Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Willy Brandt
hat im Jahre 1972 in einer Rede vor der Harvard-Universität Folgendes gesagt: Amerika wartet darauf, dass
Europa zu einem ebenbürtigen Partner - er sagte „equal
partner“ - heranwächst, mit dem es gemeinsam Verantwortung für „world affairs“ übernehmen kann.
Er hat dann in groben Zügen die Weiterentwicklung der
Europäischen Gemeinschaft über den damals noch festen
Eisernen Vorhang hinaus skizziert.
Ja, Herr Außenminister, es ist gut, wenn gelegentlich
gute Reden vor einem Universitätspublikum gehalten
werden. Ich empfehle allen, die sich mit transatlantischen
Beziehungen befassen, diese Rede von Willy Brandt
vom 5. Juni 1972 noch einmal nachzulesen.
({0})
Der jetzige Bundeskanzler Gerhard Schröder hat vor
kurzem seine Vorstellungen zu den transatlantischen Beziehungen geäußert und unter anderem gesagt - ich darf
das nach der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zitieren:
In Zukunft muss die Europäische Union in der Lage
sein, einen Beitrag zu einer stabilen Weltordnung zu
leisten, der ihrem wirtschaftlichen und politischen
Potenzial entspricht.
({1})
Ich persönlich möchte hinzufügen: Die Union muss
dazu nicht nur in der Lage sein, sie muss auch den politischen Willen dazu aufbringen.
Zwischen diesen beiden Zitaten liegen fast 30 Jahre
und in dieser Zeit ist kaum eine Woche vergangen,
({2})
in der nicht irgendein kluger Kommentator den Bruch der
transatlantischen Beziehungen, das Auseinanderdriften
Europas und Amerikas, die fundamentale Andersartigkeit
der USA oder gar den Abstieg Europas heraufbeschworen
hätte.
Die letzten 30 Jahre haben aber auch bewiesen, dass
alle diesen klugen Leute Unrecht hatten und Unrecht haben - übrigens auch diejenigen in der CDU, die seit ihrem
eigenen Machtverlust nur noch Unheil am transatlantischen Horizont heraufziehen sehen. Diese Kassandrarufe
werden in der Regel mit Vorwürfen wegen angeblicher
Versäumnisse der jetzigen Bundesregierung begründet
und im Hintergrund hört man dann immer den Kollegen
Rühe als Lautverstärker republikanischer Wahlkampfparolen, von denen sich inzwischen die Republikaner
selbst schon wieder verabschiedet haben.
Ich habe gar nichts dagegen, wenn man sich auch in
Amerika mit besonders guten Freunden der „old boys
connection“ ausführlich austauscht. Aber jedermann ist
im europäischen Interesse aufgerufen, sich das ganze
breite Meinungsspektrum in Amerika anzuhören.
({3})
Dabei gibt es zu bedenken, dass zum Beispiel zwischen
Pentagon und State Departement ein immanentes Spannungsverhältnis herrscht, das sich immer dann zeigt,
wenn wichtige außen- oder sicherheitspolitische Entscheidungen anstehen. Dann gilt es auch zu bedenken,
dass es ein klassisches Spannungsverhältnis zwischen der
Regierung und dem Kongress in den USA gibt und dass
dem Kongress bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen
nicht mit simplifizierten Antworten aus Europa begegnet
werden kann.
So gibt es in der Frage von „missile defense“ nicht die
Alternativen Gefolgschaft oder Verweigerung. Im Gegenteil, wir haben unsere eigenen europäischen Erfahrungen
mit Gefährdungen und Bedrohungen, aber auch unsere eigenen Interessen, die wir in den transatlantischen Dialog
einbringen wollen. Was ist beispielsweise mit der Gefährdung durch miniaturisierte Massenvernichtungsmittel?
Was ist mit Bedrohungen, die nicht von Staaten, sondern
von internationalen Banden ausgehen? Was bedeutet eine
Defensivtechnologie für das bisherige Abrüstungsregime? Wie reagieren andere Akteure in der Weltpolitik?
Auf all diese Fragen gibt es auch in Amerika noch keine
fertigen Antworten. Im Gegenteil, dort wird genauso heftig gestritten und debattiert wie bei uns.
Auch von der CDU-Bundestagsfraktion gibt es nicht
einmal andeutungsweise Antworten auf solche Fragen.
Aber von der Bundesregierung verlangt diese Fraktion
eine frühe Festlegung. Da ist der amerikanische Verteidigungsminister selbst sehr viel offener, wenn er einräumt,
dass es einen Konsultationsbedarf mit Freunden, Alliierten und anderen Partnern gibt. Wir Sozialdemokraten sePräsident Wolfgang Thierse
hen dies genauso, weil wir uns Sicherheit in allen Bereichen für alle wünschen.
Aber es wäre fatal, wenn wir nicht auch politische Alternativen zum Umgang mit so genannten „states of concern“ in die Diskussion einbringen würden. Es wäre fatal,
wollten wir - wie es zumindest bei Teilen der CDU-Opposition den Anschein hat - die transatlantische Bündnisdiskussion auf NMD oder „missile defense“ verengen.
({4})
Nein, die transatlantischen Beziehungen sind für Europa zu wichtig, als dass wir sie für kurzatmige innenpolitische Hahnenkämpfe missbrauchen dürften. Wir reden
hier vielmehr auf der Grundlage gemeinsamer Werte, gemeinsam erlebter wechselvoller Geschichte, auf der
Grundlage intensiver kultureller Beziehungen und starker
wirtschaftlicher Verflechtungen und nicht zuletzt auf der
Grundlage von Freundschaft und loyaler Partnerschaft.
Wir reden und wir leben miteinander im Bewusstsein der
gemeinsamen Verantwortung der reichen und hoch entwickelten Länder für die friedliche Weiterentwicklung
der gesamten Welt. Und dabei gilt: Diplomacy first!
Der Stellenwert einer Partnerschaft zeigt sich unter den
seit 1989 veränderten Bedingungen darin, dass unterschiedliche Perspektiven, Erfahrungen und Interessen offen angesprochen und behutsam behandelt werden, ohne
dass das Verhältnis Schaden nimmt. Rechthaberei und
Euro-Chauvinismus sind dabei genauso wenig zuträglich
wie hegemoniales Gehabe.
({5})
Reibungspunkte gibt es in jeder engen Beziehung. Die
Frage ist immer nur, wie man damit umgeht. Militärische
Macht allein darf nicht mit Führung verwechselt werden.
Wer führen will, muss Antworten auf die Probleme der Armut, des Ressourcenmangels, der Umweltbedrohungen,
der Proliferation, der Kriminalität, des Terrorismus, der Intoleranz und der Überbevölkerung suchen. Auch Amerika
ist zu klein, um all diese Probleme allein zu lösen.
Endgültige Antworten wird auch die transatlantische
Gemeinschaft allein nicht geben können. Wir leben in einer Weltgemeinschaft; wir brauchen multilaterales Handeln, wir brauchen die Akzeptanz der Vereinten Nationen
und anderer internationaler Organisationen gerade auch
bei der politischen Klasse in den Vereinigten Staaten.
({6})
Hier liegt eine besondere Verantwortung bei uns Parlamentariern, nämlich den Kolleginnen und Kollegen im
Kongress immer wieder klar zu machen, dass etwa die
Probleme Afrikas oder Asiens nicht ohne eine starke Rolle
der Vereinten Nationen gelöst werden können.
({7})
Regierungen und Parlamente der demokratisch
verfassten Partnerländer müssen weitreichende Entscheidungen treffen. Grundlagen für solche Entscheidungen
können nur die Bereitschaft zu gemeinsamer Problemanalyse, zum Lernen voneinander und zur nüchternen Abwägung von Chancen und Risiken sein. Die Stärkung
und die ständige Erneuerung der - so heißt es allgemein „learning community“ ist die wirkliche Aufgabe der
transatlantischen Beziehungen.
({8})
Dies setzt jedoch den Willen und die Fähigkeit der Europäer voraus, tatsächlich als gleichberechtigte Partner in
Erscheinung zu treten. Insofern sind die Worte Willy
Brandts noch immer aktuell.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Volker Rühe, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass wir vor der Reise
des Bundeskanzler nach Washington diese Debatte im
Deutschen Bundestag führen.
Die transatlantische Partnerschaft - ich denke, darin
sind wir uns einig - ist das feste Fundament unserer
Außenpolitik. Sie ist im Rückblick auf die letzten 50 Jahre
eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Sie hat uns nämlich
Frieden, Freiheit, Wohlstand und schließlich die Wiedervereinigung Deutschlands und Europas gebracht. Mehr
noch: Durch die Erweiterung von NATO und Europäischer Union wird es jetzt unter den europäischen Staaten
zu einer Nähe, einer Gemeinsamkeit und einem Miteinander kommen, wie es sie niemals zuvor in der Geschichte dieses Kontinents gegeben hat. Die transatlantische Partnerschaft ist für all dies die Grundlage.
({0})
Am Beginn des neuen Jahrhunderts stehen wir aber
auch vor neuen Herausforderungen. Wenn wir sicherstellen wollen, dass die Amerikaner in Europa bleiben - in ihrer Geschichte war es für sie ein völlig neuer Schritt, eine
Revolution, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa geblieben sind -, dann müssen wir zu einem relevanteren und gleichwertigeren Partner werden. Willy
Brandt sprach von „ebenbürtiger Partner“. Bis dahin ist es
noch ein verdammt weiter Weg. Aber die Frage ist, ob wir
glaubwürdige Schritte in Richtung dieses Ziels unternehmen.
Was nicht passieren darf, ist, dass das atlantische
Bündnis zu einem bloßen Sicherheitsnetz verkommt. Es
kann nicht sein, dass jeder einzeln herumturnt und nur bei
einem Absturz von diesem Sicherheitsnetz Gebrauch
macht. Es darf nicht die Zukunft des atlantischen
Bündnisses sein, dass jeder macht, was er will, und dieses
Netz nur als letzte Sicherheit dient.
({1})
Volkmar Schultz ({2})
Schon gar nicht darf die europäische Integration dazu
führen, dass wir ein nebulöses Niemandsland der internationalen Politik betreten oder dass sich Europa als Gegenmacht zu Amerika versteht. Es gibt in der deutschen
Politik - darüber will ich sprechen - neben tragenden
Pfeilern in den transatlantischen Beziehungen auch Irritationen, Unklarheiten, Widersprüche und Brüche. Das betrifft die deutsche Reaktion auf den Militäreinsatz im
Irak, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Frage der Raketenabwehr.
Im Irak standen unsere amerikanischen und britischen
Alliierten angesichts der Bedrohung ihrer Flugeinsätze
durch neue irakische Radaranlagen vor der Wahl, entweder diese Radaranlagen zu zerstören oder die Flüge einzustellen und damit dem Irak freie Hand gegenüber den
kurdischen und schiitischen Minderheiten sowie bei der
Aufrüstung zu geben oder aber das Leben ihrer Piloten zu
riskieren. Es war im Interesse der Bewältigung dieser Probleme eine klare Entscheidung, wie die Amerikaner und
Briten reagiert haben.
({3})
Der Einsatz war notwendig und richtig und hat unsere Unterstützung verdient.
Der Bundeskanzler hat sich über vier Tage in Schweigen gehüllt. Das war übrigens im Dezember 1998, als Sie
schon Bundeskanzler waren, anders. Seinerzeit haben Sie
sofort den britischen Premierminister persönlich angerufen und Ihre Solidarität auch öffentlich deutlich gemacht.
Damals gab es viertägige Militäreinsätze.
Es war richtig, dass sich Außenminister Fischer in
Washington hinter die militärische Aktion der USA gestellt hat. Aber wir beobachten ja immer wieder eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit unseres Außenministers.
Auf dem Parteitag der Grünen hat die neue Vorsitzende
gesagt, die Grünen lehnten die amerikanischen Bombardements klar ab. Von Herrn Fischer haben wir aber nicht
dieselben klaren Worte gehört. Ich finde, der deutsche
Außenminister sollte sich im Bundestag genauso klar wie
in Washington hinter diesen Einsatz stellen.
({4})
Herr Fischer, Sie haben ja eine erstaunliche Wandlungsfähigkeit, je nachdem, wo Sie sprechen. Manche Menschen
bezeichnen Sie als politisches Chamäleon. Ich finde, diese
Bezeichnung ist nicht zutreffend, denn ein Chamäleon hat
eine Farbkonstante. Wenn ich aber sehe, wie unterschiedlich Sie an verschiedenen Orten sprechen, muss ich sagen:
Das tut der deutschen Außenpolitik nicht gut.
({5})
Im Übrigen fordern wir die Bundesregierung auf, eigene
Initiativen und Vorschläge für die Neugestaltung des
Sanktionsregimes gegenüber dem Irak und für seine
Durchsetzung vorzulegen. Es muss vor allem um eine
Einengung der Sanktionen auf der militärischen Ebene
gehen; diese müssen dann aber auch strikter als bisher
durchgesetzt werden.
Zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik - ein vielleicht ganz entscheidendes Thema der
nächsten Jahre -: Die Stärkung Europas durch einen sicherheitspolitischen Arm ist richtig, wenn es letztlich der
Stärkung des Bündnisses dient. Wir haben das mit der
deutsch-französischen Brigade, dem Eurokorps, dem
deutsch-polnisch-dänischen Korps in Stettin und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik praktiziert.
Worum es bei dieser europäischen Politik gehen muss,
haben Präsident Bush und Premierminister Blair bei
ihrem Treffen am 23. Februar zum Ausdruck gebracht, indem sie gesagt haben, es gehe darum,
Europa zu einem stärkeren und leistungsfähigeren
Partner zu machen, der imstande ist, Krisen, die die
Sicherheit der atlantischen Gemeinschaft betreffen,
abzuwenden und zu bewältigen.
Die europäische militärische Handlungsfähigkeit - ich
hoffe, wir sind uns darin einig - darf kein Programm zur
Vertreibung Amerikas aus Europa sein. Im Gegenteil: Sie
muss die Vereinigten Staaten in diesem Jahrhundert in Europa binden. Deswegen darf es weder Doppelstrukturen
noch eine Ausgrenzung der Vereinigten Staaten geben.
({6})
Ich gehe jedenfalls davon aus, dass der Bundeskanzler
bei seinem Besuch in Washington die deutsche Position in
dieser Weise klar machen wird. Aber er hat ein Problem:
Wie wirkt denn das Bemühen, Europa zu einem stärkeren
und leistungsfähigeren Partner zu machen, wenn dieser
Einsatz für ein stärkeres Europa mit einer drastischen Unterfinanzierung der Bundeswehr verbunden ist? Wie passt
es zusammen, innerhalb von vier Jahren 20 Milliarden DM
weniger für die deutschen Streitkräfte auszugeben und
gleichzeitig von einer Stärkung Europas zu sprechen?
({7})
- Auch bei uns war das Geld knapp; aber Sie geben innerhalb von vier Jahren 20 Milliarden DM weniger für die
Streitkräfte aus.
({8})
Nur noch 1,1 Prozent des Bruttosozialprodukts werden
für den Verteidigungshaushalt angesetzt und dieser Anteil
bleibt hinter dem vieler kleinerer Staaten - von den
großen ganz zu schweigen - in Europa zurück. Wie soll
eine solche Abmeldung von der Einsatzverpflichtung im
Bündnis mit dem Anspruch zusammenpassen, ein stärkeres Europa zu schaffen? Herr Bundeskanzler, Sie werden in
Washington in Erklärungsnot kommen. Wer die eingeleiteten Maßnahmen nicht korrigiert, gefährdet die Glaubwürdigkeit Deutschlands als berechenbarer Bündnispartner.
Deshalb fordern wir die Rückkehr zu einer mittelfristigen
Finanzplanung, so wie wir sie für die weitere Entwicklung
der Bundeswehr vorgesehen hatten. Nur sie gibt der Bundeswehr eine ausreichende Grundlage.
({9})
Im Übrigen muss klar sein, in welchen Szenarien es zu
einer konkreten Lastenteilung kommt. Auch hier gibt es
auf der amerikanischen Seite viele Fragezeichen. Ich bin
jedenfalls davon überzeugt: Die USA werden eine
Relativierung ihrer Führungsrolle im Bündnis akzeptieren, wenn die Europäer eine Aussicht auf eine echte Entlastung bieten. Völlig unglaubwürdig ist es, wenn manche
Kollegen aus dem Koalitionslager immer die Dominanz
der Vereinigten Staaten von Amerika beklagen, aber
nichts dafür tun, dass Europa stärker wird, um damit die
Führungsrolle der Vereinigten Staaten zu relativieren. Ich
bin sicher, dass eine solche Politik machbar und durchsetzbar wäre.
({10})
Zur Raketenabwehr - ich glaube, es ist wichtig, vor
Ihrem Besuch in Amerika die Positionen zu klären; natürlich werden wir noch umfangreichere Debatten haben -:
Mit dieser Raketenabwehr zeichnet sich die technologische Möglichkeit ab, angesichts der Proliferation einen
Schutz zu schaffen und Abschreckung durch Elemente der
Verteidigung zu ergänzen.
({11})
Sie gibt auch die Chance zu erheblichen Abrüstungsschritten. Präsident Bush verbindet die Pläne einer Raketenabwehr zum Beispiel mit der Bereitschaft zu einer einseitigen drastischen Reduzierung auf nur noch einige
Hundert Systeme bei den nuklearen Offensivraketen.
Worum geht es? - Es geht jetzt um die Frage, ob wir
uns auf eine neue Sicherheitsstrategie einlassen. Es geht
jetzt nicht darum, dass wir etwas bestellen, oder um die
Hardware. Es geht, wie gesagt, um eine neue Sicherheitsstrategie, um einen neuen Mix aus Abschreckung und
Verteidigung, das heißt um die Chance, durch Raketenabwehr einen gewissen Schutz zu schaffen und zugleich die
Zahl der Offensivwaffen deutlich zu reduzieren. Die
CDU/CSU-Fraktion hält es jedenfalls für richtig, diese
Chance im Grundsatz zu ergreifen. Das trennt uns von
dem Durcheinander, das auf Ihrer Seite herrscht.
({12})
Wir wollen, dass der Dialog über die Raketenabwehr
auf der Grundlage einer engen transatlantischen Zusammenarbeit offen für die Einbeziehung von Nicht-NATOStaaten ist. Aber dafür ist die Formulierung einer deutschen und einer europäischen Position Voraussetzung.
Wenn wir auf die Amerikaner Einfluss haben wollen, dann
müssen wir hinsichtlich der deutschen Position Klarheit
schaffen. Aber innerhalb der Bundesregierung und der Regierungskoalition geht es völlig durcheinander, wie das
wirklich unprofessionelle Stimmengewirr beweist. Der
Verteidigungsminister kritisiert von Moskau aus die USA.
Der Außenminister sieht die Möglichkeit, dass Berlin eine
Vermittlerrolle zwischen Washington und Moskau spielt,
so, als stünde Deutschland in einer Äqui-Distanz.
Deutschland ist kein Vermittler, kein unbeteiligter Beobachter, sondern wesentlicher Mitbeteiligter. Schließlich
geht es auch um unseren Schutz im 21. Jahrhundert.
({13})
Deshalb muss die Reihenfolge stimmen. Wir müssen eine
deutsche Position formulieren, Einigkeit im Bündnis
schaffen und dann den Dialog mit Russland und anderen
Nicht-NATO-Staaten führen.
Herr Erler, Sie durften heute noch nicht einmal das
Wort ergreifen.
({14})
- Gut, wenn Sie das Wort ergreifen, sollten Sie einmal erklären, was Sie gemeint haben, als Sie gesagt haben, es
gehe um potenzielle Unverwundbarkeit und das Ganze sei
ein riesengroßer Quatsch. Das ist Ihre Position, Herr Erler.
Die neue Vorsitzende der Grünen sieht die Gefahr, dass
die Raketenabwehr mehr Konfrontation und eine Konterkarierung der internationalen Abrüstungsbemühungen
bedeuten könnte.
({15})
Wenn Herr Erler tatsächlich Recht hat, wie ich aus der
SPD-Fraktion gerade höre, dann stellt sich die Frage, wie
Ihr Bundeskanzler vorschlagen kann, dass wir uns an einem solchen Quatsch beteiligen. Können Sie mir das erklären?
({16})
Der Bundeskanzler spricht zwar von eminenten wirtschaftlichen Interessen und von der Teilhabe an der Technologie der Raketenabwehr. Aber zu den grundlegenden
strategischen Fragen und Chancen sagt er nichts. Ich
denke, man wird der Sache nicht gerecht, wenn man nur
auf die Chancen im Hinblick auf die wirtschaftliche Teilhabe schaut. So können wir unsere Interessen im Bündnis
jedenfalls nicht sichern. Im Kern geht es um eine Debatte
über eine neue Sicherheitsstrategie im 21. Jahrhundert.
Dazu muss - darum geht es - grundsätzlich Ja gesagt werden. Der Außenminister muss klarstellen, was er gestern
damit gemeint hat, als er gesagt hat, man dürfe die USA
nicht so stark kritisieren. Das ist eine dieser typischen
windelweichen, taktischen Formulierungen. Wenn das,
was die USA vorhaben, richtig ist, dann sollten wir es unterstützen. Wenn es falsch ist, dann sollten wir es deutlich
kritisieren.
({17})
Aber wenn man aus politischen Gründen sagt, man solle
das nicht so stark kritisieren, weil die USA das ohnehin
umsetzen würden, dann wird man der Aufgabe, die deutschen Interessen wahrzunehmen, nicht gerecht, Herr
Außenminister.
({18})
- Wenn das richtig ist, dann unterstützen Sie es doch! Das,
was am Vorhaben der Vereinigten Staaten falsch ist, sollten Sie kritisieren, und zwar deutlich.
({19})
Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben eine klare Position. Wir haben auch einen entsprechenden Antrag eingebracht. Wir fordern die Bundesregierung auf, das Angebot
der US-amerikanischen Regierung, ein umfassendes
Raketenabwehrsystem unter Einbeziehung der Alliierten
zu schaffen, anzunehmen und dazu konkrete Vorstellungen zu entwickeln, damit Deutschland in dieser Frage ein
echter Partner der USA sein kann. Es ist höchste Zeit, dass
wir uns mit eigenen Initiativen für eine europäische
Schutzkomponente im Rahmen einer Allied Missile Defense in den Entscheidungsprozess einbringen.
Herr Bundeskanzler, von Ihnen verlangen wir, dass Sie
in Washington nicht nur darauf hinweisen, dass sich
Deutschland finanziell und wirtschaftlich beteiligen
möchte. Sie sollten auch ein klares, grundsätzliches Wort
zu den Überlegungen hinsichtlich einer neuen Sicherheitsstrategie im 21. Jahrhundert sagen, und zwar zu allen
Aspekten der Raketenabwehr.
({20})
Wir brauchen eine klare deutsche Stimme. Nur dann
kann auch die europäische Position bestimmt werden. Ich
glaube, dass die transatlantischen Beziehungen aufgrund
ihrer 50-jährigen Geschichte im Kern gesund sind und
dass es nach dem Regierungswechsel - Gott sei Dank auch Kontinuität gegeben hat, dass es aber in den Themen, die ich angesprochen habe, ein Potenzial an Irritationen und Brüchen gibt und dass deswegen die deutsche
Position geklärt werden muss. Deswegen haben wir, Herr
Bundeskanzler, diese Debatte im Deutschen Bundestag
gesucht; denn wir würden uns alle schweren Schaden zufügen, wenn die deutsch-amerikanischen Beziehungen
und die europäisch-amerikanischen Beziehungen unter
Unklarheit und unter Brüchen leiden würden. Deswegen:
Nutzen Sie den Besuch in Washington - ich bin sicher, Sie
werden dort sehr freundschaftlich empfangen werden -,
um mit einer klaren Stimme die deutschen Positionen so
vorzutragen, wie wir sie hier formuliert haben!
({21})
Ich erteile das Wort
Kollegin Rita Grießhaber, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es kam ja
nicht überraschend, dass sich die neue Regierung in den
USA für ein wie auch immer geartetes Raketenabwehrsystem entschieden hat. Es hat auch wirklich niemanden
überrascht, dass sich Herr Rühe daran beteiligen will. Die
Frage ist nur: an was eigentlich? Ist es wichtiger, dabei zu
sein, als zu wissen, bei was man dabei ist? Die Bush-Administration jedenfalls überprüft zunächst einmal: Was ist
überhaupt machbar und was ist finanzierbar? Was aber einige schon überrascht haben müsste, ist, dass die BushRegierung den alten Haushaltsansatz der Clinton-Regierung im Militärbereich übernommen und die Mittel
nicht aufgestockt hat, weil nämlich Bush die Realisierung
der versprochenen Steuersenkungen wesentlich wichtiger
ist als die Aufstockung des Militärhaushalts. Da, Herr
Rühe, hat er, glaube ich, die gleiche Kluft zwischen Worten und Taten, wie Sie sie hatten.
({0})
Für uns zeigt sich daran, dass dieses Projekt so schnell
nicht kommen wird und dass wir hier die Zeit zu einer offenen, breiten und gründlichen Debatte haben, wie das
transatlantische Verhältnis vor allem im Sicherheitsbereich in Zukunft aussehen soll.
Der Besuch des Außenministers in Russland - er hat
dort ausdrücklich nicht vermittelt, falls Ihnen das entgangen sein sollte - hat doch klar gezeigt, dass wir eines nicht
wollen, nämlich dass ein Keil zwischen Europa und die
USA getrieben wird. Allerdings wollen wir, dass es ein
einvernehmliches Verständnis zwischen Russland und
den USA gibt.
Der Besuch in Washington hat ergeben, dass auch die
Regierung Bush die enge Konsultation im atlantischen
Bündnis will und dass es keinen Alleingang geben wird.
Ich denke, das ist ein wichtiger Erfolg.
({1})
Für uns besteht die Notwendigkeit, vieles zu klären:
Welche Art von Sicherheit gibt es denn durch eine Raketenabwehr? Welche Auswirkungen hat sie auf die internationalen Abrüstungsbemühungen? Und vor allen Dingen:
Wie greift sie in das Kräfteverhältnis der Staaten ein? Was
bedeutet denn dieser Strategiewechsel, Herr Rühe, weg
von der alten Abschreckungsstrategie hin zu einem umfassenderen Abwehrschutz für die, die sich nicht daran beteiligen können oder wollen?
({2})
Dafür brauchen wir einen sehr viel stärkeren Austausch
über die Bedrohungsanalysen hier und in den USA. Wir
müssen unseren amerikanischen Freunden stärker als bisher vermitteln, dass diese Art der Sicherheitspolitik, die
von einem erweiterten Sicherheitsbegriff ausgeht, von ihnen nicht unterschätzt werden sollte und für uns Vorrang
hat.
({3})
Es gilt auch, bei den amerikanischen Freunden dafür zu
werben, dass uns der Wegfall der Bedrohung durch das
Ende der Blockkonfrontation zwar ein Stück weit unabhängiger von den USA gemacht hat, aber eben nicht im
Sinne einer Abkopplung, sondern in dem Sinne, dass wir
selber mehr Verantwortung übernehmen müssen und werden. Unser gemeinsames Anliegen ist es doch, die USA
noch enger in die internationalen Regime von Abrüstung
einzubinden, damit wir vorankommen. Wir wollen, dass
sich die USA in zentralen Punkten bewegen. Das betrifft
nicht nur das Engagement in den Vereinten Nationen,
sondern auch die Ratifizierung des Römischen Statuts
zum Internationalen Strafgerichtshof
({4})
und den CTBT.
Wir brauchen die USA bei der Lösung von sehr vielen
Problemen, insbesondere beim Klimaschutz. Mit großer
Sorge nehmen wir die Prognosen über die Auswirkungen
der globalen Erwärmung zur Kenntnis. Wir appellieren
dringend an die neue Regierung, bei der Eindämmung von
CO2-Emissionen mitzumachen und uns weltweit zu unterstützen.
({5})
Bei einigen Themen kommen auch Unterschiede in
Tradition und Kultur zutage, zum Beispiel bei der
Handhabung der Gentechnik. Es ist wichtig, festzustellen,
dass wir nicht den europäischen Markt abschotten wollen,
sondern dass Verbraucherinnen und Verbraucher keine
gentechnisch veränderten Lebensmittel haben wollen.
Manchmal nehmen wir die USA auch sehr eindimensional wahr, und zwar dort, wo wir sie nicht verstehen,
zum Beispiel bei der Todesstrafe. Tatsache ist: In vielen
Staaten ist sie abgeschafft und in der amerikanischen Gesellschaft selber gibt es eine heftige Debatte. Sehr, sehr
viele engagieren sich dort für die Abschaffung der Todesstrafe. Ihnen gilt unsere Unterstützung.
({6})
Trotz aller Unterschiede ist auffallend, welche Faszination die Vereinigten Staaten auf viele Europäer ausüben. Daher stellt sich die Frage: Was können wir von ihnen lernen? Warum sind sie so attraktiv für viele junge
Menschen, für Wissenschaftler und Künstler? Dabei ist
nicht nur das Modell Green Card, sondern auch die Offenheit, die Vitalität der amerikanischen Gesellschaft insgesamt interessant. Ich meine ihre Bereitschaft, bei allen
Unterschieden immer wieder das Element der Gleichheit
wahr zu machen. Davon können wir uns ein Stück abschneiden, statt nach einer Leitkultur zu suchen.
({7})
Im transatlantischen Verhältnis können zwar viele Probleme zu Missverständnissen und zu Spannungen führen;
aber wir sollten diese Differenzen nicht überbewerten.
Die Bindungen zwischen Europa und Nordamerika sind
tiefer und fester, als sie oft wahrgenommen werden.
({8})
Sie sind kein Selbstläufer und bedürfen selbstverständlich
ständiger Anstrengungen. Wir tun gern das Unsere dazu.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In diesen Tagen kommt das
Auswärtige Amt etwas in die Jahre; denn es wird, wenn
man die Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik
Deutschland zugrunde legt, 50 Jahre alt. Mit Geschick
und großartiger außenpolitischer Arbeit hat es diese große
Konstante der Nachkriegspolitik der Bundesrepublik
Deutschland, die transatlantischen Beziehungen, begleitet. Dazu dem amtierenden Bundesaußenminister herzlichen Glückwunsch, mit der Bitte, ihn an die Mitarbeiter
weiterzugeben!
({0})
Was erreicht worden ist, ist ein Stück Erfolgsgeschichte
der Arbeit.
Die alte bipolare Welt existiert nicht mehr; aber die
Konstante, die ich eben erwähnt habe, ist geblieben. Diese
Partnerschaft hat sich zunächst zwar aus der Auseinandersetzung mit einem anderen Weltbild entwickelt, ist
aber, was die Grundwerte, die Individualrechte, die Persönlichkeitsrechte, die Freiheitswerte, die Globalisierung,
den freien Markt und all das, was unsere Wertegrundlage
ausmacht, angeht, eine so tiefe Wertegemeinschaft geworden, dass wir sie nicht nur weiterhin brauchen; vielmehr ist sie für uns, für beide Seiten des Atlantiks, kulturell unentbehrlich.
Für uns Deutsche war Amerika nicht nur das, was wir
nach dem Kriegsende ökonomisch mit dem Marshallplan,
mit der Luftbrücke oder - um optische Signale zu setzen mit dem, was sich mit „lucky strike“ verband, identifiziert
haben. Für uns war diese transatlantische Brücke zutiefst
notwendig, um, wie Theodor Heuss es so präzise und
prägnant formuliert hat,
({1})
im letzten Jahrhundert die politischen Eliten in Deutschland mit den wirklichen Demokratien des Westens zu versöhnen. Das ist gelungen. Das geht weit über ökonomische Bindungen und temporäre Handelskonflikte hinaus.
Wir wissen, dass wir auf Partner angewiesen sind. Das
gilt auch für den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Wir
müssen dafür Sorge tragen, dass das auch von den beiden
Zivilgesellschaften so gesehen wird; denn Kontakte auf
Regierungsebene alleine reichen nicht. Partnerschaften
auf kultureller Ebene sind notwendig. Das gilt auch für
die einzig verbliebene Weltmacht, die Vereinigten Staaten
von Amerika. Wir wissen, dass ihr Einfluss in der
Sicherheitspolitik stärker ist als unserer, dass auf ihr Urteil mehr gehört wird und sie sich besser sichern können.
Das ist aber nicht der zentrale Punkt. Wenn sie zu nachhaltigen Problemlösungen in der Welt einen Beitrag leisten wollen, müssen sie begreifen, dass Partnerschaften geradezu kulturell notwendig sind. Darauf müssen wir
hinwirken.
({2})
Das verschafft uns ein ganz anderes Stimmengewicht;
dieses ist dann nicht mehr abhängig von der Größenordnung Europas oder dem Fortschritt der europäischen Integrationsbemühungen, obwohl diese - das fände auch ich
besser - weiter fortgeschritten sein könnten, als sie zurzeit
sind.
In diesem Zusammenhang möchte ich einen wichtigen
Punkt, Herr Bundesaußenminister und Herr Bundeskanzler, ansprechen: Es macht mir Sorge, dass wir einen
Nukleus für die Verbindung unserer Zivilgesellschaften
verlieren, der die Nachkriegszeit prägte. Damals transportierten die bei uns stationierten amerikanischen Soldaten die Kenntnis europäischer Kultur bis tief in den
Mittleren Westen der Vereinigten Staaten von Amerika.
({3})
Es ist deshalb nicht beliebig, wie gut man die Haushaltstitel für Studenten-, Bürger- und Künstleraustausch ausstattet. Diese Frage darf nicht unter den Zwängen mittelfristiger Finanzplanung entschieden werden. Es ist
dringend notwendig, dass diese Bereiche im Haushalt
stärkeres Gewicht erhalten. Wir sind nämlich auf diese
Verbindungen zwischen den Zivilgesellschaften angewiesen.
({4})
Auch die Bedeutung der wirtschaftlichen Beziehungen wächst. Wir als Deutsche erkennen das zum Beispiel
an den Firmenkooperationen zwischen Daimler und
Chrysler, Telekom und Voice-Stream sowie Deutsche
Bank und Bankers Trust. Diesen frisch Vermählten steht
aber kein sicherer transatlantischer Bezugsrahmen zur
Verfügung, denn die halbjährlichen Gipfeltreffen und
Konsultationen auf der Agenda reichen nicht aus, um einen wirklich belastbaren Rahmen zu schaffen.
Die Themenkomplexe Bananen, Hormonfleisch, gentechnisch modifizierte Pflanzen wie Mais, Soja und Raps,
Boeing und Airbus sowie die Helms-Burton-Gesetze werfen natürlich Konflikte auf und provozieren unterschiedliche Sichtweisen. Das muss offen miteinander besprochen werden, unabhängig von den sicherheitspolitischen
Themen, die noch hinzukommen. Hin und wieder melden
sich Stimmen zu Wort, die die Belastungen für schier unerträglich halten. Ich finde, dass das deutsch-amerikanische Verhältnis so gut ist, dass es auch einige Streitigkeiten und Belastungen aushalten kann. Es ist in keiner
Weise ernsthaft gefährdet. Man kann über unterschiedliche Interessen ernsthaft reden.
({5})
Meine Damen und Herren, man muss sich aber auch
bemühen, in diesen Bereichen zu Lösungen zu kommen.
Wenn die Konsultationen und die halbjährlichen Gipfeltreffen nicht ausreichen und im Anschluss daran lediglich
Kommuniqués veröffentlicht werden, ohne die Sache
wirklich weitergebracht oder erledigt zu haben, muss man
versuchen, einen für beide Seiten verbindlichen und
WTO-konformen Streitschlichtungsmechanismus zu
etablieren. Hieran führt kein Weg vorbei. Dies haben wir
beantragt. Herr Bundeskanzler, wenn Sie den amerikanischen Präsidenten besuchen, ist dies einer der zu besprechenden Punkte. Es reicht nicht aus, dass in einem
Kommuniqué all das, was uns bewegt, lediglich aufgezählt wird. Es muss ein Regelungsmechanismus vorgeschlagen werden, wie die Probleme zu bewältigen sind.
({6})
Wir müssen dies nicht nur öffentlich erörtern, sondern die
Probleme auch lösen. Wir sehen die bisherigen Aktivitäten der Bundesregierung als nicht ausreichend an.
Die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten und der
europäische Einigungsprozess sind die beiden Konstanten
der deutschen Außenpolitik. Der europäische Einigungsprozess ist von uns zu gestalten. Die amerikanische
Administration fragt häufig symbolhaft nach einer Telefonnummer, die man anrufen kann, wenn man mit Europa
sprechen möchte. Das zeigt, dass den Amerikanern die europäische Visitenkarte sozusagen noch nicht ausreichend
lesbar erscheint. Wir sollten es uns zur Aufgabe machen,
intensiv daran zu arbeiten, dass dies möglich ist.
Ich verstehe schon manche Stimmen aus Amerika - ich
selbst habe nämlich in diesem Punkt Schwierigkeiten -,
die sich darüber beschweren, dass nicht klar erkennbar ist,
ob die Ergebnisse der beiden großen europäischen Gipfeltreffen unter deutscher bzw. französischer Präsidentschaft in Berlin bzw. Nizza wirklich ausreichen, um den
europäischen Integrationsprozess strategisch weiterzubringen. Die Amerikaner haben Mühe, die entsprechenden Kommuniqués und die Erörterungen zu verstehen.
Angesichts des Verhaltens der europäischen Regierungschefs auf dem Gipfel von Nizza - sie haben unter Ausschluss der Fernsehkameras den Vertrag unterschrieben müssen sie den Eindruck haben, dass es zum Abschluss
keinen großen Erfolg gab.
Es gibt - mit einer Ausnahme - noch keine europäischen Entscheidungen, die für die Vereinigten Staaten
von Amerika wirklich wahrnehmbar wären.
({7})
Die einzige Entscheidung, die sie bewusst wahrgenommen haben, war die Entscheidung über die Einführung des
Euro. Das zeigt uns aber, dass kohärente Entscheidungen,
die völlig klar sind und mit denen Symbole nach außen
transportiert werden, die europäische Visitenkarte gestalten können. Solche Entscheidungen sind nämlich wahrnehmbar. Man kann sich deshalb auf sie einstellen und mit
ihnen kalkulieren. Die anderen Entscheidungen zerfließen sozusagen in Bezug auf ihre Außenwirkung. Sie
machen nicht ausreichend deutlich, welches Gewicht,
welche weiteren Integrationsbemühungen und welche
Zielvorstellungen Europa wirklich hat.
Unter Partnern muss ein Punkt klar sein: Partnerschaft
funktioniert nur, wenn die eigenen Positionen klar erkennbar sind, wenn man weiß, worauf der andere hinaus
will, und wenn Zielvorstellungen präzise beschrieben
werden.
({8})
- Ich danke Ihnen für diesen Zwischenruf; denn er gibt
mir Gelegenheit, an die Adresse der SPD zu sagen: Glauben Sie nicht, dass die deutsche Stimme irgendein Gewicht in Bezug auf die Sicherheitspolitik hat! Warum
sonst wurde der Bundesverteidigungsminister anlässlich
seines Besuches in Amerika von seinem amerikanischen
Kollegen gefragt, welche Bedeutung seine Stimme angeDr. Wolfgang Gerhardt
sichts des derzeitigen Zustandes der Bundeswehr eigentlich habe?
({9})
Die Haushaltsverschiebungen, die Sie für die Bundeswehr vornehmen, setzen nicht das Zeichen, in der Sicherheitspolitik mitreden zu können. Das ist wirklich nicht der
Fall.
({10})
Wenn Sie auf diesem Gebiet mitreden könnten, dann
könnten Sie sich auch die Freiheit nehmen, unseren amerikanischen Freunden zu sagen - ich tue dies von hier
aus -: Es besteht ein Missverhältnis zwischen guten Absichten und dem erzielten Ergebnis beim Vorgehen im
Irak, auch wenn man respektiert, dass es eine mit dem
Vereinigten Königreich abgestimmte Entscheidung zum
Schutz der Piloten war.
({11})
Es gibt auch in den Vereinigten Staaten von Amerika
genügend Stimmen, die sich ähnlich äußern. Unter Freunden muss man diesen Punkt ansprechen. Die politische
Wirkung steht im umgekehrten Verhältnis zum Ziel des
selbstlegitimierten Vorgehens.
({12})
Dieses Verhalten bringt uns nicht weiter. Die Amerikaner verhalten sich oft sehr robust, sind nicht sehr mitteilungsbedürftig und sehen manche Abstimmungsnotwendigkeit nicht so wie die europäischen Partner;
anscheinend wurde die Bundesregierung nicht rechtzeitig
informiert. Man sollte sich daher die Freiheit nehmen,
Herr Bundesaußenminister, beim Besuch den amerikanischen Kollegen zu sagen, dass man dieses Verhalten als
kritikwürdig empfindet und dass sich das nicht wiederholen sollte. Wenn ich Ihre früheren Worte als Oppositionspolitiker in Erwägung ziehe, dann wundere ich mich, dass
Sie diese Kraft nicht aufgebracht haben. Das war für uns
sehr interessant.
({13})
Der deutsche Verteidigungsminister besucht seinen
amerikanischen Kollegen und verkündet dabei seine sicherheitspolitischen Vorstellungen. Er verspricht den Vereinten Nationen Stand-by-Forces, der NATO Krisenreaktionskräfte und der Europäischen Union Eingreiftruppen.
Der Generalinspekteur sagt aber, die Bundeswehr sei aufgrund der Haushaltslage nur bedingt einsatzfähig. So
kann man doch nicht gegenüber den Vereinigten Staaten
von Amerika auftreten!
({14})
Ich wundere mich auch, dass auf die Ideen und strategischen Anstöße, die es im NMD-Bereich gibt, nur
zurückhaltend reagiert wird. Der Bundeskanzler hat in
München kritisch reagiert, in der „Saarbrücker Zeitung“
etwas offener. Er sprach von Technologie-Sharing. Das ist
zwar alles richtig. Dennoch muss ich sagen: Seien Sie
nicht so naiv, zu glauben, Sie könnten den Amerikanern
abgewöhnen, eigene Entscheidungen zu treffen! Die eigentliche Aufgabe ist, sich mit den Europäern abzustimmen, ein europäisches Interesse zu definieren und das
Vorhaben kritisch zu bewerten, wenn die Amerikaner
keine Rücksicht auf die europäischen Positionen nehmen.
Dies muss man den Vereinigten Staaten von Amerika mitteilen.
Man muss aber auch einen konzeptionellen Beitrag liefern, wie man das NMD-Programm in Zukunft gestalten
kann, ohne die Sicherheitsinteressen Russlands zu beeinträchtigen und neue europäische Missverständnisse zu
provozieren. Das wäre die Aufgabe. Da war nur die
Stimme vom Herrn Bundeskanzler zu vernehmen: Wenn
die das unbedingt wollen, sollten wir Wert auf Technologie-Sharing legen. Das reicht zur Vorbereitung Ihres
Besuchs nicht aus, Herr Bundeskanzler. Sie müssen das
mit den europäischen Partnern abstimmen; es muss Butter bei die Fische getan werden, wenn Sie über dieses Projekt reden.
({15})
- Ich bin nur dafür, dass man es dann auch ausführt, europäische Interessen einbringt und den Vereinigten Staaten unsere Interessen mitteilt.
({16})
Wenn Sie jetzt den amerikanischen Präsidenten besuchen, dann treffen Sie ja auf einen Freund. In vielen Familien gibt man Erfahrungen weiter.
({17})
Der Vater des jetzigen Präsidenten hat für die Interessen
der Bundesrepublik Deutschland emotional viel mehr
Verständnis und Engagement aufgebracht als manche, die
in Deutschland selbst Politik gemacht haben.
({18})
Ich bin davon überzeugt, dass vieles auf den Sohn übertragen worden ist.
({19})
Ich hoffe, dass das so ist. Wir sind davon überzeugt, dass
er uns ein verlässlicher Partner ist.
Im Übrigen: Wenn Sie ihn sehen, grüßen Sie ihn sehr
herzlich von der Freien Demokratischen Partei,
({20})
die hohen Respekt vor einer Entscheidung hat, die er dem
amerikanischen Kongress mitgeteilt hat, die die andere,
die ökonomische Seite der Vereinigten Staaten betrifft
und die Sie dazu veranlassen muss, noch gewaltig über
Ihre Hausaufgaben nachzudenken. Der Mann hat dem
Kongress schlicht mitgeteilt, dass der amerikanische Staat
den Bürgern bedauerlicherweise zu viel Geld abgenommen habe, und erklärt, dass er im nächsten Jahrzehnt beabsichtige, an die Bürger eine bestimmte Summe
zurückzugeben. Diese Summe ist 30-mal so hoch wie die
Summe, die der deutsche Finanzminister den Bürgern
zurückzugeben erst 2005 bereit ist. Uns erfüllt das mit
großer Freude. Eine solche Partnerschaft kann sehr von
Erfolg gekrönt sein, Herr Bundeskanzler.
Herzlichen Dank.
({21})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Jetzt ist natürlich das Alternativ- und Kontrastprogramm angesagt. Ich will eingangs
sagen: Bei der Rede des Kollegen Volker Rühe habe ich
wieder einmal verstanden, dass die Linke zu- und umlernen muss. Wir haben früher immer gesagt: „Völker, hört
die Signale!“ Jetzt kann man sagen: Volker hörte die Signale der neuen Bush-Administration aus Washington
und flugs war er hier wieder auf dem Zettel.
({0})
Ich finde, die deutsche Öffentlichkeit, der Bundestag
und unsere europäischen Nachbarländer haben ein Anrecht, zu erfahren, mit welchen Botschaften der Bundeskanzler zum US-Präsidenten Bush fährt, ebenso wie die
amerikanische Öffentlichkeit ein Anrecht darauf hat, differenzierte Meinungen zur transatlantischen Partnerschaft
zur Kenntnis zu nehmen. Viele Menschen in unserem
Lande haben, anders als der Außenminister, die Luftangriffe gegen den Irak abgelehnt und kritisiert und sagen
das sogar öffentlich.
({1})
Sie sind mit der neuen Raketenrüstung, die fälschlicherweise auch noch den Zusatz „defense“ trägt, nicht einverstanden und haben überhaupt den Eindruck, dass in der
amerikanischen Politik - wenn ich das etwas volkstümlich sagen darf - der Colt recht locker sitzt. Wir haben dies
ganz deutlich gesagt.
({2})
Wenn US-Politiker Gütesiegel für Staaten der Welt verteilen und Länder als besorgniserregend einstufen - früher
hatte man sogar den Begriff Schurkenstaaten -, fällt mir
immer auch für die USA selbst der Begriff besorgniserregend ein. Der Bombenangriff auf Bagdad als Auftakt
der Präsidentschaft von Bush junior erfüllt zumindest
mich und meine Fraktion mit außerordentlich großer
Sorge. Die USA sind für mich besorgniserregend.
({3})
Es wäre die Verpflichtung des deutschen Außenministers gewesen, die Sorgen, die es in unserem Lande gibt,
den USA entgegenzuhalten.
({4})
Zu allem Ja und Amen zu sagen hat nichts mit transatlantischer Partnerschaft zu tun. Wer nicht kritisiert, ist nicht
tatsächlich solidarisch. Er ist unterwürfig und das ist das
Gegenteil von Solidarität.
({5})
Es ist für einen Linken schon bedrückend, dass er,
wenn er nach positiven Stimmen sucht, darauf angewiesen ist, den ehemaligen Außenminister Klaus Kinkel zu
zitieren, der, anders als Fischer, zu dem Schluss kam, dass
man unter guten Freunden auch einmal ein kritisches Wort
sagen darf, ja manchmal sogar sagen muss. Ich hätte das
gerne gehört, als er noch Außenminister war. Aber späte
Erkenntnis ist immerhin auch eine Erkenntnis. Das unterscheidet ihn von dem jetzigen Außenminister.
({6})
Vielleicht gibt es den Salto, wenn der jetzige Außenminister nicht mehr Außenminister ist.
Wir wollen vom deutschen Bundeskanzler Auskunft
darüber, welche Spielräume seiner Meinung nach für
Deutschland und Europa gegenüber den USA bestehen.
Deutsche und amerikanische Interessen sind nicht per se
deckungsgleich. Das deutsche Interesse an internationalen Organisationen wie der UNO ist größer als das der
USA. Deutschland als europäischer Staat muss anders mit
Russland umgehen, als es die USA tun. Deutschland hat
- auch unter der jetzigen Regierung, obwohl das schon
etwas heißen will - eine andere außenpolitische Linie gegenüber Ländern wie dem Iran oder Nordkorea. Begrüßenswerterweise hat sich Deutschland aus der Embargopolitik gegenüber Kuba gelöst.
Die USA setzen rascher auf ihre militärische Überlegenheit. Ihre Bereitschaft, sich von anderen etwas sagen
zu lassen, ist auf ein Minimum gesunken. Die UNO wird
ständig brüskiert und unterhöhlt. Selbst die NATO wird
nicht mehr konsultiert, ehe Bomben fallen. Die USA brechen immer häufiger Völkerrecht. Der Zustand der Menschenrechte, von denen gegenüber anderen Staaten so
häufig gesprochen wird, ist in den USA höchst bedenklich, besorgniserregend.
({7})
Schließlich wächst die wirtschaftliche Konkurrenz zwischen der Europäischen Union und den USA, nicht nur
auf den europäischen Märkten, auch in Asien und Lateinamerika.
Die unterschiedlichen Interessen von Deutschland und
Europa einerseits und den USA andererseits fokussieren
sich in den US-Plänen eines neuen Raketensystems. Unabhängig davon, ob dieses System technisch überhaupt
machbar ist, streben die USA - das muss hier verstanden
werden - nach eigener Unverwundbarkeit - ob das geht
oder nicht - bei gleichzeitiger Fähigkeit, weltweit zu intervenieren. Diesen Zusammenhang muss man sehen.
Deswegen ist es kein Abwehrsystem, sondern Teil einer
aggressiven Politik.
({8})
Man kann das auch mit anderen Worten beschreiben: Die
USA streben nach Weltherrschaft. Das muss abgelehnt
und zurückgewiesen werden.
({9})
Das National Missile Defense - ob mit „National“ oder
ohne - zerstört die bestehenden Rüstungskontrollverträge
und verschärft Differenzen zu Russland und vor allem zu
China. Es ist doch Unsinn, dass dieses System gegen den
Irak oder Nordkorea gerichtet sein soll. Es richtet sich vor
allen Dingen gegen China und Russland. Das wird in
China und in Russland auch so verstanden.
({10})
Es provoziert neues Wettrüsten, schafft Zonen unterschiedlicher Sicherheit und ist völlig ungeeignet, das zu
leisten, was als Ziel vorgegeben wird: Abwehr vor Terrorismus.
Statt die gemeinsamen europäischen Interessen zur
Verhinderung der US-Pläne zu stärken, entdeckt der
Kanzler plötzlich, es sei eine Sache des technischen Fortschritts, daran teilzuhaben, und es könne dadurch eine
neue Abrüstungsdebatte in Gang gesetzt werden. Die
USA suchen nicht technische Teilhabe, sondern finanzielle und politische Abstützung. Der Gedanke, mit Aufrüstung neue Abrüstungsbereitschaft zu fördern, ist wohl
eher ein Märchen als überzeugend.
({11})
Ein neues Wettrüsten mag für die US-Wirtschaft, gerade
im Sinkflug begriffen, gut sein. Für Deutschland und Europa allerdings ist ein neues Wettrüsten schädlich und gefährlich. Deswegen wird es von uns abgelehnt.
({12})
Die Bundesregierung gefährdet, wenn sie Ja oder Jein zu
den neuen US-Raketenplänen sagt, europäische und deutsche Sicherheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehe selbstverständlich davon aus, dass der Kanzler der Bundesrepublik
Deutschland in den USA die Interessen unseres Landes zu
vertreten hat und nicht in Deutschland die Interessen der
USA. Das muss hier deutlich gemacht werden. Das transatlantische Verhältnis muss reformiert und erneuert werden. Partnerschaft und demokratisches Selbstbewusstsein
brauchen wir anstelle von US-Weltherrschaft und deutscher Unterwürfigkeit.
({13})
Das liegt sowohl im Interesse unseres Landes als auch im
Interesse Europas und, wie ich meine, im wohlverstandenen Interesse der USA.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Dies war
das Kontrastprogramm.
({14})
Ich erteile dem
Außenminister, Joseph Fischer, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zum
Thema spreche, lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen,
hier etwas anzusprechen, was uns in den letzten Tagen
sehr beschäftigt hat.
Wie Sie wissen, wurden vier Landsleute von uns in
Ägypten entführt. Diese Entführung ist jetzt Gott sei Dank
durch die Freilassung der Entführten glücklich zu Ende
gegangen.
({0})
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, allen Beteiligten zu
danken, vor allem den ägyptischen Behörden für ihr
umsichtiges Vorgehen. Besonders danke ich Präsident
Mubarak und Außenminister Amre Mussa für ihren Einsatz, aufgrund dessen unsere Landsleute gesund und
wohlbehalten zu ihren Familien zurückkehren können.
({1})
Meine Damen und Herren, es wurde zu Recht darauf
hingewiesen, dass die transatlantischen Beziehungen
nicht nur unverrückbares Fundament der Entwicklung der
deutschen Demokratie bis hin zur Wiedervereinigung waren und sind, sondern dass sie selbstverständlich auch für
den europäischen Einigungsprozess von überragender
Bedeutung sind. Die Tatsache, dass die USA nach 1945 in
Westeuropa vertreten waren, hat diesen ganz anderen,
sehr erfolgreichen Verlauf der Geschichte der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit auch den europäischen Einigungsprozess möglich gemacht. Dies sind die
beiden Konstanten deutscher Außenpolitik. Auf dieser
Grundlage stehen wir, auf dieser Grundlage wird auch das
sich vereinigende Europa stehen.
({2})
Lebendige Beziehungen wie die transatlantischen Beziehungen unterliegen selbstverständlich Veränderungen.
Die Welt ändert sich und damit werden diese Beziehungen
vor neue Herausforderungen gestellt und müssen entsprechend angepasst werden. Dies führte immer zu Diskussionen, zu unterschiedlichen Positionen, aber letztendlich hat
das Bündnis seine Kohäsion gewahrt. Es gab gemeinsame
Entscheidungen; dies wird auch in Zukunft so sein.
Da der Transatlantismus und Europa die beiden
wichtigsten Interessen sind, die in der Außenpolitik des
vereinigten Deutschlands zu verfolgen sind, werden wir
angesichts der Bedeutung des europäischen Einigungsprozesses das Verhältnis von Europa und Transatlantismus allerdings immer wieder neu zu justieren haben.
Die Rede des Kollegen Rühe heute atmete doch sehr
viel Vergangenheit. Man konnte unschwer die Bruchlinien erkennen. Ohne dass ich das jetzt im Verhältnis 1:1
aus der Vergangenheit der späten 60er-Jahre übernehme:
Der Widerspruch zwischen Europäern und Transatlantikern in der Union ist in Ihrer Rede wieder offensichtlich
geworden.
({3})
- Aber selbstverständlich. - Wenn ich Ihre Rede mit dem
vergleiche, was der überaus geschätzte Kollege Lamers
zu demselben Thema formuliert hat - Sie haben ja auch
die Rede des Kollegen Lamers auf der Sicherheitskonferenz gehört -, dann muss ich feststellen, dass es in den
Reihen der Union noch einen gewaltigen Harmonisierungsbedarf gibt.
({4})
Herr Rühe, ich frage mich natürlich, wo Sie in den letzten Monaten gewesen sind,
({5})
als wir im Auswärtigen Ausschuss über dieses Thema diskutiert haben.
({6})
Wenn Sie der Bundesregierung vorwerfen, dass wir in
diesem Punkt keine Position hätten, dann kann ich dem
nur entnehmen, dass Sie - weil Sie damals nicht im Ausschuss waren - ganz offensichtlich nicht mitbekommen
haben, dass es die Bundesregierung war, die die Diskussion darüber recht früh im Ausschuss begonnen hat, dass
es die Bundesregierung war, die im Bündnis, im NATORat, Konsultationen durchgesetzt hat.
({7})
Die Konsultationen über die Frage einer National Missile
Defense haben schon unter der Präsidentschaft von
Clinton aufgrund deutscher Initiative im Bündnis stattgefunden. Wir freuen uns darüber, dass sie fortgeführt
werden.
({8})
- Ich werde Ihnen unsere Position gleich erläutern. Ich
habe Sie Ihnen hier aber schon mehrmals dargelegt.
({9})
- Herr Rühe, was ist denn daran Unsinn? Unsinnig ist es,
wenn Sie sich zum Beispiel hier hinstellen und sagen, ich
hätte in Moskau behauptet, wir würden eine Vermittlerposition einnehmen. Das Gegenteil habe ich getan.
({10})
Ich habe der russischen Seite sehr klar gesagt, dass es
nicht gelingen wird, an dieser Stelle einen Spaltpilz in das
Bündnis zu tragen.
({11})
Ich will Ihnen gern hier nochmals die Position der Bundesregierung erläutern. Eines aber tun wir nicht - weil das
nicht im deutschen Interesse ist -: wie Sie, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU, für alles bereit zu sein,
ohne zu wissen, wie die amerikanische Position tatsächlich ist.
({12})
Sie wissen bis heute nicht, ob das mit der National Missile Defense funktioniert. Theoretisch ist ja alles zwischen
einer Tactical Missile Defense und einer Global Missile
Defense, also zwischen einer taktischen Raketenabwehr
und einer globalen Raketenabwehr, möglich. Sie stellen
nicht klar, ob sich Ihr Ja auf die clintonschen Vorschläge
des Dreistufenmodells mit einer Obergrenze von etwa
100 Nuklearwaffen, die in der letzten Stufe abgewehrt
werden können, oder auf die weiter gehenden Vorstellungen, die jetzt in der Überprüfung entwickelt werden sollen und die selbst die Bush-Administration noch nicht
kennt - Volker Rühe aber ahnt -, bezieht.
({13})
Deswegen kann ich Ihnen, Herr Rühe, sagen: Wenn
man das ernst nimmt, was Sie heute gesagt haben, muss
man erkennen, dass Sie noch nicht wissen, ob es technologisch machbar ist, ob es finanzierbar ist und gegen
welche Sicherheitsbedrohung es sich tatsächlich richtet
- denn bis zur Stunde wissen wir weder die Größenordnung noch die Dislozierung noch die technischen Komponenten noch die Komponenten der Finanzierung -, aber
Sie sind bereits dafür.
({14})
Es heißt also nicht „Volker hört die Signale“, sondern;
„Volker ahnt die Signale“. Wir befinden uns hier also noch
in einer Vorstufe.
({15})
Zur Position der Bundesregierung. Diese Position der
Bundesregierung ist unverändert und sie ist im deutschen
Interesse.
({16})
- Ich habe sie gestern im Ausschuss vorgetragen; ich habe
sie bereits fünfmal vorgetragen.
({17})
Sie sagen jetzt sozusagen im Tremolo des Enttäuschten:
Tragen Sie sie mal vor! - Ich beginne damit.
Unsere Position ist schlicht und einfach:
({18})
Die Entscheidung über die Raketenabwehr wird in den
USA getroffen; darüber wird im Bündnis konsultiert werBundesminister Joseph Fischer
den. Wir als Nichtnuklearmacht haben dabei bestimmte
Interessen zu beachten.
Die Vorstellung, die USA würden nach Weltherrschaft
streben, so wie sie die PDS vertritt, ist eine groteske Verzerrung.
({19})
Ich will Ihnen sagen: Am gefährlichsten wäre es, wenn
sich die USA in vielen Teilen der Welt zurückzögen.
({20})
Wenn es insofern neue Überlegungen gibt, hinsichtlich
der Frage, wie sie ihre globale Ordnungsrolle aufrecht erhalten können, dann - das sage ich Ihnen - hat das nichts
mit Weltherrschaft zu tun, sondern das ist ein wichtiger
Faktor für Frieden und Stabilität im 21. Jahrhundert.
Deswegen haben wir als Nichtnuklearmacht folgende
Interessen zu wahren - das ist die Position der Bundesregierung -:
({21})
Wir haben als Erstes bei dieser Entscheidung die Stärkung des internationalen Rüstungskontrollregimes zu
beachten. Eine Entscheidung für eine Raketenabwehr,
egal wie sie aussehen wird - bis zur Stunde wissen wir das
nicht, weder Rühe noch sonst jemand; nicht einmal diejenigen, die in den USA diese Entscheidung vorbereiten,
wissen das zur Stunde -, darf auf keinen Fall zur
Schwächung des internationalen Rüstungskontrollregimes führen, sondern muss im Gegenteil zur Stärkung dieses Regimes führen.
({22})
Deswegen, Kollege Rühe, haben wir Interesse nicht an
Vermittlung, sondern daran, dass es ein kooperatives
Klima gibt zwischen den beiden Großen, die nach wie vor
die Hauptlast für die globale nukleare Stabilität zu tragen
haben, nämlich zwischen den USA und Russland. Deswegen dürfen wir den ABM-Vertrag nicht einfach abschreiben oder den Teststoppvertrag vergessen. Vielmehr
wird es ganz entscheidend sein, dass dann, wenn es zu einer entsprechenden Entscheidung kommt - die wir bis zur
Stunde noch nicht kennen -, dieses in einem kooperativen
Klima der Großen geschieht. Genau dazu haben wir beigetragen.
({23})
Zweitens. Wir müssen verhindern - dies ist eine unserer Hauptsorgen -, dass eine solche Entscheidung zu einem Rüstungswettlauf führt.
({24})
Einige von Ihnen - Rühe, Lamers und andere - waren ja in
München dabei. Wir haben dort doch die Erklärung des Sicherheitsberaters des indischen Ministerpräsidenten
gehört, der ganz offen gesagt hat: Wenn die Volksrepublik
China durch Aufrüstung reagiert - sie liegen heute in etwa
bei 20 Nuklearsystemen -, werden wir mitziehen. Wenn
die Entscheidung für eine National Missile Defense entlang der Linie, wie sie Clinton sich vorgestellt hat, kommt
- das ist das einzige konkrete Muster, das wir gegenwärtig
kennen -, dann wird es so sein, dass Russland von seinem
Offensivpotenzial so viel disloziert, dass die Abwehrfähigkeit durch diese große Zahl aufgehoben wird und damit die politischen Konsequenzen der Erstschlagfähigkeit
gegeben sind. Indien hat gleichzeitig bereits erklärt: Wenn
China anfängt hochzurüsten, werden wir mitziehen.
Damit haben wir das Problem eines drohenden Rüstungswettlaufs. Darüber sollten wir mit den USA und im
Bündnis sehr intensiv diskutieren. Daher sage ich Ihnen:
Es wird darauf ankommen, dass es bei einer solchen
Entscheidung - das liegt ebenfalls im Interesse Deutschlands als Nichtnuklearmacht - nicht zu einem neuen Rüstungswettlauf kommt, und zwar weder zu einem globalen
Rüstungswettlauf zwischen den Großen noch zu regionalen Rüstungswettläufen, vor allem in Asien. Denn das
würde mehr Instabilität und mehr Unsicherheit produzieren und nicht mehr Sicherheit kreieren.
({25})
Drittens. Es geht darum, dass wir eine verstärkte Antiproliferationspolitik betreiben. Deswegen wäre es völlig
falsch, wenn es zu einer Schwächung des Rüstungskontrollregimes käme. Das ist das Fatale an der nicht stattgefundenen Ratifizierung des Teststoppvertrages. Das ist ein
falsches Signal an kleinere Länder, Schwellenmächte, die
um jeden Preis versuchen, in den Besitz von Nuklearwaffen zu kommen. Insofern läge eine verstärkte Antiproliferationspolitik, angeführt von den großen Nuklearmächten - denn eine solche Antiproliferationspolitik wird
entscheidend von den Signalen der Großen abhängen -,
ebenfalls in unserem Interesse.
Der vierte Punkt ist die Frage einer möglichen technologischen Kooperation. Wir wissen noch nicht, wie eine
solche Entscheidung, wenn sie denn kommt, aussehen
wird. Aber es ist absehbar, dass ein Technologiewettbewerb ausgelöst wird. Auch das war von Anfang an die Position der Bundesregierung und zu Recht hat der Bundeskanzler exakt das angesprochen.
Der fünfte Punkt ist die Bündniskohäsion. Wir haben
in Moskau zweifelsfrei klargemacht, dass es hier keine
Spaltung geben wird. Gleichzeitig haben wir gegenüber
den USA durchgesetzt, dass es im Bündnis eine intensive
Konsultation gibt. Dass die Regierung Bush uns dies erneut bestätigt hat, halten wir für sehr wichtig.
Der sechste Punkt betrifft die Abstimmung in Europa, vor allen Dingen mit Großbritannien und Frankreich. Ein Punkt, den Volker Rühe überhaupt nicht erwähnt, ist, wie die „Ahnungen des Volker“ in Paris
tatsächlich ankommen. Wenn wir seine Position vertreten
würden, bräuchten wir uns mit Frankreich gar nicht mehr
abzustimmen. Das ist doch der entscheidende Punkt. Wir
haben das Gegenteil getan.
({26})
Schließlich zum letzten Punkt.Wir freuen uns darüber,
dass die chinesische Seite - wie Russland; ich habe es
schon angesprochen - jetzt ebenfalls die Bereitschaft zu
Gesprächen mit den USA signalisiert hat. Ich denke, das
ist unter dem Gesichtspunkt der Abwehr eines drohenden
Rüstungswettlaufs von entscheidender Bedeutung.
({27})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie sind
sehr still geworden. Das Geschilderte war und ist seit vielen Monaten die Position der Bundesregierung. Auf dieser Grundlage werden wir die Gespräche mit unseren
amerikanischen Partnern weiterführen.
Nun lassen Sie mich in dieser Debatte noch einen
Punkt im Zusammenhang mit der ESVP ansprechen: Ich
teile nicht die Ängste in Washington, die Ängste der Vereinigten Staaten, obwohl ich sie verstehe. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik richtet sich
nicht gegen die NATO. Natürlich bleibt die NATO für die
strategische Sicherheit und für die Verteidigungsfähigkeit
unseres Kontinents und damit unseres Landes von zentraler, überragender Bedeutung. Deswegen hat die Bundesregierung seit Beginn der ESVP alles getan, Mechanismen zu entwickeln, damit es keine Doppelstrukturen,
sondern eine Vertrauensbildung in Form einer gemeinsamen engen Kooperation und Zusammenarbeit gibt. Die
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist auf
die Petersberger Aufgaben, auf Krisenmanagement und
Konfliktbewältigung, fokussiert und eben nicht auf die
strategische Verteidigung. Das sind meines Erachtens
wichtige Gesichtspunkte.
Fast alle, die hier gesprochen haben, haben sich für
eine stärkere Rolle Europas ausgesprochen. Herr Rühe,
dazu muss ich Ihnen sagen: Man muss das Gedächtnis
schon völlig ausschalten, um nicht zu sehen, welchen
Verteidigungshaushalt und welchen Zustand bei den öffentlichen Finanzen wir vorgefunden haben. Wenn wir in
diesem Zusammenhang die Umkehr nicht schaffen, sondern das weiterführen würden, was wir von Ihnen vorgefunden haben, wenn es nicht gelingt - es wird uns durch
die Sparpolitik, aber auch durch die Steuerreform und anderes gelingen; das ist die Priorität dieser Regierung -,
dass in diesem Land wieder mehr investiert wird - es wird
ja bereits wieder investiert - und dass sich die Arbeitslosenzahlen reduzieren und demnach auch die Steuereinnahmen verändern, dann brauchen wir über die nötigen
Aufwüchse der Mittel für die Außen- und Sicherheitspolitik, die wir bejahen, überhaupt nicht zu sprechen.
({28})
Herr Minister, ich darf
Sie an die überschrittene Redezeit erinnern.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika sind für die Bundesrepublik Deutschland auch unter
einem letzten Gesichtspunkt von zentraler Bedeutung:
Wenn sich die Vereinigten Staaten von Amerika zurückziehen oder wenn sie ihre Präsenz in Europa verringern
würden, würde dies Deutschland in eine Rolle drängen,
die wir uns weder wünschen noch die wir anstreben sollten. Auch unter dem Gesichtspunkt der inneren Balance,
des inneren Gleichgewichts - nicht nur der äußeren Sicherheit - sind die Vereinigten Staaten von Amerika für
uns von überragender Bedeutung. Insofern werden wir an
der Erneuerung der transatlantischen Beziehungen intensiv arbeiten.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Michael Glos von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Auf der Konferenz für
Sicherheitspolitik in München ist sehr deutlich geworden,
dass es im deutsch-amerikanischen Verhältnis zu Irritationen kommt. Dort hat Rumsfield ganz klar erläutert, dass
es sich kein amerikanischer Präsident erlauben kann,
technische Möglichkeiten zum Schutz seiner Bevölkerung, die vorhanden sind, nicht anzuwenden. Er hat deutlich gesagt: Die USA werden diese Raketenabwehrinitiative in die Tat umsetzen.
Nun steht am Anfang, bevor man konkrete Pläne hat,
immer eine Vision. Ich meine, die Vision, bestmögliche
Sicherheit zu bieten, darf nicht nur für die Bürgerinnen
und Bürger der Vereinigten Staaten gelten, sondern sie
muss auch für die Deutschen gelten.
({0})
Deswegen brauchen wir ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu den USA.
Ich bin schon ein bisschen erschrocken, Herr Bundesaußenminister, dass wir wohl bereits bei der Konzipierung
zu wenig ins Vertrauen gezogen worden sind. Das kann
doch nur heißen: Man hält diese Bundesregierung nicht
mehr für einen voll vertrauenswürdigen Partner, mit dem
man alles diskutiert, wie es in der Vergangenheit gewesen
ist. Daran müssen wir wieder arbeiten!
({1})
Ich bin der Meinung, dass wir die deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht gleichwertig neben viele andere
wichtige Beziehungen, die unser Land zu pflegen hat,
stellen dürfen. Bevor wir darüber nachdenken, wie sich
das Verhältnis zu Indien oder China entwickelt, muss es
uns erst einmal sehr viel näher sein, die deutsch-amerikanische Achse zu pflegen.
({2})
Wir können uns nicht überheben und die Sicherheit der
ganzen Welt konzipieren wollen.
({3})
Kein Partner hat für Deutschland so viel getan wie die
Vereinigten Staaten: Die USA waren Geburtshelfer der
zweiten deutschen Demokratie. Sie haben den freien Teil
Deutschlands mit dem Marshallplan wieder auf die
Beine gebracht. Die USA haben mit ihrer Solidarität den
Grundstein für das spätere deutsche Wirtschaftswunder
gelegt. Die USA standen an der Seite des freien Teils
Deutschlands während des Kalten Krieges und haben
durch die Truppenpräsenz in Deutschland und Europa den
Frieden und die Freiheit für unser Land bewahren helfen
und letztendlich für ganz Deutschland gebracht.
({4})
Die USA haben selbst in schwierigen Tagen stets zu
uns gehalten. Ich erinnere an die Luftbrücke, die diese
Stadt am Leben erhalten hat, und ich erinnere an die immer wieder gegebene Schutzmachtgarantie für die Freiheit Westberlins. Ich erinnere daran, dass die Marktwirtschaft, die wir zur sozialen Marktwirtschaft weiterentwickelt haben, aus den USA gekommen ist, während
andere an den Sieg der sozialistisch-kommunistischen
Planwirtschaft geglaubt haben.
({5})
Ich erinnere ferner daran, dass wir die Amerikaner auch
als Helfer beim Aufbau unserer Demokratie in Deutschland hatten und dass die Entwicklung unter den Bundeskanzlern Adenauer und Erhard, um nur zwei zu nennen,
so verlaufen ist, dass Willy Brandt - er ist ja heute vom
Kollegen Schultz ins Gespräch gebracht worden - 1972
mit dem Slogan in den Wahlkampf ziehen konnte: „Deutsche, wir können wieder stolz sein auf unser Land.“
({6})
Um auch eine Debatte der letzten Tage aufzugreifen,
die noch nicht ausgestanden ist: Ich lasse mir nicht verbieten, dankbar und stolz zu sein, als Deutscher in
Deutschland leben zu dürfen.
({7})
Dass vieles so möglich geworden ist, verdanken wir
den Amerikanern. Ich erinnere an John F. Kennedy, der
nach dem Bau der Mauer in dieser Stadt gesagt hat: „Ich
bin ein Berliner!“ Ich erinnere an den ehemaligen USPräsidenten Ronald Reagan, der, ebenfalls hier in Berlin,
ausrief: „Mr. Gorbatshov, tear down this wall!“ - „Reißen
Sie die Mauer ab!“
Ich erinnere an den Vater des heutigen US-Präsidenten
und dessen klares und unmissverständliches Ja zur deutschen Einheit. Ohne George Bush senior hätten wir die
Chance der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes
nicht so rasch und kraftvoll in die Hand nehmen können.
({8})
Lieber Herr Gerhardt, ich freue mich, dass ich auch
Herrn Westerwelle auf der Convention der Republikaner
in Philadelphia gesehen habe. Wir waren mit einer hochrangigen Delegation vertreten. Ich erinnere mich aber
nicht, dort einen Genossen gesehen zu haben. Auch insofern haben wir keinen Nachholbedarf in der Entwicklung
von Beziehungen zu dieser Administration, die jetzt den
Präsidenten stellt.
({9})
- Sie? - Euch hätten’s gar nicht reingelassen!
({10})
In den USA ist man, was das Verhältnis zu Kommunisten
anbelangt hat, immer ein ganzes Stück vorsichtiger gewesen.
Angesichts dieser Rolle der USA sind die früheren antiamerikanischen Äußerungen der politischen Linken in
Deutschland - sie sind mir immer noch im Ohr - eine Belastung für das deutsch-amerikanische Verhältnis, die bis
heute nachwirken.
({11})
Es war nicht nur die SED, die immer antiamerikanisch
war, sondern das war auch auf der Seite derer stark verbreitet, die heute die Bundesregierung stellen.
({12})
In den USA ist es sicherlich nicht vergessen, dass
Joschka Fischer im Jahr 1983 den damaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan als „schießwütigen
Zelluloid-Cowboy“ beschimpft hat.
({13})
Herr Fischer, Sie haben gefragt, wo der Volker Rühe bei
einer bestimmten Ausschusssitzung war. Ich würde mir an
Ihrer Stelle vielmehr Gedanken machen, einmal meine eigene Biografie zu erforschen,
({14})
und die Wahrheit auf den Tisch legen, bevor da vieles so
scheibchenweise wieder ans Tageslicht kommt.
({15})
Aber das ist jetzt nicht das Thema.
Sie, Herr Fischer, werden selbstverständlich als deutscher Außenminister in den USA empfangen und Sie repräsentieren unser Land. Wir wünschen Ihnen bei der
Fortentwicklung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses im Interesse unseres Landes einen guten Erfolg und
eine glückliche Hand. Aber ob Sie in den USA tatsächlich
respektiert werden, das wird sich noch zeigen.
Auch Schröder hat Nachholbedarf.
({16})
Die Amerikaner haben sicherlich gute Archive. Da gibt es
jede Menge Äußerungen von ihm, in denen es zum
Beispiel heißt: „Die Politik der Sowjetunion ist eindeutig
defensiv. Wir müssen uns von den USA kein aggressives
Sicherheitskonzept aufschwätzen lassen“ - und so weiter
und so fort.
({17})
Das hat Gerhard Schröder gesagt; es ist nachweisbar.
Was er zum NATO-Doppelbeschluss gesagt hat, kann
ich auch zitieren, wenn es Sie interessiert.
({18})
- Da Sie so dumme Zwischenrufe machen: Ich war immer
dankbar all denen, die Gutes für mich getan haben, auch
meiner Mutter. Wissen Sie, die Amerikaner sind auch ein
Stück Mutter unserer Demokratie.
({19})
Deswegen: Hören Sie mit Ihren törichten, saudummen
Zwischenrufen auf!
({20})
Ich will gar nicht zitieren, was Jürgen Trittin noch gesagt hat, als die Amerikaner den Aggressor Irak aus Kuwait hinausgeworfen haben. Aber es kommt noch schlimmer - damit komme ich jetzt ein bisschen näher an das
heran, was in allerletzter Zeit gewesen ist -: In den USA
dürfte es sauer aufgestoßen sein, dass Verteidigungsminister Scharping seine Kritik an den amerikanischen
Raketenabwehrplänen ausgerechnet in Moskau formuliert hat. Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik darf
nie als wankelmütig dastehen. Es muss immer ganz klar
sein, an wessen Seite wir stehen. Wir müssen immer fest
an der Seite der freien Welt und unserer Freunde in den
Vereinigten Staaten stehen.
({21})
Es ist auch von Volker Rühe schon gesagt worden: Es hat
viel zu lange gedauert, bis etwas zu Irak gesagt worden ist.
Wir haben diese Debatte beantragt und sind dankbar,
dass sie stattfindet, auch wenn der Bundeskanzler jetzt
nach Paris musste. Ich habe Verständnis dafür; denn es ist
auch wichtig, dass die deutsch-französischen Beziehungen gepflegt werden. Wir müssen natürlich auch die Franzosen und die Europäer allgemein auf diesem Weg zu
einer gemeinsamen Raketenabwehr mitnehmen. Wir wollen genau wissen - vielleicht kann dies Herr Erler klarstellen, der bislang hinsichtlich der NMD-Initiative nichts
als Bedenken geäußert hat -, ob sich der Bundeskanzler
entschieden hat, für wen er spricht, ob für alle Parteien
und die Mehrheit dieser Koalition, von der er zum Bundeskanzler gewählt worden ist. Diese Frage wird ihm in
den USAgestellt werden. Ich kann nur hoffen, dass er eine
eindeutige Antwort geben kann.
({22})
Ich sage noch einmal: Wir wollen nicht, dass es in den
transatlantischen Beziehungen Zonen unterschiedlicher
Sicherheit gibt. Unsere Bürger haben genauso wie die
US-Bürger einen Anspruch auf den bestmöglichen Schutz
gegen jedwede Bedrohung. Wir wollen, dass wir in der
Champions League der Sicherheitspolitik mitspielen
können.
({23})
Dazu gehört, dass wir ein ernst zu nehmender Partner
bleiben. Deswegen müssen auch unseren Streitkräften die
nötigen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Wir müssen
modernisieren können und der Bundeskanzler muss in
den USA zeigen können, dass er in der Lage ist, die nötigen Mittel aufzubringen, um solch ein anspruchsvolles,
technologisch hochwertiges Programm wie NMD in
Deutschland mitzuentwickeln. Das muss unser Ziel sein.
Wir wünschen uns, dass sich der Bundeskanzler hier
mit dem, was er zu wollen vorgibt, klar durchsetzt. Wir
werden ihn allerdings nicht an seinen Worten, sondern an
seinen Taten messen.
Herzlichen Dank.
({24})
Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer heute über transatlantische Beziehungen spricht, der muss zunächst einmal über große Veränderungen auf beiden Seiten des Ozeans reden. In den
Vereinigten Staaten erleben wir den Anfang einer neuen
Administration - eigentlich ein faszinierender Prozess:
Dort werden nicht nur eine Hand voll Minister neu ernannt, sondern Tausende von neuen Leuten, von neuen
Spezialisten. Daraus entsteht allmählich ein Puzzle und
ein Kanon neuer, veränderter Prioritätensetzungen wird
sichtbar.
Es gab Voraussagen über diese neue amerikanische
Regierung, basierend auf Erfahrungen aus dem Wahlkampf und auf Analysen. Was wurde uns nicht alles angekündigt! Es wurde gesagt, wahrscheinlich würden die
amerikanisch-europäischen Missionen in Südosteuropa
beendet, es werde eine Abkehr vom Multilateralismus, einen härteren Umgang mit Russland und China, eine Ablehnung des europäischen Wegs zu einer Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik, vielleicht sogar eine Abkehr von Europa geben, und dieses Raketenabwehrprogramm werde sofort umgesetzt.
Wenige Wochen nach dem Start kann man sagen:
Nichts ist so gekommen, wie es vorausgesagt worden ist.
Stattdessen gibt es mehr Kontinuität als erwartet, eine verlängerte Formationsphase, eine längere Vorbereitung von
grundlegenden Entscheidungen, ein intensives Interesse
am Meinungsaustausch mit den Europäern,
({0})
aber auch mit Moskau, mit Peking und anderen Plätzen
auf der Welt sowie eine bemerkenswerte Flexibilität, die
auch Chancen für unsere Position, wenn wir sie vortragen,
bedeutet. Ich finde, wir haben allen Grund, das zu begrüßen und uns darüber zu freuen, dass es anders gekommen ist als vorausgesagt.
({1})
Aber es gibt auch sehr große Veränderungen in Europa.
Wir befinden uns mitten in einem Veränderungsprozess:
parallel eine Erweiterung und Vertiefung. Besonders viele
Veränderungen hat es - man kann das nur immer wieder
deutlich machen - durch den Schock des Kosovo-Krieges gegeben. Wir haben gemerkt, dass wir vier blutige
Kriege in Europa nicht verhindern konnten, dass langfristige Prävention und eine bis zur letzten Minute dauernde
Friedensdiplomatie gescheitert sind. Während der Intervention kam zudem die Erkenntnis einer fast vollständigen Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten auf nahezu
allen Gebieten.
Danach hat es eine bemerkenswerte Beschleunigung
beim Aufbau einer Gemeinsamen Europäischen Außenund Sicherheitspolitik gegeben. Die Stationen, die mit
dem D-Zug durchrast wurden, waren die europäischen
Gipfel in Köln, Helsinki, Feira und Nizza. Heute kann
man sagen: Das, was wir GASP oder ESVP nennen, ist auf
dem Weg zu seiner Realisierung. Typisch für diesen europäischen Weg ist, dass es eine Parallele zwischen dem
Aufbau von militärischen Fähigkeiten und dem Aufbau
von zivilen Kapazitäten gibt. Das ist gut so.
({2})
Typisch für diese neue Politik der EU, gerade in Südosteuropa, sind das umfassende Integrationsangebot, das
wir als Friedenspolitik verstehen, und der Stabilitätspakt
als Lern- und Aufbauprogramm für eine bessere Zukunft
ohne gewaltsame Konflikte. Vieles von dem, was hier entsteht, haben wir selber noch gar nicht richtig realisiert.
Deswegen brauchen wir uns nicht zu wundern, dass jenseits des Atlantiks noch Gewöhnungsbedarf für diese gewaltigen Veränderungen in Europa besteht.
Unter diesen extremen Umständen des doppelt Neuen
kann sich eine erste Zwischenbilanz der transatlantischen
Beziehungen sehen lassen. Wir müssen einfach erkennen,
dass diese Skepsis gegenüber der ESVP allmählich der
Einsicht weicht, dass sie dann im amerikanischen Interesse ist, wenn sie sich zu den Aufgaben der NATO vernünftig verhält.
({3})
Nach den ersten persönlichen Begegnungen hat sich
ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Das gilt ganz besonders für die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Hier
gab es vier Etappen: die Münchner Konferenz, den Besuch des Außenministers, den Besuch des Verteidigungsministers und - dies schließt sich daran an - den Besuch
des Bundeskanzlers. Wir müssen feststellen: Joschka
Fischer und Rudolf Scharping haben erkannt, welche konstitutive Bedeutung erste Begegnungen haben. Sie sind
erfolgreich gewesen, sind mit der Erfahrung von Kameradschaft und sogar Freundschaft zurückgekommen. Das
ist gut so. Davon können wir eine ganz lange Zeit zehren.
Wir hoffen, dass der Bundeskanzler diese Erfolgsgeschichte bei seinem Besuch in Washington fortsetzen
wird.
({4})
Natürlich war uns schon vor den Wahlen in den Vereinigten Staaten der Stellenwert des Raketenabwehrsystems der neuen Regierung bekannt. Wir wussten, dass es
hierin Unterschiede zwischen Amerikanern und Europäern gibt. Aber auch hier erleben wir eine positive Überraschung. Es gibt keine dogmatische Umsetzung eines starren Konzepts, vielmehr eine erstaunliche Wandlungs- und
Anpassungsfähigkeit.
({5})
Herr Kollege, es gibt keinen Zweifel an dem Ob. Das lassen die Amerikaner nicht zu. Aber bei dem Wie der Umsetzung scheint dieses Wie ein Wort mit 25 Buchstaben zu
sein - so flexibel ist das heute.
Die Administration nimmt sich mehr Zeit. Sie hört aufmerksam auf die Einwände und Argumente der Verbündeten. Auch in Amerika selbst wird eine sachliche und
kontroverse Debatte geführt. Das müssen wir nutzen. Wir
dürfen nicht in Hektik verfallen. Wir können doch nicht,
wie Sie das machen, zum jetzigen Zeitpunkt den Popanz
einer Ja/Nein-Entscheidung aufbauen. Das ist doch
lächerlich.
({6})
NMD ist, militärisch gesehen, bestenfalls eine Antwort
auf eine sehr begrenzte Auswahl von Bedrohungen und
Herausforderungen von Übermorgen. Aber es kann in der
Umsetzung bereits erhebliche politische Folgen haben.
Deshalb ist es unser Ansatz, die Diskussion um NMD zu
einem umfassenden transatlantischen Dialog über Sicherheitsfragen zu erweitern, der über die Raketenabwehr
weit hinausgeht.
Herr Rühe, es tut mir Leid, aber wenn Sie zum wiederholten Male Ihre tibetanische Gebetsmühle anwerfen,
weil Sie die Verringerung der Mittel des Verteidigungshaushaltes anwerfen und dies als einziges Problem sehen,
dann haben Sie die Notwendigkeit der Verbreiterung dieses Dialogs nicht verstanden.
Sie reduzieren alles auf quantitative Fragen, anstatt auf
notwendige qualitative Fragen einzugehen.
Wir wollen in diesem Dialog eine breite Palette von
Themen ansprechen. Es geht darum, zu klären, welche
präventiven Fähigkeiten wir in Zukunft brauchen, um
Konflikte zu vermeiden. Wir wollen wissen, ob es eine Alternative zu der Selbstabrüstung der Atommächte und der
Fortsetzung des Abrüstungsprozesses, der sich auf Verträge beruft, gibt. Wir sehen dazu keine Alternative. Das
alles steht im Zusammenhang mit NMD.
Wir wollen gemeinsam wirksame Strategien gegen den
internationalen Terrorismus beraten und brauchen einen
umfassenden politischen Ansatz, wie wir mit den Risikostaaten - drei dieser Staaten, nämlich Iran, Irak und
Nordkorea, haben Raketenprogramme - umgehen sollen.
Wir wollen, dass das Sunshine-Programm der beiden
Kims in Nordkorea ein Erfolg wird. Wir finden, es ist gut,
dass der Bundestagspräsident in den Iran gefahren ist, um
dort die Reformer zu unterstützen. Das ist der politische
Ansatz, den wir wollen.
({7})
Herr Rühe, ich finde, es ist wirklich nicht überzeugend,
uns nachträglich aufzufordern, Beifall zu den amerikanisch-englischen Aktivitäten in Bezug auf den Irak einzufordern. Nein, lassen Sie uns gemeinsam die Chance zu
einer Änderung ergreifen, wie Colin Powell angeregt hat,
als er nach den negativen politischen Folgen der militärischen Intervention gefordert hat: Wir brauchen eine neue
Sanktionspolitik und eine neue Irakpolitik. In diesem
Punkt ist Beifall angebracht.
({8})
Natürlich gehört zu diesem Dialog auch die Frage, ob
im Falle des Fortbestehens des Restrisikos, wenn die politischen Konzepte nicht greifen, eine militärische Antwort auf eine Raketenbedrohung aus diesen Ländern erfolgen soll. Diese Frage muss dann natürlich - der
Außenminister hat das sehr detailliert dargestellt - so beantwortet werden, dass die anderen Ziele nicht beeinträchtigt werden.
Herr Rühe, Sie haben beklagt, wir hätten in der Sache
NMD unterschiedliche Positionen. Es gibt in der Tat unterschiedliche Akzentsetzungen, aber die Unterschiede
bei uns sind nicht so groß wie in Ihren Reihen. Wir haben
alle die Rede des wirklich sehr geschätzten Kollegen
Lamers in München gehört, wir haben auch sein Interview
im „Tagesspiegel“ mit der Überschrift „Wir müssen auch
Amerikas Widerpart sein“ gelesen. Das passt nicht zu dem
Vater-Sohn-Verhalten, das Herr Glos eingefordert hat.
({9})
In dem Interview wird vor einer Kapitulation im Voraus
sowie vor den Hegemonialinteressen der USA gewarnt
und das ganze NMD-Programm als unseriös bezeichnet.
Ich habe den Eindruck, dass das, was bei Ihnen auseinander klafft, viel schwieriger zusammenzuführen ist als das,
was bei uns an unterschiedlichen Akzentsetzungen vorhanden ist. Es ist ganz normal, dass in der jetzigen Phase
der Diskussion unterschiedliche Auffassungen bestehen.
Das ist auch in den anderen europäischen Staaten und
übrigens auch in den Vereinigten Staaten so. Das Programm ist eben noch nicht entscheidungsreif.
({10})
Im Übrigen: Wenn uns als Regierungskoalition ein Teil
der Opposition empfiehlt, zu diesem Programm sofort Ja
zu sagen, und der andere Teil der Opposition fordert, ein
bisschen mehr Kritik zu üben, scheint es so zu sein, dass
wir mit unserer Dialogstrategie gar nicht so schlecht liegen. Ich fühle mich in der Mitte dieser beiden Extrempositionen ganz wohl.
({11})
Abschließend möchte ich festhalten: Wir brauchen und
wir wollen einen solchen umfassenden Dialog. Die Globalisierung macht nicht vor der internationalen Sicherheitspolitik Halt. Wir kommen nur zusammen mit den
Vereinigten Staaten zu gemeinsamen transatlantischen
Strategien. Wenn wir in Zukunft Konfliktverhütung besser bewältigen wollen, wenn wir Abrüstung und Rüstungskontrolle und vor allem die Nichtverbreitung von
Waffen verbessern wollen, wenn wir die Bekämpfung des
Terrorismus, der organisierten Kriminalität, des Drogenhandels und des Waffenhandels verbessern wollen und
wenn wir Konzepte mit dem Ziel eines Wandels durch
Einbindung für die Risikostaaten erreichen wollen, dann
werden wir das entweder transatlantisch gemeinsam oder
gar nicht schaffen.
Das gilt auch für die Raketenabwehr. Wenn wir mehr
Sicherheit für die Amerikaner und für uns haben wollen,
darf dieses Konzept nicht mit der Brechstange durchgesetzt werden. Es geht nur, wenn man ein sehr breites Einvernehmen erzielt. Es gibt erfreuliche Anzeichen aus
Washington, dass sich die Administration dieser Einsicht
nicht verschließt.
Der von uns gewünschte und angestrebte umfassende
transatlantische Dialog über Sicherheitsfragen braucht
Zeit und hat Zeit. Wer ihn jetzt mit Hektik oder mit einer
künstlichen Dramatik belastet und die Alternative, entweder Gefolgschaft oder Verweigerung, fälschlicherweise in
den Raum stellt, der hat die tiefen Veränderungen auf beiden Seiten des Ozeans überhaupt nicht verstanden und
bringt uns bei diesem notwendigen transatlantischen Dialog keinen Schritt weiter. In diesem Sinne hoffe ich auf
eine Zusammenarbeit.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat nun Kollege Karl Lamers, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Es wird vielen in diesem Saal
so wie mir gegangen sein, der angesichts der Erleichterung, mit der Sie hier die Politik der neuen US-amerikanischen Administration mehrfach begrüßt haben, ein gewisses schmunzelndes Erstaunen nicht verbergen konnte.
War es nicht so, dass die Warnungen vor der CowboyMentalität der neuen amerikanischen Administration gerade von Ihrer Seite gekommen sind?
({0})
Sie sind zwar jetzt erleichtert. Das verstehe ich sehr gut.
Aber Sie haben sich ein weiteres Mal in der Beurteilung
der amerikanischen Administration und der amerikanischen Politik getäuscht. Das ist der Punkt, der in diesem
Zusammenhang von Bedeutung ist.
({1})
Herr Minister, wir haben Ihnen nie vorgeworfen, sich
nicht mit dem Thema, über das wir heute diskutieren, beschäftigt zu haben, schon gar nicht, dafür gesorgt zu haben, dass es keine Konsultationen zu diesem Thema
innerhalb der NATO gegeben hat. Wie sollten wir? Aber
es kommt auf Ihre Intention an, weshalb Sie sich mit diesem Thema beschäftigen. Der Zweck Ihres Unterfangens
war, das Vorhaben einer Raketenabwehr zu verhindern,
und nicht, es im Rahmen eines Dialogs mitzugestalten. In
diesem Punkt gibt es eine Differenz zu uns. Meine Fraktion hat bereits im Mai des vergangenen Jahres in einem
Antrag von Ihnen gefordert, sich konstruktiv in den Dialog einzuschalten. Das ist nicht geschehen. Das ist der
Punkt, den wir kritisieren.
Herr Kollege Erler, solche Spielchen kennt man. Schon
Konrad Adenauer hat gesagt, es gebe auch anständige Sozialdemokraten. So verfahren Sie jetzt mit mir.
({2})
Sie haben mich aber nicht richtig zitiert. Ich habe nicht gesagt, das ganze Projekt sei unseriös, sondern die Begründung. Ich habe mich dabei auf das bezogen, was Henry
Kissinger auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt
hat.
({3})
- Ja, in der Tat, das finde ich auch.
Wenn wir das alles einmal beiseite lassen, müssten wir
uns ernsthaft fragen, was mit dem Projekt NMD eigentlich intendiert ist. Es geht doch um den Versuch einer
Neugestaltung der sicherheitspolitischen Architektur
im 21. Jahrhundert, und zwar weltweit. Es geht insofern
auch um unser Verhältnis, also nicht nur um das Verhältnis der Vereinigten Staaten, sondern auch um das Verhältnis des Westens, zur übrigen Welt. Es geht um die Frage:
Können wir die schreckliche Alternative „Wer zuerst
schießt, stirbt als Zweiter“ überwinden? Gibt es in Zukunft die Möglichkeit, defensive Elemente in die Strategie einzubeziehen, nachdem die offensiven über viele
Jahrzehnte die Strategie bestimmt haben, oder müssen wir
mit dem Gefühl der wechselseitigen Verwundbarkeit als
einziger Hoffnung auf Einsicht in die Notwendigkeit leben, auf Gewaltanwendung zu verzichten? - Es ist nur
allzu verständlich, wenn es Zweifel an der Übertragbarkeit des Systems der Abschreckung, das im Ost-WestKonflikt ohne Zweifel den Frieden erhalten hat, auf die
übrige Welt gibt. Aber im Golfkrieg hat die Abschreckung
im Hinblick auf den Irak funktioniert.
All diese und viele andere fundamentale Fragen müssen
wir ernsthaft erörtern. Damit, meine ich, gäbe es wirklich
eine große Chance für eine etwas sicherere, bessere Welt.
Ich sehe in diesem amerikanischen Projekt noch eine
weitere Chance, vor allen Dingen für uns Deutsche, nämlich dass wir über den europäischen Tellerrand hinaussehen. Wir sind zu sehr auf Europa zentriert und haben allzu
lange übersehen, dass doch die eigentlichen Sicherheitsprobleme unseres Landes und ganz Europas außerhalb
Europas liegen und nicht in Europa. Gerade wir Deutschen könnten das lernen. Eine der großen Krisenregionen ist der Nahe Osten, der ja nicht Naher Osten heißt,
weil er nahe an Amerika liegt, sondern weil er nahe an Europa liegt.
Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, von dem
ich meine, dass er eine Chance böte, nämlich die Chance,
dass die Europäer in dieser Frage wirklich eine gemeinsame Position einnehmen, weil sie sie gemeinsam einnehmen müssen. Zu glauben, wir könnten jeweils auf der
nationalen oder bilateralen Ebene einen großen Einfluss
auf die Gestaltung der amerikanischen globalen Sicherheitsstrategie ausüben, ist angesichts der Zahlenverhältnisse nicht gerade sehr realistisch. Ich darf einmal darauf
hinweisen, dass der deutsche Verteidigungshaushalt, gemessen am amerikanischen, gerade 8 Prozent beträgt.
Wenn Sie so weitermachen, landet er demnächst bei
5 Prozent. Das ist doch eine Zahlenrelation, die uns zu
denken geben muss und die uns unbedingt dazu führen
muss, alle Anstrengungen zu unternehmen, dass Europa
in dieser Frage mit einer Stimme spricht.
Übrigens: Wenn dann auch und gerade für Europa
durch die Entwicklung der Raketentechnologie und durch
deren Verbreitung eine Bedrohung von außerhalb Europas
ausgeht und wenn wir uns möglicherweise an einem solchen Projekt beteiligen, dann wirft das unweigerlich die
Frage nach der Reichweite der Allianz auf. Auch diese
Frage müssen wir beantworten. Das ist eine sehr ernste
Frage, die bislang nicht ausreichend, wie ich finde, gesehen wird.
Übrigens, Herr Minister: Ich finde es nicht fair, dem
Kollegen Rühe vorzuwerfen, er habe hier eine bedingungslose Beteiligung gefordert. Das hat er nicht getan.
Das kann er gar nicht getan haben, denn er hat auch darauf hingewiesen, dass die Diskussion in Amerika neu angefangen hat und wir alle nicht genau wissen, was dabei
herauskommt. Was er gesagt hat, war ein grundsätzliches
Ja zu dem Versuch des Strategiewechsels und dazu, dass
wir uns an der Debatte darüber beteiligen. Mehr kann man
in diesem Augenblick natürlich nicht tun.
({4})
Es geht hier nicht um eine bedingungslose Gefolgschaft,
sondern es geht um den partnerschaftlichen Dialog mit
den Amerikanern.
({5})
Wenn man aber nicht sagt, dass man grundsätzlich bereit
ist, und auch nicht die Bedingungen formuliert, unter denen man bereit ist, kann man diesen Dialog nicht Erfolg
versprechend führen.
({6})
Ich sehe schließlich, auch wenn es natürlich unzweifelhaft ist, dass dieses Projekt eine Reihe von schwerwiegenden Fragen aufwirft, eine große Chance für eine Vertiefung der transatlantischen Beziehungen, wenn wir
diesen Dialog so führen, wie wir es Ihnen vorschlagen. Es
ist nicht wirklich erstaunlich, dass die neue amerikanische
Administration nicht nur versprochen hat zu informieren,
sondern auch zu konsultieren. Sie will, dass Europa mitmacht. Mitmachen heißt das Konzept mitgestalten. Es
heißt auch Mitwirkung bei der Technologie und insofern
Technologietransfer. Allerdings darf das nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen. Da ist der Bundeskanzler
Gott sei Dank vom Kollegen Erler korrigiert worden. Das
heißt allerdings auch nötigenfalls Mitfinanzierung. Insofern ist das nicht eine ständige Platte, die wir da auflegen,
Kollege Erler. Es ist eine Tatsache, dass ohne einen größeren finanziellen Beitrag unseres Landes zu den militärischen Anstrengungen des Bündnisses unsere Chancen zur Mitgestaltung gegen null tendieren. Wenn Sie so
weitermachen, wird das leider so sein.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lamers, man
konnte durch den Vergleich mit der Rede des Kollegen
Rühe sehr gut feststellen, worin der Unterschied besteht.
Ich knüpfe an eine Debatte an, die einige Jahre zurückliegt. Ich kann verstehen, dass es der Union sehr schwer
fällt, über das Thema der transatlantischen Beziehungen
neu zu diskutieren. Denken Sie noch einmal daran, wie
Werner Weidenfeld als Reaktion auf den Golfkrieg seine
Kritik formuliert hat. Er hat nämlich geschrieben - man
muss das häufig in Erinnerung rufen -, es gebe einen Kulturbruch mit Amerika. Er hat davon gesprochen, dass die
transatlantische Selbstverständlichkeit erloschen sei. Wie
bekommen Sie es auf die Reihe, das miteinander zu vereinbaren?
Herr Lamers, ich sage Ihnen ganz klar: Der transatlantische Dialog muss fortgesetzt und intensiviert werden.
Sie können sich darauf verlassen: Diese Bundesregierung
wird dabei von den Regierungsfraktionen ganz eindeutig
unterstützt werden. Wir wünschen dem Bundeskanzler,
dass er im Gespräch mit der US-Administration genau die
Fragen aufwirft, die in dieser Debatte eine Rolle spielen.
Wir werden in einen Prozess, in einen Dialog eintreten
und wir werden Antworten finden. Aber wir werden diese
Antworten nicht finden, indem wir uns unterwerfen, sondern nur, indem wir die gemeinsamen Interessen miteinander vertreten.
({0})
Die USA haben eine zentrale Rolle in Europa und sie
werden sie auch künftig spielen. Die demokratischen
Revolutionen vor zehn Jahren wären nicht möglich gewesen, wenn sich die USA nicht auch als europäische
Macht verstanden hätten. Deutschland war häufig und
allzu lange Zeit eine Quelle der Angst für seine Nachbarn.
Das Bewusstsein vom deutschen Sonderweg konnte die
westdeutsche Gesellschaft nicht allein deshalb überwinden, weil sie sich in den europäischen Integrationsprozess
eingebettet hatte, sondern schließlich auch, weil die USA
in den 50er-, in den 60er- und in den 70er-Jahren so zu
kooperieren versucht haben, dass sich, wie es Jürgen
Habermas beschrieben hat, auch die innere Entwicklung
der Bundesrepublik Deutschland „amerikanisiert“ hat.
Die fundamentale Liberalisierung der Bundesrepublik
Deutschland wäre nicht möglich gewesen, wenn die USA
dabei keine starke Rolle in Europa gespielt hätten. Auch
dieser Punkt gehört zum transatlantischen Verhältnis. Der
deutsche Westen konnte eigentlich nur liberal werden,
weil er den Kräften des Marktes Raum ließ und zugleich
versuchte, sie sozial zu binden. Dieser Ansatz hat uns in
den europäischen Kontext gestellt. Aber diese Liberalität
voranzutreiben war mit dem Versuch verbunden, wie Fritz
Stern es genannt hat, die Bundesrepublik Deutschland in
ein neues Koordinatensystem zu bringen, geradezu zu
schieben, weg vom Obrigkeitsstaat, hin zur gesellschaftlichen Selbstverantwortung. Das war der entscheidende
Aspekt der „Westernisierung“ der Bundesrepublik
Deutschland.
Wenn wir über das transatlantische Verhältnis sprechen, dann sollten wir genau darüber reden und danach
fragen, was eigentlich die Herausforderungen in Europa und in Amerika sind, vor welchen Problemen unsere Gesellschaften in Europa und die Gesellschaft in den
Vereinigten Staaten stehen. Die Herausforderungen - zum
Beispiel der Modernisierung und der Globalisierung sind doch die gleichen. Aber die Amerikaner haben dazu
einen anderen Ansatz als wir in Europa gefunden. Wir haben aufgrund unserer europäischen Denktradition sehr
stark auf den Staat gesetzt. Wir lernen von den USA, dass
man den Staat als wichtige Qualität durchaus erhalten und
reformieren muss. Zur unsichtbaren Hand des Marktes
- so hat es Adam Smith genannt - und zur sichtbaren
Hand des Staates kommt allerdings ein drittes Element,
die Hand der Zivilgesellschaft, hinzu. Das ist etwas, was
wir von den USA lernen können. Ich finde, dass wir von
diesem Dialog in den USA über die Einflüsse, die Möglichkeiten und das bewusste Handeln der Menschen, die
sich miteinander vernetzen und versuchen, zivilgesellschaftliche Strukturen von unten zu entwickeln, etwas lernen können.
({1})
Denken Sie etwa an John Rawls, den großen liberalen Demokratietheoretiker, der uns diese Denkmodelle plastisch
darstellt. Er hilft uns, auch bei anderen innergesellschaftlichen Konflikten neue Lösungen zu finden.
Die Modernisierung der Gesellschaften in den USA
wie in Europa braucht den gemeinsamen transatlantischen Dialog, um die Herausforderungen richtig zu verstehen sowie vernünftige und moderne Antworten auf
diese Herausforderungen zu finden.
({2})
Es gibt hierfür eine Reihe von überzeugenden Hinweisen,
nehmen Sie zum Beispiel Michael Walzer, den amerikanischen Sozialphilosophen, Nancy Fraser oder andere
amerikanische Wissenschaftler, die versuchen, ihr Land
zu europäisieren. Betrachten Sie, wie die Wissenschaft in
Europa im Dialog versucht, diesen Ball aufzunehmen und
unser eigenes Bewusstsein zu verändern. Das ist etwas,
wie ich finde, so Neues, das nicht in den alten Kategorien
der „Amerikanisierung“ oder „Europäisierung“ gedacht
werden kann. Wir brauchen einen solchen transatlantiKarl Lamers
schen Dialog. In all den Debatten, die wir hier über „missile defense“, gemeinsame Sicherheit und militärische
Kooperation führen, können wir nur vorankommen, wenn
dieser innere Dialog zwischen Europa und Amerika neu
definiert wird.
Lieber Kollege Lamers, ich bin davon überzeugt, dass
das, was Sie denken, eher nicht der Meinung Werner
Weidenfelds entspricht, sondern wahrscheinlich sehr viel
näher bei dem liegt, was der Bundeskanzler mit George
Bush und seiner Administration in den nächsten Tagen debattieren wird. Wir wünschen dem Bundeskanzler alles
Gute und sind sicher, dass er mit einem vernünftigen Ergebnis, das auch die Fortsetzung dieses Dialogs beinhaltet, zu uns zurückkehren wird.
({3})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Frak-
tion der F.D.P. auf Drucksache 14/5570. Die Fraktion der
F.D.P. hat beantragt, den Entschließungsantrag zur feder-
führenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuss sowie
zur Mitberatung an den Verteidigungsausschuss und an
den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union zu überweisen. Die Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen verlangen hingegen sofortige
Abstimmung. Nach ständiger Übung geht die Abstim-
mung über den Überweisungsvorschlag vor.
Ich bitte diejenigen, die dem Überweisungsvorschlag
der F.D.P. zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungs-
vorschlag ist damit mit den Stimmen von SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen abgelehnt.
Damit stimmen wir jetzt in der Sache ab. Wer stimmt
für den Entschließungsantrag der F.D.P. auf Drucksache
14/5570? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b
sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
3. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Ditmar Staffelt, Jelena Hoffmann ({0}),
Dr. Axel Berg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner
Schulz ({1}), Michaele Hustedt, Andrea
Fischer ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Neue Mittelstandspolitik - Motor für Beschäftigung und Innovation
- Drucksache 14/5485 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Hansjürgen Doss, Peter Rauen, Ernst Hinsken,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Chancen des Mittelstandes in der globalisierten
Wirtschaft
- Drucksachen 14/3870, 14/4603 ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hansjürgen
Doss, Peter Rauen, Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Chancen des Mittelstandes in der globalisierten
Wirtschaft stärken
- Drucksache 14/5545 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Kleinunternehmer-Hilfefonds effektiv organisieren und gesetzliche Voraussetzungen für eine
Nachfolgeregelung schaffen
- Drucksache 14/5559 Überweisungsvorschlag
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Zur Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU zu
den „Chancen des Mittelstandes in der globalisierten
Wirtschaft“ liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Hansjürgen Doss von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kollegen! Mittelstandspolitik ist keine Klientelpolitik. In der Mittelstandspolitik entscheidet sich, wie viele Arbeitsplätze und wie
Gert Weisskirchen ({0})
viele Ausbildungsplätze wir haben und wie sich das Bruttosozialprodukt entwickelt. Mittelstandspolitik ist also für
uns alle ganz wichtig. Wir haben deshalb eine große Anfrage „Chancen des Mittelstandes in der globalisierten
Wirtschaft“ an die Bundesregierung gestellt. Sie ist aber
nur oberflächlich und schlampig beantwortet worden.
Dies ist einfach typisch für den Stellenwert des Mittelstandes in Ihrer Politik.
({1})
Keine Parole ist zu platt, keine Phrase zu hohl und kein
Allgemeinplatz zu abgedroschen, um nicht in der Antwort
der Bundesregierung Aufnahme zu finden. Ich muss sagen, dass uns das sehr betroffen gemacht hat. Worthülsen
und Sprechblasen sind keine Antworten auf Kapitalschwäche, Kostenlast, Bürokratie, Wettbewerbsverzerrung und Fremdbestimmung. Das Aktionsprogramm
„Mittelstand“ der Bundesregierung ist sozusagen eine
Werbebroschüre, die mit der Realität wenig zu tun hat.
({2})
Realität ist, dass der Anteil der Selbstständigen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen - zu Ludwig Erhards Zeiten
waren es 14 Prozent bei Vollbeschäftigung - in der Zwischenzeit auf 9,4 Prozent gesunken ist. Der EU-Durchschnitt liegt bei 13 Prozent.
Mehrfach ist in der Antwort der Bundesregierung von
der Verbesserung der Rahmenbedingungen, von Förderung, von Dynamisierung, von Stärkung, von Entlastung
und von Unterstützung die Rede. Das ist die Sprache der
Werbetexter, PR statt Fakten für den Mittelstand.
({3})
Die Realität sieht nämlich anders aus: Das 630-MarkGesetz wurde zum Schwarzarbeiterförderungsgesetz. Damit wurden die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse
als flexibles Beschäftigungsinstrument praktisch unbrauchbar gemacht. Das Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit ist ein Existenzgründerverhinderungsgesetz. Es
hat eine bewährte Einstiegsmöglichkeit in die Selbstständigkeit verbaut. Die Reformansätze bei Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung wurden zurückgenommen
und damit der Arbeitsmarkt wieder stärker reglementiert.
Mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeit wurde die Personalplanung in mittelständischen Unternehmen zum teuren
Lotteriespiel gemacht.
Mit der Ökosteuer wird der Mittelstand voll belastet.
Die Industrie bekommt großzügige Befreiungsoptionen.
Die Steuerreform entlastet die großen Kapitalgesellschaften. Mittelständische Personenunternehmen werden
dagegen benachteiligt. Die zum Jahresbeginn wirksam
gewordene Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen ist für den Mittelstand eine verdeckte Steuererhöhung.
({4})
Mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes
hilft die Regierung den Gewerkschaftsfunktionären, damit sie ihre bröckelnden Bastionen in den Betrieben zusammenhalten kann. Dies ist ein DGB-Mitglieder-Förderungsgesetz.
({5})
Der Mittelstand, von Gerhard Schröder noch 1998 stark
und nicht ohne Erfolg umworben, wurde nicht, was er erwartet hat, gefördert, gestärkt und gestützt. Er wurde
vielmehr getäuscht, gemolken und abgezockt. Das ist die
Realität.
({6})
Hiervon lenkt die Bundesregierung in ihrer Antwort mit
blumiger Schönrederei und mit unterhaltsamen Brot-undSpiele-Inszenierungen ab.
Zum Beispiel auch das so genannte Bündnis für Arbeit
ist eine große Alibishow. Hier wurde nur eine weitere
Bühne für die Selbstdarstellungsmöglichkeiten des Medienpreisträgers aufgebaut. Ergebnisse sind weder erwünscht noch geplant; Ergebnisse würden diese Personalityshow beenden. Der Präsident des Instituts für
Wirtschaftsforschung in Halle, Rüdiger Pohl, bezeichnet
die Runde als schlichtweg überflüssig. Recht hat er.
({7})
Auf die oscarreife Inszenierung mit dem angeblichen
Ringen um die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes
ist die gesamte deutsche Öffentlichkeit hereingefallen.
Dabei haben Herr Riester und Herr Müller nur ihre Rollen gespielt, um die Gefälligkeit für den DGB als Kompromiss erscheinen zu lassen: Riester, der unerschrockene
Held der Arbeit, und Müller, der Mann der bösen Wirtschaft. Hinzu kommt Schröder, der salomonische
Schlichter.
Der Arbeitsminister, der seit zweieinhalb Jahren im
Rentendschungel umherirrt, braucht ein Erfolgserlebnis.
Der Wirtschaftsminister darf, weil er den undankbaren
Part des Bösewichts gespielt hat, nächstes Jahr das ungeliebte Kabinett verlassen. Der Bundeskanzler, der Meister
der öffentlichen Politikdarbietung, hat einmal mehr Chefsachenmythos gepflegt. Die Stärkung der Funktionärsmacht in den Betrieben war der Preis für die 10 Millionen DM Wahlkampfhilfe des DGB von 1998 und für
das Wohlverhalten der Gewerkschaften in der Rentendebatte.
({8})
Diese Bundesregierung kennt nur Arbeit und Kapital,
nur Beschäftigung im überholten Sinne der Arbeiterklasse
und bei selektiver Betrachtung Unternehmen nur als
Großkonzern.
({9})
Entsprechend fehlt bei dieser Bundesregierung eine
glaubwürdige Mittelstandspolitik. Das ist im Übrigen
kein Zufall, keine Unterlassung aus Vergesslichkeit. Das
hat vielmehr Methode. Mit der fortgesetzten Benachteiligung des Mittelstandes soll nach und nach die wirtschaftHansjürgen Doss
liche und gesellschaftliche Struktur in der Bundesrepublik
Deutschland verändert werden.
({10})
Der Fall Holzmann steht exemplarisch für eine solche
Politik, die anonyme, mitbestimmte Großbetriebe unter
staatlichen Schutz stellt und den Mittelstand an den Rand
und aus dem Markt drängt. Das Verdrängen des Mittelstandes ist dabei Teil einer groß angelegten gesellschaftspolitischen Strukturveränderung, für die mit der undifferenzierten Kampagne gegen rechts gegenwärtig der
bundesweite Boden bereitet wird.
Die Bundesregierung spaltet die Gesellschaft, indem
sie alle, die nicht ihren Kurs segeln, als „konservativ“ und
„rechts“ brandmarkt, mit Extremisten in eine Ecke stellt
und zum „Objekt des Aufstands der Anständigen“ macht.
Auf Augenhöhe mit dem Bundeskanzler sind nicht die
Mittelständler, sondern nur die Konzernmanager aus derselben Zigarrenklasse. Der Mittelstand ist nur Zielgruppe
im Wahlkampf.
({11})
Doch die schonungslose Realität der volkswirtschaftlichen Entwicklung lässt sich von dieser rot-grünen Politik
nicht beeinflussen. Konzerne schaffen keine Arbeitsplätze. Bei schlechten Rahmenbedingungen gehen sie ins
Ausland. Der Mittelstand hingegen hat „lebenslang
Deutschland“.
Trotz einer für den Arbeitsmarkt günstigen demographischen Entwicklung ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt noch immer bedrückend. Über 4 Millionen Menschen waren im letzten Monat offiziell arbeitslos
gemeldet. Inklusive der verdeckt Arbeitslosen, von denen
seit Herbst 1998 interessanterweise kein Mensch mehr redet, sind es 5,7 Millionen. Der Kanzler jongliert derweil
unbekümmert mit Prognosen, wobei es ihm auf eine halbe
Million mehr oder weniger nicht ankommt.
Was uns besorgt machen muss: Der exportgetragenen
Konjunktur geht langsam die Luft aus. Stabile Wachstumsraten verzeichnet alleine die Schwarzarbeit mit
658 Milliarden DM Umsatz im vergangenen Jahr.
({12})
Die Schattenwirtschaft wächst unter dieser Bundesregierung im Vergleich zum tatsächlichen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes derzeit dreimal so schnell. Für diese
Bundesregierung aber kein Thema! Schwarzarbeit trifft ja
nicht die Konzerne, Schwarzarbeit trifft in erster Linie
den Mittelstand.
({13})
Vergessen wird dabei, dass bei der Schwarzarbeit keine
Steuern und keine Sozialbeiträge gezahlt werden.
Schwarzarbeit ist deshalb nicht nur mittelstandsfeindlich,
sondern auch in einem hohen Maße unsozial, ebenso unsozial wie diese Politik, die fleißige Menschen durch
überzogene Besteuerung und eine Beschäftigungsverhinderungsbürokratie regelrecht in die Schwarzarbeit drängt.
Was die Bundesregierung tut, ist Verleitung zur Schwarzarbeit und deswegen genauso verwerflich wie die
Schwarzarbeit selbst.
({14})
Mittelstandsförderung ist Arbeitsplatzförderung. Jeder Existenzgründer schafft im Schnitt kurzfristig drei
Arbeitsplätze. In bestehenden mittelständischen Unternehmen gibt es im Schnitt acht Arbeitsplätze. Mittelstandsförderung, die Förderung von Existenzgründungen,
regionale Wirtschaftsförderung und die Förderung von
Betriebsnachfolgen sind höchst effiziente arbeitsmarktpolitische Maßnahmen. Die Bundesregierung setzt mit
ihren arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen aber nicht bei
den Ursachen an, sondern nur bei den Symptomen.
Meine Damen, meine Herren, Riester hat nun entdeckt,
dass es Arbeitslose gibt, die arbeiten können, aber nicht
wollen. Wenn wir früher auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht haben, ist schlagartig die soziale Kälte ausgebrochen. Wie sich das alles ändert! Das Sein verändert
das Bewusstsein.
({15})
- Ich sehe, die Kollegen lernen dazu. Das ist erfreulich.
Zur Vollständigkeit der Betrachtung gehört aber auch,
dass es Betriebe gibt, die wollen, aber nicht können, die
Arbeit genug haben, aber daraus keine Beschäftigung machen können, weil ein zusätzlicher Arbeitsplatz zu teuer
ist oder weil die arbeitsrechtlichen Hürden, die heutzutage
jeden Arbeitsplatz umgeben, zu hoch sind. Es sind Hürden mit sozialen Begründungen, die Beschäftigung verhindern. Tatsächlich ist aber nur das sozial, was Beschäftigung schafft. Oder um es genauer zu sagen: Sozial ist,
wer Beschäftigung schafft.
({16})
Politik ist unsozial, wenn sie neue Hürden aufstellt, wie
verschärften Kündigungsschutz, Rechtsanspruch auf Teilzeit, Einschränkungen für befristete Beschäftigung, Ausweitung der Mitbestimmung. Politik ist sozial, wenn sie
die Hürden für Beschäftigung niedriger macht oder abräumt. Sozial ist, Verkrustungen aufzubrechen, die verhindern, dass aus Arbeit, die in Deutschland ausreichend
vorhanden ist, Beschäftigung wird. Sozial sind weniger
Reglementierung und mehr Flexibilität.
({17})
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, für den
Mittelstand ist diese Legislaturperiode ein Langzeithärtetest. Die Tüchtigsten werden überleben. Die Mittelständler erkennen zunehmend, dass sie für Schröder bei der
Wahl 1998 Stimmvieh waren.
({18})
- So ist das. - Bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr
wird es heißen: Das war’s für die rot-grünen Genossen.
Der Kanzler wird dann sagen: Basta!
({19})
Einen letzten Satz zu Ihrem Antrag. Er ist eigentlich
überflüssig. Er ist eine Variation, eine Interpretation des
Aktionsprogrammes der Bundesregierung, das genauso
inhaltsleer ist.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({20})
Ich erteile
für die SPD-Fraktion dem Kollegen Dr. Ditmar Staffelt
das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Nachdem die Fraktion der
CDU/CSU bereits im Dezember letzten Jahres die Antwort der Bundesregierung auf ihre Große Anfrage erhalten hatte, hat sie sich offensichtlich in gar keiner Weise
bemüßigt gefühlt, daraus Schlüsse zu ziehen, eigene Initiativen zu ergreifen oder gegebenenfalls ihre Überlegungen in Form eines Antrages dem Plenum vorzulegen.
({0})
Nein, dies hat die Regierungskoalition heute getan. Das,
was Sie, Herr Doss, hier eben vorgetragen haben, ist wirklich nichts anderes als der Versuch, einzelne Punkte zusammenhanglos herauszupicken und zu sagen: Dies stört
uns; an dieser Stelle gehen wir nicht in die gleiche Richtung wie Sie. - Das ist wenig, wenn man sich auf Regierungsarbeit vorbereiten will, meine Damen und Herren
von der Opposition. Das ist zu wenig.
({1})
Wir als Sozialdemokraten wollen sehr bewusst kleine
und mittlere Unternehmen in unserem Lande fördern.
Sie stehen im Mittelpunkt unserer Wirtschaftspolitik. Wir
wollen eine Wirtschaftspolitik gestalten, die darauf gerichtet ist, dass kleine und mittlere Unternehmen mit Eigeninitiative, mit Risikobereitschaft, mit Leistungsfähigkeit gezielt die Wirtschaft in unserem Lande anregen, sie
anstoßen, Arbeitsplätze schaffen und damit insgesamt
zum Wohlstand in unserer Gesellschaft beitragen.
({2})
Wir wollen dafür Sorge tragen, dass diesen Unternehmen
der Marktzutritt erleichtert wird und dass es auch neue
Betätigungsfelder für diese Unternehmen gibt.
Ich glaube, dass wir schon jetzt eine eindrucksvolle
Leistungsbilanz vorlegen können
({3})
und in der Lage sind, diese Leistungsbilanz hier heute sehr
offensiv zu vertreten.
Herr Doss, ich selbst hatte Gelegenheit, in RheinlandPfalz in einigen Städten mit Mittelständlern, mit der IHK
und mit der Handwerkskammer zu debattieren.
({4})
Glücklicherweise sind diejenigen, die vor Ort Wirtschaft
gestalten, sehr viel sachlicher; sie stehen sehr viel stärker
auf dem Boden der Tatsachen, als das Ihrem Vortrag zu
entnehmen war.
({5})
Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung
der Bundesrepublik Deutschland ist sicherlich eine Erfolgsgeschichte der sozialen Marktwirtschaft. Ich will
ganz ausdrücklich sagen: Wir bekennen uns zu dem, was
von Ludwig Erhard über Karl Schiller an Ausgestaltung
der sozialen Marktwirtschaft in unserem Lande realisiert
worden ist. Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit in unserem Lande stärken. Wir wollen natürlich auch, um das Soziale in der Marktwirtschaft herauszuarbeiten, einen vernünftigen Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und
Arbeitnehmern in unserem Lande organisieren.
Dieser Dialog und diese Konsensfähigkeit von Arbeitgebern und Arbeitnehmern hat sich über all die Jahre bewährt und ist ein zentraler Baustein der Entwicklung unserer Wirtschaft, ein zentraler Baustein auch des Erfolges
unserer Wirtschaft. Daran wollen wir festhalten.
Ich glaube darüber hinaus, dass gerade der soziale
Friede ein Wettbewerbsvorteil in den internationalen Dimensionen ist und im Übrigen auch dafür Sorge getragen
hat, dass wir in unserem Lande, was Streiks und im Übrigen auch Behinderungen der betrieblichen Abläufe betrifft, im Vergleich zu anderen Ländern eine ausgesprochen positive Bilanz aufweisen können.
({6})
Lassen Sie uns an diesem partnerschaftlichen Verhältnis
trotz aller Interessengegensätze, die es naturgemäß geben
muss, festhalten.
Meine Damen und Herren, in den letzten 16 Jahren der
Regierung von CDU/CSU und F.D.P. geriet Deutschland
in immer stärkerem Maße in eine nachteilige Wettbewerbssituation
({7})
und auch in eine soziale Schieflage. Dieser Reformstau,
für den Sie verantwortlich zeichnen, hat insbesondere
auch den Mittelstand belastet.
({8})
Wir sind 1998 angetreten, um genau diesen Stau aufzulösen.
({9})
Ich denke, wir können mit der Bilanz, die wir vorzulegen
in der Lage sind, genau dieses Ergebnis hier heute darlegen.
({10})
Unser Konzept ist eine moderne Wirtschafts- und Finanzpolitik, die das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft
mit dem der Nachhaltigkeit verbindet. Dies bedeutet, dass
Wirtschaftspolitik nur auf Dauer erfolgreich sein kann,
wenn sie ökonomische Effizienz, soziale Sicherheit und
ökologische Verantwortung miteinander in Einklang bringt.
Wir bekennen uns im Übrigen sehr dazu, dass Unternehmerpersönlichkeiten und gut qualifizierte Arbeitnehmer, die sich mit ihrem Unternehmen identifizieren, mehr
und mehr der gemeinsame Schlüssel für den Erfolg eines
Unternehmens sind. Ich sage Ihnen, meine Damen und
Herren: So, wie Sie im Zusammenhang mit der Modernisierung der Mitbestimmung auf das, was sich bisher bewährt hat, eingeschlagen haben, haben Sie sich offensichtlich aus der Reihe derer, die diesen Akzent sozialer
Marktwirtschaft für eine Vorbedingung für Wohlstand in
unserem Lande halten, verabschiedet.
({11})
Vor dem Hintergrund dieser Grundüberzeugung haben
wir und hat der Bundeskanzler das Bündnis für Arbeit
ins Leben gerufen. Ich kann nur sagen: Die Ergebnisse
können sich doch wohl sehen lassen. Es wurde eine verlässlich vereinbarte Lohnpolitik erreicht; moderate Tarifabschlüsse, die Flexibilisierung von Arbeitszeiten, die
Förderung von Teilzeitarbeit wurden vereinbart, ebenso
die Förderung von Qualifikationen, die Stärkung der Vermittlung von Arbeit - wichtige Akzente zur Verbesserung
der Rahmenbedingungen für unsere Wirtschaft.
Ich glaube, dass wir seit 1998 wieder auf Erfolgskurs
sind. Die Zahlen belegen das. Die Arbeitslosigkeit ist
deutlich zurückgegangen,
({12})
von 11,6 auf 9,3 Prozent. Die Staatsverschuldung ist abgebaut worden und wird bis 2005 weiter abgebaut werden.
({13})
Die Preise bleiben stabil, auf niedrigem Niveau - trotz der
negativen Entwicklungen auf den Weltmärkten. Die Erhöhung privater Kaufkraft ist Realität. Allein im Januar 2001 sind die Einzelhandelsumsätze um 4,1 Prozent
gestiegen. Das kommt doch nicht von ungefähr; das ist
das Ergebnis konsequenter, guter, neuer, moderner Rahmenbedingungen, die wir geschaffen haben.
({14})
Herr Kollege Staffelt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schauerte?
Nein.
Der Redner
lehnt ab.
({0})
Die Bundesregierung hat
Stillstand und Modernisierungsstau, den Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, hinterlassen haben, aufgelöst. Ordnungspolitisch und gestalterisch haben wir neue
Rahmenbedingungen gesetzt. Ich will einige dieser Rahmenbedingungen nennen, die im Übrigen im europäischen
und weltweiten Maßstab absolut unbestritten sind und Anerkennung finden. - Sie haben das ja vorhin in humoristischer Art und Weise begleitet. Offensichtlich wird der Fasching in Rheinland-Pfalz bis zum Wahltag fortgesetzt.
({0})
- So ist es; nur bei den Schwarzen.
Wir haben allein mit der Reform des 630-Mark-Gesetzes dem Missbrauch im Bereich der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse einen Riegel vorgeschoben.
({1})
Die Neuregelung erbrachte allein im ersten Jahr Beitragseinnahmen für die gesetzliche Rentenversicherung in
Höhe von zusätzlich 1,85 Milliarden DM und für das Jahr
2000 von 2,8 Milliarden DM. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis.
Wir haben den Missbrauch im Bereich der Scheinselbstständigkeit erfolgreich bekämpft. Jetzt werden
nicht mehr diejenigen, die Beschäftigungsverhältnisse
schaffen und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, benachteiligt. Jetzt haben wir auch im Bereich der Selbstständigkeit wieder einen vernünftigen Wettbewerb. Ich
füge, was die Beschäftigung betrifft, hinzu: Allein der
Bundesverband der Freien Berufe hat vor wenigen Tagen
erklärt: Es gibt zusätzlich 27 000 Selbstständige mit mehr
als 100 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen und einer stattlichen Zahl zusätzlicher Ausbildungsplätze.
Meine Damen und Herren, diese ordnungspolitischen
Maßnahmen haben sich ausgezahlt. Nehmen Sie das doch
einmal anhand der Fakten zur Kenntnis.
({2})
Herr Kollege Staffelt, die Kollegin Kopp möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich lasse im Moment
keine Zwischenfragen zu.
({0})
- Passen Sie einmal auf: Ich erlebe ja Ihre hochintelligenten Einwürfe im Ausschuss. Ich möchte einmal in der
Lage sein, zusammenhängend die Dinge zu erläutern,
({1})
die uns im Bereich der Mittelstandspolitik tatsächlich bewegen - Punkt.
({2})
Viele haben sich, so denke ich, im Zusammenhang mit
der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes in eine
Diskussion hinein begeben, die, bitte schön, auf die reale
und rationale Substanz zurückgeführt werden muss. Ich
stelle eines fest: Viele kleine und mittlere Unternehmen
nutzen die Mitbestimmung, um mehr Arbeitnehmer an
ihren Betrieb zu binden. Das sind viel mehr Arbeitgeber,
als es die CDU/CSU-Fraktion hier wahrhaben will. Das
ist doch glatte Propaganda, was Sie hier betreiben. Das hat
mit den Realitäten des Betriebsfriedens nichts, aber auch
gar nichts zu tun hat.
({3})
Im Übrigen darf ich Sie darauf verweisen, dass der
Kompromiss, der gefunden worden ist und der jetzt Gegenstand von Erörterungen hier im Hause ist, sicherlich
ein guter und tragfähiger Kompromiss ist, bei dem auch
die kleinen und mittleren Unternehmen in keiner Weise
übermäßig strapaziert werden.
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte des Weiteren
darauf verweisen, dass mit der Steuerreform, also mit der
Reform des Einkommensteuergesetzes und des Unternehmensteuerrechtes, weltweit anerkannt ein ganz wesentlicher Reformschritt getätigt worden ist. Ich darf Sie auf die
Reduzierung der Lohnnebenkosten hinweisen. Auch
dies ist ein Thema, das insbesondere den beschäftigungsintensiven Unternehmen hilft.
({5})
Ich darf Sie darauf hinweisen, dass auch die Rentenreform ein wichtiger Baustein für das ist, was die Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ausmacht.
({6})
Dies alles sollten Sie endlich einmal zur Kenntnis nehmen, wenn Sie auf den Boden der Realitäten der Debatte
in unserem Lande zurückkehren wollen.
({7})
Das Gleiche gilt für das Thema der Haushaltskonsolidierung. Auch hier gilt doch auf Ihrer Seite das Motto:
Wir fordern und fordern mehr und mehr und auf der anderen Seite kritisieren wir, dass die Koalition endlich
dafür Sorge trägt - im Übrigen auch für den Mittelstand -, dass der Haushalt in den nächsten Jahren wieder
aktionsfähig ist.
({8})
Denn weniger Verschuldung bedeutet eine geringere
Zinsbelastung, und mehr Spielräume im Haushalt bedeuten einen höheren Investivhaushalt und damit mehr Aufträge bei den kleinen und mittleren Unternehmen. Nehmen Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis!
({9})
Ich glaube, dass wir uns auch an anderer Stelle sehen
lassen können, allein wenn ich mir überlege, wie viele
Neugründungen es in diesem Lande gegeben hat. Wenn
die Rahmenbedingungen tatsächlich so katastrophal sind,
wie Sie das beschrieben haben, frage ich mich: Warum
sind wir eigentlich Weltmeister bei den Existenzgründungen im Bereich der New Economy?
({10})
- Aber sicherlich sind wir das. Nirgendwo anders hat es
so viele Börsennotierungen kleiner und mittlerer Unternehmen gegeben wie in Deutschland.
Wir haben eines erreicht - auch das muss Gründe haben -: Wir sind heute nicht mehr auf staatliches Venture
Capital angewiesen, weil Private offensichtlich in ausreichender Weise Risikokapital zur Verfügung stellen. Das
muss doch Gründe haben! Die Investoren glauben an dieses Land und an diesen Investitionsstandort. Sie sind nicht
der Meinung, wir würden ihr Geld zum Fenster hinauswerfen. Auch das ist die blanke Realität.
({11})
Ich füge des Weiteren hinzu: Für das Handwerk, für die
Qualifizierung, für Ausbildungsberufe, also für alle zentralen Bereiche,
({12})
haben wir weitere Mittel zur Verfügung gestellt. Wir reformieren das Meister-BAföG. Wir ermöglichen, dass der
Kreis der Geförderten erweitert wird und dass, wenn
BAföG gewährt wird, mehr erlassen wird, als das in der
Vergangenheit der Fall war. Ich sage Ihnen noch einmal:
Hören Sie mit Ihrer Miesmacherei auf und setzen Sie sich
mit den tatsächlichen Fakten dieser Regierung auseinander!
({13})
Ich erinnere darüber hinaus an die Reform der Ausbildungsberufe, an die zusätzlichen Mittel für die Berufsschulen, deren Bereitstellung im Rahmen der UMTS-Milliarden möglich war, an das, was wir im Zusammenhang
mit der Green Card veranlasst haben, an die Einrichtung
von runden Tischen, an die Bereitstellung von Eigenkapitalhilfe und an die Schaffung von Existenzgründerlehrstühlen an den Universitäten. Ich könnte die Aufzählung der von uns getroffenen Maßnahmen unendlich
weiterführen. Wir haben einen bunten Strauß wichtiger
Maßnahmen zusammengestellt, damit kleine und mittlere
Unternehmen in unserer Volkswirtschaft einen vernünftigen Rahmen erhalten.
({14})
Ich will zum Schluss sagen, meine Damen und Herren:
Wir allesamt in diesem Lande haben die Aufgabe, diesen
Standort nicht unnötig schlecht zu reden.
({15})
Wir wollen Investoren aus dem Ausland in unser Land
ziehen. Wir wollen dafür Sorge tragen, dass sich unsere
Unternehmen mit den Möglichkeiten der Informationsund Kommunikationstechnologie am europäischen Wettbewerb beteiligen können.
({16})
Wir wollen dafür Sorge tragen, dass wir, auch was die EUOsterweiterung betrifft, frühzeitig mit unseren kleinen
und mittleren Unternehmen auf den Märkten präsent sind.
Meine Damen und Herren, helfen Sie mit guten Vorschlägen und lassen Sie die Miesmacherei! Wir glauben,
wir sind auf einem guten Weg. Die Fakten sprechen für
uns.
({17})
Wir jedenfalls haben in vielen, vielen Diskussionen mit
Selbstständigen, mit kleinen und mittleren Unternehmen
die Erfahrung gemacht, dass die Hoffnung auf ein weiteres gutes konjunkturelles Umfeld, gestützt durch die Politik dieser Bundesregierung, gegeben ist. Deshalb
schauen wir mit großem Optimismus in die Zukunft.
Schönen Dank.
({18})
Das Wort zu
einer Kurzintervention erhält der Kollege Hartmut
Schauerte.
Herr Kollege
Staffelt, leider haben Sie meine Zwischenfrage nicht zugelassen, sodass ich das jetzt in einer Kurzintervention
vortragen möchte.
Erstens zur Zahl der Erwerbstätigen: Selten hat es eine
so drastische und offenkundige Manipulation bei den
Statistiken gegeben.
({0})
Es steht eindeutig fest: Nachdem Sie die 630-Mark-Jobs
gesetzlich neu geregelt haben, sind diese jetzt in der Statistik für die Erwerbstätigen ausgewiesen. Vor der Regelung waren es etwa 5 Millionen 630-Mark-Jobs. Davon
sind 2 Millionen jetzt neu als Erwerbstätige in der Statistik ausgewiesen. Sie haben nach wie vor weniger als
630 DM, waren vorher beschäftigt, sind jetzt beschäftigt,
erscheinen aber in der Statistik als eine Verbesserung. Das
ist gemogelt, das ist nicht seriös!
({1})
Man muss in diesem Zusammenhang sogar noch dazusagen, dass die anderen 3 Millionen 630-Mark-Beschäftigten jetzt endgültig in der Schwarzarbeit gelandet sind,
völlig rechtlos sind und außerhalb der Zahlungspflichten
liegen - eine schlechte Entwicklung!
({2})
Eine zweite Bemerkung: Wenn es denn Besserung in
Deutschland gibt, dann findet sie insbesondere in zwei
Bundesländern statt, in denen die CSU bzw. die CDU sehr
erfolgreich regieren, nämlich in Bayern und in BadenWürttemberg.
({3})
Wir haben in diesen beiden Ländern eine halb so hohe Arbeitslosigkeit wie in Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen, wo Sie regieren, deutlich höhere Anteile der
Selbstständigkeit, und, was erstaunlich ist, auf dem niedrigen Arbeitslosigkeitsniveau in Baden-Württemberg
nimmt die Arbeitslosigkeit doppelt so schnell ab wie auf
dem hohen Arbeitslosensockel in Nordrhein-Westfalen.
Wenn es also etwas zu loben gibt, wenn es intelligente
Wirtschafts-, Regional- und Strukturpolitik gibt, dann findet sie in diesen Ländern zuallererst statt. Wenn Sie Ansätze von Besserung feststellen, dann holen Sie sich bitte
dort die Zahlen, und bedanken Sie sich bei den tüchtigen
Landesregierungen - wie zum Beispiel in Baden-Württemberg bei Erwin Teufel -, die das mustergültig auf die
Beine gestellt haben.
({4})
Ich denke, das reicht. Gehen Sie in Ihre Länder und sehen Sie dort nach! Bekommen Sie rote Ohren, wie
schlecht Ihre Zahlen sind und wie gut die Zahlen in Baden-Württemberg und Bayern sind. Gott sei Dank, dass
wir diese beiden Länder haben.
({5})
Zur Erwiderung gebe ich dem Kollegen Dr. Ditmar Staffelt das
Wort.
({0})
Uns ist ja seit längerem bekannt, dass Sie der Bereichsleiter Agitprop bei der
CDU/CSU-Fraktion sind.
({0})
Man hört das eher selten, weil das Sauerland groß ist und
die Vegetation dort sehr viel von dem wegnimmt. Das ist
gut so für das Land, würde ich sagen.
({1})
Ich bin erstaunt darüber, was Sie hier sagen. Ich habe
mit großem Interesse verfolgt, was die Bundesanstalt für
Arbeit - unabhängig von der jeweiligen Bundesregierung an redlicher Arbeit geleistet hat.Das ist unter anderem ein
Verdienst von Herrn Jagoda.
({2})
Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Sie hier den Eindruck erwecken, als würde die Bundesanstalt für Arbeit,
die die Zahlen zum Thema Arbeitslosigkeit veröffentlicht,
({3})
die Menschen in diesem Lande in einer unglaublichen Art
und Weise belügen. Ich finde das scheußlich, Herr
Schauerte! Schämen Sie sich dafür!
({4})
Zum Zweiten möchte ich Ihnen eines sagen: Eine ordentliche Mittelstandspolitik - wo immer sie in der Praxis
gemacht wird - sollte uns alle bereichern. Ich habe da
überhaupt kein Problem. Ich klebe da nicht an der Frage,
ob ein Senat von Berlin etwas Gutes gemacht hat, eine
Landesregierung in Nordrhein-Westfalen oder eine
Staatsregierung in Bayern. Wenn es eine gute Initiative
ist, warum sollen wir davon nicht gemeinsam lernen?
Nur eines bin ich nicht bereit hinzunehmen: Sie reden
vom Ländervergleich. Schauen Sie sich doch einmal an,
in welcher Größenordnung der Bund in den letzten Jahren
seine Aktivitäten auf diesem Felde verbessert und modernisiert hat, und setzen Sie das in Vergleich zu dem, was
Sie bis 1998 auf die Beine gestellt haben. Dann kommen
Sie zu einem Vergleich, über den wir hier debattieren
können, und dann, Herr Schauerte, nehme ich Sie auch
wieder in den Kreis der Redlichen auf.
Danke.
({5})
Nun spricht
für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Rainer Brüderle.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Grün-rote Gesundbeter ziehen durchs
Land,
({0})
aber es hilft nichts. Die Konjunktur geht in den Keller,
({1})
die Börse kracht, es gibt eine neue Messeinheit für den
Verfall ökonomischer Prognosen: den Eichel.
({2})
Es hält gerade fünf Tage. Fünf Tage später haben praktisch
alle Institute ihre Wachstumsprognosen nach unten korrigiert: um die 2 Prozent. An die 2,75 Prozent von Eichel
glaubt er selbst bestimmt auch nicht mehr. Ich halte ihn
dazu für zu intelligent.
Wir haben die höchste Teuerungsrate seit 1994 in
Deutschland - Ergebnis insbesondere grüner Energiepolitik.
({3})
Eine der wichtigen Ursachen dafür ist die verfehlte
Mittelstandspolitik. Ich frage mich, meine Damen und
Herren: Was hat der deutsche Mittelstand eigentlich
Grün-Rot getan, dass Grün-Rot den deutschen Mittelstand so quält und so schlecht behandelt?
({4})
Das ist eine lange Latte: Verschärfung des Kündigungsschutzes, Verschärfung bei der Lohnfortzahlung,
Abschaffung der 630-DM-Verträge, Verschärfung der
Mitbestimmung in den Kleinbetrieben - dort ist Teamarbeit, nicht Funktionärsfremdbestimmung gefragt -, Ökosteuer.
({5})
Frau Scheel hatte noch die tolle Weisheit, zu erklären, die
Abschaffung der Ökosteuer wäre wirtschaftspolitischer
Wahnsinn.
({6})
Das ist grüne Realpolitik: Mittelstandspreis annehmen
und anschließend den Mittelstand abstrafen, in die Pfanne
hauen. So machen Sie Mittelstandspolitik!
({7})
Abschreibungsverschlechterungen und Zwangspfand
werden viele kleine Einzelhändler in existenzkritische Situationen bringen.
({8})
Weiter: Steuerbevorzugungen der Kapitalgesellschaften,
Unklarheiten bei der Rente, Zwangsteilzeit und ein sechsjähriges Moratorium von Herrn Eichel für weitere Steuersenkungen. Zu einem Zeitpunkt, zu dem die Amerikaner
ankündigen, 3,2 Billionen Mark weitere Steuersenkungen
vorzunehmen, erklärt der deutsche Finanzminister: In den
nächsten sechs Jahren gibt es nichts mehr. - Die Schieflage zulasten des Mittelstandes bleibt. Dann darf sich
auch keiner wundern, wenn wir Probleme am Arbeitsmarkt haben.
({9})
Dann haben wir einen Bundeswirtschaftsminister, der
zum Monopolminister mutiert ist.
({10})
Er hat sein ganzes Leben immer nur in Großkonzernen gewirkt; der weiß gar nicht, wie der Mittelstand atmet, wie
es hinter der Ladentheke aussieht. Er hält den „blauen
Anton“ nicht für eine Arbeitskleidung, sondern für eine
Comedy-Figur. Mit einer solchen Einstellung kann man
keine Mittelstandspolitik machen.
({11})
Monopolminister Müller interessiert sich für die Post:
Verlängerung des Briefmonopols.
({12})
Monopolminister Müller will Sonderregelungen für
die Telekom. Monopolminister Müller engagiert sich für
Eon, aber nicht für das, was für den Mittelstand notwendig ist. Er hat sich nirgends durchgesetzt, weder in der
Frage der betrieblichen Mitbestimmung, bei deren Verschärfung zulasten des Mittelstandes,
({13})
noch hat er seine Grundsatzabteilung zurückbekommen.
Er hat immer noch ein amputiertes Ministerium. Weder
hat er die Besteuerung von Aktienoptionen verbessern
können noch hat er eine Besteuerung der „business angels“ verhindern können. Nichts! Überall nur Niederlagen! So ist es halt, wenn man Monopolminister ist und
den Mittelstand nicht kennt.
({14})
Jetzt hat er nach zweieinhalb Jahren die neue Wunderwaffe entdeckt und sagt, er brauche eine Mittelstandsbeauftragte.
({15})
Das ist Frau Wolf, die auch sicherlich schon manches
Lehrbuch über den Mittelstand gelesen hat. Sie hat vor
zwei Tagen mit Leidenschaft gefordert, dass die Steuerreform korrigiert werden muss, weil sie den Mittelstand
diskriminiert und schlecht behandelt. Dies wird natürlich
null Effekt haben. Da zieht sich Frau Wolf vor den Landtagswahlen einen Schafspelz über, damit man nicht entdeckt, wie mittelstandsfeindlich grün-rote Politik ist. Mit
Mittelstandspolitik hat dies absolut nichts zu tun.
({16})
Mit dieser Politik macht der Monopolminister Müller
den Mittelstand in Deutschland heimatlos,
({17})
macht die Mittelständler quasi zu wirtschaftspolitischen
Zwangsvertriebenen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik,
denn Sie denken nur an Großkonzerne und in großen Gewerkschaftseinheiten.
({18})
Der Bundeskanzler kommt auch nur bei Holzmann und
Mannesmann vorbei, aber nicht beim Mittelständler.
({19})
- Gut, er hat ja so glänzende Monopolvertreter, dass der
Genosse der Bosse nicht zwingend dabei sein muss, wenn
es um Mittelstandspolitik geht. Ich habe noch ein gewisses Verständnis dafür, dass er sich damit nicht beschäftigen will.
Was braucht der Mittelstand, worauf kommt es an? Der
Mittelstand will keine Almosen, will keine Sonderregelungen. Er will eine faire Chance. Dafür brauchen wir eine
klare Ordnungspolitik, eine Renaissance der sozialen
Marktwirtschaft, in der der Staat ordnet, aber nicht
lenkt, in der er faire Chancen gibt und berechenbare Daten setzt, nach denen man als Mittelständler seine Investitionen ausrichten kann, und in der man nicht ständig
durch punktuelle Eingriffe irritiert wird, die dann, wenn
man sich an ihnen orientiert, dazu führen, dass die Investitionsberechnungen falsch sind. Das ist zutiefst mittelstandsfeindlich. Der Mittelstand kann sich keine Abteilung von Winkeladvokaten erlauben, die noch die letzte
Nische im Steuerrecht finden. Er braucht einen klaren
Kurs, eine Vereinfachung des Steuerrechts. Aber von Vereinfachung redet in diesem Hause überhaupt keiner von
der Regierung.
({20})
Ich will Ihnen vier Dinge sagen, die Sie sofort machen
müssten, um dem Abgleiten der Konjunktur - hier tun Sie
gar nichts - entgegenzuwirken:
Erstens. Sie müssen eine Steuerreform II sofort auf den
Weg bringen, die insbesondere die Schieflage zulasten
des Mittelstandes beseitigt. Wir brauchen ein klares, einfaches Steuerrecht. Unser Vorschlag mit 15, 25 und
35 Prozent ist genau richtig. Herr Struck durfte diesem
Vorschlag einmal zustimmen, aber nach 48 Stunden
wurde er dazu verdonnert, sich zurückzuziehen. Die vorgeschlagene Regelung ist richtig, klar und einfach, weil
sie gerecht ist. Ein kompliziertes Steuerrecht ist immer
mittelstandsfeindlich.
({21})
Zweitens. Senken Sie sofort die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um einen Prozentpunkt. Die Einnahmesituation gibt das her. Dies wäre gerade für die kleinen
Betriebe eine Entlastung.
Drittens. Sie müssen unbedingt an eine Reform des
Arbeitsmarktes herangehen. Es ist völlig unstreitig - ob
Bundesbank, alle deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute oder die OECD, wenn Sie den deutschen Prognosen
nicht trauen -: Kernursache der unerträglich hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland ist die Inflexibilität am Arbeitsmarkt. Sie müssen hier reformieren. Herr Schulte
fängt ja an zu denken und sagt, man könne dies zeitlich
anders machen. Liebe Gewerkschaften, willkommen in
der Realität! Wacht endlich auf!
({22})
Wenn ihr euch schon früher bewegt hättet, hätten wir
schon viele Langzeitarbeitslose von der Straße holen können. Die kleinen tüchtigen Leute zahlen für diese ideologische Politik, die falsch strukturiert ist.
({23})
Deshalb müssen Sie an eine Reform des Flächentarifvertrages gehen. Sie geben denen, die draußen stehen,
keine Chance. Sie machen mit Ihren Funktionären einen
„closed shop“. Geben Sie denen, die arbeitslos sind, und
denen, die Angst um ihren Arbeitsplatz haben, auch eine
Chance! Sie brauchen Hoffnung und Perspektive.
({24})
Nein, Sie vertreiben sie aus dem Tarifvertrag. Keine Arbeit zu haben verletzt die innere Empfindung eines Menschen. Deshalb ist das, was Sie machen, unsozial.
({25})
Viertens: Bauen Sie endlich die überzogene Bürokratie in Deutschland ab. Ich habe schon in meiner Zeit als
Minister durch ein Gutachten der Universität Mainz ermitteln lassen, was Sie dem deutschen Mittelstand an
bürokratischen Handschellen zumuten. Im Jahr kommen
auf den Mittelstand durch überdrehte Regelungen Belastungen in einer Größenordnung von 60 Milliarden DM zu.
({26})
Beginnen Sie mit der Umsatzsteuer. Gehen Sie weg von
der monatlichen Steuererklärung zur Jahresumsatzsteuererklärung. Das trifft Sie zu Recht, weil Sie hierbei falsch
liegen, Herr Poß. Sie sind viel zu intelligent, um zu glauben, was Sie dazwischenrufen.
({27})
- Ich habe ein bisschen Zeit. Lassen Sie ihn ruhig fragen.
Der Redner
gestattet eine Zwischenfrage. Bitte schön, Herr Poß.
Lieber Herr Kollege, können Sie
sagen, wann Sie Wirtschaftsminister in Mainz waren und
wer zu dem Zeitpunkt die Bundesregierung gestellt hat?
War Ihre Partei zufällig an der Bundesregierung beteiligt?
({0})
Herr Poß, das war vor gut
drei Jahren. Das ist richtig. Wir hatten mit unseren Koalitionspartnern Probleme, solche Dinge abzubauen.
({0})
Wir als liberale Reformpartei haben den Mut, die Tabus in
dieser Gesellschaft anzugehen. Einer muss doch dafür
sorgen, dass es vorangeht. Wir wollen nicht weiter mit den
Italienern - das ist immer noch die Antwort auf Ihre
Frage - unter dem europäischen Durchschnitt liegen. Wir
liegen hinten. Wir sind nicht mehr die Lokomotive in Europa. Es sieht eher so aus, als seien wir der Schlafwagen,
weil der Reformstau in Deutschland wie in Italien und
in Frankreich, also in drei großen Ländern, nicht aufgelöst wird.
({1})
Der Reformstau ist die Ursache dafür, dass wir unter dem
Durchschnitt liegen und dass der Euro fällt, weil man kein
Vertrauen in unsere Reformfähigkeit und Anpassungsfähigkeit hat.
({2})
Deshalb ist es notwendig, unsere Strukturen zu verändern.
Herr Kollege Poß, deshalb war Ihre Zwischenfrage sehr
wichtig. Um es noch einmal deutlich zu machen: Wer
nicht den Mut hat, Veränderungen vorzunehmen, fällt
eben zurück.
Sie werden die Arbeitslosen nicht von der Straße bekommen, wenn Sie keine Strukturen aufbrechen. Im
Osten Deutschlands sind zwei Drittel aller Arbeitsplätze
außerhalb des geltenden Tarifvertragsrechts. Hieran wagt
sich zu Recht keiner, weil es in den neuen Bundesländern
sonst noch schlimmer würde. Aber was ist denn das für
eine Realität, die nur deshalb einigermaßen funktioniert,
weil man sich nicht an bestehende Gesetze hält? Das ist
der Beleg dafür, dass die Gesetze falsch sind. 80 Prozent
der Arbeitgeber - ich will Ihre Frage richtig beantworten sind aus den Verbänden ausgetreten, weil das alte Tarifkartell nicht mehr funktioniert. Deshalb ist es so wichtig,
Herr Poß, dass man eine klare Antwort auf Ihre Frage gibt.
({3})
Ich könnte Ihnen noch eine ganze Reihe von Vorschlägen - leider gibt dies die Zeit nicht her - zur Verbesserung
der Mittelstandspolitik vortragen.
({4})
Sie können diese gern im Aktionsplan der F.D.P.-Bundestagsfraktion abrufen. Es kommt darauf an, dass wir nicht
sonntags gelegentlich über den Mittelstand reden, sondern wir müssen in der Woche konkret mit Herz und Verstand an diese Sachen herangehen. Deutschland braucht
weniger grün, aber mehr gelb, damit der Mittelstand das
tun kann, was er will: arbeiten, Arbeitsplätze schaffen und
Geld verdienen, damit es vorangeht. Hindern Sie ihn
durch Ihre falsche Politik nicht länger daran!
({5})
Nun gebe
ich der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, der Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung und Kollegin
von Bündnis 90/Die Grünen das Wort, der Kollegin
Margareta Wolf.
({0})
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Brüderle, an Ihrer Stelle würde ich mich einmal fragen,
warum Sie bis heute noch nie den „Orden wider den tierischen Ernst“ in Aachen bekommen haben.
({0})
Ich kann Ihnen sagen, warum Sie ihn nicht bekommen haben: weil Sie sich wiederholen und immer wieder die gleichen Sprüche ablassen.
({1})
Sie machen keinen einzigen konkreten Vorschlag. Herr
Westerwelle hat den Orden in diesem Jahr bekommen.
Das kann ich gut verstehen. Er ist nicht so sturzlangweilig wie Sie. Man sollte Harald Schmidt empfehlen, Herrn
Ohoven aus dem Trailer seiner Sendung herauszunehmen
und Sie dafür hineinzusetzen. Dann wäre das Volk richtig
belustigt.
({2})
Zwei Punkte will ich zu Ihrer Rede anmerken: Sie fordern die sofortige Umsetzung der Steuerreform II. Sie
wissen, dass die Unternehmen mit dem Finanzminister
diskutieren und auf einem guten Wege sind. Verehrter
Kollege, vielleicht haben Sie es schon vergessen: Sie haben damals der Steuerreform zugestimmt und benehmen
sich heute wie ein Vater, der seine Alimente nicht bezahlen will.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Brüderle?
Nein, ich
möchte zunächst mit meinen Ausführungen fortfahren.
Sie stellen sich hin und lärmen in Ihrer komischen Art
herum. Wenn Sie fordern, die Lohnnebenkosten zu senken, weil das Geld vorhanden sei, dann sagen Sie doch,
wie Sie es machen wollen. Wollen Sie es durch eine Erhöhung der Ökosteuer oder der Mehrwertsteuer erreichen? Wir wissen, dass Sie überhaupt kein Verständnis für
nachhaltige Haushaltspolitik haben, weil wir heute mit
den Bürgerinnen und Bürgern einen Haushalt sanieren
müssen, den Sie fast in den Bankrott getrieben haben.
({0})
Herr Brüderle, wir wissen, dass eine Ihrer Kernforderungen lautet, Bürokratie abzubauen. Sie stellen sich hin
wie ein Leuchtstoffengel und fordern einen Abbau der
Bürokratie. In Ihrem Antrag fordern Sie, ebenso wie die
CDU/CSU, wir sollten ein Gutachten einholen. Vielleicht
ist Ihnen entgangen, dass die Bundesregierung bereits seit
zwei Jahren am Bürokratieabbau arbeitet und dass wir die
Verbände aufgefordert haben, uns konkrete Vorschläge zu
machen. Ich weiß, dass Sie, Herr Kolb, das entdeckt haben. Von Ihnen habe ich aber noch keinen einzigen Vorschlag gehört. Wir werden demnächst ermöglichen, online Handelsregistereintragungen vorzunehmen, Lohnund Einkommensteuererklärungen abzugeben und Gewerbeeintragungen vorzunehmen. Herr Kollege Brüderle,
so sieht die Realität aus.
Ich möchte Ihnen noch etwas sagen: Der Mittelstand in
Deutschland hat allen Grund, selbstbewusst zu sein. Wir
als Politiker haben allen Grund, den Mittelstand in
Deutschland zu loben. Der Mittelstand - ich möchte nicht
bewerten, wie man Vertriebene einschätzt - ist in
Deutschland kein Volksvertriebener. Der Mittelstand hat
in diesem Land im letzten Jahr 340 000 Stellen geschaffen und wird in diesem Jahr weitere 650 000 Stellen schaffen. Das sagt „Forsa“ und das schreibt „Impulse“. Sie dagegen, sehr geehrter Herr Brüderle, tun so, als sei der
Mittelstand ein kleines, vom Aussterben bedrohtes
Pflänzchen, das man ständig mit dem Gießkännchen
gießen müsse.
({1})
- Ja genau, die Schaumweinsteuer.
Ich finde es erstaunlich, wie sowohl Sie als auch Kollege
Doss das Bündnis für Arbeit bewerten und in diesem Zusammenhang über die Betriebsverfassung reden. Ich war
immer der Meinung, dass sich die Wirtschaftspolitik dieses
Landes nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf
Ludwig Erhard gründet. Ein wesentliches und konstitutives
Element des rheinischen Kapitalismus, begründet von
Ludwig Erhard, ist die Mitbestimmung, die es in diesem
Land übrigens seit 1921 gibt. Sie müssen sich einmal entscheiden: Wollen Sie die soziale Marktwirtschaft oder wollen Sie einen Manchester-Kapitalismus? Worauf beziehen
Sie sich in Ihrer Argumentation? Sie müssen sich doch in
Ihrer Argumentation etwas auf die Historie beziehen.
Zum Bündnis für Arbeit: Ist es in der Vergangenheit
schon einmal gelungen, Tarifverträge so zu gestalten, dass
sie sich an der Produktivität und vor allen Dingen am
Beschäftigungswachstum orientieren? Man muss klar sagen: Nein, unter Ihrer Regierung nicht. Dagegen ist es
jetzt im Bündnis für Arbeit gelungen und damit sind wir
europaweit vorne. Man kümmert sich nun konzertiert darum, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer frühzeitig weiterzubilden, um der demographischen Entwicklung gerecht zu werden und nicht den Fehler anderer
europäischer Länder zu wiederholen, ältere Arbeitslose in
die Langzeitarbeitslosigkeit abzudrängen. Sehr geehrter
Herr Brüderle, ich finde Ihre „Hauruck-, Hau-weg-denScheiß“-Reden, die Sie hier ständig halten, langweilig
und verantwortungslos, weil unser Mittelstand das nicht
verdient hat.
({2})
Der Mittelstand ist ein Beschäftigungsmotor. Er läuft endlich wieder rund und gewinnt zunehmend an Fahrt. Sie
sollten einmal mit mittelständischen Unternehmern vor
Ort über dieses Thema reden.
Gestatten
Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen Brüderle?
Ja.
Ich habe von der Mittelstandspolitik gesprochen und Sie werfen mir nun vor, ich
hätte eine Mittelstandsbeschimpfung vorgenommen, nur
weil das in Ihr Klischee passt.
Meine Frage ist: Haben Sie zur Kenntnis genommen,
dass letztlich die F.D.P. in Rheinland-Pfalz die Steuerreform I möglich gemacht hat, nachdem sie um 7 Milliarden DM pro Jahr verbessert wurde, die Pläne zur Abschaffung des halben Steuersatzes im Falle der
Betriebsaufgabe aus Altersgründen oder wegen Erwerbsunfähigkeit - sie waren eine schreiende Ungerechtigkeit
gegenüber dem deutschen Mittelstand - aufgegeben wurden und zusätzliche Steuersenkungen für alle erreicht
wurden? Vonseiten Ihrer Regierung uns kritisch vorzuwerfen - ich grüße Sie in Sachen Rente -, wir hätten bewirkt, dass Deutschland, da gar nichts geht, in der Welt zu
einer internationalen Lachnummer wird, weil wir bei Ihnen nur eine Veränderung im Umfang von 7 Milliarden DM erreichen konnten, zeigt, dass Sie die Realität
nicht kennen, nur Ihren Text ablesen und nicht wissen,
was Sie sagen.
({0})
- Die Frage ist, ob sie bereit ist, zur Kenntnis zu nehmen,
wie es ist! Sie hören nicht zu!
Verehrter Herr
Kollege, da sehen Sie einmal, wie Sie Fragen formulieren! Kein Mensch versteht sie!
({0})
- Jetzt werden Sie auch noch unverschämt! Das reicht
jetzt langsam!
({1})
Wenn Sie der Steuerreform zugestimmt haben, dann
darf man in einer Demokratie von Ihnen erwarten, dass
Sie diese Steuerreform auch vertreten und nicht immer so
tun, als würde der Mittelstand durch diese Steuerreform
überproportional belastet. Sie können sich zur Untermauerung Ihrer Position auf keine Studie beziehen. Sie
behaupten das immer einfach so und schaden damit dem
Mittelstand wie im Übrigen auch der Investitionstätigkeit
in Deutschland. So viel zu Ihrer wirtschaftspolitischen
Kompetenz, verehrter Herr Kollege!
({2})
Die Steuerreform stärkt die Innenfinanzierungskraft
des Mittelstandes und eröffnet dem Mittelstand Freiräume
für mehr Investitionen und mehr Arbeitsplätze in
Deutschland. Mit dem Gesetz zur Fortentwicklung der
Unternehmensteuerreform, das beim BMF in sehr guten
Händen ist, wird es weitergehen.
Der Mittelstand ist heute der Innovationsmotor in diesem Land. Verehrter Herr Kollege Brüderle, verehrter
Herr Kollege Doss, mich verwundert es immer wieder,
dass Sie keines der Probleme, die mit der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Mittelstandes vor dem Hintergrund zunehmender Globalisierung zusammenhängen, in
den Vordergrund Ihrer Debattenbeiträge stellen. Die Lösung dieser Probleme spielt aber eine zentrale Rolle in unserem Aktionsprogramm „Mittelstandspolitik“.
Sie wissen - diesem Punkt kommt vor dem Hintergrund
des Strukturwandels, der Globalisierung und eines massiven Innovationsdrucks eine erhebliche Bedeutung zu -,
die Eigenkapitalausstattung unserer mittelständischen
Unternehmen ist im internationalen Vergleich noch immer
relativ niedrig. Sie liegt bei etwa 16 Prozent. Daher glauben wir, glaubt die Bundesregierung und glauben die sie
stellenden Fraktionen, dass das Zurverfügungstellen von
ausreichenden finanziellen Ressourcen, egal ob in Form
von öffentlichen Förderprogrammen, Bankdarlehen oder
Risikokapital, eine Aufgabe höchster Priorität darstellt.
({3})
- Ja, aber wir machen weit mehr, als Sie damals gemacht
haben.
Wir haben das BTU-Programm aufgestellt - hören Sie
gut zu, Herr Kolb -, das quasi ein Venture-Capital-Programm ist und das ein Volumen von 2,3 Milliarden DM
hat. Mit diesem Programm versteht sich die Bundesregierung quasi als stiller Teilhaber an den technologieorientierten mittelständischen Unternehmen. Sehr viele Startups haben auf dieses Programm zurückgegriffen, weil sie
noch kein Venture Capital gefunden haben. Das wissen
Sie sehr genau. Dieses Programm ist absolut erfolgreich
und weist nach vorne. Die KfW und die DtA haben allein
im letzten Jahr Kredite in Höhe von 17 Milliarden DM zur
Verfügung gestellt.
({4})
Ein weiterer Punkt, der mir gerade vor dem Hintergrund der Globalisierung sehr wichtig erscheint, ist, dass
wir nunmehr durch die Zusammenarbeit von KfW und
DtA alle wichtigen Mittelstandsprogramme in die Hand
einer zentralen Beraterbank legen, die zugleich Ansprechpartner für den Mittelstand ist, wenn es um Förderung durch den Bund geht. Das ist eine Dienstleistung für
den Mittelstand, auf die wir stolz sind.
Sie wissen, dass sich die Bundesregierung - ich wundere mich, dass Sie auch dazu nichts sagen - intensiv
dafür eingesetzt hat, dass bei der Neuregelung der so genannten Basler Eigenkapitalunterlegungsvorschriften für
Kreditinstitute die Belange des deutschen Mittelstandes
berücksichtigt wurden. Es ist nunmehr so, dass das interne
Rating als gleichwertig akzeptiert wird. Damit ist einer
seit langem erhobenen Forderung des Mittelstandes
Rechnung getragen.
Sie beklagen ja immer, dass die privaten Banken nichts
für die Verbesserung der Kreditausstattung des Mittelstandes tun würden. Ich darf Sie darauf hinweisen, dass
die Bundesregierung eine Vereinbarung zur Finanzierung
des Mittelstandes mit allen beteiligten Banken, also den
privaten, den öffentlich-rechtlichen, den Raiffeisenbanken sowie mit DtA und KfW, abgeschlossen hat. Wir werden diese Vereinbarung kritisch begleiten und beobachten, ob sie dazu beiträgt, dass sich alle Banken an der
Finanzierung des Mittelstandes beteiligen. Wir werden sie
noch in diesem Jahr evaluieren und werden dann im Zweifel noch eine Anschlussvereinbarung abschließen müssen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Gudrun Kopp?
Ja.
Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, können
Sie nachvollziehen, dass viele mittelständische Unternehmen es bedauern, dass es diesen Zusammenschluss von
DtA und KfW geben wird, in Zukunft vertraglich festgelegt, weil sie um die absolut bewährten Beratungsstrukturen der DtA fürchten, nämlich der Mittelstandsbank,
({0})
die mit runden Tischen, mit wirklich fein ausgeklügelten
Beratungssystemen für den deutschen Mittelstand zur
Verfügung steht? Diese Betriebe haben Sorge um den
Fortbestand unter dem Dach einer Konzernstruktur, die
die KfW nun einmal ist. Können Sie auch verstehen, dass
sie fürchten, dass durch weitere Belastungen des Mittelstandsprogramms - das BTU-Programm ist gerade genannt worden - die Mittelstandsförderung zumindest in
Kürze zurückgefahren wird?
Frau Kollegin
Kopp, mir ist bekannt, dass am Anfang der Debatte über
die Zusammenarbeit von DtA und KfW verschiedene
Mittelständler befürchtet haben, dadurch würde die Mittelstandsfinanzierung eher auseinander gezogen. Jetzt ist
es, glaube ich, sehr wichtig, darüber zu kommunizieren,
was tatsächlich beabsichtigt ist. Wenn man das tut, kommt
es auch beim Mittelständler an. Wir überführen sämtliche
Mittelstandsprogramme der KfW in die DtA. Die DtA
wird keinesfalls unter dem Dach der KfW arbeiten,
({0})
sondern es handelt sich um gleichberechtigte Partner.
One-Stop-Shopping können Sie demnächst bei der DtA
machen, und die Beratungsinstitution für den Mittelstand
ist die DtA, sodass man sagen kann: Wir nutzen Synergien
und gestalten die DtA um in eine reine Mittelstandsbank.
Ich bin der KfW ausgesprochen dankbar, dass sie dies
auch tatsächlich mitgemacht hat, sodass wir alle Programme jetzt bei der DtA haben.
Meine Damen und Herren, wir prüfen - um noch einmal auf die Kapitalsituation zu kommen -
Frau Kollegin, eine weitere Zwischenfrage wird gewünscht. Es liegt
in Ihrer Entscheidung, ob Sie sie zulassen. - Bitte schön.
Frau Kollegin Wolf,
Sie sprachen die Anschlussregelung Basel I zu Basel II an.
Ist es vielleicht Ihrer selektiven Wahrnehmung zuzuschreiben, dass Sie nicht wahrgenommen haben, dass es
eine parlamentarische Initiative war, die erst die Regierung veranlasst hat, hier tätig zu werden?
({0})
Verehrter Herr
Kollege, das stimmt nicht. Wir haben in Basel verhandelt.
Dann ist ein Zwischenbericht für die Ausschüsse gemacht
worden. Das Ergebnis ist zurückzuführen auf eine gemeinsame Initiative der die Regierung tragenden Fraktionen und der Bundesregierung.
Aber ich will Ihnen einmal eines sagen: Was in dieser
Debatte total nervt, ist, dass jeder immer versucht, sich
von dem Kuchen ein Stückchen zu nehmen, als ob es substanziell im Ergebnis darauf ankäme.
({0})
Der Kollege Staffelt hat das schon gesagt. Wir diskutieren
in der Sache, dachte ich, wobei es darum geht, dem Beschäftigungsmotor in diesem Land bessere Rahmenbedingungen zu geben. Hier läuft es immer so: „Das habe
ich aber gesagt, das habe ich aber gemacht.“ Das ist völlig irrelevant für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für unseren Mittelstand.
({1})
Gestatten
Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ja.
Frau Kollegin, wären
Sie zumindest bereit, mit Ihrer Kollegin und Vorsitzenden
des Finanzausschusses, Frau Scheel, einmal Rücksprache
darüber zu nehmen, wie die Sache wirklich gelaufen ist?
({0})
Was soll denn
das? Wenn Sie sich setzen, dann brauche ich die Frage
nicht zu beantworten.
({0})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich freue
mich, dass die Venture-Capital-Kultur in Deutschland im
ersten Halbjahr 2000 auf insgesamt 3,2 Milliarden DM
gewachsen ist. Ich glaube, dass sich der Prozess weiter
fortsetzt.
({1})
Mit dem angesprochenen Seed-Capital, das durch das
BTU-Programm zur Verfügung gestellt wird, waren wir in
der Lage - so kann man, glaube ich, nach allem, was an
Auswertung vorliegt, sagen -, die so genannte SeedPhase mitzufinanzieren. Nichtsdestotrotz will ich aber
noch einmal auf die Situation am Neuen Markt hinweisen. Ich glaube, dass die Eröffnung des Neuen Markts am
10. März 1997 eine große Chance gerade auch für die innovativen neuen Betriebe in Deutschland darstellte. Er
war auf die innovativen, jungen Wachstumsunternehmen
zugeschnitten.
({2})
- Verstehen Sie etwas vom Neuen Markt?
({3})
- Nein, die Luft ist überhaupt nicht raus.
Aufgrund von falschen Beratungen und Überbewertungen hat es am Neuen Markt so etwas wie einen Crash
gegeben. Ich würde mit Ihnen gerne darüber reden, was
man machen kann, um den Neuen Markt nicht weiter zu
diskreditieren, und was für Rahmenbedingungen man
schaffen muss, um das Regelwerk, das dem Neuen Markt
zugrunde liegt, tatsächlich zu verbessern. Das Bundeswirtschaftsministerium denkt zusammen mit Vertretern
des Kapitalmarkts Frankfurt über ein freiwilliges Qualitätssiegel nach.
({4})
- Moment, ich möchte den Gedanken noch zu Ende bringen. - Wir haben einen Auftrag an renommierte Fachleute
für den Kapitalmarkt erteilt. Wir wünschen uns, dass dieses Qualitätssiegel bei der Börsensachverständigenkommission angesiedelt und dann vom BAW kontrolliert
wird. Wir legen allerdings auf Freiwilligkeit Wert. Der
Zuspruch, den wir vom Kapitalmarkt bekommen, ist so
beeindruckend, dass wir davon ausgehen, dass das Image
des Neuen Marktes durch einen entsprechenden Analystenkodex tatsächlich gesteigert werden könnte.
Lassen Sie
eine weitere Zwischenfrage zu?
Ja, das muss ich
wohl.
Bitte schön.
Frau Kollegin Wolf,
teilen Sie die Auffassung des Herrn Wirtschaftsministers
Müller, der auf die Frage, ob er sich am Neuen Markt engagieren würde, antwortete, dann könne man ja gleich in
die Spielbank gehen?
({0})
Was soll denn
das? Dieser Satz ist aus dem Kontext gerissen. Was beabsichtigen Sie mit dieser Frage?
({0})
Wir wissen - es ist erstaunlich, dass das in der Großen
Anfrage der CDU/CSU keine Rolle gespielt hat -, dass
der Bildungspolitik vor dem Hintergrund des Strukturwandels des Standortes Deutschlands eine ganz besondere Bedeutung zukommt. Wir müssen Potenziale mobilisieren, indem wir junge Menschen schon an den Schulen
und an den Hochschulen an unternehmerische Fragen heranführen. Zu diesem Zweck haben wir das Projekt Junior
gestartet, das in zwölf Bundesländern ausgesprochen erfolgreich läuft.
Gleichzeitig müssen wir die Kultur der Selbstständigkeit stärker in den Schulen verankern. Dabei liegen wir im
Vergleich zu anderen Ländern etwas im Hintertreffen.
Man kann nicht sämtliche Rückstände in zwei Jahren aufholen. Eine Umfrage unter 1 000 Jugendlichen im Alter
von 15 bis 25 Jahren hat ergeben, dass sich zwei Drittel
von ihnen vorstellen können, später einmal ein eigenes
Unternehmen zu gründen. Das bedeutet nachhaltige Wirtschaftspolitik. Das wird zu mehr Selbstständigkeit und
auch zu mehr Arbeitsplätzen in diesem Lande führen.
Weitere Fragen, die ich in diesem Zusammenhang ganz
wichtig finde, lauten: Wie schaffen wir mehr Selbstständigkeit? Wie können wir dafür sorgen, dass der Forschungs- und Wissenstransfer zwischen Wirtschaft und
Wissenschaft Eingang in die Hochschulen findet? Ich verweise auf die Tatsache, dass wir 18 Lehrstühle für Existenzgründungen geschaffen haben. Dort werden Studierende auf den Schritt in die Selbstständigkeit ganz gezielt
vorbereitet. Wir werden diesen Ansatz weiter ausbauen,
sodass wir bald ein ganzes Netz von Lehrstühlen für Existenzgründungen in Deutschland vorweisen können.
Darüber hinaus ist es ganz wichtig - der Kollege
Staffelt hat darauf hingewiesen -, dass wir uns um die Berufsschulen kümmern. Sie alle wissen aus Ihren Wahlkreisen, dass die Berufsschulen in der Vergangenheit von
der Wirtschafts- und der Bildungspolitik vernachlässigt
wurden. Man trifft dort in aller Regel - das ist kein Vorwurf - auf einen völlig frustrierten Lehrkörper. Die Investitionen in den Baubestand waren sichtbar schlecht. In
der Vergangenheit wurden die Berufsschulen - das sieht
man - wie ein Stiefkind behandelt.
Wir haben aus den UMTS-Erlösen über 255 Millionen DM zur Verfügung gestellt, um vorhandene Missstände abzubauen. Wir wollen den Berufsschulen deutlich
machen, dass sie - gerade für Schülerinnen und Schüler,
die auf dem Arbeitsmarkt Schwierigkeiten haben - ein
wichtiger Faktor sind. Wir nehmen die Schülerinnen und
Schüler, die in den Berufsschulen ausgebildet werden und
hinterher in den Mittelstand, zum Beispiel in Handwerksbetriebe, gehen, ernst. Wir müssen auch den Ländern klarmachen, dass diese Angelegenheit für uns wichtig ist.
Deshalb trifft sich der Bundeswirtschaftsminister auch
mit Frau Schavan.
({1})
- Bitte? Stellen Sie eine Frage, dann geht das nicht zulasten meiner Redezeit.
({2})
Ich möchte wirklich an Sie appellieren, das im Auge zu
behalten und in den Wahlkreisen auf ein verstärktes Engagement der Kommunen und Länder hinzuwirken.
Ein weiterer wichtiger Punkt für die Zukunftsfähigkeit
des Standortes Deutschland ist, dass wir die Ausbildungsberufe und die Weiterbildung viel schneller modernisieren müssen. Die Zeit rennt immer schneller und die Anforderungen an die Sozialpartner und die Politik wachsen
immer schneller. Wir haben bis jetzt bereits 36 neue Berufsbilder im Zusammenhang mit schon bestehenden Berufen geschaffen und sieben neue Berufsbilder im IT-Bereich formuliert. Auch freut es mich, dass im Rahmen des
Bündnisses für Arbeit 60 000 neue Arbeitsplätze gerade in
der IT-Branche zugesichert wurden. Ich denke, wir befinden uns auf einem guten Wege, wenngleich die Anforderungen an die Sozialpartner stetig steigen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
jetzt noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der mir
sehr am Herzen liegt. Es handelt sich um die Osterweiterung der EU. Ich glaube, dass auf uns alle - auf uns
Parlamentarier, aber auch auf die Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerschaft - eine große Verantwortung
in Bezug auf die Gestaltung dieses Prozesses zukommt.
Sie alle wissen, dass Polen, Tschechien und Ungarn im
Jahre 2004 erstmals an den Wahlen zum Europäischen
Parlament teilnehmen und die Beitritte vermutlich relativ
rasch vonstatten gehen werden. Auf der Internationalen
Tourismus-Börse konnte man sehen, wie sich gerade die
Tschechen, Polen und Ungarn - diese drei - auf den Beitritt vorbereiten und freuen. Mit dem Beitritt verbinden sie
eine Potenzierung von Freiheit und Wohlstand. Man bereitet sich ganz emsig darauf vor.
Ich beobachte mit großer Sorge, dass in unseren Grenzregionen - das hat mir Herr Pohl vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle auch noch einmal bestätigt mit dem Beitritt insbesondere von Polen assoziiert wird,
dass vermehrt „geklaut“ wird. Dieser Eindruck wurde leider bei manchen Büttenreden während des Karnevals
noch verstärkt. Hier war es immer der Pole, der klaut. Diesem Eindruck bei den Menschen in den Grenzregionen
müssen wir zunächst einmal entgegenwirken. Außerdem
müssen wir die dort herrschende Angst vor Lohndumping
abbauen. Schließlich glaube ich, dass es sich auch um eine
mentale Blockierung handelt, da es den Menschen dort
wirtschaftlich ja nicht so gut geht. Gut funktionierende,
grenzüberschreitende Kooperationen werden heute unter
der Decke gehalten, über sie wird in diesen Gebieten nicht
gesprochen, weil man lieber die Risiken als die Chancen
sehen will.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen; vielleicht wird
Ihnen dann deutlich, warum ich glaube, dass die Osterweiterung gerade für die fünf neuen Bundesländer,
aber auch für uns im Westen mehr Chancen als Risiken
birgt.
({3})
- Bitte? Erzählen Sie es doch laut. Ich möchte jetzt meinen Gedanken zu Ende entwickeln.
Ich war in der letzten Woche bei einem kleinen
Schreinerbetrieb in einer der Grenzregionen, in dem sehr
hochwertige Sachen hergestellt werden. Dieser Schreinerbetrieb, der nicht mit Holzfurnieren, sondern mit
Massivhölzern arbeitet, hat schon mehrere Aufträge von
Juwelieren in Polen zur Ausstattung ihrer Läden bekommen. Das zeigt - es gibt zahllose solcher Beispiele -, dass
die Polen bei uns sukzessive auch Qualität nachfragen
werden.
Ein weiterer Punkt ist - deshalb ist die Vereinbarung
von Nizza nicht nur gut für den Westen, sondern auch gut
für die Polen, Tschechen und Ungarn -, dass die Polen gerade bei den Ingenieuren und den IT-Spezialisten hoch
qualifiziertes Personal haben. Wenn es in Polen nicht innerhalb der vorgesehenen maximal sieben Jahre zu einer
Lohnangleichung kommt, werden die Fachkräfte von dort
abwandern. Wenn sie vorher schon weggehen, werden wir
Arbeitskräfte aus diesem Land bekommen. Ich will damit
sagen: Für den deutschen Mittelstand eröffnet sich in Polen, Tschechien und Ungarn ein riesiger Markt für Investitionen; es gibt dort nämlich ausgebildete Arbeitskräfte.
({4})
Wir tragen die Verantwortung gegenüber den Grenzregionen und der Bevölkerung hier, die Chancen und die Risiken, zuvörderst aber die Chancen dieser Osterweiterung, zu thematisieren. Wenn in diesem Prozess Ängste
aufkommen, weil wir nicht alle an einem Strang ziehen,
dann spricht das nicht für unsere Europapolitik. Herr
Fischer ist da mit unserer Unterstützung auf einem sehr
guten Wege.
Ich möchte, dass wir diese Debatte in einem positiven
Geist führen und dass wir ein bisschen von der Euphorie
übernehmen, die bei den Polen, den Ungarn und den Tschechen vorhanden ist. Ich rate Ihnen dringend, in dieser Angelegenheit einmal den ungarischen Wirtschaftsminister zu
sprechen. Dann würden Ihnen die Tränen kommen.
Reden Sie mit den Menschen! Fahren Sie in diese Regionen - wir tun das - und werben Sie für die Osterweiterung! Das sind wir unserer Geschichte und auch unserem Mittelstand schuldig.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({5})
Zu einer
Kurzintervention erhält der Kollege Hans Michelbach das
Wort.
Frau Staatssekretärin, ich habe gedacht, Sie würden in Ihrer Rede die Steuerreform kritisieren, so wie Sie es kürzlich im „Handelsblatt“ getan haben. Aber heute haben Sie anscheinend den
Mut verloren; denn Sie beten die steuerliche Ungleichbehandlung des Mittelstandes sozusagen gesund.
Wo sind denn die Steuergerechtigkeit, die Steuervereinfachung und die Entlastung für den Mittelstand geblieben? Tatsache ist doch, Frau Staatssekretärin, dass wir
eine mittelstandsfeindliche Steuerpolitik haben.
({0})
Tatsache ist, dass die Steuerquote auf 22,95 Prozent - das
ist der Höchststand - angewachsen ist. Tatsache ist auch,
dass die Zahl der Insolvenzen gestiegen ist und dass es in
der Steuerpolitik Wettbewerbsverzerrungen auf breiter
Front zulasten des Mittelstandes gibt.
Das Gesetz zur Senkung der Unternehmensteuer
bedingt Wettbewerbsverzerrungen bezüglich der Tarifspreizung und des Steuersatzes sowie Wettbewerbsverzerrungen durch eine Überforderung aufgrund einer
verschärften Gegenfinanzierung.
({1})
Damit finanziert der Mittelstand die Steuergeschenke insbesondere an die Großbanken hinsichtlich der Steuerfreiheit der Veräußerungsgewinne.
({2})
Zur Tarifspreizung: In meinem mittelständischen Betrieb zahle ich in den Veranlagungszeiträumen 2001 und
2002 33 Prozent mehr als der Konkurrent mit einer Kapitalgesellschaft.
({3})
Ist das gerecht? Im Jahre 2005 zahlt eine Personengesellschaft immer noch 18,2 Prozent mehr als eine Kapitalgesellschaft. Wenn ich einen Betrieb neu gründe und dann
Kapital in diesen neu gegründeten Betrieb verlagere, dann
muss dieses Kapital voll versteuert werden. Der Konkurrent mit seiner Kapitalgesellschaft wird bei einer entsprechenden Umstrukturierung völlig steuerfrei gestellt. Das
sind die Ungerechtigkeiten, die den Mittelstand treffen.
({4})
Es gibt das gleiche Problem bei der Gegenfinanzierung. Sie verschärfen die Abschreibungsbedingungen und
schaffen so neue Belastungen, die Investitionen erschweren. Das, sehr geehrte Frau Staatssekretärin, ist eine mittelstandsfeindliche Politik.
Wer investiert, wird durch Ihre Politik bestraft. Das ist
die Tatsache, die wir feststellen müssen.
({5})
Ich gebe
nunmehr dem stellvertretenden Ministerpräsidenten und
Minister für Arbeit und Bau des Landes MecklenburgVorpommern, Helmut Holter, das Wort.
Helmut Holter, Minister ({0}) ({1}): Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Wenn ein ostdeutscher Arbeitsminister in einer parlamentarischen Mittelstandsdebatte das Wort ergreift, dann könnte er es eigentlich kurz
machen. Wenn er sich auf einen ostdeutschen Kommentar
zu den vorliegenden Anträgen der Regierungsfraktionen
und der Union beschränkt, dann ginge es eigentlich noch
kürzer. Die neuen Bundesländer kommen nämlich in diesen Papieren so gut wie gar nicht vor. Schon aus diesem
kühlen Grunde kann ich mir nicht vorstellen, dass Vertreter ostdeutscher Interessen, wie die Mitglieder der PDSFraktion, den Vorlagen zustimmen werden.
Mich ärgert besonders, dass die Bundesregierung in Sachen Mittelstand Ost so etwas demonstriert wie - freundlich formuliert - hochdynamisches Abwarten.
({2})
Sie behandelt die „Chefsache Ost“ als Nebensache West.
Sie übersieht, dass der Aufbau Ost ein Verfassungsauftrag
ist. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Osten Deutschlands überhaupt nur eine Perspektive als Standort kleiner
und mittlerer Unternehmen, als eine Gründerregion hat.
Ich weiß, wovon ich rede; denn in Mecklenburg-Vorpommern fehlen im Vergleich zu Schleswig-Holstein
18 000 Unternehmen. Ich weiß, wie endlos der Weg zu
sein scheint. Ich weiß indes auch, welche Potenziale zwischen Ostsee und Erzgebirge brachliegen.
({3})
Die andere Seite der Medaille ist: In Mecklenburg-Vorpommern finden, bezogen auf die Einwohnerzahl, die
meisten Firmengründungen statt. Ich habe im vergangenen Jahr eine Veranstaltungsreihe über Existenzgründer
initiiert. Mit „Idee sucht Kapital - Kapital sucht Idee“ sind
diese Begegnungen überschrieben. Eingeladen wurden
Banker, Bildungsexperten, gründungswillige Menschen.
Ich habe Zuspruch erhalten. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Hunderte von Interessenten, die sich selbstständig machen wollen, zu diesen Veranstaltungen drängen.
Sie ließen sich beraten und erörterten Finanzierungen.
Allein aus der Arbeitslosigkeit heraus und von meinem
Ministerium gefördert haben sich in den vergangenen beiden Jahren 4 000 Menschen selbstständig gemacht.
({4})
Das ist eine Zahl, die, glaube ich, auch für den Willen in
Mecklenburg-Vorpommern steht, den Weg in die Selbstständigkeit zu unterstützen.
Im Osten sprießt ein Gründergeist, der im Westen
anscheinend unterschätzt wird. Ich kann Sie nur einladen:
Schauen Sie bei der nächsten Veranstaltung einmal
vorbei!
({5})
Man lernt dort über die neuen Länder und ihre Probleme
mehr als bei so manchen polittouristischen Sommertouren.
({6})
Es gibt eine ziemliche Einhelligkeit in dem Urteil, dass
die Mittelstandsförderung stärker den ostdeutschen Gegebenheiten angepasst werden muss. Wir brauchen alle
Kraft für eine neue Gründerwelle. Ostdeutsche sind fähig
und bereit, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen.
({7})
Wir brauchen für diese Kultur des Aufbruchs und der Unternehmungen aber die handfeste Unterstützung der Politik und übrigens auch die der Banken; denn es ist an
der Zeit, in die Idee, in das Konzept zu investieren, anstatt
das Bankrisiko durch mehrfache Absicherungen zu minimieren.
({8})
Vieles an Initiative, an Beschäftigung, an Existenzen
geht durch wirtschaftskriminelles Handeln verloren. Es
ist notwendig, dieses Handeln konsequent zu unterbinden
und den Betroffenen unbürokratisch zu helfen, wie es der
Antrag der PDS vorschlägt.
({9})
Im Osten gehen die Uhren etwas anders als im Westen.
Es gibt viele junge Unternehmen, die derzeit noch nicht
aus eigener Kraft überleben können. Eine sich selbst tragende Entwicklung der ostdeutschen Wirtschaft wird nur
durch mehr Forschung und Entwicklung in den Unternehmen möglich sein. Gerade hier sehe ich keine Konzepte der Bundesregierung.
({10})
Ich plädiere deshalb erstens für ein Innovationskonzept der Bundesregierung, das diesen Namen verdient
und auf das der ostdeutsche Mittelstand dringend wartet.
Innovationspolitik muss ebenso über die Förderung von
Forschung und Entwicklung hinausgehen wie über Ressortgrenzen.
({11})
Der ostdeutsche Mittelstand wartet nicht auf Konzepte
einzelner Ministerien, sondern auf ein schlüssiges Gesamtkonzept der Bundesregierung.
Lassen Sie uns Kompetenzzentren schaffen. Wir haben
die Chance, in den neuen Ländern europäische Kompetenzzentren zu schaffen. Die Bedingungen in den neuen
Ländern sind so ideal wie zu den Gründerzeiten. Ideen,
Liegenschaften und vor allem begeisterungsfähige Menschen warten darauf, sich einbringen zu können.
({12})
- Das ist die Frage, ob da die falsche Regierung ist. Wir
haben in Mecklenburg-Vorpommern Erfahrungen, die
sich sehen lassen können. Ich habe darüber gesprochen,
wie in Mecklenburg-Vorpommern Existenzgründungen
realisiert werden.
({13})
Ich schlage zweitens ein Aktionsbündnis Ost für Arbeit, Aufträge und Ansiedlungen von Unternehmen vor.
({14})
Der Hallenser Wirtschaftssenator Rüdiger Pohl hat Recht:
Ostdeutschland braucht keine weitere Kleinstaaterei, sondern gemeinsames Handeln. So unterschiedlich Sachsen
und Brandenburger sein mögen, so ähnlich sind doch die
Probleme auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich zu Bayern.
Das Bündnis könnte ostdeutsche Interessen bündeln. Ich
stelle mir, wohlgemerkt, eine konzertierte Aktion der ostdeutschen Länder vor, kein Kaffeekränzchen.
({15})
Dieses Aktionsbündnis könnte sich auf die Förderung
von regionalen Wertschöpfungsketten verständigen, den
Aufbau regionaler Netzwerke für die regionale Versorgung organisieren, auf Markterschließungsstrategien für
die mittel- und osteuropäischen Staaten eingehen und dabei gemeinsame Kontaktbüros der neuen Bundesländer in
den mittel- und osteuropäischen Staaten organisieren.
Und warum sollen Hermesbürgschaften nicht auch für
Mittelständler und kleine Unternehmen in den neuen Ländern vergeben werden?
({16})
Minister Helmut Holter ({17})
Drittens erlaube ich mir einen Vorschlag vor dem Hintergrund, dass der Arbeitsmarkt in Ost und West dramatisch auseinander driftet. Wenn jetzt nicht die Weichen
anders gestellt werden, dann droht ein Abriss Ost. Wer
kann, zieht schon jetzt der Arbeit hinterher, in den Westen
oder in den Süden. Im Nordosten ist jeder Fünfte ohne
Job. Wir brauchen eine Verschränkung, eine Verzahnung
von Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, meinetwegen
von Struktur-, Mittelstands- und Beschäftigungspolitik.
({18})
Wir brauchen auf die Probleme des Ostens zugeschnittene arbeitsmarktpolitische Instrumentarien. Dazu gehört
auch der Übergang von der Personen- zur Projektförderung.
({19})
Dazu gehören die Vereinfachung und die Überschaubarkeit der Instrumente. Dazu gehört das Ende der Förderung
mit der Gießkanne ebenso wie das Ende der Kürzung von
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mit der Heckenschere.
({20})
Ich bin der Überzeugung, dass sich Förderpolitik
zukünftig daran messen lassen muss, ob und wie sie sich
am regionalen Bedarf ausrichtet. Hier meine ich nicht die
großen Regionen, sondern die kleinen Regionen. Denn es
gibt in Sachsen Unterschiede zwischen dem Raum Dresden und der Lausitz und es gibt in meinem Land Unterschiede zwischen Westmecklenburg und Vorpommern.
