser
Autobahn bekannt, gleiches gilt natürlich für die CDU
und auch die SPD im Landtag. Es hat keine neuen Erkenntnisse gegeben. Man hält an den Zielen, die man
verfolgt hat, fest. Auch gibt es keine Schwierigkeiten
hinsichtlich des Vertrages mit der Tschechischen Republik. Daher sehen wir überhaupt keine Veranlassung, einen Baustopp herbeizuführen. Wir lehnen diesen Antrag
ab.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Letzgus.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau
Ostrowski, wenn die A 17 so schnell gebaut wird, wie
Sie geredet haben, dann ist sie bald fertig.
Der Antrag 14/128 der PDS, der die sofortige Bauunterbrechung an der Bundesautobahn A 17 fordert,
entbehrt meiner Meinung nach nicht einer gewissen Pikanterie, eben weil er von der PDS gestellt wird. 40 Jahre lang wurde die Infrastruktur in der DDR kaum ausgebaut, und die Straßen waren in einem erbärmlichen Zustand.
({0})
Die Autofahrer - das darf man hier vielleicht einmal sagen - bei uns witzelten zu jener Zeit, die DDR wolle ein
neues Verkehrsschild einführen: „100, 80, 60, 40, 20“.
Das bedeutet: Auf den nächsten 100 Metern 80 Schlaglöcher, 60 cm breit, 40 cm lang und 20 cm tief.
({1})
- Damals haben wir auch darüber gelacht, aber so lustig
war es gar nicht.
({2})
- Das mache ich, das können Sie gerne haben.
Sie wissen,
hier wird jedes Wort protokolliert.
Diese Situation mit der
schlechten Infrastruktur besserte sich erst nach der Wiedervereinigung. Bis zum Jahre 1998 wurden insgesamt
25 Milliarden DM allein in den Auf- und Ausbau des
Straßennetzes der neuen Bundesländer investiert. Hier
gilt es - soviel Zeit muß sein -, der alten Bundesregierung ein herzliches Dankeschön zu sagen, und die neue
muß aufgefordert werden, daran nahtlos anzuknüpfen.
({0})
Aber nach wie vor haben wir in den neuen Bundesländern natürlich nicht zuviel, sondern zuwenig gut ausgebaute Straßen. Insofern ist der Antrag für mich auch
unverständlich, denn diese Autobahn, die A 17, hat regional-nationale und auch internationale Bedeutung.
Jetzt müßte ich zu den Fakten kommen, aber sie sind
vom Kollegen Sorge eigentlich alle schon in aller Ausführlichkeit genannt worden: 1,3 Milliarden DM Investitionen sichern 12 000 Arbeitsplätze, schaffen über
3 000 Arbeitsplätze als Sekundäreffekt. Die Menschen
begrüßen diese Autobahn, speziell die Einwohner Dresdens. Dresden wird vom Durchgangsverkehr entlastet.
70 Prozent haben sich bei einer Bürgerbefragung für den
Bau der A 17 ausgesprochen. Es ist etwas zu der internationalen Bedeutung gesagt worden sowie zu der ausstehenden und noch nicht ganz gesicherten Finanzierung.
Herr Kollege,
darf ich Sie einen Moment unterbrechen? - Der Kollege
Brähmig möchte eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Herr Kollege Letzgus,
Sie sprachen von der Infrastruktur in der ehemaligen
DDR. Ich habe an Sie die Frage, ob Sie mit mir übereinstimmen, daß der hier vorliegende PDS-Antrag ein Infrastrukturverhinderungs- und ein Arbeitsplatzvernichtungsantrag ist?
Das kann ich voll und
ganz unterstreichen. Das sehe ich genauso.
({0})
Zur ausstehenden Finanzierung hat der Kollege Sorge
auch etwas gesagt; hier sollte man durchaus an die deutsche EU-Ratspräsidentschaft erinnern. In der EU wird
ein Finanzvolumen von insgesamt 5,5 Milliarden Euro
für transeuropäische Straßen bereitgestellt. Die A 17 ist
eine transeuropäische Straße. Sie ist seit Oktober im
Bau, der Bau muß zügig vollendet werden. Aus diesem
Grunde - Frau Präsidentin, ich möchte belobigt werden,
weil ich meine Redezeit nicht ausschöpfe - lehnen wir
den Antrag der PDS ab.
({1})
Das mache ich
postwendend, zumal Sie nicht nur eine Minute gespart
haben, sondern zwei.
Als nächster hat der Abgeordnete Albert Schmidt das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Ostrowski, ich habe mit großer Aufmerksamkeit zugehört, wie Sie mit bewegenden Worten
die schädlichen Auswirkungen des Autobahnbaus geschildert haben. Dabei habe ich mir gewünscht, daß Ihre
Genossinnen und Genossen in MecklenburgVorpommern in Sachen A 17 zuhören könnten, damit
sie wüßten, wie sehr Sie für einen Stopp von Autobahnprojekten eintreten.
({0})
Sie könnten von Ihnen bestimmt eine Menge lernen.
({1})
Aber Spaß beiseite. Die Geschichte der A 17-Planung
ist geradezu beispielhaft für den mangelnden Realismus
in Sachen Verkehrsplanung früherer Bundesregierungen.
Ursprünglich wurden Kosten von 625 Millionen DM
angesetzt. Aber schon nach wenigen Jahren stellte sich
heraus, daß die Kosten auf mindestens 1,35 Milliarden
DM explodieren würden. Schon früh stellte sich damit
die Frage nach der Finanzierbarkeit, - diese beiden
Punkte wurden in der Debatte schon angesprochen nach einer möglichen Privatfinanzierung, zumindest von
Teilen dieses Projektes, sowie nach einer Finanzierung
durch Mittel für transeuropäische Netze, also aus Mitteln des Regionalfonds der EU.
Die hier anwesende Kollegin Antje Hermenau hat
deshalb schon im September 1995 die damalige Bundesregierung gefragt, wie es mit der Finanzierung stehe.
Ich will Ihnen die Antwort der alten Bundesregierung
nicht vorenthalten, die in der Bundestagsdrucksache
13/2265 steht. Dort heißt es wörtlich:
Eine Finanzierung der A 17 Dresden-Prag über eine private Vorfinanzierung scheidet somit aus.
Eine private Finanzierung von Bundesfernstraßen
im Rahmen eines Betreibermodells ist nach dem
Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz nur für
Brücken, Tunnel und Gebirgspässe ... möglich. Eine Privatfinanzierung der A 17 ... nach dem Betreibermodell scheidet daher ebenfalls aus; entsprechende Überlegungen sind der Bundesregierung
auch nicht bekannt.
Das heißt im Klartext: Die alte Bundesregierung hat
zunächst die Privatfinanzierung unter Bezugnahme auf
die Gesetzeslage kategorisch abgelehnt. Sodann ist die
Frage wieder aufgewärmt worden, ist eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben worden - das Ergebnis
liegt zwar noch nicht vor, Kollege Sorge hat aber angedeutet, wie es lauten wird -, in der es heißen wird, daß
auf tschechischer Seite die Bedenken so groß sind, daß
vermutlich eine private Finanzierung summa summarum
ausscheidet.
Bleiben die Hoffnungen auf die Mittel von Brüssel.
Auch dazu hat die Bundesregierung damals ausgeführt:
Die geplante Autobahn Dresden-Prag ist im deutschen Abschnitt Bestandteil der ... „Leitlinien für
den Ausbau eines Transeuropäischen Verkehrsnetzes“. Verkehrsinfrastrukturvorhaben ... können ...