Was sagen Sie einer 50-jährigen Mecklenburger Bäuerin, die sicherlich nicht mehr so bildungsfähig ist, dass sie
in einem biotechnologischen Hightechunternehmen unterkommen könnte. Sie wird sich auch nicht zur Softwareentwicklerin umschulen lassen können. Aber eines
will sie und kann sie: Sie kann und sie will arbeiten. Im
Nordosten waren im vergangenen Monat 184 000 Menschen arbeitslos gemeldet. Aber es gab eben nur 7 400 offene Stellen. Ich meine, es bedarf einer Strategie, um gering Qualifizierte wieder in Lohn und Brot zu bringen,
anstatt ihnen mit Leistungsentzug zu drohen.
({21})
Es geht mir nicht um Beschäftigungstherapie; es geht
um Wertschöpfung. Es geht darum, Arbeit zu finanzieren
und nicht Arbeitslosigkeit.
({22})
Es geht vielen ostdeutschen Frauen und Männern darum,
sich durch Sinn stiftende Arbeit bestätigt zu fühlen. Es
geht ihnen darum, ihren Beitrag zur Einheit zu leisten.
Meine Damen und Herren, ich will es bei diesen Vorschlägen im Kontext der Mittelstandspolitik Ost bewenden lassen. Die PDS, namentlich die Vorsitzende Gabi
Zimmer und auch der Vorsitzende der Fraktion hier im
Bundestag, Roland Claus, hat weitere Vorschläge auf den
Tisch gelegt. Beschränkt habe ich mich auf jene Vorschläge, die gegenüber anderen einen deutlichen Vorzug
haben. Es geht um die Bündelung der Kräfte. Nach meiner Einschätzung wird die Modernisierung der Wirtschaftsförderung in der Bundesrepublik ihre Generalprobe im Osten haben.
({23})
Nun noch ein Wort zur Schaffung von Arbeitsplätzen,
dem A und O. Ich habe mir das dänische Jobwunder vor
Ort angeschaut. Es beruht auf dem Bündnis von Politikern, Unternehmern und Gewerkschaftern. Bricht eine
der drei Säulen weg, geht also der Konsens verloren, ist
das Unternehmen am Ende. Auch daher mein Plädoyer für
Bündnisse.
Zum Schluss sei mir noch ein kleiner Fingerzeig gestattet. Ich habe jetzt fast zehn Minuten gesprochen, aber
keine einzige Sekunde über mehr Geld für Ostdeutschland. Dafür bitte ich Sie um Nachsicht.
Herzlichen Dank.
({24})
Ich erteile
das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Werner Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal zu dem einen oder
anderen Debattenbeitrag sagen: Lautstärke ersetzt keine
Argumente.
({0})
Wenn man, Herr Brüderle, Ihre Rede bemerkenswert finden soll, dann insbesondere unter dem Aspekt, dass die
Mikrofone dieses Saales auch solches bewältigen.
({1})
Nun zur Sache. Wenn man in diesem Land Mittelstandspolitik betreiben will - und wir wollen das aktiv machen,
seitdem wir die Regierung übernommen haben -,
({2})
dann muss man wissen, dass die Mittelstandspolitik in die
Grundzüge der Wirtschafts- und Finanzpolitik eingebettet
ist. Was die Wirtschafts- und Finanzpolitik dieses Landes anbelangt, waren Ende 1998 grundsätzliche Korrekturen in vielen Bereichen notwendig.
({3})
Diese Korrekturen zu machen ist Voraussetzung dafür,
wieder Mittelstandspolitik betreiben zu können. Ich will
Ihnen die Korrekturen in den Grundzügen nennen, damit
Sie sehen, in was die Mittelstandpolitik eingebettet ist.
Zunächst einmal war es dringend notwendig, die Mentalität, dass wir zunehmend von dem Geld unserer Kinder
leben können, zu beseitigen.
({4})
Minister Helmut Holter ({5})
Mit anderen Worten: Es musste wieder eine vernünftige
Haushaltspolitik gemacht werden mit dem Ziel, in einem
überschaubaren Zeitraum zu einem ausgeglichenen Haushalt zu kommen.
({6})
Zweitens. Wir müssen die Staatsquote senken. Es kann
nicht angehen, dass 50 Prozent der Wirtschaftsleistung
einmal durch die Hand des Staates gedreht werden. Das
ist feindlich gegen jede Wirtschaftspolitik. Deswegen
muss die Staatsquote systematisch gesenkt werden.
({7})
Wir werden die Staatsquote bis 2005 auf 44 Prozent gesenkt haben. Danach ist eine weitere Senkung möglich.
Eine Reform der Sozialsysteme war unter verschiedenen Überschriften dringend notwendig.
({8})
In Ihrer Regierungszeit hat sich eine systematische Flucht
aus den Sozialsystemen eingebürgert.
({9})
Vor diesem Hintergrund waren beispielsweise die 630Mark-Arbeitsverhältnisse oder die so genannte Scheinselbstständigkeit zu regeln. Es war eine Rentenreform
notwendig.
Ich will auch einmal daran erinnern: Hätten wir den
Rechtszustand, den Sie hinterlassen haben, nicht geändert, hätten ab 1. Januar dieses Jahres die Betriebe nicht
mehr unbegründet befristet einstellen können. Insofern
ist an dem, was Sie im Sozialbereich hinterlassen haben,
rundum eine Reform notwendig gewesen.
({10})
Es war eine Steuerreform notwendig; denn die Steuersätze, die wir bei Amtsantritt vorgefunden haben, waren
für unternehmerische Tätigkeit schlicht prohibitiv geworden.
({11})
Wir werden vor diesem Hintergrund den Eingangsteuersatz und den Spitzensteuersatz jeweils um 11 Prozentpunkte in Schritten senken.
({12})
Wir werden - wenn ich das vielleicht freundlicherweise noch erwähnen darf - darauf achten, dass die Steuerreform nicht, wie Sie immer behaupten, insbesondere
mittelstandsfeindlich ist,
({13})
wobei ich, Herr Michelbach, darum bitte, freundlicherweise die 33 Prozent Differenz, die Sie erwähnten, näher
zu begründen,
({14})
und zwar unter Würdigung der Tatsache, dass Kapitalgesellschaften eine Gewerbesteuer zahlen. Dann wird es
schon weniger.
({15})
Schließlich ist eine weitere Reform notwendig, die zu
den allgemeinen Reformen gehört: Wir müssen unsere
Wirtschaft auf das digitale Zeitalter vorbereiten. Die Vorbereitung auf das digitale Zeitalter ist eine Conditio sine
qua non, weil das zur Zukunftsfähigkeit unserer Volkswirtschaft schlechthin gehört.
Das ist der allgemeine Rahmen der Wirtschafts- und
Finanzpolitik, den wir begonnen haben, konsequent umzusetzen, und in den dann die Mittelstandspolitik eingebettet wird.
Die Mittelstandspolitik besteht aus zwei Bereichen. Ich
kann sagen, einerseits mache ich indirekte Mittelstandspolitik und andererseits direkte Mittelstandspolitik. Ich
will Ihnen Elemente der indirekten Mittelstandspolitik
nennen.
Wenn wir uns auch um die Großindustrie in diesem
Lande kümmern - beispielsweise indem wir die Luftfahrtindustrie fördern, uns um die deutschen Werften oder
auch um den Bergbau kümmern -, dann bedeutet das immer gleichzeitig, dass wir einer breiten Palette von mittelständischen Zulieferern die Zukunft sichern. Infolgedessen kann man nicht - wie das vorhin so anklang sagen, ihr macht nur Politik für die großen Bosse, sondern
die Politik für die industriellen Komplexe ist immer auch
eine indirekte Mittelstandspolitik.
({16})
Man kann es leider an der Entwicklung der Wirtschaft
in Ostdeutschland verfolgen. In Ostdeutschland fehlen
noch einige industrielle Komplexe,
({17})
die dort in die Landschaft hineingesetzt werden müssen und
um die sich dann ein aktiver Mittelstand gruppieren kann.
Eine andere Form indirekter Mittelstandspolitik sind
beispielsweise viele Aspekte der Energiepolitik dieser
Bundesregierung. Allein über das Energieeinspeisegesetz
im Allgemeinen
({18})
und insbesondere beispielsweise über die Förderung der
Nutzung der Sonnenenergie ist eine ganze Palette neuer
Tätigkeiten im Handwerk geschaffen worden.
({19})
Das Handwerk weiß, welche zusätzlichen Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsplätze es beispielsweise
durch die neue Energieeinsparverordnung schaffen kann.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was
heißt eigentlich heute direkte Mittelstandspolitik? Direkte Mittelstandspolitik umfasst folgende Schwerpunkte: Sicherung der Finanzierung, Technologietransfer,
Exportorientierung. Hinzu kommen einzelne Sonderpunkte. Ich will die drei wichtigsten Dinge nennen.
({20})
Die Sicherung der Finanzierung des Mittelstandes ist
eine der zentralen Herausforderungen insbesondere unter
dem Aspekt, dass der Bankensektor in sich ja auch nach
marktwirtschaftlichen Kriterien arbeitet. Es darf nicht so
kommen, dass der Mittelstand, insbesondere der kleine
Mittelstand, nicht mehr in der Lage ist, einen Kredit über
100 000 DM zu annehmbaren Zinskosten zu bekommen.
Wir haben Vorsorge getroffen. Ich darf heute dem Mittelstand, insbesondere dem kleinen Mittelstand, versichern,
dass seine Finanzierung zu vernünftigen Bedingungen
auch in Zukunft gesichert ist.
({21})
Der nächste Punkt. Wir müssen aufpassen, dass der
Mittelstand nicht durch die technologische Entwicklung
ins Hintertreffen kommt. Das heißt, wir müssen Programme entwickeln, um dem Mittelstand den technischen
Fortschritt nahe zu bringen; wir müssen den Technologietransfer zwischen den Forschungseinrichtungen und dem
Mittelstand bewerkstelligen.
({22})
Um solche Technologietransfers zu ermöglichen, haben
wir Programme aufgelegt. Dafür geben wir immerhin fast
1 Milliarde DM pro Jahr aus. Dass das nicht ohne Erfolg
ist, sieht man daran, dass das Beteiligungsprogramm für
technologieorientierte Unternehmen - das hat Herr Kolb
vorhin zu Recht in einem Zwischenruf bemerkt -, das es
1998 schon gab,
({23})
im Jahre 2000 das vierfache Volumen des Jahres 1998
hatte.
({24})
Das zeigt deutlich, dass der Technologietransfer in den
Mittelstand hinein funktioniert. Wir werden weiter daran
arbeiten. Gerade gestern haben Frau Bulmahn und ich ein
entsprechendes weiteres Programm vorgelegt.
Ich komme zu dem nächsten wichtigen Punkt. Wir leben in einer sich immer mehr globalisierenden Welt.
Diese Entwicklung darf am Mittelstand nicht vorbei gehen. Mit anderen Worten: Der Mittelstand selber muss
exportorientierter werden. Deswegen müssen wir beispielsweise das Instrumentarium der Hermes-Bürgschaften so gestalten, dass es der Mittelstand für sich nutzen kann. Da gibt es Nachholbedarf. Ferner müssen wir
bei der Messeförderung darauf hinwirken, dass mittelständische Betriebe die Möglichkeit der Messeförderung
zunehmend in Anspruch nehmen und sich auf den Auslandsmärkten präsentieren können.
Neben diesen drei wichtigen Punkten will ich Ihnen im
Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit des Mittelstandes einige Sonderpunkte nennen, die nicht unwichtig sind, beispielsweise die Frage: Wie sieht es mit der Zukunft der
Handwerksordnung aus? Da darf ich Ihnen sagen: Wir
haben in voller Übereinstimmung mit dem Handwerk erreichen können, dass die Handwerksordnung an sich nicht
geändert wird, dass aber ein vereinheitlichter Vollzug in
unserem Lande möglich ist. Wir haben mit dem Handwerk die inhaltliche Festschreibung einer flexiblen und
großzügigen Praxis bei der Anwendung der Handwerksordnung erreicht.
Ein anderer Sonderpunkt betrifft die Tourismusförderung. Ich bin sicher - ich habe ja die Zahlen gesehen, die
in die Haushaltsplanung eingestellt wurden -, dass dieser
Wirtschaftszweig zu Ihrer Regierungszeit völlig unterschätzt wurde. Er setzt in unserem Lande immerhin
280 Milliarden DM um und hat annähernd 3 Millionen
Arbeitsplätze. Deswegen werden wir dort einen Schwerpunkt setzen. Auch hier sind die Erfolgszahlen durchaus
ansehnlich: 1999 und 2000 haben die Übernachtungszahlen bei der deutschen Tourismuswirtschaft um annähernd
jeweils 10 Prozent zugenommen.
({25})
Insbesondere ist die Zahl der Übernachtungen ausländischer Touristen in unserem Land bemerkenswert.
Zum Schluss möchte ich auf die Arbeitsmarktbilanz zu
sprechen kommen. Ich darf darauf hinweisen, dass ich einen gewissen Widerspruch in Ihren Aussagen sehe. Auf
der einen Seite sagen Sie, diese Bundesregierung wäre
längst in der Lage, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken,
({26})
und auf der anderen Seite sagen Sie: Die Arbeitslosigkeit
hat nicht abgenommen. - Beides passt nun tatsächlich
nicht zusammen.
({27})
Deswegen will ich Ihnen noch einmal die Zahlen nennen. Im Februar 1998 hatte dieses Land leider 4,83 Millionen Arbeitslose und im Februar 2001 waren es 4,1 Millionen; das sind 700 000 Arbeitslose weniger.
({28})
Wenn ich heute Verbände des Mittelstandes besuche
- ich bin sehr häufig bei den Verbänden und noch öfter vor
Ort, bei den Kammern -, dann kriege ich natürlich die
eine oder andere Kritik zu hören. Man muss für VerBundesminister Dr. Werner Müller
ständnis werben. Denn wenn man so einen Bereich wie
die 630-Mark-Arbeitsverhältnisse neu regelt, ist das
zunächst für diejenigen, die sich an die bequeme Flucht
aus den Steuer- und Sozialsystemen gewöhnt haben, ein
Beschwernis. Zum Schluss wird es eingesehen und ganz
zum Schluss muss man nur die simple Frage stellen: Wollt
ihr die Zustände vom Herbst 1998 oder ist es heute besser? - Diese Frage wird eindeutig beantwortet. Es
wünscht sich niemand im deutschen Mittelstand die Zustände von Ende 1998 zurück.
Vielen Dank.
({29})
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht nun der Kollege Gunnar
Uldall.
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! Ach, Herr Minister, wenn die Mittelstandswelt doch so schön wäre, wie Sie sie soeben gezeichnet haben! Die Frau Staatssekretärin und Sie nennen
Programme, Statistiken und Pläne; aber die realen Auswirkungen Ihrer Politik auf den Mittelstand sehen ganz
anders aus.
({0})
Ich will drei Punkte nennen:
Das Wichtigste ist sicherlich die Steuerreform mit
ihren Vorteilen für die Großunternehmen und ihrer Benachteiligung der kleinen Unternehmen. Das ist praktische Politik gegen den Mittelstand!
({1})
Als zweiten Punkt möchte ich das Betriebsverfassungsgesetz mit seinen zusätzlichen Kosten für mittelgroße Unternehmen nennen. Das ist praktische Politik gegen den Mittelstand, Herr Minister!
({2})
Als Drittes möchte ich das Teilzeitarbeitsgesetz nennen, das durch seine Behinderung des Personaleinsatzes
vor allen Dingen mittelständische Betriebe trifft. Das ist
praktische Politik gegen den Mittelstand, Herr Minister!
({3})
Insofern kann ich nur sagen: Es wäre schön, wenn die
Welt so heil wäre, wie Sie sie beschrieben haben. Aber leider ist sie nicht so.
Ich will auf eine der Ursachen hinweisen: auf das Fehlen einer ordnungspolitischen Ausrichtung der Bundesregierung. Allein in den letzten drei Jahren - frühere Jahre
möchte ich jetzt gar nicht berücksichtigen - hat Schröder
seine wirtschaftspolitische Orientierungslinie viermal
geändert. Vor der Wahl warb er mit marktwirtschaftlichen
Thesen um die so genannte Neue Mitte. Nach der Wahl
wurde statt mehr Markt mehr Regulierung realisiert. Ich
nenne nur die Stichworte 630-Mark-Gesetz und Scheinselbstständigengesetz.
Dann erfolgte eine dritte Wendung: Nachdem Lafontaine
zurückgetreten war, wurde Neues in Bezug auf die
Marktwirtschaft versucht. Ich erinnere nur an das
Schröder/Blair-Papier. Im letzten halben Jahr kam es zu
einer vierten Wendung in der Wirtschaftspolitik der Regierung Schröder. Sie ist nun gegen den Markt ausgerichtet. Ich nenne ein paar Stichwörter: Betriebsverfassungsgesetz, Verlängerung des Postmonopols, Einschränkung
befristeter Beschäftigungsverhältnisse sowie Anspruch
des Arbeitnehmers, seine persönliche Arbeitszeit selber
festzulegen; das wird dann Teilzeitarbeitsgesetz genannt.
({4})
Das alles zeigt, dass in der Wirtschaftspolitik der Regierung keine klare ordnungspolitische Linie zu erkennen ist.
Das wirkt sich negativ auf die Marktentwicklung aus.
({5})
Wenn ein Unternehmen investieren will, dann braucht
es eine verlässliche und dauerhafte Wirtschaftspolitik.
Wenn es keine Verlässlichkeit gibt, dann wird es keine Investitionen eines mittelständischen Unternehmers geben,
der persönlich mit seinem Vermögen haftet. Bei einer
großen Aktiengesellschaft mag es so sein, dass die Investitionssummen höher sind als die in einem mittelständischen Betrieb. Aber da ist es meist nicht so, dass derjenige, der die Entscheidung trifft, auch mit seinem
persönlichen Vermögen haftet. Das ist das Besondere des
mittelständischen Betriebes.
Deswegen ist es gerade für den Mittelstand, der der
Motor für die Schaffung neuer Beschäftigung ist, wichtig,
dass in der Wirtschaftspolitik ein dauerhafter und zuverlässiger ordnungspolitischer Rahmen besteht. Den haben wir nicht, Herr Minister. Wir müssen uns daher nicht
wundern, dass jetzt die Konjunktur anfängt zu kränkeln.
({6})
Wir haben feststellen müssen, dass sich in Deutschland
zuerst das Geschäftsklima verschlechterte. Dann verschlechterte sich die Prognose und jetzt verschlechtern
sich die tatsächlichen Wachstumsraten, Herr Minister.
Diese Situation ist nun da und zeichnet sich nicht mehr irgendwo am Horizont ab.
Was sind denn die Ursachen dafür? Die erste Ursache
ist die große Enttäuschung über das richtige Wirken der
Steuerreform, die sich jetzt in den Betriebsleitungen, aber
auch bei den Mitarbeitern in den Betrieben immer mehr
ausbreitet. Die Menschen sind enttäuscht über das, was
ihnen als die größte Steuerreform aller Zeiten verkauft
worden ist.
({7})
Es bleibt deswegen in Deutschland auch der Konsumschub aus, den wir dringend brauchen.
({8})
Die zweite Ursache sind die politisch gewollte Verteuerung des Spritpreises durch die Ökosteuer und die hohen Nachzahlungen der privaten Haushalte für die Heizung.
Herr Uldall,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Vielleicht darf ich eben
noch diesen Satz zu Ende bringen, Herr Präsident.
Die Modellrechnungen, die wir angestellt haben, zeigen, dass im Durchschnitt pro Quadratmeter 1 DM mehr
an Heizkosten zu zahlen ist. Wenn man also eine 60 oder
70 qm große Wohnung unterstellt, sind es 700 bis
800 DM, die auf den Durchschnittshaushalt in Deutschland zukommen. Da frage ich nur: Wer soll das denn eigentlich bezahlen, meine Damen und Herren?
({0})
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Oswald Metzger?
Gerne.
Kollege Uldall, Sie sind anscheinend nicht in der Realität
angekommen, obwohl Sie das eben dem Wirtschaftsminister und seiner Staatssekretärin unterstellt haben.
({0})
Ich stelle die Frage. Warum schreibt denn bitte heute
das „Handelsblatt“ auf Seite 1: „Einzelhandel erwartet
Impulse durch die Steuerentlastungen.“ Es bezieht sich
auf eine Prognose vom Januar, wo die Wachstumsraten im
Einzelhandel das erste Mal wieder real über 2 Prozent gestiegen sind.
Die zweite Frage: Blenden Sie das weltwirtschaftliche
Umfeld aus? Sie haben doch als wirtschaftspolitischer
Sprecher Ihrer Fraktion in Ihrer Regierungszeit selber erlebt, dass Deutschland, obwohl die USA fast acht oder
neun Jahre lang Konjunkturlokomotive auch in Ihrer Regierungszeit waren, am unteren Ende der europäischen
Wirtschaftsentwicklung platziert war, während unsere
Regierung im letzten Jahr das größte Wachstum innerhalb
der letzten zehn Jahre zu verzeichnen hatte und heute die
Prognosen auch der internationalen Agenturen eher dahin
gehen, dass sich Europa mit Deutschland als größter
Volkswirtschaft von der Entwicklung in Japan und den
USA zwar nicht komplett abkoppelt, aber das weltwirtschaftliche Wachstum eher anhebt als drückt.
Herr Metzger, ich
schätze Sie sehr. Deswegen darf ich mich für diese beiden
Fragen herzlich bedanken.
Die erste Frage war: Wie kommt es, dass die Umsätze
im Einzelhandel steigen? - In die Umsätze des Einzelhandels werden natürlich auch die Umsätze an den Tankstellen eingerechnet. Wenn Sie die Ökosteuer oben draufsetzen, dann gibt es natürlich höhere Umsätze.
({0})
Deswegen müssen Sie einfach erkennen, dass ein großer
Teil dieser Umsatzzuwächse leider aufgeblasen ist.
({1})
Dem füge ich noch folgende Zahl hinzu, Herr Metzger:
Wir haben aktuell eine Preissteigerung von 2,6 Prozent.
Der private Haushalt muss also heute 2,6 Prozent mehr für
seinen Lebensunterhalt aufwenden als vor einem Jahr.
Das zeigt eben, dass es zu einer Aufblähung des Preisniveaus gekommen ist. Dann muss der Umsatz in den Einzelhandelsbetrieben um diese 2,6 Prozent gestiegen sein.
({2})
- Sie dürfen gleich noch eine Zwischenfrage stellen. Ich
möchte nur erst Ihre zweite Frage nach Deutschland im
internationalen Vergleich beantworten.
Herr Kollege Metzger, sehen wir uns einmal die Entwicklung an. Früher war Deutschland, wie Sie es ja auch
in Ihrer Frage richtig sagten, im europäischen Kontext immer eines der Länder mit den höchsten Wachstumsraten.
Wir lagen immer vorn.
({3})
Jetzt schauen Sie einmal, wie wir nun im Vergleich zu den
anderen EU-Staaten liegen. Da liegen wir ganz unten,
Herr Kollege! Dazu sage ich: Dies alles ist darauf zurückzuführen, dass Sie eine Wirtschaftspolitik der Beliebigkeit betreiben, aber keine klare ordnungspolitische Ausrichtung haben.
({4})
Herr Kollege Metzger.
Herr Kollege Uldall, auch ich schätze normalerweise Ihre
Argumentation;
({0})
aber jetzt sind Sie ausgewichen.
Ich frage Sie: Nehmen Sie nicht zur Kenntnis, dass der
Artikel heute im „Handelsblatt“ über den Einzelhandel
von realen Preissteigerungen spricht, also von solchen
nach Abzug der Inflationsrate, sodass der Einzelhandel
von realen Umsatzsteigerungen von über 2 Prozent ausgeht, und dass die Umsatzanstiege im letzten Jahr ohne
Tankstellen, ohne Kfzs, ohne Mineralölsteuer gerechnet
waren? Insofern ist Ihre Antwort nicht richtig.
Zum Zweiten: Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass
sich in der Regierungszeit von Rot-Grün in Berlin und am
Anfang in Bonn die Wachstumsraten in der Bundesrepublik Deutschland - mit Italien gemeinsam - innerhalb der
EU vom unteren Ende in das obere Mittelfeld bewegt haben und dass wir im letzten Jahr mit 3 Prozent im Ranking
innerhalb der EU deutlich höher lagen als zu Ihrer Regierungszeit.
Herr Kollege Metzger,
vielleicht können wir uns einmal auf Folgendes einigen:
({0})
Es ist richtig, dass der Einzelhandel die Erwartung, die
- ich sage - Hoffnung hat, dass es zu einer Nachfragesteigerung kommt.
({1})
Setzen wir uns dann einmal am Jahresende zusammen,
Herr Kollege, und dann werden wir beide sehr schnell
feststellen, wie die realen Zahlen geworden sind. Ich hoffe
ja sehr, dass wir einen ordentlichen Zuwachs haben werden, und gerade weil ich das hoffe, engagiere ich mich ja
jetzt auch hier, um der Regierung nahe zu legen, zu einer
besseren Wirtschaftspolitik zu kommen, Herr Metzger.
({2})
Meine Damen und Herren, wir haben die Rede
eines Landesministers aus Mecklenburg-Vorpommern
gehört.
({3})
Dies ist ja eine Debatte, in der der Mittelstand motiviert
werden soll. Deswegen, so meine ich, wäre es eigentlich
besser gewesen, hier nicht einen Minister aus einem Land
sprechen zu lassen, in dem die Entwicklung stagniert,
sondern einen Minister aus einem Land zu nehmen, in
dem die Wachstumsraten kräftig nach oben gehen.
({4})
Nun möchte ich nur sagen - Herr Holter hat ja, wenn
ich es richtig sehe, hier das zweite Mal gesprochen -: Herr
Holter, vor Ihrer Regierung - ich formuliere es einmal positiv - liegt noch eine große Aufgabe. Ihr Land ist zwar
nicht das letzte in der Statistik der Wachstumsraten der
deutschen Länder; das ist Sachsen-Anhalt und da brauchen wir gar nicht zu fragen, wer da regiert.
({5})
Aber Mecklenburg-Vorpommern hat nur 0,9 und Sachsen-Anhalt lediglich 0,8 Prozent Wachstum.
Nun greife ich einmal ein anderes Land heraus: BadenWürttemberg.
({6})
Das hat ein Wachstum von 4,2 Prozent!
({7})
Damit liegt das Wachstum in Baden-Württemberg um ein
Drittel höher als das durchschnittliche Wachstum in allen
deutschen Ländern, und es ist rund fünfmal so hoch wie
das Wachstum in Mecklenburg-Vorpommern. Aber das
wollen wir jetzt gar nicht vergleichen.
Dann gibt es in Bezug auf Baden-Württemberg noch
ein anderes interessantes Thema:
({8})
Baden-Württemberg ist das Land mit der niedrigsten Arbeitslosenquote.
({9})
Gerhard Schröder hatte kürzlich gesagt, 3 Millionen Arbeitslose seien sein Ziel; das wolle er jetzt bald erreicht
haben. Dann musste er sich sehr schnell mit seinen Versprechungen korrigieren, weil er diese nicht halten kann.
({10})
Gerhard Schröder braucht aber nur nach Baden-Württemberg zu gucken. Wenn ich die Zahlen Baden-Württembergs auf das ganze Bundesgebiet hochrechne, dann ist
dieses Ziel, das Gerhard Schröder inzwischen als nicht erreichbar bezeichnet hat, in Baden-Württemberg längst erreicht worden, es ist sogar weit übertroffen worden.
({11})
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Gern.
Herr Kollege Uldall, Sie haben
eben zu Recht festgestellt, dass Baden-Württemberg die
beste Arbeitsmarktsituation in der Bundesrepublik hat; sie
ist noch besser als in Bayern. Stimmen Sie mir zu, dass in
Baden-Württemberg Dr. Walter Döring der Wirtschaftsminister ist, den die F.D.P. stellt?
({0})
Herr Niebel, das ist richtig; das lässt sich ja gar nicht bestreiten. Aber es ist der Zusammenhang zu sehen zwischen Ministerpräsident
Teufel, der das hervorragend macht, dem Finanzminister
Stratthaus und der ganzen Stimmung in Baden-Württemberg. Die ist optimistisch ausgerichtet und deshalb bin ich
auch absolut sicher, dass diese Koalition am übernächsten
Sonntag bestätigt werden wird, Herr Niebel.
({0})
Nun möchte ich aber noch eines sagen: Es gibt auch einen Statistikfaktor, bei dem Baden-Württemberg ganz am
Ende liegt. Wir wollen hier ja ehrlich miteinander reden.
Es gibt also auch Punkte, bei denen Baden-Württemberg
den letzten Platz einnimmt. Das ist die Insolvenzrate. Ich
bin sicher, dass es dabei in Baden-Württemberg auch bleiben wird.
Wenn Baden-Württemberg ein eigenes Land innerhalb
der EU wäre,
({1})
dann wäre es im wirtschaftlichen Ranking der europäischen Länder ganz oben, in der Top-Gruppe, angesiedelt.
({2})
Sowohl beim Wachstum wie auch auf dem Arbeitsmarkt ist das Ländle eben Spitze. Die Gründe dafür sind
schnell herauszufinden. Es wird eine verlässliche, langfristig angelegte Wirtschaftspolitik betrieben und der Mittelstand spielt in dieser Wirtschaftspolitik eine größere
Rolle als anderswo. Das beides sind die Schlüssel zum Erfolg in der Wirtschaftspolitik.
Ich lege der Regierung Schröder, ich lege Ihnen, Herr
Minister, nahe, sich am Vorbild des Landes Baden-Württemberg zu orientieren. Dann wird es auch in Gesamtdeutschland nach oben gehen.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion der F.D.P. spricht der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich wende mich zunächst an
den Bundeswirtschaftsminister, Herrn Müller. Herr
Müller, Sie haben die Lautstärke kritisiert, mit der mein
Kollege Rainer Brüderle hier vorgetragen hat.
({0})
Ich kann nur sagen: Lautstärke zeugt von Leidenschaft.
Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über.
({1})
Im Gegensatz dazu war Ihre - ich kann es nicht anders
ausdrücken - absolut leidenschaftslose Vorlesung über
Wirtschaftspolitik ein weiterer Beweis für Ihre ebenso leidenschaftslose Parteinahme für den Mittelstand in wichtigen Fragen der Wirtschaftspolitik.
({2})
Ich habe mich natürlich auch gefragt, welche Botschaft
die Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung
heute an den Mittelstand aussenden wollte.
({3})
Diese sollte wohl lauten: alles im grünen Bereich. Aber
das kann allenfalls parteipolitisch gemeint gewesen sein.
Tatsächlich, Frau Wolf, verschlechtert sich die Stimmung
im Mittelstand nach zwei Jahren Rot-Grün dramatisch.
Dafür gibt es auch Gründe: Nicht nur, dass die Bauwirtschaft völlig daniederliegt - auch der Eigenheimbau
bricht jetzt ein -, nicht nur, dass die halbherzige Steuerreform, die Sie auf den Weg gebracht haben, nicht auf den
Konsum durchschlägt.Nein, Sie haben mit Ihrer Veränderung der AfA-Tabellen auch noch die Investitionsneigung verschlechtert. Auch der Export wird schwieriger.
Es ist nur eine Frage der Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, bis Ihnen das alles um die Ohren
fliegt.
({4})
Es ist sehr deutlich: Der Mittelstand in Deutschland hat
von diesem Bundesminister für Wirtschaft und dieser
Mittelstandsbeauftragten nichts zu erwarten. Er hat auch
aus dem Bundeskanzleramt nichts zu erwarten. Dort gibt
es eine Chefsache Holzmann; aber eine Chefsache Mittelstand gibt es ebenso wenig, wie es eine Chefsache Aufbau Ost gibt. Das halte ich für den eigentlichen Skandal.
({5})
Ich bekomme Zuschriften, in denen steht: „Das Maß ist
voll“, und das, Herr Minister, auch von Mitgliedern
Ihres Mittelstandsbeirates. Das heißt, es genügt nicht, die
Bedeutung des Mittelstandes zu beschreiben und zu
beschwören. Es kommt darauf an, welche Politik man
macht.
Ich will Ihnen dazu zwei Beispiele nennen. Das erste
Beispiel betrifft den Bürokratieabbau. Von den 60 Milliarden DM, die Rainer Brüderle genannt hat, entfallen
10 Prozent auf Aufwendungen für Statistikpflichten.
Diese Bundesregierung hat eine Dienstleistungsstatistik
neu eingeführt, die wir in der letzten Legislaturperiode
noch erfolgreich verhindert haben. So sieht Ihr Beitrag
zum Bürokratieabbau aus.
({6})
35 Prozent der Bürokratiekosten entfallen auf Aufwendungen, die die Unternehmen für den Vollzug der Sozialsysteme erbringen müssen. Sie haben mit Ihrem 630Mark-Gesetz in Deutschland Bürokratie pur eingeführt.
Wer das System der Freistellungen, die jährlich erneuert
werden müssen, kennt, wer weiß, dass dies permanent
verfolgt werden muss, wenn man die Grenzen nicht überschreiten will, der hat eine Ahnung davon, welcher Bürokratieaufwand hierdurch tatsächlich auf die Unternehmen
zukommt.
({7})
Das zweite Beispiel: Frau Kollegin Wolf, Sie haben auf
die Frage nach der Spielbank, die der Kollege
Dautzenberg gestellt hat, überhaupt nicht geantwortet.
Anscheinend haben Sie die Frage nicht ernst genommen.
Ich nehme die Frage sehr ernst, weil sie die Risikokultur
und die Risikobereitschaft in unserem Lande betrifft. Herr
Müller, einer Ihrer Vorgänger im Amt des Wirtschaftsministers hat gesagt: 50 Prozent der Wirtschaft sind Psychologie. Da frage ich: Wer soll nach dieser Äußerung des
Bundeswirtschaftsministers noch bereit sein, am Neuen
Markt zu investieren? Er müsste ja verrückt sein, wenn
Ihre Aussage richtig wäre.
({8})
Herr Minister Müller, die richtige Antwort wäre gewesen: Okay, der Neue Markt birgt Risiken, aber auch hohe
Chancen. Setzen Sie nicht 100 Prozent Ihres Kapitals im
neuen Markt ein, sondern nur 5 Prozent, und versuchen
Sie, diese Chancen auszuschöpfen. Das wäre ein Beitrag
zur Verbesserung der Risikokapitalkultur in Deutschland
gewesen. Nur über Eigenkapitalschwäche zu reden
genügt nicht. Man muss auch wirklich bereit sein, hier
entsprechende Unterstützungsarbeit zu leisten.
({9})
Im Gegensatz zur Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung habe ich nicht 20, sondern nur 4 Minuten
Redezeit. Ich möchte aber noch etwas zum Betriebsverfassungsgesetz sagen,
({10})
und zwar auch deswegen, Herr Müller, weil das derzeit
die Frage ist, die die Unternehmen in Deutschland am
meisten bewegt.
({11})
Sie - das sage ich insbesondere an die Adresse der roten Fraktion in diesem Hause - haben immer noch das
Bild vom Unternehmen mit dem Gewerkschaftsbüro neben der Betriebsratskantine vor Augen. Aber 99 Prozent
der Unternehmen in Deutschland gehören zum Mittelstand und 95 Prozent davon haben weniger als 20 Beschäftigte. Diese Unternehmen, in denen es auch ohne Betriebsrat gute Systeme praktizierter Mitbestimmung gibt,
mit brachialer Gewalt in die Mitbestimmung zu zwingen,
weil man eine Dankesschuld an den DGB erfüllen will,
halte ich für fatal. Das werden wir in diesem Haus auch in
Zukunft noch diskutieren.
Seien Sie sicher: Der Mittelstand hat eine Lobby in diesem Lande. Das ist aber nicht Rot-Grün, sondern die
F.D.P. Ich meine die F.D.P.-Fraktion in diesem Hause.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich gebe der
Kollegin Jelena Hoffmann für die Fraktion der SPD das
Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir im Bundestag
in bestimmten Abständen über die Rolle des Mittelstandes
in Deutschland diskutieren, unterstreicht die Bedeutung
kleiner und mittlerer Unternehmen und des Handwerks.
Es sind auch heute wieder viele Zahlen über den Mittelstand genannt worden. Man kann nicht oft genug wiederholen, dass fast drei Viertel aller Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer im Mittelstand tätig sind. In kleinen
und mittelständischen Unternehmen werden die meisten
Jugendlichen ausgebildet: fast 80 Prozent.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
in der Frage der Bedeutung des Mittelstandes sind wir uns
einig; darüber brauchen wir nicht zu streiten. Streiten werden wir uns aber darüber, wie man die Mittelstandspolitik
am besten gestaltet. Es ist mir klar, dass die Erwartungen
des Mittelstandes an unsere Politik sehr hoch sind. Doch
man kann nicht alles, was sich in mehreren Jahren angestaut hat, in zwei Jahren auflösen.
({0})
- Sie haben dies in 16 Jahren nicht lösen können.
({1})
Wir nehmen uns dieser Probleme an, Herr Kollege. Wir
sind auf gutem Wege, sie zu lösen.
Das zentrale Problem des Mittelstandes, das ich deshalb an erster Stelle ansprechen möchte, ist sicherlich die
Frage der Finanzierung. Dazu gehört auch die Förderung
von kleinen und mittleren Unternehmen und von
Existenzgründern. Hier ist es wichtig, das weiterzuführen,
was sich schon bewährt hat, zum Beispiel das ERP-Eigenkapitalhilfeprogramm und das ERP-Existenzgründungsprogramm.
Es ist aber auch wichtig, neue Akzente zu setzen.
Als ein Beispiel dafür kann ich das 1999 eingerichtete
DtA-Startgeldprogramm nennen, das speziell für kleine
Existenzgründer aufgelegt worden ist. Bereits 1999
wurden 46 Millionen DM aus diesem Programm ausgezahlt. Mit dem FUTOUR-Programm und Geldern aus
der Forschungsmilliarde werden technologieorientierte
Unternehmensgründungen - das ist wichtig - speziell in
den neuen Ländern gefördert und unterstützt. Gerade in
Ostdeutschland ist die Förderung von Existenzgründern
besonders notwendig, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Hauptförderinstrument der Bundesanstalt für Arbeit ist
das Überbrückungsgeld. Bis Anfang des Jahres sind im
Osten 200 000 Existenzgründer mit 2,2 Milliarden DM
gefördert worden. Noch eine wichtige Aufgabe für die
Bundesregierung ist es, dafür Sorge zu tragen, dass die
Kreditversorgung für kleine und mittlere Unternehmen finanzierbar bleibt. Auch unter Beachtung der Baseler Entscheidungen sollen Handwerker und Mittelständler Kredite zu angemessenen Konditionen erhalten.
({2})
Sehr wichtig in unserer Politik ist die Unterstützung
und Förderung der Innovationsfähigkeit der Unternehmen. Forschung und Innovation werden durch Zuschüsse,
Kredite und Beteiligungskapital gefördert. Im Haushalt 2001 haben wir die Mittel für Forschung und Entwicklung gegenüber 2000 um rund 80 Millionen DM auf
930 Millionen DM erhöht. Mit den Programmen Pro-Inno
und Inno-Net werden neue Möglichkeiten für Forschungskooperationen und Vernetzungen geschaffen.
Wichtig für die neuen Länder ist in diesem Zusammenhang die Initiative Inno-Regio. Damit wird die Zusammenarbeit von Bildungs- und Forschungseinrichtungen
sowie der Wirtschaft gestärkt.
({3})
Das Sonderprogramm zur Förderung von Forschung,
Entwicklung und Innovation in den neuen Bundesländern
wird bis zum Jahre 2004 auf hohem Niveau fortgeführt.
Ich könnte diese Liste mit Export- und Messeförderung, Förderung von New Economy, Tourismusförderung
und vielem mehr fortführen. Das sind wichtige Teile der
Mittelstandspolitik unserer rot-grünen Koalition. Die
Regierung betreibt eine Mittelstandspolitik, die der Bedeutung des Mittelstandes angemessen ist.
Das zweite Problem, das ich neben der Finanzierung
ansprechen möchte, hängt mit der EU-Osterweiterung
zusammen: Alle Forschungsinstitute kommen zu dem Ergebnis, dass Deutschland einer der größten Gewinner des
Erweiterungsprozesses sein wird.
({4})
Wir sind uns aber darin einig, dass es Anpassungsschwierigkeiten und Unsicherheiten geben wird. Deshalb ist eine
Unterstützung von staatlicher Seite notwendig; dies findet
auch statt.
Wir müssen aber auch die Sorgen von ostdeutschen
Unternehmen und Handwerkern, die sie natürlich haben,
wenn Sie an die Osterweiterung denken, ernst nehmen
({5})
und sie durch Aufklärung, direkte Unterstützung, aber
auch durch Sonderregelungen entkräften.
Das dritte Problem, das uns Unternehmer immer wieder vortragen, ist die bürokratische Regulierung unserer Wirtschaft. Dieses Problems nehmen wir uns an.
({6})
- Ja, ich wollte gerade darauf eingehen, Herr Kollege. Ich muss dazu sagen, dass die Bürokratie in unserem
Lande nicht in sieben Tagen und auch nicht in den letzten
zwei Jahren aufgebaut wurde. Außerdem müssen wir unterscheiden, über welche Bürokratie wir reden und welche
wir abschaffen wollen. Wir müssen in erster Linie ein
Gleichgewicht zwischen sozialstaatlicher Notwendigkeit
und unternehmerischer Freiheit erreichen. Die Bundesregierung ist in diesem Punkt auf einem guten Weg.
Es gibt bestimmt noch viele Punkte, die in einer Mittelstandsdebatte angesprochen werden müssen. Dazu
gehören unter anderem die Themen Zahlungsmoral, Steuerreform, Lohnkostenentlastung sowie Aus- und Weiterbildung. Auch wenn wir noch nicht alle Erwartungen des
Mittelstandes erfüllt haben, haben wir schon eine Menge
geschafft und angestoßen. Ich bin davon überzeugt, dass
wir auf dem richtigen Weg sind. Wir müssen diesen Weg
gemeinsam mit den kleinen und mittleren Unternehmen
sowie dem Handwerk konsequent weiterverfolgen.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich will es gerne zugeben: Da ich seit 35 Jahren selbstständig bin, war ich
heute Morgen sehr gespannt auf die erste Rede der neuen
Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung. Frau
Wolf, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede gesagt, Sie seien
der Meinung, der deutsche Mittelstand habe etwas anderes verdient als die Rede von Rainer Brüderle. Nach dem,
was ich von Ihnen gehört habe, bin ich der Meinung, der
deutsche Mittelstand hat eine andere Beauftragte als Sie
verdient.
({0})
Sie haben zu Beginn Ihrer Rede die in „Impulse“ veröffentlichte Studie erwähnt, nach der im letzten Jahr in
kleinen und mittleren Betrieben 339 000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden und in diesem Jahr etwa 660 000
neue Arbeitsplätze erwartet werden, während gleichzeitig
in den 100 größten Betrieben etwa 50 000 Arbeitsplätze
abgebaut wurden. Das war in Deutschland immer so: In
den 80er-Jahren wurden in den alten Bundesländern 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen, und zwar ausschließlich im Mittelstand. Auch damals ging in den großen Betrieben die Zahl der Beschäftigten zurück. Diese
Entwicklung setzte sich nach der Wiedervereinigung fort.
Selbst in der Rezession der Jahre 1993/94 wurden in Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten 700 000 neue
Jelena Hoffmann ({1})
Arbeitsplätze geschaffen, während in der Großindustrie
1,4 Millionen Arbeitsplätze abgebaut worden sind. Das
heißt im Klartext: Wer in der Arbeitsmarktpolitik in
Deutschland Erfolg haben will, muss eine Politik für und
nicht gegen den Mittelstand machen.
({2})
Ich will hier nicht mit Prognosen oder Kaffeesatzleserei argumentieren, sondern mich an Fakten halten. Der
Arbeitsmarkt in Deutschland ist aus den Fugen geraten:
Wir haben 5,9 Millionen Menschen, die offen oder verdeckt arbeitslos sind. Es ist festzustellen, dass das Arbeitsvolumen 1999/2000, gerechnet in Erwerbsstunden,
nach einem Aufschwung 1997/98 zum Stillstand gekommen ist. Herr Müller - leider ist er nicht mehr anwesend -,
in den Jahren 1999 und 2000 ist die Zahl der arbeitslosen
Menschen zwar - Gott sei Dank - um 391 000 zurückgegangen. Aber im gleichen Zeitraum ist das Erwerbspersonenpotenzial um 436 000 Menschen zurückgegangen.
Das heißt, die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt sind ausschließlich darauf zurückzuführen, dass mehr Arbeitnehmer in Rente gegangen sind, als junge Menschen in das
Erwerbsleben eingetreten sind.
({3})
Wer die Situation des Mittelstandes wirklich kennt, der
weiß, dass überall, von Hamburg bis nach München, von
Trier bis nach Leipzig, Facharbeitskräfte benötigt werden.
Trotzdem gibt es 1,5 Millionen offene Stellen. Zwar sind
offiziell nur 510 000 gemeldet. Aber um die wirkliche
Zahl der offenen Stellen zu ermitteln, rechnet man immer
das Dreifache. Des Weiteren stieg die Zahl der Überstunden im letzten Jahr auf den Rekordwert von 1,9 Milliarden. Der Umfang der Schwarzarbeit ist im letzten Jahr,
und zwar nicht nach meinen, sondern nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes, um 9 Prozent gewachsen. Das ist dreimal mehr als das offizielle Wirtschaftswachstum. Das Volumen des Umsatzes durch
Schwarzarbeit - Hansjürgen Doss hat die Zahl schon genannt - lag bei geschätzten 658 Milliarden DM.
Ich möchte eines ganz klar sagen: Die Zählweise bei
der Arbeitslosen- und Beschäftigungsstatistik ist in den
letzten zwei Jahren umgestellt worden: Die im Rahmen
von 630-Mark-Arbeitsverhältnissen Beschäftigten und
die Kurzteilzeitbeschäftigten werden jetzt zu den Beschäftigten hinzugerechnet und die über 58-jährigen Arbeitslosen werden nicht mehr zu den Arbeitslosen hinzugezählt. Aufgrund dieser Umstellung konnten Sie zwei
Jahre im Trüben fischen und die Arbeitsmarktzahlen
schönreden.
({4})
Die jetzt vorliegenden amtlichen Zahlen zeigen ganz klar:
Ihre gegen den Mittelstand gerichtete Steuer- und Arbeitsmarktpolitik ist gescheitert.
({5})
Ich möchte jetzt eine Feststellung aus dem Gutachten
der Sachverständigen zitieren, die von Ihrer Regierung
beauftragt worden sind:
Ein innovativer Schritt nach vorne wird nicht getan,
hier wird rück-reguliert.
Weiter heißt es:
Die desolate Lage des Arbeitsmarktes verlangt ein
offensiveres Vorgehen und eine konsistente Konzeption.
Davon kann keine Rede sein, im Gegenteil: Sie haben
nichts ausgelassen, was den Arbeitsmarkt neu reguliert
und den Mittelstand quält. Die Neuregelung der 630Mark-Jobs - darauf wurde heute schon vielfach hingewiesen - ist bis heute ein Riesenproblem für den Mittelstand, weil dem Arbeitsmarkt dadurch ein Stück
Flexibilität abhanden gekommen ist. Aber die Neuregelung ist auch ein Problem für die Arbeitnehmer. Diejenigen, die früher einen Zweitjob hatten, weil sie sich etwas
Besonderes anschaffen wollten, müssen heute die
630 DM zum Lohn, den sie in ihrem Hauptberuf bekommen, hinzurechnen. Während früher 630 DM brutto für
netto waren, bleiben heute nur noch 350 DM übrig. Viele,
die die 630 DM als Zusatzeinnahme eingeplant hatten, haben heute Probleme, ihren Neubau oder ihren Wohnungskauf zu finanzieren, weil ihnen das Geld aus dem 630Mark-Arbeitsverhältnis nicht mehr zur Verfügung steht.
({6})
Sie haben die Reform, die wir zum Zwecke der Deregulierung durchgeführt haben, zurückgenommen. Ich
nehme nur die Verschärfung des Kündigungsschutzrechtes als Beispiel. Davon sind 680 000 Betriebe in
Deutschland betroffen, die zwischen fünf und zehn Beschäftigte haben. Wenn man vom Mittelstand nicht wie
ein Blinder von der Farbe reden möchte, dann muss man
wissen, wie es in diesen Betrieben aussieht. Ich beschreibe Ihnen das einmal kurz: Wenn ein Handwerksmeister sechs Leute beschäftigt und einen siebten Beschäftigten einstellen möchte, weil er genug Aufträge hat,
dann möchte er den für lange Zeit einstellen. Wenn er aber
die Sorge hat, dass er den Mann in einem halben Jahr nicht
mehr vollbeschäftigen kann, dann lässt er die Finger davon, weil er befürchten muss, dass er unter Umständen
dessen Abfindung nicht zahlen kann, wenn er ihn entlassen muss. Das hat verheerende Konsequenzen: Es werden
Überstunden geleistet, weil sonst keine Ausweichmöglichkeiten bestehen, und keine Neueinstellungen vorgenommen.
Von der Wiedereinführung der Lohnfortzahlung im
Krankheitsfalle waren die großen Betriebe weniger betroffen; denn sie haben Tarifverträge vereinbart, an die sie
sich ohnehin nicht gehalten haben. Aber diese Wiedereinführung hat gerade im Mittelstand die Lohnzusatzkosten
enorm gesteigert, weil mehr Nichtarbeit bezahlt werden
muss.
({7})
Das hat die Lohnzusatzkosten mehr in die Höhe getrieben,
als die Sozialversicherungsbeiträge durch die Ökosteuer
- das behaupten Sie zwar immer - gesenkt worden sind.
Meine Damen und Herren, statt den viel zu starren Arbeitsmarkt zu deregulieren, machen Sie nicht nur das Gegenteil von dem, was die von Ihnen beauftragten Sachverständigen und wir sagen, sondern auch das Gegenteil
von dem, was Ihnen die OECD, der Internationale
Währungsfonds und die EG-Kommission sagen. Ich bin
informiert, dass die OECD zurzeit wieder einen geharnischten Bericht über den verkrusteten Arbeitsmarkt in
Deutschland erstellt, und höre, dass Regierungsmitglieder
versuchen, einen etwas harmloseren Bericht zu bekommen, als er von der OECD geplant ist.
Stattdessen geht Ihre - das sage ich bewusst - sozialistische Regulierungswut weiter:
({8})
Die Altersteilzeit wird neu geregelt. Die befristeten Arbeitsverträge werden nicht mehr so fortgeführt, wie man
sie hätte fortführen können. Es gibt einen voraussetzungslosen Anspruch auf Teilzeitarbeit. - All das ist im
Mittelstand nicht so einfach durchführbar.
Mit dem Betriebsverfassungsgesetz setzen Sie dem
Ganzen die Krone auf. Als Mittelständler will ich einen
Punkt herausstellen: Ihnen geht es nicht um Mitbestimmung, sondern nur um die Stärkung von Gewerkschaftsmacht.
({9})
Was ich Ihnen verüble, ist, dass Sie den Gewerkschaften
und den Funktionären über das Wahlrecht und über die
Wahlabläufe die Keule in die Hand geben wollen, dass sie
gegen den Willen der Mehrheit einer Belegschaft Betriebsräte in mittelständischen Unternehmen installieren
können.
({10})
Das ist Gift für den Arbeitsmarkt und die freie Entfaltungsmöglichkeit von Unternehmen.
Die Steuerreform ist und bleibt eine Reform zugunsten der Kapitalgesellschaften und zulasten der GmbHs.
Wer, wie unter Lafontaine begonnen und unter Eichel
vollendet, Unternehmen, nicht aber Unternehmer entlastet, wer sich anmaßt, zwischen guten und schlechten Gewinnen unterscheiden zu wollen, wer den entnommenen
Gewinn verteufelt, der will mit dieser Philosophie einer
Steuergesetzgebung entweder den deutschen Mittelstand
kaputtmachen oder der hat keine Ahnung vom deutschen
Mittelstand.
({11})
- Sie schütteln mit dem Kopf.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. - Der mittelständische
Unternehmer ist geprägt durch den Eigentümerunternehmer, der mit allem, was er hat, für sich, für seine Familie
und für seine Mitarbeiter haftet. Unternehmer und
Unternehmen sind nicht zu trennen. Wer versucht, über
das Steuerrecht oder andere ordnungspolitische Maßnahmen diese Einheit von Unternehmer und Unternehmen
trennen zu wollen, der bricht der deutschen Volkswirtschaft das Rückgrat.
({0})
Ich habe den Eindruck, dass diese gesellschaftspolitische
Veränderung von Ihnen gewollt ist; denn es war dieser Eigentümerunternehmer, der Deutschland nach dem Krieg
zum Wirtschaftswunder geführt hat.
({1})
Wenn dieser heute über die Steuergesetzgebung von seinem Betrieb getrennt wird, dann ist das ein Anschlag auf
unsere Gesellschaftsordnung in Deutschland.
Ich bedanke mich recht herzlich.
({2})
- Das ist kein dummes Zeug.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Lange, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue
mich darüber, dass wir eine Bundesregierung haben, die
Mittelstandspolitik als Querschnittsaufgabe unserer Politik versteht,
({0})
und zwar trotz schwieriger Rahmenbedingungen, trotz
Haushaltskonsolidierung - raus aus der Schuldenfalle! -,
trotz unseres steuerlich immerhin sehr teuren Programms
der Steuersenkung. Es ist deshalb kein Wunder - das will
ich Ihnen, Herr Kollege Rauen, auch einmal sagen -, dass
es in Deutschland keinen Mittelständler mehr gibt, der bereit wäre, sich nach dem Steuertarif Ihrer Regierung aus
dem Jahr 1998 besteuern zu lassen.
({1})
Das ist ein Erfolg dieser Bundesregierung, denn erstmals
gehen die Steuern in Deutschland herunter.
({2})
Ich kann mich auch nur wundern, Herr Rauen, dass Sie
hier wieder einmal das Betriebsverfassungsgesetz angeführt haben, weil noch am 11. September 2000, wiederholt am 14. September 2000, knapp ein Drittel Ihrer Fraktion, nämlich die Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU, ein
Positionspapier beschlossen hat - ich habe es hier bei
mir -, in dem auf Seite 8 steht: „Wir treten für ein vereinPeter Rauen
fachtes Wahlverfahren in kleinen und mittleren Unternehmen bis zu 100 Beschäftigten ein“.
({3})
Hiernach soll die Wahl eines Betriebsrats in einer Wahlversammlung erfolgen können, wobei diese selbstverständlich geheim zu erfolgen hat. Ich sage Ihnen: Das war
der Originalentwurf des Kollegen Riester. Er ist aufgrund
von Initiativen, die darauf abzielten, auf kleine und mittlere Unternehmen Rücksicht zu nehmen, geändert worden. Ich frage mich, wo das Drittel Ihrer Fraktion ist, das
eine andere Meinung vertritt.
({4})
Stattdessen wird hier Politik nach dem Motto „Polemik
vor allem“ betrieben.
Nehmen Sie vor allen Dingen zur Kenntnis, dass der
größte Arbeitgeber des Mittelstandes, nämlich das Handwerk, von diesen Änderungen zu 99 Prozent gar nicht betroffen ist! Warum nicht? Weil diese Änderungen nur für
Betriebe mit mindestens 100 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gelten. 99 Prozent der Handwerksbetriebe
haben weniger als 100 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Auch daran können Sie erkennen, wie wir im
Hinblick auf die Verhältnisse in kleinen und mittleren Unternehmen die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes
justiert haben.
Unternehmergeist, Eigenverantwortung, soziale Verantwortung und hohe Ausbildungsleistungen haben ganz besonders im Handwerk Tradition. Deshalb entfallen rund
80 Prozent der Gewerbefördermittel, das sind 209 Millionen DM, auf das Handwerk. Das Handwerk ist der größte
Arbeitgeber und auch der größte Ausbilder. Aus diesem
Grunde freut es mich, dass von den UMTS-Milliarden immerhin eine viertel Milliarde DM an die Berufsschulen
fließt, um sie fit zu machen und ihnen zu ermöglichen, den
Anschluss an moderne Technologien zu halten.
({5})
Dabei investiert der Bund - auch das will ich einmal sagen, weil es vorhin mehrmals erwähnt wurde - in BadenWürttemberg im Jahr 2001 23,94 Millionen DM und im
Jahr 2002 10,94 Millionen DM. Wie Sie sehen, profitiert
Baden-Württemberg von dieser Bundesregierung.
({6})
Für den Aufbau einer eigenen Existenz benötigt man
neben dem notwendigen Startkapital auch die Unterstützung durch sachkompetente Berater.
({7})
Um den Unternehmen den Zugang zu den oft lebenswichtigen Informationen zu erleichtern, werden von uns Beratungs-, Informations- und Schulungsangebote schwerpunktmäßig gefördert. Allein für das Handwerk sind im
Bundeshaushalt rund 35 Millionen DM vorgesehen. Diese
Förderung wird auch in Zukunft auf hohem Niveau fortgesetzt.
Wir haben - der Minister hat es bereits erwähnt - für
den wichtigen und größten Arbeitgeber, das Handwerk,
die Handwerksordnung europafest gemacht. Es ist dank
der Initiative des Bundeskanzlers in der Regierungskonferenz 2000 zu den institutionellen Reformen gelungen,
zunächst die Einstimmigkeit im Bereich der Berufsordnungen zu bewahren. Das war die Voraussetzung dafür,
um den nächsten Schritt zu vollziehen, nämlich die so genannten Guidelines zwischen Handwerk und Bundesregierung zu vereinbaren, die sicherstellen, dass wir auch in
Zukunft das Handwerk in Deutschland auf hohem Qualitätsniveau erhalten können. Das ist ein weiterer Erfolg
dieser Bundesregierung. Diese Politik wird dazu führen,
dass wieder mehr Gesellen bereit sind, den Meister zu machen und im Anschluss den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen.
Es freut mich ganz besonders, dass wir im Hinblick auf
die Reform des Meister-BAföGs Ende dieses Monats zu
einer Einigung kommen werden. Die Förderung wurde
bereits in diesem Jahr um 10 Millionen DM auf 80 Millionen DM erhöht. Wir werden weitere große Schritte vorangehen. Darüber haben wir eine Einigung getroffen, die
für die folgenden Jahre gilt. Mit der Novellierung werden
der Kreis der Geförderten und der Anwendungsbereich
der Förderung erweitert, die Leistungen werden verbessert, die Familien- und Existenzgründerkomponente wird
verstärkt und es wird auf eine vermehrte Teilhabe von ausländischen Fachkräften hingewirkt. Außerdem wird das
Verwaltungsverfahren vereinfacht. Zum Beispiel werden
zukünftig die Kosten des Meisterstücks ein Teil des Darlehens sein und ebenfalls bis maximal 3 000 DM in die Förderung einbezogen.
Wir werden darüber hinaus eine entsprechende Existenzgründungskomponente einbauen, gerade weil wir
der Tatsache Rechnung tragen wollen, dass in den nächsten fünf Jahren 500 000 Betriebe in Deutschland zur
Übernahme anstehen. Wir wollen alles dafür tun, dass diejenigen, die den Mut zu einer solchen Übernahme haben,
eine entsprechende finanzielle Unterstützung bekommen.
({8})
Deswegen werden wir den Darlehenserlass auf 75 Prozent
erhöhen. Dadurch stellen wir sicher, dass die Mutigen es
packen und sagen können: Jawohl, ich wage es; in
Deutschland lohnt es sich, Handwerker und Handwerksmeister zu werden.
({9})
Ich bin guter Hoffnung, dass wir auf dem Weg, die Mittelstandspolitik als Querschnittsaufgabe zum Wohle von
Handwerk und Mittelstand voranzubringen, weitergehen
können.
Ich danke Ihnen.
({10})
Christian Lange ({11})
Jetzt hat der Kollege
Ernst Hinsken, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die heutige
Debatte ist längst überfällig. Nicht ein einziges Mal in dieser Wahlperiode wurde das Thema Mittelstand im Rahmen einer Debatte auf die Tagesordnung gesetzt.
({0})
Die letzte Mittelstandsdebatte, die wir hier führten, liegt
etwa fünf bis sechs Jahre zurück.
({1})
Ich bedauere es sehr, dass bei dieser Mittelstandsdebatte der Bundeswirtschaftsminister Müller nicht zugegen
ist. Welche Bedeutung misst er dem Mittelstand bei,
({2})
wenn er sich nicht einmal drei Stunden Zeit nimmt, um
dabei zu sein, wenn hier einiges zurechtgerückt wird, was
er an Falschem von sich gegeben hat?
({3})
Seine Rede, meine Kolleginnen und Kollegen, hat sich
nämlich im Wesentlichen auf Zulieferbetriebe beschränkt.
Zum Mittelstand selbst hat er relativ wenig gesagt. Es war
enttäuschend.
({4})
Meine Damen und Herren, Sie haben den Wahlkampf
mit dem Slogan geführt, dass Sie etwas für die Neue Mitte
tun wollten, und damit auch die Wahlen gewonnen.
({5})
Sie lösen Ihr Versprechen durch moderne Folterinstrumente ein:
({6})
Erstens. Das 630-DM-Gesetz hat sich als reiner Kostentreiber, als Bürokratiemonster, als Arbeitsplatzvernichter und Konjunkturprogramm für Schwarzarbeit entpuppt.
({7})
Zweitens. Seit der Rücknahme der Kürzungen bei der
Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ist die Krankenquote wieder im Steigen begriffen.
Drittens. Durch die Schaffung des Gesetzes gegen die
so genannte Scheinselbstständigkeit wurde eine ganze
Generation von Existenzgründern abgestraft und es wurden Menschen ohne Not in die Arbeitslosigkeit getrieben
bzw. vertrieben.
({8})
- Herr Kollege Staffelt, wir waren früher einmal stolz darauf, Fachleute in alle Welt zu schicken; heute müssen wir
sie aus aller Welt holen, weil Sie eine so fehlerhafte Politik machen.
({9})
Vierter Problembereich, meine verehrten Kolleginnen
und Kollegen: Auch durch die Einschränkung befristeter Arbeitsverhältnisse wurde der Mittelstand belastet.
Die Unternehmer können nicht mehr so flexibel wie bisher auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Situation
in ihren Betrieben reagieren.
({10})
Fünftens. Die mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit in Zusammenhang stehende Einführung eines
„Teilzeitzwangs“ ist verheerend. In den Betrieben ist
keine vernünftige langfristige Personalplanung mehr
möglich.
({11})
- Hören Sie zu, damit Sie aus dem Gehörten etwas lernen
und daraus die notwendigen Schlüsse ziehen können.
Wenn Sie Anmerkungen haben, melden Sie sich bitte zu
einer Zwischenfrage. Ich bin gerne bereit, sie zuzulassen.
({12})
Sechster Problembereich: die Steuerreform. Von meinen Vorrednern Gunnar Uldall, Hansjürgen Doss und
Peter Rauen wurde bereits darauf verwiesen: Es führt einfach zu einer Benachteiligung des klassischen mittelständischen Personenunternehmers, wenn er anders besteuert
wird als ein Kapitalunternehmen.
({13})
Hier haben Sie sich auch wieder gegen den Mittelstand
entschieden und nichts Gutes für ihn gemacht.
({14})
Siebtens. Das Gleiche gilt für die Verschlechterung bei
den Abschreibungen. Die massive Verlängerung der Abschreibungsfristen, zum Teil um fast 30 Prozent, macht
praktisch die durch die Steuerreform erreichten Entlastungen eines mittelständischen Betriebes wieder zunichte.
({15})
Achtens: die Ökosteuer. Ich nenne ein Beispiel aus
dem Hotellerie- und Gastronomiebereich. Bei einem Betrieb mit bis zu 40 Betten schlägt sich die Ökosteuer in
Form einer Zusatzbelastung in Höhe von fast 10 000 DM
pro Jahr nieder. Diese muss umgelegt werden. Das Geld
fällt doch nicht wie Manna vom Himmel; es muss irgendwo herkommen. In diesem Bereich geht das nur, indem es auf die Preise draufgeschlagen wird. Dadurch wird
Urlaub in Deutschland nicht billiger, sondern zu guter
Letzt teurer. Dies steht im Gegensatz zum Jahr des Tourismus in Deutschland, das so vollmundig vom Bundeswirtschaftsminister verkündet wurde.
Neuntens: die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes. Ich erspare es mir, hier weitere Einzelheiten anzusprechen, weil die Probleme hier schon umfangreich
dargestellt wurden. Eines aber möchte ich Ihnen, verehrte
Frau Wolf und verehrte Frau Mascher, als Staatssekretäre
im Wirtschafts- und im Arbeitsministerium empfehlen:
Sagen Sie Ihren Ministern, sie sollten einmal ein Praktikum in einem kleinen Betrieb machen. Dann haben sie ein
besseres Feeling und mehr Verständnis für die Probleme
des Mittelstandes. Sie können dann auch feststellen, dass
Arbeitgeber und Arbeitnehmer in einem Boot sitzen, gemeinsam an einem Strang ziehen und nicht unbedingt auf
ein neues Betriebsverfassungsgesetz warten.
({16})
Es gibt hier - das möchte ich feststellen - Verschlechterungen am laufenden Band. Die jetzige Opposition hat
Großartiges für den Mittelstand geleistet.
({17})
Die Regierungsparteien dagegen haben sich wahrlich als
„Meister gegen den Mittelstand“ entpuppt.
({18})
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Bedeutung, die Sie dem Mittelstand tatsächlich beimessen, nicht
der Wirtschaftsleistung der mittelständischen Betriebe in
unserem Land entspricht. Im Gegenteil: In der Praxis
schwanken Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
Rot-Grün, zwischen einer glasklaren Gewerkschaftspolitik und Ihrer unverkennbaren Sympathie für Großbetriebe. Wer bleibt bei diesem konzeptionslosen Hin und
Her auf der Strecke? - Das ist doch niemand anderer als
der Mittelstand.
({19})
Es ist doch nicht wegzudiskutieren: Seit dem Regierungsantritt unternimmt die Schröder-Regierung alles nur Erdenkliche, um dem Mittelstand das Leben schwer zu machen.
({20})
Ist das der Dank an die Neue Mitte?
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Bundesregierung eine Mittelstandsbeauftragte berufen hat.
Wenn Sie, verehrte Frau Wolf, Ihre zentrale Aufgabe zu
Beginn Ihrer Tätigkeit so umschreiben - ich zitiere -: „Es
muss chic werden, selbstständig zu sein“, dann klingt das
zwar sehr populär. Aber mit der Realität hat das bislang
wenig zu tun.
({21})
Wissen Sie, warum? Ich will Ihnen die entsprechenden
Zahlen nennen - Sie, verehrter Herr Kollege Staffelt, haben vorhin falsche Zahlen genannt -: Im ersten Halbjahr
2000 ist die Zahl der Unternehmensgründungen in
Deutschland um über 8 Prozent zurückgegangen. Das
sind 30 000 Existenzgründungen weniger als im gleichen
Zeitraum des Vorjahres.
({22})
Wir brauchen ein besseres Klima für die Selbstständigen.
({23})
In Amerika werden junge, erfolgreiche Menschen mit
Beifall überhäuft. Bei uns werden sie mit Neid und Missgunst überschüttet. Wir müssen zusammenarbeiten, um
dies zu ändern. Leistung muss sich wieder lohnen.
({24})
Im Übrigen: Ein Volk, das aufhört, seine Leistung zu verbessern, muss anfangen, sich an eine schlechtere Lebensqualität zu gewöhnen. Auch diese Tatsache muss man in
das Gedächtnis eines jeden Einzelnen rufen.
({25})
Zudem belegt eine aktuelle Studie, dass die 100 größten Konzerne in diesem und im letzten Jahr über 50 000
Arbeitsplätze abgebaut haben, Herr Kollege Staffelt. Die
mittelständischen und kleinen Betriebe haben im gleichen
Zeitraum fast 1 Million neue Arbeitsplätze geschaffen.
({26})
- Einen Moment, bitte. - Deshalb weise ich besonders darauf hin, dass wir dem Mittelstand noch mehr Bedeutung
beimessen müssen, als dies bislang der Fall ist.
({27})
Ich gebe denjenigen Recht, die zum Beispiel jüngst in
verschiedenen Zeitungen, so in der „Welt“ vom 21. Februar 2001, hinsichtlich der Mittelstandspolitik geschrieben haben: „Das Fass ist voll!“
({28})
Es gilt daher, Maßnahmen zu ergreifen, um die Flexibilität und die Kreativität jedes Einzelnen besonders zu fördern. Kollege Rauen hat dies eben in seiner Rede ausgiebig getan. Ich möchte das noch einmal nachdrücklich
unterstreichen.
({29})
In der heutigen Zeit ist es dringend erforderlich, dass
wir die New und Old Economy verschmelzen und als
eine Einheit sehen. Der Fleischermeister um die Ecke hat
genau die gleichen Probleme wie der modernste Hightechbetrieb.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Jawohl, Frau Präsidentin, das mache ich gerne.
Ich möchte zum Schluss noch darauf hinweisen, dass
vor allen Dingen für den Mittelstand der Leistungsgedanke ein wesentliches Element ist.
({0})
Soziale Gerechtigkeit heißt, den Leistungswilligen nicht
zu bestrafen, sondern zu bevorzugen. Das heißt für mich,
die Faulen und Bequemen nicht zu unterstützen, sondern
den wirklich Schwarzen
({1})
- den Schwachen! - zu helfen. Wer fleißig ist und etwas
bringt, hat es langsam satt, dass andere es sich auf seine
Kosten gut gehen lassen.
Ich meine, dass gerade Sie von den momentanen Regierungsparteien endlich umsteuern und eine Mittelstandspolitik auflegen müssen, die von den Mittelständlern als
positiv anerkannt wird, damit diese wieder atmen können,
damit sie sich weiter entfalten können, damit sie die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft anzunehmen in der Lage sind, was zurzeit nicht der Fall ist,
weil Sie dem Mittelstand in den letzten zweieinhalb Jahren so viel Negatives angetan haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Als Letztem in dieser
Runde erteile ich dem Kollegen Reinhard Schultz, SPDFraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Den
wirklich Schwarzen helfen - das finde ich eine tolle Tagesparole. Herr Hinsken, darum geht es Ihnen natürlich.
Sie haben ein großes Problem damit, dass die Wahrnehmung Ihrer Zielgruppe, nämlich des Mittelstandes, von
der Wirklichkeit in Deutschland eine völlig andere ist, als
Sie sie hier beschreiben. Sie bekommen das auch nicht
mehr zusammen. Sie malen im Grunde genommen nur
schwarz, obwohl Ihre eigenen Leute natürlich zur Kenntnis nehmen, dass über Steuerreform, über MeisterBAföG, über viele andere Wege tatsächlich etwas für die
sehr vielen mittelständischen Existenzen und für die Einzelkaufleute im Lande getan worden ist.
({0})
Da hilft es auch überhaupt nichts, wenn Sie sich hier
hinstellen und - mit zum Teil sehr bösartigen persönlichen
Angriffen - versuchen, sich gegenüber der neuen Mittelstandsbeauftragten ins Bild zu setzen. So toll finde ich
das nicht, Herr Brüderle. Ich halte Sie eigentlich für einen
ganz netten Kerl. Aber wenn Sie zum Beispiel Minister
Müller vorwerfen, er sei ein Monopolminister, weil er in
einem großen Unternehmen unternehmerische Verantwortung getragen hat,
({1})
dann könnte man vielleicht darüber lächeln, wenn Ihre eigene Vita eine große unternehmerische Heldengestalt ausweisen würde. Aber Sie waren sehr erfolgreich im öffentlichen Dienst, vom Anfang bis zum Ende.
({2})
Auf welcher Seite der Ladentheke Sie - außer beim Brötchenholen - gestanden haben, bleibt mir aufgrund Ihrer
Vita verborgen.
({3})
Das darf man doch wohl einmal sagen. Ich finde, man
sollte Kritik nur dann anbringen, wenn man selbst etwas
Besseres zu bieten hat.
Ich bedanke mich ausdrücklich bei Frau Wolf, der
neuen Mittelstandsbeauftragten, für ihren Einstieg vor
dem Parlament, den ich für gelungen halte und der eine
gute Basis ist, unsere Mittelstandspolitik weiterzuentwickeln.
({4})
Es ist völlig schäbig, das abzuqualifizieren. In dieser Rede
waren eine Menge guter neuer Gedanken enthalten, die
wir auch im Parlament weiter verfolgen werden.
({5})
Im Mittelpunkt fast aller Oppositionsredner stand wieder das Märchen, die Steuerreform habe dem Mittelstand
und den Personengesellschaften geschadet und nütze
lediglich den großen Kapitalgesellschaften. Dieses Märchen ist völliger Blödsinn; es ist reiner Quatsch. Die meisten Unternehmen sind Personengesellschaften, die einkommensteuerpflichtig sind. Vor allem sie profitieren
vom abgesenkten Tarif und vom flacheren Tarifverlauf.
Wir senken den Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent auf
15 Prozent im Jahr 2005, den Spitzensteuersatz von
53 Prozent auf 42 Prozent
({6})
und wir erhöhen den Grundfreibetrag von 12 300 DM auf
15 000 DM. Das verändert die Kulisse für diejenigen, die
einkommensteuerpflichtig und zugleich unternehmerisch
tätig sind, ganz gewaltig. Darüber hinaus - das ist für viele
ganz entscheidend und schafft die Parität zu den Kapitalgesellschaften - haben wir die Möglichkeit geschaffen,
die Gewerbesteuer faktisch vollständig mit der Einkommensteuerschuld zu verrechnen. Dadurch stehen die
Personengesellschaften auch rechnerisch deutlich günstiger da als die Kapitalgesellschaften.
({7})
50 Prozent aller Personenunternehmen verdienen weniger als 50 000 DM; das darf man dabei nicht vergessen.
75 Prozent verdienen weniger als 100 000 DM, 95 Prozent
weniger als 250 000 DM. Kapitalgesellschaften werden
durch Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und Solidaritätszuschlag mit etwa 38 Prozent belastet. Ein verheirateter Personenunternehmer müsste am Ende eines Jahres
480 000 DM übrig haben, um eine solche steuerliche Belastung zu erreichen. Da aber 95 Prozent unter
250 000 DM liegen, kann man hier doch nicht ernsthaft
davon sprechen, dass Personengesellschaften benachteiligt seien. Das Gegenteil ist der Fall.
({8})
Lieber Herr Rauen, wenn Sie jetzt wieder das alte Märchen von den guten und schlechten Gewinnen herauskramen und einer Situation hinterher trauern, in der bestimmte gut verdienende Gestalten der Zeitgeschichte ihre
persönliche Steuerschuld selbst festsetzen konnten, indem
sie Abschreibungsmodelle und Verlustverrechnungen
in willkürlicher Größenordnung in Anspruch nehmen
konnten, dann herzlichen Glückwunsch! Ich bin genauso
wie die meisten ehrlichen Handwerker und Einzelunternehmer sehr dankbar dafür, dass dieser Missbrauch im
Steuerdschungel endlich beendet ist und die Steuern jetzt
entsprechend der Leistungsfähigkeit gezahlt werden.
({9})
Im Übrigen werden Verlustabschreibungen nicht unmöglich gemacht; wir begrenzen lediglich die Verlustübertragung von einer Einkunftsart auf die andere der Höhe
nach für ein Jahr. Insgesamt werden die Verluste im Laufe
der Jahre natürlich - wie in der Vergangenheit auch - gegen die positiven Einkünfte verrechnet werden können. Wir
haben allerdings den Missbrauch abgestellt. Das war ein
ganz wesentlicher Beitrag dazu, dass wir überhaupt in der
Lage waren, die Tarife so zu senken, wie wir es jetzt getan
haben, was sowohl für die abhängig Beschäftigten als auch
den vielen Einzelunternehmen und Personengesellschaften
zugute kommt.
Diese steuerliche Kulisse - gerade die Heraufsetzung
der Grundfreibeträge - ist eine gute Grundlage für junge
selbstständige Existenzen. Ich bin fest davon überzeugt,
dass wir einen riesigen Nachholbedarf haben - Frau Wolf
hat es dargestellt; in dem Entschließungsantrag der Koalition steht es auch -, was die Frage der Selbstständigen
in Deutschland angeht. Hier gibt es noch eine große Last
aus früheren Jahren. Bei uns beträgt der Anteil der
Selbstständigen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen
nur 10 Prozent. Der europäische Schnitt liegt bei 15 Prozent; andere Länder im Mittelmeerraum liegen aufgrund
ihrer Strukturen bei 25 Prozent, teilweise bei 32 Prozent.
Wir sollten uns zum Ziel setzen, den europäischen Durchschnitt von 15 Prozent tatsächlich zu erreichen. Dies
würde nicht nur eine Menge Kreativität freisetzen und
eine Menge Wertschöpfung ermöglichen, sondern es wäre
auch gerade in strukturschwächeren Gebieten ein ganz
entscheidender Beitrag zur Arbeitsmarktpolitik.
({10})
Denn die Selbstständigen sowie diejenigen, die sie beschäftigen, schaffen den Ersatz dafür, dass andere Strukturen allmählich wegbrechen. Das gilt für Ostdeutschland, aber auch für Kohlereviere an Rhein und Ruhr. Ich
kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen - in meinem
Wahlkreis wurde vor einem halben Jahr ein Steinkohlenbergwerk geschlossen -, dass die herkömmlichen Instrumente der Arbeitsmarktpolitik nicht helfen. Wir können
für diejenigen, die im System sind, alles sozialverträglich
regeln; den jungen Leuten, die in den Arbeitsmarkt drängen, müssen wir etwas anderes anbieten. Das wird neuer
Mittelstand, neue Selbstständigkeit sein. In diese Richtung wird unsere Regierungspolitik sowohl in dieser als
auch in der nächsten Wahlperiode fortgesetzt werden.
Vielen Dank.
({11})
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zu den Abstimmungen und Über-
weisungen.
Tagesordnungspunkt 3 a: Interfraktionell wird vorge-
schlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/5485 zur feder-
führenden Beratung an den Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie sowie zur Mitberatung an den Rechtsaus-
schuss, den Finanzausschuss, den Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung, den Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend, den Ausschuss für Angelegenheiten
der neuen Länder, den Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung, den Ausschuss für Tou-
rismus, den Ausschuss für die Angelegenheiten der Euro-
päischen Union und den Haushaltsausschuss zu überwei-
sen. - Dazu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksa-
che 14/5572. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Zusatzpunkte 2 und 3: Interfraktionell wird Überwei-
sung der Vorlagen auf Drucksachen 14/5545 und 14/5559
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 d sowie
Zusatzpunkt 4 auf:
23 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung soldatenversorgungsrechtlicher und anderer
Vorschriften auf Euro ({0})
- Drucksache 14/5436 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({1})
Innenausschuss
Reinhard Schultz ({2})
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. September 2000 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg über Zusammenarbeit
im Bereich der Insolvenzsicherung betrieblicher Altersversorgung
- Drucksache 14/5439 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung auf Euro-Beträge im Lastenausgleich und zur
Anpassung der LAG-Vorschriften ({4})
- Drucksache 14/5440 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Finanzausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Margrit
Wetzel, Reinhard Weis ({6}), Hans-Günter
Bruckmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Kerstin
Müller ({7}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
ILO-Übereinkommen über die soziale Betreuung der Seeleute ratifizieren
- Drucksache 14/5247 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 4 ({9})
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Peter
Paziorek, Marie-Luise Dött, Cajus Caesar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Prüfung der Umweltverträglichkeit den Erfordernissen einer modernen Umweltpolitik anpassen
- Drucksache 14/5546 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. - Damit sind Sie einverstanden. Damit sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zur Beschlussfassung über eine
Reihe von Punkten, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 2. Februar 2000 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 und die
Erleichterung seiner Anwendung
- Drucksache 14/5011 ({11})
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Vertrag vom 2. Februar 2000 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom
13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung
- Drucksache 14/5012 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({13})
- Drucksache 14/5563 Berichterstattung:
Abgeordnete Hedi Wegener
Norbert Geis
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5563 die
Annahme des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/5011.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5563 die
Annahme des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/5012.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 24 b der Tagesordnung auf:
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung von Vorschriften im land- und
forstwirtschaftlichen Bereich auf Euro ({14})
- Drucksache 14/4555 ({15})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
({16})
- Drucksache 14/5460 Berichterstattung:
Abgeordneter Meinolf Michels
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Dieser Gesetzentwurf
ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Es folgt die
dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Es
gibt keine Gegenstimmen und keine Stimmenthaltungen.
Der Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Ich rufe Punkt 24 c der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({17}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Hartmut Büttner
({18}), Dr. Paul Krüger, Günter Nooke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Einsatz von Bildauswertungssystemen bei der
Rekonstruktion vorvernichteter Stasi-Unterlagen
- Drucksachen 14/3770, 14/5430 Berichterstattung:
Abgeordnete Gisela Schröter
Hartmut Büttner ({19})
Grietje Bettin
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/3770 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Beschluss ist einstimmig für erledigt erklärt
worden.
Ich rufe Punkt 24 d der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({20})
Übersicht 7 über die dem Deutschen Bundestag
zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/5348 Der Ausschuss empfiehlt, zu den in der Übersicht 7 auf
Drucksache 14/5348 aufgeführten Streitsachen vor dem
Bundesverfassungsgericht von einer Äußerung oder einem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 24 e der Tagesordnung auf.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 248 zu Petitionen
- Drucksache 14/5468 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Bei Enthaltung der PDS ist die
Beschlussempfehlung zur Sammelübersicht 248 angenommen.
Ich rufe Punkt 24 f der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 249 zu Petitionen
- Drucksache 14/5469 Wer stimmt dafür? - Alle stimmen dafür. Damit ist die Beschlussempfehlung zur Sammelübersicht 249 angenommen.
Ich rufe Punkt 24 g der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 250 zu Petitionen
- Drucksache 14/5470 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Bei einigen Enthaltungen und einigen Gegenstimmen ist die Beschlussempfehlung zur
Sammelübersicht 250 angenommen.
Ich rufe Punkt 24 h der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 251 zu Petitionen
- Drucksache 14/5471 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung zur
Sammelübersicht 251 ist angenommen.
Ich rufe Punkt 24 i der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 252 zu Petitionen
- Drucksache 14/5472 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung zur
Sammelübersicht 252 ist angenommen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Ich rufe Punkt 24 j der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 253 zu Petitionen
- Drucksache 14/5473 -
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich der Stimme? - Auch die Beschlussempfehlung
zur Sammelübersicht 253 ist angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({27})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Waldzustandsbericht der Bundesregierung
1999 - Ergebnis des forstlichen Umweltmo-
nitoring -
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion
der CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Waldzustandsbericht der Bundesregierung
1999 - Ergebnis des forstlichen Umweltmo-
nitoring -
- Drucksachen 14/3090, 14/3095, 14/4235 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Heidi Wright
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Waldzustandsbericht der Bundesregierung
2000 - Ergebnis des forstlichen Umweltmonitoring - Drucksache 14/4967 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({28})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Zum Waldzustandsbericht liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist
für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Dagegen höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen also jetzt zum Waldzustandsbericht. Wer
hier bleiben möchte, möge sich hinsetzen; wer bedauerlicherweise den Raum verlassen will, möge sich dabei beeilen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Heidi Wright für die SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer glaubt,
jetzt, bei der Debatte zum Waldzustandsbericht, etwas entspannt wegnicken zu können, den muss ich enttäuschen.
Dem Wald geht es nicht gut. Es geht ihm seit Jahren, seit
Jahrzehnten schlecht. Nach einer gewissen Stagnation und
Erholung nach der deutschen Wiedervereinigung ist jetzt
erneut ein leichter Anstieg der Schäden zu verzeichnen.
({0})
Die neuartigen Waldschäden kommen in die Jahre; wir
haben sie keinesfalls besiegt. Nationalen Anstrengungen
und Erfolgen bei den Luftreinhaltemaßnahmen folgen internationale Rückschläge und Misserfolge. Die Bundesregierung hat Ende letzten Jahres ein Klimaschutzprogramm aufgelegt und somit den Schutz des Klimas
und den Schutz des Waldes zu einer Kernaufgabe rot-grüner Regierungspolitik gemacht.
({1})
Die Führungsrolle der Bundesregierung und das Vorangehen mit den nationalen Programmen sind von besonderer Bedeutung. Denn die 6. Weltklimakonferenz im
November in Den Haag zeigte die ernüchternde Lethargie
der internationalen Weltgemeinschaft. Es nutzt uns nichts,
auf die anderen zu warten; wir müssen selbst handeln.
Dem Klimaschutzprogramm vom Oktober 2000 mit
dem Ziel der weiteren verstärkten CO2-Minderung ging
das gesamte Paket zur Förderung erneuerbarer Energien
und das EEG voraus. Es folgten das Förderprogramm zur
CO2-Minderung im Gebäudebestand, das Altbausanierungsprogramm und die Energieeinsparverordnung. Das
ist alles in allem ein starkes Paket mit einer klaren politischen Zielrichtung.
({2})
Die neue Energiepolitik setzt auf Energieeinsparung, auf
Energieeffizienz und somit auf Luftreinhaltung und Klimaschutz.
({3})
Ferner setzt die neue Energiepolitik auf den Einsatz erneuerbarer Energien.
Alles dies kommt dem Wald und der Forstwirtschaft
mittelbar oder unmittelbar zugute,
({4})
zum einen durch Reduzierung der Umweltbelastungen,
zum anderen durch verbesserten Absatz des nachwachsenden Rohstoffs Nummer eins, des Holzes.
({5})
Mit großer Begeisterung, sehr verehrte Kolleginnen
und Kollegen, kann ich Ihnen von der Kampagne der Bayern-SPD berichten. Unter dem Motto „Schalt´ die Zukunft
Vizepräsidentin Anke Fuchs
ein“ ziehen wir mit der neuen Energiepolitik, mit Sonne,
Biomasse, Windkraft und mit guter Stimmung durchs
Land. Wir erreichen nicht nur innovative Häuslebauer und
Häuslesanierer; wir erreichen die Handwerker, die
Agenda-21-Gruppen und insbesondere die Waldbesitzer,
({6})
die Forstbetriebsgemeinschaften und den Holz- und
Brennstoffhandel. Holzhackschnitzel und Holzpellets feiern fröhliche Urständ und die Nachfrage boomt.
({7})
Dies ist zum einen Folge der Preisentwicklung auf dem
Mineralölmarkt, aber insbesondere auch Folge der zielgerichteten Förderpolitik der Bundesregierung. Bei einem
Preisäquivalent zum Liter Heizöl von rund 30 Pfennig bei
Holzhackschnitzeln und rund 60 Pfennig bei Holzpellets
rechnen sich die Neuanschaffung und Umrüstung auf
Holz für zukunftsorientierte Energieverbraucher allemal.
Ich hatte letzte Woche eine tolle Veranstaltung mit den
Unterglasgärtnern. Die befinden sich in besonderer
Drangsal. Wir tun viel für sie.
({8})
Aber auch die tun etwas: Sie setzen unsere innovativen
Regierungsvorlagen in der praktischen Anwendung um.
Sie werden auf Holzhackschnitzel umsteigen.
({9})
Die Krux ist natürlich, dass der deutsche Angebotsmarkt für Technik und für Holzpellets wegen der Versäumnisse in der Vergangenheit und der sträflichen Vernachlässigung des Energieträgers Holz arg zurückliegt.
Aber die Aufbruchstimmung greift: Die Branche etabliert
sich auch in Deutschland. Das zeigt sich an Angebot und
Nachfrage, zum Beispiel auch an der Holz-Energie 2001,
einer Fachmesse, die in Deutschland erstmalig als Leitmesse zum Thema Holzenergie stattfinden wird.
({10})
Doch ich will noch einmal auf den Waldzustandsbericht 2000 und die unabdingbare Notwendigkeit weiterer
Maßnahmen zur Luftreinhaltung und zur Verbesserung
der Waldpolitik zurückkommen. Ich will vier Punkte nennen:
Erstens. Im Verkehrsbereich, der nach wie vor mit einer der Hauptverursacher von Emissionen ist, machen wir
Fortschritte. Die verkehrsbedingten Schadstoffbelastungen gehen zwar trotz der Reduzierung des Flottenverbrauchs und verbesserter Abgasminderungstechniken
nicht zurück. Die frohe Botschaft aber lautet: Die Ökosteuer greift.
({11})
Klar betont werden muss jedoch: Gerade im Verkehrsbereich sind weitere Reduzierungsmaßnahmen dringend
notwendig.
Zweitens. Auch die aus der Landwirtschaft emittierten
Ammoniakfrachten sind zu verringern. Wenn nicht jetzt,
wann dann wollen und müssen wir die Landwirtschaftspolitik stärker auf den Prüfstand der Umweltverträglichkeit, der Schadstoffminderung und somit des Klimaschutzes stellen?
Drittens. Mit der Auflage eines Nationalen Forstprogrammes ist der gesellschaftliche Dialog zur Förderung
nachhaltiger Waldpolitik verbreitert worden. Dieser Dialog ist konkret fortzuentwickeln. Deutschland als relevantes Waldland in Europa kann und muss im internationalen Dialog mit dem Nationalen Forstprogramm
Zeichen für eine verbesserte Waldpolitik setzen.
Viertens und letztens. Was wäre die Walddebatte in der
heutigen Zeit, am heutigen Tag, ohne Blick auf die Verbraucher und ohne die Mithineinnahme der Bevölkerung
und der Gesellschaft in den Schutz des Ökosystems?
Dafür muss der Verbraucher jedoch mehr sehen als den
schweigenden Wald, den er in Buche, Eiche und Fichte
unterscheidet und dessen Schutz und naturnahe Bewirtschaftung ihm ein Anliegen ist.
({12})
Eine Forstzertifizierung ist ein modernes Instrument
zur Imageverbesserung durch die Darstellung naturnaher
Waldwirtschaft.
({13})
Die moderne Verbraucherin weiß inzwischen, dass Vertrauen gut, Kontrolle aber besser ist. Deshalb werden auch
an Forstzertifizierungsverfahren hohe Ansprüche im Hinblick auf Transparenz und Glaubwürdigkeit gestellt. Die
Zertifizierung soll die Forstwirtschaft zu einer stetigen
Verbesserung ihrer Bewirtschaftungspraktiken anregen.
Seitens der jetzigen Regierungsfraktionen wurde die
Notwendigkeit eines anspruchsvollen Zertifizierungssystems bereits vor Jahren erkannt. Diesen Prozess werden
wir auch in Zukunft begleiten.
Ich danke Ihnen.
({14})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Peter Bleser, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Wald ist ein Bioindikator.
Kranke Bäume zeigen an, in welchem Zustand sich unsere
Umwelt und speziell unsere Atmosphäre befinden.
({0})
Die Menschen atmen die gleiche Luft wie die Bäume im
Wald. Insofern ist der Schutz des Waldes auch ein Schutz
des Menschen. Dies war immer Grundlage einer CDU-Umweltpolitik in der Vergangenheit und wird es auch in Zukunft sein.
({1})
Aus dem diesjährigen Waldzustandsbericht wird deutlich, dass der Anteil der erhebliche Schäden aufweisenden
Bäume in den 90er-Jahren von 30 Prozent in 1991 auf
21 Prozent in 1998 zurückgegangen ist.
({2})
Seit 1998 haben wir wieder einen Anstieg auf nunmehr
23 Prozent zu verzeichnen. Ich will Ihnen diesen Anstieg
gar nicht anlasten; das tue ich nicht. Aber es ist nicht zu
verkennen, dass wir eine Fortsetzung des positiven Trends
nicht mehr verzeichnen können - und das wiederum laste
ich dieser rot-grünen Regierung an.
({3})
Auffällig ist, dass die Schäden in den Fichten- und Kiefernwäldern deutlich zurückgegangen sind, und zwar unter das Niveau von 1984. Dagegen haben wir in den Laubwäldern Steigerungen bis auf 40 Prozent, was sehr zu
beklagen ist.
Wir können also eine allgemeine Tendenz zur Verbesserung des Waldzustandes feststellen; aber von Entwarnung - darin sind wir uns wohl alle einig - können wir bei
weitem nicht sprechen.
({4})
Die Tatsache aber, dass wir den heutigen Zustand erreicht
haben, verdanken wir der größten, konsequentesten und
erfolgreichsten Umweltpartei Deutschlands, nämlich der
CDU/CSU.
({5})
Es waren unsere umweltpolitischen Leistungen in
den 80er- und 90er-Jahren, die zu einer Reduzierung der
Schäden geführt haben. Ich nenne unser Aktionsprogramm „Rettet den Wald!“ von 1983. Ich erinnere an
das Bundes-Immissionsschutzgesetz, an die Großfeuerungsanlagen-Verordnung, die TA Luft von 1986, die
Kleinfeuerungsanlagen-Verordnung, die wir 1996 noch
einmal verschärft haben. Ich erinnere an den Katalysator.
Ich erinnere an die Einführung des schadstoffarmen Diesel und ich erinnere an das Ozongesetz von 1995. Ich erinnere auch an die sehr erfolgreiche Einführung der
schadstoffbezogenen Kfz-Steuer von 1997, die ein
Riesenerfolg war und zu einem großen Boom von Autos
mit geringem Benzinverbrauch geführt hat.
({6})
Darüber hinaus haben wir auf zahlreichen internationalen Konferenzen - insbesondere mit unseren Umweltministern Töpfer und Merkel - weltweit Standards
gesetzt. Lassen Sie mich hier einmal innehalten. Wenn Sie
sich die Namen Töpfer und Merkel noch einmal zu Gehör
bringen, dann bitte ich zu bedenken, welchen Klang diese
Namen im Verhältnis zu dem aktuellen Umweltminister
haben:
({7})
Während die einen weltweit Standards gesetzt haben, fällt
der aktuelle Umweltminister - ich betone besonders: der
aktuelle - dadurch auf, dass er durch flegelhaftes Verhalten in die Medien kommt.
({8})
Auch wegen unserer umweltpolitischen Leistungen bin
ich stolz, Deutscher zu sein - um das an dieser Stelle deutlich zu sagen!
({9})
Noch einmal zurück zu den internationalen Konferenzen. Ich erinnere an das Helsinki-Protokoll, das die
europäischen Staaten dazu verpflichtete, die Schwefeldioxidemissionen bis 1993 um 30 Prozent gegenüber dem
Standard von 1980 zu verringern. Wir haben diesen Wert
mit einer Reduzierung um 60 Prozent weit übertroffen.
Ich erinnere an das Sofia-Protokoll, das seit 1991 in Kraft
ist. Damals hatten wir uns verpflichtet, die Stickstoffemissionen bis 1994 auf den Stand von 1987 zurückzuführen. Auch diese Verpflichtung haben wir mit einem
Rückgang von 30 Prozent übererfüllt. Wir haben uns auf
der Weltklimakonferenz in Kioto verpflichtet,
({10})
die CO2-Emissionen bis 2005 um 25 Prozent zurückzuführen.
({11})
Während unserer Zeit - bis 1998 - haben wir von diesem
Ziel 60 Prozent geschafft.
({12})
Seitdem gibt es eine Stagnation und das haben Sie zu verantworten.
({13})
Nach wie vor gibt es seitens der SPD und der Grünen
kein Konzept, diese internationalen Verpflichtungen
wirklich einzuhalten. Anstatt durch Anreize, wie wir das
machen würden, die Kreativität der Menschen zu fördern,
den Energieverbrauch zu senken, die Emissionen zu verringern, neue Energieträger zu erschließen sowie die Nutzung regenerativer Energien stärker zu fordern und zu förPeter Bleser
dern, setzt diese Bundesregierung auf ein ganz plumpes
Instrument, nämlich eine Strafsteuer.
Dabei verfehlt die Ökosteuer eine Lenkungsfunktion
schon deswegen, weil Sie die energieintensiven Bereiche
ausschließen. Noch gravierender ist die Verwendung der
Einnahmen aus der Ökosteuer. Anstatt umweltverträgliche Energien zu fördern, stopfen Sie damit schlicht und
einfach Haushaltslöcher. Das ist die Wahrheit. Daran lässt
sich auch nichts ändern.
({14})
Diese Strafsteuer schädigt - das sage ich noch einmal
ganz deutlich - die Bürger auf dem flachen Lande. Deshalb sind wir nach wie vor für eine Abschaffung der Ökosteuer.
({15})
Darüber hinaus hat uns die Bundesregierung mit ihrem
so genannten Energiekonsens den Ausstieg aus der
Kernenergie beschert. Sie sind bis heute der Bevölkerung eine Erklärung dafür schuldig geblieben, wie Sie
diese CO2-neutrale Energieerzeugung durch eine umweltfreundliche Energie ersetzen wollen. Das haben Sie bisher nicht geschafft. Darauf warten wir auch in den nächsten Monaten.
({16})
Als Alternative die Fortschreibung unserer Ansätze im
Stromeinspeisungsgesetz durch ein - wie heißt es? - Erneuerbare-Energien-Gesetz
({17})
aufzuzeigen, wie es Frau Wright getan hat, ist, mit Verlaub, mehr als lächerlich.
Meine Damen und Herren, der Waldzustandsbericht
weist höhere Stickstoffeinträge auf, wovon ein nicht unbeachtlicher Teil aus der Landwirtschaft kommt. Ich will
das hier nicht näher beleuchten, weil mein Kollege Deß
das noch vertiefen wird. Aber wir haben mit der Düngeverordnung Maßstäbe gesetzt. Mit einer Düngebilanz,
die die Betriebe erstellen, ist in den letzten Jahren schon
viel erreicht worden. Wenn Sie die Fördermöglichkeiten,
die die CDU-geführten Länder bieten, in ganz Deutschland einführen würden, kämen wir hier noch weiter.
Ich fasse zusammen: Der Waldzustandsbericht belegt
zumindest bis 1998 eine allmähliche Verbesserung des
Zustands unseres Waldes. Die Verbesserungen sind das
Ergebnis einer langjährigen, konsequenten Umweltpolitik
einer CDU/CSU-geführten Bundesregierung. Dem hat
die heutige Bundesregierung nichts Vergleichbares entgegenzusetzen.
({18})
Ich fordere Sie deshalb auf, die Forschung über die Ursachen der Waldschäden weiter zu intensivieren, alles zu
tun, damit unsere Zusagen in Kioto im Bereich der CO2Reduzierung eingehalten und fortgeschrieben werden,
den verstärkten Einsatz des heimischen Holzes zu fördern
und die regionale energetische Nutzung von Holz und anderen nachwachsenden Rohstoffen weiter zu verbessern.
Darüber hinaus sollten wir die Waldbesitzer nicht vergessen. Helfen wir ihnen, die Umweltschäden zu beseitigen, insbesondere die Sturmschäden! Helfen wir ihnen,
die Kalamitätsfälle durch steuerliche Erleichterungen zu
bewältigen!
Stimmen Sie von der Koalition also unserem Entschließungsantrag zu! Dann haben Sie wenigstens einen
Beitrag zur Besserung des Waldzustands geleistet.
({19})
Das Wort hat nun die
Kollegin Steffi Lemke für Bündnis 90/Die Grünen.
Werte
Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen!
Peter Bleser, ich finde es bedauerlich, dass die CDU der
Meinung ist, Parolen, die in Deutschland zurzeit von Neofaschisten und von Neonazis benutzt werden, um Propaganda zu betreiben, im Plenum des Deutschen Bundestages wiederholen zu müssen. Ich fordere Sie auf, dies zu
unterlassen.
({0})
Wir befinden uns in der Debatte über den Waldzustandsbericht und nicht in der Debatte darüber, wie die CDU
sich zu Rechtsextremismus in diesem Land und zu
deutschtümelnden Parolen verhalten zu müssen meint.
({1})
Ich möchte auf dieses Thema der Debatte gerne zurückkommen.
Der Zustand unserer Wälder ist nach wie vor ein
schlechter.
({2})
Das belegen die Zahlen der letzten Jahre immer wieder. Ich
denke, dass in diesem Hause Einigkeit darüber herrschen
müsste, dass auch das derzeit vorhandene Schadensniveau zu hoch ist und dass es nach wie vor gemeinsamer
Anstrengungen bedarf, um eine Verbesserung zu erreichen. Dies sagen die Berichte über die Jahre eindeutig aus.
Deshalb ist es unsere Aufgabe, den Eintrag von Schadstoffen in den Wald zu reduzieren und Anstrengungen im
Rahmen des Klimaschutzprogramms sowie zur Schadstoffreduktion im Verkehr zu unternehmen. Ich finde es
inzwischen müßig, darüber zu diskutieren, ob es in den
letzten zwei Jahren eine leichte Verbesserung bei einer
Baumart in einer Region gegeben hat, während in einer
anderen Region ein Anstieg der Schäden zu verzeichnen
war. Wir bewegen uns dort überall im Promillebereich.
Dies ist viel zu gering, um dieses Problem wirklich zukunftsfähig meistern zu können.
Ich möchte meine Redezeit nicht dazu verwenden, um
darüber zu debattieren, ob es unter der CDU-Regierung
eventuell eine leichte Verbesserung gegeben hat
({3})
oder ob jetzt unter der Regierung von SPD und Grünen
eine leichte Verbesserung absehbar ist. - Herr Hornung,
ich bitte Sie, eine Zwischenfrage zu stellen, wenn Sie einen neuen Debattenbeitrag einbringen wollen, und ansonsten etwas leiser dazwischenzurufen.
({4})
Ich glaube, dass bei der Debatte über eine Reduktion
der Schadstoffe um 5 oder 10 Prozent ein wenig der Blick
darauf verloren gegangen ist, worum es überhaupt geht.
Manches kann man natürlich auf die Zeitschiene schieben
und hoffen, dass irgendwann Verbesserungen in Form einer Reduktion bestimmter Schadstoffe durch die eingeleiteten Maßnahmen eintreten. Aber Konsens müsste darüber bestehen, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen
nicht ausreichen.
Ich glaube deshalb, dass die Maßnahmen, die die rotgrüne Bundesregierung im Rahmen der internationalen
Klimaschutzdebatte bereits ergriffen hat - Förderung der
erneuerbaren Energien, Verbesserung von Klimaschutz
im Gebäudebereich -, Wirkung zeigen werden. Dazu
gehört für mich auch die Ökosteuer. Ich glaube, dass wir
uns in diesem Punkt von der Vorgängerregierung unterscheiden.
({5})
Wir sind bereit, für ein so wichtiges Ziel wie den Schutz
unserer Wälder, den Schutz der Lebensgrundlagen unserer Kinder, auch unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen.
Die Ökosteuer ist - wie jede andere Steuer auch - bei den
Bürgern nicht beliebt.
({6})
Aber wir sind zu dieser Maßnahme bereit, weil wir eine
Besteuerung des Energieverbrauchs, des Naturverbrauchs
für notwendig halten. Deshalb sind wir bereit, diese Debatte auch jetzt, wo wir die Regierungsverantwortung tragen, zu führen.
({7})
Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass die
von Ihnen immer wieder dementierte Lenkungswirkung
der Ökosteuer in diesem Bereich inzwischen zumindest in
zarten Ansätzen zu erkennen ist.
({8})
Durch das Statistische Bundesamt - das ist nun weiß Gott
nicht die grüne Parteizentrale - und durch den Verband
Deutscher Verkehrsunternehmen wird belegt, dass es einen Anstieg bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel
gibt,
({9})
dass es bereits nach dem ersten Schritt der Ökosteuer eine
Reduktion des Mineralölverbrauchs gibt, insbesondere im
Bereich des Individualverkehrs, und dass die Lenkungswirkung tatsächlich eintritt. Dies ist durch Fakten belegt
und Sie können das auch hier im Parlament nicht abstreiten.
({10})
Die Debatte darüber, wie wir in Zukunft den Ressourcenverbrauch besteuern können, um ihn zu reduzieren,
sollte das gesamte Parlament führen. Wenn die CDU in
diesem Zusammenhang an Frau Merkel und Herrn Töpfer
erinnert, die sich in der Vergangenheit für eine Ökosteuer
eingesetzt haben, finde ich dies gut. Dann müssen Sie aber
auch so ehrlich sein und diese Forderung, die Frau Merkel
und Herr Töpfer aufgestellt haben, aufgreifen und in die
parlamentarische Debatte einführen, statt sich aus Angst
davor, dass es darüber in der Bevölkerung eine kontroverse Diskussion gibt, zu ducken, dieser Debatte feige
auszuweichen, weil Ihnen dies momentan besser in den
Kram passt.
Vielen Dank.
({11})
Jetzt hat die Kollegin
Marita Sehn für die F.D.P.-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schwefeldioxid minus 76 Prozent,
Stickoxide minus 34 Prozent und Ammoniak minus
18 Prozent - das sind die Errungenschaften der christlichliberalen Koalition.
({0})
Sie können es schwarz auf weiß im Entschließungsantrag
der Regierungskoalition nachlesen. Dies haben Sie selbst
aufgeschrieben.
Es hat zwar lange gedauert, aber schließlich hat sich
auch bei den Regierungsparteien die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Maßnahmen der alten Bundesregierung zum Schutz des Waldes ausgesprochen erfolgreich waren. Nur zur Erinnerung: Aktionsprogramm
„Rettet den Wald“, Novellierung der Großfeuerungsanlagenverordnung, Novellierung der TA Luft und der
Kleinfeuerungsanlagenverordnung, Novelle des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, Ozongesetz, emissionsSteffi Lemke
bezogene Kfz-Steuer. Das alles sind Maßnahmen, die wesentlich zur Verringerung der Luftschadstoffe beigetragen
haben.
({1})
Nachdem Sie, liebe Frau Wright, unsere Politik in Wadenbeißermanier - „zu spät“ und „zu halbherzig“ - über
Jahre bekämpft haben, freut es mich, dass Sie nun endlich
die Erfolge der alten Bundesregierung anerkennen. Besser eine späte Einsicht als keine.
({2})
Leider haben Sie dieses Niveau in Ihrem Antrag nicht
durchgehalten. Wenn Sie von „möglichen Auswirkungen
der globalen Klimaveränderung“ schreiben, so ist dies in
höchstem Maße unseriös. Sie zitieren Einzelmeinungen
und ignorieren den Stand der wissenschaftlichen Forschung. Nach wie vor ist selbst eine Klimaänderung wissenschaftlich nicht gesichert, geschweige denn Auswirkungen irgendeiner Art. Auf eine solche Art Politik zu
betreiben ist sehr gefährlich. Das ist Populismus pur. Wir
brauchen eine Politik mit Köpfchen und keine aus dem
Bauch heraus.
Auch bei Ihrem Statement zum Raubbau an unseren
Wäldern fragt man sich, woher die Koalition ihre Informationen bezieht. Die Waldfläche hat in Deutschland zugenommen. Anscheinend ist dies die erste Form von
Raubbau, die zu einem Mehr an Wald führt. Man sollte Sie
vielleicht einmal daran erinnern, dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ von der Forstwissenschaft geprägt worden ist,
und zwar lange bevor es eine grüne Partei gab.
({3})
- Ja, Herr Hornung, so ist es.
Es ist interessant, Ihre Reden und Anträge zu Oppositionszeiten zu lesen. Ich habe mir das wirklich angetan.
Wie vollmundig waren Ihre Forderungen, wie hehr Ihre
Absichten! Und nun? Nun sitzen Sie auf der Regierungsbank und auf einmal ist es sehr, sehr still geworden.
({4})
Immer wieder haben Sie in der Vergangenheit Entschädigungszahlungen für die von Waldschäden betroffenen
Waldbesitzer gefordert. Warum ergreifen Sie jetzt nicht
die Gelegenheit beim Schopf und setzen Ihre Forderungen endlich um?
({5})
Die Forstbesitzer wären für jede Form der Unterstützung dankbar. Aber dass es mit der Liebe dieser Bundesregierung, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, zu den Waldbesitzern nicht weit her ist, das hat Ihr Engagement für die
Geschädigten des Orkans „Lothar“ im vergangenen Jahr
gezeigt. Sie erwiesen sich als ausgesprochen sparsam;
wenn auch nicht mit Worten, so doch mit finanzieller Unterstützung.
({6})
In dem aktuellen Waldzustandsbericht ist Ihnen das
Schicksal dieser Betriebe nur noch eine Randnotiz wert.
({7})
Die jetzigen Regierungsfraktionen haben früher immer
bemängelt, dass bei der alten Bundesregierung die Frage
- ich zitiere -, „wie eine Stärkung der Leistungsfähigkeit
der Forstbetriebe erreicht werden kann“, im Vordergrund
stand. Folgerichtig räumt Rot-Grün dieser Frage kaum
einen Platz ein. Dies zeigt eindeutig die Prioritäten dieser
Koalition: Ihr sind die Menschen, die ihr Einkommen mit
dem Wald erwirtschaften, schlichtweg egal.
({8})
Die Sorgen und Nöte der Waldbesitzer interessieren diese
Bundesregierung nicht.
({9})
Dazu passt hervorragend die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes. Die Anliegen der Land- und Forstwirtschaft werden ignoriert, während die des Naturschutzes einseitig in den Vordergrund gerückt werden.
Man möchte Rot-Grün manchmal daran erinnern, dass in
den ländlichen Räumen Menschen leben, die ebenfalls
Bedürfnisse haben, die Arbeitsplätze benötigen und die
am gesellschaftlichen Wohlstand beteiligt werden wollen.
({10})
- So ist es. - Sie sprechen den Menschen in den ländlichen Räumen jegliches Recht auf wirtschaftliche Entwicklung ab.
({11})
Diese Politik ist ein Tanz um den goldenen Öko. Rotgrüne Umweltpolitik ist eine Auflagenpolitik. Sie setzt
auf Konfrontation statt auf Information und Kooperation,
insbesondere dann, wenn es um kleinere gesellschaftliche
Gruppen wie Waldbesitzer und Landwirte geht. Dann
praktizieren Sie nur allzu gerne ihre Knüppel-aus-demSack-Politik. Rot-grüne Umweltpolitik wird immer dann
aktiv, wenn sie Auflagen erteilen kann und andere die
Zeche zahlen müssen.
({12})
Die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes trägt genau diese Handschrift. Bewährte Maßnahmen wie der
Vertragsnaturschutz werden vernachlässigt, während Auflagen verschärft werden. Diese Novelle ist ein eindeutig
gegen die deutsche Land- und Forstwirtschaft gerichtetes
Misstrauensvotum. Unsere Land- und Forstwirte haben
dieses Misstrauen nicht verdient. Ihnen gebührt vielmehr
unser Dank für den Erhalt und die Pflege unserer Kulturlandschaft. Wir alle haben einen Nutzen von dieser Arbeit.
Wir alle nutzen die Natur für Erholung, Sport und Freizeit.
({13})
Innovative Umweltpolitik braucht mehr als nur Auflagen. Auflagen sind die End-of-Pipe-Technologie der Umweltpolitik. Wir Liberalen setzen auf Forschung und Innovation und nicht auf Schikanen. Wir unterstützen die
Forschung in neue Technologien, wie zum Beispiel in die
Brennstoffzelle oder die Wasserstofftechnologien. Diese
Technologien können dazu beitragen, dass auch die durch
den Verkehr verursachten Umweltprobleme gelöst werden und damit ein erheblicher Beitrag zu einer nachhaltigen Verbesserung des Waldzustandes geleistet werden
kann.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie sich
dazu durchringen, Zukunftstechnologien zu fördern anstatt jede Neuentwicklung zu verteufeln, können Sie vielleicht eine ähnliche beeindruckende Erfolgsbilanz vorweisen, wie Sie sie der alten Bundesregierung in Ihrem
Entschließungsantrag bescheinigt haben.
({14})
Das Wort hat nun die
Kollegin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als „bizarre Bewusstseinsspaltung bezüglich ihrer Verantwortung“ kritisierte
der BUND das Agieren aller bisherigen deutschen Minister für Landwirtschaft und Forsten, denn von ihnen würden immer wieder gebetsmühlenartig die massiven Nitrateinträge beklagt, die den Wald extrem schädigen. Doch
Konsequenzen würden daraus leider nicht gezogen. Den
Vorwurf der Bewusstseinsspaltung kann man getrost auf
das Bundeskabinett erweitern, und zwar in Bezug auf die
Ressorts Umweltschutz auf der einen Seite und Verkehr
und Wirtschaft auf der anderen Seite. Frau Künast als Ressortverantwortliche bemüht sich redlich, der Agrarindustrie diesbezüglich Beine zu machen. Aber auch sie ist den
unterschiedlichen Interessen ausgesetzt und wir werden
sehen, wer letztlich am längeren Hebel sitzt.
Wir haben - das ist das Fazit des Berichts - einen zunehmenden Stickstoffüberschuss bei gleichzeitiger Versauerung der Böden. Die Hauptquellen dafür sind - auch
das steht im Bericht - Industrieanlagen, Kraftwerke, Verkehr, Kleinverbraucher und Landwirtschaft. Das Fazit,
das die Bundesregierung zieht, ist zunächst einmal zu begrüßen. Alle Politikbereiche - unter anderem Umwelt-,
Verkehrs-, Finanz-, Wirtschafts- und Landwirtschaftspolitik - müssen gemeinsam versuchen, die Luftschadstoffe
zu reduzieren. Solche Ausführungen aber finden sich in
jedem Bericht.
Die Anzahl kranker Bäume hat den Ankündigungen
zum Trotz allerdings nicht abgenommen, sondern um
2 Prozent zugenommen. Immer noch sind 80 Prozent der
Flächen übersauert. Die Belastung durch Ozon infolge
des Verkehrswachstums steigt weiter. Die Konzentration
dieses Gases liegt bei 95 Prozent der Fläche über der
Grenze der Belastbarkeit von Wald und Mensch.
Auch der Stickstoffüberschuss wird nicht eingedämmt.
Da der Wald hauptsächlich über den Luftpfad belastet
wird, lassen sich bezüglich des Nitrats die zwei Hauptverursacher genauer festmachen: 95 Prozent der Emissionen resultieren aus dem Verkehr und den Großfeuerungsanlagen. Vielleicht liegt hierin eine Ursache dafür, dass
sich der Trend zu immer mehr Waldschäden ungebremst
fortsetzt, denn die Strategien der Bundesregierung zum
Aufhalten der Blechlawinen sind wenig überzeugend.
({0})
In dem Bericht werden der Dreiwegekatalysator, die
Verschärfung der Abgasgrenzwerte, die Förderung verbrauchsarmer PKW und die Einführung umweltverträglicher Kraftstoffe angeführt. Es ist ganz klar: Das
ist nicht schlecht. Aber alle diese Maßnahmen werden anscheinend durch das Verkehrswachstum überkompensiert. Im Osten lässt sich dieses Problem auf einer vergleichbaren Ebene aufzeigen: Von 1992 bis 1996 gingen
dort die Waldschäden zurück. Wir können uns - ebenso
wie bei den Veränderungen im Klimaschutz - denken,
warum: durch den Zusammenbruch der dortigen Industrie. Hinzu kamen natürlich schärfere Emissionskontrollen und moderne Abgassysteme in den Großfeuerungsanlagen.
Doch wie ging es weiter? Statt Arbeitsplätzen kamen
Autos. Statt Gütertransport auf der Schiene - sein Anteil
betrug damals 80 Prozent - kamen LKW-Karawanen. Als
Folge davon geht das Waldsterben im Osten wie im Westen munter weiter. Was für Deutschland gilt, gilt auch
- ein Schwerpunkt liegt dabei auf Italien - für Europa.
Es gilt also, national und europaweit für eine deutliche
Reduzierung der Verkehrsemissionen zu kämpfen.
({1})
In diesem Zusammenhang kann ich nur auf Parallelen
zum Klimaschutz verweisen: Es geht nicht nur um saubere, sondern vor allem um weniger gefahrene Kilometer.
Es geht um regionale Wirtschaftskreisläufe. Ich denke,
auf diesem Feld ist Wesentliches zu tun. Wenn über Nachhaltigkeit gesprochen wird, erwarte ich mir für die Zukunft mehr, zumal die Bundesregierung nun endlich einen
Nachhaltigkeitsrat eingesetzt hat. Wir erwarten gute Ergebnisse.
({2})
Das Wort hat nun die
Kollegin Christel Deichmann, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Herr Bleser, jetzt habe ich
wieder etwas gelernt, nämlich dass der Wald sehr schnell
auf den Regierungswechsel reagiert hat.
({0})
Die Bundestagswahl war doch erst im Herbst 1998. Das
ist wirklich eine neue Erkenntnis, die wir heute gewonnen
haben. Aber das muss wissenschaftlich erst noch bewiesen werden. Vielleicht könnten Sie das nachholen.
({1})
Frau Sehn, wenn Sie behaupten, uns sei der ländliche
Raum nichts wert,
({2})
dann möchte ich Sie unter anderem auf unseren Antrag
„Ländliche Räume“ verweisen. Ich denke, Sie sollten sich
ein bisschen mehr Mühe geben und aufpassen, damit Sie
mitbekommen, was tatsächlich passiert. Es ist schon eigenartig, wie Sie unsere Politik wahrnehmen.
({3})
Es darf nicht sein, was nicht sein darf. Sie müssen trotzdem zur Kenntnis nehmen: Die Menschen und die Ergebnisse bestätigen, dass unsere Politik erfolgreich ist, auch
im Hinblick auf den Wald.
({4})
Die Schutz-, Nutz- und Erholungsfunktion, die Speicher- und Filterfunktion für Wasser und Luft und auch die
umweltfreundliche Produktion des nachwachsenden
Rohstoffes Holz kennzeichnen die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Elemente des Ökosystems Wald
mit seinen vielfältigen Ausgleichsfunktionen. Die dritte
paneuropäische Ministerkonferenz in Lissabon hat die
zukünftige Bedeutung des Waldes wie folgt definiert:
Im 21. Jahrhundert wird der europäische Forstsektor
unter Berücksichtigung der sozialen, wirtschaftlichen, umweltbezogenen und kulturellen Funktion
seinen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft optimieren; insbesondere zur Entwicklung
der ländlichen Gebiete, der Bereitstellung von erneuerbaren Ressourcen und dem Schutz der globalen
und lokalen Umwelt.
Diese Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben sich dieser Aufgabe gestellt, unter anderem mit der
Verabschiedung des Klimaschutzprogramms, auf das
schon die Kollegin Heidi Wright hingewiesen hat.
Ich möchte ebenfalls auf einen nicht weniger wichtigen
Aspekt verweisen. Der Wald bietet auch Lebensraum für
die ganz überwiegende Anzahl der wild lebenden Pflanzen und Tiere. Von den 45 000 in Deutschland bekannten
Tierarten kommen zum Beispiel alleine in den Buchenwäldern 6 800 Arten vor. Nicht ohne Grund zählt der Wald
zu unseren besten Bioindikatoren. In optimaler Weise
macht er die Einflüsse von Hunderten von Umweltfaktoren für uns sichtbar. Liegen zum Beispiel Wälder neben
Industrieanlagen oder großen Mastanlagen, dann werden
die Auswirkungen der Luftverschmutzung für uns alle
sehr deutlich und in drastischer Weise sichtbar.
Die Ergebnisse der bundesweiten Bodenzustandserhebung im Wald und der Untersuchungen der Dauerbeobachtungsflächen, der so genannten Level-II-Flächen,
zeigen deutlich: Die Wälder können ihre Filter- und
Pufferfunktion zunehmend schlechter erfüllen. Die Ergebnisse dokumentieren die fortschreitende Bodenversauerung sowie die zunehmende Stickstoff- und Ozonbelastung. So liegen zum Beispiel in sensitiven Bereichen
die aktuellen Säurefrachten bis zum 15-fachen über den
Belastungsgrenzen. Die Versauerung der deutschen Waldböden schreitet zwar heute langsamer voran als vor
20 Jahren. Aber nach vorliegenden Erkenntnissen findet
sie auf 80 Prozent der Flächen weiterhin statt.
Ich möchte einige weitere Zahlen nennen: Auf den Level-II-Dauerbeobachtungsflächen wurden Stickstoffeinträge bis zu 46 Kilo pro Jahr und Hektar nachgewiesen.
Erträglich für den Wald sind, je nach Standort, 5 bis 15 Kilo
pro Jahr und Hektar. Ich denke, diese Zahlen machen
deutlich, wie dramatisch und kritisch die Situation ist. Die
Belastung durch bodennahes Ozon steigt ebenfalls weiter
an. Der von Menschen bedingte Treibhauseffekt schädigt
den Wald im Besonderen und beschleunigt seinen Verfall.
Auf über 90 Prozent der Level-II-Flächen sind langfristig stickstoffbedingte Veränderungen zu befürchten.
Auf etwa 30 Prozent dieser Dauerbeobachtungsflächen
muss schon heute mit einer Stickstoffsättigung bzw.
-übersättigung der Waldökosysteme gerechnet werden.
Die Folge ist: Die Filterkraft des Waldes ist erschöpft. Der
Waldboden kann vielerorts die Schadstoffe bereits nicht
mehr absorbieren. Örtlich sind Quell- und Grundwasser
durch die Mobilisierung von Eisen und anderen Schwermetallen sowie durch Aluminium gefährdet. Im Klartext
heißt das: Die zukünftige Sicherung der Trinkwasserversorgung ist durch die erhöhte Konzentration von Schwermetallen und Stickstoff enorm gefährdet.
Um den Säureschub nun aufzuhalten, werden seit Jahren Millionenbeträge für die Bodenschutzkalkung im
Wald ausgegeben. Das hilft nur sehr kurzfristig. Das ist
nur eine Kaschierung des Problems und keine Beseitigung. Die Politik der Bundesregierung setzt darum verstärkt bei der Ursachenbekämpfung an. Ich sage es noch
einmal: Die Ökosteuer ist dabei zum Beispiel ein hilfreiches Instrument.
({5})
Bei der Diskussion um die Fortführung der Ökosteuer
möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, gleich den Wind aus den Segeln nehmen. Der
Bundeskanzler hat nicht gesagt, dass die Ökosteuer abgeschafft wird, sondern er will - das wollen wir auch -, dass
im Jahr 2003 die Zukunft der Ökosteuer im Lichte der
Konjunktur und der Sozialverträglichkeit zu überprüfen
ist.
({6})
Mit der Einführung schwefelarmer Kraftstoffe, dem
100 000-Dächer-Programm, den erweiterten Förderprogrammen für erneuerbare Energien - das alles nehmen Sie
nicht wahr - sowie der Novelle des Stromeinspeisungsgesetzes hat die Koalition weitere Maßnahmen eingeleitet, die letzten Endes dem Wald und uns allen zugute
kommen.
({7})
Diese Maßnahmen zeigen schon Wirkung. Man muss es
nur wahrhaben wollen.
Die von der Bundesregierung eingeschlagene Trendwende in der Agrarwirtschaft zeigt auch für einen langfristigen Waldschutz schon die Richtung auf. Ich unterstütze die Forderung nach einer flächengebundenen
Tierhaltung. Ein geeignetes Instrument für die Umsetzung
derartiger Forderungen ist aus meiner Sicht unter anderem die verbindliche Definition der „guten fachlichen
Praxis“ im Bundesnaturschutzgesetz. Auch das werden
wir machen.
Um Naturschutzaspekte noch stärker in die forstliche
Nutzung einzubinden, ist es erforderlich, die Naturnähe
der Wirtschaftswälder weiter auszubauen. Ich möchte an
dieser Stelle noch einmal betonen, wie wichtig und unverzichtbar es ist, eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Forstwirten und dem Naturschutz für
den dauerhaften Schutz der Wälder zu befördern.
({8})
Naturnah bewirtschaftete Wälder weisen eine erhöhte Widerstandskraft gegenüber neuartigen Waldschäden auf
und bieten weitaus mehr Pflanzen- und Tierarten Lebensraum, als dies Monokulturen leisten können. In naturnah
bewirtschafteten Wäldern - das bestätigen uns die Forstfachleute - schreibt man ganz gesichert schwarze Zahlen
in der betrieblichen Bilanz. Das heißt, Ökologie und Ökonomie sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich hervorragend.
Ich begrüße - auch das wurde bereits genannt -, dass
die Bundesregierung den Prozess der Zertifizierung von
Forstbetrieben mit anerkannten ökologischen Gütesiegeln
unterstützt und begleitet.
Lassen Sie mich abschließend festhalten: Wir können
nicht länger ignorieren, dass Umweltschutz heute unbedingt erforderlich ist. Er kostet einerseits Geld, er schafft
andererseits aber auch Arbeitsplätze. Versäumter Umweltschutz, meine Damen und Herren, wird morgen unbezahlbar und kann übermorgen sogar lebensbedrohlich sein,
weil er unsere Lebensgrundlagen zerstört. Der Zustand des
Waldes zeigt uns sehr deutlich, wie die Situation ist.
Vielen Dank.
({9})
Nun hat Herr Kollege
Albert Deß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Welche Bedeutung der Wald bei
der rot-grünen Bundesregierung hat, sieht man auch daran, dass zum ersten Mal, seit es demokratische Regierungen in Deutschland gibt, im zuständigen Ministerium
der Zusatz „Forsten“ gestrichen worden ist.
({0})
Durch die Debatte über den jährlichen Waldzustandsbericht
erhalten wir die Möglichkeit, auf die nationale und internationale Bedeutung eines gesunden Waldes hinzuweisen.
Fast ein Drittel unseres Landes ist mit Wald bewachsen.
Durch die Aufforstung weiterer Flächen nimmt - im Gegensatz zu anderen Ländern, wo riesige Waldflächen gerodet werden - in Deutschland die Waldfläche zu.
({1})
- Eben. - Allein in Bayern und Baden-Württemberg wurden in den vergangenen zehn Jahren über 15 000 Hektar
neue Waldflächen, vor allem im Privatwald, geschaffen.
Der Aufwuchs von einem Festmeter Holz entzieht der Atmosphäre 1 Tonne Kohlendioxid. Wird Holz nach seinem
Aufwuchs zum Beispiel beim Bau verwendet, bleibt dieses CO2 für lange Zeit gebunden. Der vermehrte Einsatz
von Holz in den verschiedensten Bereichen, verbunden
mit einer sinnvollen Waldwirtschaft, gibt uns die Möglichkeit, eine bessere CO2-Bilanz zu erreichen.
({2})
Wir sind gut beraten, das Thema Waldzustand sachlich
zu diskutieren. Das war in der Vergangenheit nicht immer
der Fall.
({3})
Im Waldzustandsbericht der rot-grünen Bundesregierung
heißt es:
Das Anfang der 80er-Jahre angesichts der toten
Waldbestände im Erzgebirge insbesondere von den
Medien und einigen Wissenschaftlern prognostizierte großflächige „Waldsterben“ ist nicht eingetreten.
({4})
Es waren jedoch nicht nur bestimmte Medien und Wissenschaftler, die Anfang der 80er-Jahre das Waldsterben
angekündigt haben. Es gab fast keine Veranstaltung der
Grünen, in der nicht über das Thema Waldsterben gesprochen wurde. Gott sei Dank hat sich die Situation anders
entwickelt. Ich bin froh, dass sich die Waldbesitzer von
dieser Panikmache nicht haben entmutigen lassen und die
Pflege ihrer angeblich hoffnungslos erkrankten Wälder
nicht aufgegeben haben.
({5})
Sie haben trotz der grünen Panikmache weiter in die Wälder investiert. Damit haben sie einen großen Beitrag dazu
geleistet, dass die Situation unseres Waldes trotz negativer Umwelteinflüsse nicht wesentlich schlechter geworden ist.
Unser Dank gilt deshalb den Waldbauern und den
Forstbesitzern, die unseren Wald und unsere Umwelt
durch unermüdliche Arbeit erhalten und somit in unsere
Zukunft investiert haben. Es sind die Waldarbeiter und die
Förster, die die schwere Waldarbeit ausführen und unseren Wald hegen und pflegen.
({6})
Dafür müssen wir uns im Deutschen Bundestag einmal
bei ihnen bedanken.
({7})
Um die Schadstoffbelastung für unsere Wälder weiter
zu reduzieren, müssen aus dem diesjährigen Waldzustandsbericht die richtigen Konsequenzen gezogen werden.
Die bisher erfolgreichen Maßnahmen müssen fortgesetzt
und geeignete neue eingeführt werden. Eine interessante
Aussage aus dem Waldzustandsbericht der rot-grünen Bundesregierung - Peter Bleser hat es erwähnt - nehme ich zum
Anlass, um auf die Leistungen der früheren CDU/CSUF.D.P.-Koalition hinzuweisen. Dort heißt es:
Die beobachteten Waldschäden führten zu raschem
politischem Handeln auf nationaler und internationaler Ebene: ...
Rot-Grün sagt der ehemaligen Bundesregierung damit
vielen Dank!
({8})
Mit den von der früheren Bundesregierung getroffenen
Entscheidungen wurde eine ausschlaggebende Weichenstellung zur Senkung des Schadstoffausstoßes und damit
zu verbessertem Umweltschutz vorgenommen. Diese
Maßnahmen kommen heute in ihrer Langzeitwirkung unseren Wäldern und damit uns allen zugute. Rot-Grün hat
zur Verbesserung des Waldzustandes bisher keinen vergleichbaren Beitrag geleistet,
({9})
nicht im Bund, wo Sie erst seit gut zwei Jahren regieren,
und auch nicht in den Ländern, in denen Sie seit langem
Regierungsverantwortung tragen.
Das Einzige, was Rot-Grün beherrscht, sind große
Sprüche, schrille Töne, medienwirksame Schlagworte
und Belastungen für unsere Bürger wie die so genannte
Ökosteuer, die mit Ökologie nichts zu tun hat.
({10})
Diese Aussage hat eine grüne Kollegin aus dem Bayerischen Landtag erst vor kurzem öffentlich bestätigt.
Die neue Verbraucherschutzministerin und der Bundeskanzler sind sich einig: Eine leistungsbezogene Landwirtschaft wird an den Pranger gestellt. Der Bundeskanzler spricht von Agrarfabriken, wobei er bis heute
nicht definiert hat, was er darunter versteht. Anscheinend
weiß er es selbst nicht. Es ist wohl das erklärte Ziel von
Rot-Grün, dass die jetzige Landwirtschaft auf die Anklagebank gesetzt wird.
Die rot-grüne Gleichung „Hohe Leistung ist umweltschädlich, niedrige Leistung ist umweltfreundlich“ wird
im eigenen Waldzustandsbericht widerlegt. Zum Thema
Landwirtschaft und Umweltbelastung heißt es - ich zitiere aus dem Waldzustandsbericht -:
Vor allem aus ökonomischen Gründen auf eine Leistungssteigerung gerichtete Fütterung und Management haben auch positive ökologische Effekte. So
konnte die Milchleistung von 1990 bis 1999 um
20 Prozent erhöht werden, gleichzeitig wurde jedoch
die N-Ausscheidung je Kilogramm Milch um
12 Prozent gesenkt.
Dies ist eine interessante Aussage. Sie bedeutet, dass
die jetzige Landwirtschaft zum Beispiel durch die Leistungssteigerungen in der Milchviehhaltung umweltfreundlicher als früher produziert. Da die Stickstoffbelastung ein wichtiger Faktor bei der Schädigung unserer
Wälder ist, brauchen wir eine Landwirtschaft, die weniger Stickstoffbelastung produziert. Es handelt sich um
einen aktiven Beitrag zum Schutz unserer Wälder, bei einer um 12 Prozent höheren Milchleistung eine geringere
Stickstoffbelastung zu erreichen.
({11})
Was will die neue Ministerin eigentlich? Will sie eine
Landwirtschaft, die Umweltbelastungen durch Leistungssteigerungen senkt, oder eine Landwirtschaft, die wieder
zu höheren Umweltbelastungen führt? Frau Künast sollte
einmal die Berichte ihrer eigenen Regierung lesen, bevor
sie so massenhaft Unsinn erzählt.
({12})
Im Unterschied zur rot-grünen Sprücheklopferei
wurde in Bayern ein Stickstoffprogramm zur Absenkung
der Stickoxidemissionen aufgelegt. Von 1996 bis heute
wurden Fördermittel in Höhe von mehr als 100 Millionen DM und über 15 Millionen DM an zinsverbilligten
Darlehen für die Anschaffung moderner Ausbringungstechnik für landwirtschaftliche Wirtschaftsdünger ausgegeben. Dadurch werden Ammoniakemissionen in Höhe
von jährlich 40 000 Tonnen vermieden. Welches rot bzw.
rot-grün geführte Bundesland kann ein solches Förderprogramm vorweisen, das nicht nur der Umwelt und dem
Wald, sondern auch jedem Einzelnen von uns zugute
kommt? Fehlanzeige im rot-grünen Bereich.
({13})
Die meisten Kraftwerke in Bayern und Baden-Württemberg wurden schon in den 70er-Jahren mit moderner
Umwelttechnik ausgestattet. Zu dieser Zeit gab es die
grüne Partei noch gar nicht. Heute tut man so, als ob
Umweltschutz erst von der grünen Bewegung entdeckt
wurde.
({14})
Das Märchen wird immer wieder erzählt.
({15})
In keinem rot-grün regierten Bundesland wurde der
Schadstoffausstoß so stark zurückgefahren wie in den
süddeutschen Bundesländern, in denen die Union in der
Regierungsverantwortung steht. In diesem Sinne muss
Umweltpolitik betrieben werden.
({16})
Für eine solche Umweltpolitik, die mit den und nicht gegen die Bauern durchgeführt wird, tritt die CDU/CSUFraktion ein. Wir werden nicht zulassen, dass die neue
Agrar- und Verbraucherschutzministerin die Land- und
Forstwirtschaft auf die Anklagebank setzt. Unsere Bauern
und Bäuerinnen und unsere Forstwirte praktizieren
tatsächlich Umweltpolitik.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({17})
Nun erteile ich dem
Parlamentarischen Staatssekretär Matthias Berninger das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Es ist in der Tat richtig, dass das neue Ministerium den Namen Ministerium für Verbraucherschutz,
Ernährung und Landwirtschaft trägt. „Forsten“ ist in diesem Namen weggefallen. Ich kann Ihnen aber versichern,
dass uns der Wald nach wie vor sehr am Herzen liegt. Wir
brauchen ihn nicht im Namen eines Ministeriums, um daran erinnert zu werden. Das möchte ich Ihnen ganz deutlich sagen.
({0})
Ein Drittel der Fläche Deutschlands ist bewaldet. Ich
könnte mir vorstellen, dass es noch mehr wird. Ich bin
froh, dass die Holzmenge im Wald insgesamt nicht zurückgeht, sondern eher zunimmt. Das Problem des Waldsterbens - das ist hier von allen Rednern gesagt worden - haben wir aber noch nicht in den Griff bekommen.
In der letzten Stunde habe ich hier eine etwas absurde
Debatte mitbekommen. Sie ist insofern absurd, wenn man
bedenkt, dass es in den 80er-Jahren eines massiven öffentlichen Drucks bedurfte, um die von Helmut Kohl geführte Bundesregierung zum Handeln zu veranlassen.
({1})
Es ist nicht so, dass Sie auf die Idee gekommen sind, Umweltpolitik zu betreiben. Ich kann mich gut daran erinnern, da es die Zeit war, in der ich anfing, mich für Politik zu interessieren:
({2})
Menschen, die auf Waldsterben und ähnliche Probleme
hingewiesen haben, wurden diffamiert. Sie wurden von
der Bundesregierung, die Sie mitgetragen haben, in eine
Ecke gestellt. Sie hätten Ihre Reden über eine vernünftige
Umweltpolitik, die Sie heute gehalten haben, nicht halten
können, wenn Ihnen die Öffentlichkeit nicht massiv Feuer
unterm Hintern gemacht hätte.
({3})
Wir haben Erfolge - unter anderem dank des technischen Umweltschutzes - erzielen können, auf die wir alle
stolz sein können. Der Schwefel ist heute nicht mehr ein so
großes Problem wie in den 80er-Jahren. Hätte es die deutsche Einheit nicht gegeben, wäre der Wald in Deutschland
in einem erheblich schlechteren Zustand. Wir sollten froh
darüber sein, dass es die deutsche Einheit gab
({4})
und dass wir insgesamt eine Verbesserung der Luftqualität
erreicht haben.
({5})
Diese Entwicklung beruht nicht einseitig auf einer
erfolgreichen Politik. Sie wissen auch, dass für unsere Erfolge beim Klimaschutz und beim Rückgang der Emissionen ein hoher Preis in den neuen Ländern gezahlt
wurde: Die Anlagen wurden einfach abgestellt, die
Schornsteine rauchten nicht weiter und die Menschen
waren arbeitslos. Diese Tatsache muss man fairerweise
erwähnen. Nachhaltige Politik bedeutet eben auch, dies
nicht zu vergessen. Die neue Entwicklung war nicht nur
einseitig ein Erfolg Ihrer Politik, sondern sie hing auch
mit den Veränderungen nach der Wende auf dem Gebiet
der ehemaligen DDR zusammen.
Das Landwirtschaftsministerium hat sich in der Vergangenheit, vor allem während Ihrer Regierungszeit, mit
dem Problem des Stickstoffes, das heute unser Hauptproblem ist, nicht in dem Maße beschäftigt, wie es nötig gewesen wäre.
({6})
Die Agrarwende wird einen entscheidenden Beitrag dazu
leisten,
({7})
dass wir zusätzliche Strategien gegen das Waldsterben
entwickeln.
({8})
Warum? Herr Kollege Deß, das Problem, das wir in der
Landwirtschaft haben, ist, dass ein Großteil unserer
Tierproduktion darauf beruht, dass wir Tierfutter - beispielsweise Soja - importieren.
({9})
Ein Teil des so importierten Stickstoffs gelangt ins
Fleisch und wird hier emittiert. Das ist ein großes Problem. Die Agrarwende wird zeigen, ob wir auch in Zukunft noch auf Eiweißimporte angewiesen sind - womöglich auf gentechnisch verändertes Soja - oder ob wir in der
Lage sind, Grünland wieder zu dem zu machen, was es
einmal war, nämlich zu einem Eiweißlieferanten für die
Landwirtschaft in Europa.
({10})
Dafür setzt sich meine Ministerin ein. Sie sollten sie darin
unterstützen, statt hier herumzumäkeln.
({11})
Herr Kollege Deß, es geht nicht um die Frage große
oder kleine Betriebe.
({12})
Es geht vielmehr um die Frage, wie landwirtschaftliche
Produktion auf einem qualitativ hohen Standard erfolgen
kann.
({13})
Diese neue Politik der Bundesregierung ist in der Regierungserklärung sehr klar dargestellt worden.
Ich will Ihnen ein Beispiel für eine gelungene Agrarwende schildern.
({14})
Dieses Beispiel finden Sie im Weser-Ems-Gebiet. Der
niedersächsische Landwirtschaftsminister, Uwe Bartels,
besitzt jetzt den Mut, zu sagen - das ist die Agrarwende -,
dass die Massentierhaltung, die eine Gülleproduktion und
eine Stickstoffemission in nicht erträglichem Ausmaß zur
Folge hat, der Vergangenheit angehört und dass in Zukunft in Gebieten wie dem Weser-Ems-Gebiet eine neue
Landwirtschaftspolitik gemacht wird. Diese konstruktive
Politik wurde gestern von einem Politiker aus Niedersachsen angekündigt.
({15})
Dagegen wirft Herr Stoiber in seiner ganzen Hilflosigkeit
meiner Ministerin vor, sie mache Reichsnährstandspolitik.
Herr Kollege, akzeptieren Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Deß?
Matthias Berninger, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Selbstverständlich. Ich akzeptiere sie
gerne.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär
Berninger, ich sehe überhaupt keinen Dissens in diesem
Punkt. Auch wir treten dafür ein, dass mehr Eiweißpflanzen in Europa angebaut werden, damit hier mehr Eiweiß produziert wird. Meine Frage lautet daher: Sind Sie
bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass unter der Verantwortung der rot-grünen Bundesregierung eine
Agenda 2000 beschlossen wurde, die zur Folge hat, dass
die Prämien für den Anbau von Eiweißpflanzen gesenkt
wurden, was wiederum dazu führt, dass seitdem weniger
Eiweißpflanzen angebaut werden?
({0})
Herr Kollege Deß spricht die Agenda 2000 an.
Ich bin selbstverständlich bereit, das zur Kenntnis zu nehmen. Sie wissen aber, dass im Rahmen der Agenda-Verhandlungen unter der deutschen Präsidentschaft Kompromisse mit verschiedenen Ländern geschlossen
({0})
und an verschiedenen Stellen, zum Beispiel bei der Milchquote, Zugeständnisse an andere Länder gemacht werden
mussten.
Diese Verhandlungen fanden 1999 statt. Ich will Ihnen
aber sagen, was im Jahr 2001 passiert; denn das interessiert die Menschen. Renate Künast setzt sich in Europa
dafür ein, dass der Eiweißpflanzenanbau auf den
Stilllegungsflächen - egal, ob es sich um ökologische
oder um konventionelle Produktion handelt - zugelassen
wird. Das ist eine konkrete Politik für die Grünfläche.
Diese Einsicht haben wir seit der BSE-Krise. Die von Ihnen geführte Diskussion darüber, was vorher war, halte
ich für relativ albern, weil Sie für eine über Jahre hinweg
verfehlte Umweltpolitik die Verantwortung tragen. Sie
sollten bereit sein, das endlich zuzugeben.
({1})
Ein weiterer Punkt hat mich stutzig gemacht. Die Kollegin Sehn hat gesagt, keiner könne nachweisen, ob es
sich tatsächlich um eine Klimakatastrophe handelt.
({2})
Ich empfehle allen, die das behaupten, einmal in den
Schwarzwald zu gehen und sich anzuschauen, was das
Orkantief „Lothar“ dort angerichtet hat.
({3})
Dort ist ein Schaden in ungeheurem Ausmaß entstanden.
Die Forstwirte und auch die Wissenschaftler sagen sehr
klar, dass das mit den globalen Klimaveränderungen zusammenhängt.
Deswegen wird sich die Waldpolitik der Bundesregierung gerade im nächsten Jahr, wenn wir zehn Jahre Rio
feiern, daran orientieren, eine moderne Klimaschutzpolitik zu machen.
({4})
Diese moderne Klimaschutzpolitik ist eine der Grundvoraussetzungen dafür, dass wir die Situation des Waldes in
Deutschland, aber auch der Wälder weltweit verbessern.
({5})
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Herr Kollege Hornung.
Herr Staatssekretär,
Sie haben gerade zu Recht auf die riesigen Schäden durch
den Sturm „Lothar“ im Schwarzwald und in anderen
Regionen hingewiesen. Können Sie dem Plenum sagen,
wie viel Unterstützung die Bundesregierung den dortigen
Waldbauern gegeben hat, und können Sie dem Plenum
auch sagen, in welcher Größenordnung eine Firma, die
sich ähnlich nennt, nämlich Holzmann, fast gleichzeitig
Geld bekommen hat?
({0})
Nachdem ich heute der Presse entnommen haben, dass
diese Firma wieder 100 Millionen DM Schulden hat, können Sie mir vielleicht sagen, welchen Stellenwert Sie dem
im Zusammenhang mit dem, was Sie hier erzählen, einräumen.
Herr Kollege, ich kann Ihnen selbstverständlich sagen, was die Bundesregierung im letzten Jahr
gemacht hat: Sie hat sich, weil die Situation in BadenWürttemberg so schwierig war, weil die Kahlschläge so
massiv waren, weil das Holz im Wald lag, weil die Gefahr
durch Borkenkäfer und Ähnliches groß war, entschlossen,
über den Plan hinaus Mittel zur Verfügung zu stellen.
({0})
- Soll ich die Frage jetzt beantworten oder nicht?
({1})
Ich weiß, dass wir dafür zusätzlich 30 Millionen DM bereitgestellt haben;
({2})
denn ich habe im Haushaltsausschuss gesessen und das
durchgesetzt, lieber Herr Kollege.
Ich will aber ausführen, dass die Bundesregierung
hierzu bereit war, obwohl Baden-Württemberg die Last
eigentlich hätte alleine tragen müssen. Wir haben gesagt:
Die Krise ist so groß, dass wir trotzdem helfen. Sie sollten froh sein, dass diese Hilfe zustande gekommen ist und
wir nicht Vergleiche zum Beispiel mit Holzmann
({3})
oder anderen gezogen haben, die nun wirklich hinken und
jeder Beschreibung spotten. Das ist der entscheidende
Punkt.
({4})
Schließlich stand beispielsweise der von mir nicht
sehr geliebte hessische Ministerpräsident Koch in der ersten Reihe, als die Forderung gestellt wurde, man müsse
Holzmann dringend helfen. Das bitte ich hier einmal zur
Kenntnis zu nehmen. Sonst mögen Sie doch den Koch immer so gerne, also sollten Sie auch das zur Kenntnis nehmen.
({5})
Die Biomasseverordnung ist angesprochen worden.
Sie wird dem Wald helfen, weil wir aus dem Wald zusätzlich Energie gewinnen können, und sie wird uns
ebenso hinsichtlich der nachwachsenden Rohstoffe und
der Verringerung der Ammoniakemission helfen.
({6})
Das sind die konkreten Maßnahmen, die wir durchgesetzt haben und zu denen Sie nie in der Lage waren. Unser Ministerium wird den Wald sowohl in wirtschaftlicher
als auch in ökologischer Hinsicht sehr ernst nehmen. Sie
können sicher sein: Diese Bundesregierung wird, egal ob
wir über die Verkehrswende oder über die Ökosteuer reden, nichts unversucht lassen, Politik zu machen, die am
Ende des Tages dem Wald nutzt. Denn - das ist eine alte
Weisheit - was dem Wald nutzt, das nutzt auch uns Menschen. Das leitet uns.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 14/4235. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung die Kenntnisnahme des Waldzustandsberichts 1999 auf Drucksache 14/3090. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Wir
haben das also alle zur Kenntnis genommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrages der
Fraktion der CDU/CSU zum Waldzustandsbericht 1999,
Drucksache 14/3095. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4967 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 14/5560 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. - Damit sind Sie einverstanden.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatzpunkt
5 auf:
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietrich
Austermann, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Paul
Breuer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Nachtragshaushalt zur Korrektur der Entwicklung der Bundesfinanzen vorlegen
- Drucksache 14/5449 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Verteidigungsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Sofortmaßnahmen zur Verbesserung des
Verbraucherschutzes und zur Unterstützung
der landwirtschaftlichen Betriebe erforderlich
- Drucksache 14/5544 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist ein ziemliches Unding, dass das Parlament über sein Königsrecht, das Haushaltsrecht, diskutiert und der Finanzminister nicht
anwesend ist. Ich halte das für empörend.
({0})
Es wäre durchaus angebracht, darüber zu entscheiden, ob
man den Minister hierher zitiert. In den letzten acht Wochen haben sich nämlich Entscheidungen ergeben, die bei
den Bürgern und Betrieben Klarheit darüber erfordern,
wie es mit der Finanz- und Haushaltspolitik weitergeht.
Ich nehme an, Minister Eichel ist wieder einmal mit
der Flugbereitschaft unterwegs, wahrscheinlich im hessischen Wahlkampf.
({1})
- Es mag auch sein, mit dem BGS.
({2})
- Bei dieser Gelegenheit, Herr Kollege Diller, möchte ich
daran erinnern, dass ich vor 14 Tagen danach gefragt
habe, wann er die angekündigten Listen für die angeblichen Dienstflüge dem Rechnungshof vorlegen wird.
Meine Damen und Herren, in der Haushaltsdebatte am
28. November letzten Jahres habe ich für die Union gesagt, Sie „haben durch falsche wirtschaftspolitische Weichenstellungen die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen verschlechtert“. Weiter:
Infolgedessen trüben sich die Wachstumsaussichten
für das kommende Jahr ein. ... Bei dem vorgelegten
Haushalt stimmt doch alles hinten und vorne nicht ...
Um die Ausgaben 2001 künstlich herunterzurechnen,
hat man versucht, ein paar Ausgabepositionen einfach
wegzulassen. Dies ist eine Missachtung des Parlaments,
eine Missachtung der Entscheidungshoheit, die wir in dieser Frage haben, und dies zeigt, dass nicht Klarheit und
Wahrheit herrschen. Man muss hierzu deutlich sagen: Der
Bundesfinanzminister ist aufgefordert, jetzt einen Nachtragshaushalt vorzulegen, in dem Einnahmen und Ausgaben gegenübergestellt werden.
({3})
Alle Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass in diesem Jahr gewaltige Löcher im Bundeshaushalt klaffen.
Das ist auch nicht zu bestreiten. Herr Kollege Metzger hat
selbst von mindestens 6 Milliarden DM gesprochen. Nun
sagt der Kollege Metzger gelegentlich Zutreffendes,
manchmal sogar ein bisschen Konservatives; aber wenn
es dann darum geht, dass entschieden wird, ist er meistens
in den Büschen.
({4})
Hier wäre er jetzt gefordert, mit uns zusammen dafür zu
sorgen, dass wir Ordnung in die Bundesfinanzen bringen.
({5})
Dass der Bundesfinanzminister das Parlament nicht
achtet, ist schon bei den UMTS-Lizenzen deutlich geworden. Hier ist immerhin ein Betrag von 100 Milliarden DM am Parlament vorbeigeführt worden. Heute muss
man sagen, dass das Ganze ein Flop war; das ist jedenfalls
die vorherrschende Meinung der Unternehmen, die Lizenzen gekauft haben, und die vorherrschende Meinung
in der Wirtschaft. Man muss sich einmal fragen, wie die
250 Milliarden DM - 100 Milliarden DM für Lizenzausgaben und 150 Milliarden DM für Investitionen - so
Vizepräsidentin Anke Fuchs
erbracht werden können, dass sich das Ganze hinterher
auch rechnet.
Der Finanzminister ist im letzten Jahr beim TelekomVerkauf an der Frankfurter Börse stolz wie ein Gockel
herumspaziert. Heute schaut er als der nach wie vor größte
Telekom-Aktionär wie auch Millionen Kleinaktionäre auf
den dramatisch gesunkenen Kurs der Aktie. Ketzerisch
könnte man sagen, Eichel habe die Bundesschulden mit
den Vermögensverlusten der Kleinanleger finanziert.
({6})
Meine Damen und Herren, am Parlament vorbei laufen
auch manche anderen Privatisierungseinnahmen. Wahrscheinlich weiß noch nicht einmal jeder Abgeordnete der
Koalition, wie viel Geld aus den Verkäufen von Post und
Telekom „gebunkert“ wird. Die genaue Zahl der Erlöse
aus der Privatisierung der Bundesdruckerei ist nicht bekannt. Eine genaue Auskunft über die Einnahmen aus dem
mittelstandsfeindlichen Verkauf der Ausgleichsbank und
aus dem Verkauf der DEG wird uns verweigert. All dies
bestätigt, dass der Finanzminister in einer Situation, die
auf der einen Seite dramatisch ist und auf der anderen
Seite durch ein erhebliches Maß an Einnahmen gekennzeichnet ist, die er der Vorgängerregierung verdankt, in
beträchtlichem Umfange über Geld verfügt.
Der Bundesfinanzminister trickst ferner bilanztechnisch herum. Ein paar Ausgaben, die bereits bei den Haushaltsberatungen absehbar waren, sind nicht in den Haushaltsplan aufgenommen worden.
Ich rede jetzt gar nicht über die tatsächliche Situation
bei den Steuereinnahmen. Inzwischen weiß jeder Bürger, dass die „größte Steuerreform aller Zeiten“ sich bei
ihm im Portemonnaie kaum bemerkbar gemacht hat.
({7})
Sie wurde als eine Jahrhundertreform verkauft. Sie war es
übrigens nicht. Es gab eine bessere. Die Reform von
Gerhard Stoltenberg war wesentlich besser.
({8})
Sie wurde als die Jahrhundertreform verkauft, aber sie
ist zurzeit in den Portemonnaies der Bürger nicht zu
spüren, obwohl - was man sich auf der Zunge zergehen
lassen muss - der Finanzminister im letzten Jahr 47 Milliarden DM mehr an Steuern eingenommen hat als im
Jahre 1998. Er wird auch in diesem Jahr trotz der angeblich größten Steuerreform mindestens 40 Milliarden DM
mehr Steuern einnehmen als zu unserer Zeit. Das ist ein
trauriger Rekord, denn das bedeutet auf der anderen Seite
Belastung von Bürgern und Betrieben in einem unerhörten Ausmaß.
Meine Damen und Herren, die Bürger sind verunsichert über die Haushalts- und Finanzpolitik,
({9})
durch die Wackelpuddingpolitik des Bundeskanzlers und
seines Finanzministers.
({10})
- Nein, das ist keine Panikmache. Das drückt sich zum
Beispiel konkret in den Wachstumserwartungen aus, Herr
Kollege Wagner, die deutlich nach unten korrigiert werden müssen,
({11})
was wir Ihnen vorhergesagt haben.
Eine Politik, die auf der einen Seite die Wirtschaft, die
Bürger und die Betriebe durch Ökosteuer, durch Energiesteuer und durch andere hohe Ausgaben zusätzlich belastet und auf der anderen Seite in geringerem Maße bei den
Steuern entlastet, kann doch nicht wachstumsförderlich
sein. Ich glaube, das ist ziemlich klar.
({12})
Sie reden in Ihrer Koalition durcheinander. Der eine
sagt, die Kindergelderhöhung kommt. Der andere redet
vom höheren Betreuungsbetrag. Dann stellt man die Kindergelderhöhung wieder einmal infrage. Dann wird gesagt: Die Ökosteuer ist zu labil, deswegen müssen wir die
Mehrwertsteuer um zwei Punkte erhöhen. - Das war übrigens 1998 ein interessantes Wahlkampfthema. - Dann
spekuliert man in anderen Bereichen. Die Bürger wollen
Klarheit haben. Hören Sie mit der Verunsicherung der
Menschen auf.
Um das gleich aufzunehmen: Wenn die Behauptung
kommt, Sie hätten mit der Förderung der Familien erst
einmal angefangen, dann halte ich entgegen: Sie werden
das nicht einholen. Zu Ihrer Zeit wurden Kinderfreibeträge abgeschafft. Wir haben das korrigiert und das Kindergeld für das erste Kind immerhin in einem Riesenschritt von 50 auf 220 DM pro Monat erhöht.
({13})
Meine Damen und Herren, das Parlament wird von dieser Regierung und von der Koalitionsmehrheit nicht ernst
genommen, wie sie gleichzeitig die Aufgabe, die sie im
Parlament hat, nicht ernst nimmt. Das drückt sich darin
aus, dass die Mehrheit abgelehnt hat, den Finanzminister
Eichel und Herrn Scharping im Haushaltsausschuss zu
hören, sie einzubestellen, um sie zur Finanzsituation zu
befragen und insbesondere Auskunft zu den Bundeswehrfinanzen zu erhalten. Gestern im Verteidigungsausschuss
ergab sich genau das gleiche Bild. Die Regierung meidet
das Parlament und das ist unparlamentarisch.
({14})
Dabei wird die Realität ignoriert. Sie können das an einem Beispiel sehen. Ich will gar nicht zitieren, was der
Vorsitzende des Bundeswehr-Verbandes über den Verteidigungsminister sagt.
({15})
- Gut, Herr Kollege Roth, dann will ich das tun: der
schwächste Verteidigungsminister aller Zeiten.
({16})
Daran hat der Finanzminister einen erheblichen Anteil,
der dem Verteidigungsminister in diesem Jahr 2 Milliarden DM an notwendigen Mitteln verweigert, sodass man
heute feststellen muss: Die Bundeswehr ist pleite. Wichtige Ausgaben der Instandhaltung können nicht geleistet
werden.
Meine Damen und Herren, wir sagen: Wir brauchen einen Nachtragshaushalt, um Ausgaben und Einnahmen
wieder in die Buchhaltung des Bundes aufzunehmen.
Dafür gibt es klare Gründe:
Erstens. Das wirtschaftliche Wachstum fällt niedriger
aus. Das hat Auswirkungen auf die Steuereinnahmen.
Wenn man wie der Bundeskanzler von einem Wachstum
von 2,8 Prozent Wirtschaftswachstum ausgeht, was völlig
utopisch ist, aber eher mit einem Wachstum von nur
2 Prozent rechnen muss, dann ist klar, dass gehandelt werden muss.
Es ist ja auch interessant, welche Argumente bei diesem Thema hier vertreten werden. Wenn das Wachstum
gut läuft wie im letzten Jahr, dann lag es an der Bundesregierung; wenn es - wie in diesem Jahr ersichtlich schlecht läuft, dann waren es die Amerikaner oder wer
sonst auch immer; vielleicht waren es auch die Institute.
({17})
Nein, es ist die Regierung, die durch Energieverteuerung, unter anderem durch die Ökosteuer, der Volkswirtschaft Lasten von 65 Milliarden DM auferlegt.
({18})
Dann braucht man sich nicht zu wundern, dass die Steuerreformentlastung nicht greift. Wenn Sie sich heute die
Spritpreise ansehen, dann stellen Sie fest, dass von dem
Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“ schon lange keine
Rede mehr ist, sondern eher von dem Slogan „Freie Fahrt
für reiche Bürger“.
Sie errichten ständig neue Hürden für Investitionen,
bei der Mitbestimmung, bei der Teilzeitarbeit, bei den
AfA-Tabellen, bei der Energiebesteuerung, bei befristeten
Arbeitsverhältnissen und bei vielen anderen Dingen in
den Betrieben und beim Mittelstand und bewirken damit
eine zusätzliche Kostenbelastung.
Ich habe gesagt: Wir müssen auflisten, was an Haushaltsdefiziten zurzeit da ist, was nicht verzeichnet ist. Ich
habe das Wachstum und damit die Steuereinnahmen angesprochen. Ich nenne die fehlenden 2 Milliarden DM bei
der Bundeswehr. Ich verweise darüber hinaus darauf, dass
bei der Telekom 400 Millionen zu zahlen sind, und auf das
EXPO-Defizit. Die entsprechenden Mittel wurden Herrn
Gabriel schon im letzten September zugesagt. Dann kann
doch kein Mensch davon ausgehen, dass das Ganze unvorhergesehen und deshalb über Haushaltssperren zu bewältigen ist. Nein, alles das, was jetzt auf dem Tisch liegt,
was an zusätzlichen Ausgaben da ist, war vor Abschluss
des Haushalts bekannt.
Der Kollege Hollerith wird zum Thema BSE Stellung
nehmen. Wir haben hier am 27. November den Antrag gestellt, ein Sofortprogramm für die Landwirtschaft zu initiieren. Das ist von Ihnen abgelehnt worden.
({19})
Das heißt, bei den Haushaltsberatungen war bekannt: Hier
kommt eine Belastung auf den Bund zu.
({20})
Das hat man damals ignoriert. Das kann man jetzt nicht
mit überplanmäßigen Ausgaben bewältigen; es muss ein
Nachtragshaushalt her.
Ich weiß natürlich, warum Sie das scheuen,
({21})
nämlich weil es im Ergebnis dazu führt, dass zugegeben
werden muss, Herr Kollege Poß, dass in diesem Jahr, wie
im letzten Jahr und im Jahre 1999, die Ausgaben gestiegen sind. Ein Finanzminister, der die Ausgaben nicht im
Griff hat, ist aber kein guter Finanzminister. Wenn also die
Ausgaben nur deshalb nach unten gerechnet werden, damit die Steigerung bei den Ausgaben nicht erkennbar ist,
dann ist das Trickserei und hat mit Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit nichts zu tun.
({22})
Es gibt weitere Belastungen, die bisher im Haushalt
nicht aufgeführt worden sind.
({23})
- Ich kann Sie leider nicht verstehen, Frau Kollegin Wegner, aber ich nehme an, Sie wollten mir zustimmen.
Ich nenne die Belastung aus der Rentenreform, die
sich in den nächsten Jahren fortsetzen wird. Ich meine die
Grundsicherung, die die Kommunen trifft. Ich nenne auch
noch das Kindergeld und die Privatvorsorge bei der
Rente. Auch hier werden zusätzliche Mittel gebraucht.
Ich nenne den Transrapid. Auch hier war erkennbar,
dass es zusätzliche Belastungen geben würde, und zwar in
Höhe von 400 Millionen DM. Bisher sind sie nicht verbucht.
({24})
Ein ganz wichtiger Punkt ist die Arbeitslosenhilfe. Sie
ist im Bundeshaushalt in den letzten zwei Jahren mit
3,5 Milliarden DM unterfinanziert gewesen. Auch in diesem Jahr ist erkennbar, dass die dafür vorgesehenen Mittel nicht ausreichen. Frau Kollegin Wegner, Sie wissen
ganz genau, dass wir im letzten Jahr 3,5 Milliarden DM
zusätzlich bereitstellen mussten, weil Sie die Arbeitslosigkeit geschönt und zu niedrige Beträge angesetzt haben.
Das findet in diesem Jahr wieder statt und darauf weisen
wir die Bürger hin. Wir sagen: Der Hans Eichel ist in dieser Frage kein guter Verwalter der Bundesfinanzen. Er
schwimmt auf der einen Seite durch Privatisierungserlöse
und Steuereinnahmen im Geld, auf der anderen Seite
scheut er vor der Wahrheit durch ein klares Bekenntnis zur
tatsächlichen Situation bei den Ausgaben zurück.
({25})
Meine Damen und Herren, wir fordern den Finanzminister auf, schnellstmöglich einen Nachtragshaushalt vorzulegen, um Klarheit und Wahrheit bei den Bundesfinanzen wieder herzustellen, der Wahrheit zum Durchbruch zu
verhelfen. Wir lassen nicht zu, dass den Bürgern vor den
Wahlen im Süden ein Trugbild über die tatsächliche Situation der Staatsfinanzen und der Wirtschaft vorgegaukelt wird. Deswegen fordern wir Sie auf, wenn Sie das
wichtigste Parlamentsrecht, das Budgetrecht, ernst nehmen: Stimmen Sie mit uns dafür, dass ein Nachtragshaushalt vorgelegt wird.
Herzlichen Dank.
({26})
Für die
Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Haushaltspolitiker soll eines auszeichnen, nämlich Seriosität gegenüber Zahlen und Fakten,
insbesondere Seriosität gegenüber den Mitmenschen. All
das lässt Herr Austermann vermissen. Seine Rede war
vom ersten bis zum letzten Satz eine Aneinanderreihung
von widerlichen Unterstellungen.
({0})
Das begann mit seinem ersten Satz, nämlich seiner
Klage über den abwesenden Finanzminister. Wenn er die
Wahrheit gesagt hätte, hätte er zugeben müssen, dass auf
Wunsch der CDU/CSU der Deutsche Bundestag heute
seine Tagesordnung völlig umgestellt hat,
({1})
dass man dieses Thema vom Vormittagstermin, der mit
Hans Eichel möglich gewesen wäre, auf den Nachmittag
verlegt hat, und zwar auf Antrag der Fraktion der
CDU/CSU. Wir haben das akzeptiert. Sich darüber jetzt
aufzuregen und sich zu beschweren, das ist nun wirklich
das Letzte.
({2})
Dass Herr Austermann mit Unterstellungen arbeitet,
sieht man im Übrigen auch bei einem Thema, das sein
Lieblingsthema ist. Dazu sage ich zu Ihrer Unterrichtung:
Das Bundesverteidigungsministerium hat dem Bundesrechnungshof längst alle notwendigen Listen vorgelegt.
({3})
- Zu Ihrer weiteren Unterrichtung: Hans Eichel ist derzeit auf dem Wege zu einem Landesfinanzminister, um
sich mit ihm über das Thema Bund-Länder-Finanzausgleich zu unterhalten.
({4})
Der vorliegende Antrag der CDU/CSU setzt etwas fort,
was wir bereits vor einem Jahr ertragen mussten. Same
procedure as last year, könnte man also sagen. Denn auch
damals hat die Opposition einen Nachtragshaushalt gefordert, weil der Haushalt 2000 angeblich aus dem Ruder
laufe.
Im Haushaltsvollzug hat Herr Austermann dann das
Thema gewechselt. Plötzlich war nichts mehr davon zu
hören, dass alles aus dem Ruder laufe. Vielmehr kam der
Vorwurf auf, Hans Eichel schwimme im Geld. Anfang Januar dieses Jahres hat der gleiche Herr Austermann gegenüber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ eine Prophetie in die Vergangenheit - nicht in die Zukunft gewagt, indem er gesagt hat, im abgelaufenen Haushaltsjahr 2000 würden die Ausgaben nach seiner Schätzung
um 3 Milliarden DM höher liegen als veranschlagt.
Tatsächlich lag der Abschluss des Haushalts 2000 um
3 Milliarden DM unter der veranschlagten Neuverschuldung. Statt 3 Milliarden DM Mehrausgaben, wie von
Herrn Austermann noch Anfang Januar - rückwirkend prophezeit, hatten wir 800 Millionen DM Minderausgaben. Das zeigt die Qualität dieses Propheten in Bezug auf
den Haushalt.
({5})
Herr Fraktionsvorsitzender, Sie sollten sich für dieses
Thema einen neuen Propheten suchen.
Im Übrigen möchte ich auf Folgendes hinweisen: Unter Mitwirkung von Herrn Austermann haben CDU/CSU
und F.D.P. dem deutschen Volk eine Verschuldung des
Bundes von 1,5 Billionen DM hinterlassen.
({6})
Für diese gigantische Verschuldung, für Ihre Schulden,
müssen wir in den laufenden Haushaltsjahren fast
80 000 Millionen DM nur an Zinsen zahlen.
({7})
Sie haben die Verantwortung dafür zu tragen - die tragen
Sie heute noch -, dass der Bundeshaushalt finanziell praktisch manövrierunfähig war.
({8})
Es bedurfte unseres Kraftaktes im Rahmen des Konsolidierungsprogrammes 2000, aus dieser HaushaltsnotDietrich Austermann
lage herauszukommen. Das schaffen wir nur, indem wir
im letzten Jahr wie in diesem Jahr eine strikte Ausgabendisziplin einhalten
({9})
und die Neuverschuldung - so auch in diesem Jahr - herunterfahren. Dazu gehört auch die Bewirtschaftung der
Haushaltsmittel. Nicht jede Mark, die veranschlagt ist,
muss auch ausgegeben werden. Darauf werden wir weiterhin genau achten.
Wir haben im laufenden Haushalt unvorhergesehene
und unabweisbare Zusatzbelastungen; das ist richtig.
Diese Belastungen sind aber beherrschbar, weil wir an unserem Konsolidierungsprogramm festhalten.
Eines ist klar: Die Grenze der im laufenden Haushaltsjahr auffangbaren Zusatzbelastungen ist nun fast erreicht.
Der Bund wird daher keinesfalls über seine Finanzierungsverantwortung hinaus weitere Mittel, die im Rahmen der BSE-Krise erforderlich werden, übernehmen
können. Als Folgekosten aus der BSE-Krise haben Bund
und Länder gemeinsam 2 Milliarden DM kalkuliert. Von
diesem Betrag entfällt nach den bestehenden Finanzierungsverantwortlichkeiten rund 1 Milliarde DM auf
den Bund. Wir sind bereit, diese zu tragen.
So leisten wir beispielsweise auf EU-Ebene unseren
Anteil. Denn die EU hat vor wenigen Wochen beschlossen, einen Nachtragshaushalt in der Größenordnung von
1 Milliarde Euro vorzulegen, wofür sie bei uns auf der
Einnahmenseite 500 Millionen DM abbuchen wird, um
ihren Haushalt zu finanzieren. Dies war absolut unvorhersehbar und unabweisbar. Wir werden diese Mindereinnahmen im Rahmen der im Einzelplan 60 veranschlagten Ansätze für die EU-Abführungen auffangen.
Außerdem haben wir außerplanmäßige Ausgaben in Höhe
von 300 Millionen DM für die BSE-Krise bewilligt.
Bei der Unterrichtung des Haushaltsausschusses des
Deutschen Bundestages am 7. Februar 2001 über diese
außerplanmäßigen Ausgaben wurde die BMF-Vorlage im
Übrigen ohne Einschränkung zur Kenntnis genommen.
({10})
Deswegen können die jetzt nachträglich erhobenen
Rechtsbedenken überhaupt nicht nachvollzogen werden.
Über die Finanzierung der Restmittel werden zurzeit
weitere Gespräche geführt.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Bitte sehr.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Herr Staatssekretär, können Sie uns noch einmal darstellen, wie Sie nun die finanzielle Abwicklung der BSE-Krise gestalten wollen?
Sie haben zwar Zahlen genannt und Sie haben gesagt, was
der Bund tragen will. Nun lese ich aber, dass die andere
Finanzexpertin Ihrer Partei, Frau Heide Simonis, sagt,
von den Ländern gebe es keinen Pfennig; denn durch die
Politik des Bundes seien die Kassen der Länder bereits so
gerupft worden, dass sie kein Geld mehr habe. Wie können Sie also erwarten, dass die Länder zuzahlen? Wenn
Sie zu einer Einigung kommen, darf ich dann bitte gleichzeitig von Ihnen wissen, wann Sie mit dieser Einigung
rechnen?
Herr Kollege Koppelin, ich bin gerade dabei, das aufzufächern. - Wir haben also 500 Millionen DM
dadurch zu leisten, dass die EU einen Nachtragshaushalt
zur Bewältigung der BSE-Krise aufstellt. Da ist - das ist
der erste Punkt - unser Anteil, 500 Millionen DM Steuereinnahmen an die EU abzuführen.
Zweiter Punkt: Ich habe Ihnen gerade dargelegt, dass
wir 300 Millionen DM außerplanmäßig bereitstellen, die
den Gesamthaushalt betreffen, und weitere Millionen werden aus dem Bereich des Einzelplans 10 erwirtschaftet.
Im Übrigen möchte ich auf eines hinweisen: Wir gehen
in der Finanzierungsfrage exakt entlang der Verantwortlichkeit. Wir tragen das, wofür der Bund verantwortlich
ist. Wir fordern alle anderen auf, im Rahmen ihrer
Verantwortlichkeiten auch die Finanzierungsverantwortung zu übernehmen.
({0})
Denn wir haben rasch und entschlossen -
Herr Kollege Diller, entschuldigen Sie: eine Zusatzfrage des Kollegen Koppelin!
Okay.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Herr Staatssekretär, ich
habe mich bemüht, Sie sehr sachlich zu fragen, wann Sie
denn mit einer Einigung mit den Ländern rechnen. Ich
habe das Beispiel angesprochen, dass Frau Simonis sagt:
Wir haben kein Geld in der Kasse, wir werden nicht zahlen. Jetzt möchte ich von Ihnen hören: Wann erwartet die
Bundesregierung, dass sie sich mit den Ländern einigt?
Darf ich auch fragen, wie weit die Finanzierung der
BSE-Krise auch mit der EU abgesprochen ist und was von
da noch kommen wird?
Herr Koppelin, Sie wissen aus der DiskusParl. Staatssekretär Karl Diller
sion in dieser Woche im Haushaltsausschuss, dass das von
Land zu Land höchst unterschiedlich gehandhabt wird. Es
gibt beispielsweise sogar zwei Länder, nämlich Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, die weit mehr zahlen, als in ihrer eigenen Finanzverantwortung steht, die
sogar Dinge übernehmen, die eigentlich die Betroffenen
in der Wirtschaft tragen müssten.
({0})
Von daher denke ich, dass sich die beteiligten Länder
auch irgendwann einmal schlüssig werden müssen, auf
unser Angebot einzugehen und das zu akzeptieren, was
wir bereit sind, überplanmäßig bereitzustellen. Was nicht
erfolgen darf, Herr Koppelin - darin stimmen Sie mir sicherlich zu -, ist, dass noch endlos weiter auf dem Rücken
der Betroffenen geschachert wird. Wir haben unser Angebot präzise vorgelegt,
({1})
und jetzt sollten alle Beteiligten dem zustimmen.
({2})
Auch der Einzelplan des Bundesverteidigungsministeriums, Herr Austermann, gibt keinen Anlass, einen Nachtragshaushalt für das Jahr 2001 vorzulegen.
({3})
Denn der Herr Bundesverteidigungsminister hat mehrfach im Haushaltsausschuss und im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages festgestellt, dass er
mit seinem Geld auskommt.
({4})
Haushaltsplan und Finanzplan bis 2004 sind im Übrigen einvernehmlich im Kabinett festgelegt worden. Dem
BMVg sind zur finanziellen Entlastung eine Reihe von
Sondervergünstigungen gewährt worden. Ich erinnere daran, dass die eigentlich bei uns etatisierten Sondermittel
für den Osteuropaeinsatz in Höhe von 2 Milliarden DM
nun in den Verteidigungshaushalt überführt worden sind
und dort im Wesentlichen auch für Investitionen genutzt
werden können.
({5})
Ich erinnere auch daran, dass die Mehreinnahmen aus der
Veräußerung beweglichen und unbeweglichen Vermögens bis zu einer Obergrenze von 1 000 Millionen DM in
diesem Jahr und in der Größenordnung von 1 200 Millionen DM im nächsten Jahr ebenfalls dem Einzelplan Verteidigung zur Verfügung gestellt werden, damit Verteidigungsinvestitionen weitergeführt werden können - eine
ungewöhnliche Methode übrigens, die eigentlich wider
alle Prinzipien ist, weil sie natürlich irgendwann zu einer
Versäulung des Haushalts führen könnte.
Das zeigt also, wie großzügig wir in diesem Bereich
sind. Im Übrigen kann der Verteidigungsminister die Ausgaben im Rahmen seiner Bewirtschaftungsmöglichkeiten
auffangen.
Ich will noch eines aufgreifen, was Herr Austermann
angesprochen hat: das Beispiel der EXPO. Auch da kann
man sehen, wie unsinnig seine Formulierungen sind. Herr
Austermann hat in der Öffentlichkeit prophezeit, es gäbe
für den Bund eine zusätzliche Belastung von mehr als
1 Milliarde DM. Das ist überhaupt nicht nachvollziehbar;
denn bei einem zu erwartenden EXPO-Defizit - Herr
Austermann, wenn Sie sich einmal sachkundig machen
würden - von 2,4 Milliarden DM ergeben sich für den
Bund noch zu finanzierende Mehrkosten von 400 Millionen DM. Sie kennen Ihren eigenen Haushalt nicht.
({6})
Also, Herr Fraktionsvorsitzender, überlegen Sie sich eine
neue Besetzung dieses Postens.
({7})
Deswegen bleibt eines richtig: Wir wollen erst einmal
abwarten, bis die - ja, was ist es? - GmbH in Liquidation
ihre endgültigen Zahlen vorgelegt hat, bis die geprüft
sind.
({8})
Dann erst wird ja das endgültige Ergebnis feststehen
können und dann werden wir diese Geschichte auch
schultern, und zwar so, dass sie im Jahre 2002 geschultert
wird.
Die Steuereinnahmen, meine Damen und Herren,
sind in 2000 zwar um 6 Milliarden DM hinter dem Ergebnis der Steuerschätzexperten des Bundes und aller
Länder geblieben. Die haben im November getagt und uns
für Ende Dezember 6 Milliarden DM Mehreinnahmen
prognostiziert; das ist leider Gottes nicht eingetroffen.
Gleichwohl waren die eingegangenen Steuereinnahmen
um 1,3 Milliarden DM höher, als es den veranschlagten
Sollzahlen entsprach. Das bedeutet, dass sich ein Teil der
prognostizierten Steuermehreinnahmen, die dann nicht
eingetreten sind, weil wir den Haushaltsplan 2001 aufgrund dieser Prognose für 2001, wie das seit Jahrzehnten
üblich ist, aufgestellt haben - mit Ihrer Zustimmung übrigens -, nun als Steuermindereinnahmen als Basiseffekt
für dieses Jahr und die kommenden Jahre in der Finanzplanung durchwälzen wird.
Darüber haben wir den Haushaltsausschuss bereits bei
der Vorlage des endgültigen Haushaltsabschlusses für das
Jahr 2000 unterrichtet. Ich kann Ihnen sagen, dass Tatsache ist, dass es einen erfreulichen Steuereinnahmenzuwachs beim Bund sowohl im Januar wie im Februar gegeben hat; im Februar hat er sich schon deutlich korrigiert,
weil der Januarmonat besonders starke Einmaleffekte
hatte.
Insgesamt, meine Damen und Herren, ist das, was Herr
Austermann zum Schluss sagte, wahr. Zum Schluss hat er
nämlich gesagt, dass er das alles wegen der anstehenden
Wahlen macht.
({9})
Deswegen ordnen wir das ordentlich ein, kehren zurück
zur Sachpolitik; und die Sachpolitik sagt, für einen NachParl. Staatssekretär Karl Diller
tragshaushaltsplan für dieses Jahr besteht überhaupt kein
Anlass.
Ich bedanke mich.
({10})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Birgit
Schnieber-Jastram von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär Diller, ich möchte eine kleine Einlassung von Ihnen korrigieren. Sie haben eben gesagt, auf
unseren Wunsch finde diese Debatte erst zu diesem Zeitpunkt statt. Offensichtlich haben Sie den Kontakt und den
Informationsfluss zur eigenen Fraktion verloren; denn ich
darf Ihnen sagen, dass die eigentlich für diesen Nachmittag geplante Debatte zum Thema der transatlantischen Beziehungen auf Ihren Wunsch hin auf den Vormittag verlegt
worden ist, und dementsprechend kam alles andere ins
Rutschen. Herr Minister Eichel scheint mir übrigens heute
den ganzen Tag über doch eher nicht im Hause zu sein.
Meine Anregung also: Informieren Sie sich das nächste
Mal bei Ihren eigenen Geschäftsführern der Fraktion darüber, was wirklich Sache ist.
({0})
Herr
Staatssekretär, zur Beantwortung, bitte.
Frau Kollegin, ich habe mich hierbei auf
folgende Unterrichtung gestützt.
({0})
Der Leiter der Fraktionsverwaltung der SPD hat festgehalten: Dass zu diesem Tagesordnungspunkt am Nachmittag und nicht wie ursprünglich von der CDU beabsichtigt am Vormittag debattiert wird,
({1})
liegt einzig und allein daran, dass man dem Wunsch nachgekommen ist, die Debatte über die transatlantischen Beziehungen in Anwesenheit des Außenministers in der
Kernzeit zu führen.
({2})
Ich erteile
jetzt dem Kollegen Günther Rexrodt von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Bisher wurde sie als Markenzeichen
der rot-grünen Koalition geführt, die Finanzpolitik von
Hans Eichel. Der Kanzler hatte ihn machen lassen.
Wer sich nur eineinhalb Jahre zurück erinnert, weiß,
dass es der Konsolidierungskurs der Bundesregierung
war, der den Bürgern erstmals nach dem desaströsen
Jahr 1999 wieder ein Stück Zutrauen gab - und zugleich
Hoffnung auf mehr Geld.
Nach den - übrigens bis heute unkorrigierten - Entscheidungen zur Scheinselbstständigkeit, zu den 630Mark-Jobs und zum Kündigungsschutz kam nun der sparsame Hans und verkündete: Die Nettoneuverschuldung soll
mittelfristig auf null gebracht werden. Steuerentlastungen
stehen an. Dann kam die Sache mit der Ökosteuer. Nun, die
hat man nicht geliebt, aber die Rentenbeiträge sollten ja
nicht erhöht werden. Der unerwartete Geldsegen aus der
UMTS-Versteigerung wurde entgegen der sozialdemokratischen Tradition nicht den Wünschen der Ressorts geopfert. Ja, das erschien akzeptabel und seriös. Die sind doch
eigentlich gar nicht so schlimm, dachten die Bürger.
Wer sich aber mit der Finanzpolitik und speziell mit
den Haushaltsansätzen 2000 und 2001 befasst hatte,
merkte bald, um was es ging: einerseits Verringerung der
Staatsschuld aufgrund außergewöhnlich guter Einnahmen - gut so! - und andererseits keine wirklichen Veränderungen auf der Ausgabenseite. Im Gegenteil: Seit der
Regierungsübernahme - das muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen - sind die Ausgaben um 22 Milliarden DM gewachsen. In den Jahren 2000 und 2001 blieben
bzw. bleiben sie auf hohem Niveau konstant. Ab 2002
steigen sie wieder bis auf eine halbe Billion DM 500 Milliarden DM! Das ist noch nie da gewesen.
({0})
Die für eine Verbesserung auf der Ausgabenseite notwendigen Hausaufgaben sind von Hans Eichel nicht gemacht worden.
({1})
Hans Eichel war aufgrund der Entwicklung auf der
Einnahmenseite der Hans im Glück. Nun hat ihn - deshalb stehen wir hier - das Leben eingeholt: Wer keine Vorsorge trifft, den erwischt es auf falschem Fuße. So ist das
mit ungedeckten Ausgaben. Wenn dann noch etwas mit
der Konjunktur passiert, befindet sich das Schiff Finanzpolitik in ganz schwerem Fahrwasser.
({2})
Mit dem Leichtwasserfahrzeug, das Sie mit Ihrem Haushalt 2001 gebaut haben, werden Sie da nicht durchkommen, meine Damen und Herren von der Koalition.
Das erste Risiko liegt bei der Bundeswehr. Der Umbau ist nicht durchfinanziert. Die Krise ist hausgemacht.
Hier fehlt schon lange ein Konzept.
({3})
Das ist auch kein Wunder, denn große Teile der Grünen
und nicht ganz unerhebliche Teile der Sozialdemokraten
tun sich mit der Bundeswehr schwer, und Herr Eichel war
mit seinem politischen Hintergrund nie ein Fels in der
Brandung.
({4})
Da hält man die Soldaten erst einmal kurz. Offene
Rechnungen aus dem Jahre 2000 in Höhe von 800 Millionen DM wurden in das Jahr 2001 geschleppt. Dies ist ein
Unding an sich.
({5})
- Das ist nicht richtig, Herr Wagner. Den Beweis dafür
können Sie nicht antreten.
({6})
Wir haben auch dann, als die Einnahmensituation sehr
viel schlechter war, zur Bundeswehr gestanden und haben
das für die Bundeswehr getan, was wir leisten konnten.
Das weiß die Truppe.
({7})
Sie haben es nicht gemacht, und deshalb ist die Truppe demotiviert. Gehen Sie doch einmal zu den Standorten. Ich
war jetzt während des Wahlkampfes an einigen Standorten in Hessen. Sehen Sie sich diese einmal an und sprechen Sie mit den Soldaten darüber, wie die über Sie und
Ihre Koalition denken. Die fühlen sich im Stich gelassen.
Das ist eine Tatsache.
({8})
Herr Wagner, es sind russische Verhältnisse eingetreten. Fahrzeuge werden ausgeschlachtet, damit andere
noch fahren können. Das ist ein Faktum und das Ergebnis
Ihrer Politik. Das muss laut gesagt werden.
({9})
Dann gibt es noch das Defizit bei der EXPO. Das gibt
es schon, Herr Staatssekretär Diller.
({10})
Sie haben viel zu wenig in den Haushalt eingestellt. Solange kein endgültiger Abschluss der EXPO vorliegt - so
wird gesagt -, solle man die Finanzierung offen lassen.
Ob nun zwischen dem Bund und dem Land Niedersachsen im Verhältnis 50:50 oder im Verhältnis zwei Drittel zu
einem Drittel geteilt wird: In jedem Fall ist für Hunderte
Millionen, wenn nicht für Milliarden, Herr Diller, keine
Vorsorge getroffen. Das ist keine solide Haushaltspolitik.
({11})
Dann gibt es noch die zusätzlichen Verpflichtungen
aufgrund der BSE-Krise. Hoffen wir, dass nicht noch anderes hinzukommt, aber auszuschließen ist es nicht. Dass
diese Krise und zusätzliche Aufwendungen auf uns
zukommen, kann man der Bundesregierung, wenn man
fair ist, nicht vorwerfen. Aber man kann ihr sehr wohl die
Art vorwerfen, mit diesen Dingen umzugehen.
({12})
Die Bauern wissen nicht, wo es langgeht. Sie haben
den Eindruck, die Krise ginge allein zu ihren Lasten. Die
Verunsicherung wächst jeden Tag. Auch nenne ich hier
das Gezerre zwischen dem Bund und den Ländern, wer
nun was bezahlt.
({13})
Die Bauern haben den Eindruck - das sage ich auch aus
persönlicher Erfahrung aus Gesprächen auf den Höfen
mit den Bauern -: Sie sind die Leidtragenden.
({14})
Zusätzlich gibt es noch das Gezerre zwischen Brüssel und
Berlin. Die Geprellten - so wird es aufgenommen und so
ist es auch - sind die Bauern.
Gleichzeitig - der Herr Staatssekretär ist nun nicht
mehr da - wird großspurig von der Agrarwende in
Deutschland gesprochen. Wie soll denn das passieren,
wenn die Komplementärmittel für Brüsseler Beiträge fehlen, die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz heruntergefahren werden soll und die Reduzierung
des Steuersatzes beim Agrardiesel, die als Einkommensausgleich gepriesen wurde, wieder abgeschafft werden
soll? „Die Bauern wählen uns sowieso nicht“, das ist
keine Politik, die dem Gemeinwohl verpflichtet ist. So
kann man nicht vorgehen.
({15})
Es gibt noch andere Risiken im Haushalt, Herr Diller.
Ich will das nicht im Einzelnen ausführen, sondern nur die
Stichworte Transrapid und Rückerstattung an die Telekom nennen.
({16})
Zwei Dinge möchte ich aber noch kurz ansprechen. Das
eine ist der Arbeitsmarkt. Am Arbeitsmarkt ist der erhoffte Durchbruch nicht gelungen. Zwar sind die Arbeitslosenzahlen moderat gefallen. Aber wir wissen alle,
dass dies viel mit der Demographie und auch etwas mit
der besseren Konjunktur zu tun hat. Deswegen jedoch der
Bundesanstalt die Zuschüsse um 6,5 Milliarden DM zu
kürzen, das war nicht berechtigt. Ich sage Ihnen: Sie werden da noch Ihr blaues Wunder erleben.
Wenn Sie nicht das verkrustete Arbeitsrecht aufbrechen und statt Flexibilität und Teilhabe jetzt auch noch mit
der Ausweitung der Mitbestimmung lieber den Dino-Vorstellungen von Herrn Zwickel Folge leisten - mit anderen
Worten: mehr Macht den Gewerkschaften -, werden Sie
die Probleme des Arbeitsmarktes nicht in den Griff bekommen. Das kostet das Geld der Wirtschaft, das Geld
des Finanzministers und damit unser aller Geld.
({17})
Der zweite Punkt: Ich gehöre bei der Konjunktur
nicht zu den Skeptikern, eher im Gegenteil. Aber ich erinnere mich noch sehr wohl, meine Damen und Herren
von der Koalition: Als damals 1998 die konjunkturelle
Wende und der Umschwung kamen, haben Sie - das
Theater in Bonn sehe ich noch vor mir - gerufen: Das ist
nur auf den Export zurückzuführen. Wo würden Sie denn
konjunkturell stehen, wenn es den Export nicht gäbe?
Das ist das Dilemma, in dem Sie sich befinden.
({18})
Wer wird denn in Abrede stellen können, dass die Entwicklung in den USA auf uns Auswirkungen haben wird?
Die japanische Wirtschaft ist über alle Maßen schwach.
Die anderen asiatischen Staaten schwächeln noch. Wollen
Sie weiter in Abrede stellen, dass die Kapitalvernichtung
von 315 Milliarden DM allein am Neuen Markt ohne Auswirkungen auf die Finanzierungsmöglichkeiten der deutschen Wirtschaft ist? Nichts da! Mit dieser Konjunktur
bewegen wir uns wie bei einer Gratwanderung. Das wird
sehr schwierig werden.
({19})
Die Institute haben Recht, wenn sie jetzt den Ansatz
des Wachstums von 2,7 oder 2,8 Prozent auf 2,1 oder
2,2 Prozent reduzieren wollen. Herr Poß, Sie wissen genau: Jedes Prozent kostet 9 Milliarden DM. Das kostet
den Bund also mindestens 3 Milliarden DM.
Das sind enorme zusätzliche Risiken im Haushalt. Wir
wollen wissen, was Sache ist. Kein Lavieren und kein
Hinhalten mehr! Wir als Parlamentarier und die Bevölkerung haben das Recht, von Ihnen befriedigende Auskünfte
und konkrete Zahlen zu verlangen. Die Bürger können
dies einfordern. Es ist das erste Recht des Parlaments,
dass wir darauf drängen.
({20})
Wenn Sie das nicht ausführlich und dezidiert machen,
wenn Sie beschönigen und lavieren, dann werden wir erneut mit der Forderung nach einem Nachtragshaushalt
kommen. Jetzt haben Sie die Chance: Legen Sie die Zahlen vor, so wie es sich gehört, und reden Sie die Situation
nicht schön! Sie haben uns über Jahre vorgeworfen, wir
hätten die wirtschaftliche Situation schöngeredet und uns
gesundgerechnet. Das Gegenteil ist der Fall. Sie tun das
und wir haben einen Anspruch darauf, zu wissen, was
wirklich Sache ist. Sie müssen eine überzeugende Haushaltspolitik machen. Wenn Sie das nicht tun, wird das dem
Markenzeichen von Hans Eichel, das zugegebenermaßen
als solches in der Öffentlichkeit zu verkaufen war, nicht
gerecht.
({21})
- Herr Poß, Sie lassen sich zu scharfen, überzogenen und
- nicht in diesem Fall - persönlichen Äußerungen hinreißen. Machen Sie Ihre Arbeit! Dann haben Sie viel
zu tun.
({22})
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Oswald Metzger vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! An die
Adresse der Kollegen Rexrodt, Austermann und Co aus
der Union: Die Finanzpolitik bleibt das Markenzeichen
dieser Koalition. Hans Eichel muss doch eine solche
Diskussion nicht meiden. Der könnte Ihnen angesichts der
unberechtigten Forderungen nach einem Nachtragshaushalt die Leviten lesen.
({0})
Deshalb ist es absurd, hier den Eindruck zu erwecken, der
Finanzminister würde den Kontakt mit dem Parlament
und die öffentliche Debatte über dieses Thema scheuen.
Ich möchte Ihnen in Erinnerung rufen: 1996 - Ihre
Fraktionen hatten die Verantwortung - betrug die Nettokreditaufnahme 78 Milliarden DM, was zum Vollzug eines verfassungswidrigen Haushalts führte. 1997 belief
sich die Nettokreditaufnahme auf 63 Milliarden DM.
1998 - in dem Jahr, in dem wir die Regierung übernommen haben - belief sie sich auf 56 Milliarden DM.
({1})
Im Jahr 1999 betrug die Nettokreditaufnahme 46,5 Milliarden DM und in diesem Jahr werden wir mit einer Nettokreditaufnahme von 43,7 Milliarden DM auskommen.
Das bedeutet, innerhalb des von mir aufgezeigten Zeitraumes - zwei Jahre entfallen auf Ihre Koalitionsregierung
und drei Jahre auf unsere Koalition - ist die Nettoneuverschuldung auf Bundesebene um rund 25 Milliarden DM
reduziert worden. Das ist eine Leistung, auf die diese Koalition stolz sein kann.
({2})
Ohne diese Leistung könnten wir auch nicht zugunsten
der Bürgerinnen und Bürger die Steuern senken, was wir
in diesem Jahr tun.