- zumindest theoretisch auch aus Mitteln der Europäischen Fonds für regionale Entwicklung ({2}) im Rahmen der EUStrukturfonds gefördert werden. Die Bundesregierung hat sich jedoch mit den Ländern und der
Kommission bei der Abstimmung über das gemeinschaftliche Förderkonzept darauf verständigt, im
Zeitraum von 1994 bis 1999 diese Mittel ausschließlich zur Förderung wirtschaftsnaher Infrastruktur einzusetzen.
Auf deutsch gesagt: Nein.
Nun stehen wir vor der Situation, über eine Autobahn
zu diskutieren, deren Finanzierung in keiner Weise gesichert ist. Obwohl das so war, hat am 17. April 1998 die
alte Bundesregierung - Wissmann zusammen mit Kajo
Schommer - ein Finanzierungskonzept unterschrieben,
in dem ausdrücklich vorgesehen ist, daß der Ausbau des
dritten Abschnitts privat und durch Mittel aus dem europäischen Fonds für die transeuropäischen Netze finanziert werden soll. Es geht um mehr als 360 Millionen
DM. Dies ist ein Luftgebilde, ein Wolkenschloß. Es ist
überhaupt nicht gegenfinanziert. Es ist eine Unterdekkung. Der Wahlkampf ließ natürlich grüßen. Es ist
nichts weiter als eine leere Versprechung.
Nun sind wir die Erben dieser Versprechungen und
all dieser Spatenstiche. Wir müssen schauen, wie wir
damit umgehen. Es gibt drei offene Fragen. Ich muß sie
einfach noch einmal ansprechen. Die erste ist die entscheidende. Das ist schlicht die Frage der Bezahlbarkeit.
Die zweite Frage ist offen: Wird die Tschechische Republik diese Autobahn auf der anderen Seite der Grenze
überhaupt abnehmen? Das ist nicht geklärt. Drittens sind
im übrigen auf Grund von zwei Klagen noch Verwaltungsgerichtsverfahren anhängig, so daß das Risiko,
jetzt Investitionsruinen zu produzieren, sehr hoch ist.
Was also tun? - Wie Sie wissen, gibt es einen Koalitionsvertrag zwischen dem Bündnis 90, dem kleineren
und grünen Partner, und der SPD. Dort haben wir gemeinsam vereinbart - dazu stehe ich ohne Wenn und
Aber -, daß es Investitionsruinen nicht geben wird und
daß infolgedessen Maßnahmen, die bereits baulich umgesetzt werden, auch bestehen bleiben. Die Maßnahme,
von der hier die Rede ist, betrifft die ersten 3,5 Kilometer, den ersten Bauabschnitt, der in sich verkehrsfähig
ist, weil er nämlich als eine Art Ortsumgehung für Dresden fungieren könnte. Damit ist aus unserer Sicht keine
Vorentscheidung über die Abschnitte zwei und drei, also
über den Weiterbau der restlichen 45 Kilometer bis zur
Grenze getroffen worden.
Die Kostenentwicklung, die ich vorhin skizziert habe
- die 1,35 Milliarden DM waren schon der Kostenstand
1995; jetzt schreiben wir aber 1999 -, zeigt, wie bitter
notwendig es ist, nicht nur an dieser Stelle und nicht nur
bei diesem Projekt, sondern bei den gesamten Straßenbauprojekten in dieser Republik - so wie es im Koalitionsvertrag verabredet ist - Kostenentwicklung, Verkehrsprognosen, Verkehrsentwicklung, Bezahlbarkeit
und aktuelles Umweltrecht genau zu prüfen. Erst danach
kann eine abschließende Entscheidung getroffen werden. Ich hoffe, ich habe mich für alle Beteiligten klar
genug ausgedrückt.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Karlheinz Guttmacher.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die PDS war gegen den
Ausbau der A 71, gegen den Ausbau der A 73. Sie ist
gegen den Bau des Transrapid. Heute bekommen wir einen Antrag vorgelegt, in dem ein Baustopp für die A 17
gefordert wird.