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rauen?
Bitte, Herr Kollege Rauen. Ich werde meinen Faden nicht
verlieren.
Können Sie bestätigen,
dass in den Jahren 1995, 1996 und 1997 die Steuereinnahmen aller Gebietskörperschaften zurückgegangen
sind und dass wir seit 1998 einen Steuerzuwachs von über
100 Milliarden DM gehabt haben?
Herr Rauen, ich bin froh über diese Frage, weil man daran
sehen kann, dass die kalte Progression, die Sie auch heute
früh in der Mittelstandsdebatte beklagt haben, immer ein
probates Mittel war, die Einnahmen der öffentlichen
Haushalte zu steigern, um den Anstieg der Ausgaben,
- Personal- und Sachkosten steigen natürlich auch ausgleichen zu können. Nur 1997 sind die tatsächlichen
Steuereinnahmen aller staatlichen Ebenen ein einziges
Mal netto geringer gewesen als im Vorjahr. Das stimmt.
Aber 1996 hatten Sie ein großes Loch im Haushalt, weil
1996 die Konjunktur wegbrach, die Arbeitslosigkeit explodierte und Sie einen Finanzminister hatten, der für
seine Haushaltspläne auf Sand gebaute, nicht realitätstaugliche Projektionen verwandte.
({0})
Ich setze meine Ausführungen zu der Senkungsstrategie bei der Verschuldung fort: Kollege Rexrodt - im Allgemeinen ein sachlicher Mann, aber auch für eine spitze
Zunge gut - hat in einem Punkt den Eindruck erweckt, unsere Koalition habe eigentlich nicht gespart, weil 1999 die
Ausgaben um gut 20 Milliarden DM höher gewesen seien.
Das ist richtig. Wissen Sie aber auch, warum die Ausgaben höher waren? - Weil wir in unserer Regierung zum
ersten Mal die Schattenhaushalte - Erblastentilgungsfonds und anderes - im Bundeshaushalt etatisiert haben.
({1})
- Nein, wir haben den Erblastentilgungsfonds in den Zinsausgaben des Bundeshaushalts veranschlagt und damit
sind die Zinsausgaben zwischen 1998 und 1999 entsprechend angestiegen. Ich habe das Material an meinem
Platz. Die Zahlen sind mir präsent; ich kann es Ihnen belegen.
Der Anstieg der Ausgaben in unserer Regierungszeit
resultiert aus dem explosionsartigen Anstieg der Zinsausgaben. Ihre Erblast schlägt durch bis heute. Wer die Verantwortung dafür trägt - meine Damen und Herren von
Union und F.D.P., ich teste das zurzeit im baden-württembergischen Wahlkampf -, können auch Ihre Wählerinnen und Wähler gut einschätzen. Ich sage Ihnen eines:
Bei jeder Wahlkampfveranstaltung kann jeder Sozialdemokrat und jeder Grüne damit punkten, auch vor konservativem und liberalem Publikum. Das tut Ihnen so weh.
Deshalb versuchen Sie immer wieder, die Regierung mit
falschen Behauptungen vor sich herzutreiben. Aber Sie
können uns nicht treiben; denn da haben wir wirklich etwas zu bieten.
({2})
Ich möchte auf die finanziellen Risiken dieses Jahres
zu sprechen kommen. Ich bin für meinen Realitätssinn
bekannt. Unser Kollege Wagner hat als haushaltspolitischer Sprecher der Regierungsfraktionen ebenso wie ich
in den letzten Tagen darauf hingewiesen: Wir müssen uns
vor Übermut hüten. Wir sehen natürlich die negativen
weltwirtschaftlichen Veränderungen, die auch das
Wachstum in Deutschland und in Europa reduzieren werden. Wir dürfen nicht so tun, als könnten wir in diesem
Jahr einfach Steuermehreinnahmen einkalkulieren, um
die möglichen Risiken im Bundeshaushalt finanziell abzufedern. Es handelt sich um Risiken, die unvorhersehbar
waren, wie zum Beispiel BSE. Es ist keine Frage: Die
Milliarde, die Staatssekretär Diller im Zusammenhang
mit den BSE-Folgekosten genannt hat, müssen wir dieses
Jahr im Haushalt auffangen.
Dass die Langzeitarbeitslosigkeit trotz aller Versuche
erschreckend hoch bleibt, müssen wir konstatieren.
({3})
Wenn aber der Obmann der Unionsfraktion Austermann
in der heutigen Ausgabe des „Handelsblatts“ einfach
locker verkündet, man müsse für die Arbeitslosenhilfe
mehr einkalkulieren und deshalb den Bundeszuschuss an
die Bundesanstalt für Arbeit - 1,2 Milliarden DM sind
dafür im Haushalt eingestellt - einfach kassieren, dann
antworte ich ihm, er sollte den Haushalt genau lesen. Er
enthält nämlich einen Deckungsvermerk für Mehrausgaben im Bereich der Arbeitslosenhilfe. Wir haben also mit
einer etatisierten Position im Bundeshaushalt Vorsorge
getroffen, die finanziellen Mehrausgaben für die Arbeitslosenhilfe - Stichwort: Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit - aufzufangen. Wir müssen uns also nicht auf Risiken in Höhe von bis zu 2 Milliarden DM einstellen, weil
wir bereits mit der Etatisierung von Teilbeträgen vorgesorgt haben.
Ich möchte auch an die Debatte über die Bundeswehr
in der letzten Woche erinnern. Es gab eine Auseinandersetzung darum, dass sich der Verteidigungsminister an das
Haushaltsgesetz und die Finanzplanung hält, so wie es
zwischen Kanzler und Finanzminister abgesprochen war.
Das, was unserer Etatplanung zugrunde liegt, wird auch
eingehalten, keine Frage. Staatssekretär Diller hat die Verteidigungspolitiker der Union - ich sehe gerade Herrn
Breuer - zu Recht darauf hingewiesen, dass sie und Verteidigungsminister Rühe es waren, die der Truppe verboten haben, über Reformen nachzudenken,
({4})
und deshalb der jetzigen Koalition, die Reformen auch im
Verteidigungsbereich angeht, nicht vorwerfen dürfen,
Wolkenkuckucksheime zu bauen.
({5})
Wir haben tatsächlich auch im Verteidigungsetat Reserven mobilisiert. Lassen Sie die Gesellschaft zur Verwertung der Bundeswehrliegenschaften die Liegenschaften erst einmal baureif machen und ausgemustertes
Material - dafür sind natürlich mehr als zwei Monate Vorlauf erforderlich - werthaltig verkaufen! Dann werden
wir auch in diesem Bereich Einnahmen erzielen, mit denen wir einen Teil der notwendigen Investitionen finanziell absichern können. Auch das ist seriös und solide. Man
kann der Bundeswehr den Zwang, ihr eigenes Effizienzund Rationalisierungspotenzial zu nutzen, nicht dadurch
ersparen, indem man ihr mehr Geld gibt. Vielmehr muss
man die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Truppe
zwingen, das Notwendige zu tun, um wirtschaftlich und
effizient zu werden, keine Frage.
({6})
Zu einer Generaldebatte über den Nachtragshaushalt
gehört nicht nur - wir wollen natürlich nichts beschönigen - die Diskussion über finanzielle Risiken. Vielmehr
müssen wir unsere Volkswirtschaft auch in das konjunkturelle Umfeld stellen. Ich möchte Sie im Hinblick auf das
Makroklima davon in Kenntnis setzen, dass viele realwirtschaftliche Daten wie das Konsumklima positiv
sind. Lesen Sie den gestern von der GZ-Bank vorgelegten
Bericht zum Einzelhandelskonsumklima im Januar. Wenn
Sie das tun, werden Sie feststellen, dass die realen Umsatzzuwächse 2,5 Prozent über dem liegen, was die Analysten erwartet haben. Seit drei bis vier Monaten schätzen
die Einzelhändler das Klima immer besser ein. Warum? Sie schätzen es immer besser ein, weil sie eine Steigerung
des Konsums durch die Auswirkungen der Steuerreform
erwarten.
Die Basisdaten in den USA sind nicht so schlecht, als
dass man dort eine Rezession erwarten müsste. Es ist richtig, dass die US-amerikanische Konjunktur gewaltig gebremst wird. Deshalb bauen selbst der IWF und die
OECD auf Europa. Ein Argument dafür, dass Europa die
Weltwirtschaft vor einer starken Abkühlung bewahren
kann, sind die Steuerreformen in Deutschland und Frankreich, die in diesem Jahr greifen. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich frage Sie: Wenn man außerhalb dieser Republik anerkennt, dass wir in diesem Jahr
der Wirtschaft sowie den Verbraucherinnen und Verbrauchern eine Steuerentlastung in Höhe von 1 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes - das sind über 40 Milliarden DM - gewähren und dass wir einen sensationellen
Kraftakt leisten, wenn in diesem Jahr wie im letzten Jahr
unserer Regierungszeit gleichzeitig die Kreditaufnahme
des Bundes sinkt, dann sollten Sie das auch anerkennen.
({7})
Das ist eine Herkulesarbeit, für die wir in der Tat den Beifall hier im Haus, aber auch Zustimmung bei Veranstaltungen im Land und auch bei der Wirtschaft erwarten.
Deshalb sollte man sich, wenn man das Konjunkturklima anschaut, nicht darauf einstellen, nur zu unken. Wir
waren als Regierung vorsichtig genug. Im letzten Jahr, wo
viele gesagt haben, ihr habt beim Wachstum untertrieben,
wo die Prognosen teilweise über 3 Prozent hinausgeschossen sind, sind wir auf dem Teppich geblieben und
haben 2,75 Prozent wirtschaftliches Wachstum beim
Haushalt 2001 und im Übrigen für die Folgejahre 2,5 Prozent in der Finanzplanung unterstellt. Wir sind also auf der
sicheren Seite geblieben.
Das Motto jedes guten Haushälters, jedes guten Finanzpolitikers ist immer - das dürfte für die Schwarzen
genauso gelten wie für die Rot-Gelb, Rot-Rot und Liberal -: Man schätzt die Einnahmen eher vorsichtig und die
Ausgaben eher zu hoch, denn dann kommt unterm Strich
ein gutes Ergebnis heraus. An diesem Prinzip wollen wir
auch im Haushaltsvollzug dieses Jahres festhalten in der
Hoffnung, dass uns nicht abenteuerliche Einbrüche bevorstehen. Gegen die könnten wir natürlich nichts machen. Aber nach menschlichem Ermessen werden wir den
Haushalt vor dem Wahljahr 2002 so ordentlich abschließen, dass in der Tat die finanzpolitische Solidität das Markenzeichen dieser Koalition bleibt.
({8})
Nun noch ein Stichwort zum Thema Ökosteuer. Ich
habe mich daran gewöhnt, dass so gut wie keine Zahl
stimmt, die Kollege Austermann, der Haushaltssprecher
der Union, hier nennt.
({9})
Kollege Austermann hat von Ökosteuereinnahmen von
65 Milliarden DM geredet.
({10})
- Wenn Kollege Austermann das jetzt durch Zwischenruf
- das sage ich für die Zuschauer - korrigiert und sagt, die
Energieverteuerung - ({11})
- Also er kennt die Zahlen, aber er hat vorher einen anderen Eindruck entstehen lassen.
({12})
Wenn er das jetzt korrigiert, ist das in Ordnung.
Herr Austermann hat natürlich die Ökosteuer angesprochen.
({13})
- Ich weiß es, Kollege Poß. Natürlich hat er den Eindruck
erweckt, die Energieverteuerung, die Marktpreisentwicklung sei von der Regierung zu schultern. Euro-Dollar-Relation, OPEC, Rohölpreissteigerung, das macht zwei Drittel der Kostensteigerung der Energiepreise aus, die
übrigens auch überwiegend für den Anstieg der Inflationsrate verantwortlich sind.
({14})
22 Milliarden DM werden dieses Jahr an Einnahmen
erwartet. Ich nenne jetzt aber ein Beispiel, bei dem man
den Kassenabschluss sieht; das ist noch besser. Ich sage,
was wir 2000 eingenommen haben. Wir haben 17,4 Milliarden DM im Bundeshaushalt des letzten Jahres an Ökosteuereinnahmen erwartet; eingegangen sind 17,2 Milliarden DM, 200 Millionen DM weniger, als wir im
Haushaltsplan im Soll eingestellt hatten. An die Rentenversicherung gingen 16,8 Milliarden DM, also 400 Millionen DM weniger, als eingegangen sind. Damit haben wir
die Lohnnebenkosten gesenkt.
Wir haben in unserer Regierungszeit die Situation geschaffen, dass der Durchschnittsarbeitnehmer in der gewerblichen Wirtschaft ({15})
jetzt rechne ich einfach mit 5 000 DM monatlichem Bruttoeinkommen - 30 DM weniger an Abgaben in die Rente
zahlt, also 30 DM netto mehr hat. Damit kann der Durchschnittsarbeitnehmer - ich erinnere an das Argument
„Energie teurer, Arbeit billiger“ - fast 100 Kilometer am
Tag zur Arbeit fahren und damit hat er den Ausgleich
durch Senkung der Arbeitskosten in der Tasche. In meinem schwarzen Wahlkreis kann ich den Wählerinnen und
Wählern und den Pendlern den Zusammenhang erklären,
dass „Arbeit billiger und Energie teurer“ ein Markenzeichen dieser Koalition ist. Das ist eine Botschaft, die sowohl von den Grünen als auch von den Sozialdemokraten
programmatisch vor der Bundestagswahl den Wählerinnen und Wählern auch deutlich gemacht wurde.
Sie haben 1998 die Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt erhöht, damit der Anstieg der Rentenversicherung
auf 21 Prozent nicht greifen konnte.
({16})
Sie haben praktisch eine Steuererhöhung versus Nichtanstieg der Rentenversicherungsbeiträge als Mittel Ihrer Politik zugelassen. Innerhalb der Union gab es damals eine
Riesendebatte zwischen Repnik, Schäuble, damals noch
Fraktionsvorsitzender, und der CSU. Die CSU hat verhindert, dass Sie damals Schäubles Vorschlag gefolgt sind,
die Mineralölsteuer um 12 bis 15 Pfennige zu erhöhen,
um den Anstieg in der Rentenversicherung zu verhindern;
denn Herr Schäuble hatte eher Sympathien für eine Ökosteuer als für die Erhöhung von Verbrauchsteuern.
Herr Schäuble hat Recht gehabt. Warum? - Weil der
Verbraucher bei steigender Mehrwertsteuer eine Mehrbelastung über sein gesamtes Ausgabe- und Konsumgebaren erfährt. Wenn die Energiepreise steigen und dafür die
Arbeitskosten sinken, dann hat der Konsument, zum Beispiel durch die Art, wie er sein Gaspedal benutzt oder
seine Wohnung heizt, durchaus Einfluss auf den Verbrauch und damit darauf, wie viel Steuern er mehr zahlt.
Der Mehrwertsteuer kann der Verbraucher nur entgehen,
wenn er schwarz einkauft. So einfach - Sie können das ermitteln - sind Zusammenhänge. Auch ein grüner Finanzpolitiker braucht sich wegen der Ökosteuer und wegen ihrer Verwendung zur Senkung der Arbeitskosten überhaupt
nicht zu genieren. Das kann man in jeder Wahlveranstaltung und in jeder Debatte, auch mit Wirtschaftsvertretern,
vertreten.
({17})
Ich komme zum Schluss. Ich bin der Auffassung, dass
wir den Haushalt dieses Jahres auf Sicht fahren müssen.
Wir müssen uns vor Übermut schützen. Die Ausgaben in
den einzelnen Ressorts müssen natürlich im Rahmen der
Sollanschläge bleiben. Vor allem darf es in diesem Jahr
keine selbst gesetzten Mehrausgaben geben. Es geht darum, dass wir zum Jahresende einen soliden Haushaltsabschluss und im Herbst einen soliden Haushalt für das
Wahljahr 2002 vorlegen können. Daran werden wir uns
messen lassen. Wir müssen uns für die letzten knapp drei
Jahre überhaupt nicht genieren.
Vielen Dank.
({18})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen
Dietrich Austermann.
Der Kollege
Metzger hat meine Zahlen angezweifelt. Ich möchte sie
kurz erläutern. Wir gehen davon aus, dass der Liter Sprit
zurzeit 50 Pfennig mehr kostet. Davon sind 22 Pfennig
ökosteuerbedingt.
({0})
- Plus Mehrwertsteuer. - Wenn man die Mehrkosten von
50 Pfennig mit der Menge des in Deutschland verbrauchten Sprits multipliziert und dasselbe in Bezug auf Heizöl,
Gas und Strom tut, dann kommt man auf eine Gesamtbelastung der Bürger und der Betriebe von 65 Milliarden DM pro Jahr.
({1})
Viele Menschen - in Baden-Württemberg und anderswo bekommen zurzeit ihre Heizkostenabrechnung und können ganz leicht nachvollziehen, dass die Heizkosten um
50 Prozent höher als im vorigen Jahr sind.
({2})
- Die Regierung hat die Ökosteuer eingeführt. Sie schlägt
sich in den 22 Pfennig von den zusätzlichen 50 Pfennig
Sprit nieder.
Außerdem trägt die Regierung einen Anteil an einer
wachstumsschädlichen Politik, die dazu geführt hat, dass
sich die Relation zwischen D-Mark und Dollar verschlechtert hat.
({3})
Das heißt, dass sich die Politik der Regierung auch bei den
Energiepreisen und bei den Öleinkaufspreisen bemerkbar
macht. Ich behaupte nicht, dass die 65 Milliarden DM in
Gänze auf die Politik der Bundesregierung zurückzuführen sind, aber ein wesentlicher Teil.
({4})
Ich setze diese 65 Milliarden DM in Relation zur Steuerentlastung vom 1. Januar in Höhe von 45 Milliarden DM. Ich halte mich genau an die bekannten Zahlen.
Die Energiebelastung - zum Teil regierungsbedingt, zum
Teil durch Außenmärkte bedingt - liegt um 20 Milliarden DM höher als die Steuerentlastung. Wenn man sich
diese Situation betrachtet, dann ist ziemlich klar, wer
der Verursacher der gegenwärtigen konjunkturellen Situation ist.
Ein Letztes. Ich zitiere - auch von Herrn Diller ist hier
etwas zum Thema Steuereinnahmen vorgetragen worden - mit Erlaubnis des Präsidenten zwei Sätze aus den
Volks- und Finanzwirtschaftlichen Berichten des Finanzministeriums, Bericht Januar 2001:
Die reinen Bundessteuern verzeichneten eine Steigerung
- also im Januar dieses Jahres gegenüber dem Vorjahr um + 52,8 Prozent. Bereinigt um den o. g. Effekt der
Zahlungsverschiebung bei der Mineralölsteuer
- diese 3,5 Milliarden DM haben nämlich im Vergleich zu
dem, was wir prognostiziert haben, gefehlt betrug die Zunahme + 15,8 Prozent.
Das heißt, der Finanzminister hat im Januar unter anderem durch eine höhere Mineralölsteuer 15,8 Prozent mehr
an Steuereinnahmen erzielt. „Sie sind auf höhere Einnahmen durch die Stromsteuer, durch den Solidaritätszuschlag“ - er hängt ja von der Höhe der Lohn- und Einkommensteuer ab - „und durch die Mineralölsteuer“
zurückzuführen. Eine falsche Wirtschaftspolitik, eine
falsche Energiepolitik belastet die Konjunktur also dramatisch.
({5})
Zur Erwiderung hat der Kollege Metzger das Wort.
Vom Mikrofon des Rednerpultes aus war ich zu fair, weil
Herrn Austermanns Zwischenruf, der sich auf die diesjährigen Einnahmen durch die Ökosteuer in Höhe von
22 Milliarden DM bezog, die Kenntnis der Zahlen vermuten ließ. Jetzt hat Herr Austermann wieder den Eindruck erweckt, dass die gesamte Energiekostenverteuerung von 65 Milliarden DM, die Wirtschaft und
Verbraucher zu tragen haben, auf die Ökosteuer zurückzuführen sei.
({0})
- Doch.
Ich bleibe dabei: Wir haben mit den Einnahmen durch
die Ökosteuer den Zuschuss an die Rentenversicherung
erhöht und dadurch die Rentenversicherungsbeiträge gesenkt.
({1})
Das Wort
hat der Kollege Metzger, Herr Kollege Kalb.
Der Kollege Kalb kann ja nachher in die Debatte eingreifen.
Ich stelle noch einmal fest: Die Richtigkeit der Politik,
die Energie teurer, die Arbeit billiger zu machen, können
Sie auch mit den Istzahlen der vergangenen Jahre belegen.
Das gilt auch für 1999, das erste Jahr, in dem die Ökosteuer erhoben wurde.
Zu Ihrem zweiten Punkt, zur konjunkturellen Entwicklung, Kollege Austermann: Sie sollten zur Kenntnis
nehmen, dass alle internationalen Auguren Deutschland
und damit der größten Volkswirtschaft in Europa eine
stabilisierende Wirkung auf die Weltwirtschaft zuschreiben, weil wir in diesem Jahr 1 Prozent unserer gesamten
volkswirtschaftlichen Leistung - das sind rund 43 Milliarden DM - in Form von Steuerentlastungen den Bürgern
zurückgeben und die Belastungen durch die Ökosteuer
durch die Absenkung der Lohnnebenkosten kompensieren. Die Wachstumsdelle im Winter wurde durch den extremen Anstieg der Energiepreise im Herbst verursacht,
die aber, wie Sie vielleicht einmal zur Kenntnis nehmen
sollten, zurückgehen. Selbst die Europäische Zentralbank
sagt, die Kerninflation in Europa betrage nach wie vor
praktisch 1,2 oder 1,3 Prozent. Sie treiben dagegen die
Behauptung einer Inflationsrate von 2,6 Prozent als politische Sau durchs Dorf.
({0})
- Die leugne ich nicht, aber es ist klar, dass nach menschlichem Ermessen in drei bis vier Monaten aufgrund der
fallenden Energiepreise auch die Inflationsrate zurückgehen wird. Dann können Sie die tagespolitische Argumentation, die Sie heute bringen, vergessen.
Genau das Gleiche gilt auch für die Halbwertzeit der
Debatte über die Benzinpreise, die Sie im Herbst letzten
Jahres vom Zaun gebrochen haben. Ihre Rechnung ging
nicht auf. Die Ökosteuerdiskussion spielt im baden-württembergischen Wahlkampf faktisch keine Rolle. Sie hätten sich gewünscht, mit diesem Thema die Schwarzen zu
mobilisieren. Sie werden aber am 25. März in BadenWürttemberg die Rechnung dafür bekommen. Wir haben
das ja schon am vergangenen Sonntag in Friedrichshafen
am Bodensee bei der OB-Wahl gesehen, wo ein Amtsinhaber trotz positiver Bilanz aus dem Amt gewählt wurde.
({1})
Die Stimmung in Baden-Württemberg ist so, dass Sie mit
der Argumentation, die Sie hier im Bundestag bringen, bei
Versammlungen nicht mehr ankommen. Die Leute haben
die schwarze Regierung im Lande satt.
({2})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Christa Luft
von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was hier vor sich geht - im Übrigen eigentlich schon seit heute Morgen -, ist typisch für
Wahlkampfzeiten. Die Union versucht noch einmal, die
Koalition so richtig vorzuführen, die Koalition schlägt
selbstverständlich zurück. Das Ganze ist zwar legitim,
aber es droht zu einem Routineakt zu werden. Menschen,
die zurzeit arbeitslos sind - und das sind ja viele -, kleinen Unternehmen, die Auftragssorgen haben, und jungen
Leuten im Osten, die auf gepackten Koffern sitzen, weil
sie dort keine Perspektive erkennen können, nützt die bisher geführte Debatte über einen eventuellen Nachtragshaushalt 2001 überhaupt nichts.
({0})
Sie von der Union wissen ganz genau, dass Ihr Begehren von der Koalition heute schon rein formal abgewiesen
werden kann. Die rechtlichen Voraussetzungen für die
Forderung eines Nachtragshaushaltes können nämlich
noch bestritten werden. Spätestens nach den Landtagswahlen wird auch die Koalition manch beängstigenden
Trend nicht mehr verharmlosen können, wie das nach
meiner Ansicht der Staatssekretär Diller und auch Kollege
Metzger soeben noch versucht haben, es sei denn, sie haben finanzielle Polster im Haushalt versteckt, die sie jetzt
mobilisieren können. Wenn dies so ist, wäre das Haushaltsverfahren nicht ganz in Ordnung gewesen.
({1})
In einem sind wir uns mit der antragstellenden Fraktion
allerdings einig, selbst wenn das die Union während ihrer
Regierungszeit auch nicht ernst genommen hat: Budgetfragen dürfen nicht, wie das bisher mit den Rentenfragen
im Bündnis für Arbeit geschehen ist, in Nebenzirkeln behandelt werden. Sie gehören hier ins Parlament.
({2})
Ich bin mir insofern sicher, dass sich der Deutsche Bundestag noch vor der Sommerpause mit dem Haushaltsvollzug 2001 und mit den gravierenden Abweichungen
bei Einnahmen und Ausgaben, wenn dafür belastbare Daten vorliegen, zu befassen haben wird.
Die Risiken für den Haushalt 2001 haben doch ihre Ursache nicht im EXPO-Defizit, da dieses bei der Haushaltsaufstellung ziemlich deutlich abzusehen war. Auch
aufgrund der BSE-Krise, so ernsthaft die finanziellen Folgen, insbesondere auch für die Länder, sind, entstehen
dem Haushalt keine Risiken. Das Grundproblem des
Haushalts 2001 ist meiner Meinung nach ein anderes.
Es wird offenbar, dass manche Weichenstellung in der
eichelschen Finanz-, Steuer- und Haushaltspolitik falsch
gewesen ist. Der Lack platzt allmählich ab; der selbst aufgetragene Glanz verblasst.
({3})
Nehmen wir die hoch gelobte Steuerreform. Üppige
Senkungen der Steuersätze sollten den Inlandskonsum
und private Investitionen ankurbeln. Herr Kollege
Metzger, ich würde die Januarzahlen des Einzelhandelsumsatzes nicht überbewerten. Beide - also angekurbelte
private Investitionen und angekurbelter Inlandskonsum sollten das Wirtschaftswachstum stimulieren und dadurch
den Steuertopf füllen. Jetzt ist offenbar das Gegenteil der
Fall. Da ist doch offensichtlich etwas schief gelaufen.
Es war kontraproduktiv, eine Steuerreform dieses Kalibers vor allen Dingen zugunsten großer Unternehmen
durchzuführen und außer Acht zu lassen, dass der Konjunkturaufschwung nicht ewig währt. Es war falsch, den
Ländern und Kommunen die finanziellen Spielräume einzuengen, ihnen aber gleichzeitig immer neue Aufgaben
aufzubürden und ihnen im kommunalen Bereich die Investitionsfähigkeit zu beschränken. Es war angesichts der
zunehmenden Polarisierung von Arm und Reich falsch
- siehe den jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht -, auf
eine angemessene Vermögensbesteuerung zu verzichten.
Selbst wenn diese Einnahmen nicht in den Bundeshaushalt geflossen wären, hätten sie doch die finanzielle Situation der Länder erleichtert.
({4})
Es rächt sich bitter, dass seit Jahren die immer dreister
werdende Umsatzsteuerhinterziehung tatenlos hingenommen wird.
Auch die Weichenstellung bei der Bundeswehrreform
ist falsch. Ich komme aber nicht zu diesem Schluss, Herr
Kollege Rexrodt, weil ich fürchte, dass dort russische
Verhältnisse einziehen würden.
({5})
Wer die russischen Verhältnisse einigermaßen kennt, der
weiß, dass sich die russische Armee freuen würde, wenn
es dort Verhältnisse wie in der Bundeswehr gäbe.
({6})
Wir sind für eine Ausrüstung der Bundeswehr, mit der
der grundgesetzlich verankerte Verteidigungsauftrag erfüllt werden kann. Aber die Bundeswehr soll für die Erfüllung von Interventionsaufgaben ausgestattet werden.
Das haben wir immer abgelehnt und das werden wir auch
heute wieder ablehnen.
({7})
Wegen nicht ausreichender Gelder für die Anschaffung
des Eurofighters oder von Großraumtransportflugzeugen
einen Nachtragshaushalt zu fordern, lehnen wir entschieden ab. Wir sehen hier sogar Einsparpotenziale.
({8})
Der Bundesfinanzminister tappt in eine selbst aufgestellte Falle. Er hat nämlich die Absenkung der jährlichen
Neuverschuldung auf Null bis 2006 zum wichtigsten Gütesiegel seiner Politik, zum Aushängeschild für Rot-Grün
erklärt. Es war aber abzusehen, wie schwierig dies werden wird. Ehrgeiz allein zählt in der Politik nicht. Nichts
ist gegen die Rückführung der Kreditaufnahme zu sagen. Auch wir haben uns dafür eingesetzt. Aber wenn unter Maß und Tempo hierbei die Ankurbelung existenzsichernder Beschäftigung, die Armutsbekämpfung oder
die besonders für den Osten Deutschlands notwendige
Innovations- und Investitionsoffensive leidet, dann kann
das nicht im Interesse der Bevölkerung sein.
Überhaupt verwundert uns an dem Antrag der Union,
dass über die bestürzende Lage in den neuen Ländern
überhaupt kein Wort verloren wird; denn auch das würde
haushaltspolitisches Handeln erzwingen, auf Bundesebene ebenso wie auf Länderebene. Das kann man nicht
auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben, sondern es
müsste noch in diesem Jahr angeschoben werden, damit
wir vor der Osterweiterung der Europäischen Union im
Jahre 2004 im Osten eine Innovations- und Investitionsoffensive sowie eine Offensive zur Erschließung sowohl
regionaler als auch überregionaler und internationaler
Märkte auf den Weg bringen können. Ansonsten droht das
Gebiet zwischen Elbe und Oder tatsächlich in Agonie zu
verfallen. Daran kann niemand interessiert sein.
Falsch war die drastische Reduzierung des Zuschusses
an die Bundesanstalt für Arbeit und die Streichung der
Sachkostenzuschüsse für ABM. Beide Entscheidungen
- das zeigen Signale aus den strukturschwächsten Regionen in Ost und West - werden schon in den nächsten Monaten zu sozialen Zuspitzungen und in nicht wenigen
ostdeutschen Städten und Landkreisen zu einer katastrophalen Situation auf dem Arbeitsmarkt führen. Die
Bundesregierung kann das Thema Ost nicht aussitzen. Sie
muss umgehend handeln, auch in Vorbereitung auf die
Osterweiterung der Europäischen Union.
Wir müssen vor der Sommerpause - erst dann - die
Frage nach einem Nachtragshaushalt mit Ja beantworten,
wenn es zutrifft, was Institute und Banken voraussagen,
dass nämlich das Wirtschaftswachstum erheblich unter
dem Ansatz im Haushaltsplan liegen wird, und wenn es
zutrifft - was zu erwarten ist - dass die Arbeitslosigkeit
schwächer sinkt als geschätzt und die Folgekosten damit
steigen.
Danke.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Steffen Kampeter von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte
über die völlig verfehlte Haushalts- und Finanzpolitik der
rot-grünen Bundesregierung
({0})
findet zum Zeitpunkt eines grundlegenden Wandels der
wirtschafts- und finanzpolitischen Stimmung statt. Die
wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitute korrigieren Woche für Woche ihre Wachstumsprognosen nach
unten. Erste Prognosen sehen das Wachstum nicht, wie
vermutet, bei 3 Prozent, sondern bei unter 2 Prozent. Die
Inflation ist auf dem höchsten Stand seit sechs Jahren. Es
ist eigentlich empörend, in welcher Art und Weise der
Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen diese inflationäre
Entwicklung in seinem Redebeitrag verniedlicht hat.
({1})
Infolgedessen verändern sich auch die haushaltspolitischen Rahmenbedingungen. Der Kollege Metzger hat vor
dem Forum des Deutschen Bundestages darauf hingewiesen, wie exakt die Regierung - er war stolz darauf - die
Steuereinnahmen prognostiziert und auch schon ausgegeben hat. Wenn aber das Wachstum 1 Prozent hinter den Erwartungen zurückbleibt, bedeutet allein das einen Ausfall
bei den Steuereinnahmen in der Größenordnung von
9 Milliarden DM. Diese exakten Schätzungen, die der
Kollege Metzger hier stolz vorgetragen hat, entsprechend
den wirtschaftspolitischen Erwartungen noch vor wenigen Monaten, werden zum Bumerang werden und weitere
große Haushaltslöcher in den Eichel-Etat reißen.
({2})
Der Euro dümpelt mit einem niedrigen Außenwert
herum. Dies mag den Export fördern und Bestandteil der
Strategie der Regierung sein, die binnenwirtschaftliche
Reformen verweigert und versucht, mit der Exportkonjunktur wirtschaftlich zu punkten. Aber trotzdem: In dem
Maße, in dem der außenwirtschaftliche Motor stocken
wird, wird sich auch hier ein großes wirtschafts- und haushaltspolitisches Risiko zeigen.
Es ist auch deutlich geworden - der Kollege Rexrodt
hat darauf hingewiesen -, dass die strukturellen Anpassungen auf dem Arbeitsmarkt nicht so vorangehen, wie es
noch vor wenigen Monaten prognostiziert worden ist.
100 000 Arbeitslose mehr kosten 4 Milliarden DM mehr ein unübersehbares Haushaltsrisiko! Dass dies nicht nur
die von der Opposition vorgetragene Einschätzung der
wirtschaftlichen Entwicklung ist, zeigt ein Blick auf die
Börse. Da graust es einem. Der Frühindikator zeigt ganz
klar nach unten.
Aber eines muss deutlich werden: Erschreckender als
dieser Befund ist die Ignoranz, mit der die rot-grüne Bundesregierung mit diesen wirtschaftspolitischen Rahmendaten umgeht. Die Vereinigten Staaten senken in dieser
Situation die Steuern, um die Wachstumsschwäche zu
überwinden. Wir verschlechtern durch die Änderung der
Abschreibungstabellen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und geben den kleinen und mittleren Betrieben
in dieser Wachstumsschwäche nicht durch ein Vorziehen
weiterer Schritte der Steuerreform wachstumspolitische
Impulse. In Japan verändern sich die Konjunkturdaten
dramatisch. Und was macht der Bundesfinanzminister? Er will die Steuerschätzung abwarten. Abwarten und Tee
trinken, das ist eine völlig unzureichende haushaltspolitische Strategie.
({3})
Jetzt kommt nämlich langsam die Wahrheit auf den
Tisch. Die Kommentare klingen anders als noch vor wenigen Wochen, als die Haushaltspolitik irreführenderweise als ein Markenzeichen der rot-grünen Bundesregierung bezeichnet wurde.
Krise, Haushaltsrisiko, Defizit - jede Woche erfahren
wir von einem neuen Loch und der Staatssekretär bemüht
sich nicht einmal darum, hier das eine oder andere zu dementieren. Bei 18 bis über 20 Milliarden DM liegen nach
unseren gegenwärtigen Schätzungen die Haushaltsrisiken, die sich seit der Haushaltsaufstellung ergeben haben.
({4})
Aus dem Hoch- und Vielflieger Finanzminister wurde
eine lahme Ente. Hans Eichel, der Lack ist ab!
Wenn ich sehe, in welcher Art und Weise der Staatssekretär aus dem Finanzministerium, der, während der Bundesfinanzminister offensichtlich irgendwo in Deutschland Wahlkampf macht, hier hingeschickt worden ist,
auch die Steuerverschiebung, bei der zwischen den Jahren
ein paar Milliarden hin- und hergeschoben worden sind,
zum Erfolg seiner Politik erklärt, muss ich feststellen: Das
ist Täuschung der Öffentlichkeit und hat mit Haushaltsklarheit und -wahrheit überhaupt nichts mehr zu tun.
({5})
Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf: Beenden Sie die Wirklichkeitsverweigerung! Nehmen Sie die
rosarote Brille ab! Legen Sie endlich einen Nachtragshaushalt vor! Korrigieren Sie Ihren Finanzplan und geben
Sie uns Auskunft über die anstehenden haushalts- und finanzpolitischen Fragen!
Wir wollen eigentlich nur wissen: Gibt es eine Mehrwertsteuererhöhung, wie von Herrn Metzger in der Öffentlichkeit angedeutet wurde, oder wird stattdessen die
Ökosteuer erhöht? Wie wollen Sie die Löcher in der Rentenkasse füllen? Klar ist bei der Rentenreform doch nur
eines: Sie wird teurer, als Sie uns bisher gesagt haben.
Wie wollen Sie die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr
wieder herstellen? Das, was der Kollege Diller hier vorgetragen hat, war eine unerträgliche Verniedlichung der
Beschreibung, dass unsere Bundeswehr unterfinanziert
und nicht mehr vollständig einsatzfähig ist. Mit solchen
Aussagen muss Schluss sein, wir erwarten eine klare Antwort der Bundesregierung.
({6})
Gibt es eine Haushaltssperre, über die in der Presse
bereits öffentlich spekuliert wird? Kein Wort dazu! Wie
wollen Sie reagieren, wenn die Verfassungsklage der Länder gegen die Verwendung der UMTS-Mittel erfolgreich
sein sollte und Sie dadurch neue Haushaltsrisiken im
zweistelligen Milliardenbereich hätten? Die eigentlich
entscheidende Frage ist: Sagt diese Bundesregierung vor
den Landtagswahlen endlich einmal die Wahrheit oder
wird sie die Bevölkerung weiterhin über ihre politischen
Absichten täuschen?
({7})
All diese Fragen liegen auf dem Tisch des Parlaments.
Da hilft jetzt kein Herummogeln mehr. Der „alte Ackergaul“ mag irren; eine verantwortungsvolle Regierung darf
dies nicht. Ein Nachtragshaushalt ist nach unserer Auffassung die einzig ehrliche Antwort auf unsere Fragen. Die
Bürger in diesem Land wollen Haushaltsklarheit und
Haushaltswahrheit und keine die Tatsachen vernebelnden
Reden wie die des Herrn Metzger,
({8})
der bei den Zinsausgaben die Öffentlichkeit getäuscht hat
und hier eine Angabe gemacht hat, die überhaupt nicht mit
den haushaltspolitischen Daten übereinstimmt.
Dies müssen wir als Haushälter den Menschen draußen
sagen. Wir wollen Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit; aber Sie verweigern sie uns. Wir brauchen keinen Finanzminister, der nur auf seine PR-Berater hört und im
Wahlkampf herumturnt,
({9})
sondern wir brauchen einen Finanzminister, der sich hier
und heute im Parlament den Problemen stellt.
({10})
Wir brauchen einen Finanzminister, der endlich einen
Nachtragshaushalt vorlegt, wie es die CDU/CSU-Bundestagsfraktion heute beantragt.
({11})
Zu einer
Kurzintervention - ich füge gleich hinzu: das ist die letzte,
die ich in dieser Debatte zulasse - erteile ich dem Kollegen Metzger das Wort.
Ich
spreche in meiner Kurzintervention nicht zur Sache. Ich
bin ein Abgeordneter, der dann, wenn er in freiem Vortrag
etwas unpräzise darstellt, das auch korrigiert.
Ich möchte eine Aussage aus meiner Rede - Kollege
Kampeter, Sie haben es gerade eben in einem Halbsatz
angedeutet - zum Thema Zinsausgaben korrigieren.
Wir hatten zwischen 1998 und 1999 in der Tat bei den etatisierten Zinsausgaben einen Anstieg von 24 Milliarden DM. Es ist richtig, dass wir Schattenhaushalte in den
Bundeshaushalt integriert haben, wenn auch nicht in dem
genannten Umfang. Integriert haben wir die Postunterstützungskassen mit 8,4 Milliarden DM und wir haben
Zuschüsse an den Erblastentilgungsfonds, der noch aus
Ihrer Regierungszeit stammt, auf der Ausgabenseite anders etatisiert. Daraus mussten praktisch die Zinsen des
ELF bezahlt werden. Nachher haben wir diese Zuschüsse
buchungstechnisch zu den Zinsausgaben umorientiert.
Das heißt, der Anstieg der Zinsausgaben resultierte nicht
allein aus einer tatsächlichen Erhöhung der Zinsausgaben,
da an anderer Stelle die Ausgaben des Bundes gesenkt
wurden. Dies war bereits den Zwischenrufen der Haushälter der Opposition zu entnehmen; sie hatten Recht. Der
Ausgabenanstieg kam durch die Erhöhung des Zuschusses an die Rentenversicherung, durch die Integration der
Postunterstützungskassen und in einem Teilbereich auch
durch einen Anstieg auf der Ausgabenseite durch Erhöhung bestimmter Haushaltstitel.
Wahrheit muss Wahrheit bleiben. Ich will meinen Ruf
behalten, dass ich korrekt und präzise bin.
Danke.
Zur Erwiderung, Kollege Kampeter.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ehrt den
Kollegen Metzger sehr, dass er in dieser einen Frage seine
Fehlinformationen richtig gestellt hat. Es wäre zu wünschen gewesen, dass er die übrigen Desinformationen,
Nebelkerzen und Verharmlosungen, die er in seine Rede
eingebaut hatte, gleichermaßen zurückgenommen hätte.
({0})
Als
nächstem Redner gebe ich jetzt dem Kollegen Volker
Kröning von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Der Verteidigungshaushalt
ist einer der Punkte, die die CDU/CSU dazu bewogen haben, diese Debatte zu beantragen und einen Nachtragshaushalt zu verlangen. Nach dem bisherigen Verlauf der
Debatte habe ich den Eindruck, dass Sie Ihr Feuerwerk
zum Verteidigungshaushalt abgebrannt und überhaupt
kein Interesse an Einzelheiten zu diesem Thema haben.
({0})
Ich möchte dennoch die Gelegenheit nutzen, einiges
klarzustellen.
({1})
Was ich zu sagen habe, ist zwar Experten nicht neu,
braucht aber offenbar seine Zeit, um allgemein akzeptiert
zu werden.
Der beliebteste Vorwurf gegen die Reform der Bundeswehr, die auch eine Reform des Einzelplans 14 sein
muss, ist der, die Bundeswehr sei unterfinanziert, oder
vulgär: Eichels Finanzplanung diktiere Scharping eine
Bundeswehr nach Kassenlage. Unbedacht offenbaren Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion,
damit ein weiteres Mal die Politikunfähigkeit Ihrer, nämlich der früheren, Regierung. Aussitzen und Reformstau
waren die Kennzeichen der letzten Jahre vor dem Regierungswechsel.
({2})
Was den Verteidigungshaushalt angeht, so ist der Eindruck beinahe zwingend, dass Sie die Zeichen der Zeit immer noch nicht begriffen haben und dass Sie die Rückkehr
zur Planung von Waigel und Rühe wollen und damit den
Rückweg in den Schulden- und Abgabenstaat. Das werden Sie mit uns nicht hinkriegen; das wird mit uns nicht
geschehen.
Wer mehr Geld ausgeben will, als wir haben, muss sagen, woher er es nehmen will. Die Koalition wird jedenfalls
nicht davon abgehen, die Neuverschuldung stetig zu reduzieren. Bis wir einen Überschuss erreicht haben und einen
Teil davon - neben der Rückführung der Staatsverschuldung und weiteren Steuersenkungen - für Mehrausgaben
verwenden können, wird es noch ein langer Weg sein. Nicht
über den Haushaltsumfang, sondern über Haushaltsstrukturen wird in den nächsten Jahren zu streiten sein.
Damit sind wir beim nächsten Vorwurf, der Reform
fehle es an einer Anschubfinanzierung. Auch dies ist
falsch; das ist ebenfalls schon längst gesagt worden.
Die Anschubfinanzierung besteht zum Ersten in der
Differenz zwischen den Balkan-Mitteln, die unmittelbar
für den Bundeswehreinsatz benötigt werden, und der
vollen Höhe von 2 Milliarden DM, die bereits seit dem
Jahr 2000 und seit 2001 im Einzelplan 14 zur Verfügung
stehen, und zwar nach der geltenden Finanzplanung bis
2004 und nach allen außen- und sicherheitspolitischen
Auspizien sicherlich auch über diesen Zeitpunkt hinaus.
Ich rechne vorsichtig mit einem Betrag von 800 Millionen DM pro Jahr. Dies gleicht die Reduzierung des Plafonds zu einem erheblichen Teil aus und trägt schon heute
zum Abbau des Ausrüstungsdefizits bei der Bundeswehr
bei.
Zum Zweiten besteht die Anschubfinanzierung in
dem Eigenbehalt, den der Finanzminister dem Verteidigungsminister bei Veräußerungen und bei Effizienzsteigerung zugestanden hat, übrigens weitaus mehr als jedem
anderen Ressort. Für 2001 bis 2004 sind dafür rund
4,6 Milliarden DM eingeplant.
Zum Dritten gibt es Besserstellungen des Verteidigungshaushaltes gegenüber dem Gesamthaushalt, die
nicht vergessen werden dürfen, nämlich die im Vergleich
zu den anderen Ressorts pro Jahr um 200 Millionen DM
reduzierte Effizienzrendite und die um 500 Millionen DM
pro Jahr verbesserte Plafondlinie im Vergleich zu der Entwicklung des Gesamthaushaltes.
Herr Kollege Kröning, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Wenn es nicht zulasten meiner Redezeit geht, bitte schön.
Nein, sie
wird gestoppt.
Zumal Sie heute Geburtstag haben, zu dem ich Ihnen recht herzlich gratuliere.
({0})
Jetzt aber zu meiner Frage: Herr Kollege Kröning,
durch Beschluss des Bundestages haben wir Soldaten im
Ausland im Einsatz. Ist es richtig - als Mitglied der Koalition und auch, genau wie ich, zuständig für den Einzelplan 14, können Sie dazu sicherlich konkret etwas sagen -,
dass sich jetzt eine Kommission auf den Weg macht, den
Einsatz unserer Soldaten im Ausland begutachtet und
überlegt, die Auslandszulage zu kürzen, was für den Verteidigungsminister Ersparnisse von circa 45 Millionen DM bedeutet?
Herr Kollege Koppelin, ich
weiß das genau wie Sie nur aus der Zeitung. Ich denke,
wir beide werden uns zusammen mit den anderen Berichterstattern noch darum kümmern und dafür sorgen,
dass trotz der Notwendigkeit der Gleichbehandlung aller
öffentlich Bediensteten aufgrund der Sonderbedingungen, unter denen unsere Soldaten und auch vergleichbare
Exekutivbeamte auf dem Balkan arbeiten, die Zulage
nicht reduziert wird, solange die Spannung anhält.
Lassen Sie mich bitte in meinen Ausführungen fortfahren.
Besonders beliebt ist der Vorwurf, die Bundesrepublik
gefährde mit ihren angeblich niedrigen Verteidigungsausgaben ihren Einfluss in Europa und in der Welt. Auch dieser Vorwurf geht ins Leere. Erstens ignorieren Sie - anders als unsere Partner; das erfährt man in der Begegnung
mit Vertretern der Verbündeten - die nicht militärischen
Sicherheitsaufwendungen wie die Milliardenhilfen für
Russland, ohne die wir mit Präsident Putin über NATOOsterweiterung oder NMD überhaupt nicht zu reden
brauchten.
Zum anderen sind die wesentlichen neuen Verpflichtungen, die wir eingegangen sind, nämlich bei den Vereinten Nationen und auch bei der Europäischen Union,
mit der Finanzlinie zu erfüllen. Herr Austermann, Sie erinnern sich, dass uns als Berichterstattern das sogar
schriftlich mitgeteilt worden ist.
({0})
Völlig deplatziert möchte ich es schließlich nennen,
wenn in die Kritik an der angeblich unzulänglichen Sachausstattung der Bundeswehr der Verdacht eingestreut
wird, der Bund vernachlässige seine Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten und gegenüber den Zivilbeschäftigten. Auch die Form, in der sich manche Kritiker äußern,
hat mit der Sache nichts mehr zu tun. Das jüngste Beispiel
dafür hat Herr Oberst Gertz geliefert. Ich stehe nicht an,
dies für unsere Fraktion hier schärfstens zurückzuweisen.
({1})
Ich sage für beide Koalitionsfraktionen zum Thema
Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten und den Zivilbeschäftigten: Der Kabinettsbeschluss zu den Strukturverbesserungen beim Personal der Bundeswehr wird erfüllt,
beginnend im Jahre 2001 und weiter im Jahre 2002 - genau so, wie wir es in den Haushaltsberatungen zugesichert
haben und wie es im Haushalt bereits beschlossen worden
ist.
Ich darf zusammenfassen: Legendenbildung war noch
nie ein guter Ratgeber in der Politik. Doch im Grunde genommen geht es um ein tieferes Problem. Teile der bundesdeutschen Elite haben noch nicht erkannt, dass die
Jahre 1989 bis 1991 nicht die Rückkehr zu einem ungebundenen Nationalstaat markierten, dessen wichtigstes
Merkmal umfassendes militärisches Handlungsvermögen
ist. Vor allem der Begriff „Souveränität“ trägt nicht zur
Lösung bei. Denn so instabil einige Randregionen in Europa sind, so unübersehbar und schwer beherrschbar Risiken in aller Welt sind, es steht doch fest, dass militärische Mittel nur eine begrenzte, wenn auch unentbehrliche
Funktion in der internationalen Politik haben. Ein Staat,
der auf seine Autonomie Wert legt und zugleich auf dem
Klavier der vielfältigen Interdependenzen zu spielen
beansprucht wie die Bundesrepublik Deutschland, muss
Sicherheit arbeitsteilig organisieren. Wir verdanken es der
Nachkriegsentwicklung, dass dafür Strukturen entstanden
sind - die über Regierungswechsel hinweg gefestigt worden sind -, die uns die Einordnung unserer Sicherheitspolitik besonders in einen europäischen Gesamtzusammenhang gestatten.
Es zählt zu den besten Traditionen der Bundesrepublik,
sich auf keine militärische Statuskonkurrenz einzulassen,
sondern einen eigenständigen, berechenbaren und sogar
vertrauensbildenden Weg militärischer und nicht militärischer Sicherheitsvorsorge zu gehen. Der Bundeskanzler hat diese Richtschnur bereits vor eineinhalb Jahren in
seiner Rede vor der Kommandeurtagung in Hamburg klar
formuliert. Ich weiß, dass einige Soldaten daran zu
schlucken hatten. Ich rechne es unseren Soldaten hoch an,
dass sie, bis auf Bruchteile eines Prozents, diese Vorgabe
der Regierung loyal mittragen. Wir werden uns jedenfalls
daran halten.
Die Verteidigungsausgaben werden bei der Fortschreibung der Finanzplanung in diesem und im nächsten Jahr
verstetigt werden. Die Strukturreform der Bundeswehr
und des Verteidigungshaushaltes wird einen sicheren
Rahmen behalten, innerhalb dessen wir Schritt für Schritt
die einzelnen Maßnahmen verwirklichen. Messen Sie uns
bitte daran; betreiben Sie keine Panikmache und erst recht
keine Desinformation.
Danke schön.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Josef Hollerith von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir behandeln den
Antrag der CDU/CSU-Fraktion auf Drucksache 14/5449
zur Vorlage eines Nachtragshaushaltes zur Korrektur der
Entwicklung der Bundesfinanzen. Der ursprüngliche Anlass dieses Antrages ist die Absicht der Bundesregierung
gewesen, die Folgekosten der BSE-Krise mit über- bzw.
außerplanmäßig bereitzustellenden Geldern zu finanzieren.
Nach § 37 Bundeshaushaltsordnung ist die Voraussetzung für eine über- bzw. außerplanmäßige Ausgabe, dass
sie, bezogen auf den Zeitpunkt der Verabschiedung des
Haushalts, unvorhergesehen oder unabweisbar ist. UnJürgen Koppelin
vorhergesehen kann diese Ausgabe nicht sein. Denn die
Union hatte in den Haushaltsverhandlungen vor dem Hintergrund der sich anbahnenden BSE-Krise ein BSE-Sonderprogramm gefordert, das mit der rot-grünen Mehrheit sowohl im Haushaltsausschuss als auch bei der
zweiten Lesung des Bundeshaushaltes abgelehnt worden
war.
({0})
Bei rechtlich einwandfreier Handhabung des Haushaltsrechtes müssen die BSE-Mittel daher in Form eines Nachtragshaushaltes bereitgestellt werden.
Weiter ist es im Sinne von Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit sachlich geboten, dass ein Nachtragshaushalt vorgelegt wird. Ich verweise stichwortartig auf
die Risikokosten durch die Bundeswehr, das EXPO-Defizit, den Konjunktureinbruch mit steigenden Sozialausgaben, erheblichen Steuermindereinnahmen und erhöhter
Arbeitslosenhilfe sowie die BSE-Krise, die weit über die
von der Bundesregierung geschätzte 1 Milliarde DM hinausgehen.
Nach seriöser Schätzung zum heutigen Tage rechne ich
damit, dass der Bundeshaushalt in diesem Jahr mit mindestens 3,5 Milliarden DM zusätzlich belastet wird: Die
Herauskaufaktion von 400 000 Rindern, die schon
beschlossen worden ist, belastet Deutschland mit einem
Anteil an der EU-Finanzierung in Höhe von 500 Millionen DM. Zusätzlich entstehen dem Bund Kosten in Höhe
von 362 Millionen DM für die nationale Kofinanzierung
und in Höhe von rund 63 Millionen DM für die anteilige
Mitfinanzierung der Beseitigung des verbotenen Tiermehls. Hinzu kommt die bereits von Kommissar Fischler
und einem Großteil der europäischen Agrarminister geforderte und in Aussicht genommene notwendige weitere
Herauskaufaktion von 1,2 Millionen Rindern, welche den
Bundeshaushalt im Rahmen der anteiligen Finanzierung
der EU-Ausgaben mit weiteren 1,5 Milliarden DM belasten wird. Dazu kommt die anteilige nationale Kofinanzierung von 1,08 Milliarden DM. Das heute realistisch absehbare Gesamtvolumen der BSE-bedingten Folgekosten
beträgt also 3,5 Milliarden DM.
({1})
Die deutsche Landwirtschaft befindet sich angesichts
dieser katastrophalen Situation in einer existenziellen Bedrohung.
({2})
In dieser Situation tragen die Bauern am wenigsten
Schuld daran, dass die BSE-Krise über sie hereingebrochen ist. Sie sind am wenigsten dafür verantwortlich.
({3})
Deswegen muss in dieser Situation der nationalen Katastrophe die Gemeinschaft der Steuerzahler die notwendigen Beistandsfinanzierungen leisten.
In der Landwirtschaft besteht zudem eine enorme psychologische Belastung. Der Landwirt hat jeden Tag die
Sorge, dass womöglich ein Stück Vieh, wenn es den Stall
verlässt, von der BSE-Krankheit befallen sein könnte.
Dies hätte die Folge, dass der gesamte Bestand - fälschlicherweise, wie ich meine, da nicht das Schweizer Modell
angewendet wird - gekeult wird. Der Landwirt wird damit bundesweit in Deutschland zum Schauobjekt lüsterner Kameras. Er muss in diesem Falle von der Polizei geschützt werden, damit er als normaler Staatsbürger von
seinen Rechten, zum Beispiel von dem Recht, sich frei zu
bewegen, Gebrauch machen kann.
In dieser dramatischen Situation treibt die Bundesregierung die Landwirtschaft in eine weitere unverantwortliche Belastung. - Ich halte dies für den eigentlichen
Skandal im Rahmen der Diskussion über die Bewältigung
der BSE-Folgekosten: - In dieser Lage finanziert Frau
Bundesministerin Künast die BSE-Folgekosten in ihrem
Haushalt durch Kürzung der ohnehin zu gering veranschlagten Mittel für die Agrarstruktur und den Küstenschutz um 125 Millionen DM, was zu einer weiteren Belastung der Bauern führt.
({4})
Dies ist ein Skandal. Hier gilt für die Frau Ministerin: Sie
ist als Löwin gesprungen und als Bettvorleger gelandet.
Das ist die richtige Beschreibung für das Ergebnis einer
solchen Politik.
({5})
Hinzu kommt eine enorme Vorbelastung der deutschen
Landwirtschaft durch falsche Beschlüsse der rot-grünen
Mehrheit in diesem Hause. Ich erinnere an die Kürzungen
in der Agrarsozialpolitik um 650 Millionen DM und an
die Belastungen durch die Ökosteuer in Höhe von 1 Milliarde DM.
Ich verweise auf den Agrardiesel: 27 Pfennig pro Liter kostete er während unserer Zeit; jetzt sind es 50 Pfennig pro Liter, was wiederum eine enorme Belastung für
die deutsche Landwirtschaft in der Wettbewerbssituation
ausmacht. Bei einem Verbrauch von 100 bis 150 Litern
Agrardiesel pro Hektar heißt dies, dass die deutschen
Bauern gegenüber ihren holländischen Wettbewerbern,
ihren französischen, österreichischen, dänischen Wettbewerbern mit zwischen 23 DM und 34,50 DM pro Hektar
zusätzlich belastet werden.
Hinzu kommt, dass durch die weitere Kürzung der Mittel für die Agrarstruktur und den Küstenschutz um
125 Millionen DM europäische Kofinanzierungsmittel
nicht abgerufen und nicht zur Strukturverbesserung in der
deutschen Landwirtschaft verwendet werden können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bezeichnend
ist für diese Politik - damit komme ich auf das zurück,
was Staatssekretär Diller zum Thema Prophetie gesagt
hat -: Bundeskanzler Schröder ist mit der Aussage angetreten, es bleibe bei 6 Pfennig Belastung je Liter Benzin.
({6})
Heute sind wir bei: 35 Pfennig.
Der Lügenbundeskanzler ist mit der Aussage angetreten: Es bleibt bei der nettolohnbezogenen Rente.
({7})
Zwei Mal sind die Renten in diesem Lande unter Inflationsrate gestiegen. Der Lügenbundeskanzler!
Ein Wort zum Kollegen Metzger. Er hat von der Nettoneuverschuldung gesprochen und er hat Recht: Die
Last zu unserer Zeit war enorm. Ja, warum war sie denn
enorm? - Weil die Altlastenbeseitigung von Kommunismus, Planwirtschaft und Sozialismus zu bewältigen war,
weil es darum ging, Freiheit, Demokratie und soziale
Marktwirtschaft in diesem Lande einzuführen.
({8})
Das war die Ursache dafür, und dazu stehen wir, weil wir
für die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht auch der
Freunde in den neuen Bundesländern eingetreten sind.
({9})
Dazu bekennen wir uns als nationale Leistung, als historische Leistung dieser Mehrheit von CDU und CSU im
Deutschen Bundestag mit Bundeskanzler Kohl in der Vergangenheit.
Herzlichen Dank.
({10})
Herr Kollege Hollerith, ich bitte darum, dass Sie dem parlamentarischen Sprachgebrauch folgen und nicht diese sprachlichen Übertreibungen benutzen.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Hans Georg
Wagner das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich gehe davon aus,
dass der Kollege Hollerith diesen Ausdruck zurücknimmt; denn es ist eine Unverschämtheit, was er hier
geäußert hat, und es ist in keiner Weise zutreffend. Ich
finde es unverschämt und unterträglich, dass Sie einen
solchen unparlamentarischen Ausdruck gebraucht haben.
({0})
Meine Damen und Herren, es ist wie bei dem Weihnachtslied, das lautet: Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Alle Jahre wieder reden wir auf Antrag der Opposition Anfang des Jahres über einen Nachtragshaushalt.
Herr Austermann, ich war ganz irritiert, als die ersten beiden Monate des Jahres schon vorbei waren und immer
noch kein Antrag auf einen Nachtragshaushalt vorlag. Der
Januar ging ohne Nachtragshaushalt vorbei, der Februar
ging ohne Nachtragshaushalt vorbei. Ich habe gedacht:
Du lieber Gott, was ist denn jetzt los? Irgendwann muss
die Opposition in Gestalt von CDU/CSU doch einen Antrag stellen, damit wir darüber reden. Dann kam er Gott
sei Dank. Ich war sehr erleichtert, dass Sie in der Kontinuität Ihrer Arbeit geblieben sind: Panikmache, Panikmache, Panikmache
({1})
- und dann der Antrag zum Nachtragshaushalt. Ich halte
das nicht für gut und generell für falsch.
({2})
Ein paar Punkte möchte ich nennen, und zwar zunächst
einmal das Stichwort Arbeitslosigkeit. Ich kann es Ihnen
nicht ersparen, sich die Zahlen einmal genau anzusehen:
Im Jahre 1998, im letzten Jahr Ihrer Regierungszeit, bevor Sie von den Wählerinnen und Wählern von der
Regierungsbank vertrieben worden sind, hatten wir im
Februar 4,82 Millionen Arbeitslose. Im Jahr 1999 waren
es noch 4,46 Millionen, im Jahre 2000 4,28 Millionen und
im Jahr 2001 4,11 Millionen. Wenn ich richtig rechne, gibt
es 710 000 Arbeitslose weniger, seit Sie aus der Regierung
herausgewählt worden sind. Ich finde, das ist gut.
Wir müssen auch über Subventionen reden. Einige,
die Subventionen erhalten, wurden heute ständig als die
Ärmsten der Nation geschildert. Aber die Subventionen zum Beispiel für den Wohnungsbau liegen bei 60 Milliarden DM - das sind die höchsten aus dem Bundeshaushalt -, und die Subventionen für die Landwirtschaft betragen insgesamt 27,3 Milliarden DM, die zweithöchsten
Subventionen. Dann kommt mit 11,4 Milliarden DM der
Steinkohlenbergbau. Diese Subventionen sind abgeschmolzen. Die einzige Regelung zur Reduzierung von
Subventionen betrifft den Steinkohlenbergbau. Ich
möchte sagen: Auch bei anderen muss man einmal genau
hinsehen.
({3})
Genauso gilt das für andere Diskussionen.
Die Schulden - das sind immer noch Ihre Schulden beliefen sich zum 31. Dezember 2000 auf 1,513 Billionen DM.
({4})
- Ja, das ist mehr geworden, natürlich.
({5})
- Nun seien Sie doch einmal ruhig! - Durch die Nettokreditaufnahme steigen die Schulden immer an. Wenn wir
also in diesem Jahr eine Nettokreditaufnahme von
43,7 Milliarden DM haben - der geringste Betrag seit über
einem Jahrzehnt -, dann haben wir 43,7 Milliarden DM
mehr Schulden. Im Jahr 2006 soll die Nettokreditaufnahme bei Null liegen.
({6})
Es wäre gut, wenn Sie uns dabei helfen würden und nicht
Anträge stellten, die genau das Gegenteil bewirken.
Allein die Umsetzung des Vorschlags von Herrn
Stoiber betreffend das so genannte Familiengeld würde
60 Milliarden DM kosten. - Dies ist nicht gegenfinanziert.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die CDU-regierten Länder Baden-Württemberg und Hessen wollen
für die Länder und Kommunen einen Anteil an den
UMTS-Erlösen und an den Zinsersparnissen gemäß Steueranteil. Daraus ergäbe sich eine Forderung von 60 Milliarden DM an den Bund. - Auch dies ist nicht gegenfinanziert.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und das CDU-regierte Land Thüringen wollen 40 Milliarden DM für ein
Sonderprogramm Ost.
({7})
Zur Deckung werden Positionen vorgeschlagen, die aber
als Einnahmen im Haushalt längst enthalten sind.
({8})
Das bedeutet also nichts anderes als 40 Milliarden DM
neue Schulden. An Ihrer unbekümmerten Art, Schulden
zu machen, hat sich gar nichts geändert. Sie meinen, Sie
seien immer noch an der Regierung, und möchten immer
mehr Schulden.
({9})
Das wird sich ändern.
Die Abschaffung der Ökosteuer würde ein Loch in
Höhe von 82,6 Milliarden DM in die Haushalte 2001 bis
2003 reißen. Jetzt erklären Sie mir bitte einmal, wie Sie
die Sozialversicherung finanzieren wollen! Wenn wir die
Ökosteuer abschaffen würden, kämen wir auf einen Sozialversicherungsbeitrag von 23 Prozent.
({10})
Sagen Sie mir also, einmal ganz ehrlich, was Sie machen
wollen!
({11})
Ich kann weitere Beispiele aus Ihren Anträgen anführen. So sollen zum Beispiel die Funktionäre von Ärztekammern steuerlich besser gestellt werden, indem die
ehrenamtlichen Aufwandsentschädigungen von der Sozialversicherungs- und Steuerpflicht freigestellt werden.
({12})
Das würde die Sozialversicherungskassen mit 4,9 Milliarden DM belasten und zudem 4,8 Milliarden DM weniger an Einnahmen bedeuten.
({13})
Die CDU/CSU will außerdem - das ist eben schon gesagt worden - mehr Geld für die Bundeswehr.
Jetzt komme ich zu dem zurück, was Herr Austermann
prognostiziert hat; das war ja sehr interessant. Er hat im
vergangenen Jahr gesagt - Herr Diller hat bereits darauf
hingewiesen -, dass die Ausgaben um einen bestimmten
Betrag steigen werden, aber am Schluss waren es 6 Milliarden DM weniger.
({14})
Anfang dieses Jahres hatten Sie dann gefordert, wegen der
Wohngeldvereinbarungen und der Familienförderung
müsse es einen Nachtragshaushalt geben. Am Ende aber
war das Geld dafür da. So schlecht sind Ihre Prognosen.
Sie werden das wahrscheinlich nie lernen. Diese Erfahrung habe ich schon gemacht.
Nun zum Stichwort EXPO. Sie wissen ganz genau,
wie die Finanzierung geregelt worden ist. Im Haushalt
2001 wurden dafür keine Mittel eingestellt, weil es keine
entsprechende Vereinbarung gab. In den Haushalt 2002
werden wir natürlich die entsprechenden Mittel einstellen, die wir aus Solidarität mit dem Land Niedersachsen
zugesagt haben. Wo waren denn Ihre Bundesländer? Neuschwanstein, das Sie im Rahmen der EXPO als Weltkulturerbe mit angegeben haben, liegt ja nicht in Niedersachsen. Die Solidarität der Länder mit dem Land Niedersachsen fehlt; das ist ein ganz gewichtiger Punkt. Wir
stehen zu unserer Solidarität, meine Damen und Herren.
({15})
Zu Herrn Austermann muss ich noch etwas sagen. Sie
haben am 26. Januar des vergangenen Jahres im Haushaltsausschuss damit begonnen zu sagen: Ein Nachtragshaushalt muss kommen! Am 24. Februar haben Sie dies
dann in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wiederholt. - Das ist ja Ihr Wechselspiel: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ an einem Tag, „Welt am Sonntag“ am
nächsten Sonntag, zwischendurch einmal „Die Welt“. Der
Ball wird gespielt, wird mit Ihrem Namen zurückgespielt
und dann wird in ganz Deutschland darüber diskutiert. Ich
begreife nicht, warum das so ist, aber Journalisten sind
manchmal auch so.
({16})
Am 30. März 2000 haben Sie in der „FAZ“ noch einmal den Anstieg der Ausgaben des Bundeshaushalts auf
484 Milliarden DM vorausgesagt. Herr Diller hat es schon
gesagt: Am Schluss waren es 478 Milliarden DM, also
6 Milliarden DM weniger. - Dann kam am 26. Juni 2000
eine Presseerklärung von Ihnen mit dem gleichen Ergebnis. Am 1. August erfolgte noch einmal dasselbe. Es ist
immer dieselbe Leier, immer der Versuch, Panik zu machen.
Die Situation fiel aber wesentlich besser aus. Wir haben die Nettokreditaufnahme um 3 Milliarden DM geringer ausfallen lassen, als sie vorher in der Planung war, und
zwar durch eine solide Haushaltspolitik, mit Zahlen belegt.
Sie kommen jetzt mit Ihren 240 Milliarden DM, die Sie
ausgeben wollen, gegenfinanziert übrigens durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. 240 Milliarden DM machen
genau 17 Punkte Mehrwertsteuer aus. Sie schlagen also
vor, die Mehrwertsteuer von derzeit 16 Prozent auf
33 Prozent zu erhöhen. Dann läge Deutschland ganz an
der Spitze, noch vor Irland mit 25 Prozent. Dies ist eine
falsch verstandene Harmonisierung der Mehrwertsteuer
in der Europäischen Union. Dabei macht diese Koalition
mit Sicherheit nicht mit.
({17})
Zu den Steuereinnahmen! Die Zahlen für Januar sind
genannt worden. Die Zahlen für Februar sind mit denen
vom Februar 2000 vergleichbar. Sie sind also kein Anlass
zur Dramatisierung, wie dies jetzt schon wochenlang passiert. Sie müssen sich einmal mit der durch diese Zahlen
belegten Wahrheit befassen.
Wir müssen zwei Punkte bedenken, und zwar einmal,
wie die Steuerentwicklung zum 31. März 2001 aussieht,
denn die Steuervorauszahlungen waren nicht schon am
10. Januar, sondern sind erst am 10. März zu erwarten.
Ende März werden wir sehen, wie sie sich weiterentwickeln.
Außerdem bitte ich sehr darum, das zu machen, was immer gemacht wird, nämlich die Steuerschätzung abzuwarten, die Anfang Mai vorgelegt werden wird. Die Steuerschätzung gibt dann möglicherweise Anhaltspunkte für die
Zahlen des Jahres 2002.
({18})
Ich bin mir absolut sicher, dass nach Würdigung all dieser
Zahlen festgestellt werden kann, dass der Haushalt solide
finanziert ist.
Herr Austermann, um eines bitte ich sehr: Sie haben
mit Herrn Eichel den Falschen getroffen. Sie haben gesagt: Ein Finanzminister, der Schulden macht, ist ein
schlechter Finanzminister. Ich bitte doch darum, dass ihr
bei Theo Waigel nicht immer nachtreten lasst. Beim Fußball würde man das als Foul gegen Theo Waigel bezeichnen, denn er hat die meisten Schulden aller Zeiten gemacht.
({19})
Sie haben ihm mit all der Kraft, die Sie hatten, dabei geholfen. Dass wir bei Staatsschulden in Höhe von 1,5 Billionen DM und mehr gelandet sind, ist Ihr Verdienst.
({20})
Ihre Anträge, die hier im Hause vorliegen, zeigen, dass Sie
mit dieser Spielerei weitermachen wollen.
Aber mit uns wird das nicht gehen. Wir werden unsere
solide Haushaltspolitik fortsetzen. Am Ende des Jahres
werden Sie sehen, dass die Lage nicht so schlecht ist, wie
Sie es im Januar angekündigt haben, nur damit Sie in die
Zeitung kommen. Dies dient nur der Verunsicherung der
Bevölkerung. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie dies
lassen würden. Sie verunsichern die Bevölkerung in einer
Art und Weise, die unverschämt ist und nicht mehr hingenommen werden kann.
Schönen Dank.
({21})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5449 und 14/5544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Konsequenzen aus der Tatsache, dass die deutsche Wirtschaft ihren Beitrag zur Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
noch nicht geleistet hat
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner - Ihre
Zustimmung vorausgesetzt - hat der Beauftragte des Bundeskanzlers für die Stiftungsinitiative Deutscher Unternehmen, Dr. Otto Graf Lambsdorff, das Wort.
Dr. Otto Graf Lambsdorff, Beauftragter des Bundeskanzlers für die Stiftungsinitiative Deutscher Unternehmen ({0}): Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Bundeskanzler hat mich gebeten, Ihnen den Stand der Gespräche, vor
allem das Treffen darzustellen, zu dem der Bundeskanzler gestern Vorstandsvorsitzende der Unternehmen der
Stiftungsinitiative eingeladen hatte.
Der Bundeskanzler hat der Stiftungsinitiative Deutscher Unternehmen unter ihrem Sprecher Dr. Gentz ausdrücklich für ihre Bereitschaft gedankt, die im Dezember
1999 gemachte Zusage, für das Kapital der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zu sorgen, mit einem letzten, rechtlich und finanziell belastbaren Schritt zu
untermauern. Deswegen ist die Überschrift der heutigen
Aktuellen Stunde durch den Gang der Ereignisse - erfreulicherweise - ein bisschen überholt.
Die 16 Gründungsunternehmen haben ihren Beitrag
deutlich erhöht und für den Rest Ausfallbürgschaften zugesagt. Es ist jedoch klar, dass sich die Wirtschaft viel Ärger und öffentliche Schelte erspart hätte, wenn sie sich zu
diesem Schritt einige Monate früher entschlossen hätte.
({1})
Das Zögern hat den möglichen Bonus für das Ansehen der
deutschen Wirtschaft in einen Malus verwandelt. Aber
kritisieren sollte man nicht diejenigen, die das Geld gesammelt und sich bemüht haben, sondern diejenigen, die
sich verweigert haben.
({2})
Vielleicht wäre auch der Beschluss der New Yorker Richterin Kram anders ausgefallen. Das alles ist sehr schade;
denn es bleibt eine wirklich beachtenswerte Leistung,
5 Milliarden DM - das ist kein Kleingeld - in einer freiwilligen Aktion zusammenzubringen.
Der Bundeskanzler hat festgestellt, dass damit beide
Seiten, Bundesregierung und Unternehmen der Stiftungsinitiative auf der einen Seite, die amerikanische Regierung auf der anderen Seite, ihre Verpflichtungen aus dem
deutsch-amerikanischen Regierungsabkommen vom
17. Juli vorigen Jahres erfüllt haben.
Das im Dezember 1999 zugesagte Stiftungskapital von
10 Milliarden DM ist aufgebracht. Die US-Regierung hat
in allen Fällen einen Schriftsatz, das Statement of Interest,
abgegeben, in dem sie die Stiftungslösung als fair, angemessen und für die Kläger vorteilhaft bezeichnet und
die Richter darauf hinweist, dass es im außenpolitischen
Interesse der Vereinigten Staaten liegt, wenn die Klagen
abgewiesen und die Kläger an die Stiftung verwiesen werden.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch etwas
zur Kritik an diesem Weg sagen. Ich lese immer wieder,
dass man diese Summe doch hätte einklagen sollen. Wenn
Sie die Kläger auf den Gerichtsweg verweisen, dann bekommt nicht ein einziger der Überlebenden zu seiner Lebzeit eine einzige Mark zu sehen. Nur dieser Weg kann dazu
führen, dass die Überlebenden noch Geld bekommen.
({3})
Mit dieser Erklärung, die wir gestern Abend abgegeben
haben und die ohne Widerspruch angenommen wurde, wie
ich feststellen konnte, erfüllt die amerikanische Regierung
auch im Detail die eingegangenen Verpflichtungen. Die
auch öffentlich geäußerte Kritik am Verhalten der US-Regierung ist grundlos. Der amerikanische Außenminister
Colin Powell hat gestern in einem Brief an Außenminister
Fischer eindeutig das Engagement auch der neuen US-Administration für einen umfassenden und dauerhaften
Rechtsfrieden für deutsche Unternehmen unterstrichen. Es
ist klar - der Bundeskanzler hat dies gestern angekündigt -, dass dieses Thema bei seinem Besuch in Washington, beim amerikanischen Präsidenten, eine Rolle spielen
wird. Wir sind zuversichtlich, dass Präsident Bush genau
dieselbe Bestätigung geben wird wie Colin Powell.
Noch einmal: Die Stiftungsinitiative, also die deutsche
Wirtschaft, der Bundestag - dafür möchte ich mich erneut
bedanken -, die Bundesregierung und die US-Regierung
sowie die Klägeranwälte haben jetzt alles getan, was sie
zu tun hatten und wozu sie sich verpflichtet hatten. Es
liegt jetzt an den amerikanischen Gerichten und den amerikanischen Klägeranwälten, die am 17. Juli 2000 die Gemeinsame Erklärung unterschrieben haben, den Zustand
herzustellen, den § 17 Abs. 2 des Stiftungsgesetzes als
„ausreichende Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen“ beschreibt. Wir alle haben die Rechtssicherheit bei
der Unterzeichnung der Verträge im Juli vorigen Jahres
noch für den September 2000 für erreichbar gehalten. Das
hat sich leider als Irrtum erwiesen.
Ein amerikanischer Richterausschuss, das so genannte
„Multi District Litigation Panel”, lehnte es im Juli vorigen
Jahres ab, die Sammelklagen, wie von Klägern und Beklagten beantragt, vor einen einzigen Richter zu bringen
- in Amerika heißt dies „konsolidieren“ -, und beließ sie
bei drei Richtern. Bei zwei Richtern führte dies nur zu geringfügigen Zeitverlusten. Richter Bassler hat am 13. November in New Jersey die nicht streitigen Zwangsarbeiterklagen, Richter Mukasey am 8. Dezember des letzten
Jahres die Versicherungsklagen abgewiesen. Man ist als
Kläger einer Sammelklage im amerikanischen Prozessrecht nicht wie im deutschen Zivilprozessrecht Herr seiner eigenen Klage. Der Richter muss die Klagerücknahme
genehmigen.
Auf die Wahrung der Interessen nicht benannter Kläger
hat Richterin Kram am 7. März dieses Jahres ihre Ablehnung gestützt, die Bankenklagen, wie von beiden Parteien
beantragt - Klägern und Beklagten -, abzuweisen. Sie hat
festgestellt, dass es unfair sei, die Kläger auf eine Stiftung
zu verweisen, die nicht voll finanziert ist. Nicht zuletzt auf
unsere Anregung hin haben die beiden Richter Bassler
und Mukasey dieses Risiko mit einer Formulierung
aufgefangen, wonach den Klägern die Wiederaufnahme
der Klagen ausdrücklich eröffnet wurde, sollte das Geld
nicht zusammenkommen. Darum hat sich Richterin Kram
nicht gekümmert. Sie hat diesen Weg nicht akzeptiert.
Das nicht vorhandene Geld war nicht der einzige
Grund, weswegen sie die Klagen nicht abgewiesen hat.
Zum Zweiten hat sie noch Geld für abgetretene angebliche Forderungen österreichischer gegen deutsche Banken gefordert. Dabei hat sie feststellen müssen, dass die
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ nicht
dazu da ist, Forderungen juristischer Personen untereinander abzudecken. Sie hat - ich kann es nicht anders
formulieren - mit einem rechtlich fehlerhaften Beschluss
den Beginn der Auszahlungen um etliche Wochen, bis
über die Rechtsmittel entschieden ist, zulasten der Opfer
verzögert.
Unter den übrigen Klagen sticht die Klage gegen die
amerikanische IBM hervor, die sich aber in ihrer Begründung de facto gegen die seinerzeitige deutsche Tochter
Hollerith GmbH richtet. Die Klage gegen IBM wurde von
zwei Anwälten eingereicht, die sich in der Gemeinsamen
Erklärung verpflichtet hatten, für Rechtssicherheit zu sorgen. Ich habe eben gesagt, die Klägeranwälte hätten alles
getan, was in ihren Kräften steht, um die getroffene Vereinbarung umzusetzen. Diese beiden haben das genaue
Gegenteil getan. Ihr Vorgehen ist eindeutig rechtsmissbräuchlich und ein eindeutiger Vertragsverstoß. Selbstverständlich ist die deutsche IBM Mitglied der Stiftungsinitiative. Die amerikanische Regierung bemüht sich
intensiv, auch diese Klage aus der Welt zu schaffen. Aber
ohne Zeitverlust ist dies nach amerikanischem Prozessrecht nicht möglich. - Ich weise auf diesen Fall hin, weil
Dr. Otto Graf Lambsdorff
ich um Ihr Verständnis für die Haltung der deutschen Unternehmen werben möchte, die gerade über diese neue
Klage zu Recht besonders empört sind.
Es ist zwischen der Bundesregierung und der amerikanischen Regierung völlig unstreitig, dass der in Ziffer 4 d
der Gemeinsamen Erklärung vorgesehene Zustand, nämlich die rechtskräftige Abweisung der in diesem Zusammenhang gegen deutsche Unternehmen anhängigen Klagen, bisher nicht hergestellt ist.
Die Stiftungsinitiative ist aber vor allem gegründet
worden, um einer moralischen Verantwortung gerecht zu
werden, wie es in der Gemeinsamen Erklärung vom
16. Februar 1999 formuliert wurde. Ich betone erneut,
dass Rechtsfrieden nicht nur im Interesse der Unternehmen liegt. Auch die Bundesregierung und die amerikanische Regierung haben ein vitales Interesse daran,
dass solche Auseinandersetzungen vor amerikanischen
Gerichten nicht die deutsch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen unterhöhlen oder gar die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern in Mitleidenschaft ziehen. Die US-Regierung bringt das in ihrem Statement of
Interest ganz klar zum Ausdruck.
Es bestand gestern Abend völlige Einigkeit darüber,
dass die Abweisung der zurzeit vor Richterin Kram anhängigen Klagen - wahrscheinlich in einem Berufungsverfahren - eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Rechtssicherheit ist. Der Bundeskanzler
hat deswegen vorgeschlagen, eine Arbeitsgruppe aus Mitarbeitern der Bundesregierung und der Stiftungsinitiative
einzusetzen, die nach Abweisung der Bankenklagen
- also der Klagen vor Richterin Kram - feststellen soll,
welche relevanten Fälle, wie es Dr. Gentz ausdrückte,
noch anhängig sind und wann der Komplex positiv entschieden ist, wie es der Bundeskanzler ausdrückte. Wir
werden uns in einem intensiven Dialog mit dem Bundestag darum bemühen, in dieser Frage eine gemeinsame
Haltung zu finden. Das wird nicht ganz einfach sein; das
muss jeder wissen. Auch Sie, Herr Beck, wissen das. Wir
wissen es alle. Wir müssen es aber versuchen, und zwar
auf seriöse Weise.
Ich möchte schließlich noch kurz auch auf den von den
Unternehmen eingebrachten Vorschlag eingehen, Stiftung
und Rechtssicherheit zu spalten: In einer Gesetzesänderung soll der Bundestag erklären, dass die Rechtssicherheit nicht gegeben sei, die Auszahlung aber dennoch mit
den Bundesmitteln beginnen soll. So sehr das hinter dieser Überlegung stehende Engagement für die Überlebenden zu verstehen ist: Der Bundeskanzler hat diesen Vorschlag aus gewichtigen, und wie ich meine, auch
zutreffenden Gründen abgelehnt. Er erinnerte daran, dass
das gemeinsame Vorgehen von Regierung und Wirtschaft
zu den Prämissen der Stiftungsinitiative gehörte. Die
Bundeskasse - das betrifft vor allem den Bundesfinanzminister - würde für das gesamte Stiftungskapital ins Obligo gebracht, ohne dass der Zeitpunkt der Überweisung
durch die Stiftungsinitiative ausreichend gesichert wäre.
Schließlich löst der Beginn der Auszahlungen an die
Überlebenden nach den getroffenen Vereinbarungen
automatisch die Honorarzahlungen an die amerikanischen
Klägeranwälte aus. Auf deren Unterstützung sind wir aber
bei der Herstellung des Rechtsfriedens nach wie vor angewiesen. Daher dürfen wir deren Interessen nicht außer
Acht lassen.
Allen Beteiligten ist bewusst, dass es um das Schicksal
von etwa 1 Million Menschen geht, denen seit mehr als
zwei Jahren Zahlungen in Aussicht gestellt wurden, auf
die sie einen moralischen Anspruch haben. Alle Betroffenen sind alt: Die meisten - über 90 Prozent - leben in Osteuropa. Viele gehören zu den Verlierern der Öffnung zum
Westen und der Perestroika, wie so viele alte Menschen in
diesem Teil der Welt. Für jemanden, der in der Ukraine
oder in Weißrussland lebt, sind 5 000 oder 15 000 DM
eine große Summe. Für jemanden, der in Amerika lebt, ist
das auch viel Geld, aber lange nicht so bedeutsam wie für
Menschen, die über 50 Jahre lang noch nie etwas bekommen haben.
Wir werden die uns hier gestellte Aufgabe mit dem gebotenen Ernst und im Bewusstsein der Menschen, an denen sich Deutschland vergangen hat, so schnell wie möglich zu Ende führen. Ich kann nicht sagen, wann ich dem
Deutschen Bundestag empfehlen kann, die Rechtssicherheit festzustellen. Es hat keinen Sinn, Daten in die Welt zu
setzen, die man hinterher korrigieren muss.
({4})
Ich kann insbesondere nicht vorhersagen, ob dies so
rechtzeitig geschehen wird, dass der Bundestag noch vor
der Sommerpause entscheiden kann. Ich glaube es kaum.
Das hängt jetzt allein von den US-amerikanischen Gerichten ab.
({5})
- Nein, Frau Jelpke, die Wirtschaft hat das Geld zur Verfügung gestellt. Es hängt von den US-amerikanischen Gerichten und nicht von der Wirtschaft ab, ob die noch anhängigen Gerichtsverfahren, die nach übereinstimmender
Auffassung von Bundestag, Bundesregierung und deutscher Wirtschaft aus der Welt sein müssen, bevor man von
Rechtssicherheit sprechen kann, beendet werden.
Wenn die Wirtschaft bei der Forderung nach dem, was
alles unter dem Begriff Rechtssicherheit zu verstehen ist,
überziehen sollte, dann müssen wir erneut Gespräche
führen. Nach dem Gespräch gestern Abend haben wir
nach meiner Einschätzung alle Möglichkeiten, uns zumindest sehr weit anzunähern. Ich lasse es einmal dahingestellt, ob wir uns über jeden Fall hundertprozentig einig
werden. Insofern war das Gespräch gestern Abend nützlich, zielstrebig und, wie ich hoffe, den Gesamtanstrengungen, die wir vor uns haben, förderlich.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort
hat nun der Kollege Wolfgang Bosbach von der
CDU/CSU-Fraktion.
Dr. Otto Graf Lambsdorff
Herr Präsident!
Lieber Graf Lambsdorff! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn Grund und Überschrift dieser Aktuellen
Stunde mittlerweile - glücklicherweise - überholt sind, so
ist diese Debatte dennoch richtig und wichtig.
Vor wenigen Tagen hat die deutsche Wirtschaft die von
ihr zugesagten 5 Milliarden DM aufgebracht und damit
ihre Zahlungszusage eingelöst. Nunmehr kann eigentlich
kein US-amerikanisches Gericht die notwendige Erledigung oder Abweisung der dort anhängigen Klagen gegen
deutsche Unternehmen länger unter Hinweis darauf verweigern, dass Zweifel an der Leistungsbereitschaft und
der Leistungsfähigkeit der Bundesstiftung bestünden. Anders formuliert: Mit der Bereitstellung der 5 Milliarden DM ist eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen
worden, dass der notwendige Rechtsfrieden nunmehr
rasch hergestellt werden kann. Nicht mehr, aber auch
nicht weniger haben wir bis heute erreicht.
Es wäre gut, wenn die deutsche Wirtschaft die 5 Milliarden DM zügig an die Bundesstiftung überweisen würde,
auch, weil dann die nicht unerheblichen Zinserträge dem
Stiftungszweck zugute kämen.
({0})
Eine Auszahlung dieses Betrages kommt allerdings erst
dann in Betracht, wenn ausreichende Rechtssicherheit besteht und diese durch Beschluss des Deutschen Bundestages ausdrücklich festgestellt wird. Die Entschädigung für
NS-Zwangsarbeit und die Einrichtung eines Zukunftsfonds einerseits und die Herstellung ausreichender
Rechtssicherheit für deutsche Unternehmen in den USA
andererseits sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Wer diesen nach langwierigen, schwierigen und komplizierten Verhandlungen von allen Seiten akzeptierten Zusammenhang auflöst, wird die Ziele der Stiftung in absehbarer Zeit nicht erreichen.
Die deutsche Wirtschaft ist für ihre bislang zögerliche
Haltung in den letzten Monaten oft und nicht zu Unrecht
kritisiert worden. Aber wir können sie jetzt nicht auch
noch dafür kritisieren, dass sie auf die Einhaltung
geschlossener Verträge Wert legt.
({1})
Wer die versprochene Leistung erbracht hat, kann erwarten, dass auch die vereinbarte Gegenleistung erbracht
wird.
Rechtsfrieden und Rechtssicherheit müssen jetzt durch
gemeinsame Anstrengungen von Klägern, Klägervertretern und Gerichten vor der US-amerikanischen Justiz hergestellt werden, und dies so rasch wie möglich; denn Ziel
der Bundesstiftung kann ja nicht sein, die Hinterbliebenen
der ehemaligen Zwangsarbeiter zu erreichen. Vielmehr
müssen die noch heute lebenden, alten und oft kranken
und gebrechlichen Opfer erreicht werden. Leider - ich betone: leider - kann der Deutsche Bundestag zum jetzigen
Zeitpunkt noch nicht ausreichende Rechtssicherheit für
die deutschen Unternehmen durch einen Beschluss feststellen. Es wäre schön, wenn diese Rechtssicherheit schon
jetzt bestünde. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Allerdings muss sich die deutsche Wirtschaft fragen
lassen - darauf hat Graf Lambsdorff zu Recht hingewiesen -, ob sie tatsächlich auf der Haltung bestehen will,
dass ausreichende Rechtssicherheit nur dann gegeben sei
und von uns gemeinsam festgestellt werden dürfe, wenn
zunächst ausnahmslos alle Klagen vor US-amerikanischen Gerichten abgewiesen seien, bevor die 5 Milliarden DM ausgezahlt werden dürften. Die Klagen bei der
Richterin Kram und das Verfahren Deutsch gegen Turner
Corporation in Kalifornien - es handelt sich hier um ein
streitiges Berufungsverfahren in einem Zwangsarbeiterfall - sind in der Tat wichtige Präzedenzfälle, deren Ausgang wir abwarten müssen. Allerdings muss die Wirtschaft dann auch einmal in Ruhe darüber nachdenken, ob
es tatsächlich richtig ist, auch allen anderen Fällen die
gleiche Bedeutung zukommen zu lassen, ohne dass diese
wirtschaftlich oder materiell-rechtlich tatsächlich ebenso
wichtige Präzedenzfälle sind.
({2})
Es wäre gut, wenn auch in puncto Rechtssicherheit
Einvernehmen zwischen dem Bundestag und der Wirtschaft erzielt werden könnte. Dieses Einvernehmen dürfte
jedoch nur dann erzielbar sein, wenn einerseits der Deutsche Bundestag nicht leichtfertig Rechtssicherheit feststellt, ohne dass diese tatsächlich vorliegt, und wenn die
Wirtschaft andererseits bereit ist, zu akzeptieren, dass
ausreichende Rechtssicherheit nicht zwangsläufig die Erledigung aller Klagen bedeuten muss. Wir müssen beides
gewährleisten: Schnelligkeit und Einigkeit. Das sind wir
den noch lebenden Opfern schuldig.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Graf Lambsdorff! Meine Damen und Herren! 10 Millionen Zwangsarbeiter wurden von Deutschland
verschleppt, versklavt und gequält. Von diesen leben heute
noch ungefähr anderthalb Millionen Menschen. Bis 1998
hat die Bundesrepublik Deutschland mit ihnen um die
Frage gerechtet, ob sie aus dieser Zeit einen Anspruch auf
Entschädigung oder auch nur auf Lohn haben. Zwei Jahre
haben wir mit den Opferorganisationen, den osteuropäischen Staaten und dem Staat Israel verhandelt und sind
schließlich im Juli 2000 zu einer Lösung gekommen und
haben als Bundestag das Stiftungsgesetz verabschiedet. Als
wir das getan haben, haben wir gehofft, wesentlich früher
mit der Auszahlung an die Opfer beginnen zu können.
Mit den Ereignissen dieser Woche sind wir einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Das Geld ist nun
vorhanden; die deutsche Wirtschaft hat ihre 5 Milliarden DM zusammen. Sie hat hierfür eine Lösung gefunden. Aber damit ist noch nicht alles erfüllt, was wir brauchen, um auf einem sicheren Weg zur Rechtssicherheit zu
kommen. Das Geld muss an die Bundesstiftung überwiesen werden. Zur Not kann hierfür die Konstruktion eines
Treuhandverhältnisses gewählt werden.
Aber Richterin Kram hat in ihrem Urteil ganz eindeutig gesagt: „Full funding of the foundation is accomplished.“ Die volle Finanzierung der Stiftung ist erreicht.
Sie hat nicht gesagt: ist gewährleistet oder garantiert. Das
heißt, wenn man diesen Richterspruch erfüllen will, muss
das Geld der Stiftung zur Verfügung gestellt werden. Ansonsten geht die Wirtschaft erneut unnötige Prozessrisiken auf Kosten der Opfer ein.
({0})
Wir haben der Wirtschaft bereits vor diesem Urteil geraten, sie solle durch eine erste Überweisung ihre Zahlungswilligkeit demonstrieren. Damals hat man uns gesagt: Das wird die Richterin nicht interessieren, die
Klagen werden schon abgewiesen werden. Man hat sich
schon einmal getäuscht. Ich warne davor, ein Risiko in der
nächsten Instanz einzugehen, denn dann könnte Rechtssicherheit auch höchstrichterlich abgelehnt werden.
Meine Damen und Herren, die Verträge wie das Stiftungsgesetz machen die Feststellung ausreichender
Rechtssicherheit zur Voraussetzung von Auszahlungen an
die Opfer. Dabei dürfen wir die Anforderungen nicht zu
hoch schrauben. Wir hatten im Bundestag immer Einvernehmen darüber, dass wir gesagt haben, wir müssen die
Sammelklagen zurückgewiesen haben und wir brauchen
einen Testfall für die Belastbarkeit des Statement of Interest. Ich meine, dies muss ausreichen.
Selbstverständlich hat die deutsche Wirtschaft ein berechtigtes Interesse an einem allumfassenden rechtlichen
Frieden, wie er uns Deutschen von den Amerikanern versprochen wurde, für deutsche Unternehmen in den Vereinigten Staaten. Wir stehen auf ihrer Seite, wenn es darum
geht, diese vertragliche Zusage einzufordern, solange sich
das nicht gegen die Interessen der Opfer wendet. Es geht
einerseits zwar um Rechtssicherheit, aber es geht andererseits auch um den moralischen Gehalt dieses Projektes.
Es geht um historische Schuld, um Verantwortung, die wir
als Deutsche dafür übernehmen wollen, und es geht um
Versöhnung.
Wenn Rechtssicherheit nicht schnell erreicht werden
kann - Vertreter der Wirtschaft haben gestern in Interviews mitgeteilt, dass man alle Urteile zu diesem Thema
abwarten will; man muss sich daher darüber klar sein,
dass bis zum Jahresende wahrscheinlich weder Rechtssicherheit bestehen wird noch Auszahlungen erfolgen können -, dann werden wir in einem moralischen Dilemma
sein und darüber nachdenken müssen, ob es eine humanitär motivierte Lösung geben kann.
({1})
Der Bundestag muss die Lage neu bewerten, wenn der
Bundeskanzler aus den Vereinigten Staaten zurückkommt. Wir müssen von unseren amerikanischen Freunden auch verlangen, dass sie ihre Zusagen aus dem
Regierungsabkommen voll und ganz einhalten. Dazu
können Sie einiges mehr als in der Vergangenheit tun. Die
Statements of Interest können näher an dem Regierungsabkommen liegen, als dies bislang der Fall war.
Wir dürfen aber bei all diesen Diskussionen über
Rechtsfragen die Opfer nicht vergessen. Jeden Tag sterben nach Schätzungen der Opferorganisationen 200 Menschen, die eigentlich eine Zahlung aus der Bundesstiftung
erhalten sollen. Allein in Tschechien sind es 15 Menschen
pro Tag. Als wir vor nicht langer Zeit das Stiftungsgesetz
verabschiedet haben, wollten wir eine Überlebendenstiftung schaffen. Wir müssen aufpassen - der Bundestag hat
dafür die Verantwortung -, dass daraus keine Hinterbliebenenstiftung wird.
({2})
Deshalb sollten wir diese Fragen gründlich diskutieren
und dabei alle Motive des Projektes berücksichtigen.
Nach der Reise des Bundeskanzlers sollten wir uns in den
Ausschüssen noch einmal intensiv mit Lösungsmöglichkeiten beschäftigen.
({3})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Max Stadler.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Als sich vor knapp einem Jahr abzeichnete, dass die internationalen Verhandlungen zu einem erfolgreichen Ende kommen, hat der
Bundestag zwei Versprechen abgegeben: erstens, das notwendige Stiftungsgesetz gründlich zu beraten und, zweitens, es zugleich schnell zu verabschieden, damit die Zahlungen an die Opfer rasch beginnen können, bei
gleichzeitiger Rechtssicherheit für die deutsche Wirtschaft. Der Bundestag hat diese Versprechen eingehalten.
Das Gesetz ist hier trotz der Kompliziertheit der Materie
schnell beraten und verabschiedet worden. Noch vor der
Sommerpause 2000 ist ein Kuratorium installiert worden,
das seither mit Hochdruck an der verwaltungstechnischen
Umsetzung des gesamten Projekts arbeitet.
Dennoch ist die Zielsetzung des Stiftungsgesetzes bis
heute nicht erreicht worden. Dies ist wirklich bedrückend.
Man kann hinsichtlich der beiden Anwälte, die an den
Verhandlungen beteiligt waren und jetzt mit der Erhebung
neuer Klagen den Eintritt der Rechtssicherheit hinauszögern, nur Unverständnis haben. Unverständnis muss man
auch gegenüber den Teilen der deutschen Wirtschaft zeigen, die gezögert haben, sich an der Aufbringung der
5 Milliarden DM zu beteiligen - dies gilt aber nicht für die
Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft insgesamt.
({0})
In diesem Haus herrscht auf allen Seiten Unverständnis darüber, dass die vielen Mahnungen von Graf
Lambsdorff, von den Fraktionen des Bundestages und
von vielen anderen in der Öffentlichkeit, das Kapital
rechtzeitig und in voller Höhe zur Verfügung zu stellen, in
den Wind geschlagen worden sind, weswegen weitere
Verzögerungen eingetreten sind.
Volker Beck ({1})
Wir sind in einen Teufelskreis von fehlendem Stiftungskapital und fehlender Rechtssicherheit geraten. Erfreulicherweise ist seit Dienstag dieser Woche die Chance
gegeben, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Deshalb
schließe ich mich den Appellen an die amerikanische Justiz an, jetzt die Verfahren rasch abzuschließen. Aber der
Bundestag kommt wieder in die Situation - sie ist so ähnlich wie die vor knapp einem Jahr -, dass er eine Entscheidung gründlich, aber rasch wird treffen müssen;
denn - ich mache auf diesen Aspekt bewusst aufmerksam - es ist einzig und allein der Bundestag, der nach dem
Stiftungsgesetz die Feststellung der ausreichenden
Rechtssicherheit zu treffen hat.
({2})
Wir stehen unter Entscheidungszwang. Kein runder
Tisch, keine Arbeitsgruppe, kein Bundeskanzler und nicht
einmal der geschätzte Graf Lambsdorff können uns diese
Entscheidung abnehmen.
({3})
Dies ist im Stiftungsgesetz bewusst so festgelegt worden, weil von vornherein damit gerechnet wurde, dass über
die Voraussetzungen der Rechtssicherheit durchaus unterschiedliche Meinungen entstehen können. Daher ist eine
einvernehmliche Lösung dieser Frage wünschenswert und
anzustreben. Dem Bundestag bleibt nichts anderes übrig,
als erneut das Versprechen zu geben, diese Frage in den
nächsten Tagen und Wochen zwar mit der gebotenen Akribie zu prüfen, aber dann rasch so oder so zu entscheiden.
Meine Damen und Herren, wir sind uns dabei unserer
Verantwortung bewusst. Wir tragen Verantwortung dafür,
dass das Interesse der Wirtschaft, für die gleiche Sache
nicht zweimal zahlen zu müssen, berücksichtigt wird; wir
haben aber auch eine Verantwortung gegenüber den Opfern. Aufgrund der praktischen Bewährung des Statement
of Interest ist mit größter Wahrscheinlichkeit damit zu
rechnen, dass noch anhängige Klagen in den USA abgewiesen werden. Der Streit geht darum, welche Klagen
noch relevant sind. Dies ist das berechtigte Interesse der
Wirtschaft. Es darf aber nicht zugewartet werden, bis die
letzte aussichtslose Einzelklage alle Instanzen durchlaufen hat. Dies ist das berechtigte Interesse der Opfer. Ich
erwarte vom Deutschen Bundestag, dass er in diesem
Spannungsfeld unter Wahrung beider Interessenlagen
bald eine kluge Entscheidung trifft.
({4})
Das Wort hat Kollege
Ludwig Stiegler für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Graf
Lambsdorff! Meine Damen und Herren! Die beklagenswerte Lage wurde schon angesprochen: Das Geld ist da,
doch die Opfer können es nicht bekommen. Diese Situation ist fast mit der des Tantalus zu vergleichen: Die Möglichkeit zu helfen, also das zu erreichen, was wir immer
wollten, ist zum Greifen nahe, aber es geht noch nicht.
Es ist auch traurig, dass die deutsche Wirtschaft ihre
Chance vertan hat. Hätte sie vor vier Wochen gehandelt,
könnte sie sagen: Wir haben mit viel Mühe das Ziel erreicht. - Jetzt muss man sich fragen, ob immer erst etwas
passieren muss - ein Richterspruch oder die Anberaumung eines Kanzlergesprächs -, bevor sich etwas bewegt.
Es ist wirklich schade, dass der moralische Aspekt dieser
großen Bemühungen in diesem Zögern einfach untergeht.
Lassen Sie uns aber nach vorne schauen: Wir können
Frau Kram vonseiten des Deutschen Bundestages sagen,
dass das Geld da ist. Dies ist eine ganz wichtige Botschaft.
So ärgerlich die Entscheidung von Frau Kram auch war,
wer sie im Detail liest, wird feststellen, dass die Ausführungen zum Statement of Interest und zu seiner Bedeutung eine wesentliche Hilfe bei weiteren Fällen sein können. Es wurde wirklich deutlich gemacht, dass das
Statement of Interest nicht ein einfaches Papier ist, sondern
sehr bedeutungsvoll ist. Frau Kram hat sich gerade darauf
berufen und gesagt, dass, solange das Geld nicht da ist, dieses Instrument nicht wirksam eingesetzt werden könne. Damit können wir darauf vertrauen, dass es so ähnlich wie bereits in einigen früheren Fällen auch in Zukunft läuft.
Wir müssen uns auch darüber klar sein, dass es sich bei
der Vereinbarung mit der deutschen Wirtschaft um eine
Gesamtvereinbarung handelt. Es ist leider nicht so, wie
Kollege Stadler soeben gesagt hat, dass der Deutsche
Bundestag entscheidet und die Wirtschaft zahlen muss. In
§ 17 steht: Wenn der Bundestag ausreichende Rechtssicherheit feststellt, kann die Stiftung an die Partnerorganisation zahlen. - Die Regelung, wann die Leistungen der
Wirtschaft an die Stiftung fällig werden, steht leider woanders. In diesem Bereich ist Rechtsfriede nötig. Wir tun
gut daran, diesen Gesamtrahmen strikt einzuhalten und
die sich daraus ergebenden Folgen miteinander zu tragen.
Wir sollten nicht über dieses gesamte Vertragswerk hinausgehen. Vertragstreue gilt für beide Seiten.
Angesichts der Tatsache, dass wir alle Anstrengungen
unternehmen, um möglichst viel Rechtssicherheit herbeizuführen, bin ich mir sicher, dass sich die deutsche Wirtschaft am Ende der Entscheidung des Parlamentes nicht
verweigern wird. Wir erwarten von der deutschen Wirtschaft, dass sie nicht sozusagen die Buchstaben reitet,
sondern dafür Sorge trägt, dass die grundlegenden Ziele
erreicht werden und dass dem moralischen Anspruch das
notwendige Gewicht verliehen wird. Entsprechende Signale deuten darauf hin, dass die deutsche Wirtschaft
nicht justament auf Abweisung der letzten Klage bestehen
wird. Darauf werden wir auch in unseren Gesprächen
dringen.
Es geht jetzt darum, dass die amerikanische Seite ihre Zusagen erfüllt. Jetzt muss Tempo in die Verfahren gebracht
werden. Mir genügt das Statement of Interest allein nicht.
Ich darf in diesem Zusammenhang aus Art. 2 Abs. 2 des
deutsch-amerikanischen Regierungsabkommens zitieren:
Die Vereinigten Staaten werden sich in Anerkennung
der Bedeutung der Ziele dieses Abkommens einschließlich des umfassenden und dauernden Rechtsfriedens frühzeitig und nach besten Kräften bemühen,
auf eine Weise, die sie für angemessen halten, diese
Ziele gemeinsam mit den Regierungen der Bundesstaaten und der Kommunen zu verwirklichen.
Ich erwarte jetzt von der amerikanischen Seite, dass sie
noch einmal an die Gerichte herantritt und auf der Grundlage der Information über die Zusagen der deutschen
Wirtschaft erklärt: Wer bisher noch Bedenken hinsichtlich
der Bereitstellung der 5 Milliarden DM in voller Höhe
hatte, der möge diese, bitte schön, zurückstellen. - Wir
müssen uns darum bemühen, dass bei den Gerichten
Tempo gemacht wird, und deutlich machen, dass jeder
Richter, der in dieser Angelegenheit nicht schnellstmöglich entscheidet, die Opfer, die er schützen will, im
Grunde genommen schädigt, weil die Hilfe für sie zu spät
kommen kann.
Wir sollten gemeinsam den Richtern in Amerika sehr
deutlich machen: Wir haben unseren Beitrag geleistet.
Nun tut ihr das Eure!
Vielen Dank.
({0})
Für die PDS-Fraktion
spricht die Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Nicht das Leid der überlebenden Zwangsarbeiter, sondern der Spruch der US-Richterin Kram hat die
Wirtschaft dazu veranlasst, die längst überfälligen 5 Milliarden DM nun endlich verbindlich zuzusagen. Allein
dies zeigt: Das Unrechtsbewusstsein der deutschen Wirtschaft beim Thema NS-Zwangsarbeit ist nach wie vor erbärmlich.
({0})
An dieser Stelle möchte ich einige Worte an die überlebenden Zwangsarbeiter richten: Ich versichere Ihnen,
die PDS-Fraktion empfindet die jetzige Situation als unerträglich und skandalös. Wir sind wütend und ratlos zugleich, dass immer noch kein Geld an die überlebenden
Opfer ausgezahlt wurde. Wir werden alles daran setzen,
dass so schnell wie möglich mit der Auszahlung begonnen wird.
In den letzten Wochen und auch in diesen Stunden findet ein Gezerre um Fragen der Rechtssicherheit für die
Wirtschaft statt, das alles andere in den Hintergrund stellt.
Völlig unverfroren hat erst gestern der Sprecher der Stiftungsinitiative, Herr Gibowski, wiederholt, dass alle
neuen Klagen in den USA niedergeschlagen oder zurückgezogen sein müssen, bevor mit der Auszahlung an die
Opfer begonnen werden kann. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass mir zu diesem Herrn nichts mehr einfällt, der in
den letzten Wochen und Monaten nichts unversucht gelassen hat, immer wieder Vorwände - meiner Meinung
nach: auch Gemeinheiten - zu finden, um die Auszahlung
zu verzögern.
Ich möchte hier ganz eindeutig denjenigen widersprechen, die jetzt auf die amerikanischen Gerichte und auf
die Situation in den USA hinweisen.
({1})
Das Entscheidende ist, dass vor allen Dingen die Wirtschaft in den letzten Monaten immer wieder gezeigt hat,
dass sie überhaupt nicht bereit war, zu zahlen und nach einer Lösung zu suchen. Das ist nach wie vor skandalös.
Ich bin der Meinung, dass die Lage relativ klar ist. Erstens. Die Wirtschaft muss sofort ihren Beitrag von 5 Milliarden DM auf das Konto der Bundesstiftung überweisen.
({2})
Zweitens. Die letzte Sammelklage in den USA - dafür
müssen wir uns einsetzen - muss so schnell wie möglich
eingestellt werden. Dann - da waren sich die Mitglieder
des Kuratoriums bisher immer einig - könnte der Bundestag eigentlich Rechtssicherheit beschließen und mit
der Auszahlung an die Opfer beginnen.
Ich möchte hier klipp und klar sagen: Für die Opfer ist
das, was in diesem Zusammenhang in den letzten Monaten gelaufen ist, nicht mehr akzeptabel. Uns begegnen immer wieder Menschen, die völlig hilflos fragen: Wie kann
es nur angehen, dass in Deutschland keine Lösung gefunden wird? - Schauen wir zum Beispiel nach Österreich.
Dort ist offensichtlich alles viel schneller geregelt worden. Auch andere Organisationen waren sehr viel schneller in der Lage, die Opfer zu entschädigen.
Hinsichtlich der Gespräche gestern beim Bundeskanzler hatten wahrscheinlich viele die Erwartung, dass der
Kanzler endlich einmal ein Machtwort spricht. Aber auch
das, was Sie, Herr Lambsdorff, heute hier vorgetragen haben, war im Prinzip nichts Neues. Ich bin nicht alleine enttäuscht darüber, dass hier nicht ganz klar entschieden
worden ist, dass im Sinne der Opfer schnell gehandelt
wird.
Es ist wie immer: Wenn man nicht weiterweiß, gründet
man einen Arbeitskreis. Dieser soll jetzt beim Bundeskanzler angesiedelt werden. Ich muss ehrlich sagen, dass
ich wenig Hoffnung habe, dass dieser Arbeitskreis die Lösung bringen wird, die wir in monatelangen Gesprächen
und Verhandlungen zu finden versucht haben. Ich weiß
nicht, was dieser Arbeitskreis im Zusammenhang damit
bringen soll, dass jetzt schnell Rechtssicherheit hergestellt und die Opfer entschädigt werden sollen.
Insofern möchte ich von dieser Stelle aus ein weiteres
Mal an die Bundesregierung appellieren, sich klar und
deutlich für die Opfer einzusetzen, nicht gegenüber der
Wirtschaft einzuknicken und womöglich noch weitere
Klagen abzuwarten, bevor sie die Entschädigungszahlungen leistet.
Ich möchte auch noch ein Wort zu meinem Kollegen
Beck sagen. Herr Kollege Beck, Sie sind jetzt in der Öffentlichkeit mit dem Vorschlag vorgeprescht, man könne
ja die Rechtssicherheit von den jetzigen Zahlungen
abkoppeln. Ich halte überhaupt nichts davon, dass ein einzelnes Mitglied des Kuratoriums vorprescht
({3})
und irgendwelche Vorschläge macht, die falsche Hoffnungen wecken. Das aber haben Sie in den vergangenen
Tagen immer wieder getan. Ich fordere - ebenso wie beispielsweise die osteuropäischen Partnerorganisationen,
aber auch andere Mitglieder des Kuratoriums -, sofort
eine Sitzung des Kuratoriums einzuberufen und mit den
Opferverbänden darüber zu diskutieren,
({4})
was jetzt getan werden kann. Die Opferverbände sollten
auch in die Arbeitsgruppe mit einbezogen werden, statt
die Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden zu lassen.
({5})
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum letzten Satz.
Wenn es - in dem Punkt stimme ich mit dem Kollegen
Beck völlig überein - so weitergeht wie bisher, dann werden wir keine Stiftung für die Entschädigung der überlebenden Zwangsarbeiter haben, sondern eine Hinterbliebenenstiftung. Das darf nicht passieren.
({0})
Das Wort hat der Kollege Bernd Reuter für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich will an das anknüpfen,
was Frau Jelpke hier vorgetragen hat, nämlich dass wir
alle darüber betroffen sind, dass es uns nicht gelingt, endlich an die Menschen eine Auszahlung leisten zu können,
die dieses schwere Schicksal erlitten haben. Aber ich
möchte auch davor warnen, dass hier der Eindruck vermittelt wird, man müsse nur wollen, dann könne man das
Geld auch auszahlen.
({0})
Ich bin ein ehrlicher Makler: Wir wollten im Rahmen
der Diskussion heute eine Aktuelle Stunde machen, um
der Industrie einmal deutlich zu sagen, dass sie endlich
das Geld bringen muss. Es hieß ja immer: Das Geld ist da,
wenn es gebraucht wird. Seit dem 13. März heißt es: Das
Geld ist da.
Nun will ich mich nicht an dem theoretischen Streit beteiligen, ob das Geld bei der Stiftung eingezahlt werden
muss. Mir wäre es lieber, wie es auch Herr Kollege
Bosbach gesagt hat, wenn es eingezahlt werden würde.
Aber nach den Regeln, die wir uns selbst gegeben haben,
ist dies nicht zwingend erforderlich.
Wir haben unsere Aufgaben zunächst ordentlich erfüllt. Die Wirtschaft hat das Geld zur Verfügung gestellt.
Jetzt liegt es - das klang auch bei Max Stadler an - in der
Tat an der Justiz in Amerika, durch entsprechende Entscheidungen dafür zu sorgen, dass wir in die Lage versetzt
werden, ausreichend Rechtsfrieden herzustellen.
({1})
Die Entscheidung der Richterin Kram in Amerika sehe
ich ähnlich wie Graf Lambsdorff. Sie mag rechtsfehlerhaft gewesen sein. Aber, meine Damen und Herren, auch
wenn heute nicht der Tag der Dankadressen ist, sollten
wir vielleicht der Richterin Kram dafür danken, dass sie
diese Entscheidung getroffen hat; denn nicht die Drohung mit unserer Aktuellen Stunde hat die Wirtschaft
dazu gebracht, das Geld bereitzustellen, sondern möglicherweise die Entscheidung dieser weisen Dame in Amerika.
({2})
Wir müssen mit einer Richterschelte auch deswegen
vorsichtig sein, weil dies kontraproduktiv sein könnte. Es
ist richtig, was Ludwig Stiegler dargelegt hat: Wir können
dem Kanzler natürlich mit auf den Weg geben, seine Kontakte in Amerika zu nutzen, um dafür zu werben, dass
auch in Amerika eine Stimmung erzeugt wird, die es der
Justiz ermöglicht, schnell zu entscheiden. Nichtsdestotrotz werden wir nicht alle Klagen schnell vom Tisch bekommen.
Auf der einen Seite steht die Verpflichtung, dass die
Wirtschaft das Geld zusammenbringt - die Bundesregierung hat ihren Anteil von 5 Milliarden DM bereits erbracht -, auf der anderen Seite die so genannte ausreichende Rechtssicherheit. Da können wir uns nicht
davonstehlen - so Leid es mir tut, Ulla Jelpke - und sagen, der Kanzler sei vor der Wirtschaft eingeknickt oder
er kusche vor der Wirtschaft. Man kann auch nicht so wie
andere argumentieren - man braucht ja nur den Fernseher
anzuschalten oder Radio zu hören -, die sagen, hier werde
nur die Sache der Wirtschaft vorgetragen. Wenn ich diese
Töne manchmal höre, wundere ich mich nicht, dass die
Industrie nicht bereit ist, das Geld einzuzahlen. Ich habe
den Eindruck, manche hier argumentieren, es sei ganz
egal, ob wir Rechtssicherheit erreichen, wir sollten einfach auszahlen.
Aus meiner Sicht kann ich nur warnen: Wenn wir jetzt
das Gesetz ändern und Mittel aus der Stiftung auszuzahlen beginnen, dann gefährden wir das gesamte Projekt.
Wir müssen aber alles daran setzen, dass dieses Projekt erfolgreich abgeschlossen wird. Wenn es nun noch etwas
länger dauert, ist das zwar bedauerlich; aber der Deutsche
Bundestag könnte, sollte dies bis zum Eintritt in die Sommerpause nicht zu bewerkstelligen sein, auch aus der
Sommerpause zurückgeholt werden, damit wir hier die
Rechtssicherheit feststellen und die Auszahlung beginnen
kann.
({3})
Es liegt nun daran, durch vernünftiges Verhalten dazu
beizutragen, dass hier keine Irritationen ausgelöst werden. Ich sage an dieser Stelle auch - das klang bei Ulla
Jelpke ebenfalls an -: So manche Empfehlung, die ich in
den letzten Tagen gehört habe, zeugt davon, dass diejenigen, die öffentlich so argumentieren, einfach ihre Unterlagen zur Seite gelegt haben. Man muss nur in diese Unterlagen hineinschauen; dann weiß man auch, welche
Probleme lösbar sind und was machbar ist.
Mein Appell und meine Bitte: Wir müssen in dieser
Frage zusammenbleiben. Nur dann, wenn der Deutsche
Bundestag und die Kuratoriumsmitglieder dieses Hauses
einig und geschlossen die Interessen der bemitleidenswerten Menschen vertreten, die auf ihr Geld warten, wird
es uns gelingen, Eindruck auf die Justiz in Amerika zu
machen. Nur dann sind wir in der Lage, in absehbarer Zeit
endlich mit den Zahlungen zu beginnen. Dieses Ziel muss
für uns im Vordergrund stehen und dafür sollten wir alle
gemeinsam streiten.
Schönen Dank.
({4})
Nächster Redner ist
der Kollege Martin Hohmann für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Graf Lambsdorff! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
„Unvorstellbar“ war für den Kanzler das von vielen als
dauerhaft vermutete Unvermögen der deutschen Wirtschaft, ihren Anteil am Stiftungsvermögen zusammenzubekommen. Auch mithilfe einer „Ruck“-Entscheidung
von Richterin Shirley Kram hat Gerhard Schröder Recht
behalten. Krise und Blamage sind abgewendet, Gott sei
Dank. Reist der Kanzler jetzt zu seiner Antrittsvisite bei
Präsident Bush mit leichtem Gepäck? - Fehlanzeige!
Nach der Geldnot kommt die Zeitnot. Wer 55 Jahre auf
eine Geste der Wiedergutmachung für Zwangsarbeit gewartet hat, darf keinen Tag länger hingehalten werden,
hört man. Die Opfer sollen das Geld bekommen, nicht die
Erben. - Wer wollte dem widersprechen?
Auf der einen Seite steht die Humanität, auf der anderen Seite das, was man als juristischen Formelkram bezeichnet. Da kann, da darf doch nicht mehr gezögert werden. Sofort das Geld auszahlen, der Stimme des Herzens
folgen, so die populäre Forderung.
Wagt da jemand zu widersprechen? - Ja, der Kanzler
selbst und Otto Graf Lambsdorff, sein Sonderbeauftragter. Sind das Unmenschen? - Nein! Sie tun ihre Pflicht,
wenn sie uns in einer Phase großer öffentlicher Erwartungen zur Besonnenheit mahnen, wenn sie uns daran erinnern, dass Deutschland und die deutsche Wirtschaft eben
nicht aufgrund rechtlicher, sondern aufgrund politischmoralischer Verpflichtung Entschädigung leisten, wenn
sie uns an die Geschäftsgrundlage erinnern. Diese Geschäftsgrundlage wurde von einer breiten Mehrheit durch
Bundestagsbeschluss im letzten Sommer gegengezeichnet. Sie lautet: Entschädigungsleistung gegen Rechtssicherheit. Rechtssicherheit ist sicher erst dann gegeben,
wenn der Fall Deutsch gegen Turner-Corporation vor dem
amerikanischen Berufungsgericht im Juni positiv entschieden ist.
All das fasst Graf Lambsdorff in der zutreffenden Erwartung zusammen, dass mit den Zahlungen frühestens
im Sommer dieses Jahres gerechnet werden kann. Für
diese klaren Worte sollten wir Graf Lambsdorff nicht tadeln. Wir sollten ihm auch dafür dankbar sein.
Dankbar sollten wir auch den beteiligten deutschen
Unternehmen sein; es ist bereits ausgedrückt worden. Immerhin haben mehr als 50 Prozent dieser Unternehmen
1945 noch gar nicht bestanden.
({0})
Trotzdem haben sie in den Fonds einbezahlt und die Gründungsmitglieder haben kräftig nachgeschossen.
({1})
Nachdem wir gemeinsam mit der Wirtschaft so weit
gekommen sind, habe ich jede Zuversicht, dass wir auch
den Rest, die letzten 100 Meter bis zum Ziel, gemeinsam
schaffen. Aber der Ball liegt jetzt im Spielfeld der Amerikaner. Die amerikanische Justiz und die Bush-Regierung
sind jetzt am Zug.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, nachdem
das Projekt der Zwangsarbeiterentschädigung mit großer
Unterstützung aus allen Fraktionen kurz vor einem erfolgreichen Abschluss steht, mein Appell an die rot-grüne
Mehrheit des Hauses: Denken Sie bitte auch an die deutschen Zwangsarbeiter, denken Sie bitte auch an die deutschen Spätheimkehrer, die in die ehemalige DDR entlassen wurden!
({2})
Treffen denn die grausigen Berichte über Hunger, Qualen
und Misshandlungen nicht auch auf sie zu? Gehen wir
nicht von einer universalen Geltung der Menschenrechte
aus? Sind wir etwa ein Schwellenland in Sachen Menschenrechte?
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, in Ihrer Oppositionszeit haben Sie auf das Thema
Menschenrechte größten Nachdruck gelegt. Als Union
sind wir Ihnen bezüglich der Zwangsarbeiterentschädigung darin gefolgt. Wir können Sie nur bitten, umgekehrt
uns bei der beantragten Entschädigung der DDR-Spätheimkehrer zu folgen. Oder sind die 90 Millionen DM,
knapp 1 Prozent von 10 Milliarden DM, für diese wirklich
vergessenen, alten Menschen zu viel? Wenn das der Fall
wäre, müssten wir uns einfach nur schämen.
({3})
Jetzt spricht Kollege
Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
der Bundestag im Juli 2000 das Gesetz zur Bundesstiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ beschloss, war
das ein großes Zeichen der Hilfe und Hoffnung für viele
Hunderttausende ehemalige Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter in Osteuropa, zumal nach Jahrzehnten der
Ignoranz und Gleichgültigkeit, die sie aus Deutschland
ihrem Schicksal gegenüber vorher erfahren hatten. Dieser
Beschluss war ein regelrechtes Rettungssignal gerade für
die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Osteuropa, die ja ungefähr 90 Prozent der Zwangsarbeiter insgesamt ausmachen. Mit wachsender Irritation und Enttäuschung mussten diese Menschen erleben, dass sich die
Umsetzung der Ankündigung verzögerte und verzögerte.
Die Verweigerungshaltung eines Teils der deutschen
Unternehmen verhinderte allzu lange, dass die zugesagten
5 Milliarden DM zusammenkamen. Sie konterkarierten
dadurch zugleich die verantwortliche Haltung anderer
Unternehmen, vor allem auch derjenigen, die selbst gar
keine Zwangsarbeiter beschäftigt hatten oder Nachkriegsgründungen waren. Damit wurde die große Versöhnungsgeste der Wirtschaft, des deutschen Parlaments entwertet
und viele, viele Tausend Zwangsarbeiter wurden um ihre
Entschädigung betrogen, weil sie inzwischen eben gestorben sind.
Am 22. Juni, in wenigen Monaten, jährt sich zum sechzigsten Mal der Beginn des deutschen Überfalls auf die
Sowjetunion. Damals begann der größte Vertreibungs-,
Vernichtungs- und Versklavungskrieg, den die Geschichte
gesehen hat. Bis zu diesem Datum muss die Auszahlung
der Entschädigung angelaufen, muss sie konkret in Sicht
sein. Deshalb darf die deutsche Wirtschaft keine maximalen Forderungen an Rechtssicherheit stellen. Deshalb
muss in die Bundesstiftung direkt und schnellstmöglich
eingezahlt werden.
({0})
Die bisherige Entwicklung ist trotz aller guten Leistungen dabei insgesamt eher beschämend. Umso mehr
möchte ich auf diejenigen Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland aufmerksam machen, die von sich aus schon
seit Jahren Verantwortung in dieser Frage übernommen
haben. Sie machten ehemalige Zwangsarbeiter aus ihren
Regionen ausfindig, organisierten Patenschaften und Besuchsreisen. Sie organisierten Spendensammlungen für
ehemalige KZ- und Getto-Häftlinge sowie für Zwangsarbeiter. Sie nahmen persönliche Kontakte auf, die oft in
Freundschaften mündeten. Sie bewiesen persönlich anschaulich und überzeugend an ihren jeweiligen Orten, wie
überfällig eine so genannte Entschädigung ist und dass
Ressentiments, antisemitische Ressentiments, die sich oft
gerade an der Entschädigungsfrage festmachen, die Wirklichkeit absolut entstellen und unmenschlich sind.
({1})
Beispielhaft für solche Bürgerinnen und Bürger nenne
ich das Ehepaar Hanna und Wolf Middelmann in Göttingen, den ehemaligen Pfarrer Werner Lindemann oder
Margret Sintram aus Lüneburg, die in großem Umfang solche Partnerschaftsbeziehungen mit ehemaligen Zwangsarbeitern in Weißrussland, im Baltikum aufbauten. Solchen Bürgerinnen und Bürgern hat der Deutsche Bundestag ausdrücklich zu danken.
({2})
Ihre demokratische Privatinitiative sollte sich die gesamte - die gesamte! - deutsche Wirtschaft zum Vorbild
nehmen. Zugleich sollten wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, solche Privatinitiativen in unseren Wahlkreisen unterstützen; denn sie sind das persönliche und menschliche
Fundament einer Versöhnungsarbeit, die sich nicht auf die
Auszahlung von Geldbeträgen beschränken kann und für
die wir nicht mehr viel Zeit haben werden.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin immer
noch nicht ganz sicher, ob es wirklich klug war, mit diesem Thema heute eine Aktuelle Stunde durchzuführen,
deren ursprünglicher Anlass eigentlich entfallen ist, oder
ob es nicht besser und wirklich klüger gewesen wäre, nur
einen Sachstandsbericht, wie ihn Graf Lambsdorff gegeben hat, entgegenzunehmen. Wir alle wissen, dass es
manchmal klüger ist, zu schweigen und keine Unsicherheiten aufkommen zu lassen.
({0})
Wenn in der letzten Debatte zum Nachtragshaushalt,
also beim vorigen Tagesordnungspunkt, mehrfach von einem Bumerang die Rede war, dann heißt das: Die Wahrheit
und die Realität werden uns einholen. Es wäre nämlich
falsch und schädlich, wenn durch die heutige Debatte zu einer weiteren Verunsicherung der amerikanischen Gerichte
und insbesondere der Opfer beigetragen werden würde.
({1})
- Frau Jelpke, auch Ihr Beitrag war nicht dazu geeignet,
das auszudrücken, was wir dringend brauchen.
({2})
- Frau Fuchs, ich bin da anderer Ansicht. Sie müssen sich
jetzt anhören, warum. - Wir müssen nämlich nach außen
den Eindruck erwecken, dass wir bei dem bleiben, was
wir hier alle gemeinsam beschlossen haben. Genau das
habe ich gemeint. Wenn wir das nicht tun, schafft das Verunsicherung.
({3})
Auch dass Herr Beck soeben die Hoffnung geweckt
hat, wir würden uns nach der Reise des Bundeskanzlers in
die USA möglicherweise auf die Suche nach neuen Lösungswegen machen, kann nicht der richtige Weg sein.
Weil ich das befürchtet habe, habe ich eingangs gesagt:
Vielleicht wäre es klüger gewesen, von einer solchen Aktuellen Stunde abzusehen.
Ich halte es für wichtig, dass wir bei der in diesem
Hause bisher bestehenden Einigkeit bleiben.
({4})
- Herr Stiegler, wenn wir erwarten, dass sich die US-Gerichte an das Vereinbarte halten, dann müssen auch wir
uns in Zukunft darauf verständigen, bei dem zu bleiben,
was wir gemeinsam beschlossen haben.
Frau Jelpke, da nutzt es nichts, wenn Sie jetzt die Wirtschaft beschimpfen, die 5 Milliarden DM - wie auch immer; natürlich zu spät, da sind wir uns einig - zusammengebracht hat. Wenn Sie einmal schauen, welche
Unternehmen das gewesen sind, dann stellen Sie fest, dass
das nicht ganz selbstverständlich war. Es gibt bei denjenigen, die eingezahlt haben, ein moralisches Empfinden.
Ich denke, es ist hier der falsche Ort, sie zu beschimpfen
und zu sagen, das sei alles nicht in Ordnung gewesen.
Das, was in diesem Hause bisher der Fall gewesen ist,
brauchen wir auch weiterhin: Die Seite, die außerhalb dieses Hauses tätig ist, das heißt sowohl die deutsche Wirtschaft als auch die Gerichte, muss wissen, dass sie sich auf
das verlassen kann, was wir hier gemeinsam beschlossen
haben. Es wäre richtig, wenn wir jetzt in Ruhe auf das vertrauen, was Graf Lambsdorff gesagt hat, nämlich dass er
so schnell wie möglich die Empfehlung geben wird, dass
wir hier ausreichende Rechtssicherheit feststellen. Der
Sache angemessen wäre es auch, wenn wir im Prinzip gemeinsam davon ausgingen, dass alle Beteiligten daran interessiert sind, möglichst schnell zu einer Auszahlung zu
kommen. Jede Vermutung in eine andere Richtung hielte
jedenfalls ich für wenig hilfreich.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist
der Kollege Dietmar Nietan für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Philipp, ich glaube, die Opfer sind vor allem dadurch verunsichert, dass sie seit Monaten das Trauerspiel erleben, dass sie auch von den
Vertretern der Stiftungsinitiative nur Worte gehört, aber
keine Taten gesehen haben.
({0})
Es entstand vielleicht auch dadurch Verunsicherung, dass
keine Worte des Mitgefühls für die Opfer gefallen sind,
sondern Worte, die bei allem Dank dafür, dass die Stiftungsinitiative das erforderliche Geld zusammenbekommen hat, dafür gesorgt haben, dass man manchmal an der
Ernsthaftigkeit der Absichten der Stiftungsinitiative zweifeln musste. Dies war zum Beispiel der Fall, als der Sprecher der Stiftungsinitiative erklärte, der Deutsche Bundestag könne beschließen, was er wolle, aber die Wirtschaft behalte sich vor, dann einzuzahlen, wann sie wolle.
Nachdem der Sprecher der Stiftungsinitiative in der Öffentlichkeit so getan hat, als ob ein Klagefall nach dem
anderen dazu komme und es mit der Abweisung der einen
oder anderen Sammelklage nicht getan sei, konnte schon
der Eindruck aufkommen, dass man es mit dem Anliegen
der Initiative nicht so ernst meint.
Das Urteil der Richterin Kram - ich bedauere es sehr;
denn es hat zu einer zeitlichen Verzögerung geführt - hat
irrsinnigerweise dazu geführt, dass die Industrie das, was
sie monatelang nicht konnte, innerhalb von wenigen Tagen konnte. Das alles verunsichert nicht nur die Opfer,
sondern auch uns als Verantwortliche.
({1})
Die Industrie hat durch dieses Vorgehen das Vertrauen
verspielt, das sie sich sicherlich überall in der Welt mit
dem mutigen Versprechen, das Geld zusammenzubekommen, erworben hat.
Es wäre nur allzu gut, dieses Vertrauen wieder zu festigen und nicht nur in Pressemitteilungen zu erklären, man
habe das Geld zusammen. Dieses Geld muss vielmehr so
schnell wie möglich auf das Konto der Zwangsarbeiterstiftung überwiesen werden.
Ich will an dieser Stelle sehr deutlich sagen, dass es
auch ein wichtiges und richtiges Signal ist, jetzt nicht das
Gesetz zu ändern. Bei allem Verständnis dafür, dass einige
das aus moralischen Erwägungen gegenüber den Opfern
gern tun wollten, glaube ich doch, jetzt das Stiftungsgesetz zu ändern würde das Gegenteil erreichen, nämlich
auch in den USA die Frage aufwerfen: Warum ändert man
jetzt das Gesetz? Glaubt man nicht mehr, dass dieses Gesetz trägt? Deshalb sollten wir zum jetzigen Zeitpunkt
auch daran festhalten.
({2})
In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich
auch die Arbeitsgruppe, die der Bundeskanzler eingerichtet hat. Diese Arbeitsgruppe muss in der Tat in dem Sinne
handeln, wie es Kollege Bosbach gesagt hat: Sie muss
Schnelligkeit und Einigkeit darüber bringen, wie die
Rechtssicherheit hergestellt werden kann. Aber es muss
auch klar sein, dass weder diese Arbeitsgruppe noch irgendein Richter noch die deutsche Wirtschaft die Entscheidung treffen können, die Rechtssicherheit im
Bundestag zu beschließen. Das können nur wir. Dafür tragen wir die Verantwortung, wie es der Kollege Stadler gesagt hat.
Der Bundeskanzler wünscht sich - auch das unterstützte ich -, dass wir das möglichst noch vor der Sommerpause tun. Der Bundeskanzler hat gesagt: Die Bedingungen, die noch fehlen, sind nicht von uns herstellbar.
Auch darin gebe ich dem Bundeskanzler Recht. Wir können diese Bedingungen nicht herstellen, aber wir haben
die Verantwortung dafür festzustellen, wie hoch die Hürden für diese Bedingungen sind.
Ich sage an dieser Stelle sehr deutlich: Vielleicht
kommt der Zeitpunkt - ich hoffe, er kommt nicht -, an
dem der Deutsche Bundestag entgegen denjenigen Kräften in der deutschen Wirtschaft, die die hundertprozentige
Rechtssicherheit haben wollen, auch erklären muss, dass
Rechtssicherheit besteht. Auch das gehört zu unserer Verantwortung, der wir gerecht werden müssen.
Wer es allerdings ernst meint in dem Sinne, dass es mit
einer möglichst schnellen Auszahlung weitergehen muss,
der sollte die Zeit jetzt nutzen, zu einem Rechtsfrieden, zu
einer Rechtssicherheit zu kommen. Deshalb ist die Reise
des Bundeskanzlers aus meiner Sicht sehr wichtig, um das
in den USA zu versuchen.
Ich sage aber auch klar und deutlich, dass diese Verantwortung nicht nur wir tragen, indem wir jetzt, wie es
eben gesagt wurde, nicht weitere Diskussionen führen,
sondern hoffen, dass es zu Ergebnissen kommt. Ich warne
jeden in der deutschen Wirtschaft davor, in dieser empfindlichen Phase Diskussionen in der Öffentlichkeit fortzusetzen, welche einzelnen Urteile denn noch abgewiesen
werden müssen, bis man aus Sicht der deutschen Wirtschaft die Rechtssicherheit hergestellt hat.
({3})
Wenn wir uns einig darüber sind, dass die Bemühungen in den USA, die Leute davon zu überzeugen, dass wir
eine neue Lage haben, weil das Geld jetzt vorhanden ist,
fruchten sollen, dann hat jetzt auch jeder an seinem Platz
und in seiner Verantwortung dafür zu sorgen, dass er
durch neue öffentliche Äußerungen den Eindruck, dass
wir diesen Rechtsfrieden schnell herbeiführen wollen,
nicht torpediert. Dazu appelliere ich an alle, nicht nur an
uns, sondern auch an die Vertreter der deutschen Wirtschaft.
({4})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Thomas Strobl.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
die heutige Debatte zunächst zum Anlass nehmen, jemandem Dank zu sagen, der eine schwierige Aufgabe und
die Lösung eines heiklen Problems übernommen hat und
dies, wie ich glaube sagen zu können, bisher erfolgreich,
engagiert, hervorragend und auch mit der nötigen Nüchternheit geleistet hat. Ich glaube, für viele Kolleginnen
und Kollegen Otto Graf Lambsdorff herzlichen Dank aussprechen zu dürfen.
({0})
5 Milliarden DM sind kein Pappenstiel. Ich glaube,
viele sind erleichtert darüber, dass es gelungen ist, einen
Teufelskreis zu durchbrechen. Weil vom Vorredner gerade
Kritik an der deutschen Wirtschaft geübt worden ist: Ich
finde es schon bemerkenswert, dass eine ganze Reihe von
Unternehmen, die erst nach dem Jahr 1949 gegründet
worden sind, in der Lage sind, in diesem Punkt gesamtstaatliche Verantwortung zu übernehmen,
({1})
und sich in starkem Maße zu beteiligen. Auch dies sollten
wir meines Erachtens sagen.
Ein Teufelskreis bestand dergestalt, dass Teile der deutschen Wirtschaft sagten: „Wir zahlen nicht, ohne dass
Rechtssicherheit hergestellt ist“, und umgekehrt amerikanische Gerichte anhängige Klagen mit der Begründung
nicht abgewiesen haben, in Deutschland stünde das Geld
nicht bereit.
Jetzt stehen neben den 5 Milliarden DM aus Haushaltsmitteln weitere 5 Milliarden DM der deutschen Wirtschaft bereit. Ich denke, dies ist ein wichtiges psychologisches Signal für Amerika. Ein wichtiges Zwischenziel
jedenfalls ist erreicht.
Allerdings droht der nächste Teufelskreis: Ausgezahlt
werden soll erst, so ist es vereinbart, wenn nachhaltig ausreichende Rechtssicherheit besteht. Ich will hier gleich sagen, was ich denke, was die deutsche Seite - damit
möchte ich beginnen - in diesem Zusammenhang tun
sollte, ja vielleicht sogar tun muss. Es muss jetzt in jeder,
und zwar in wirklich jeder Art und Weise Vorsorge für
eine schnelle Auszahlung getroffen werden. Das wäre ein
weiteres Signal an die amerikanischen Gerichte.
Über 1 Million Anträge werden erwartet. Da stellt sich
in der Tat die praktische und organisatorische Frage, ob
alle Voraussetzungen für eine schnelle Auszahlung der
Gelder nach dem entsprechenden Beschluss des Deutschen Bundestages geschaffen sind. Steht in Ämtern und
Archiven ausreichend Personal bereit? Gibt es ein effizientes und zügiges Verfahren im Einzelfall? Können die
Unternehmen jetzt so rasch wie möglich die fehlende
Summe auf das Konto der Stiftungsinitiative überweisen?
Vor allem das wäre ein Signal, ein weiteres Signal an die
Richterin Kram, dass nämlich im Grunde sofort ausgezahlt werden könnte. Es ist der Part der deutschen Seite,
diese Voraussetzungen rasch und sichtbar zu schaffen.
Zum anderen liegt es bei der amerikanischen Seite,
hinreichend Rechtssicherheit für die deutschen Unternehmen herzustellen. Die Verfahren sollten schnell bearbeitet
und abgeschlossen werden. Darauf haben wir nur mittelbaren Einfluss und selbst die amerikanische Regierung
hat auf unabhängige Gerichte keinen unmittelbaren
Einfluss.
Richtig ist auch, hundertprozentige Rechtssicherheit
kann es natürlich nicht geben. Aber wir dürfen den amerikanischen Gerichten schon sagen: Es ist im Interesse der
Betroffenen und der Opfer, wenn die Verfahren schnell erledigt werden.
Es ist gesagt worden, man müsse der Richterin Kram
- ich glaube, der Kollege Reuter hat es gesagt - dankbar
sein für ihren Urteilsspruch, weil dies ein Grund dafür
war, dass die fehlenden 1,4 Milliarden DM jetzt doch zusammen gekommen sind. Ich möchte hinzufügen: Noch
dankbarer wären wir der Richterin Kram, wenn sie jetzt
ihren Urteilsspruch änderte, nachdem das Geld da ist, damit wir auch möglichst schnell zur Auszahlung kommen
können.
({2})
Abschließend möchte ich zwei Bemerkungen zu diesem Thema machen. Die Gemeinsamkeit der Demokraten
gibt es hier im Deutschen Bundestag zu diesem wichtigen
Thema. Ich stimme denen zu, die darauf hingewiesen haben, dass wir sie gerade bei diesem Thema auch in Zukunft erhalten sollten - auch mit Blick auf den Eindruck,
den wir gegenüber amerikanischen Gerichten machen
können oder eben auch nicht machen können.
Ein Zweites möchte ich in dieser Debatte einfach sagen, weil man dies zu diesem Thema immer sagen muss.
Finanzielle Hilfen können das begangene Unrecht, das
zugefügte unermessliche menschliche Leid niemals wieder gutmachen. Es geht um eine moralische Verpflichtung, den Opfern zu helfen. Wir haben mit der Stiftung
das zum Ausdruck gebracht, was auch der Bundespräsident sagte, nämlich dass Leid als Leid anerkannt und
dass Unrecht, das ihnen angetan worden ist, Unrecht genannt wird.
Die breite überparteiliche Zustimmung wurde und
wird auch von den betroffenen Staaten als politisches Signal gesehen. Das muss auch in Zukunft so bleiben.
Meine Damen und Herren, alle müssen sich jetzt
schnell um eine effektive Schaffung der Voraussetzungen
für die Auszahlung an die Opfer bemühen. Es muss unser
aller Interesse sein, alle Hürden aus dem Weg zu räumen,
damit noch Lebenden eine humanitäre Geste des guten
Willens und des Friedens entgegengebracht werden kann.
Der Tod hält sich nicht an zeitliche Pläne. Jeder Monat,
jeder Tag zählt, bevor es für die Opfer zu spät ist.
Hier haben die amerikanischen Gerichte eine große
Verantwortung. Wir allerdings bleiben in dem soeben beschriebenen Sinne ebenfalls in der Verantwortung.
Besten Dank.
({3})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Dieter Wiefelspütz
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Strobl, Ihre Rede hat mir
sehr gut gefallen. Das Projekt, über das wir heute reden,
ist nicht nur eine Angelegenheit der Koalition. Diesem
Projekt haben sich viele von Rot-Grün von Beginn an sehr
verbunden gefühlt und sich mit viel Herzblut engagiert.
Aber dies ist eine Sache des ganzen deutschen Volkes und
demzufolge auch eine Sache des ganzen Deutschen Bundestages. Das war für uns immer klar. Es ist wichtig, immer wieder zu betonen, dass wir dies - bei allem, was uns
sonst trennt - gemeinsam bewerkstelligen wollen. Hierfür
tragen wir gemeinsam die Verantwortung. Dies will ich
noch einmal sehr deutlich unterstreichen.
({0})
Ich habe noch nie ein solch ungewöhnliches Gesetzgebungsverfahren wie das beim Stiftungsgesetz erlebt. Ich
glaube auch nicht, dass sich so etwas noch einmal wiederholen wird. Normalerweise werden Bundesgesetze
von deutschen Abgeordneten im Deutschen Bundestag
gemacht, von Männern und Frauen, die gewählt sind. Als
wir über das Stiftungsgesetz beraten haben, saßen aber neben uns deutschen Abgeordneten noch Vertreter vieler anderer Regierungen mit am Tisch: Polens, Tschechiens, der
Ukraine, Weißrusslands, Israels sowie der Vereinigten
Staaten von Amerika. Hier saßen Vertreter der Opferverbände, des Jewish Claims Congress, des Jewish World
Congress, vieler Opferorganisationen - ich denke, im
Geiste auch die Opfer selbst - mit am Tisch und haben auf
ein wichtiges Gesetzesvorhaben - sehr spät - Einfluss genommen. Auch Vertreter der deutschen Wirtschaft saßen
mit am Tisch.
Ich verstehe manche Kritik, aber ich bitte insbesondere
diejenigen, die sich kritisch äußern, um Verständnis dafür
- ich kenne eine ganze Reihe von Menschen aus der Wirtschaft, die mit großem, ehrlichem inneren Engagement
bei der Sache sind; diejenigen, die gestern beim Kanzler
waren, gehören mit Sicherheit dazu; diese handeln mit
großem Verantwortungsbewusstsein -, dass hier etwas
gemacht werden muss, was auch schon - viel besser - viel
früher hätte gemacht werden können. Hierfür gibt es
Gründe, die wir alle kennen.
Ich weiß, die Würde der Opfer gebietet es, dass Auszahlungen so rasch wie möglich erfolgen. Wir arbeiten an
dieser Sache jetzt seit zwei Jahren. Dies ist unerträglich
lang. Es ist natürlich vor allem für die Opfer nicht zu ertragen, dass es so lange dauert. Ich glaube aber auch, dass
es für viele von uns fast unerträglich ist. Wir haben in den
letzten zwei Jahren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Graf
Lambsdorff - dies ist vielleicht ein kleiner Trost -, sehr
schwierige Situationen gemeistert. Es gab immer wieder
die Situation, dass wir geglaubt haben, jetzt gehe es nicht
mehr weiter. Dies haben wir immer geschafft.
Ich gebe auch zu bedenken, dass viele von uns vor einer Woche bezweifelten, dass es weitergeht, weil das Geld
nicht da war. Wir wissen, wie wichtig dies in dieser Situation ist. Jetzt ist es da und wir haben erneut eine
schwierige Situation gemeistert, einen weiteren Schritt
nach vorn gemacht. Ich bin mir ganz sicher - ich will nicht
von Erfolgen sprechen, das ist in diesem Zusammenhang
unangemessen -, dass wir das Ziel, das wir uns vorgenommen haben, erreichen werden. Ich kann so wenig wie
Graf Lambsdorff einen Zeitpunkt nennen. Das sollten wir
auch unterlassen.
Wir müssen dieses komplizierte Gesetz jetzt bitte so
nehmen, wie es ist. Wir sollten es nicht aufschnüren. Wir
würden Chaos produzieren. Deswegen muss das Gesetz
so bleiben, wie es ist. Ich will keine Schwarze-PeterSpiele betreiben. Das hilft uns überhaupt nicht weiter. Ich
schätze die Situation so ein wie manche meiner Vorredner,
dass jetzt auf amerikanischer Seite eine besondere VerThomas Strobl ({1})
antwortung liegt. Das Geld ist da. Jetzt wird es darauf ankommen, dass die amerikanische Seite, die amerikanischen Gerichte ihren Beitrag leisten. Es wird noch einmal
kompliziert werden, wenn es um Rechtssicherheit geht.
Der Bundestag wird, da bin ich ganz sicher, seiner Verantwortung gerecht werden. Ich bin auch ganz sicher, dass
die Wirtschaft dann, wenn es so weit ist, wissen wird,
worauf es ankommt. Ich gehe davon aus, dass es dann
- das muss man auch vorbereiten - nicht nur um juristische Aspekte der ausreichenden Rechtssicherheit gehen
wird. Das wird auch für die Wirtschaft nicht nur eine juristische Frage sein, sondern es wird eine politischethisch-juristische Frage sein. Die Leute, auf die es ankommt, sind - da bin ich ganz sicher - diejenigen, die gestern beim Kanzler saßen. Sie werden ihrer Verantwortung
gerecht werden.
Wir müssen das Ganze vorantreiben. Der Zeitpunkt
wird kommen, an dem wir es gemeinsam abschließen
können. Ich habe keinen Zweifel: Diese letzte Geduld, so
schmerzlich das auch ist, werden wir aufbringen müssen.
Ich schließe auch nicht aus, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir, Herr Bosbach, Herr Beck, Herr Reuter und
andere, als Abgeordnete noch einmal in die USA reisen,
um dort noch einmal für das zu werben, was jetzt zu tun
ist, ohne irgendjemandem Vorwürfe zu machen.
Ich bin ganz sicher, dass die Reise des Bundeskanzlers
eine wichtige Rolle spielen wird. Deswegen bitte ich darum, dass wir nicht in allerbester Absicht Vorschläge machen, die kontraproduktiv sind, sondern Vernunft behalten
und das Gesetz in seiner Struktur so ernst nehmen, wie wir
es gemeinsam mit vielen, vielen Beteiligten geschaffen
haben. Dann werden wir in den nächsten Wochen und
Monaten die letzte Strecke gemeinsam erfolgreich gehen.
Herzlichen Dank.
({2})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 und den Zusatzpunkt 7 sowie den Tagesordnungspunkt 9 und den Zusatzpunkt 8 auf:
7. Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Qualitätssicherung und zur Stärkung des Verbraucherschutzes in der Pflege ({0})
- Drucksache 14/5395 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 7 Erste Beratung des von der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der Leistungen in der Pflege
({2})
- Drucksache 14/5547 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Heimgesetzes
- Drucksache 14/5399 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Haupt, Dr. Irmgard Schwaetzer, Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Für ein aktives und mitbestimmendes Leben im
Alter
- Drucksache 14/5565 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({5})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zur Einführung hat die
Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt, das
Wort.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir alle
sind uns darüber einig, dass es eine schöne und positive
Entwicklung ist, dass die Menschen älter werden. Wir haben Verständnis dafür, dass alle erwarten, hoffen und sich
wünschen, dass es ihnen im Alter auch dann gut geht,
wenn sie auf Hilfe angewiesen sind. Wir alle haben gemeinsam dafür gesorgt, dass diejenigen, die im Alter auf
Pflege angewiesen sind, auch Angebote erhalten.
Mit der Pflegeversicherung ist in der Vergangenheit ein
fraktionsübergreifender Konsens im Interesse der pflegebedürftigen Menschen gelungen. Heute kann man nach
unseren Erfahrungen sagen, dass dieser Beschluss gut
war. Seit fast sechs Jahren erbringt die Pflegeversicherung
solidarisch finanzierte Leistungen zur Absicherung des
Lebensrisikos „Pflege“. Der neueste Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung weist aus: 1,9 Millionen Menschen nehmen Hilfe in Anspruch. Alle Untersuchungen sowohl bei den Pflegenden als auch bei den zu
Pflegenden zeigen, dass insgesamt die Leistungen der
Pflegeversicherung für die Menschen zufriedenstellend
sind und es positiv bewertet wird, dass es dieses Instrument gibt.
({0})
Der Pflegebericht zeigt auch, dass wir mittlerweile sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich über
ein quantitativ ausreichendes Angebot verfügen. Jetzt geht
es darum, die Qualität der Leistungen in der Pflege zu verbessern. Es geht hier nicht nur darum, Pflegeskandale zu
vermeiden oder offensichtliche Missstände zu verhindern.
Wir haben in diesem Bereich viele gute Einrichtungen und
Angebote. Ich halte dies für eine Selbstverständlichkeit. Es
geht insgesamt um die Sicherstellung höherer Qualitätsstandards. Die Pflegebedürftigen müssen eine Versorgung
erhalten, die ihnen das gibt, was sie brauchen, und die vor
allen Dingen denjenigen, die auf Pflege angewiesen sind,
ein hohes Maß an Sicherheit bietet.
({1})
Mit dem vorliegenden Pflege-Qualitätssicherungsgesetz wollen wir dazu einen Beitrag leisten. Unser Ziel ist
es, die Qualität der Pflege zu verbessern und die Verbraucherrechte zu stärken.
Wir alle wissen, dass Qualität nicht von außen in die
Einrichtungen „hineingeprüft“ werden kann, sondern
dass sie von innen heraus aus der Eigenverantwortung der
Einrichtungsträger und aus der Mitverantwortung der
Leistungsträger entwickelt werden muss. Viele Träger haben dies bereits erkannt. Wir wollen diese Entwicklung
mit dem vorliegenden Gesetzentwurf stärken. Alle müssen dazu ihren Beitrag leisten. Ich bin davon überzeugt,
dass jedes Pflegeheim und jeder Pflegedienst ein umfassendes einrichtungsinternes Qualitätsmanagement einführen kann und muss.
Wir wollen die Träger darüber hinaus verpflichten, in
regelmäßigen Abständen die Qualität ihrer Leistungen durch unabhängige Sachverständige und Prüfstellen
nachzuweisen. Ich glaube, das ist richtig.
({2})
Parallel zu diesem internen Qualitätsmanagement bleiben
die externe Qualitätssicherung durch die Landesverbände
der Pflegekassen und die staatlichen Kontrollen durch die
Heimaufsichtsbehörden bestehen. Ich halte es - egal, was
an Kritik geäußert wird - für eine Selbstverständlichkeit,
dass sich externe Prüfungen nicht nur auf angemeldete
Besuche beschränken dürfen, sondern dass zur Qualitätssicherung auch unangemeldete Prüfungen gehören.
({3})
Ich sage immer: Wer eine hohe Qualität anbietet, braucht
eine unangemeldete Überprüfung nicht zu fürchten.
({4})
Ich bin mir darüber im Klaren, dass zu diesem Punkt
viel Kritik geäußert wird. Die einen loben dieses Vorhaben, die anderen kritisieren es. Ich sage aber deutlich:
Jede Einrichtung kann nach meiner Auffassung auf Dauer
nur durch Qualität bestehen. Eine Qualitätssicherung ist
im Interesse der pflegebedürftigen Menschen, weil diese
oft - sowohl im ambulanten wie auch im stationären Bereich - in einer Situation sind, in der sie ihre eigenen Interessen nicht mehr artikulieren können. Deshalb brauchen sie unseren Schutz, den besonderen Schutz des
Staates. Daher glaube ich, dass wir alle gefordert sind, im
Deutschen Bundestag mit dafür zu sorgen, eine solche
Qualitätssicherung zu gewährleisten.
({5})
Ich glaube, es darf nicht sein, dass wir einerseits bei der
Bekämpfung von BSE ein lückenloses staatliches Kontrollsystem fordern und uns andererseits darüber unterhalten, ob eine staatliche Fürsorgepflicht für gebrechliche
und ältere Menschen an den Türen der Pflegeheime enden
soll. Nein, der umgekehrte Weg ist hier einzuschlagen:
Wir brauchen eine staatliche Kontrolle, damit die Menschen sicher sein können, die beste Qualität zu erhalten.
({6})
Der nächste wichtige Punkt: Gut geführte Pflegeeinrichtungen zeichnen sich auch durch eine ausreichende
Personalausstattung aus und deshalb wollen wir mit diesem Gesetz ebenfalls den personellen Aufwand besser
berücksichtigen. Dabei geht es nicht nur um Verhandlungen über Geld, sondern es geht um Verhandlungen über
angebotene Leistungen. Wir wollen mit neuen Instrumenten dafür sorgen, dass Leistungs- und Qualitätsmerkmale
in den einzelnen Pflegeeinrichtungen beschrieben werden
können. Der maßgerechte Zuschnitt der Leistungs- und
Qualitätsvereinbarung auf die Bewohnerschaft eines Pflegeheims kommt langfristig insbesondere den demenzkranken Heimbewohnern zugute, weil deren Bedarf an
sozialer Betreuung künftig in den Vereinbarungen gebührend berücksichtigt werden soll.
({7})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Ilja
Seifert?
Nein, wir sind ohnehin schon stark in Verzug und ich
möchte - auch im Interesse der anderen Kollegen - weiterreden.
Wir wollen im stationären Bereich die Zusammenarbeit zwischen den Medizinischen Diensten der Krankenversicherung und der staatlichen Heimaufsicht verbessern. Beide Aufsichtsinstitutionen sollen die Überwachung durch gegenseitige Information und Beratung,
durch Terminabsprachen für eine gemeinsame oder arbeitsteilige Überprüfung von Heimen sowie eine Verständigung darüber, was im Einzelfall an Maßnahmen notwendig ist, wirksam aufeinander abstimmen. Dabei geht
es - in diesem Punkt sehen wir auch das Interesse der Einrichtungsträger - insbesondere darum, Doppelprüfungen
nach Möglichkeit zu vermeiden. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist: Der vorliegende Gesetzentwurf
berührt auch den Verbraucherschutz.Wir wollen die
Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen vor allem durch
verstärkte Beratung und Information in die Lage versetzen,
ihre Rechte wahrzunehmen. Ich möchte zwei Beispiele
nennen, die zeigen, worauf unser Gesetzentwurf abzielt. In
Zukunft muss ein schriftlicher Pflegevertrag auch bei der
häuslichen Pflege abgeschlossen werden. Wenn Pflegeeinrichtungen Leistungen, die sie versprochen haben, nicht in
der vereinbarten Qualität erbringen, sind sie zur Rückzahlung verpflichtet. Das stärkt die Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher in diesem Bereich.
({0})
Ich bin mir darüber im Klaren, dass viele eine Leistungsausweitung von den von uns vorgelegten Gesetzentwürfen erwarten, vor allen Dingen im ambulanten und
häuslichen Bereich. Uns liegen ganz besonders diejenigen
Menschen am Herzen, die im familiären Bereich Demenzkranke betreuen. Deshalb werden wir in Kürze einen
Gesetzentwurf einbringen, mit dem die in diesem Bereich
bestehenden Defizite abgebaut werden sollen
({1})
und der im Gegensatz zu dem, was die Kollegen von der
Unionsfraktion heute vorgelegt haben, im Rahmen der
Pflegeversicherung finanzierbar ist;
({2})
denn aus populistischen Gründen kann man vieles fordern. Aber entscheidend ist, dass es finanzierbar ist. Wenn
Sie die Kosten von der Pflegeversicherung in die Krankenversicherung verschieben wollen, dann müssen Sie
den Menschen auch sagen, dass die Zuzahlungen bei Medikamenten für chronisch Kranke sowie bei Heimaufenthalten und Kuren erhöht werden müssen, damit Ihre Wünsche erfüllt werden können.
Danke schön.
({3})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zöller? - Offenbar nicht. Sie hatte ja bereits gesagt, dass sie aus Zeitgründen keine Zwischenfrage zulässt.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Ulf Fink für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich möchte nicht an das
Ende, sondern an den Beginn der Rede der Ministerin anknüpfen. Ich halte es für einen guten Stil, dass die Ministerin zu Beginn ihrer Rede die Leistungen ihres Vorgängers gelobt und deutlich gemacht hat: Es war wirklich
eine überzeugende politische Leistung, die Norbert Blüm
erbracht hat, als er die Pflegeversicherung eingeführt hat.
({0})
Wir debattieren heute in erster Lesung den Entwurf eines Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes und eines Dritten
Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes der Bundesregierung sowie den Entwurf eines Pflege-Leistungs-Verbesserungsgesetzes, den meine Fraktion eingebracht hat. Wir
könnten uns, glaube ich, über eine ganze Reihe von Fragen
einigen. Auch wir wollen, dass alles getan wird, damit kranken, alten und pflegebedürftigen Menschen geholfen wird,
und dass nichts geschieht, was ihnen Unrecht tut. Die Frage
ist nur: Wie macht man das am besten? Sollte man das so
machen, dass man eine Fülle von ordnungsrechtlichen Instrumentarien einführt, oder sollte man sich nicht lieber
darum kümmern - ist das nicht die eigentliche Aufgabe
der Politik? -, dass die Bedingungen, unter denen gepflegt
wird, verbessert werden? Anhand dieser Fragen erfolgt
die entscheidende Weichenstellung.
Ich glaube, dass der wirkliche Unterschied zwischen
der Politik der Bundesregierung und unserer Auffassung
in Folgendem besteht: Wir sind der Meinung, dass die
Pflegequalität nur dann wirkungsvoll verbessert werden
kann, wenn man die Bedingungen für die Pflegeberufe in
den Heimen deutlich verbessert.
({1})
Unsere Auffassung ist, dass nicht so sehr bürokratische
Kontrollen, sondern eine bessere finanzielle Ausstattung
die Qualität der Pflegeleistung sichert. Mit ihrem Gesetzentwurf zäumt die Bundesregierung das Pferd vom
Schwanz her auf, weil dort lediglich neue Kontrollmechanismen und nicht die Verbesserung der Voraussetzungen vorgesehen sind, unter denen in den Heimen - wie wir
finden: zum Teil aufopfernd - gepflegt wird. Qualität
muss man schaffen. Qualität kann man in Pflegeeinrichtungen nicht „hineinkontrollieren“.
Wo liegen denn die Probleme? Sie liegen darin, dass
die Leistungen der Pflegeversicherung besonders in den
Pflegestufen II und III, also für die Schwerstpflegebedürftigen, einfach nicht mehr ausreichen, um die Kosten
zu decken, die bei der Betreuung dieser Menschen entstehen, zumal mit den Pflegesätzen auch noch die Kosten
der medizinischen Behandlungspflege gedeckt werden
müssen.
Wir schlagen vor, dass die Pflegeversicherung künftig
diese Kosten nicht mehr bezahlen muss. Damit würden
1,5 Milliarden DM frei, die unserer Auffassung nach zur
Einstellung von etwa 20 000 neuen Pflegekräften genutzt
werden sollten. Für diesen Vorschlag spricht, dass die
Krankenkasse schon heute die Kosten für die medizinische Behandlungspflege bezahlt, allerdings nur, wenn der
Pflegebedürftige ambulant versorgt wird. Unser Vorschlag bedeutet also, dass das, was für ambulant Pflegebedürftige gilt, nun auch auf stationär Pflegebedürftige
ausgedehnt wird.
({2})
Ich meine, es ist ja auch überhaupt nicht einsichtig, dass die
Krankenkasse zahlt, und zwar klaglos, solange der Pflegebedürftige zu Hause ist. In dem Moment, da nichts anderes
geschieht, als dass er von seiner häuslichen Umgebung in
das Heim wechselt, zahlt die Krankenkasse nicht mehr. Das
macht einfach keinen Sinn. Da ist es doch besser, den Vorschlag zu verwirklichen, den wir hiermit unterbreiten.
Durch unseren Vorschlag wird ein echter Beitrag zur
Verbesserung der Pflegequalität geleistet, jedenfalls ein
viel besserer Beitrag, als wenn man nichts tun würde und
lediglich die vorhandenen, zum Teil überlasteten Pflegekräfte dazu veranlasst, Prüfpapiere, Statistiken, Berichte usw. noch zusätzlich zu fertigen. Pflegekräfte sollen die Kranken pflegen und nicht die Bürokratie.
({3})
Es könnte sonst der bittere Spruch Wahrheit werden, dass
die Pflegekräfte künftig die Aufgabe haben, eine drittklassige Pflege erstklassig zu beschreiben.
({4})
Zu leicht kann es dann passieren, dass die Pflegekräfte in
eine Art Generalverdacht kommen, ihre Arbeit nicht ordentlich zu erledigen, und das haben sie nicht verdient.
Wir haben einen zweiten wichtigen Punkt. Wir müssen,
um die Verbesserung der Pflegequalität wirklich sicherstellen zu können, günstigere Bedingungen schaffen, um
den altersverwirrten, den dementen Menschen besser als
bisher zu helfen. Das hat ja die Regierungskoalition in ihrer Regierungsvereinbarung aus dem Jahr 1998 festgelegt, und sie hat angekündigt, dieses in die Tat umzusetzen. Geschehen ist allerdings bisher nichts. Das Einzige,
was bisher geschehen ist, ist, dass Gesetzentwürfe im
Bundesrat, die genau dieses Ziel zum Inhalt hatten, ohne
Alternative abgelehnt worden sind. Dasselbe ist auch unseren Anträgen bisher im Deutschen Bundestag passiert.
Wir haben Anträge zu diesem Komplex eingebracht; aber
sie sind abgelehnt worden. Schon Ihre Vorgängerin, Frau
Schmidt, hat - ich glaube, es war im Sommer letzten Jahres - Eckpunkte verkündet, die der Verbesserung der Versorgung Demenzkranker dienen sollten.
({5})
Man hat damals auch gehört, dass bald ein Referentenentwurf erarbeitet werde. Bis zur Stunde liegt dieser Referentenentwurf nicht vor.
({6})
Sie versprechen nun, dass Sie diesen Gesetzentwurf einbringen. Wir hoffen sehr, dass diesmal den Worten auch
Taten folgen. Ich wünsche Ihnen das Allerbeste, dass das
auch wirklich geschieht.
Denn die tägliche Körperpflege ist bei vielen in den
Heimen gar nicht einmal das entscheidende Problem.
Diese Aufgabe können die Pflegekräfte unter den gegebenen Umständen oft noch gut erfüllen. Das Problem besteht doch darin, dass Demenzkranke rund um die Uhr betreut und beaufsichtigt werden müssen. Es ist diese
tägliche Rundumbetreuung, die den Pflegekräften eine
gewaltige Kraftanstrengung und viel persönliches Engagement abverlangt. Nun ist im Rahmen der Pflegeversicherung bisher genau dafür nichts vorgesehen. Viele
Mängel, die in den Heimen vorkommen, sind darauf
zurückzuführen, dass überhaupt keine finanziellen Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass die Pflegekräfte
sich wirklich um die Demenzkranken kümmern können.
Ich denke, dass es wichtig wäre, unserem Ansatz zu
folgen, um eine bessere Pflegequalität für die Altersverwirrten zu erreichen, einen zusätzlichen Betreuungsbedarf für Demente anzuerkennen. Wir schlagen 30 Minuten vor.
({7})
Damit würden etwa 50 000 Pflegebedürftige, die bisher
keinerlei Leistung bekommen, in den Genuss von Leistung kommen. Das ist viel mehr, als man denkt; denn man
würde damit ein Drittel der Voraussetzungen erfüllen, die
für die Einstufung in Pflegestufe I Voraussetzung sind.
Ich glaube, dass die 1 Milliarde DM, die dieser Vorschlag erfordert, sinnvoll aufgebracht werden kann. Auch
die Bundesregierung sagt, dass 500 Millionen DM vertretbar seien. Wenn diese 500 Millionen DM zusammenkämen, dann fehlten noch gut 400 Millionen DM bis
500 Millionen DM.
({8})
- In Bezug auf die Demenzkranken liegt der Vorschlag bei
insgesamt 1 Milliarde DM. Auch Sie sagen, dass 500 Millionen DM gehen. Wenn diese 500 Millionen DM zusammenkämen, dann fehlten 400 Millionen DM bis 500 Millionen DM.
Frau Bundesministerin, ich mache Ihnen dazu einen
Vorschlag: Setzen Sie sich gemeinsam mit Frau
Schmidt-Zadel - auch sie ist dafür -, der sozialpolitischen
Sprecherin der SPD-Fraktion,
({9})
dafür ein, dass das Unrecht, das die Bundesregierung den
Pflegeversicherten und der Pflegeversicherung angetan
hat, rückgängig gemacht wird. Herr Eichel hat der Pflegeversicherung dadurch jährlich 400 Millionen DM entzogen, dass er die Beiträge für Arbeitslosenhilfeempfänger willkürlich gesenkt hat. Das muss rückgängig
gemacht werden.
({10})
Wenn das geschieht, dann haben Sie das Geld, das notwendig ist, um den Dementen wirklich zu helfen.
Frau Bundesministerin, ich selbst war einmal Minister
in einer Landesregierung. Ich weiß noch, wie es war, mit
dem Finanzsenator zu kämpfen. Ich gebe zu: So etwas ist
nicht so einfach, sondern schwer. Auch Herr Eichel ist
eine harte Nuss; das räume ich ein. Nur, es hilft nichts.
Wenn man für die Altersverwirrten wirklich etwas tun
will, dann muss man sich an der entsprechenden Stelle
einsetzen und durchsetzen. Mit dem Betrag, über den Sie
jetzt verfügen, können Sie nur etwas für die Ambulanzdementen und gar nichts für die Altersverwirrten in den
Heimen tun. Das bedeutet, dass eine ganz große Lücke
klafft, die heute zum Teil zu erheblichen Schwierigkeiten
in den Heimen führt.
Wir werden den Gesetzentwürfen unsere Zustimmung
dann verweigern, wenn es zu keiner Leistungsverbesserung kommt. Wenn es zu einer Leistungsverbesserung
kommt, dann kann man mit uns reden.
({11})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Katrin
Göring-Eckardt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Mit der Einführung der Pflegeversicherung 1995
wurde - ich glaube, das muss man so sagen - durch eine
gemeinsame Anstrengung die letzte Lücke in der sozialen
Versorgung gegen Lebensrisiken geschlossen. Rund
60 Millionen Menschen haben inzwischen Ansprüche aus
der Pflegeversicherung. Mit ihren Leistungen erreicht die
Pflegeversicherung insgesamt 1,9 Millionen Pflegebedürftige. Wenn wir uns hier diese Zahlen vergegenwärtigen, dann wissen wir, dass wir über einen sehr wichtigen
Bereich reden, auch wenn diese Debatte zu abendlicher
Stunde geführt wird.
Es ist ein Erfolg der Pflegeversicherung, dass die überwiegende Zahl der Pflegebedürftigen nicht mehr von der
Sozialhilfe abhängig ist. Auch den Menschen, die im Pflegebereich arbeiten, gebührt - in dieser Hinsicht kann ich
mich der Ministerin nur anschließen - Anerkennung und
Dank für eine engagierte und nicht zuletzt oft auch zu gering entlohnte Tätigkeit. Ein weiteres großes Verdienst ist
es, dass es zum ersten Mal gelungen ist, eine soziale
Absicherung der Pflegepersonen einzuführen und die Pflegetätigkeit wie eine Erwerbstätigkeit sozial abzusichern.
Derzeit profitieren davon 600 000 Personen. 90 Prozent
davon sind Frauen. Auch das ist ein großer Erfolg für Angehörige, für Freundinnen und Freunde und für Nachbarn.
Obwohl die Pflegeversicherung bewusst als Teilabsicherung konzipiert wurde, gibt es gravierende Lücken in
der vorgesehenen Versorgung. Das betrifft vor allen Dingen die Qualität. Deswegen debattieren wir heute unter
anderem über die Versorgung in der ambulanten wie in der
stationären Pflege. Berichte über Mängel in der Pflege
häufen sich. Wir kennen sie aus eigener Anschauung, aus
dem Wahlkreis, aus Besuchen in Pflegeheimen oder aus
dramatischen Fernsehberichten, die oft entwürdigende
Zustände in Pflegeheimen beschreiben. Wir haben einen
dringenden Handlungsbedarf. Der vorliegende Gesetzentwurf deckt sich mit den Zielen, die wir in der
Gesundheitspolitik seit der Regierungsübernahme insgesamt formuliert haben, nämlich mehr Qualität, mehr Eigenverantwortung und mehr Patientenrechte.
({0})
Dieses Gesetz ist ein weiterer Schritt dahin, Qualität,
Wirtschaftlichkeit und Eigenverantwortung zu verbinden
und als Parameter fest zu verankern.
Was bedeutet denn Qualität? Es geht um eine gute und
angemessene Versorgung, um eine Versorgung, die
Würde und Selbstbestimmung gewährleistet. Menschen,
die der Pflege bedürfen, sind nicht Objekt einer Maschinerie oder einer falsch verstandenen Fürsorge. Die Personalpolitik darf Pflegepersonal nicht als Verschiebemasse
gebrauchen, sodass es hier zu chronischen Unterbesetzungen kommt. Insbesondere muss Fehlmanagement vorgebeugt werden.
({1})
Fehlende Qualitätsvereinbarungen dürfen nicht mehr auf
dem Rücken dieser beiden Gruppen ausgetragen werden.
Natürlich sollten auch die Träger selbst ein Interesse an
hoher Qualität haben.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es geht um die
Stärkung der Eigenverantwortung der Pflegeselbstverwaltung. Qualitätssicherung kann man nämlich nicht
- das wollen wir auch nicht - gegen Pflegepersonal und
Selbstverwaltung durchsetzen. Es geht um die Sicherung,
Weiterentwicklung und nicht zuletzt auch um die Prüfung
von Pflegequalität. Schließlich geht es um bessere Zusammenarbeit von staatlicher Heimaufsicht und von
Selbstverwaltung. Die Tatsache, dass Trägervereinigungen selbst Vorschläge vorgelegt haben, wie Qualitätssicherung angegangen werden kann, gibt unserem Vorhaben Recht. Hier wird deutlich, dass sie die Verantwortung
zur Sicherung von Qualität nicht mehr Heimaufsichtsbehörden oder Trägereinrichtungen überlassen, sondern
die Sicherung der Qualität in der Pflege eigenverantwortlich gestalten wollen. Beispielsweise verpflichten sich
Pflegeeinrichtungen zum Qualitätsmanagement und zur
Vorlage von regelmäßigen Leistungs- und Qualitätsnachweisen. Außerdem sollen unabhängige Sachverständige
eingebunden werden. Was heißt das? Die Arbeit von Pflegeeinrichtungen, die ja überwiegend - das sollte man bei
aller Kritik und angesichts öffentlicher Berichte nicht vergessen - schon heute von guter Qualität ist, wird transparenter. Dann entscheiden sich eben Pflegebedürftige und
ihre Angehörigen nicht mehr zufällig für die eine oder andere Einrichtung, sondern für diejenige, die für die betroffene Person tatsächlich die beste und sinnvollste Alternative darstellt. Das wollen wir erreichen.
Wenn wir genau hinsehen, dann stellen wir fest, Herr
Fink, dass das System nicht in erster Linie mehr Geld
braucht. Damit macht man es sich auf gewisse Weise einfach. Wir brauchen zunächst einmal eine verbesserte interne Steuerung, um die vorhandenen Ressourcen effizient
einzusetzen. Dies beinhaltet nicht nur abstraktes Management oder die Effizienzsteigerung von Abläufen, sondern
auch Eigenverantwortung für Qualität und Mittun von
Pflegebedürftigen. Die Tatsache, dass die Pflegeeinrichtungen hier selbst mitmachen wollen, gibt unserem Vorhaben,
wie ich glaube, Recht. Der ernst genommene, informierte
und eigenständige Patient ist dafür die Voraussetzung. Deswegen ist es so wichtig, dass Patientinnen und Patienten sowie Pflegebedürftige in kritischer Weise mitbestimmen
können. Versicherte sollen verbesserte Möglichkeiten erhalten, sich generell über medizinische Leistungsangebote,
Pflegeangebote und deren Qualität zu informieren. Deshalb
muss endlich die unabhängige Patientenberatung in
Deutschland in Gang kommen.
({2})
Wir können nicht über Verbraucherschutz reden, wo
die Kuh längst in den Brunnen gefallen ist,
({3})
und riskieren, dass wir an anderer Stelle blind handeln. Ich
fordere die Selbstverwaltung mit Nachdruck auf, hier endlich ihre Scheu und an mancher Stelle vielleicht auch ihre
Überheblichkeit zu überwinden. Beste Information aller
Seiten ist auch die beste Grundlage für hohe Qualität. Das
heißt konkret: Trotz ihrer Abhängigkeit von fremder Hilfe
müssen Pflegebedürftige ein möglichst selbstbestimmtes
Leben führen können, sich in den Institutionen zurechtfinden können sowie wissen und auch aufgefordert werden zu
sagen, was gut für sie ist und was sie auf gar keinen Fall
wollen. Deshalb sollten pflegebedürftige Menschen und
ihre Angehörigen eine Beratung erhalten, die sie in die
Lage versetzt, ihre Rechte besser wahrzunehmen.
Allerdings hat sich auch gezeigt,
({4})
dass weiterhin ein externes und effizientes Kontrollinstrument notwendig ist mit, wie die Ministerin ausgeführt hat, Prüf- und Zutrittsrechten. Die Einrichtungen, in
denen die Pflegebedürftigen nicht mit der notwendigen
Sorgfalt gepflegt werden, müssen auch finanzielle Konsequenzen tragen und zur Rechenschaft gezogen werden.
Nur mit einer solchen Konsequenz ist es möglich, tatsächlich dafür zu sorgen, dass Qualitätsstandards eingehalten
werden. Es geht um die Stärkung der Rechte der Verbraucherinnen und Verbraucher und der Pflegebedürftigen. Es
geht um die Würde und um die Sicherstellung höchster
Qualitätsstandards, die die Pflegebedürftigen brauchen.
Dieses Gesetz ist notwendig. Es ist ein erster Schritt;
weitere werden folgen. Es würde sehr viel Sinn für die
Pflegebedürftigen und deren Angehörige in diesem Land
machen, diesen ersten Schritt gemeinsam zu gehen.
Vielen Dank.
({5})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Niemand kann dem Inhalt des Gesetzentwurfes widersprechen. Es ist nämlich dringend erforderlich, dass wir eine Qualitätsdiskussion führen. Missstände in Pflegeheimen müssen, wo immer sie auftreten,
mit Nachdruck beseitigt werden. Ein Blick auf die Arbeit
der unabhängigen Beschwerdestellen und Krisentelefone
zur Hilfe und Beratung bei Konflikten und Gewalt in der
Pflege älterer Menschen liefert oft erschütternde Beweise
für solche Missstände.
Richtig ist weiterhin, Frau Ministerin, dass Qualität
nicht von außen in die unterschiedlichen Einrichtungen
„hineinkontrolliert“ werden kann. Es gilt aber auch: Qualität kann nicht „hineinreguliert“ werden.
({0})
Die Bundesregierung fordert mit ihren Vorstellungen
einen hohen Preis: Dieses Gesetz kostet die Pflegebedürftigen immerhin 40 Millionen DM jährlich, verursacht in
der Hauptsache durch Bürokratie. Kollege Fink hat schon
darauf hingewiesen.
({1})
Der Chefarzt des gerontopsychiatrischen Zentrums der
Rheinischen Kliniken Bonn und Leiter der Initiative
„Handeln statt Misshandeln“ sagt dazu:
Es gibt jetzt schon gute Gesetze, die in keiner Weise
angewendet oder eingeklagt werden.
Es ist bedauerlich, dass die Bundesregierung nicht
zunächst an einer besseren Umsetzung der bestehenden
Gesetze gearbeitet hat.
({2})
Jetzt müssen wir uns also mit einer Vielzahl neuer Bestimmungen auseinander setzen. Frau Ministerin, Sie
müssen sich wieder die Fragen nach den Umsetzungsmöglichkeiten in der Praxis stellen lassen: Wird die
Heimaufsicht wirklich einmal jährlich jedes Pflegeheim
unter die Lupe nehmen können? Wiegen Sie die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen nicht in einer falschen
Qualitätssicherheit, wenn Sie nach einer Zertifizierung,
diesem Gütesiegel der Pflege, den Überprüfungszeitraum
auf zwei Jahre automatisch verlängern? Was bedeutet
ganz konkret Ihre Forderung nach „aktivierender Pflege“?
Wie steht es mit der Eindämmung des Arzneimittelmissbrauchs - Stichwort: Ruhigstellen statt Sichkümmern aus? Hinzu kommt die entscheidende Frage: Billigen Sie
den Pflegerinnen und Pflegern zukünftig genügend Zeit
für die geforderten Leistungen zu oder bleibt es bei dem
Grundsatz des „Ratzfatz“, also sauber, satt und kein Stück
mehr?
Ich stimme der Feststellung des Verbandes der Krankenhausdirektoren Deutschlands zu - ich zitiere -:
Sollte das Bundesministerium für Gesundheit davon
ausgehen, dass die Umsetzung dieses Gesetzesvorhabens im Rahmen der bisherigen Vergütungssätze
erfolgen soll, wird dies die Pflegequalität negativ beeinflussen, da diese nicht unabhängig von der verfügbaren Pflegezeit erreicht werden kann.
Wichtig ist und bleibt mehr Transparenz im System.
Frau Ministerin, mir ist schon sehr unwohl geworden, als
Sie von einer lückenlosen staatlichen Kontrolle gesprochen und einen Vergleich zum BSE-Problem gezogen haben. Ich glaube, mit diesem Vergleich lagen Sie ein bisschen daneben.
({3})
Ich könnte mir vorstellen, dass als dritte Säule neben den
offiziellen Einrichtungen, also Medizinischer Dienst der
Krankenkassen einerseits und der Heimaufsicht andererseits, eine unabhängige Stelle nach dem Muster „Pflege in
Not - Krisentelefone und Beschwerdestellen“, von denen
es bereits 14 in Deutschland gibt, für mehr Transparenz
sorgt.
Wir haben am Mittwoch im Gesundheitsausschuss einer Anhörung zu diesem wichtigen Themenbereich zugestimmt. Sie ist dringend notwendig; denn die gute Absicht
dieses Gesetzentwurfs allein reicht nicht aus. Es bedarf
weiterer Überlegungen, an denen sich die F.D.P. gern konstruktiv beteiligen wird.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, Sie benennen das Ziel so präzise, zeichnen aber den Weg dorthin so
mangelhaft auf, dass man eigentlich nicht darüber reden
sollte. Wenn wir in der Pflege wirklich über Qualität reden wollen, dann müssen wir erst einmal den Pflegebegriff ändern; denn man kann sich dann nicht ausschließlich auf den somatischen Pflegebegriff beziehen.
Insofern, Herr Fink, können Sie Ihr Lob für Herrn
Blüm ein kleines bisschen herunterschrauben. - Es freut
mich, dass Sie nicken; ich hoffe, dass das ins Protokoll
kommt.
({0})
- Deswegen sage ich es ja.
({1})
Wenn Sie von Qualität in der Pflege sprechen, die wir
erreichen wollen, dann sagen Sie doch einmal, welche
Qualität Sie überhaupt meinen. Es kann doch nur um die
Lebensqualität von Menschen gehen, die fremde Hilfe
brauchen, und nicht um die Qualität des Aufschreibens
von irgendwelchen Verrichtungen, die man angeblich getan hat.
({2})
Aber darauf läuft es hinaus.
Wir brauchen nicht so zu tun, als ob es etwas anderes
wäre. Die einzige Möglichkeit, den Menschen in Einrichtungen und auch zu Hause zu helfen, ist, über größere
Zeiträume mehr Personal zur Verfügung zu stellen. Das
ist nicht zum Nulltarif zu haben.
({3})
Die Pflegeversicherung ist aber so angelegt, dass die zur
Verfügung stehenden Mittel nicht einmal gleich bleiben,
sondern immer weniger werden, weil auch die Inflationsrate usw. eine Rolle spielt, es aber nicht mehr Geld gibt.
Frau Ministerin, Sie sagen hier, dass die Situation besser werden soll. Sie kann aber gar nicht besser werden,
wenn nicht mehr Leute in die Arbeit einbezogen werden.
Insofern müssen Sie, wenn Sie wirklich eine Verbesserung der Situation wollen, in das Gesetz bindend hineinschreiben, wie viele Leute pro Tag und pro Stunde in den
Heimen anwesend sein müssen, und damit dafür sorgen,
dass die Heime nicht selbst entscheiden können, was sie
unter Pflegequalität verstehen.
Das ist der Punkt, um den es geht. Ich hätte hier noch
viele andere Punkte, die ich gerne aufzählen würde, aber
das ist der entscheidende Punkt: Ohne mehr Personal geht
es nicht. Mehr Personal kostet Geld und wer das nicht
ausgeben will, braucht nicht von Qualität in der Pflege zu
reden.
({4})
Auch die Diakonie sagt: Das Gesetz läuft nur auf mehr
Bürokratie hinaus.
Wenn das, was Sie hier vorhaben, am Ende nur dazu
führt, dass die Menschen, die die Hilfe brauchen, mehr bezahlen müssen - und so wird es sein -, dann können Sie
damit rechnen: Wir, die PDS, werden einem solchen Gesetz, das der Öffentlichkeit die Situation verschleiert,
nicht zustimmen können. Wir fordern: Nennen Sie die
wirkliche Situation in der Pflege beim Namen. Sagen Sie
nicht, die meisten seien gut und artig und es gebe nur einige schwarze Schafe. Es gibt zu viel unglaubliches Elend
in diesem Bereich, das Sie benennen müssen. Wenn Sie
die Situation ändern wollen, dann müssen Sie mehr Leute
einstellen, die arbeiten können, die helfen können, die mit
den Menschen, die Hilfe brauchen, reden können und die
sich um sie kümmern können. Kultur der Pflege ist etwas anderes als Verwaltung und Bürokratie.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,
Dr. Christine Bergmann.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete,
speziell Herr Abgeordneter Seifert! Was wir heute hier
vorlegen, geht davon aus, dass wir wollen, dass der Reformstau, den wir im Bereich der Altenpflege haben, abgebaut wird.
({0})
Da haben wir uns auf den Weg gemacht. Wir haben das
bereits - da wende ich mich an Sie, Herr Fink - mit der
bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung getan. Denn
wenn wir die Bedingungen - auch in der Pflege, Herr
Seifert - verbessern wollen, brauchen wir natürlich auch
gute Fachkräfte. Wir brauchen Menschen, die motiviert
sind, diesen Beruf zu ergreifen, und dafür müssen sie eine
Chance bekommen. Das ist eine Voraussetzung, die wir
zunächst einmal geschaffen haben.
({1})
Natürlich haben wir Missstände in der Pflege. Deswegen machen wir diese Gesetze und sprechen darüber, wie
wir diese Missstände abbauen können. Diese Missstände
haben nicht immer etwas mit der personellen Ausstattung
in den Heimen zu tun.
({2})
- Das ist auch ein Thema. Aber in den meisten Heimen
wird sehr verantwortungsvoll gepflegt; das wurde heute
schon angesprochen. All diese guten Heime leiden darunter, dass wir den einen oder anderen Missstand haben. Das
wollen wir ändern.
({3})
Da geht es uns schon um Qualität, die sich allerdings
nicht mit einer bestimmten Zahl von Beschäftigten automatisch verbessern lässt. Wir müssen uns vielmehr überlegen, was in den Heimen passiert, warum es in dem einen gut und in dem anderen schlecht funktioniert und ob
wir unserer Kontrollaufgabe gerecht werden. Sie können
so viele Mitarbeiter in ein Heim geben, wie Sie nur wollen; wenn kein ordentliches Qualitätsmanagement vorhanden ist und wenn nicht eine gewisse Sicherheit gegeben ist, dass von außen kontrolliert wird, dann kann man
immer erst handeln, wenn der Staatsanwalt auf den Plan
gerufen wurde. Das wollen wir nun wirklich vermeiden.
({4})
Deswegen ist es so wichtig, dass wir mit diesen beiden
Gesetzen die Möglichkeiten verbessern, die wir in diesem
Bereich haben.
In diesem Zusammenhang kann ich es nicht mehr
hören, dass immer nur über Bürokratie geredet wird. Herr
Fink, Sie wissen es doch besser. Das, was im Heimgesetz
gefordert wird, ist genau das, was ein ordentlich arbeitendes Heim jetzt schon erfüllt, zum Beispiel die Arzneimitteldokumentation.
({5})
- Ja, es gibt in dem einen oder anderen Bereich Zusätzliches. Das ist auch begründet. Aber Sie können nicht so
tun, als bauten wir mit dem Gesetz nur Bürokratie auf. Wir
wollen - das gilt vor allem für das Heimgesetz - mehr Beratung in die Heime hineinbringen. Das Heimgesetz ist
nicht nur ein ordnungspolitisches Gesetz, das kontrolliert.
Es will auch für mehr Beratung, und zwar für mehr Einzelfallberatung sorgen und hier das erreichen, was unter
den jeweiligen Bedingungen möglich ist. Wir wollen
nämlich, dass die Achtung der Menschenwürde nicht vor
dem Heim Halt macht. Wir wollen, dass Menschen im Alter ordentlich gepflegt werden und das Recht haben, bis
zum letzten Tag ein menschenwürdiges Leben zu führen.
({6})
Das ist unser Ziel, über das wir uns, wie ich glaube, auch
verständigen können. Deswegen hoffe ich auch, dass wir
das einigermaßen im Konsens hinbekommen können.
Was verändern wir im Heimgesetz? Zum einen verbessern wir die Rechtsstellung der Heimbewohnerinnen
und Heimbewohner. Ein ganz wichtiger Punkt ist dabei,
dass wir mehr Transparenz haben. Im Moment wird überall über mangelnde Transparenz der Heimverträge, über
mangelnde Nachvollziehbarkeit von Entgelterhöhungen
und über rückwirkende Entgelterhöhungen geklagt.
({7})
- Sie nicken. So etwas hören Sie bestimmt auch in Ihren
Wahlkreisen und Ihrem persönlichen Umfeld immer wieder. Deswegen wird jetzt im Heimgesetz geregelt, dass im
Heimvertrag die Leistungen gesondert beschrieben und
die Entgelte angegeben werden. Das betrifft Unterkunft,
Verpflegung und alle möglichen sonstigen Leistungen.
Das heißt, die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner
sowie die Angehörigen können Leistungen verschiedener
Heime miteinander vergleichen und können erkennen,
wofür sie etwas bezahlen müssen. Natürlich können sie
die Leistungen, für die sie bezahlen, auch einfordern. Das
ist im Interesse der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner.
({8})
Diese Entgelte müssen auch nach einheitlichen Grundsätzen bemessen werden. Das bedeutet, dass eine Differenzierung nach Kostenträgern unzulässig ist. Es war
dringend erforderlich, im Gesetz zu regeln, dass Selbstzahler keine anderen Preise bezahlen als diejenigen, die
andere Kostenträger haben. Rückwirkende Erhöhungen
sind nicht mehr zulässig, was dazu führt, dass sich Heimbewohnerinnen und Heimbewohner auf Entgelterhöhungen einstellen können. Durch Begründungszwang wird
die Entgelterhöhung nachvollziehbar. Wir bringen also
endlich all das in die Heime hinein, was in anderen Bereichen der Gesellschaft selbstverständlich ist. Ich glaube,
dies sollte von allen Seiten unterstützt werden.
Wir entwickeln die Heimmitwirkung weiter. Auch
dies ist ein wichtiger Grund, weshalb wir das Heimgesetz
novellieren und das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz
einführen. Die Situation hat sich verändert. Wir haben vor
kurzem hier den Dritten Altenbericht diskutiert und wissen, dass die meisten Menschen, die in Heime gehen, über
80 Jahre alt sind. Viele von ihnen leiden an psychischen
Störungen oder sind dement; sie können also gar nicht
mehr in einem Heimbeirat mitarbeiten. Deswegen erweitern wir jetzt die Regelung und legen fest, dass Angehörige und auch Menschen aus Seniorenverbänden in
den Heimbeiräten mitarbeiten können. Wir stärken hier
die Mitwirkungsrechte. Der Heimträger soll den Heimbeirat künftig auch an Vergütungsverhandlungen sowie an
Verhandlungen über Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen beteiligen.
({9})
Damit wird ein ganz wichtiges Recht der Mitwirkung gesichert. Der Beirat wird auch in die Qualitätssicherung
und in die Kontrolle durch die Heimaufsicht einbezogen.
Wenn ich den Antrag der F.D.P. richtig gelesen habe,
dann sind das Anliegen, die Sie durchaus unterstützen.
Also werden wir hier doch zu einem breiteren Konsens
kommen.
({10})
- Man muss ja Menschen auch eine Entwicklungsmöglichkeit zugestehen. Darüber haben wir in diesem Hause
auch schon häufiger diskutiert.
Wir stärken die Heimaufsicht. Das ist ein wichtiger
Punkt. Hier geht es eben nicht schlicht und einfach um
mehr Kontrolle, sondern darum, neben dieser Aufsicht,
die die Heimaufsicht jetzt schon leisten soll und die sie
mehr oder weniger gut erbringt, vor allem die Aufgabe der
Beratung wahrzunehmen. Das wollen wir verstärken,
aber wir wollen natürlich auch Kontrollmöglichkeiten
verbessern. Immer wieder höre ich die Klagen, es werde
in den Heimen zu selten kontrolliert.
Wenn wir jetzt sagen, eine Kontrolle im Jahr ist die Regel, dann ist das sehr wichtig. Damit wissen die Heime
- die meisten haben damit auch überhaupt kein Problem -,
in welchen Abständen Kontrollen zu erwarten sind. Wir
haben auch die Möglichkeit vorgesehen, dass in größeren
Abständen geprüft werden kann, wenn entsprechende
Zertifikate - aber eben von unabhängigen Sachverständigen - vorliegen. Diese Kontrollen finden dann nicht alle
zwei Jahre statt, sondern es gibt dann generell eine andere
Regelung.
Natürlich müssen diese Prüfungen auch unangemeldet
erfolgen können. Sie müssen, wenn das begründet ist,
auch einmal zu ungewöhnlichen Zeiten durchgeführt werden, zum Beispiel nachts. Wie will ich beispielsweise
kontrollieren, ob nachts Pflegekräfte anwesend sind,
wenn ich nicht auch einmal nachts kontrolliere?
({11})
Das sind alles Dinge, die sehr im Interesse der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner und auch im Interesse
der Heimträger liegen.