Die A 17 ist im vordringlichen Bedarf des ersten gesamtdeutschen Bundesverkehrswegeplans aufgenommen
worden. Sie ist Bestandteil der bilateralen Planungen mit
der Tschechischen Republik im Zuge der Verbindung
der A 17 mit der E 55 von Berlin nach Prag. Die A 17
wird auch in die Gespräche des Verkehrsministerrates
zur Ermittlung des Infrastrukturbedarfs im Zuge der
Albert Schmidt ({0})
Vorbereitung der EU-Erweiterung einbezogen werden.
Sie schließt den Wirtschaftsraum Dresden an die großen
Nord-Süd-Verkehrsströme zwischen baltischem Raum
und Balkan an. Eine Autobahn nach Südosteuropa zu
bauen war in Deutschland bereits Anfang der 30er Jahre
geplant. Wir freuen uns darüber, daß nach der Wende
1989 die Planungen für die A 17 scharfe Konturen angenommen haben.
Die Autobahn Dresden-Prag soll nach der A 4 in Höhe Kesseldorf in Richtung Heidenau-Pirna und von dort
in Richtung Prag verlaufen und zwei wichtige Funktionen übernehmen: Zum einen soll sie die Verbindung zur
Tschechischen Republik herstellen. Zum anderen soll sie
die Umgehung von Dresden gewährleisten, indem sie
den Fernverkehr aufnimmt und hilft, Stadtdurchfahrten
aus dem oberen Elbetal wie Pirna-Heidenau zu vermeiden.
Die an Dresden vorbeiführende Autobahn führt zur
Entlastung des innerstädtischen Verkehrs. Dabei geht
es insbesondere um folgende drei Verkehrsströme: erstens um die Aufnahme des Fernverkehrs, insbesondere
des Lkw-Verkehrs, der bislang mit einem Anteil von bis
zu 2 300 Tonnen an Gefahrengütern pro Tag durch
Dresden rollt. Hinzu kommt eine beträchtliche Zahl von
Pkws, so daß künftig insgesamt 8 000 Kfz pro Tag die
Stadt umfahren werden. Zweitens geht es um die Verlagerung des Verkehrs, der bisher von der oder zur A 4,
A 13 und A 14 durch dichtbesiedeltes Stadtgebiet rollt.
Allein dieser Verkehr macht mit 50 000 Kraftfahrzeugen
pro Tag den wesentlichen Teil der gesamten Autobahnauslastung aus. Drittens geht es um die Vermeidung der
Stadtdurchfahrt von Fahrzeugen aus dem oberen Elbetal
wie Heidenau, Pirna und den Seitentälern. Mit 14 000
Kraftfahrzeugen pro Tag entspricht dies einem Anteil
von zirka 19 Prozent der Belastung der A 17.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ali
Schmidt?
Bitte.
Danke, Herr Kollege; ich mache es auch
kurz. Ich komme nur darauf, weil Sie eben von den
Entlastungseffekten durch Innenstadtumfahrungen gesprochen haben. Ist Ihnen bewußt, daß eine der Grundlagen für das zwischen Wissmann und Schommer vereinbarte Konzept zur Finanzierung dieser Transitautobahn ist, daß dann für Ortsumfahrungen in Sachsen insgesamt nur noch maximal 80 Millionen DM zur Verfügung stehen werden, daß also durch diese Deckelung,
die letztlich durch die Finanzierung einer Transitverkehrsstrecke ausgelöst wird, die Entlastung durch
Ortsumfahrungen für zahllose andere Städte begrenzt
wird?
Durch die Führung der Autobahn an der Peripherie von Dresden wird
der größte Teil der Stadtumfahrt erfaßt. Insofern ist der
Rest aus der Finanzierung, den Sie angesprochen haben,
für zusätzliche Ortsumgehungen sicherlich ausreichend.