Ferner verbessern wir die Zusammenarbeit zwischen
der Heimaufsicht, dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen, den Pflegekassen und den Trägern der Sozialhilfe. Diese Zusammenarbeit soll durch Bildung von
Arbeitsgemeinschaften institutionalisiert werden. Das ist
nötig. Die gemeinsame Arbeit soll sich auf die Prüftätigkeit und auf die Verständigung über im Einzelfall notwendige Maßnahmen zur Beseitigung von Mängeln oder
zur Vermeidung von Fehlern erstrecken. Damit decken
wir den Bereich der Qualitätssicherung gut ab. Dabei
bleibt die Letztverantwortung der Heimaufsicht unberührt. Ich glaube, auch damit haben wir einen wichtigen
Punkt angesprochen.
Diesbezüglich gibt es auch einen breiten Konsens mit
den Ländern. Wir haben viele Gespräche mit den Verbänden geführt, die eigentlich sehr befriedigend verlaufen
sind. Da kann man sich immer noch einmal über den einen oder anderen Punkt streiten. Dazu stehen auch noch
Anhörungen aus; das Verfahren dazu beginnt ja auch erst.
Ich rechne aber doch mit einem breiten Konsens zwischen
allen Seiten.
Ich hoffe, dass wir einen solchen Konsens auch hier im
Haus zustande bringen, weil wir uns eines wirklich nicht
leisten können: Das sind ständig wiederkehrende Pressemitteilungen über Missstände, über Pflegefehler, die auf
schlechtes Qualitätsmanagement oder darauf zurückzuführen sind, dass sich bestimmte Anbieter darauf verlassen
können, dass nicht so schnell eine Kontrolle zu erwarten
ist. Das wollen wir mit gemeinsamen Kräften vermeiden,
weil Menschen in Einrichtungen das gleiche Recht auf Unversehrtheit und auf ein Leben in Menschenwürde haben
wie Menschen außerhalb von Einrichtungen.
({12})
In diesem Sinne hoffe ich auf eine konstruktive Zusammenarbeit bei der Beratung über diese beiden Gesetze.
Danke.
({13})
Das Wort hat Kollege
Wolfgang Zöller für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir diskutieren
heute wieder einen typischen Gesetzentwurf à la Schröder
({0})
nach dem Motto: Die Zielsetzung wird von allen ausdrücklich begrüßt;
({1})
allerdings können mit den geplanten Regelungen die genannten Ziele nicht erreicht werden.
({2})
Ich darf das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche zitieren, das in einer Stellungnahme Folgendes
schreibt:
Die vorgesehenen Vorschriften führen nicht zur
Qualitätsentwicklung, zu mehr Effizienz und erhöhter Wirtschaftlichkeit.
Sie verursachen vielmehr einen hohen Verwaltungsaufwand und werden in der Praxis nicht umsetzbar
sein.
({3})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wer mehr
Qualität fordert - ich glaube, darin sind wir uns alle einig -, muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen, dass
mehr Qualität geleistet werden kann. Hier unterscheiden
wir uns ganz wesentlich. Sie setzen auf mehr Kontrolle;
wir setzen mehr auf qualifiziertes Personal,
({4})
weil wir nämlich fest davon überzeugt sind - dieser Satz
ist heute schon wiederholt gefallen; umso richtiger ist er -:
Qualität kann man nicht in Pflegeeinrichtungen hineinkontrollieren.
Zur Lösung dieses Problems haben wir auch einen
ganz klaren Vorschlag unterbreitet - Kollege Fink hat dies
vorgetragen -, nämlich: Durch die systemgerechte Verlagerung der Kosten der Behandlungspflege auf die Krankenkassen wird im Bereich der Pflegeversicherung ein finanzieller Handlungsspielraum geschaffen, der für die
Finanzierung zusätzlichen Pflegepersonals genutzt
werden kann.
Frau Ministerin Schmidt, eine Unterstellung lasse ich
Ihnen nicht durchgehen, nämlich die, dass Sie sich hierher stellen und sagen: Wenn die CDU/CSU mehr Qualität
will, müssen chronisch Kranke automatisch mehr zuzahlen. - Diese Rechnung geht nicht auf. Im Übrigen sind
chronisch Kranke sowieso von der Zuzahlung befreit. Bei
uns mussten diejenigen, die ein höheres Einkommen hatten, eine Zuzahlung leisten. Diese haben Sie um eine
Mark reduziert. Da frage ich mich: Ist es nicht überlegenswert, über diese eine Mark Zuzahlung zu sprechen
und dafür mehr Qualität in der Pflege zu bekommen? Ist
das nicht das höhere Gut?
Ich kann Ihnen aber noch eine zweite Finanzierungsmöglichkeit nennen und möchte dazu die Überschrift
„Mehrbelastungen in der GKV: 5 Milliarden aus politischen Entscheidungsgründen“ zitieren. Nehmen Sie Ihre
falschen politischen Entscheidungen zurück, dann haben
wir genügend Geld, um für die entsprechende Qualität in
der Pflegeversicherung zu sorgen.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, neben dem
Pflege-Qualitätssicherungsgesetz sieht auch die Änderung des Heimgesetzes eine Vielzahl von Prüfungen
durch den MDK, durch Sachverständige, durch die Heimaufsicht in regelmäßigem Turnus sowie ergänzend durch
Einzelprüfungen, Stichprobenprüfungen und vergleichende Prüfungen vor. Überzogene Kontrollen und die
dazu erforderlichen Verwaltungsvorgänge demotivieren
jedoch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, vor allem,
solange keine ausreichenden Personalschlüssel zur Verfügung gestellt werden.
({6})
Wegen der vielen Prüfungen und des damit verbundenen
hohen Verwaltungsaufwandes bleibt immer weniger Zeit
für die eigentliche Pflege, Betreuung und Versorgung
übrig.
Für besonders wichtig halte ich, dass im Rahmen der
Diskussion über die Qualität der Pflege auch deutlich über
die Belastung der Pflegekräfte gesprochen wird.
({7})
Beruflich Pflegende sind ebenso wie pflegende Angehörige nicht nur physisch, sondern vor allem auch psychisch hohen Belastungen ausgesetzt.
({8})
Hinzu kommt noch der Zwiespalt, dass sie sich oftmals
nicht in der Lage sehen, so zu pflegen, wie es den fachlichen Anforderungen und ihrer Ausbildung entspricht,
weil wegen Zeitmangels und mangelnder personeller
Ausstattung keine Möglichkeit besteht, die Pflege aktivierend und rehabilitierend auszuführen. Diese Situation
kann bei den Pflegenden zu Gleichgültigkeit und Aggressionen führen. Wir alle sind aufgefordert, uns dieses Problems verstärkt anzunehmen. Ich habe nämlich die große
Befürchtung, dass man aufgrund von Meldungen über bestehende Defizite die entscheidenden Fragen zum Bereich
der Pflege aus den Augen verliert.
Wir müssen uns als Gesellschaft folgende Fragen stellen und beantworten: Wie wollen wir mit unseren Pflegebedürftigen umgehen? Was ist uns die Pflege wert? Wie
kann in einer Gesellschaft, die immer älter wird und in der
immer mehr Menschen auf fremde Hilfe angewiesen sind,
sichergestellt werden, dass jedem eine menschenwürdige
Hilfe und Betreuung zuteil wird? Wie können wir auch in
Zukunft genügend engagierte Pflegekräfte finden, die
sich der Aufgabe annehmen, pflegebedürftige ältere Menschen in einem Lebensabschnitt zu begleiten, der ein hohes Maß an Zuneigung und Sozialkompetenz erfordert?
Wie kann auf Dauer sichergestellt werden, dass der Ausgleich zwischen den Generationen, nämlich den Beitragszahlern auf der einen und den Leistungsempfängern auf
der anderen Seite, auf größtmögliche Akzeptanz stößt?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie uns
gemeinsam nach dem richtigen Weg für die Pflegebedürftigen suchen. Wir bieten auch hierzu unsere Mitarbeit an.
({9})
Die nächste Rednerin
ist die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in den letzten Wochen über eine
Reihe von parlamentarischen Initiativen diskutiert, bei
denen es eine große Übereinstimmung gibt. Ich glaube,
das wird bei der Novelle zum Heimgesetz ähnlich sein.
Denn die demographische Entwicklung macht ja nicht vor
den Toren der Altenheime halt.
({0})
- Sie macht nicht halt. Sie sollten genau zuhören, Herr
Kollege Lohmann!
({1})
Bei Einführung des Heimgesetzes vor 25 Jahren lag
das durchschnittliche Heimeintrittsalter bei 72 Jahren;
heute liegt es bei 82 Jahren. Mit zunehmendem Alter
steigt das Risiko, pflegebedürftig zu werden. Zwei Drittel
der Heimbewohnerinnen und -bewohner sind schon heute
schwer- bzw. schwerstpflegebedürftig. Gibt es heute fast
2 Millionen pflegebedürftige Menschen, werden es in
50 Jahren wohl 5 Millionen Menschen sein.
Das Risiko einer Demenzerkrankung wächst mit zunehmendem Alter. Schon heute leiden 850 000 Menschen
an einer mittelschweren bzw. schweren Demenz und die
Tendenz ist steigend.
Es werden also immer mehr alte Menschen mit immer
höherem Alter und schweren Beeinträchtigungen, die auf
eine intensivere Pflege in einem Altenheim angewiesen
sind. Allein das ist ein Grund, das Heimgesetz zu ändern
und die Rechte der Bewohnerinnen und Bewohner zu verbessern.
Viele Heimbewohnerinnen und -bewohner können
heute ihre Interessen in den Heimbeiräten kaum wirkungsvoll vertreten. Nicht selten kommt überhaupt kein
Heimbeirat zustande. Deshalb ist es sinnvoll, die Interessenvertretung für Dritte, für Außenstehende, zu öffnen. In
Zukunft können auch Vertrauenspersonen und Angehörige, aber auch Mitglieder der Seniorenvertretungen
in den Heimbeirat gewählt werden. Sie werden künftig
mehr Mitspracherechte haben. Bei Vergütungsverhandlungen, aber auch bei Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen muss der Heimbeirat angehört werden. Die Zusammenarbeit der Heimträger und der Pflegebedürftigen
wird so intensiviert.
Zwar ist die Beteiligung der Heimbewohnerinnen
und -bewohner durch die neuen Regelungen verstärkt
worden. Allerdings handelt es sich hierbei lediglich um
eine Mitwirkung und nicht um eine echte Mitbestimmung. Noch immer herrscht ein deutliches Ungleichgewicht zwischen dem Heimträger und den Pflegebedürftigen. Um der Interessenvertretung der Bedürftigen mehr
Respekt zu zollen, sind meines Erachtens klarere Mitbestimmungsrechte nötig. Da stimme ich Ihnen, Herr Haupt,
ausdrücklich zu.
({2})
Durch die Öffnung des Heimbeirates wäre dies zukünftig
ohne Probleme realisierbar. Ich hoffe, dass wir diesen
Aspekt in den parlamentarischen Beratungen, aber auch
in der in diesem Zusammenhang vorgesehenen Anhörung
noch einmal zum Thema machen werden.
Ein weiterer Bereich bedarf der Regelung: Mit dem
vorliegenden Entwurf werden bestimmte Bereiche des
betreuten Wohnens, die heute noch unter die Schutzregelungen des Heimgesetzes fallen, jedoch nicht Heime im
engeren Sinne sind - das sind eine Menge -, in die Regellosigkeit entlassen. Zukünftig wird es dort nicht mehr
nachvollziehbar sein, wer welche Leistungen zu welchem
Preis anbietet. Der Markt des betreuten Wohnens könnte
dadurch völlig unübersichtlich werden. Ja, es müssen
noch nicht einmal Verträge über die angebotenen Leistungen geschlossen werden. Wir alle wissen: Betreutes
Wohnen ist das Modell der Zukunft und wird nicht nur
von uns Bündnisgrünen, sondern auch von der Fachwelt
grundsätzlich als eine sehr begrüßenswerte Entwicklung
betrachtet, die auch weiter gefördert werden muss.
Schließlich werden dadurch flexible, aber auch bedürfnisorientierte Wohnformen ermöglicht. Gerade darum brauchen wir bei dieser expandierenden Form des Wohnens alter Menschen verlässliche Rechte. Regelungen analog
zum Heimgesetz, die die Besonderheiten des betreuten
Wohnens aufnehmen, müssen für diesen Bereich zügig
geschaffen werden, wie es im Übrigen auch der Bundesrat fordert.
Ein Schwerpunkt der Novellierung ist die transparente
Gestaltung der Heimverträge. Bis heute war es dem
Heimträger möglich, ohne konkrete Angabe von Gründen
eine Entgelterhöhung zu verlangen. Es konnten bisher
sogar über mehrere Monate rückwirkend Forderungen erhoben werden. Künftig müssen im Heimvertrag Leistungen wie zum Beispiel Unterkunft, Verpflegung und Betreuung gesondert ausgewiesen werden. Das ist sicherlich
ein großer Vorteil; denn so können die Leistungen miteinander verglichen oder bei Schlechtleistungen Forderungen gestellt werden.
({3})
Der vorliegende Gesetzentwurf wurde vonseiten bestimmter Interessenverbände auch sehr massiv kritisiert.
Ich kann die Kritik gerade der Wohlfahrtsverbände nicht
nachvollziehen. Bei der Novellierung des Heimgesetzes
muss es uns um den Schutz der pflege- und hilfsbedürftigen Menschen gehen, und finanzielle Erwägungen
müssen hintangestellt werden.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass Missstände und Skandale in Heimen in den vergangenen Jahren immer wieder Thema öffentlicher Diskussionen waren: überfordertes Pflegepersonal, schlechtes Essen,
mangelnde Hygiene, gammeliges Interieur. „Satt und sauber“ war häufig die Devise von Heimunterbringung. Das
bedeutet: Verwahrung statt Pflege. Ich finde, ein menschenwürdiges Wohnen ist das nicht.
Auch deshalb ist eine Novellierung des Heimgesetzes
wichtig. Die Zustände in den Heimen müssen weiter und
intensiver überwacht werden.
({4})
- Herr Zöller, auch darum brauchen wir die Einführung
regelmäßiger Kontrollen, die auch ohne Vorankündigung
erfolgen können. Das ist konsequent.
({5})
Natürlich dürfen wir das Personal in den Einrichtungen
nicht mit den Problemen alleine lassen. Darin stimme ich
Ihnen zu, Herr Fink. Denn viele pflegen bis zur Erschöpfung ihrer eigenen Kräfte. Darum bin ich der Meinung,
dass eine angemessene Personalbemessung in der Heimpersonalverordnung verankert werden muss. Wir führen
gerade ein Modellprojekt „Plaisir“ durch. Wir werden die
Ergebnisse auswerten und darauf entsprechend reagieren.
({6})
Menschen, die in Heimen leben, haben das gleiche
Recht auf ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes
Leben wie jene, die nicht auf Hilfe angewiesen sind. Die
Politik hat die Pflicht, besonders denen Schutz zukommen
zu lassen, die in Abhängigkeit von anderen leben müssen.
({7})
Diesem Anspruch kommen wir mit der Novellierung des
Heimgesetzes nach.
Ich danke Ihnen.
({8})
Nächster Redner ist
der Kollege Klaus Haupt für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Seit über 25 Jahren gibt es das
Heimgesetz als Schutzgesetz für Heimbewohner. Entwicklungen und Änderungen in der gesellschaftlichen
Realität, Strukturveränderungen sowie insbesondere die
demographische Entwicklung machen eine grundlegende
Reform des Heimgesetzes notwendig. Ziel muss es sein,
die Rechtsstellung und den Schutz von Heimbewohnern
den heutigen Ansprüchen anzupassen.
({0})
Partizipation und Stärkung der Mitwirkungsrechte der
Heimbewohner sind eines der wichtigsten Ziele der
Heimgesetznovelle.
({1})
Die F.D.P. begrüßt, dass dies nun zum Gesetzeszweck erhoben wird; denn Freiheit und Verantwortung kennen weder Ruhestand noch Altersgrenzen. - Sie können wieder
klatschen.
({2})
Doch Tatsache ist: Das Eintrittsalter für Seniorenheime
liegt heute bei 80 Jahren, das Durchschnittsalter bei
82 Jahren. Deshalb unterstützen wir die Öffnung der Heimbeiräte für externe Personen.
({3})
Dies ermöglicht auch, mehr Sachkompetenz für die
Heimbeiräte zu erschließen.
Im Zusammenhang mit den Heimbeiräten sind aber
auch die erforderliche Ausstattung mit finanziellen Mitteln, die Möglichkeiten der Schulung, der externen Unterstützung, aber auch die immer notwendige Bestärkung
und Motivation zur Mitgestaltung anzumahnen.
Die bisherige Kritik an einer fehlenden Beteiligung der
Bewohner an der Gestaltung zum Beispiel der Pflegekosten
und Pflegesatzvereinbarungen wurde durch die Beteiligung
des Heimbeirates bei der Vorbereitung von Leistungs-, Vergütungs- und Qualitätsvereinbarungen berücksichtigt.
Aber auch das ist keine echte Mitwirkung. Es gilt ganz allgemein festzustellen: Die Rechte der Heimbewohner sind
im vorliegenden Gesetzentwurf auf Mitwirkung begrenzt
- meine Vorrednerin hat darauf hingewiesen -; Mitbestimmung ist nicht vorgesehen.
({4})
Im § 2 - Zweck des Gesetzes - fehlen die Leitwerte Mitverantwortung und Mitbestimmung.
({5})
Deshalb sollte nach Meinung der F.D.P. durch eine Experimentierklausel
({6})
- zu Ende zuhören! - die Möglichkeit geschaffen werden,
in bestimmten Teilbereichen, die die Bewohner unmittelbar betreffen - Freizeitgestaltung, Durchführung von Veranstaltungen, Verpflegung -, Mitbestimmungsrechte in
Modellversuchen zu erproben.
({7})
Ein zweites zentrales Ziel der Gesetzesnovelle - die
Frau Ministerin hat darauf hingewiesen - ist die Transparenz, die bessere Durchschaubarkeit und Rechtswirksamkeit des vertraglichen Miteinanders von Bewohner
und Träger. Wir begrüßen die Leistungs- und Aufgabenbeschreibung der Heime und die differenzierte Aufstellung einzelner Leistungsbereiche und Entgeltbestandteile. Auch dass die Unterrichtung und Beratung der
Heimbewohner nicht mehr allein dem Heimbetreiber obliegt, ist eine Verbesserung der bisherigen Regelung.
({8})
Beide Neuregelungen können zu einer erhöhten Kundenorientierung beitragen und dienen dem Verbraucherschutz.
({9})
Dagegen halten wir die vorgesehene Fristkürzung bei
Entgelterhöhung von vier auf zwei Wochen für problematisch.
({10})
Alte Menschen müssen mehr Zeit haben, die aus einer solchen Entgelterhöhung resultierenden schwerwiegenden
Fragen zu beantworten. Dazu sind die Formulierungen im
Gesetzentwurf zum Thema Entgelterhöhung und Entgeltkürzung zu unbestimmt. So schwammige Rechtsbegriffe
wie „nicht erhebliche Mängel“ oder „angemessene Kürzung“ werden in der Praxis zu erheblichen Interpretationsschwierigkeiten führen.
Heimbewohner fühlen sich unter Umständen durch
Entgelterhöhung übervorteilt oder sehen sich nicht ohne
weiteres in der Lage, die vorgelegten Unterlagen, die die
Forderungen des Heimes untermauern sollen, sachkundig
zu kontrollieren. Deshalb fordern wir Liberalen eine
Schiedsstelle, die das Erhöhungsbegehren innerhalb eines
Monats gutachterlich überprüft.
Die vorgesehene Aufzeichnungspflicht als Teil der
Qualitätssicherung führt zu einer erheblichen Mehrbelastung der Heime. Dies darf nicht dazu führen, dass der
entsprechende Mehrbedarf an Arbeitszeit und -personal
bei Versorgung und Betreuung der Heimbewohner eingespart wird.
Das dritte bedeutende Anliegen der Heimgesetznovelle
ist die Verbesserung der Heimaufsicht. Bisher konnte die
Heimaufsicht die ihr zugedachten Aufgaben nicht erfüllen. Weder personell noch in sachlicher Hinsicht war sie
genügend ausgestattet. Die Qualität der Aufsicht hängt
aber entscheidend ab von der Kompetenz der Mitarbeiter
und dem Stellenwert, der ihr in der Verwaltung eingeräumt wird.
Die Heimaufsicht muss unabhängig sein von den Interessen der Leistungsträger. Der Entwurf der Novelle verstärkt dagegen solche Abhängigkeiten noch. Dazu verletzt er
in erheblicher Weise die Interessen des Datenschutzes. Der
Datenaustausch zwischen Pflegekassen, Medizinischem
Dienst der Krankenkassen und den Sozialhilfeträgern darf
nicht in diesem Maße uneingeschränkt möglich sein.
({11})
Als Fazit darf ich für die F.D.P.-Fraktion feststellen,
dass wir viele gute Ansätze und Verbesserungen im Heimgesetz sehen, dass aber in zahlreichen Details noch erheblicher Nachbesserungsbedarf besteht. Einige Formulierungen sind zu wenig präzise,
({12})
manche Regularien zu bürokratisch, andere Teile der Novelle werden die beabsichtigte Wirkung so nicht entfalten
können. Wir Liberalen werden daher - wie Sie schon aus
unserem Antrag ersehen können - an den weiteren Beratungen kritisch, aber konstruktiv mitwirken. Wir hoffen,
dass die Koalition für unsere Vorschläge offen ist.
Ich bedanke mich ganz herzlich.
Herr Präsident, darf ich einen P.S.-Nachtrag machen?
Bitte
schön, Herr Kollege.
In einer früheren Debatte hatten wir hier eine Auseinandersetzung. In einer Kurzintervention hatte ich auf die Kollegin Lörcher geantwortet,
dass Mitbestimmung nicht vorgesehen ist. Frau Lörcher
sagte: Herr Haupt, bei der Novellierung des Heimgesetzes
ist Mitbestimmung sehr wohl vorgesehen; es freut mich,
dass Sie sich derart dafür interessieren. - Lesen Sie sich
doch die Vorschrift noch einmal durch! Mit meinem Vortrag habe ich sicherlich bewiesen, dass keine Mitbestimmung vorgesehen ist.
Es ging um eine gute Flasche sächsischen Weines.
Diese habe also ich gewonnen. Frau Lörcher, aus kollegialer Verbundenheit kriegen Sie von mir eine Flasche Likör aus Hoyerswerda.
({0})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Marga Elser
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, man sollte beim Aufzählen
derjenigen, die gegen das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz und das Heimgesetz sind, nicht immer nur die Anbieter anführen, sondern vielleicht auch einmal diejenigen, für die diese Gesetze verabschiedet werden sollen:
die Männer und Frauen, die im Heim wohnen.
({0})
Das ist sehr wichtig. Wenn man dies tut, dann weiß man,
dass wir mit unseren Gesetzen auf dem richtigen Weg
sind.
Wir haben festgestellt, dass wir bei der Pflege das Augenmerk verstärkt auf die Qualitätssicherung und die
Verbesserung des Verbraucherschutzes richten müssen.
Es gibt sehr viele Pflegeeinrichtungen, die schon seit Jahren Pflegeleistungen auf einem hohen Qualitätsniveau erbringen. Eine ganze Reihe von Heimen sah sich seinerzeit, als die Pflegeversicherung eingeführt wurde,
veranlasst bzw. wurde vom Medizinischen Dienst darauf
gestoßen, verstärkt Methoden der internen Qualitätssicherung anzuwenden. Es gibt aber eben auch - das war
heute schon mehrmals Thema - Heime, die keine qualitätsgerechte Versorgung anbieten. Diese sind eine nicht
zu unterschätzende Gefahr für die Pflegebedürftigen.
Natürlich gibt es viele Gründe für solche Fehler. Wir
wollen mit unserem Gesetz die Weiterentwicklung der
Pflegequalität und die Stärkung der Verbraucherrechte
fördern und so dafür sorgen, dass die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner eine gute Pflege bekommen, und
zwar flächendeckend.
({1})
Gleichzeitig mit dem Gesetz zur Qualitätssicherung
haben wir heute die Novellierung des Heimgesetzes zu
beraten. Wir wissen, dass die Leistungsqualität in der
Pflege nicht allein durch Kontrolle und Überwachung
verbessert werden kann. Das ist klar. Wir wissen aber,
dass dies durch eine Förderung und Intensivierung der
Qualität der pflegerischen Versorgung möglich ist. Deshalb wollen wir vor allem das Eigeninteresse der Heime
daran stärken, qualitativ hochwertige Pflege anzubieten.
Wir als Gesetzgeber konzentrieren uns schwerpunktmäßig auf die Sicherung, Weiterentwicklung und Überprüfung der Pflegequalität, auf die Stärkung der Eigenverantwortung der Pflegeselbstverwaltung und auf eine
bessere Zusammenarbeit von Heimaufsicht und Selbstverwaltung. Das ist ganz wichtig.
({2})
Wir verknüpfen dies mit einer Verstärkung des Verbraucherschutzes.
Es ist klar, dass für die Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität ihrer Leistungen zuallererst die Träger
der Pflegeeinrichtungen zuständig und verantwortlich
sind. Das heißt, dass es für jedes Pflegeheim und für jeden Pflegedienst ein umfassendes Qualitätsmanagement geben muss. Wir halten es aber auch für sehr wichtig, dass dieses Qualitätsmanagement gelegentlich von
entsprechenden übergeordneten Stellen, also beispielsweise vom Medizinischen Dienst, kontrolliert wird und
der Nachweis einer guten Pflege erbracht werden muss.
Dies beruht nicht auf einem Misstrauen gegenüber der
Pflegeeinrichtung. Es ist aber im Interesse der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner, dass das Qualitätsmanagement ihres Heimes gelegentlich überprüft wird. Davor sind wir überhaupt nicht bange. Und gute Heime
brauchen dies auch nicht zu sein. Viele Trägervereinigungen haben ein hervorragendes Management und werden
dies bei den gelegentlichen Überprüfungen auch gerne
vorzeigen.
({3})
Die Qualitätssicherung und die entsprechenden Zertifizierungen werden einen guten Vergleich der Heime
untereinander ermöglichen. Dies ist wichtig, da dadurch
die Rechte der Pflegebedürftigen geschützt und gestärkt
werden.
({4})
Gleichzeitig wollen wir die Eigenverantwortung
durch Anpassungen im Vertragsrecht stärken. Die Eigenverantwortung beinhaltet die Pflicht, aber auch das Recht
der Träger, die personelle und die sachliche Ausstattung
bereitzustellen, die für eine leistungs- und qualitätsgerechte Versorgung der von ihnen betreuten Pflegebedürftigen erforderlich ist. Das heißt aber auch - dies ist ganz
wichtig, wird aber oft vergessen -, dass die Träger dann
die Möglichkeit haben, ihren Anspruch auf leistungsgerechte Vergütungen gegenüber den Kostenträgern effizient durchzusetzen.
Es gibt zum einen die unternehmerische Verantwortung und die Gestaltungsfreiheit in der Pflege. Zum anderen wollen wir aber auch einen effektiven Schutz gegen illegale Praktiken zum Schaden der Pflegebedürftigen.
Beispielsweise sollte es nicht vorkommen, dass Pflegekräfte zwar in der Buchhaltung auftauchen, aber im Heim
selber nicht vorhanden sind. Wir brauchen dieses Gesetz
also auch zum Schutz der Mitarbeiter.
({5})
Es wird sicherlich für das gesamte Vertrags- und Vergütungsrecht ein schwieriges Problem sein, dass es allgemein anerkannte Maßstäbe für die Personalbemessung
in den Pflegeheimen derzeit nicht gibt. Wir sind derzeit
dabei, Pflegeprogramme wie „Plaisir“ oder „Persis“ zu
untersuchen. Grundsätzlich wird es aber so sein, dass im
Rahmen der Leistungs- und Qualitätsvereinbarungen die
Einführung von landesweiten oder regionalen Rahmenverträgen diskutiert wird.
({6})
Allerdings werden die Vertragsparteien dann in die Pflicht
genommen, sich auf landesweite Personalvermittlungsverfahren zu verständigen.
Mit der Stärkung der Verbraucherrechte wird die Beratung der Pflegebedürftigen weiter verbessert. Es geht
darum, dass wir die individuelle Bedürftigkeit der Pflegebedürftigen ermitteln und die Pflege gelegentlich entsprechend verbessern. Dazu gehört natürlich auch, dass pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen durch
Beratung in der Lage sind, ihre Rechte wahrzunehmen.
Preis- und Leistungsvergleiche müssen an diese Vereinbarungen geknüpft werden.
Uns ist vor allem wichtig, dass bei stationärer Pflege
die Pflegeheime ausdrücklich verpflichtet werden, für
eine qualitätsgerechte Versorgung und Betreuung der
Heimbewohnerinnen und Heimbewohner das erforderliche Personal bereitzustellen. Ich denke, das kommt vor allem den Heimbewohnern zugute, die besonders häufig einen hohen Bedarf an allgemeiner und sozialer Betreuung
benötigen. Das ist vor allem bei Demenzkranken der Fall.
Weil dies auch der Inhalt des Gesetzentwurfes der
CDU/CSU ist, darf ich zur Situation der Demenzkranken
auf das verweisen, was unsere Gesundheitsministerin vorher gesagt hat.
({7})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin sofort fertig. - Ich möchte
an dieser Stelle unseren beiden Ministerinnen, Frau Ulla
Schmidt und Frau Christine Bergmann, für die beiden Gesetzentwürfe sehr herzlich danken. Ich wünsche uns allen
eine gute Beratung.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Balt von der
PDS-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ziel des Heimgesetzes ist es,
„die Rechtsstellung und den Schutz von Bewohnerinnen
und Bewohnern von Heimen zu verbessern und die Qualität der Betreuung und Pflege weiterzuentwickeln“. So
der Entwurf der Bundesregierung.
Grundsätzlich ist gegen eine Verbesserung des Heimgesetzes ebenso wenig wie gegen ein Gesetz zur Qualitätssicherung in der Pflege einzuwenden. Aber die
jetzige Diskussion erweckt in der Öffentlichkeit den Eindruck, als ob wir derzeit keine gesetzlichen Grundlagen
hätten. Dem ist nicht so. Das 1974 verabschiedete Heimgesetz erfüllt prinzipiell seinen Zweck.
Das Problem ist, dass die Umsetzung des Heimgesetzes regional sehr unterschiedlich ausfällt. Um es ganz klar
zu sagen: Die Probleme des Heimgesetzes liegen weniger
im Gesetz selbst als vielmehr in Qualifikations- und Vollzugsdefiziten der Heimaufsichtsbehörden vor Ort. Hieran
ändert auch der neue Gesetzentwurf nichts.
Wichtig wäre nämlich, eine bemerkenswerte Interessenkollision bei Ländern und Kommunen aufzulösen. So
liegt die Zuständigkeit für die Heimaufsicht in vielen
Ländern bei denselben Behörden, die letztendlich auch
für die Pflege in den Heimen finanziell aufzukommen haben, nämlich den Sozialhilfeträgern. Wenn nun nach einer
Prüfung durch die Heimaufsicht Auflagen an den weiteren Betrieb der Einrichtungen gemacht werden, betrifft
dies somit nicht nur den Träger des Heimes, sondern - unter finanziellen Gesichtspunkten - in den meisten Fällen
auch die eigene Behörde, in allen Fällen jedoch die öffentliche Kasse.
({0})
Dieser Zusammenhang ist im Ministerium durchaus
bekannt. In § 24 des Gesetzentwurfes ist formuliert: „Die
Landesregierungen haben darauf hinzuwirken, dass die
Aufgabenwahrnehmung durch die zuständigen Behörden
nicht durch Interessenkollisionen gefährdet oder beeinträchtigt wird“. Noch schwächer kann man einen Appell
wohl kaum formulieren.
({1})
Der zitierte Paragraph dokumentiert eher die Hilflosigkeit
des Ministeriums in diesem Punkt.
Diese Hilflosigkeit setzt sich in fataler Weise fort: So
ist 1996 auf Wunsch der Länder eine Regelung in das
Heimgesetz aufgenommen worden, wonach Auflagen der
Heimaufsichtsbehörden generell im Einvernehmen mit
dem Sozialhilfeträger zu erfolgen haben. Im Klartext: Sie
stehen unter Kostenvorbehalt.
Unter dem Strich weckt das neue Heimgesetz Erwartungen, die es gar nicht erfüllen kann. Die Aufblähung
bürokratischer Anforderungen verbraucht im Gegenteil
unnützerweise Ressourcen, die für eine gute Pflege dann
nicht mehr zur Verfügung stehen. Wir sind der Auffassung, dass die Instrumente des geltenden Heimgesetzes
durchaus ausreichen, sie aber auch konsequent angewandt
werden müssen. Wir fordern, unabhängige Anlaufstellen
einzurichten, die Beschwerden entgegennehmen, diesen
kompetent nachgehen und die Pflegebedürftigen und Angehörigen entsprechend beraten.
Unser Anspruch ist, Bürokratie abzubauen statt sie
weiter aufzublähen,
({2})
Pflege zu verbessern statt Apparate zu vergrößern. Genau
das muss in dem vorliegenden Gesetzentwurf noch
berücksichtigt werden.
Danke.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Arne Fuhrmann von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fink, vorneweg eine kurze Bemerkung, die Sie kennen, die ich aber gerne wiederhole,
weil sie im Kontext Ihrer Rede wohl ziemlich wichtig ist:
Nicht immer neues Geld, sondern gelegentlich eine Idee
und deren Umsetzung machen Bestehendes zu etwas Besserem.
({0})
Wenn wir am heutigen Abend unter dieser Prämisse
miteinander diskutieren und uns nicht gegenseitig vorrechnen, wo man Geld herbekommt bzw. wo man es nicht
herbekommen kann, wären wir auch in dem von allen beteuerten Konsens, es der älteren Generation in diesem
Lande leichter und vielleicht auch angenehmer zu machen, einen Schritt weiter.
Jetzt zurück zu dem Thema Heimgesetz. Ich habe einen Zeitungsbericht gelesen, den ich zwar nicht besonders
ernst nehmen kann, zu dem ich aber eine Bemerkung machen möchte. Wenn wir dazu übergehen und sagen, dass
Wohnen im Altenheim kein Zuhause ersetzt, machen wir
uns zu einem schäbigen und nicht tauglichen Parlament.
({1})
Die letzten Tage, Wochen, Monate oder Jahre im Leben
eines alten Menschen, die er in einer Pflegeeinrichtung
oder einer Alteneinrichtung verbringt, müssen von Qualität, Wohlbefinden, Vertrauen und Perspektiven - welcher Art auch immer - geprägt sein. Nur dann wird er sich
im Endeffekt zu Hause fühlen. Um das zu erreichen, ist
die Novellierung des Heimgesetzes einer der entscheidenden Schritte überhaupt; denn zum Wohlbefinden und
zum Vertrauen gehört auch das Element des Verbraucherschutzes, über den wir im Zusammenhang mit einer solch
elementaren Frage gar nicht intensiv genug diskutieren
können.
({2})
Es gibt einige wenige Punkte, die zumindest nach meiner Meinung heute noch nicht deutlich genug angesprochen wurden. Das ist zum Beispiel die Klarheit und Überschaubarkeit von Verträgen im Zusammenhang mit
Vertragsdauer und Tod. Wenn Sie sich - Herr Fink, Sie
sind ja Spezialist und kennen das - überlegen, was heute
immer noch gang und gäbe ist, dass nämlich nach dem
Tod eines Heimbewohners auf Wochen und Monate hinaus von den Hinterbliebenen oder aus der Erbmasse
Geld noch geschöpft wird, weil der Heimplatz nicht neu
zu belegen ist oder er renoviert werden muss
({3})
- lassen Sie es; Praktiker wissen, dass es so ist -,
({4})
werden Sie mir zustimmen, wenn ich sage: Ich finde es
nur recht und billig, wenn im Heimgesetz verankert wird,
dass der Vertrag und damit auch die Zahlungspflicht mit
dem Tod endet.
({5})
Es ist ein wesentlicher Punkt, dass das Verhältnis von
Leistungen und Geldzahlungen im Gesetz differenzierter
als bislang beschrieben wird. Ich denke, darauf haben
nicht nur die Heimbewohner, sondern auch deren
Angehörige einen Anspruch. Die Verhandlungen über die
Pflegesätze - darauf hat die Ministerin vorhin sehr deutlich hingewiesen; auch Herr Haupt hat es zu meiner
Freude getan - können nicht über die Köpfe der Heimbewohner hinweg geführt werden.
({6})
Wenn ich mir vorstelle, dass ich mit 85 Jahren als gnaddriger Greis in einer Alteneinrichtung untergebracht bin
und dass über meinen Kopf hinweg - aus welchen Gründen auch immer - entschieden wird, dass der Pflegesatz
um 250 DM im Monat angehoben wird, dann können Sie
sich sicherlich vorstellen, dass ich dann erst recht gnaddrig werde.
({7})
Dann hat das Heim, in dem ich untergebracht bin, nichts
zu lachen.
({8})
Wir geben den Heimbewohnern die Chance - diese
Regelung ist vernünftig -, sich zum Beispiel gegen die
Kündigung des Heimvertrages zu wehren, wenn sie nicht
das notwendige Geld haben. Das wird zwar vielen Betreibern von Pflegeeinrichtungen nicht gerade viel Spaß bereiten. Aber damit sind wir, glaube ich, auch einen Schritt
im Hinblick darauf weiter, dass man sich auch in Pflegeeinrichtungen zu Hause fühlen und dort Vertrauen zu anderen aufbauen kann. Damit wird im Grunde genommen
auch die Position derjenigen gestützt, die bereits heute
ihre Einrichtungen so leiten und führen, wie wir uns das
wünschen und wie es dem Sinn des Heimgesetzes von
1974 entspräche, wenn es komplett umgesetzt würde.
Aber dies ist wohl eine Illusion. Deshalb ist die Novellierung des Heimgesetzes notwendig.
({9})
Sie reden immer davon, dass Kontrollen eine fürchterliche Sache seien. Mit der Novellierung des Heimgesetzes wollen wir im Grunde neben einigen anderen Punkten vor allem drei ganz entscheidende Knackpunkte
angehen. Wir wollen erreichen, dass differenziert aufgeschlüsselt wird, welche und unter welchen Bedingungen
die Heimbewohnerinnen und -bewohner Medikamente
bekommen. Wir wollen wissen, wie der Pflegeverlauf
aussieht. Wir wollen vorrangig wissen, welche freiheitsbeschränkenden Maßnahmen unter welchen Grundvoraussetzungen durchgeführt werden.
({10})
Wir müssen uns in diesem Haus doch nichts vormachen. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten nicht
nur darüber zu reden gehabt, dass in den Heimen aufopferungsvoll gepflegt wird und dass dort nur hoch qualifiziertes Personal beschäftigt ist. Wir haben auch über katastrophale Zustände in verschiedenen Einrichtungen
heftig diskutiert, unter denen diejenigen leiden müssen,
die ihren Lebensabend dort verbringen, und uns von der
Presse auch manches Mal um die Backe knallen lassen
müssen, dass wir auch politisch etwas verändern müssten.
({11})
Ich als politisch Verantwortlicher möchte in Zukunft nicht
mehr die Prügel dafür einstecken, dass die Vorschriften
des Heimgesetzes möglicherweise nicht erfüllt werden.
Deshalb möchte ich Kontrollen einführen, zumindest so
lange, wie diese ordnungsrechtlich zulässig sind.
Da Sie die Schwierigkeiten, die ein solches Gesetz
auch im Hinblick auf die Zuständigkeit der Länder mit
sich bringt, samt und sonders kennen, wissen Sie, dass
man an manchen Stellen auch Kompromisse schlucken
muss. Vielleicht kann man dann, wenn das Gesetz novelliert ist, versuchen, Änderungen auf der Ebene der Länder
durchzusetzen. Ich glaube, die Selbstverwaltung und die
Eigenverantwortung der Heime und ihrer Träger sollten
zwar durch das Heimgesetz nicht angetastet werden. Aber
staatliche Daseinsvorsorge und Verantwortung enden
nicht am Bett im Pflegeheim oder an der Haustür. Diese
bestehen vielmehr immer und überall und gelten für jeden
Menschen in Deutschland, egal, wie alt er ist, wo er wohnt
oder ob er Geld hat oder nicht.
({12})
Alle Einrichtungsträger, die sich bisher ordnungsgemäß verhalten haben und deren Einrichtungen vom
Standard und vom Pflegeniveau her vernünftig geführt
werden, werden im Grunde durch das Heimgesetz überhaupt nicht tangiert. Sie werden vielmehr unterstützt und
werden in Zukunft - auch durch die Möglichkeit der Zertifizierung - sehr schnell aus den Kontrollen - egal, welcher Art sie sind - entlassen werden, weil sie ihre Sache
richtig machen. Deshalb wird dieses Gesetz, glaube ich,
nicht nur Ärger, sondern auch Freude bei denen, die sich
schon bisher ordnungsgemäß verhalten haben, und auch
bei den Betroffenen auslösen.
Im selben Atemzug bedanke ich mich bei den Mitarbeitern meines Ministeriums sehr herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit und auch für die Bereitschaft,
mit denen zusammenzuarbeiten, die uns noch heute kritisieren. Ich denke, es wird schon funktionieren.
Danke schön.
({13})
Als
nächster Redner hat das Wort Herr Kollege Gerald Weiß
von der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Ministerin, den von Ihnen eingeforderten Konsens im Themenzusammenhang, Frau Schewe-Gerigk, die von Ihnen
geforderte Übereinstimmung im Sachzusammenhang
({0})
- ähnlich haben Sie sich, Herr Minister Fuhrmann,
geäußert -,
({1})
lösen wir in der Grundsatzfrage natürlich ein.
Beim neuen Heimgesetz, Frau Ministerin, streiten wir
nicht über die grundlegenden Ziele. Wir streiten über die
richtigen Wege - wie das Herr Fink und Herr Zöller schon
gesagt haben -,
({2})
den Schutz der Menschen in den Heimen bestmöglich zu
gewährleisten, ihre Würde zu sichern, Pflegequalität zu
optimieren und zu bewahren. Das sind unstreitige, richtige Grundziele. Es geht nicht um das Ob, sondern es geht
um das Wie. In der übergroßen Zahl von Heimen wird gut
und aufopferungsvoll gepflegt.
({3})
Aber die Minderzahl schlecht pflegender Heime, deren
Opfer weitgehend hilf- und wehrlose Menschen sind, ist
die Herausforderung für den Staat, der auf diesem Feld,
Herr Kollege Fuhrmann, wirklich nichts weniger sein darf
als Nachtwächterstaat. Hier geht es im Kern um eine staatliche Ordnungsaufgabe.
Bei diesem Gesetz, Frau Ministerin, gestehen wir zu,
dass es gut gemeint ist; das attestieren wir sofort. Aber ob
es wirklich insgesamt gut ist im Sinne von zielführend, da
haben wir einige Zweifel. Gut gemeint ist noch lange
nicht zielführend. Gut ist, wenn man Teilhaberechte vernünftig weiterentwickelt. Aber wir haben Zweifel, ob es
zielführend ist, die Heime mit Bürokratie, Verwaltungsvorschriften und Berichtspflichten, die zum Teil ans Unsinnige grenzen, zu überziehen. Da haben wir sehr große
Zweifel, weil Kapazität in den Heimen für Administration
statt für den Menschen in Anspruch genommen würde.
({4})
Es war übrigens interessant, Frau Schewe-Gerigk, dass
Sie gesagt haben, Sie könnten die Äußerung, die die
Wohlfahrtsverbände gemacht haben, nicht verstehen.
Bis vor kurzem, in Ihrer Oppositionszeit, waren sie noch
Ihre Kronzeugen.
({5})
Die Arbeiterwohlfahrt, die ja nicht gerade eine Filiale der
Union ist, hat Ihnen zum Beispiel ins Stammbuch geschrieben:
Die freie Wohlfahrtspflege wird zum Objekt von
Überregulierung und Bürokratisierung.
Die Diakonie hat gesagt:
Die Mitarbeiterinnen müssen über ausreichend Zeit
für die Pflegebedürftigen verfügen. Das gilt vor allem für Gespräche. Die zu erwartenden Gesetze sollten hierfür entsprechende Rahmenbedingungen
schaffen. Es ist aber jetzt zu befürchten, dass deren
Umsetzung eher das Gegenteil bewirken wird.
Durch neue Auflagen, etwa zur Dokumentation, wird
immer weniger Zeit für die eigentliche Pflege, Betreuung und Versorgung zur Verfügung stehen.
({6})
Das ist doch der falsche Ansatz.
({7})
Geben Sie qualifiziertes Personal in die Heime, statt administrative Aufgaben vorzuschreiben, deren Erkenntniswert sehr begrenzt sein wird.
Was uns auch nicht gefällt: Das Gesetz mutet an wie
eine einzige große Misstrauenserklärung an alle Heimträger. Wir sind aber eher für eine Kriegserklärung an die
Minderheit derjenigen, die schlecht pflegen. Das müsste
die Ausrichtung sein.
({8})
Da sind wir bei der Ordnungsfunktion. Ich sage Ihnen:
Dreh- und Angelpunkt, Herr Fuhrmann, ist eine funktionierende Heimaufsicht. Was Sie dazu in das Gesetz geschrieben haben, kommt mir manchmal vor wie viel Lärm
um wenig. Das ist ja eher rudimentär, wenn Sie die Wahrheit zugestehen würden. Das kann es in einem Bundesgesetz auch nur sein. Das ist Domäne der Bundesländer. Ich
komme aus einem Land, aus Hessen, das eine sehr gute
Heimaufsicht hat, für die ich einmal Verantwortung hatte.
Die Art und Weise, wie die Heimaufsicht - auch personell ausgestaltet und organisiert ist, entscheidet über ihre gesamte Wirksamkeit und über die präventive Wirksamkeit
im Alltagsgeschehen. Wir sind für eine starke Heimaufsicht. Deren Stärke bemisst sich aber nicht am Umfang
von Gesetzen, wie sich auch ein starker Staat, für den wir
sind, nicht am Umfang seiner Gesetze bemisst. Manchmal
habe ich den Eindruck, dass das für Sie ein Kriterium ist.
Sie türmen - das ist bereits gesagt worden - einen unbestimmten Rechtsbegriff auf den anderen. Neue Panoramadachfenster, die mehr Licht in die Pflegezimmer
bringen, seien betriebsnotwendige Investitionen. Ist das
betriebsnotwendig oder nicht? Mit der Klärung dieser
Frage werden Sie Gerichte beschäftigen, da Sie in diesem
Gesetzentwurf eine Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe kreieren.
({9})
Frau Bergmann, Sie sagten, dass Sie motivierte Menschen wollen. Ich glaube, dass Sie die Menschen demotivieren. Formulare motivieren die Menschen nicht, sondern sie demotivieren, wenn sie sie von ihren eigenen
Pflichten ablenken. Es wird zu keiner Verbesserung der
Bedingungen in den Heimen, sondern zu einer Verschlechterung kommen.
Herr Fuhrmann, ich greife einmal einen Punkt einer einzelnen Regelung auf - Sie haben ihn gerade erwähnt -, um
zu demonstrieren, wo bei diesem Gesetzentwurf der Teufel
im Detail steckt. Sie sagen: Das Vertragsverhältnis endet
mit dem Tod; das muss so sein. Ich halte Ihnen entgegen:
Zumindest in denjenigen Heimen, wo die Wohnkomponente, das Wohnverhältnis bzw. das Mietverhältnis im Vordergrund stehen, bewirken Sie damit im Ergebnis eine Erbenschutzklausel und - durchdenken Sie es einmal! - eine
Umverteilung der Kostenlast auf die übrigen Heimbewohnerinnen und Heimbewohner. Das kann doch nicht wahr
sein. Das ist eine unsachgemäße Regelung.
({10})
Ich möchte noch auf eine andere Norm hinweisen. Dieser Gesetzentwurf versucht in vielem Antworten auf Fragen zu geben, die es gar nicht gibt. Betrachten wir einmal
den Aspekt der Kürzungen von Leistungen. Natürlich
müssen Leistungen gekürzt werden können, wenn sie unqualifiziert sind und wenn es Mängel gibt. Aber dieser
Anspruch ist bereits im guten alten BGB enthalten.
({11})
Dem durch dieses Gesetz eine Spezialnorm hinzuzufügen, legt den Verdacht nahe, dass Sie so vorgehen, weil es
so fortschrittlich wirkt. Wir brauchen aber keine Überregulierung, sondern Einfachheit der Rechtsnormen und
Rechtsklarheit. In dieser Hinsicht liegen wir - darüber
werden wir diskutieren müssen - mit dem BGB recht gut.
Ich nenne ein anderes Beispiel. In diesen Sachzusammenhang passt die Bildung von Arbeitsgemeinschaften.
Sie schreiben, dass Arbeitsgemeinschaften der Beteiligten, der Kostenträger, der Pflegekassen, der Heimträger
und eine Heimaufsicht gebildet werden müssen. Weil es
vernünftig ist und ungeheuer nahe liegt, gehört es doch
zur täglichen Wirklichkeit, dass alle Beteiligten - ich
glaube, nahezu flächendeckend in dieser Republik - die
Zusammenarbeit suchen; denn es ist notwendig.
({12})
- Nein, so sieht die Praxis aus. - Sie beabsichtigen, eine
Bundesnorm zu schaffen, die in diesem Fall eine Verpflichtung auferlegt. Warum können Sie sich nicht von
diesem bundesgesetzlichen Zentralismus lösen? Bundesgesetzlicher Zentralismus durchzieht diesen ganzen Gesetzentwurf. In Bezug auf die Heimaufsicht habe ich Ihnen das bereits beschreiben können.
({13})
Ich will noch eine andere Norm ansprechen. Es stimmt
uns sehr skeptisch, in welchem Umfang der Gesetzentwurf personenbezogene und übrigens auch betriebsbezogene Daten zum Austausch freigibt. Personenbezogene
Daten dürfen in nicht anonymisierter Form den Pflegekassen übermittelt werden, wenn es im Sinne des Sozialgesetzbuches ist. Eine so weit gefasste - scheunentorweite - Formulierung bedeutet die Schaffung eines
Einfallstors für Verstöße gegen den Datenschutz. Ich
wundere mich eigentlich, dass die selbst ernannten Gralshüter des Datenschutzes nicht hellwach werden, wenn
eine solche Regelung in einem Gesetzentwurf auftaucht.
Auch und gerade Pflegebedürftige müssen davor geschützt bleiben, gläserne Patienten zu werden,
({14})
wenn wir die Würde der Menschen bewahren wollen.
Nur noch ein Stichwort: Zu den Mängeln des Gesetzes
gehört, dass durch standardisierende und nivellierende
Vorschriften, nämlich durch den Zangengriff, dass das
Entgelt, das die Bewohnerinnen und Bewohner zu zahlen
haben - eben, Herr Fuhrmann, von Ihnen noch gefeiert -,
vereinheitlicht wird und Investitionen, soweit Entgeltwirkungen damit verbunden sind, dem Kriterium der Betriebsnotwendigkeit unterworfen werden, einem ganzen
Bereich altengerechten Wohnens der Garaus gemacht
wird. Das gilt insbesondere für die Wohnstifte in Deutschland. Sie wollen nivellieren, das Niveau standardisieren.
Das ist ein zentralistischer Regelungsanspruch.
({15})
Wir sind entschieden dagegen. Wir wollen Vielfalt und ein
differenziertes Angebot.
Insgesamt wollen wir einen kritisch-konstruktiven
Dialog mit Ihnen führen. Ausgehend von gemeinsamen
Grundzielen möchten wir über die Kritik an Detailfragen
zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Das gelingt
uns, wenn wir uns bemühen.
Vielen herzlichen Dank.
({16})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5395, 14/5547, 14/5399 und
14/5565 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Ich höre keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Rainer Funke, Hildebrecht Braun ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Gerald Weiß ({1})
Ende der Exklusivlizenz für die Deutsche Post
zum 31. Dezember 2002
- Drucksache 14/5333 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für
den Antragsteller der Kollege Rainer Funke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
({3})
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Die Absicht der Bundesregierung und vor allem des Bundeswirtschaftsministers, das Postmonopol
über den 1. Januar 2003 hinaus zu verlängern, zeugt von
einem tiefen Misstrauen in die Marktwirtschaft.
({0})
Das verwundert mich bei einem Bundeswirtschaftsminister ganz besonders.
({1})
Im Zuge der Postreform II haben die damaligen Koalitionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P., aber auch die SPD
das Grundgesetz in Art. 87 f geändert und bestimmt, dass
im Bereich des Postwesens die Dienstleistungen privatwirtschaftlich durch die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen und
durch private Anbieter erbracht werden.
({2})
Das heißt eindeutig, dass die Post AG und die privaten
Anbieter gleichberechtigt am Markt tätig sein sollen.
({3})
Im Postgesetz ist geregelt worden, dass das Monopol
für die Beförderung von Briefen bis zu 250 Gramm für
eine Übergangszeit bei der Post AG verbleiben solle.
Diese Exklusivlizenz sollte am 31. Dezember 2002 auslaufen.
({4})
Dieses Postgesetz einschließlich des Auslaufens der Exklusivlizenz kam im Vermittlungsausschuss als Kompromiss zustande. Dieser Kompromiss wurde von der
CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. getragen. Es ist kein
Geheimnis - jedermann weiß es -, dass die F.D.P. durchaus bereit war, diese Exklusivlizenz auch schon früher
auslaufen zu lassen. Im Vermittlungsausschuss mussten
wir den Kollegen der SPD und der CDU/CSU aber entgegenkommen, weil auch wir dieses Postgesetz wollten. Im
Übrigen wollte dies auch der jetzige Staatsminister im
Bundeskanzleramt, der Kollege Bury, der im Vermittlungsausschuss vehement für den 31. Dezember 2002
gekämpft hat.
({5})
- Daran habe ich große Zweifel. Auch damals war es um
seine Marktwirtschaftlichkeit nicht ganz so gut bestellt,
lieber Herr Kollege van Essen.
Wenn heute der Bundeswirtschaftsminister von diesem
Kompromiss abweichen will, dann ist das nicht nur verfassungswidrig - worauf namhafte Verfassungsrechtler
hinweisen -,
({6})
sondern dies zeugt auch davon, wie sehr man sich, lieber
Herr Kollege Barthel, auf ein gegebenes Wort der SPD
verlassen kann.
Da gilt auch nicht der Grundsatz, dass man einfache
Gesetze mit einfachen Mehrheiten ändern kann. Zwar
kann sich der Bürger nicht darauf verlassen, dass ein einfaches Gesetz ewig Bestand hat. Aber jeder Sachkundige
weiß - vielleicht mit Ausnahme des Bundeswirtschaftsministers -, dass man ein Postdienstnetz nicht von heute
auf morgen aufbauen kann, sondern drei bis fünf Jahre
dazu benötigt. Das haben Feldversuche ergeben.
Die Investoren müssen einen gewissen Vorlauf haben
und müssen sich auch darauf verlassen können, dass der
Gesetzgeber bei den beschlossenen Fristen bleibt. Ein
Eingriff des Gesetzgebers kurz vor Auslaufen der
Exklusivlizenz verstößt nicht nur gegen Eigentumsrechte der Investoren gemäß Art. 14 des Grundgesetzes
- das dürfte den meisten bekannt sein, aber vielleicht Ihnen nicht, Herr Barthel -,
({7})
sondern erschüttert auch das Vertrauen der Bürger in die
Rechtskraft und Rechtswirkung von Gesetzen.
({8})
Eine Entscheidung der Bundesregierung, die Exklusivlizenz für die Post AG zu verlängern, wird nicht nur viel
Geld aus dem Haushalt als Entschädigung für die Investoren kosten, sondern auch das Vertrauen des Bürgers in
von Bundestag und Bundesrat beschlossene Gesetze erschüttern.
Will man die Exklusivlizenz verlängern, müssten
höherrangige und höherwertige Interessen vorhanden
sein. Wir haben schon damals bei der Beratung im Vermittlungsausschuss gewusst, dass die Vorstellungen der
nordeuropäischen Länder unseren Vorstellungen von
Wettbewerb, Marktwirtschaft und privater Wirtschaft
mehr entsprechen als die Vorstellungen von Frankreich
und beispielsweise der südeuropäischen Länder. Seit
dem Beschluss des Bundestages ist also überhaupt keine
neue Situation eingetreten. Wir haben immer gewusst,
dass Frankreich und die südeuropäischen Länder bei der
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Aufgabe des Postmonopols eher zurückhaltend sein werden.
Wir haben uns auch sonst noch nie um diese Fragen
gekümmert, etwa als es darum ging, die Postunternehmen
- damals zum Beispiel die Telekom - in den Wettbewerb
zu entlassen. Wir haben auch damals gewusst, dass die
Franzosen in dieser Angelegenheit etwas zurückhaltender
sind. Aber wir haben damals schon gezeigt, dass der Weg
in Richtung mehr Wettbewerb und Marktwirtschaft richtig ist und dem Bürger zugute kommt. Den Mut sollten wir
auch in Bezug auf die Post AG haben.
({9})
Interessanterweise fordert der Vorstand der Post AG nicht
eine Verlängerung der Exklusivlizenz, weil die Post AG
weiß, dass sie ein modern aufgestelltes Logistikunternehmen mit gutem Management und mit guten Mitarbeitern
ist.
Die Post AG braucht keinen Wettbewerb zu scheuen.
Der Wettbewerb stärkt alle am Wettbewerb teilnehmenden Unternehmen. Das sollte eigentlich der Wirtschaftsminister, der ja einer der Nachfolger von Professor
Ludwig Erhard ist, wissen. Er sollte sich auch der Marktwirtschaft und dem Wettbewerb verpflichtet fühlen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Für die
Bundesregierung hat jetzt die Parlamentarische Staatsse-
kretärin Margareta Wolf das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Sehr ge-
ehrter Herr Funke! Die Bundesregierung beabsichtigt, die
Exklusivlizenz der Deutschen Post AG um fünf Jahre zu
verlängern.
Jörg van Essen [F.D.P.]: Das ist schlimm!)
Das tun wir nicht deshalb, weil wir Monopole so schön
finden, sondern weil uns unter vernünftiger Betrachtung
der Welt um uns herum nichts anderes übrig bleibt.
({0})
Ausgangspunkt der Überlegungen zur Verlängerung
der Exklusivlizenz ist im Wesentlichen die Entwicklung
der Postpolitik innerhalb der Europäischen Union.
({1})
Dort ergeben sich nicht die Fortschritte, die sich die Bundesregierung bisher erhofft hatte. Die Europäische Kommission hatte zwar am 30. Mai letzten Jahres endlich einen Vorschlag für eine neue Postdienste-Richtlinie
vorgelegt. Grundsätzlich hat die Bundesregierung - das
wissen Sie auch - diesen Vorschlag begrüßt, weil er einen
weiteren Schritt zur Öffnung der Postmärkte ab 2003 enthielt. Wir hätten den Vorschlag der Kommission allerdings noch heftiger begrüßt, wenn er auch einen Zeitplan
für die vollständige Öffnung der Postmärkte enthalten
hätte.
An dieser Stelle möchte ich auch dem Vorwurf entgegentreten, dass sich die Bundesregierung nicht energisch
genug für eine Marktöffnung im Postbereich eingesetzt
habe. Bereits im Vorfeld des Kommissionsbeschlusses
standen wir in engem Kontakt mit den beiden deutschen
Kommissaren in Brüssel, die sich beide nachhaltig für die
Position der Bundesregierung eingesetzt haben.
({2})
Nicht nur innerhalb der Kommission, sondern auch im
Europäischen Parlament und im Ministerrat - das ist auch
bekannt - sind die Befürworter und die Gegner weiterer
Marktöffnungsschritte im Postbereich in etwa gleich
stark. Dies erklärt, warum in den letzten Monaten bei der
Formulierung einer zukunftsgerichteten europäischen
Postpolitik keine nennenswerten Fortschritte zu erzielen
waren.
Die gegenwärtige Präsidentschaft betrachtet die Postpolitik nicht als vorrangig. Wir bemühen uns zwar, die
Postdienste-Richtlinie auf der Tagesordnung zu halten.
Absehbar ist jedoch, dass wir mit der Verabschiedung eines gemeinsamen Standpunktes im Ministerrat kurzfristig
nicht rechnen können.
Ein Blick auf den Zeitplan zeigt, dass die Zeit auf der
europäischen Ebene noch nicht stark genug drängt, um
Kompromisse zu erzwingen. Die gegenwärtige Richtlinie
- das wissen Sie - läuft erst Ende 2004 aus. Selbst für ein
möglicherweise notwendig werdendes Vermittlungsverfahren zwischen Europäischem Parlament und Ministerrat bleibt aus heutiger Sicht noch reichlich Zeit.
Dagegen läuft nach gegenwärtiger Rechtslage in
Deutschland die Exklusivlizenz Ende 2002 aus. Dies
zwingt uns - so meinen wir - zum Handeln, da die Bundesregierung nicht beabsichtigt, das nationale Restmonopol auslaufen zu lassen, ohne zu wissen, wie es innerhalb
der EU weitergeht.
Die Bundesregierung befürwortet ein gemeinsames
Vorgehen innerhalb der Europäischen Union, auch im
Postbereich. Damit haben wir in der Vergangenheit gute
Erfahrungen gemacht, beispielsweise bei der Telekommunikation. Darauf haben Sie, Herr Funke, hingewiesen.
Eher schlechte Erfahrungen hat Deutschland dagegen mit
der einseitigen vollständigen Marktöffnung in den Bereichen von Strom und Gas gemacht, in denen wir auch heute
noch keine gleichgewichtige europäische Marktöffnung
haben. Dies wirkt nach.
Wir wollen vermeiden, dass Postunternehmen aus geschlossenen oder nahezu geschlossenen Märkten in einem
vollständig geöffneten deutschen Markt tätig werden können. Der deutsche Postmarkt ist der mit Abstand größte in
Europa und überdies mit seiner zentralen Lage für alle
ausländischen Postunternehmen sehr lukrativ.
Ungleiche Wettbewerbschancen würden - so meinen
wir - zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Den Preis
dafür müssten vor allen Dingen die Kunden, die deutschen Postunternehmen, aber auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen. Das wollen wir nicht.
({3})
Allein mit wettbewerbsrechtlichen Instrumenten wäre
missbräuchliches Verhalten nur im Nachhinein zu sanktionieren. Die Bundesregierung kann und wird eine Beeinträchtigung unternehmerischer Strukturen in Deutschland nicht billigen. Entweder gibt es fairen Wettbewerb
oder keinen; unfairen Wettbewerb werden wir nicht zulassen.
({4})
Lassen Sie mich zum Schluss etwas zu den Briefentgelten sagen. Mit der Verschiebung der vollständigen
Marktöffnung im Postbereich müssen die Verbraucher jedoch nicht unbedingt auf sinkende Preise verzichten. Das
Postgesetz sieht vor, dass sich die Briefentgelte an den
Kosten einer effizienten Leistungsbereitstellung zu orientieren haben. Die Deutsche Post AG hat in puncto Effizienz in den letzten Jahren durchaus Fortschritte gemacht,
übrigens in Erwartung des Wettbewerbs. Es bedarf also
keiner hellseherischen Fähigkeiten, um vorauszusagen,
dass die Briefentgelte ab 2003 tendenziell sinken könnten.
Damit werden dem Verbraucher die Preisvorteile, die der
Wettbewerb ansonsten - wenn auch nicht kalkulierbar mit sich brächte, grundsätzlich nicht vorenthalten. Wir
sind darüber im Gespräch.
Das Handeln der Bundesregierung im Postbereich wird
von der Einsicht in das Notwendige und in das Machbare
bestimmt. Indem die Bundesregierung bereits jetzt die
Änderung des Postgesetzes ankündigt, schafft sie Klarheit
darüber, was auf die Unternehmen im Postbereich ab
2003 zukommt. Im Sinne von Max Weber beweist die
Bundesregierung damit Augenmaß. Wünsche zu formulieren ist hingegen ein Vorrecht der Opposition.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie deshalb namens der Bundesregierung, den vorliegenden Antrag in
der parlamentarischen Beratung abzulehnen.
Danke schön.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Elmar Müller von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So weit also die Mittelstandsbeauftragte dieser Bundesregierung, Kollege
Funke. Es ist schon eine erstaunliche Entwicklung, die
diese Dame vollzogen hat.
({0})
Zunächst gratuliere ich - ich meine das überhaupt nicht
ironisch - der Deutschen Post AG herzlich dazu, dass sie
am Montag mit einem Anteil von 1,53 Prozent in den Dax
kommt. Das ist eine reife Leistung dieses Unternehmens;
das hat es verdient. Die Vorstände und Manager dieses
Unternehmens, an der Spitze Herr Zumwinkel, machen
auch einen guten Job, wenngleich zumindest einige derer,
die sich mit der Post beschäftigen, mit der Postpolitik, wie
sie vorgegeben wird, nicht immer einverstanden sind.
Aber das ändert nichts daran, dass man dies respektvoll
bemerken darf.
Meine Damen und Herren, ich greife, gerichtet an die
SPD-Fraktion, Herr Kollege Barthel, weit in die Geschichte zurück. Seit der Französischen Revolution im
Jahre 1789 gibt es das unveräußerliche Menschenrecht
der Berufs- und Gewerbefreiheit.
({1})
Nun wissen wir allerdings, dass es Regierungen gibt, die
sagen, sie verzichteten überall dort gern auf Berufs- und
Gewerbefreiheit, wo die Kasse klingelt. So sind wir an einem Punkt angelangt, der diese Regierung ganz besonders
auszeichnet.
({2})
Das Briefbeförderungsmonopol bedeutet bei uns
ganz konkret, dass Briefe mit einem Gewicht von unter
200 Gramm und Infopost mit einem Gewicht von unter
50 Gramm nur von einem Unternehmen befördert werden
dürfen und dass alle anderen Unternehmen aus dieser
Branche ausgeschlossen sind. Dabei gilt seit 1997 - als
wir das Postgesetz geschaffen haben -, dass der Wettbewerb die Regel und das Monopol die zu begründende
Ausnahme sei. An diesem Punkt haben wir richtig gehandelt, auch wenn Herr Funke gesagt hat, es hätte etwas
schneller kommen können. Aber wir haben eine vernünftige Linie gefunden.
Damit sollte für den Verbraucher und für die Wirtschaft
der Zugang zu preiswerten und kundengerechten Postdienstleistungen sichergestellt werden. Dass es in der
Praxis anders ist, Herr Barthel, erleben wir ja derzeit bei
einer Post, die sich über Einnahmen und Gewinne nicht
beklagen kann. Trotzdem erreichen uns täglich Berichte
über irgendwelche Missstände. Zuletzt haben wir - Sie
genauso wie ich - einen Brief der Diamant- und Edelsteinbörse auf den Tisch bekommen. Allein aus der Streichung des Wertbriefversandes im Jahre 1999 und der Veränderung der allgemeinen Geschäftsbedingungen im
vergangenen Jahr sind dieser Branche inzwischen in
523 Fällen Verluste in Höhe von 2,5 Millionen DM entstanden. Ein zweites Beispiel - darüber werden wir uns
auch noch unterhalten - ist die Frage der Massendrucksachen: Bis hinunter in die kleinsten Dörfer sollen nun Einlieferungen im Wert von weniger als 500 DM nicht mehr
möglich sein. Man stelle sich das einmal vor. Das betrifft
vor allem jene Gemeinden, die im Fremdenverkehrsbereich tätig sind. Sie fragen: Wie sollen wir in einer kleinen
Gemeinde mit 800 Einwohnern auf einen Umsatz von
500 DM kommen?
({3})
- Genau das ist das Thema. Herr Barthel, jetzt will ich aus
einem Brief zitieren, der dem Kollegen Ernst Hinsken
dazu zugegangen ist. Das ist nun wirklich interessant:
Die von einigen Kunden geforderten Ausnahmeregelungen für kleine Gemeinden, Vereine usw.
würden dem durch die Einführung einer Mindestauslieferung verfolgten Zweck der Effizienzsteigerung
zuwiderlaufen, denn gerade bei kleinen Sendungsmengen stehen die Einnahmen zu den entstehenden
Bearbeitungskosten in einem besonders ungünstigen
Verhältnis.
({4})
So weit die Post. Da sagen Sie, wir müssten dieses
System beibehalten. Herr Kollege Barthel, ich denke, dass
Sie durchaus noch einmal darüber nachdenken sollten,
wie Sie das verantworten wollen.
Eine Verlängerung der Exklusivlizenz stößt sowohl auf
verfassungsrechtliche Widerstände wie auch auf erhebliche europarechtliche Probleme, weil die Überleitungsregelungen in Art. 143 b Grundgesetz, die durch Gesetz von
1994 in das Grundgesetz aufgenommen wurden, durch
das 1997 verabschiedete Postgesetz mit der einmaligen
Verlängerung der Exklusivlizenz ausgeschöpft sind. Eine
darüber hinausgehende Beschränkung der Berufsfreiheit
ist mit Sicherheit - davon kann man heute ausgehen - mit
Art. 12 Grundgesetz nicht vereinbar. Es wird dazu vermutlich ein Verfahren geben.
({5})
Wir sind jetzt an einem Punkt, meine Damen und Herren, an dem ich gespannt darauf warte, was die Kollegin
der Grünen dazu zu sagen hat. Wir haben ja gehört, dass
die Grünen gegen eine Verlängerung sind.
Das ist möglicherweise der gleiche Vorgang wie vor
einem Jahr, als die Kollegin Wolf beim Portostreit öffentlich bekannte, dass der Minister mit seinem Eingriff
in die Portoregelung falsch gehandelt habe. Als wir dann
hier darüber diskutierten, wurde das alles zurückgenommen und gesagt, das sei alles nicht so gemeint gewesen.
Ich befürchte, Frau Kollegin Hustedt, dass Sie auch in
der Frage der Verlängerung der Exklusivlizenz wahrscheinlich bereits in wenigen Tagen - zumindest nach der
Landtagswahl - wieder den Kotau vor Ihrem Koalitionspartner machen werden und Ihr vermeintlicher Widerstand wahrscheinlich sehr schnell beendet sein wird.
Eines, meine Damen und Herren, ist beim Portostreit
des vergangenen Jahres völlig klar geworden: Ohne Konkurrenz gibt es für die Post AG überhaupt keinen Grund,
ihre Preise zu senken.
({6})
Die Post AG nennt sich zwar heute Global Player, aber
immerhin 90 Prozent ihrer Gewinne schöpft sie auch
heute noch aus den alten Produkten, das heißt aus der Exklusivlizenz. Da soll einer sagen, sie verdiene als Global
Player heute weltweit ihr Geld. Nein, in dieser Frage muss
man einfach sagen: Der Bundesbürger wird mit überhöhten Portopreisen und durch eine Verlängerung der Exklusivlizenz zugunsten eines Unternehmens noch mehr und
noch länger geschröpft.
Diese Frage müssen Sie als Koalition schon beantworten: Darf es möglich sein und ist es rechtlich richtig, dass
sich eine Regierung zugunsten eines Unternehmens derartig ins Zeug legt und sagt, dieses Unternehmen darf dick
und fett werden, während die anderen, die vor der Tür stehen, ruhig warten sollen?
Sie sollten in dieser Frage endlich zu einer wettbewerbsorientierten Politik zurückfinden, vor allem zu einer
Politik, die im Zusammenhang mit der Förderung des
Mittelstandes positiv genannt werden kann.
Dies meine ich vor allem im Zusammenhang mit den
Arbeitsplätzen, Herr Kollege Barthel. Ich war vorhin
schon etwas erstaunt, Frau Staatssekretärin, als Sie mit
Arbeitsplätzen argumentierten. Es ist wirklich das Gegenteil der Fall.
Herr Kollege Müller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Funke?
Aber selbstverständlich.
Bitte,
Herr Funke.
Herr Kollege Müller, kennen
Sie ein an der deutschen Börse notiertes privatwirtschaftliches Unternehmen außer der Post AG, das eine Monopolrente an die Aktionäre ausschütten kann und das durch
den Staat fett gemacht wird?
Ich würde
gerne ausführlicher antworten, aber ich kann Ihnen sagen,
Herr Kollege Funke: Das gibt es nicht; das ist in der Tat
ein Widerspruch in sich. Daran wird das Fehlerhafte dieser Diskussion deutlich,
({0})
auch die Absurdität dieser Entwicklung. Ich bedanke
mich für diese Feststellung und schließe mich ihr vorbehaltlos an.
({1})
Frau Kollegin, Frau Staatssekretärin Wolf, zu den Arbeitsplätzen: Sie wissen, dass die Post AG in den letzten
Jahren 150 000 Arbeitsplätze abgebaut hat. Das musste
Elmar Müller ({2})
sein; denn sie war mit Arbeitsplätzen übermäßig ausgestattet. Das hatte mit dem alten System, vor allem mit den
Gewerkschaften zu tun. Allerdings wurde hier - im Gegensatz zur Telekommunikation - aufgrund der Exklusivlizenz der Wettbewerb verhindert und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Wir haben in diesem Bereich über 800 Lizenznehmer.
Diese Lizenznehmer haben inzwischen trotz ihres geringen Umsatzes immerhin rund 4 000 Vollzeitarbeitsplätze
und etwa 20 000 Teilzeitarbeitsplätze geschaffen. Genau
hier liegt das Potenzial, das Sie in den nächsten Monaten
bräuchten. Sie werden in den nächsten Monaten - alles
spricht ja dafür, dass wir auf dem Arbeitsmarkt in eine
schwierige Phase geraten - in die Situation geraten, Langzeitarbeitslose und gerade solche, die nicht die höchste
Qualifikation haben, genau für solche Arbeiten aktivieren
zu können. Hier wird von Ihnen die Chance vertan, Arbeitslose und Langzeitarbeitlose wieder in den Arbeitsmarkt zurückzubringen, was wirklich schade ist. Auf diesem Markt kann im Grunde genommen doch nur durch
einen Wettbewerb, an dem vor allem der Mittelstand beteiligt ist, durch neue Produkte und neue Impulse etwas
geschehen.
Ich will Ihnen noch einmal die Zahlen nennen: In der
Bundesrepublik Deutschland werden pro Einwohner
und Jahr etwa 250 Briefe versandt. In den USA sind es
700 Briefe pro Einwohner im Jahr bei wesentlich geringeren Portokosten.
({3})
Im nordeuropäischen Bereich, bei unseren skandinavischen Nachbarn, sind es immerhin noch doppelt so
viele wie bei uns. Herr Kollege Barthel, Sie mögen sich
darüber lustig machen, aber das hat damit zu tun,
({4})
dass in Schweden und Finnland seit 1993 die Monopolsituation aufgehoben worden ist. Dort kann aber niemand
behaupten, dass die Postinfrastruktur, worauf die Bürger
einen Anspruch haben, in irgendeiner Weise beeinträchtigt worden ist. Im Gegenteil, die Bürger haben dieselben
Möglichkeiten wie vorher, aber mittelständische junge
Unternehmen haben dort eine Chance bekommen.
Herr Kollege Barthel, da Sie mir nicht glauben, will ich
einen Kollegen aus Ihrer Fraktion zu diesem Thema mit
einem fast klassischen Beitrag für ein Lehrbuch zur Betriebwirtschaftslehre zitieren. Kollege Professor Uwe
Jens, der bei solchen Gelegenheiten überhaupt nicht reden darf, hat vor wenigen Tagen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Folgendes geschrieben:
Doch hat der Wirtschaftsminister Politik für einzelne
Unternehmen oder für die ganze Volkswirtschaft zu
betreiben? Ist es sinnvoll, deutsche Unternehmen für
den Weltmarkt staatlich zu füttern, damit sie dort unsere Interessen vertreten? Für die Gesamtwirtschaft
ist dies verhängnisvoll.
Weiter sagt er:
Die kleinen und mittleren Unternehmen haben nur
Nachteile davon. Geschwächt wird das dynamische
Element der Gesamtwirtschaft.
Professor Jens schließt dann mit den Worten:
Deutschlands Wirtschaft profitiert von offenen Weltmärkten.
Diese Weltmärkte können nicht dort, wo es politisch opportun ist, geschlossen werden, wie es diese Regierung
nach Gutsherrenart vorhat, sondern man muss schon bei
einer bestimmten ordnungspolitischen Linie bleiben. Das
tun Sie derzeit aber nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Post AG
hat, wie gesagt, in den letzten Jahren eine Menge Arbeitskräfte entlassen müssen und es wird in der Tat verhindert,
dass andere, neue Unternehmen diesen Arbeitskräfteabbau ausgleichen können. Das ist ein Versäumnis, das
ich nur immer wieder beklagen kann. Sie können noch so
viele Argumente finden,
({5})
aber es wird Ihnen nicht gelingen, die Binsenweisheit,
dass durch Wettbewerb neue Arbeitsplätze geschaffen
werden können, auch nur im Ansatz zu widerlegen.
({6})
Das Ganze zeigt mir Ihr Misstrauen, Frau Staatssekretärin, gegenüber dem Mittelstand; anders kann man das
nicht bezeichnen. Wir haben in den letzten anderthalb Jahren ausschließlich junge mittelständische Unternehmen
mit Lizenzen versorgt. Über 800 Unternehmen warten darauf, dass dieser Markt endlich wettbewerbsmäßig neu
aufgemischt werden kann. Eine ganze Menge neuer Produkte - die Post hat es natürlich nicht nötig, diese anzubieten - könnte auf den Markt kommen. Ich frage Sie
wirklich, ob es sein muss, dass ein Brief innerhalb Berlins
den gleichen Portowert hat wie ein Brief zum Beispiel von
Garmisch nach Flensburg, oder ob ein Brief, der am
nächsten Tag ankommen muss, den gleichen Tarif haben
muss wie ein Brief, den mir meine kurlaubende Tante
schreibt und der erst nächste Woche ankommen muss.
({7})
- Herr Kollege Barthel, Sie unterstützen doch im Hinblick
auf die Telekom genau diesen Punkt,
({8})
indem Sie sagen: Die unterschiedliche Stärke des in den
Regionen bestehenden Marktes muss aufgebröselt werden. - Auf dem Postmarkt aber verweigern Sie sich einer
solchen Lösung.
Meine Damen und Herren, die rot-grüne Bundesregierung will mit dieser Mittelstandsfeindlichkeit neue Strukturen schaffen. Wir sagen jedoch: Marktpositionen dürfen
nicht durch Machtpositionen verfestigt werden, sondern
Elmar Müller ({9})
müssen durch Leistung immer wieder neu errungen werden. Deshalb ist und bleibt die Union die Partei des fairen
Wettbewerbs und des Mittelstandes. Daher muss das, was
derzeit im Gesetz steht, nämlich dass das Monopol Ende
2002 ausläuft, bestehen bleiben. Einen anderen Weg darf
es nicht geben.
Ich bedanke mich.
({10})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kurs der
Telekomaktie steigt wieder. Der Hintergrund ist, dass die
Hauptversammlung von Voicestream gestern der Übernahme durch die Telekom zugestimmt hat. Das heißt, der
Kurs der Telekomaktie steigt in Abhängigkeit davon, ob
die Übernahme von Voicestream durch die Telekom
klappt. Daran kann man erkennen - auch wenn man nicht
immer alles das versteht, was an den Börsen passiert -,
({0})
dass Aktienkurse nicht nur vom Gewinn, sondern auch
von ganz anderen Dingen abhängen.
Ich frage mich, ob man sicher sein kann, dass der Kurs
der Postaktie steigt, wenn man das Monopol der Post beseitigt, ob ein Unternehmen, das durch den Staat künstlich
gestützt wird, für Investoren nicht Unsicherheiten mit sich
bringt, weil sich dieses Unternehmen nicht auf den Markt
eingestellt hat.
({1})
Mein Eindruck ist, dass in den großen Volksparteien,
im Übrigen auch in der CDU/CSU, häufig Skepsis gegenüber dem Wettbewerb und dem Markt bei Übergängen
von Monopolen zu Wettbewerbssituationen herrscht. Dahinter stecken natürlich teilweise berechtigte Befürchtungen; denn bestimmte Dinge müssen gewährleistet werden. Bei der Post ist es ganz klar: Eine Versorgung mit
Postdienstleistungen, sprich: die Lieferung und die Abgabe von Briefen, muss flächendeckend, also auch auf
dem Land, innerhalb eines bestimmten Zeitraums, der akzeptabel sein muss, gewährleistet werden. Jeder muss an
die Postversorgung angeschlossen sein. Das gilt sehr wohl
auch für andere Märkte, zum Beispiel für den Telekommunikations-, den Gas- und den Strommarkt. Auch auf
diesen Märkten ist dies machbar.
Ich teile nicht die Position, dass es für den deutschen
Strommarkt schlecht war, ihn so frühzeitig für den Wettbewerb zu öffnen. Im Gegenteil: Die deutschen Stromkonzerne - darauf muss man sehr deutlich hinweisen sind im europäischen Wettbewerb hervorragend positioniert. Auf lange Frist wird sich erweisen, dass die schwedischen und die deutschen Stromkonzerne, die sich sehr
früh einer Liberalisierung stellen mussten, wesentlich
besser fahren als diejenigen Konzerne, die später dazugekommen sind.
({2})
Die Vorteile des Marktes sind eminent. Das sieht man
insbesondere an den Preisen; ich nenne beispielsweise
den Telekommunikations- und den Energiebereich. Das
nützt der Volkswirtschaft, den Verbrauchern und der Industrie. Dass wir heute für 5 Pfennig pro Minute statt für
60, wie noch vor kurzer Zeit üblich, ein Ferngespräch
führen können, bietet gerade Niedrigverdienern eine
wirkliche Chance zur Kommunikation.
({3})
Ich habe bedauert, dass, als die Regulierungsbehörde
im März 2000 das Porto senken wollte, Minister Müller
sie angewiesen hat, dies bis 31. Dezember 2002 konstant
zu halten. Wir haben europaweit das zweithöchste Porto.
({4})
Ich halte es deswegen für wichtig, dass, wenn überhaupt
über die Verlängerung des Monopols gesprochen wird,
diese Weisung aufgehoben wird. Ich begrüße ausdrücklich, was Margareta Wolf gefordert hat, nämlich dass im
Wirtschaftsministerium in dieser Richtung nachgedacht
werden muss. Wir werden darüber auch weiterhin zu diskutieren haben.
({5})
Wir, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, wollen die
Einführung des Wettbewerbs auch für die Post und befinden uns deshalb in der Diskussion mit der SPD und mit
dem Wirtschaftsministerium. In der Tat gibt es auch Probleme, wenn man das Monopol verlängert. Es gibt Unternehmen, die bereits entsprechend investiert haben. Ich
weiß von Unternehmen, die schon Briefsortieranlagen gekauft haben und jetzt darauf sitzen bleiben.
Die Gefahr, dass ausländische Investoren kommen und
der Deutschen Post sozusagen den Markt streitig machen,
halte ich für ungeheuer gering.
({6})
Man muss 600 Millionen DM Investitionskosten vorschießen, wenn man tatsächlich die flächendeckende Versorgung in diesem Bereich übernehmen will. Auch in anderen Ländern, wie Schweden und Finnland, die schon
lange weitgehend liberalisiert haben, ist das nicht passiert.
Selbst auf den kleineren Märkten hat niemand angegriffen
und diesen Bereich übernommen. In Deutschland wäre
das noch wesentlich schwieriger.
Ganz anders sieht es aber mit den Nischen aus, die gerade kleine Unternehmen besetzen können. Es ist zum
Beispiel für Zeitungsverleger, die sowieso ihre Zeitung
verteilen, ganz attraktiv, vor Ort auch Briefe mitzuverteilen. Dabei machen sie - das gibt es teilweise schon - ganz
hervorragende Angebote, zum Beispiel die Post am selben
Tag oder über Nacht auszutragen. Es gibt auch schon AnElmar Müller ({7})
gebote, bei denen das Porto, von solchen Synergieeffekten getragen, eindeutig unter dem der Post liegt, also bei
etwa 80 Pfennig statt 1,10 DM.
({8})
Ich wäre allerdings dafür, das Postmonopol auslaufen
zu lassen. Wir werden gemeinschaftlich darüber reden
und sicherlich einen Kompromiss finden. Auf jeden Fall
muss klar sein, dass man es nicht auf zwei Legislaturperioden hinaus verlängert, sondern dass wir uns in der
nächsten Legislaturperiode darüber unterhalten werden.
Wenn Sie jetzt eine Kompromisssuche anprangern,
dann werde ich Sie daran messen, wie im Bundesrat abgestimmt wird. Falls die F.D.P. nach der Wahl in RheinlandPfalz, im letzten Bundesland, in dem sie mitregiert, noch
weiter in der Regierung sein sollte, was ich allerdings
nicht glaube
({9})
- gut, aber da haben Sie ja sowieso nichts zu sagen -,
({10})
wenn Sie also noch mit Beck zusammen regieren sollten,
dann werde ich genau darauf achten, wie sich die F.D.P.
im Bundesrat verhalten wird; denn soweit ich weiß, ist
Ministerpräsident Beck für die Verlängerung des Postmonopols. Ich werde auch genau beobachten, wie die Länder
Bayern und Sachsen, wie Berlin und Hessen in dieser
Frage abstimmen werden. Dann werden wir uns hier wiedersehen und über diese Frage reden.
({11})
- In der Tat, Hessen ist auch ein Bundesland. Ich werde
Hessen genau beobachten.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Funke?
Ja, wenn es sein muss.
Frau Kollegin, nach Ihrer fulminanten Rede habe ich fast den Eindruck, dass Sie
durchaus bereit sind, dem Antrag des Bundeswirtschaftsministeriums und der Bundesregierung zur Verlängerung
der Lizenz nicht die Zustimmung zu geben. Wie werden
Sie sich denn nun verhalten, wenn der Antrag der Bundesregierung eingebracht wird, das Gesetz zu ändern und
die Exklusivlizenz zu verlängern?
({0})
Da hat Herr Schmidt völlig Recht: Ein bisschen Spannung
muss sein.
Ich habe es in meiner Rede sehr deutlich gesagt: Wir
sind zurzeit mitten in der Diskussion über diese Frage.
({0})
Wir führen sie sehr solidarisch und gemeinschaftlich und
werden selbstverständlich - so ist es in der Politik - einen
Kompromiss finden.
({1})
- Nein, ich eiere nicht. Sie haben eben genau dargestellt,
wie es damals gewesen ist
({2})
und wie sich die F.D.P. verhalten hat: Sie wollte das Briefmonopol wesentlich früher aufgeben, hat dem Antrag
dann aber doch zugestimmt. Haben Sie damals geeiert?
({3})
Nein, Sie haben sich so verhalten, wie man sich in der Politik meistens verhält, wenn es unterschiedliche Vorstellungen gibt: Man sucht einen Kompromiss. Das werden
wir in diesem Punkt genauso tun.
({4})
Abschließend warne ich gerade Sie von der F.D.P. davor, die Backen so aufzublasen. - Wie gesagt: Ich werde
das Abstimmungsverhalten der Bundesländer haargenau
beobachten. - Denn sonst enden Sie genauso wie bei der
Steuerreform, dass Sie nämlich als Tiger losspringen und
als Bettvorleger landen.
Danke.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerhard Jüttemann von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor
wenigen Wochen ist bekannt geworden, dass die Deutsche
Post AG 12 000 Arbeitsplätze im Bereich Verkehr auslagern wird. Das wird das Aus für 12 000 tarifvertraglich
und sozial geschützte Arbeitsplätze bedeuten.
({0})
Die Postgewerkschaft nennt dieses Vorhaben zu Recht einen „platten Ausverkauf des Fahrdienstes“, der nicht hinzunehmen sei.
({1})
Ersetzt werden sollen die vernichteten Arbeitsplätze
durch Billigjobs. Das ist das Ergebnis Ihrer Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik im Postbereich: maßloses Lohn- und Sozialdumping.
Erst zu Anfang dieses Jahres ist bei der Post ein neuer
Tarifvertrag in Kraft getreten, der bei allen Neubeschäftigten zu gewaltigen Lohneinbußen führt. Hätten die Gewerkschaften ihm nicht zugestimmt, wären weitere Tausende Arbeitsplätze ausgelagert worden. „Auslagern“
heißt aber, wie wir gerade gesehen haben, nichts anderes
als vernichten. Das, was Sie schönfärberisch Wettbewerb
nennen, zersetzt das soziale Gefüge der Bundesrepublik.
Das Tempo dieses sozialen Kahlschlages erhöht sich
dabei in einer Weise, die noch vor kurzem kaum jemand
für möglich gehalten hätte. Zwischen 1995 und 2000 wurden laut Regulierungsbehörde 71 000 Arbeitsplätze bei
der Post platt gemacht. Natürlich drückt sich die Behörde
vornehmer aus; sie nennt das „Personalanpassung“. Warum, das werden wir gleich sehen.
Jedenfalls stehen dieser unglaublichen Zahl von 71 000
vernichteten Arbeitsplätzen insgesamt nur schlappe
27 000 Arbeitsplätze bei der Konkurrenz im Briefbereich
gegenüber. Wie sehen die neuen Arbeitsplätze aus, die
durch den Wettbewerb entstehen?
({2})
Von den 27 000 Beschäftigten handelt es sich bei 16 000
um geringfügig Beschäftigte ohne Sozialversicherungspflicht. So sieht die Qualität von 60 Prozent aller bei den
Konkurrenten entstandenen Arbeitplätze aus. Diesen
Skandal nennt die Regulierungsbehörde der Bundesregierung vornehm „Personalanpassung“.
Nun kommt noch etwas hinzu: Der gewaltige Stellenabbau bei der Deutschen Post AG hatte bisher direkt mit
der Konkurrenz noch gar nichts zu tun; denn im Briefbereich gab es weder Umsatz- noch Absatzrückgänge. Im
Gegenteil, es gab sogar Zuwächse. Nun kommt die F.D.P.
und fordert das Ende der Exklusivlizenz zum Ende des
Jahres 2002, damit es infolge der Konkurrenz der Turnschuhbrigaden endlich zu den lang ersehnten Umsatzund Absatzeinbußen kommt und damit die schon jetzt unerträgliche Entlassungswelle bei der Deutschen Post AG
zur unbeherrschbaren Lawine wird.
Übrigens ist Ihr Antrag nicht nur inhaltlich, sondern
auch formal überflüssig. Schließlich läuft der reservierte
Bereich laut Postgesetz ohnehin Ende 2002 aus. Was wir
wirklich brauchen, ist also nicht Ihren Antrag, sondern die
Änderung des Postgesetzes, um das zu verhindern. Was
derzeit aus dem Wirtschaftsministerium dazu zu vernehmen ist, klingt vernünftig.
Inzwischen geht ja selbst die Europäische Kommission davon aus, dass der Rückgang der Gesamtbeschäftigung im Postsektor bis 2007 anhalten werde. Als Grund
führt sie an - ich zitiere -, „dass der Stellenabbau durch
Effizienzsteigerungen größer ist als das durch das Marktwachstum bewirkte Plus“. Die Kommission hat deshalb
eine Beschäftigungsstudie in Auftrag gegeben, in der
nachgewiesen wird, dass die privaten Postkonkurrenten
schlechtere Beschäftigungsbedingungen anbieten. Die
Arbeitszeiten seien länger, die Grundlöhne geringer und
der gewerkschaftliche Organisationsrat sei erheblich
niedriger. Der europäische Ausschuss für Beschäftigung
und soziale Angelegenheiten hat deshalb eine weiter gehende Liberalisierung entschieden abgelehnt. Die Auswirkungen der vollständigen Liberalisierung auf die
Erbringung des Universaldienstes sind bisher überhaupt
noch nicht untersucht worden. Werden wir unterschiedliche Preise für gleiche Produkte bekommen? Welche
Nachteile wird es in ländlichen Regionen geben? Auch in
Deutschland liegen dazu keine Untersuchungen vor, wie
auch die sozialen Folgen für die Beschäftigten in
Deutschland nicht im Vorhinein untersucht werden. Doch
das ist die Forderung, die heute erhoben werden muss:
Untersuchen Sie die Folgen Ihrer sozialfeindlichen Postpolitik!
Ich danke. Denken Sie einmal darüber nach!
({3})
Jetzt hat
der Kollege Klaus Barthel von der SPD-Fraktion das
Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nachdem Elmar Müller selber die
Stichworte „gesamtwirtschaftliche Verantwortung“ und
„Telekom“ in die Debatte eingeführt hat, muss ich an dieser Stelle auf einen Vorgang eingehen, der auf den ersten
Blick nicht unmittelbar mit dem heutigen Thema zusammenzuhängen scheint, der mich aber sehr beunruhigt und
der letztlich auch in einem sehr engen Sachzusammenhang mit dem steht, was wir heute diskutieren.
Bisher habe ich Sie, Kollege Müller, für einen soliden
Kollegen gehalten, mit dem man zwar nicht immer einer
Meinung ist, der aber noch Maß und Ziel kennt.
({0})
Was wir aber vorgestern Abend im „Heute-Journal“ sehen
und hören mussten, steht außerhalb des Hinnehmbaren.
Deswegen frage ich Sie heute: Stimmt es, Herr Müller,
dass Sie der Ansicht sind, der deutsche Telekommunikationsmarkt sei nicht offen genug für US-amerikanische Unternehmen? Stimmt es, dass Sie es richtig finden,
dass man die Deutsche Telekom am Zugang zum Markt in
den USA hindern soll, damit sie in Deutschland gefügiger
wird? Stimmt es, dass Sie US-amerikanischen Stellen verzerrte und einseitige Informationen über die Situation auf
dem deutschen Markt zukommen lassen, die dann von den
Protektionisten vom Schlage des Senators Hollings
missbraucht werden, um den Zugang der Deutschen Telekom zum US-amerikanischen Markt zu verhindern?
({1})
Stimmt es, dass Sie die unglaublichen Schikanen, denen
ausländische Unternehmen in den USA unterworfen sind
- mittlerweile dauert es dort über ein Jahr, bis eine Unternehmensübernahme genehmigt wird -, auf eine Ebene mit
der deutschen Regulierungspolitik zerren, die - wohlgemerkt - für den deutschen Telekommunikationsmarkt, auf
dem sich US-amerikanische Unternehmen, für die die
Deutsche Telekom sogar die Gebühren eintreibt, begrüßenswerterweise mit großer Intensität und völlig ungehindert tummeln, zuständig ist?
({2})
Stimmt es, dass Sie der Ansicht sind, dass der Wettbewerb
so aussehen muss, dass Polizei und Geheimdienste, Regulierungsbehörden und Parlamente, Regierungskommissionen und Gerichte bei staatlicher Beteiligung an
ausländischen Unternehmen prüfen und prüfen müssen,
ob das nationale Interesse bei Unternehmenskäufen gewahrt bleibt?
({3})
Stimmt es, dass Sie sich bei derartigen Auswüchsen auch
dadurch zum Kronzeugen der US-amerikanischen Protektionisten machen lassen, indem Sie Schauermärchen
über den deutschen Markt und angebliche Machenschaften der Bundesregierung und der SPD verbreiten?
({4})
Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Kollege Müller: Entweder Sie distanzieren sich von den dubiosen Aktivitäten
des VATM und seiner Anwälte in den USA, bei denen Sie
als Informant und Ratgeber genannt werden,
({5})
und fordern, dass der US-Markt für europäische Unternehmen endlich genauso zugänglich wird, wie das umgekehrt
der Fall ist, oder Sie sind in Ihrer Rolle als Vorsitzender des
Beirates der Regulierungsbehörde für Telekommunikation
und Post nicht mehr tragbar. Ich hoffe in unserem gemeinsamen Interesse, Sie schaffen ersteres.