Meine Damen und Herren, die Länge der Autobahn
zwischen Dresden und der tschechischen Grenze beträgt
50 km. Die Baukosten sollten ursprünglich - das ist korrekt - 625 Millionen DM betragen. Herr Sorge hat darauf hingewiesen, daß sie nun auf 1,3 Milliarden DM
veranschlagt worden sind.
Im November 1998 wurde zur Beurteilung der Rentabilität der Strecke von der A 17 bei Pirna bis zur D 8
bei Kninice die grenzüberschreitende Studie „Privatisierung als Betreibermodell“ durch das Land Sachsen
in Auftrag gegeben. Es ist sicherlich richtig, daß man
diese Studie in die Bewertung der anstehenden Finanzierungsmodelle einbezieht. Da aber die A 17 in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplanes aufgenommen ist, stehen der Bund und gleichermaßen das
Land in der Pflicht zur Finanzierung dieser Autobahn.
Da es eine transeuropäische Autobahn sein wird, steht
auch eine europäische Mitfinanzierung an.
Die F.D.P. lehnt die Forderung der PDS nach einem
sofortigen Baustopp ab. Die Autobahn A 17 ist nicht nur
für Dresden und seine Anbindung, seine Arbeitsplätze
und seine Erschließung von großer Bedeutung, sondern
auch für die Bewältigung des zusätzlichen Infrastrukturbedarfs im Zuge des EU-Beitritts der Tschechischen Republik unerläßlich. Die Streckenführung der A 17 ist
nicht isoliert, sondern als Bestandteil einer großen transeuropäischen Verbindung, besonders im Interesse verbesserter Handelsbeziehungen zu Südosteuropa, zu sehen.
Im Namen all jener, die nachteilig betroffen wären,
würde die Autobahn A 17 nicht gebaut werden, lehnt die
F.D.P. den Antrag der PDS ab.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Arnold Vaatz.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Frau Ostrowski - Frau Hermenau
ist leider schon gegangen -, ich habe mich während des
Wahlkampfes schon sehr gewundert, wie still Sie in
Dresden zu dem Thema Autobahn waren, sobald ein
paar mehr Leute zugeguckt haben oder sobald wir aus
von Ihnen vielleicht personell streng überschaubaren
Kreisen herausgegangen sind. Jetzt bin ich platt, daß es
sofort nach dem Wahlkampf wieder auf Ihre Agenda
kommt.
Ich möchte als erstes sagen: Die Verbindung zwischen Dresden und Prag hat eine uralte Tradition. Weder
Dresden noch Prag, noch Leipzig sähen heute so aus,
wie sie aussehen, wenn es nicht diese gegenseitige Beeinflussung durch die Verkehrswege über viele Jahrhunderte gegeben hätte.
({0})
In den letzten 500 Jahren waren diese Verkehrswege
immer auf dem Stand der jeweiligen Technik, nur in den
letzten 50 Jahren nicht.
({1})
Nun will die PDS, daß das so bleibt. Ich bin Ihnen beinahe dankbar, daß Sie so Ihr Gesicht zeigen.
Die Argumente, die Sie in Ihrem Antrag aufführen,
sind so hanebüchen, daß ich nicht glauben kann, daß Sie
sie wirklich ernst meinen. Einerseits sagen Sie, das Nutzen-Kosten-Verhältnis gebe Anlaß zu einer neuen
Überprüfung. Erst lag es bei 4,6, jetzt ist es bei 2,3 - also noch immer größer als 1; der Nutzen beträgt noch
immer das Zweieinhalbfache der Kosten.
Herr Kollege,
gestatten Sie Zwischenfragen? Es sind sogar zwei, die
eine Zwischenfrage stellen wollen.
Ja, dem Kollegen
Brähmig gestatte ich eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Vaatz,
ist Ihnen bekannt, daß die Bevölkerung und vor allem
die Wirtschaft nicht nur in Dresden, sondern auch im
Umland, insbesondere in der Sächsischen Schweiz, den
Spatenstich im August des vergangenen Jahres durch
Verkehrsminister Matthias Wissmann und den sächsischen Staatsminister Dr. Kajo Schommer sehnsüchtig
erwartet haben und genauso sehnsüchtig von den Abgeordneten des Deutschen Bundestages und den Verwaltungen in Bonn und in Dresden die konsequente und zügige Umsetzung dieser Baumaßnahme von Dresden bis
zur böhmischen Grenze erwarten?
Herr Brähmig, die Menschen in der Sächsischen Schweiz sind diejenigen, die
mit am meisten durch die ignorante und katastrophale
Verkehrspolitik der DDR geschädigt worden sind. Sie
haben das über viele Jahre hinweg ertragen müssen, und
sie sehnen sich danach, endlich die Bewegungsfreiheit
zu haben, die sie haben könnten, wenn es diesen Staat
nicht gegeben hätte.
Gestatten Sie
auch eine Zwischenfrage der Kollegin Ostrowski?
Nein.
({0})
Das nächste Argument lautet, der Ablenkungseffekt
durch eine eventuelle Maut werde die Verkehrsfrequenz
bedeutend senken. Dieses Argument wird wider besseres
Wissen vorgebracht; denn inzwischen ist es längst bekannt, daß sich die sächsische Regierung entschlossen
hat, von diesem Vorhaben abzugehen.
Das eigentlich Interessante ist, welche Gründe es
denn eigentlich sind, die zu diesem Antrag führen. Es ist
vorhin schon einmal gesagt worden: Die PDS hat sich
gegen alle derartigen Vorhaben gewendet.
({1})
Die PDS hat im übrigen diese Autobahn schon abgelehnt, als die Argumente, die sie heute vorbringt, überhaupt noch nicht bekannt waren.
({2})
Das Problem ist: Die PDS möchte offenbar, daß
möglichst vieles auf dem Stand bleibt, auf dem sie uns
diesen Staat übergeben hat. Das ist Ihr Ziel.
({3})
Deshalb streuen Sie überall, wo es geht, Sand in die Infrastrukturentwicklung. Sie wollen den Menschen, die
durch den Durchfahrtsverkehr malträtiert werden, immer
mehr zumuten, in der Hoffnung, daß sie über die neue
Zeit traurig werden, schimpfen und verärgert sind.
Vielleicht wollen Sie sogar, daß die Leute in Ostdeutschland nicht allzuoft nach Tschechien kommen,
damit sie nicht daran erinnert werden, wie es früher in
der DDR ausgesehen hat. Das ist vielleicht der Grund.
({4})
Deshalb setzen Sie sich auch über ein Plebiszit hinweg,
das in der Stadt Dresden eine 70prozentige Zustimmung
für diese Autobahn ergeben hat.
Ich kann aber auch die Bundesregierung nicht ganz
ohne kritische Anmerkung davonkommen lassen. Es
fehlen 250 Millionen DM. Das haben wir vorhin schon
einmal festgestellt.
({5})
Das Geld wäre da; denn durch das Programm „Transeuropäische Netze“ der Europäischen Union steht es
zur Verfügung. Bedingung ist nur, daß man es rechtzeitig anmeldet. Der Termin dafür war der 30. November
1998. Es ist kein Versäumnis der alten Regierung, diese
Summe zu bestellen; vielmehr ist es ein Versäumnis der
neuen Regierung.
Vielen Dank.
({6})
Frau Kollegin
Ostrowski, es ist das Recht von Rednern, Zwischenfragen zuzulassen oder nicht. Man kann Fragen auch durch
Stehen nicht erzwingen. Auch eine persönliche Erklärung können Sie jetzt nicht abgeben. Das tut mir sehr
leid.
({0})
Außerdem muß ich dem Abgeordneten Arnold Vaatz
zu seiner ersten Rede in diesem Haus gratulieren.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/128 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 22. Januar 1999,
9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.