({6})
Um dasselbe Thema, nämlich um die internationale
Vergleichbarkeit von Marktzutrittschancen und faire
Wettbewerbsbedingungen auf internationalen Märkten,
geht es auch in der heutigen postpolitischen Debatte. Leider haben wir auch im Postsektor Ähnliches erlebt wie mit
Elmar Müller im Telekommunikationsbereich. Ich
meine - Herr Funke wird sich sicher erinnern - die Erscheinung, dass deutsche Parlamentarier - zumindest bei
einem ist es nachgewiesen - die Deutsche Post und die
deutsche Bundesregierung in Brüssel wegen angeblicher
Quersubventionierung angeschwärzt haben.
Ich stelle jetzt einmal fest: Schon heute hat die Bundesrepublik einen der offensten nationalen Postmärkte in
der Europäischen Union. Schauen wir uns die Situation
in Europa einmal an: In 13 von 15 Ländern gibt es reservierte Bereiche; in elf Ländern ist der reservierte Bereich
größer und nur in einem kleiner als in Deutschland. In nur
einem weiteren Land ist die Post nicht mehr ausschließlich in staatlichem Besitz. In nur einem weiteren Land ist
die Exklusivlizenz bisher befristet. In nur drei weiteren
Ländern gibt es einen Netzzugang für Wettbewerber. In
fünf nicht unwesentlichen Ländern gibt es einen offen zugegebenen Transfer vom Staat in die nationalen Postunternehmen. In kaum einem Land in Europa gibt es Pläne
oder Tendenzen in Richtung auf eine weitere Liberalisierung und Privatisierung der Postmärkte.
({7})
Sie sagen, es gebe seit 1997 keine neue Situation. Das
ist doch absolut lachhaft. Ich frage Sie: Weshalb sollte
sich daran etwas ändern, wenn der deutsche Markt geöffnet wird, wenn die schon vorgezogene Liberalisierung
bisher in dieser Richtung nichts bewirkt hat? Sie führen
an dieser Stelle immer Finnland und Schweden als Beispiele an und sagen, dort sei alles liberalisiert. Diese Länder sind Ihre großen Vorbilder.
Wie wäre es denn mit ein paar Fakten? In Schweden
sind seit der Marktöffnung 1993 die Porti für Briefe inklusive Mehrwertsteuer um 60 Prozent gestiegen. Dies
geschah trotz der Behauptung der F.D.P., durch eine Liberalisierung werde alles billiger. In Schweden steht der
Wettbewerb auf dem Papier. Trotz formaler Marktfreigabe werden 95 Prozent aller Briefe von der Staatspost
ausgeliefert. Es gibt keine asymmetrische Regulierung.
Die schwedische Post hat über 41 000 Beschäftigte. Sie
ist ein staatliches Unternehmen und wirft keinen Gewinn
ab. Rechnet man einmal die Beschäftigtenzahl der schwedischen Post auf die Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft Deutschlands um, müsste die Deutsche Post AG
370 000 Beschäftigte haben. Sie hat aber ein Drittel weniger, nämlich 240 000 Beschäftigte.
Schweden liegt am Rand Europas, hat 9 Millionen Einwohner und weite ländliche Räume. Deutschland in zentraleuropäischer Lage hat eine neunmal so große Bevölkerung.
Jetzt frage ich Sie von der F.D.P.: Weshalb kann man
wohl in Schweden den Markt so leicht liberalisieren?
Weshalb ist es wohl ein Unterschied, ob man den schwedischen oder den deutschen Markt öffnet? Warum haben
die postalischen Global Player und die Mittelständler so
große Lust auf Lappland?
({8})
Sind Sie bereit, mit uns zusammen eine Wirtschafts- und
Sozialpolitik nach dem schwedischen Modell zu machen,
bei dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine
Angst vor Umstrukturierungen haben müssen, weil es
dort massive sozialstaatliche Sicherungen gibt?
Wenn wir nun nicht mehr von Schweden reden wollen,
dann reden wir von halbwegs vergleichbaren europäischen Ländern. Warum ist man in Italien, in Frankreich
und in Großbritannien so wenig zu weiteren Marktöffnungen geneigt? Das liegt daran, dass die Lage dort anders als in Schweden ist. Diese Länder wissen aus Erfahrungen im eigenen Land, dass die Liberalisierung bei der
Post eben nicht der große Renner und deren Akzeptanz in
der Bevölkerung gering ist. In Großbritannien hat nicht
nur die Regierung gewechselt, auch die Stimmung ist zugunsten des Erhalts der Post als öffentliches Unternehmen
Klaus Barthel ({9})
und zugunsten eines reservierten Bereiches völlig umgekippt.
Warum sind auch wir gut beraten, mit der Postliberalisierung vorsichtig umzugehen? Erstens. Das viel strapazierte Beispiel der Telekommunikation passt überhaupt
nicht. Die Telekommunikation und ihr Umfeld in der IuKBranche wachsen volumen- und umsatzmäßig dynamisch. Marktanteilsverluste können dort durch Volumenund Umsatzzuwächse leicht aufgefangen werden.
Nur ein Beispiel: In den letzten drei Jahren hat sich das
Verkehrsvolumen im Festnetz um insgesamt 60 Prozent
erhöht, allein im letzten Jahr um 26 Prozent. Die Deutsche
Telekom konnte in diesen drei Jahren ihr Volumen um
rund 25 Prozent erhöhen, obwohl ihr die Wettbewerber einen Marktanteil von 22 Prozent abgenommen haben. Ich
frage Sie: Ist hier irgendjemand im Raum, der eine ähnliche Prognose für den Postsektor treffen möchte? Das bedeutete 60 Prozent mehr Briefe, mehr Massensendungen
und mehr Pakete in drei Jahren. Das wäre ein volumenmäßiges Wachstum von 20 Prozent im Jahresdurchschnitt.
Das ist ebenso wahrscheinlich wie die 18 Prozent für die
Drei-Pünktchen-Partei.
Zweitens. Im Postsektor gibt es durchaus Wachstumschancen. Derzeit bewegt sich das jährliche Volumen- und Umsatzwachstum bei 2 Prozent im Jahr. Das
mögliche Wachstum wird aber nicht durch die Exklusivlizenz behindert, weil dieses nicht in das Drittel des reservierten Postmarktes fällt, sondern in den freigegebenen
Bereich. Sie haben selber die Beispiele genannt. Es wird
niemand daran gehindert, Prospekte auszutragen oder
beim Paketservice Mehrwertdienste anzubieten.
Drittens. Was heißt das also? Bei einer zu raschen Liberalisierung würde in dem bisher geschützten Monopolbereich ein Verdrängungswettbewerb stattfinden - kein
Zuwachs an Qualität, sondern Überlebenskampf durch
Lohn- und Sozialdumping sowie ein Abbau von Leistungen gegenüber den Kunden.
Viertens. Noch ein Wort zu den selbst ernannten Mittelstandspolitikern aus der F.D.P. und der Union: Sie tun
immer so, als sei die schnelle Marktöffnung eine Chance
für kleinere und mittlere Unternehmen. Das ist ein Märchen und das wissen die UPS-Berater auch. Nur eine
schrittweise und harmonisierte Öffnung kann, wenn überhaupt, den kleinen und mittleren Unternehmen eine
Chance geben.
Wenn wir dagegen im Jahre 2003 auf einen Schlag einseitig unseren Markt öffnen, dann ist das die Stunde der
Post- und Logistikkonzerne aus den Nachbarländern. Die
kleinen und mittleren Unternehmen können nicht auf einen Schlag 600 Millionen DM aufbringen - Frau Hustedt
hat es schon angesprochen -; dies können nur große Unternehmen. Wir hätten dann Verhältnisse wie im Güterfernverkehr und auf den Baustellen: organisiertes Lohnund Sozialdumping zulasten der Sicherheit, zulasten des
Mittelstandes, zulasten der Kunden, zulasten der Infrastruktur und zulasten der Arbeitsplätze. Das wäre ein fliegendes Suizidkommando und das geht mit uns nicht.
({10})
Nur mit einer schrittweisen, sozial flankierten und mit
einer konsequenten Bekämpfung illegaler Praktiken sowie der Sicherung des Universaldienstes verbundenen,
europäisch abgestimmten Liberalisierung können wir diesen Tendenzen begegnen.
Wir laden alle recht herzlich ein, uns auf diesem Weg
zu begleiten. Wir haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass insbesondere der Bundesrat zum Beispiel bei
der Frage der Infrastruktur noch an die Länderinteressen
denkt. Rechtlich ist eine Verlängerung des reservierten
Bereichs, beispielsweise bis zum Jahre 2007, völlig unproblematisch. Ein Blick in das Gesetz und die Erinnerung an das Vermittlungsverfahren zum Postgesetz von
1997 - Stichwort § 47, Herr Funke, auch wenn Sie sich
immer nur an die eine Seite des Kompromisses erinnern
können - ersparen uns sinnlose Debatten.
Zum Schluss, damit wir uns richtig verstehen: Für uns
ist ein reservierter Bereich für ein privates Unternehmen
weder eine Ideallösung noch ein Dauerzustand. Ein reservierter Bereich für sich allein bewirkt nichts anderes als
Einnahmensicherheit. Aber die Entwicklungen bei der
Deutschen Post - Stichworte: Benachteiligung ländlicher
Räume durch Mindestvolumen bei Wurfsendungen, Outsourcingpläne in der Sparte Transport und Unterlaufen
der Universaldienstverordnung - verfolgen wir mit Sorge
und Kritik. Die Ziele und Zwecke des reservierten Bereichs sind und bleiben für uns klar - und wir werden sie
durchsetzen -: Kundeninteresse, Infrastruktur und Arbeitsplätze. Es wird also keinen Freibrief für die Post AG
geben, und zwar weder bei der Höhe des Portos ab 2003
noch bei den anderen genannten Bereichen.
Kommen
Sie bitte zum Schluss!
Wie Sie wissen,
planen Koalitionsfraktionen und Regierung eigene Initiativen zum weiteren Vorgehen in der Postpolitik. Unter
Hinweis darauf und in der Hoffnung, dass gemeinsames
Nachdenken doch noch zur Einsicht führt, weisen wir den
F.D.P.-Antrag heute nur inhaltlich zurück, stimmen aber
einer Überweisung an die Ausschüsse zu.
({0})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen
Elmar Müller.
Herr Kollege
Barthel, Sie hatten etwas angesprochen, das mich, wie
viele andere auch, seit 24 Stunden amüsiert. Ich habe es
persönlich nicht gesehen, aber angeblich soll ein
Unternehmer in Washington vor einer Behörde auf und ab
gesprungen sein und mit einem Papier gewedelt haben,
das von mir stammen soll.
Ich will Ihnen nun sagen, was zwischen mir, nachdem
ich als Mitglied des Beirats der Regulierungsbehörde anKlaus Barthel ({0})
gegangen worden bin, und der FCC an Austausch erfolgt
ist: Anfang Dezember des vergangenen Jahres erreichte
mich ein Anruf aus Washington, in dem mir mitgeteilt
wurde, es gebe in den amerikanischen Zeitungen eine
Diskussion über dieses Thema. Man wollte wissen, wie
denn das Ganze zustande gekommen sei, da man die Vorgänge nicht ganz verstehe. Ich habe daraufhin geantwortet, seit 14 Tagen werde in den Wirtschaftsabteilungen der
Zeitungen ein Papier diskutiert, das von dem Kollegen
Barthel stamme, welches am 4. Dezember veröffentlicht
und außerdem ins Internet gestellt worden sei. In diesem
Papier bringe die große Regierungspartei zum Ausdruck,
die Regulierung bei Post und Telekom müsse überprüft
und zurückgefahren werden, und dagegen hätten sich
nicht nur ich, sondern auch eine ganze Menge von Wirtschaftssachverständigen gewehrt.
Die Frage, ob man dieses Papier haben könne, habe ich
mit Ja beantwortet. Ich habe dieses Papier kommentarlos
nach Washington gefaxt. Dieses Papier war das Einzige,
was zwischen mir und dieser Einrichtung ausgetauscht
worden ist.
Herr Kollege Barthel, ich frage Sie: Ist es denn wirklich eine Schande, ein Papier eines Mitglieds einer Regierungsfraktion im Austausch zwischen deutschen und USamerikanischen Parlamentariern - ich sage es noch mal:
ohne jeglichen Kommentar von mir - nach Amerika zu faxen? Ist ein solches Papier, das von der SPD-Fraktion am
4. Dezember des vergangenen Jahres veröffentlicht worden ist, etwa so geheim, dass man es den Kollegen jenseits
des Atlantiks nicht zur Kenntnis bringen darf? Wie verhält
es sich also mit solchen Papieren? Ich habe heute Nachmittag gehört, dass dieses Papier offensichtlich nicht ganz
autorisiert war und dass ihm in den vergangenen Tagen
die Zähne gezogen worden sind. Ich kenne allerdings die
Neuauflage dieses Papiers nicht.
Auf alle Fälle, Herr Kollege Barthel, bestand der einzige Kontakt zwischen mir und einem Anwalt in Washington in dem Austausch Ihres Papiers.
Herr Kollege Barthel zur Erwiderung.
Herr Müller, es
geht überhaupt nicht um dieses Papier; denn dieses stand
nicht im Zusammenhang mit dem Bericht des ZDF im
„Heute-Journal“. Sie sollten sich einmal anschauen, wie
der Sachverhalt in diesem Bericht dargestellt worden ist
und wie Sie dort zitiert worden sind.
In den Berichten, die in die USA gelangt sind, werden
Sie nicht primär mit irgendwelchen Aussagen zu meinem
Papier, sondern mit Aussagen über die Offenheit des deutschen Telekommunikationsmarktes und damit zitiert, dass
Sie die dort herrschenden Zustände bedauert haben. Dort
hieß es, Sie hätten versucht, Benachteiligungen und
Einschränkungen glaubhaft zu machen, die es angeblich
auf dem deutschen Telekommunikationsmarkt gebe. Damit haben Sie für die US-amerikanischen Beobachter indirekt die Legitimation geliefert, die Deutsche Telekom
auf ihrem Weg in die USA zu behindern.
Wenn das alles nicht stimmt und Ihre Aussagen falsch
wiedergegeben worden sind, was durchaus sein kann
- wir wissen ja, wie das manchmal läuft -, dann bitte ich
Sie dringend: Schauen Sie sich den Bericht genau an; stellen Sie das Ganze schriftlich klar und distanzieren Sie sich
von dem, wofür Sie in Anspruch genommen worden sind.
Wenn Sie das tun, müssen wir über die Sache hier nicht
weiter reden. Aber angesichts der heiklen Situation, in der
wir uns befinden, erwarte ich von Ihnen, dass Sie eine
deutliche Haltung zu dieser Sache einnehmen. Darum
ging es mir und um nicht mehr.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5333 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
10. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Uta
Zapf, Brigitte Adler, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Winfried Nachtwei, Dr. Uschi Eid,
Angelika Beer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Förderung der Handlungsfähigkeit zur zivilen
Krisenprävention, zivilen Konfliktregelung
und Friedenskonsolidierung
- Drucksachen 14/3862, 14/5283 Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Zapf
Clemens Schwalbe
Ulrich Irmer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das
Wort zu diesem Tagesordnungspunkt die Kollegin Uta
Zapf von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der Titel des Tagesordnungspunktes, den der Präsident gerade vorgelesen hat, hat heute tragische Aktualität erlangt, weil eine Situation eingetreten ist, die beweist, wie dringend die Förderung von Krisenprävention
und Krisenbewältigung ist: Die Eskalation der Gewalt in
Mazedonien, die wir heute in den Nachrichten sehen
konnten - ich nehme an, einige von Ihnen haben die
Nachrichten vernommen -, zeigt, dass wir noch ein
großes Stück zu gehen haben und dass das, was wir bisher
auf dem Balkan getan haben, noch immer nicht ausreicht.
Elmar Müller ({0})
Ich lese ein paar Schlagzeilen vom heutigen Morgen vor:
„Konflikt greift auf Mazedonien über“, „Albanische Extremisten liefern sich heftige Gefechte mit der mazedonischen Armee“, „Verteidigungsminister“ - gemeint ist der
mazedonische - „sieht Land am Rande eines Krieges“,
„Blutige Gefechte verschärfen Krise in Mazedonien“,
„Mazedonische Minderheiten flüchten aus Tetovo“.
Deshalb, lieber Kollege Irmer, hoffe ich, dass Sie heute
nicht wieder dasselbe Urteil über ein solches Konzept
der Krisenprävention fällen, wie Sie das das letzte Mal
gemacht haben; denn es ist kein „Schmarren“, und es ist
keine „weiße Salbe auf eine grüne Seele“.
({1})
Wenn es an dieser Stelle um eine Seele geht, dann um die
rot-grüne; denn sowohl die Grünen als auch wir als Sozialdemokraten haben uns seit Jahren um diesen Bereich
gekümmert, als noch niemand dieses Wort richtig aussprechen konnte - zu Recht, wie ich denke. Es ist auch
gut, dass diese Koalition endlich angefangen hat, diese
Dinge in die Hand zu nehmen und auf allen Ebenen zu
entwickeln. Das, was wir wollen, ist keine Heilsarmee
von „Gutmenschen“ und Fernethikern. Es geht um Instrumente, die dringend notwendig sind, um Mord und
Totschlag zu verhindern - wenn es uns denn gelingt. Was
wir wollen, sind auch keine gläsernen Weihnachtszwerge
mit Korkhämmern, die „Frieden, Frieden“ schreien. Ich
denke, wir müssen dieses Thema wirklich ernster nehmen, als Sie, lieber Kollege, das zu meiner großen Enttäuschung beim letzten Mal getan haben.
({2})
Vielleicht hilft die aktuelle Situation, dieses etwas ernster zu nehmen, endlich auch mehr dafür zu tun und entsprechend zu handeln. Das, was da passiert, ist doch ein
Beweis dafür, dass die internationale Staatengemeinschaft immer noch unvollkommen mit den vorhandenen
Instrumenten zur Friedenskonsolidierung und Krisenprävention umgehen kann.
Wenn Rolf Paasch am 13. März in der „FR“ schreibt,
dass das, was da passiert, ein Armutszeugnis für die
NATO in Sachen Friedensmission sei, dann ist dieses Urteil sicher nicht richtig, aber dann beweist das doch die
Notwendigkeit der Weiterentwicklung und der Verbesserung der Instrumente und der Konzepte. Wir müssen in
dieser Situation schneller und einiger reagieren, als sich
das - leider - bisher abzeichnet. Ich denke, ein Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft mit Polizei und Sicherheitstruppen, um eine weitere Eskalation zu
verhindern, ist dringend angesagt.
Dann müssen wir uns überlegen: Was haben wir vielleicht in diesem Zusammenhang falsch gemacht? Die
halbherzige Entwaffnung der UÇK im Kosovo zum Beispiel haben wir alle mit Unbehagen gesehen. Dass da so
eine Art technisches Hilfswerk in Form des KosovoSchutzkorps aufgestellt worden ist, war uns auch nicht so
ganz geheuer. Jetzt erweist sich, welche Fehler und Mängel dort passiert sind. Es wäre ein Demobilisierungsprogramm mit einer echten Zukunftsperspektive für die jungen Menschen angesagt gewesen.
Aber im Moment sieht es ganz anders aus. Das macht
mir tiefe Sorge. Beim KPC und bei dem einzigen größeren Arbeitgeber, dem Energieunternehmen KEK, wo auch
lauter ehemalige UÇK-Kämpfer untergekommen sind,
wird es eine Entlassungswelle geben, sodass in den nächsten zwei Jahren circa 5 000 bis 7 000 ehemalige Kämpfer
auf der Straße stehen werden, ohne Arbeit, ohne Perspektive, ohne Zukunft. Was das in einer Situation bedeutet, da
die Konflikte, die wir dort zu beruhigen versuchen, immer
noch schwelen und an der einen oder anderen Stelle
eskalieren, das brauche ich Ihnen, glaube ich, nicht auszumalen.
({3})
Es gibt also mehr als genug Alarmsignale, die uns veranlassen sollten, jetzt diese Konzepte weiterzuentwickeln,
weiter auszubauen und in diesem Bereich Ernst zu machen.
Der Kollege Clemens Schwalbe, der beim letzten Mal
für die CDU geredet hat, hat beklagt, dieser Antrag tue so,
als werde Prävention hier erstmals propagiert. Das ist
natürlich nicht richtig. Das meint dieser Antrag auch
nicht.
({4})
Aber dieser Antrag lobt die Bundesregierung mit Recht,
weil sie eine konsequente nationale und internationale
Politik der Prävention und des Krisenmanagements
eingeleitet, konsequent aufgebaut und weitergeführt hat.
Sie gedenkt dies auch in Zukunft zu tun.
({5})
Wir versuchen, mit diesem Antrag Bausteine dazu zu liefern. Aber jeder ist eingeladen, an diesem Konzept mitzuarbeiten und es weiterzuentwickeln. Wir brauchen eine
Gesamtstrategie für Prävention und Konfliktbearbeitung,
die umfassend und ressortübergreifend sein muss. Eine
solche Strategie - das sehen wir an jeder Stelle - ist nur
im internationalen Rahmen wirksam.
Ich nenne einige Stichworte aus dem Grundsatzpapier der Bundesregierung „Krisenprävention und Konfliktbeilegung“, um klarzumachen, was zu einem solchen
Gesamtkonzept gehört:
Dazu gehört - das ist ein ganz schwieriger Punkt - eine
Fortentwicklung des Völkerrechts. Darüber sind wir uns
alle einig.
Dazu gehört eine Verrechtlichung der Konfliktaustragung. In diesem Punkt sind wir uns mit dem Internationalen Gerichtshof und anderen Schlichtungsformen ein
Stück weit einig. Aber auch das garantiert noch keinen Erfolg.
Dazu gehört eine integrierte Entwicklungspolitik. Das
heißt, dass wirtschaftliche, soziale und ökologische
Aspekte sowie Rechtsstaatlichkeit in andere Politiken
- auch auf EU-Ebene - integriert und besser koordiniert
werden müssen.
Dazu gehört Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Dazu gehört schließlich der Aufbau von zivilen Strukturen der Konfliktbearbeitung unter Einbeziehung der
NGOs. Ein guter Teil unseres Antrages beschäftigt sich
mit diesem Feld. Das ist insofern gerechtfertigt, weil es
sich um Organisationen handelt, die von den Konflikten
und von den Zuständen vor Ort sehr viel Ahnung haben;
deshalb ist die Kooperation mit diesen Organisationen
dringend erforderlich.
({6})
Wir brauchen den Aufbau einer Infrastruktur, wie er
jetzt begonnen worden ist. Meines Erachtens besteht darin
die zentrale Leistung der Bundesregierung in diesem Bereich. Wir brauchen zudem eine Integration in die internationalen Strukturen. Auf der EU-Ebene haben wir mit
dem zivilen Ausschuss für Konfliktprävention begonnen
- auch das ist ein großes Verdienst dieser Bundesregierung -, eine solche Infrastruktur zu schaffen, genauso wie
auf der OSZE-Ebene. Der zivile Friedensdienst, den die
CDU 1997 noch abgelehnt hat, und das Ausbildungsprogramm für die zivilen Experten integrieren sich in diese
Strukturen. Das ist auch so beabsichtigt, weil es anders
gar nicht geht.
Ich bin froh, dass wir heute, anders als zum Beispiel
zum Zeitpunkt der Kosovo-Verifikationsmission, einen
Personalpool haben und nicht mehr in die Situation kommen könnten, die gegenüber der Mission zugesagten
80 Personen über Monate hinweg mühsam suchen zu
müssen.
Es gibt im Auswärtigen Amt ein Krisenreaktionszentrum und einen Sonderbeauftragten für die Krisenprävention. Sie arbeiten mit all den anderen Instanzen, die zum
Beispiel bei der OSZE oder bei der UNO angesiedelt sind,
zusammen. Im Übrigen müssen wir berücksichtigen, dass
die UNO - eine Entscheidung über den Brahimi-Report
steht aus - in diesem Sinne gestärkt und weiterentwickelt
werden muss. Natürlich wird das Geld kosten. Aber wie
viel mehr wird es kosten, wenn immerfort Kriege geführt
werden? Irgendjemand Schlaues hat einmal ausgerechnet,
dass der Jugoslawien-Konflikt bisher insgesamt eine dreistellige Milliardensumme gekostet hat. Wenn wir das irgendwo im Hinterkopf haben, dann werden wir nicht
mehr so knickrig sein. Dies muss auch unsere Haushaltsberatungen berühren.
({7})
Ich plädiere sehr dafür, dass wir dieser Erkenntnis, die wir
alle haben, in Zukunft auch insofern Rechnung tragen, als
wir in unseren Haushalten zusätzliche Gelder einstellen.
Ich finde es angesichts der vorhandenen Konflikte erfreulich - das muss man vielleicht wirklich einmal laut sagen -, dass innerhalb der europäischen Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik beide Elemente, nämlich
das militärische und das zivile Element, damit also das
präventive, berücksichtigt worden sind. Das, was wir
heute im Fernsehen gesehen haben und morgen in der
Presse lesen können, beweist doch, dass wir zwar ohne
den militärischen Fuß nicht auskommen, dass es aber
ohne den zivilen überhaupt nicht geht. Wir brauchen zivile Maßnahmen, um weit im Vorfeld zu vermeiden, dass
Gewalt ausbricht und dann militärisch reagiert werden
muss. Wir brauchen zivile Maßnahmen aber auch, um
ausgebrochene Gewalt einzudämmen und in eine Situation zu kommen, in der Frieden wieder aufgebaut werden
kann.
Ich bin froh, dass diese Konzeption der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik nicht rein militärischer Art
ist, sondern ihr der erweiterte Sicherheitsbegriff zugrunde
liegt, der all das, was ich vorher gesagt habe, in Bezug auf
Entwicklungspolitik, auf Ökonomie und auf soziale Zustände, berücksichtigt.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass ein wichtiges Problem noch nicht gelöst ist - etwas, was wir nicht
anders lösen können als durch einen ständigen offenen
Diskurs über das Problem -, nämlich die Akzeptanz von
internationaler Konfliktvermittlung in Fällen, in denen
sich Kontrahenten gegenüberstehen und selber nicht zu
einer friedlichen Lösung kommen. Das ist auch der Grund
dafür, dass die Beratungen über den Brahimi-Bericht im
Moment ins Stocken geraten sind. Wir sollten dazu beitragen, dass die Akzeptanz solcher Vermittlung und auch
der Wille der Konfliktparteien zur Annahme dieser gestärkt wird. Dem entgegen steht immer der Souveränitätsgedanke; dieser stellt ein großes Hindernis dar.
Kommen
Sie bitte zum Schluss!
Ich bin sofort beim letzten Satz meiner Rede. - Meine Damen und Herren, wir wissen, dass
alle diese Instrumente, die ich eben dargestellt habe, im
Zweifelsfall nicht ausreichen und keine Garantie darstellen. Wenn wir aber nicht alle Instrumente stärken und nutzen, die im Rahmen eines solchen umfassenden Sicherheitsbegriffes zur Verfügung stehen, dann werden wir
keine Chance haben, durch Konfliktprävention zukünftig
Leid und Elend da, wo wir es können, zu verhindern.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Ruprecht Polenz von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Quintessenz des vorliegenden Antrags der Koalitionsfraktionen lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Vorbeugen ist besser als heilen. Wer wollte dieser Lebensweisheit widersprechen?
Natürlich haben Sie Recht, wenn Sie schreiben:
Die Chancen, humanitäre Krisen, Kriege oder
gewalttätige Konflikte erfolgreich zu verhindern,
sind am größten, wenn auf der Grundlage einer fundierten und permanenten Konfliktanalyse frühzeitig
gehandelt wird.
Es ist auch richtig, um einen weiteren unstrittigen
Punkt zu nennen, dass wir es, wie Sie in Ihrer Analyse
feststellen, heute weniger mit bewaffneten Konflikten
zwischen Staaten zu tun haben, sondern
dass das Gros der heutigen bewaffneten Konflikte
innerstaatlicher Natur ist.
Auch sonst stehen auf den neun Seiten Ihres Antrages
viele Punkte, die seit langem unstrittig sind, wie etwa das
Erfordernis einer
Stärkung und Mitgestaltung der multilateralen und
europäischen Entwicklungszusammenarbeit im Bereich von Krisenprävention und ziviler Konfliktbearbeitung.
Ich habe mich angesichts so vieler Selbstverständlichkeiten gefragt, weshalb Sie das alles in einem Antrag aufschreiben. Sie mögen mich umgekehrt fragen, warum wir
Ihrem Antrag nicht zustimmen, obwohl auch Richtiges
drinsteht. Auf beides will ich eine Antwort geben.
Warum stellen Sie den Antrag? Der Hauptgrund ist,
dass die rot-grüne Basis nach der militärischen Intervention im Kosovo beruhigt werden musste.
({0})
Jahrelang hatten Sie der alten Bundesregierung eine Militarisierung der Außenpolitik vorgeworfen. Der Vorwurf
war zwar falsch, böswillig und völlig unbegründet, er
drohte sich aber wegen der Intervention im Kosovo gegen
Sie selbst zu wenden. Frau Beer und der Außenminister
können ein Lied davon singen.
Herr Kollege Polenz, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Zapf?
Gerne.
Bitte,
Frau Zapf.
Herr Kollege Polenz, ich möchte Sie
fragen, ob Ihnen entgangen ist, dass schon in der letzten
Legislaturperiode von der SPD ein ziemlich ähnlicher Antrag in den Bundestag eingebracht worden ist, der dann
leider der Diskontinuität am Ende der Legislaturperiode
anheim gefallen ist. Ist Ihnen das entgangen? Würden Sie
angesichts einer vielleicht wieder aufgefrischten Erinnerung immer noch behaupten, dass dieser Antrag als Placebo für rot-grüne Klientel gedacht sei?
({0})
Dieser damalige Vorgang ist mir nicht nur nicht entgangen. Ich habe heute
noch mit meinem Kollegen Laschet telefoniert. Er berichtete mir von den Bestrebungen in der letzten Legislaturperiode, zu einer gemeinsamen Entschließung aller
Bundestagsfraktionen zu kommen. Ich will aber gleich
begründen, wie ich dennoch zu meiner Ansicht komme,
Frau Kollegin.
Dieser Vorwurf der Militarisierung der Außenpolitik
drohte sich, wie gesagt, durch die Intervention im Kosovo
gegen Sie selbst zu wenden. Deshalb gab es zur Beruhigung der aufgebrachten Basis einen Antrag, in dem die zivile Krisenprävention und die zivile Konfliktregelung betont wird. Der Text wurde vorsorglich so formuliert, dass
ihn jeder Koalitionsabgeordnete unkommentiert an alle
im Wahlkreis verschicken konnte, die sich mit kritischen
Fragen wegen des Militäreinsatzes im Kosovo gemeldet
hatten. Er ist ein Placebo, um die Reste der fundamentalen
Pazifisten bei der rot-grünen Stange zu halten.
Der zweite Grund für Ihren Antrag ist die deutliche
Kritik vor allem von Nichtregierungsorganisationen an
den massiven Kürzungen, die Sie in der Entwicklungshilfepolitik vorgenommen haben. Dieser berechtigten Kritik setzen Sie in Ihrem Antrag ein entschlossenes Eigenlob entgegen nach dem Motto: „Wenn
uns schon niemand anderes lobt, dann tun wir das eben
selbst.“ Aber ist dieses Eigenlob berechtigt? Hat die Bundesregierung die Streicheleinheiten nicht nur nötig, sondern auch verdient? Ich meine, nein, und will das im Folgenden begründen.
Wir sind uns sicher darüber einig, dass Armut in der
Welt nicht nur aus humanitären Gründen bekämpft werden muss, sondern dass Armut auch eine besonders brisante Ursache für Konflikte ist. Was tut die Bundesregierung zur Armutsbekämpfung? Vor allem: Tut sie auch
genug?
Weil Sie meine Kritik vielleicht als parteilich abtun
würden, möchte ich Ihnen vorhalten, was die Deutsche
Welthungerhilfe und das Hilfswerk terre des hommes in
ihrer Zwischenbilanz zu zwei Jahren rot-grüner Entwicklungspolitik vor kurzem festgestellt haben. Ich zitiere:
Die Analyse des entwicklungspolitischen Teils im
Bundeshaushalt zeigt, dass die Bundesregierung
auch in ihrer eigenen bilateralen Politik gegenüber
früheren Bemühungen zur Armutsbekämpfung
zurückfällt.
Mit anderen Worten: Die frühere Bundesregierung hat
mehr gegen die Armut getan als jetzt Rot-Grün.
({0})
Immer wieder ist in Ihrem Antrag - übrigens zu
Recht - die Rede davon, dass die Entwicklung einer
kohärenten, ressortübergreifenden Gesamtstrategie zur
zivilen Krisenprävention unverzichtbar sei. Auch in diesem Punkt ist nach dem Urteil von Welthungerhilfe und
terre des hommes das rot-grüne Eigenlob unbegründet.
Ich zitiere:
Die Proklamation der Bundesregierung, künftig globale Strukturpolitik betreiben zu wollen, ist instituRuprecht Polenz
tionell noch nicht angemessen umgesetzt worden.
Auch unter rot-grüner Bundesregierung verläuft die
interministerielle Kooperation hinsichtlich der
schnell wachsenden globalen Herausforderungen
weiterhin in den seit Jahrzehnten praktizierten traditionellen Bahnen. Besondere Anstrengungen, durch
institutionelle Reformen einer kohärenten globalen
Strukturpolitik näher zu kommen, sind nicht erkennbar.
In ihrer Kritik warnen terre des hommes und Welthungerhilfe die Bundesregierung davor, in eine Omnipotenzfalle
zu geraten, also zuerst das Blaue vom Himmel zu versprechen, um später eingestehen zu müssen, dass die
Kräfte zu schwach waren, um die hoch gesteckten Ziele
zu erreichen.
Diese Sorge muss man auch beim Lesen Ihres Antrages haben. Er vermittelt nämlich den Eindruck, dass sich
die Konflikte dieser Welt in Wohlgefallen auflösen würden, wenn nur verwirklicht würde, was SPD und Grüne
aufgeschrieben haben. Der Nordirlandkonflikt, der Nahostkonflikt, der Zypernkonflikt, der Kaschmirkonflikt,
die Konflikte in Tschetschenien, Indonesien und Afrika als wenn es so einfach wäre, all diese Konflikte zu lösen,
wie Ihren Antrag zu Papier zu bringen.
Bei allem Ehrgeiz in der Zielsetzung - da sind wir uns
einig -, mehr und besser zur Konfliktprävention und zur
friedlichen Konfliktlösung beizutragen:
({1})
Etwas mehr realistische Bescheidenheit, Herr Kollege
Nachtwei, wäre schon angebracht.
({2})
Bei Ihrem Eigenlob tun Sie so, als hätten Sie zivile
Konfliktprävention erfunden. Dabei ist vor dem Hintergrund unserer Geschichte der gesamte Prozess der europäischen Einigung und Integration geradezu der Modellfall für eine zivile Konfliktprävention,
({3})
die an strukturellen Ursachen ansetzt und mit einer aufeinander abgestimmten Koordinierung praktisch aller Politikbereiche darauf antwortet. Dieser Prozess der europäischen Einigung und Integration wird in Deutschland vor
allem mit den Namen von Konrad Adenauer und Helmut
Kohl verbunden.
({4})
Zur zivilen Konfliktprävention der früheren Bundesregierung gehören übrigens auch die Wirtschaftshilfen und
Kredite an Russland, die nicht zuletzt deshalb gegeben
wurden, um Russland auf seinem Weg zur Demokratie
und Marktwirtschaft zu helfen. Wenn Sie also bei jeder
Kritik an Ihrer Kürzungspolitik nicht müde werden, auf
die Verschuldung unseres Staates hinzuweisen, dann müssen Sie ebenso feststellen, dass auch diese Hilfeleistungen
in unserer unmittelbaren Nachbarschaft im Sinne einer
zivilen Konfliktprävention zu unserer Verschuldung beigetragen haben. Ich bleibe dabei: Für den beschleunigten
Abzug der Roten Armee aus Deutschland war dieses Geld
gut angelegt.
({5})
Auch die von Ihnen zunächst abgelehnte Öffnung der
NATO für die Reformstaaten Mittel- und Osteuropas hat
einen wirksamen Beitrag zur zivilen Konfliktprävention
geleistet. Weil es eine Vorbedingung für den Beitritt war,
Minderheiten im eigenen Staat zu schützen und Konflikte
mit Nachbarn auszugleichen, wurden gleichsam als Vorwirkung des erstrebten NATO-Beitritts die Bedingungen
für Minderheiten in Polen, Ungarn und der Slowakei verbessert und Spannungen beispielsweise zwischen Polen
und Litauen oder der Slowakei und Ungarn abgebaut.
({6})
Zivile Krisenprävention also als Vorwirkung eines erstrebten Beitritts zu einem militärischen Verteidigungsbündnis.
({7})
Damit bin ich bei meinem Hauptvorwurf und Hauptkritikpunkt: Sie sprechen zwar von einem umfassenden
Sicherheitsbegriff, spielen aber nach wie vor zivile Krisenvorsorge und militärische Krisenprävention gegeneinander aus.
({8})
Sie erwecken den Eindruck, als ließe sich sicherheitspolitische Vorsorge - bei gutem Willen und wenn man sich
nur genug anstrengt - allein durch zivile Krisenprävention betreiben. Wir brauchen aber beides: zivile
und militärische Krisenprävention.
({9})
Das Beispiel Mazedonien, auf das Sie verwiesen haben,
belegt das augenscheinlich.
Sie fordern die Bundesregierung auf - das ist nicht nur
richtig, sondern dringend notwendig -,
sicherzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen ihrer Außen-, Sicherheits- und
Entwicklungspolitik personell, institutionell und finanziell in der Lage ist, einen ihrem politischen und
ökonomischen Gewicht angemessenen Beitrag zur
internationalen zivilen Krisenprävention, Konfliktregelung und Friedenskonsolidierung zu leisten.
Ebenso notwendig und richtig wäre es, die Bundesregierung dazu aufzufordern, dass sie auch auf dem Gebiet
der militärischen Krisenprävention und Sicherheitsvorsorge den Beitrag leistet, der unserem politischen und
ökonomischen Gewicht angemessen ist. Denn auf beiden
Feldern tut die Bundesregierung zu wenig.
({10})
Aber hier ist von Ihnen nichts zu hören. Sie bleiben wegen der unbelehrbaren Reste Ihrer fundamental-pazifistischen Klientel
({11})
wie zu Oppositionszeiten dabei und spielen zivile und militärische Krisenprävention gegeneinander aus. Damit
enthalten Sie Ihren Anhängern den Lerneffekt vor, den jedenfalls ein Teil von Ihnen in der Regierungsverantwortung gehabt hat.
Mit den Rüstungsexporten ist das übrigens ganz genau so. Wie haben Sie die unionsgeführte Bundesregierung wegen ihrer Rüstungsexporte kritisiert! Jetzt hat die
deutsche Rüstungsindustrie unter der Schirmherrschaft
der rot-grünen Bundesregierung im Jahre 1999 Waffen im
Wert von 5,9 Milliarden DM exportiert.
({12})
Das waren erstens mehr als je zuvor und damit zweitens
mehr als zur Regierungszeit von Helmut Kohl.
({13})
Damit wir uns hier nicht missverstehen: Ich will nicht
die Höhe der Waffenexporte kritisieren. Denn ich gehe davon aus, dass überwiegend NATO-Partner zu den Empfängerländern gehörten
({14})
und dass unsere seit Jahrzehnten außerordentlich restriktive Rüstungsexportpolitik auch 1999 durchgehalten
wurde und Waffen nicht in Krisen- oder Spannungsgebiete exportiert wurden.
({15})
Ich erwarte und verlange aber dann von Ihnen, dass Sie
entweder den Lerneffekt der eigenen Regierung nachvollziehen und zu diesen Rüstungsexporten stehen oder Ihre
eigene Regierung mit den Maßstäben messen, auf deren
Basis Sie uns seinerzeit kritisiert haben.
({16})
Mit grüner Dialektik, wie man sie von der sicherheitspolitischen Sprecherin der Grünen hören konnte, lassen sich
diese Widersprüche nicht wegreden. Das ist nicht grüne
Dialektik, sondern Sprechen mit doppelter Zunge.
({17})
Sie haben also noch eine Menge Fragen in Ihren eigenen Reihen zu klären, ehe Sie wirklich eine kohärente Sicherheitspolitik formulieren können, die alle notwendigen Elemente umfasst. Bis dahin erweist sich Ihr Gerede
von einem umfassenden Sicherheitsbegriff als leere
Hülse. Denn oft wirkt zivile Krisenprävention doch nur
deshalb, weil der Adressat der Maßnahmen - etwa der von
Ihnen geforderten effektiveren, nicht militärischen Sanktionen - einlenkt und friedlich wird, da am Ende der
Einwirkungsskala, sozusagen als Ultima Ratio, auch militärische Mittel zur Verfügung stehen, um Frieden durchzusetzen.
({18})
Das Wort
hat der Kollege Winfried Nachtwei für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Polenz, Ihren Beitrag fand ich sehr enttäuschend,
weil Sie in der Kritik dieses Antrages auf Nebenfelder
ausgewichen sind und zu den konkreten Vorschlägen des
Antrages, um die es im Kern geht, nichts gesagt haben.
Ich erinnere mich an die erste Lesung dieses Antrages am
9. November letzten Jahres. Da war nämlich auffällig,
dass im Kern der Sache - bis auf den Kollegen Irmer; sein
Ausreißer ist vorhin schon gebührend gewürdigt worden eine auffällige Einigkeit bestand. Auch von der PDS kam
die Kritik nicht am Kern dieses Projekts, nicht an den einzelnen Maßnahmen, sondern am Kontext rot-grüner Politik. Es sei Ihnen unbenommen, das zu kritisieren und Widersprüche aufzuzeigen. Im Kern der Sache kam von
Ihnen aber kein Widerspruch.
Ich hoffe immer noch, dass wir heute noch mehr über
den Kern der Sache diskutieren und keine ausweichenden
Debatten führen. Deshalb will ich vor allem etwas zu den
nächsten vordringlichen Schritten sagen, die in diesem
Bereich notwendig sind. Die Anforderungen der Staatengemeinschaft zur nicht militärischen Krisenbewältigung
und -vorbeugung liegen auf dem Tisch, und zwar als Konsequenz aus der Erfahrung mit militärischen Kriseneinsätzen.
Lassen Sie mich zunächst etwas zu dem wichtigen Instrument der Friedensmissionen auf Ebene der Vereinten
Nationen sagen. Wer weiß schon, dass die Bundesrepublik nach den USA das meiste Personal für solche Friedensmissionen stellt? In den letzten Jahren wurde allerdings auch die Erfahrung gemacht, dass bei diesen
Friedensmissionen zunehmend ziviles Personal gebraucht
wird. Hier hat die Staatengemeinschaft insgesamt bisher
die größten Rekrutierungsprobleme. Die Europäische
Union hat im letzten Sommer Planziele für die Entsendung von nicht militärischen Polizeimissionen aufgestellt. Sie erinnern sich: Bis 2003 will die Europäische
Union 5000 Polizisten für Auslandseinsätze zur Verfügung haben. Im zweiten Halbjahr dieses Jahres sollen die
Mitgliedstaaten auf einer Beitragstellerkonferenz ihre Angebote an Kontingenten benennen. Bis zum Gipfel in Göteborg im Juni sollen Planziele für andere Expertengruppen aufgestellt werden, nämlich Fachpersonal zur
Stärkung des Rechtsstaats, der Zivilverwaltung und des
Katastrophenschutzes. Ich möchte einmal wissen, was an
diesen konkreten Anforderungen rot-grüne Spinnerei ist.
({0})
Nein, das sind Anforderungen der internationalen Staatengemeinschaft, die sich aus den Erfahrungen ergeben
haben.
({1})
Nun zu den vorrangigen, notwendigen Schritten. Das
Auswärtige Amt hat im Sommer 1999, als der KosovoKrieg lief - das ist Anfang 1999 angestoßen worden -, mit
der Ausbildung von Fachpersonal für internationale Friedensmissionen begonnen. Diese Ausbildung hat sich sehr
bewährt und ist international hoch anerkannt. Jetzt kommt
es darauf an, die Rekrutierung, Begleitung und Evaluation
solcher ziviler Kriseneinsätze auf eine stabile Grundlage
zu stellen und erheblich zu effektivieren. Diese zivilen
Kriseneinsätze laufen in der Regel parallel zu militärischen Missionen; denn wir wissen: So etwas funktioniert
nur als integrierter, umfassender Kriseneinsatz, nicht als
einseitiger Kriseneinsatz.
({2})
- Kollege Polenz, es geht um die nächsten praktischen
Schritte, nicht um Hirngespinste. - Diese Aufgaben sind
mit dem normalen Personal eines AA-Referats, das vorher auch andere Aufgaben hatte, nicht mehr zu bewältigen. Hierfür muss tatsächlich eine Ausgliederung geschehen, muss eine neue Dachorganisation aufgebaut werden.
Dies ist - das müssen wir hier ganz nüchtern und klar feststellen - bei der Aufstellung des Haushalts für das nächste
Jahr unbedingt zu berücksichtigten. Zusammen mit der
Verstetigung der Gelder für den Titel „Friedenserhaltende
Maßnahmen“ ist das der Knackpunkt beim Aufbau einer
VN- und OSZE-Fähigkeit, die den künftigen Anforderungen entspricht.
Ein zweiter sehr wichtiger Bereich sind die nicht militärischen Polizeimissionen. Zurzeit sind 550 deutsche
Polizeibeamte im auswärtigen Einsatz, davon 318 im Kosovo. Sie leisten unter schwierigsten Bedingungen und
bei einer Einsatzdauer von neun Monaten bis zu einem
Jahr hervorragende Arbeit, international höchst anerkannt. Herr Staatssekretär, ich bitte Sie, dies über Ihr Haus
auch an die Beamten weiterzuleiten.
({3})
Die Bundesrepublik hatte für die UNMIK-Polizei im
Kosovo 420 Beamte zugesagt; sie kann aber nur 318 Beamte stellen. Das ist ein Fehl von 25 Prozent. Stellen Sie
sich einmal vor, ein solches Fehl gäbe es bei den Bundeswehr-Anteilen für KFOR oder SFOR! Das wäre nicht
vorstellbar. In diesem Bereich ist es offensichtlich vorstellbar, aber daraus resultiert kein Vorwurf gegen die
Landesinnenministerien oder gegen das Bundesinnenministerium, sondern hier ist schlichtweg eine Schallgrenze
erreicht. Das heißt, es müssen neue Wege der Rekrutierung von Beamten für internationale Polizeimissionen gefunden werden.
Deshalb - ich habe es bei der ersten Lesung schon einmal gesagt - kommen wir wahrscheinlich nicht darum
herum, neben der Attraktivitätssteigerung in diesem Bereich sowohl in den Ländern als auch beim Bund neue
Planstellen für diese künftige Daueraufgabe des Bundes
und der Länder einzurichten. Ohne eine solche Verstärkung wird die Bundesrepublik gegenüber der Europäischen Union keinen Beitrag nennen können, der ihrer Stellung entspräche.
In Kürze werden die Staatssekretäre von Bund und
Ländern über die künftige Lastenverteilung bei internationalen Polizeimissionen verhandeln. Bundestag und
Länderparlamente sollten darauf achten, dass die Bundesrepublik auch auf diesem Feld ihre gewachsene Verantwortung wahrnehmen kann.
Die schwedische EU-Präsidentschaft macht hervorragend Tempo beim Aufbau von Fähigkeiten nicht militärischer Krisenbewältigung. Die rot-grüne Koalition
begrüßt das voll und ganz. Ich denke, bei genauerem Hinsehen - Kollege Polenz nickt; das freut mich - müssten
alle Fraktionen des Hauses dieses Tempo begrüßen.
({4})
Der zu beschließende Antrag zeigt, was wir dafür leisten
wollen.
Danke schön.
({5})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht Kollege Ulrich Irmer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ein Triumpherlebnis, wenn man nach viereinhalb Monaten hört
- so lange liegt unsere erste Debatte zu diesem Thema
zurück -, dass die Kollegen zum Teil noch wörtlich wissen, was ich damals gesagt habe. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Frau Zapf, es war natürlich ein Missverständnis, ich
hätte Ihr Anliegen ins Lächerliche ziehen wollen. Was ich
beanstandet habe - wobei ich der Auffassung bin, dass
man dem am besten mit satirischen Mitteln beikommt -,
ist dieser himmelweite Abstand zwischen Anspruch und
Wirklichkeit, der bei Ihnen immer wieder deutlich wird,
aber in diesem Antrag ganz besonders.
({1})
Ich kann dem, was Kollege Nachtwei hier gerade zu
der beklagenswerten Situation, dass es der Bundesrepublik Deutschland nicht gelungen ist, die zugesagten Polizisten vor Ort zu entsenden, gesagt hat, voll zustimmen.
Auch ich finde es außerordentlich bedauerlich, unter welchen Gefährdungen diese Kräfte dort mit wie wenig robusten Mitteln ausgestattet sind. Ich glaube, hier besteht
ein erheblicher Nachholbedarf.
Frau Zapf, wenn Sie auf die schrecklichen Nachrichten
von heute früh verweisen, dann kann ich das nur bestätigen. Natürlich ist das furchtbar. Das hätten wir alles nicht,
wenn dieser Antrag endlich verabschiedet würde - das ist
doch das, was mich zur Heiterkeit reizt.
({2})
Das, was Sie in diesem Antrag alles auflisten, was alles geschehen müsste, ist doch, wenn man es zusammen
betrachtet, nichts als ein Misstrauensvotum gegenüber Ihrer eigenen Bundesregierung.
({3})
Es ist ein Misstrauensvotum gegenüber der gesamten
klassischen Außen- und Entwicklungspolitik und ihren
Instrumenten und damit ein Misstrauensvotum gegenüber
Ihrer eigenen Bundesregierung, die ich hier gegen diese
Ihre Vorwürfe, Herr Zöpel, ganz vehement in Schutz nehmen möchte; denn so schlecht, wie sie aussieht, ist sie gar
nicht. So schlecht sind Sie wirklich nicht.
({4})
Sie lassen es sich von Ihrer Mehrheit in Ihrem Parlament gefallen, dass sie Ihnen auf neun Seiten vorschreibt
und auflistet, was Sie alles nicht gemacht haben.
Ich fand es eben außerordentlich interessant zu hören,
dass es - das war mir entfallen, Frau Zapf - in der letzten
Wahlperiode schon einmal einen entsprechenden Antrag,
damals allein von der SPD, gegeben hat. Da haben Sie die
gesamten Vorwürfe, die Sie jetzt wieder erheben, der alten Bundesregierung gemacht. Das war Ihre Aufgabe als
Opposition, aber dass Sie jetzt fast denselben Antrag wieder einbringen, zeigt doch, dass die neue Bundesregierung, jetzt da sie die Macht hat, nichts aus ihrem alten Antrag gelernt hat.
({5})
Was ich auch außerordentlich bemerkenswert finde,
ist, dass viele ihrer Forderungen hierin stehen - den Antrag haben Sie ja vor Monaten formuliert -, in Ihre Haushaltsbeschlüsse, die Sie mit Mehrheit gefasst haben, jedoch keinen Eingang gefunden haben.
({6})
Es ist wunderschön, als Opposition von einer Bundesregierung alles Mögliche zu verlangen. Das ist die Aufgabe
der Opposition. Wenn Sie aber selbst die Mehrheit und die
Macht haben und alles das beschließen und durchsetzen
könnten, stellt sich doch die Frage: Warum haben Sie es
denn nicht getan?
({7})
Stattdessen beglücken Sie uns hier zum wiederholten
Male mit einem doch eher abstrus wirkenden Wortgeklingel.
Ich will Ihnen einige konkrete Punkte nennen, bei denen nun wirklich Abhilfe geschaffen werden könnte. Ich
verstehe es so, dass Sie einen albernen Verschnitt eines
Peace-Korps ausbilden wollen. Da lassen Sie wirklich
nichts aus. Insofern hat Herr Polenz natürlich Recht; da
kommt das ganze Spektrum honigsüß triefender Beglückungsrhetorik wieder, welche die Grünen so mögen.
Da muss natürlich besonderer Wert auf frauenspezifische
Fragen gelegt werden. Ich habe mit großem Interesse gelernt, dass man das neuerdings „gender training“ nennt.
Ich hatte das irgendwie anders in Erinnerung. Lassen Sie
sich den Begriff „gender training“ auf der Zunge zergehen!
({8})
Des Weiteren: Die berufliche Freistellung des Missionspersonals soll rechtlich abgesichert werden. Ja,
fabelhaft, das ist wieder eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für stellungslose grüne Universitätsabsolventen. Das kennen wir alles schon.
({9})
Jede Nische des grünen Gemüts wird hier mit einer
Bemerkung bedient. Da sind die Kindersoldaten erwähnt,
da muss die Trauma-Hilfe herangezogen werden. Nein,
meine Damen und Herren, das Thema ist mir viel zu ernst
({10})
und im Übrigen keine Erfindung von Ihnen. Schon der
Wiener Kongress hat festgestellt, dass Vorbeugen besser
ist als Schießen. Dem will auch niemand etwas entgegensetzen. Sie haben in vielem Recht.
Herr Polenz hat Recht, wenn er sagt, es seien zum Teil
grobe Gemeinplätze, die hier kommen. Wir lehnen den
Antrag ab, weil er nichts als Rhetorik und Romantik ist,
und damit haben wir es nicht so sehr, jedenfalls nicht in
der Öffentlichkeit.
({11})
Meine Damen und Herren, ich fordere Sie auf -
Ich fordere
Sie auf, hier zum Schluss zu kommen, Herr Kollege.
({0})
Ich bin sofort fertig. Es ist nur
außerordentlich schwierig, Herr Präsident, die Redezeit
einzuhalten, wenn man durch Gelächter und Beifall unterbrochen wird.
({0})
Ich darf noch einen letzten Satz hinzufügen. Ich bitte
Sie herzlich: Nehmen Sie Ihre eigenen Worte ernst und
nutzen Sie Ihre Mehrheit dazu, Ihre Forderungen nicht nur
verbal hier zu postulieren, sondern ein wenig davon in die
Realität der praktischen Politik umzusetzen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nun spricht
die Kollegin Heidi Lippmann für die Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann im Anschluss an Ihre Rede,
Herr Irmer, nur noch - um Erich Kästner zu zitieren - sagen: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Der vorliegende Antrag und die Emotionalität, mit der
du, liebe Uta Zapf, diesen Antrag verteidigt hast, sind
natürlich Beleg dafür, in welchen Argumentationsschwierigkeiten sich die Friedenspolitiker in diesem
Hause angesichts des Gesamtkontextes der Außen- und
Sicherheitspolitik bewegen.
({0})
Eine Voraussetzung dafür, die zivile Krisenprävention
und Konfliktregelung tatsächlich zu einem der höchsten
Güter deutscher Politik im 21. Jahrhundert zu machen,
wäre, wie die Antragsteller richtig beschreiben, die Notwendigkeit der Konfliktanalyse als politische Daueraufgabe zu verstehen und dementsprechende Instrumente zur
zivilen Konfliktbewältigung zu benennen. Eine weitere
Grundvoraussetzung ist die Ursachenforschung. Dazu
wird im vorliegenden Antrag herzlich wenig gesagt.
({1})
Zwar ist im Antrag allgemein von „gerechtem Interessenausgleich“ und der „Verbesserung der wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen und politischen Verhältnisse“ die Rede. Doch ich frage Sie: Wessen Interessen
stehen dem entgegen und wer wäre folglich in erster Linie verpflichtet, seine Politik in den Bereichen Wirtschaft,
Finanzen, Umwelt, Militär, auswärtige Beziehungen und
Entwicklungszusammenarbeit auf den Prüfstand zu stellen? Das wird hier nicht gesagt.
Natürlich wird auch nicht erwähnt, dass Deutschland
wie die übrigen Industriestaaten des Westens und des Nordens die Konfliktpotenziale in der Welt permanent anheizt, zum Beispiel durch Hermesbürgschaften, durch
Rüstungsexporte, durch die Unterstützung umweltschädlicher Großprojekte, durch die Verschuldungsproblematik
und letztendlich durch die eigene neoliberale Wirtschaftspolitik.
Ich frage Sie, Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und von der SPD: Wo bleibt Ihre Forderung nach einer Neuausrichtung der internationalen Finanz-, Währungs- und Wirtschaftspolitik, die nicht allein auf die
Interessen der Industriestaaten ausgerichtet ist? Wo bleibt
Ihre Forderung nach einer Reform der Institutionen Weltbank, Internationaler Währungsfonds und WHO zur
Annäherung an einen „gerechten Interessenausgleich“?
Kann man von einer zivilen Friedenspolitik sprechen,
wenn rund 40 Millionen DM für den zivilen Friedensdienst ausgegeben werden und auf der anderen Seite ein
Rüstungsetat von knapp 47 Milliarden DM steht, wobei
die rund 200 Milliarden DM, die man in den nächsten
10 bis 15 Jahren in diesen Bereich investieren will, noch
gar nicht eingerechnet sind?
({2})
Nein, das kann man nicht. Denn der Schwerpunkt
deutscher Sicherheitspolitik ist vorrangig auf die militärische Absicherung deutscher Wirtschaftsinteressen
orientiert. Wer die Bundeswehr für weltweite Militärinterventionen umrüstet, der kann nicht glaubhaft von der
Priorität ziviler Konfliktvorbeugung sprechen.
({3})
Die Knappheit der öffentlichen Haushalte verlangt eine
Grundsatzentscheidung: Geld für die zivile Bekämpfung
der Krisenursachen oder Geld für die gewaltförmige und
vordergründige Eindämmung von Krisen?
Wer auf die umfassende Stärkung der NATO durch immer neue Rüstungsmodernisierungen setzt, kann nicht
gleichzeitig die UN als zentrale Einrichtung der Weltentwicklung und des Weltfriedens stärken. Wer zu 1 Prozent
auf Zivil und zu 99 Prozent auf Militär setzt, der setzt
seine Prioritäten falsch.
({4})
Wer durch weltweite Rüstungsexporte dazu beiträgt,
dass Krisen und Kriege technisch führbar gemacht werden, der trägt zur Verschärfung von Konflikten bei.
In diesem Kontext - liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich sehe Ihr Wohlwollen und ich glaube Ihnen ernsthaft,
dass Sie Interesse daran haben, diesen Politikbereich voranzubringen - können wir Ihrem Antrag nicht zustimmen.
({5})
Ich schließe
die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung
des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem
Titel „Förderung der Handlungsfähigkeit zur zivilen Krisenprävention, zivilen Konfliktregelung und Friedenskonsolidierung“, Drucksache 14/5283. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3862 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Jugendgerichtsgesetzes
- Drucksache 14/5014 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ich gebe als erstem Redner dem Justizminister des
Landes Thüringen, Dr. Andreas Birkmann, das Wort.
Dr. Andreas Birkmann, Minister ({1}): Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir
beraten heute in erster Lesung einen Gesetzentwurf des
Bundesrates zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes,
der zwei Ziele verfolgt: erstens das beschleunigte Verfahren des Erwachsenenstrafrechts auch bei jugendlichen
Straftätern anwenden zu können und zweitens: das schon
bestehende vereinfachte Jugendverfahren prozessrechtlich effizienter zu gestalten.
Lassen Sie mich bitte darlegen, warum die Länderkammer eine Gesetzesänderung für notwendig erachtet.
Wir erleben immer wieder, dass bei Straftaten Tätergruppen so konstruiert sind, dass 17-Jährige, 19-Jährige und
22-Jährige zusammen auftreten. Das erleben wir bei allgemeinen Straftaten, das erleben wir aber auch besonders
bei Gewaltdelikten und hier nicht nur, aber insbesondere
auch bei rechtsradikalen Ausschreitungen Jugendlicher
und Heranwachsender.
Die gerichtliche Praxis hat in der Vergangenheit, wenn
es dann bei der Aburteilung der Straftaten zu Verzögerungen gekommen ist, prozessuale Schwierigkeiten dafür
verantwortlich gemacht. Bei einem Tatgeschehen, also einer prozessualen Tat, ist gegen den Heranwachsenden
zwischen 18 und 21 Jahren das beschleunigte Verfahren
anwendbar, gegen den jüngeren, den unter 18-Jährigen,
jedoch nicht.
Folgender Fall, der leider nicht untypisch ist, verdeutlicht das Problem. Zwei mehrfach und einschlägig, wenn
auch nicht gravierend in Erscheinung getretene junge
Männer von 17 und 19 Jahren misshandeln einen Fahrgast
in einer Straßenbahn aus rassistischen Motiven oder weil
sie ihn für einen Ausländer oder politisch Andersdenkenden halten oder weil dieser schlicht körperbehindert und
nach ihrer Auffassung offenbar minderwertig ist. Dazu
bekennen Sie sich dann auch demonstrativ. Das Opfer erleidet schwere Verletzungen und muss längere Zeit stationär im Krankenhaus verweilen. Die Täter wohnen bei den
Eltern; es besteht also ein fester Wohnsitz. Sie haben eine
Lehrstelle oder gehen noch in die Schule. Sie bekennen
sich aber zu ihrer Weltanschauung. Die Öffentlichkeit ist
zu Recht empört. Die Polizei verweist auf die Justiz. Eltern und Schule sind hilflos.
Was passiert? Haftbefehle dürften in Ermangelung von
Haftgründen ausscheiden. Eine schnelle Reaktion muss
die Straftäter nachhaltig beeindrucken. Gegen den 19Jährigen, also den Heranwachsenden, kann das beschleunigte Verfahren durchgeführt werden. Er kann mit
dem Sanktionenkatalog des Jugendstrafrechts, gegebenenfalls auch mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr belegt
werden. Nicht so bei dem tatbeteiligten Jugendlichen, der
unter Umständen der weitaus üblere Schläger war. Das
vereinfachte Jugendverfahren gibt die erforderlichen
Sanktionen nicht her. Klar ist aber auch, dass der Jugendliche nicht erst in ein paar Wochen oder Monaten, sondern
sofort, umgehend spüren muss, was er angerichtet hat.
Nach derzeitigem Recht bekommt er voraussichtlich
eine Anklage, über die in der Regel erst nach einigen Wochen verhandelt wird, wobei zwischen Verurteilung und
Abbüßung der Strafe weitere Zeit ins Land gehen wird.
Bis dahin war für ihn, den Jugendlichen, der Vorfall offensichtlich nicht so schlimm; denn in seiner Vorstellungswelt wäre er anderenfalls bereits im Gefängnis. Die
schnelle Reaktion, die den Zusammenhang zur Tat sinnfällig macht, ist zwar dringend geboten, aber nicht möglich.
Hier setzt der Reformvorschlag an. Auch hier muss ein
rasches Jugendstrafverfahren möglich sein.
({2})
Die Aufsplittung eines solchen einheitlichen Tatgeschehens in mehrere Strafverfahren - gegen Heranwachsende und Erwachsene das beschleunigte Verfahren einerseits, gegen Jugendliche das normale Jugendverfahren
andererseits - und die damit zwangsläufig verbundene
zeitliche Verzögerung erscheinen im Hinblick auf die gewünschte Beschleunigung der Sanktionierung eines solchen Verhaltens kontraproduktiv.
In Gesprächen bei Staatsanwaltschaften und Gerichten
sowie mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jugendgerichtshilfe ist mir von diesem Missstand immer wieder
berichtet worden. Mir leuchtet ein, dass bei unserer Reaktion auf Jugendkriminalität nicht nur zählt, welche Strafen Gerichte im Urteil aussprechen, sondern dass vor allem auch zählt, dass die Reaktion schnell erfolgt.
Nach dem Gesetzentwurf der Länderkammer soll deshalb das in der Strafprozessordnung vorgesehene beschleunigte Verfahren, das eine zügige Aburteilung ermöglicht, künftig auch im Jugendstrafrecht Anwendung
finden können.
({3})
Ich betone ausdrücklich: können. Das heißt nicht: müssen. Denn letzten Endes bleibt es der Einzelfallentscheidung des Richters vorbehalten, ob zur Aburteilung der
konkreten Straftat im beschleunigten Verfahren verhandelt werden soll oder nicht.
Meine Damen und Herren, ich weiß, diesem Lösungsansatz des Gesetzentwurfes wird vereinzelt entgegengehalten, dass die Einführung des beschleunigten Verfahrens für Jugendliche wesentlichen Prinzipien des Jugendstrafrechts widerspreche, da sich das Jugendstrafrecht am
Erziehungsgedanken orientiere und auf eine Beteiligung
der Jugendgerichtshilfe nicht verzichtet werden könne.
Dieser Einwand ist nicht zutreffend. Er verkennt zweierlei: zum einen, dass die Beschleunigung dem Erziehungsgedanken nicht nur nicht im Wege steht, sondern
ihn fördert; zum anderen, dass die Grundsätze des Jugendstrafrechts im vorliegenden Gesetzentwurf - das betone ich ausdrücklich - nicht infrage gestellt werden. Um
dies noch einmal ausdrücklich klarzustellen: Auf eine Beteiligung der Jugendgerichtshilfe kann und soll nicht verzichtet werden.
({4})
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
- Danke schön. Sie werden noch Weiteres erfahren und
feststellen, wie gut es ist, dass ich sie hier halte.
Der Gesetzentwurf des Bundesrats sieht demgemäß
auch keine dahin gehenden Beschränkungen vor. Es werden weder Elternrechte tangiert noch wird die Beteiligung
der Jugendgerichtshilfe beschränkt noch werden Verteidigerrechte beschnitten. Eine im Einzelfall eventuell notwendig werdende Hauptverhandlungshaft findet ihre gesetzlichen Schranken in der Regelung des § 72 des
Jugendgerichtsgesetzes
({5})
und selbstverständlich im Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dies sind unverrückbare Grundsätze.
({6})
Andere Lösungsmöglichkeiten sind zur Bewältigung
der aufgezeigten Problemlage nicht ausreichend. Das vereinfachte Jugendverfahren, das wir ja bereits anwenden
und das im Jugendgerichtsgesetz niedergelegt ist, kommt
dem Bedürfnis nach Beschleunigung nur eingeschränkt
entgegen, da es nur bei Jugendlichen gilt, nicht jedoch
gleichzeitig bei Heranwachsenden und Erwachsenen. Dabei darf nicht auf Jugendstrafe erkannt werden, auch wenn
schädliche Neigungen des Jugendlichen oder die
„Schwere der Schuld“ - so der Gesetzeswortlaut - dies
ansonsten gebieten würden.
Ich meine, meine sehr verehrten Damen und Herren, in
dem gesetzgeberischen Anliegen müssten wir uns an sich
alle einig sein. Es geht darum, dem Bedürfnis nach Beschleunigung im Jugendstrafverfahren Rechnung zu tragen, um möglichst effektiv auf straffällig gewordene Jugendliche einzuwirken, damit ihnen eine kriminelle
Karriere erspart bleibt.
Der Beschleunigungsgrundsatz beherrscht bekanntlich das gesamte Jugendstrafrecht. Das ist so richtig. Was
wir wollen, ist nur die konsequente Fortsetzung dieser
schon bisher als richtig erkannten Maxime. Mit diesem
Gesetzentwurf wollen wir keine Verfahrensbeschleunigung um jeden Preis. Aber unseren Jugendstaatsanwältinnen und Jugendstaatsanwälten, Jugendrichterinnen und
Jugendrichtern müssen alle wirksamen Mittel zur Verfügung stehen, um in den hierfür geeigneten Fällen eine
schnelle Reaktion herbeiführen zu können; jedoch - das
betone ich ausdrücklich - nicht mit dem Ziel, jugendliche
Straftäter wegzuschließen, sondern um ihnen zu helfen
und ihnen Lösungswege für eine straffreie Zukunft aufzuzeigen.
({7})
In jedem Fall ist hierfür jedoch eine zeitnahe Reaktion erforderlich.
Eine solche zeitnahe Reaktion ist sowohl mit Blick auf
den jugendlichen Täter als auch unter dem Aspekt der
Wirkung in der Öffentlichkeit positiv zu sehen. Das sind
jedenfalls die Erfahrungen, die wir mit dem beschleunigten Verfahren im Erwachsenenstrafrecht ständig machen.
Wenn die Strafe der Tat alsbald auf dem Fuße folgt, beeindruckt das den Täter und - auch das ist wichtig - stärkt
das Sicherheitsgefühl in der Öffentlichkeit. Warum soll
dieses nicht auch im Jugendstrafrecht gelten, meine Damen und Herren? Im Interesse einer Verfahrensbeschleunigung ist es dabei allen Verfahrensbeteiligten - auch der
Jugendgerichtshilfe - zuzumuten, die erforderlichen Ermittlungen und Prozesshandlungen in kurz bemessener
Zeit vorzunehmen, zumal der Jugendgerichtshilfe manch
ein Täter aus früheren Verfahren durchaus bekannt sein
dürfte. Wenn die Entscheidungsvoraussetzungen für das
beschleunigte Verfahren vorliegen - dazu gehört, um das
noch einmal zu sagen, dass die Sache aufgrund des einfachen Sachverhalts und der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet ist -, ist eine zügige Bearbeitung regelmäßig möglich.
({8})
- Herr Präsident, ich möchte noch ganz kurz einen zweiten Aspekt des vorliegenden Gesetzentwurfs ansprechen.
Herr Minister, ich unterbreche einen Vertreter eines Bundeslandes ja
nur ungern, aber es gibt unter den Fraktionen eine Absprache über die Redezeit zu dieser abendlichen Stunde.
Sie haben Ihre Redezeit schon deutlich überschritten. Ich
wäre Ihnen daher dankbar, wenn Sie zügig zum Abschluss
kommen würden.
Dr. Andreas Birkmann, Minister ({0}): Herr
Präsident, ich werde Ihrer Bitte gerne folgen und will nur
noch kurz darauf hinweisen, dass die Gesetzesvorlage einen zweiten Aspekt hat, nämlich die Einführung der
Zwangsmittel Vorführung und Haftbefehl, was ebenfalls notwendig erscheint, um das vereinfachte Jugendverfahren zügig durchführen zu können.
Damit komme ich zum Schluss. Meine Damen und
Herren, der Bundesrat bezweckt mit der von ihm beschlossenen Gesetzesinitiative die genannte Beschleunigung. Dieses Anliegen entspricht der allgemeinen Intention des Jugendstrafrechts, und dem kommt angesichts
der Zunahme von Gewalttaten Jugendlicher - häufig mit
jungen Erwachsenen zusammen - besondere Bedeutung
zu. Lassen Sie uns deswegen bei den anstehenden Beratungen in den Ausschüssen gemeinsam überlegen, wie wir
diesem Anliegen Rechnung tragen können. Der vorliegende Gesetzesentwurf erscheint mir die geeignete
Grundlage dafür zu sein.
Schönen Dank.
({1})
Für die
SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Erika Simm.
Sehr verehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes soll das beschleunigte Verfahren
aus dem allgemeinen Strafprozess auch im Strafverfahren
gegen Jugendliche, also gegen die unter 18-Jährigen, und
Minister Dr. Andreas Birkmann ({0})
damit auch die Anordnung von Hauptverhandlungshaft
zugelassen werden. Ferner soll künftig in dem schon jetzt
bestehenden so genannten vereinfachten Jugendverfahren
gegen einen Jugendlichen, der unentschuldigt nicht zur
Hauptverhandlung erscheint, gemäß § 230 der Strafprozessordnung die polizeiliche Vorführung angeordnet und
Haftbefehl erlassen werden können.
Begründet wird die Notwendigkeit dieser Änderungen
damit, dass in der letzten Zeit in der Öffentlichkeit vermehrt Fälle bekannt geworden seien, in denen auf frischer
Tat betroffene Jugendliche trotz eindeutiger Beweislage
erst nach Wochen oder gar Monaten einer strafrechtlichen
Sanktion hätten zugeführt werden können. Dass Jugendgerichtsverfahren mitunter zu lange dauern, ist keineswegs eine neue Erscheinung. Dies ist auch in der Vergangenheit immer wieder beklagt worden. Es fragt sich nur,
was die Ursachen sind. Nach meiner Einschätzung liegt es
in der Regel zuletzt daran, dass jugendliche Angeklagte
nicht zur Hauptverhandlung erscheinen. Oft aber hat das
damit zu tun, dass Polizeibeamte, Staatsanwälte und
Richter überlastet sind und dass die Arbeitsabläufe innerhalb der Justiz auch einem gutwilligen Richter wenig
Flexibilität ermöglichen. So kann es zum Beispiel - dabei
spreche ich aus Erfahrung - schon zu einem Problem werden, wenn man als Jugendrichter außerhalb der üblichen
Sitzungstage einen Sitzungsraum oder einen Protokollführer braucht, um eine schnelle Hauptverhandlung durchzuführen.
Oft mangelt es auch an der notwendigen und rechtzeitigen Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe und Gericht. Die vorgeschlagenen Gesetzesänderungen sind nicht geeignet, solchen Mängeln
abzuhelfen.
({1})
Im Übrigen stellt das Jugendgerichtsgesetz neben den
Möglichkeiten der Verfahrenserledigung nach den §§ 45
und 47 - das ist die Einstellung in der Regel mit einer
Sanktion - in Form des so genannten vereinfachten Verfahrens eine Verfahrensalternative zur Verfügung, die
durchaus eine rasche Verhandlung und Aburteilung ermöglicht. In diesem vereinfachten Verfahren, wie wir es
haben, können alle Sanktionen des Jugendgerichtsgesetzes mit Ausnahme von Jugendstrafe, Heimunterbringung
und Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verhängt
werden. So kann zum Beispiel auf Jugendarrest von bis zu
vier Wochen, bei Verkehrssachen auf Fahrverbot und
Führerscheinentzug mit einer Sperrfrist von bis zu zwei
Jahren erkannt werden.
Der mögliche Anwendungsbereich des vereinfachten
Verfahrens umfasst damit die leichte bis mittlere Kriminalität, deckt also sehr viel ab und erscheint mir deswegen
voll ausreichend. Ein Bedürfnis, daneben noch das beschleunigte Verfahren zuzulassen, sehe ich nicht.
Im Übrigen möchte ich darauf verweisen, dass es das
beschleunigte Verfahren gab, bevor das vereinfachte
Verfahren eingeführt wurde. Das beschleunigte Verfahren
wurde durch das vereinfachte und stärker auf Jugendliche
hin orientierte Verfahren abgeschafft. Ich halte es für geradezu widersinnig, nun beide Verfahren nebeneinander
zuzulassen. Das gab es noch nie. Auch spricht in der Sache nichts dafür, das zu tun.
Ich bin aber auch der Meinung, dass das beschleunigte
Verfahren den im Jugendgerichtsgesetz verankerten
Grundprinzipien des Strafverfahrens gegen Jugendliche
nicht hinreichend Rechnung trägt.
({2})
So kann im beschleunigten Verfahren die Anklage mündlich erhoben werden, die Ladungsfrist kann auf 24 Stunden verkürzt werden, Aussagen von Zeugen, Sachverständigen und Mitbeschuldigten können verlesen werden.
Die vorgeschriebene Beteiligung der Jugendgerichtshilfe
und des gesetzlichen Vertreters, aber auch das gerade in
Verfahren gegen Jugendliche so wichtige Mündlichkeitsprinzip der Verhandlung erscheint mir damit nicht
hinreichend gewährleistet.
Mit der Ermöglichung der Hauptverhandlungshaft
wird in meinen Augen gegen den Grundsatz verstoßen,
dass Freiheitsentziehung gegen Jugendliche stets Ultima
Ratio sein sollte.
({3})
Wohlgemerkt: Wir reden von den 14- bis 17-Jährigen.
Dieser Grundsatz hat zuletzt 1990 im Ersten Gesetz zur
Änderung des Jugendgerichtsgesetzes in den §§ 71 und 72
einen besonderen Niederschlag gefunden, wonach zum
Beispiel die Untersuchungshaft gegen Jugendliche unter
16 Jahren nur noch unter ganz engen Voraussetzungen
verhängt werden darf, praktisch nämlich dann, wenn es
wirklich keine andere Möglichkeit gibt, den Jugendlichen
bis zur Hauptverhandlung festzuhalten.
Man zog damit die Konsequenzen aus der über die
Jahrzehnte hinweg gewonnenen Erkenntnis, dass Freiheitsentziehung, insbesondere kurze Inhaftierung in Einrichtungen, die nicht speziell auf die erzieherischen Bedürfnisse von Jugendlichen ausgerichtet sind, oft mehr
schadet als nutzt. Gegen die Vorführung oder gar einen
Haftbefehl nach § 230 der Strafprozessordnung im vereinfachten Jugendverfahren bestehen schon aus dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit in meinen Augen erhebliche Bedenken.
Im Übrigen halte ich die Durchführung eines vereinfachten Verfahrens grundsätzlich nur in den Fällen für
sinnvoll, in denen ein gewisses Maß an Einsichtsfähigkeit
und Kooperationsbereitschaft bei den jugendlichen Angeklagten vorausgesetzt werden kann. Der unentschuldigt
nicht zur Verhandlung erschienene Jugendliche hat durch
sein Nichterscheinen aber gerade bewiesen, dass er nicht
bereit ist, die Konsequenzen aus seinem Fehlverhalten zu
tragen und sich dem Verfahren zu stellen. Ich bin der Meinung, dass es in diesen Fällen auch aus erzieherischen
Gründen geradezu geboten ist, ins reguläre Verfahren
überzuwechseln und eine förmliche Hauptverhandlung
durchzuführen. Im Übrigen ist meine Erfahrung, dass Jugendliche eher selten nicht zur Verhandlung erscheinen.
Das gilt zumindest dann, wenn es vor Ort eine funktioErika Simm
nierende Jugendgerichtshilfe gibt, die zu dem Jugendlichen vor der Verhandlung Kontakt aufnimmt und ihn auf
die bevorstehende Verhandlung und das, was ihn dort erwartet, entsprechend vorbereitet.
Zusammenfassend stelle ich fest: Das Instrumentarium
des geltenden Jugendgerichtsgesetzes reicht völlig aus, um
Strafverfahren gegen Jugendliche mit der gebotenen Beschleunigung durchzuführen. Wenn die Verfahren im Einzelfall dennoch zu lange dauern, so sind die Ursachen im
unzureichenden Vollzug des Gesetzes zu sehen. In diesem
Punkt wäre dann auch anzusetzen, wenn man ernsthaft zu
einem schnelleren Abschluss der Verfahren kommen will.
({4})
Ich gebe nun
dem Kollegen Jörg van Essen für die F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das,
was Frau Kollegin Simm gerade vorgetragen hat, entspricht sicherlich der Auffassung vieler, die in der Praxis
tätig sind. Ich muss sagen: Viele der von Ihnen vorgetragenen Argumente sind von hohem Gewicht und haben
auch mich immer überzeugt.
Trotzdem: Ich will signalisieren, dass ich bei dem einen oder anderen Punkt durchaus nachdenklich geworden
bin, und zwar deswegen, weil sich das Jugendstrafrecht
in unserem Lande in besonderer Weise bewährt hat. Wir
haben gerade am Wochenende wieder lesen können, dass
verschiedene Länder anders mit ihren Jugendlichen umgehen. Wir haben ein Urteil in den Vereinigten Staaten erlebt, wonach ein 14-Jähriger wegen eines Tötungsdeliktes, das er im Alter von zwölf Jahren begangen hat, zu
einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt worden
ist. Wir haben die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Im Übrigen nützt ein solches Vorgehen überhaupt nichts: Die Gewaltkriminalität und die Jugendkriminalität insgesamt sind in den Vereinigten Staaten viel
höher als bei uns. Das macht deutlich, dass der erzieherische Ansatz, den wir in unserem Jugendstrafrecht haben, offensichtlich richtig ist. Die Betonung liegt aber auf
dem erzieherischen Ansatz.
In diesem Zusammenhang will ich auf einen Aspekt
eingehen. Frau Simm, Sie haben gesagt: Wenn ein Jugendlicher nicht zur Hauptverhandlung erscheint, dann
macht das deutlich, dass er sich mit der Tat nicht richtig
auseinander gesetzt hat. - Das kann auch andere Gründe
haben, zum Beispiel den Grund, dass er das Gericht nicht
ernst nimmt. Sein Verhalten macht aber deutlich, dass bei
ihm eine erzieherische Einwirkung notwendig ist. Wie Sie
in diesem Bereich als Richterin Erfahrung sammeln konnten, so weiß ich als Oberstaatsanwalt, dass gerade Jugendliche darauf reagieren, wenn sie mal einen Tag in der
Kiste waren. Das ist eine Erfahrung, die dazu führt, etwas
intensiver über die eigene Situation nachzudenken und
nicht anzunehmen, der Staat ließe alles mit sich machen.
({0})
Ich glaube, für Erziehung ist entscheidend, dass Fehlverhalten - das Nichterscheinen bei Gericht ist ein solches
Fehlverhalten - nicht folgenlos bleibt.
({1})
Deshalb könnte eine entsprechende Reaktion bewirken,
dass das, was der Richter anordnet und was dann geschieht, zu einer wesentlich intensiveren erzieherischen
Einwirkung führt. Das kann bedeuten, dass die Entscheidung, die der Jugendrichter zu treffen hat, ganz anders
ausfällt , weil eine erzieherische Wirkung erzielt worden
ist.
({2})
Ich selbst habe das in meinem persönlichen Umfeld bei
jemandem, der auf die schiefe Bahn gekommen ist, erlebt.
Erst, nachdem ein Tag in Haft verbracht worden war, war
ein Gespräch über die Situation möglich.
({3})
Über diese Punkte lohnt es sich nachzudenken. Deswegen bin ich der Auffassung, wir sollten offen in eine
Anhörung gehen - wir werden mit Sicherheit eine solche
haben -, und ich signalisiere, dass ich dafür offen bin.
Was mich sehr nachdenklich macht, ist die Frage nach
der Beteiligung der Jugendgerichtshilfe. Für mich war
bei der Vorbereitung auf Jugendverfahren der Bericht der
Jugendgerichtshilfe von außerordentlicher Bedeutung.
Ich habe mich deshalb ganz bewusst immer mit den Berichten der Jugendgerichtshilfe auf die entsprechenden
Verhandlungen vorbereitet, weil man durch diese Berichte wertvolle Hinweise bekam, was hinterher als Reaktion erfolgen sollte. Leider muss ich feststellen, dass
das nicht alle Richter genauso gesehen haben, es reichte
aber aus, wenn der Staatsanwalt nachhelfen und den einen
oder anderen Hinweis geben konnte.
Ich denke, wir sollten zu einer Beschleunigung des
Verfahrens kommen. Im Übrigen hat sich gezeigt - auch
das gehört zu einer klaren Lagebeurteilung -, dass viele
der Befürchtungen, die wir aus der SPD-Fraktion, aber
auch aus meiner eigenen Fraktion bei der Förderung des
beschleunigten Verfahrens gehört haben, nicht eingetroffen sind. Es ist auffällig, wie viele der beschleunigten
Verfahren sofort rechtskräftig werden. Das zeigt, dass die
Angeklagten eben keine Beschränkung ihrer Rechte zu
befürchten haben.
Ich denke, dass gerade das Jugendverfahren von Beschleunigung lebt. Deshalb ist für mich die Sicherstellung
der Beteiligung der Jugendgerichtshilfe ein wichtiger
Faktor. Darauf werde ich auch bei den Beratungen großen
Wert legen. Das muss gewährleistet sein. Es darf also
nicht Beschleunigung um jeden Preis geben; denn die erzieherischen Vorgaben des Jugendgerichtsgesetzes müssen bei allen Anstrengungen, die zu einer Beschleunigung
der Verfahren unternommen werden, erhalten bleiben.
Aber Beschleunigung ist notwendig. Je schneller Jugendliche eine Reaktion spüren, desto besser ist es auch für
ihren weiteren Lebensweg.
Vielen Dank.
({4})
Der Redner
der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen, Volker Beck,
gibt seine Rede zu Protokoll.1)
Es spricht nun für die Fraktion der PDS die Kollegin
Sabine Jünger.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Ich möchte meinem Erstaunen zumindest
über den ersten Teil Ihrer Rede, Herr van Essen, Ausdruck
verleihen. „Erstaunen“ ist noch eine sehr vorsichtige
Formulierung. Ich gebe gerne zu, dass Sie mich überrascht haben. Das hätte ich von Ihnen so nicht erwartet.
Wenn das die neue Liberalität ist, dann muss ich ehrlich
zugeben, dass es mich ein Stück weit davor gruselt.
({0})
Jugendstrafverfahren - das möchte ich deutlich unterstreichen - sollten so schnell wie möglich abgeschlossen
werden. Ich denke, darüber sind wir uns alle einig. Außerdem steht es schon jetzt ganz deutlich im Gesetz. Das
Jugendgerichtsgesetz enthält ausdrücklich ein Beschleunigungsgebot für alle Verfahren. - Herr Nooke, wenn Sie
mir zuhören würden, dann könnten Sie das vielleicht auch
verstehen.
({1})
§§ 76 ff. bieten darüber hinaus die Möglichkeit, Verfahren
zu vereinfachen und damit relativ zügig abzuschließen.
Nun gibt es aber doch leider immer wieder Fälle, in denen es über ein Jahr - wenn nicht noch länger - dauert, bis
es zu einem Urteil kommt.
({2})
Das ist nicht nur bedauerlich, nein, das ist in jeder Hinsicht kontraproduktiv. Die Frage ist nur, woran das liegt.
Frau Simm, der doppelt so viel Redezeit zur Verfügung
stand wie mir jetzt, konnte darauf etwas ausführlicher eingehen. Ich fasse mich ganz kurz und sage: Es liegt an der
Überlastung von Polizei und Gerichten sowie an der
schlechten Ausstattung und Überlastung der Jugendgerichtshilfe. Die gesetzlichen Möglichkeiten, denke ich,
sind ausreichend.
({3})
An denen liegt es wohl zu allerletzt.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates geht meiner Meinung nach völlig an den Problemen vorbei, noch schlimmer: Er ist ein Angriff auf grundlegende Prinzipien des
Jugendstrafrechts. Wenn es um Haftstrafen für Jugendliche geht, muss sorgfältig gearbeitet werden. Das Jugendgerichtsgesetz legt ganz klar fest, was darunter zu verstehen ist.
({4})
- Wenn ich mich mit Ihren alten Argumenten, Herr Geis,
wie Herabsetzung der Strafmündigkeit auseinander setzen würde, die Sie Jahr für Jahr aus der Mottenkiste holen, dann hätte ich viel zu tun.
({5})
- Wissen Sie, ich saß vorher vier Jahre im Rechtsausschuss des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern.
Auch dort durfte ich mich öfter mit Ihren Ergüssen auseinander setzen. Sie sind ja - das möchte ich Ihnen zugestehen - ein Stück weit über den Bundestag hinaus bekannt, sodass mir das auch dort leider nicht erspart blieb.
({6})
Die so genannten beschleunigten Verfahren aus dem
allgemeinen Strafrecht können dem, was ich vorhin über
die Haftstrafen für Jugendliche gesagt habe, nicht gerecht
werden. Genau deshalb sind sie ausdrücklich unzulässig.
Das muss auch so bleiben.
Richtig haarig wird es an dem Punkt, wo die Hauptverhandlungshaft auch für Jugendliche eingeführt werden soll. Dieser Vorschlag stellt sich ausdrücklich gegen
das Prinzip der Haftvermeidung bei Jugendlichen und damit gegen unser nationales Recht. Es geht den konservativen Urhebern dieses Gesetzentwurfs offensichtlich im
Kern wieder einmal darum, sich als Hüter der öffentlichen
Sicherheit aufzuspielen. Dazu ist ihnen bekanntlich jedes
Mittel recht. Zurzeit dient ja die Bekämpfung des Rechtsextremismus regelmäßig als Vorwand für den Ruf nach
Strafverschärfungen. Wir haben das heute auch vom
Justizminister aus Thüringen gehört. Alles, was die Konservativen schon immer am vermeintlich zu liberalen Jugendstrafrecht gestört hat, soll jetzt unter diesem Vorwand
wieder einmal entsorgt werden. Auch der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates, der auf Initiative des Landes
Thüringen zustande gekommen ist, lässt sich hier nahtlos
einreihen.
Ich wundere mich immer wieder, dass gerade diejenigen am lautesten nach Strafverschärfung rufen, die das
Problem des Rechtsextremismus an anderer Stelle kleinreden. Rechtsextremismus ist kein Jugendproblem, das
durch Änderungen im Jugendstrafrecht bekämpft werden
könnte. Hier sind gesamtgesellschaftliche Lösungen gefragt, die weit von der Ebene des Strafrechts entfernt ansetzen müssen. Gerade in Thüringen, aber nicht nur dort,
sollte man sich dieser Thematik viel dringender stellen.
({7})
1) Anlage 2
Ich gebe das
Wort nunmehr dem Kollegen Alfred Hartenbach für die
Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Minister Birkmann! Der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates beginnt mit zwei Denkfehlern.
Der erste Denkfehler ist, dass in der letzten Zeit - Frau
Simm hat schon darauf hingewiesen - die Verfahren zu
lange dauern. In dem Entwurf steht „Wochen und Monate“. Wenn Verfahren Wochen dauern, ist das bei Jugendlichen eine gute Sache, und Monate haben sie auch
schon vorher gedauert. Das wird man nicht verhindern
können.
Der zweite Denkfehler ist, dass wir etwas Neues brauchen. Gehen Sie einmal etwas in die Geschichte des Jugendgerichtsgesetzes hinein. Gustav Radbruch hat es
1923 hauptsächlich und vornehmlich initiiert. Er hat die
Strafmündigkeit mit diesem Gesetz von 12 auf 14 Jahre
hochgesetzt und hat erstmals für die 14- bis 17-Jährigen
neben den allgemeinen Knast, der damals, 1923, üblich
war, erzieherische Maßnahmen gesetzt.
Dass in der nationalsozialistischen Zeit leider vieles
verschärft wurde, will ich hier nicht weiter ausführen. Das
ist auch leider 1953 bei der ersten maßvollen Korrektur
des Jugendgerichtsgesetzes kaum verbessert worden. Allerdings hat dieses Jugendgerichtsgesetz 1953 etwas gebracht, was auch sehr wichtig ist: dass nämlich Jugendstrafrecht auch auf die 18- bis 21-Jährigen angewandt
werden kann.
Erst 1990 haben wir - Frau Simm hat eben schon das
Thema mit der Untersuchungshaft angesprochen - einen
weiteren Schritt hin zu einem modernen und auch sachgerechten Jugendstrafrecht getan, indem diese unselige
Jugendstrafe von unbestimmter Dauer abgeschafft wurde.
Diese Strafe war das Härteste, was man Jugendlichen
überhaupt antun konnte. Das geschah damals unter einer
konservativ-liberalen Regierung. Herr van Essen, derjenige, der das damals gemacht hat, war der Justizminister
Engelhardt.
({0})
Dies war ein sehr liberaler Mann.
({1})
- Ja, das war gut. - Das gebe ich Ihnen nur einmal kurz
mit auf den Weg: ein sehr liberaler Mann.
Was Sie heute wollen, Herr Birkmann - und darin sind
Sie von Herrn van Essen unterstützt worden -, ist, das Rad
wieder zurückzudrehen. Sie wollen wieder mehr formelles Erwachsenenstrafrecht in diesen Jugendstrafprozess
hineinbringen über die Verhaftung, über das beschleunigte Verfahren mit der Hauptverhandlungshaft. Sie kennen meine Einstellung zur Hauptverhandlungshaft. Es
war kein guter Tag, als dieser Bundestag damals die
Hauptverhandlungshaft beschlossen hat.
({2})
- Herr van Essen, ich habe eben erlebt, wie Ihre Praxis ist.
Die heißt: Rein in den Kasten; das wird schon helfen.
({3})
Früher sagte man dazu: U-Haft schafft Rechtskraft. Herr
van Essen, wenn Sie als Mensch mit liberalem Anspruch
sich hier hinstellen und sagen: „Es ist gut, wenn einer einmal einen Tag gesessen hat; das wirkt“, dann zementieren
und verfestigen Sie damit, dass Sie bei einer Unschuldsvermutung jemanden einfach einsperren wollen. Dann sehen wir mal zu, was hinterher daraus wird. Ich bin einigermaßen enttäuscht.
({4})
Ihr liberaler Freund, Herr Funke, hat Magenschmerzen
bekommen, als Sie hier eben geredet haben.
({5})
- Herr Geis, Gott sei Dank haben Sie heute mal nichts zu
sagen.
({6})
Wenn wir nun in diese Beratungen hineingehen - und
wir werden uns diesen Beratungen nicht verschließen -,
dann sollen Sie wissen,
({7})
was für uns als Prämisse gilt: Wir wollen, dass in dem
Spannungsfeld zwischen Strafe und pädagogischer Ausrichtung des Jugendgerichtsgesetzes der erzieherische
Gedanke eine ganz wesentliche und gewichtige Rolle
spielt.
({8})
Der erzieherische Gedanke kann keine wesentliche und
gewichtige Rolle spielen, wenn Sie hier ein HauruckVerfahren haben wollen, wie es das beschleunigte Verfahren ist.
({9})
Wir brauchen in diesen Verfahren eine sehr sorgfältige
Beobachtung des jungen Menschen und eine sehr sorgfältige Auslotung des Wesens des jungen Menschen.
({10})
Die allermeisten, die als Jugendliche abweichendes
Verhalten zeigen, sind weder kriminell noch drohen sie
kriminell zu werden. Deswegen war die Bemerkung „einen Tag in die Kiste“ auch so schlimm.
({11})
Sie brauchen eine klare entsprechende Ausrichtung. Das
gelingt eben nur mit einer vernünftigen Jugendgerichtshilfe und einer vernünftigen Verhandlung. Wir haben
- Frau Simm hat es angesprochen - die notwendigen Instrumentarien.
Sie wollen, dass gegen rechtsradikale jugendliche Täter so wie gegen Erwachsene verhandelt wird. Wir müssen auch das Umfeld genau derjenigen rechtsradikalen
Täter, die Herr Birkmann angesprochen hat, sehr sorgfältig und sehr genau ausloten. Gerade bei einem jungen
Menschen genügt es nicht, ihn wie einen Erwachsenen zu
packen, ihn ins „Kästchen“ zu stecken, gegen ihn zu verhandeln und ihn zu verurteilen. Alle Maßnahmen müssen
sehr sauber gegeneinander abgewogen sein.
({12})
- Herr Geis, da haben Sie Ihren Parteifreund, Herrn
Birkmann, ganz offensichtlich sehr missverstanden.
({13})
Im Hinblick darauf, dass wir die Beratungen demnächst beginnen, wiederhole ich: Es wird für uns wichtig
sein, dass wir bei Ihnen die Bereitschaft vorfinden, über
Möglichkeiten nachzudenken, wie man Tat und Reaktion
in einen vernünftigen zeitlichen Zusammenhang bringen
kann. Ich denke, dass ich bei Ihnen als früherem Familienrechtler Verständnis dafür finden müsste. Ich bin aber
nicht sicher, ob das auch für jemanden gilt, der einen Gentest für alle männlichen Bewohner dieses Landes will.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 14/5014 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an-
dere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie Zusatz-
punkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Einsetzung eines Ausschusses für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft
- Drucksache 14/5543 -
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Einsetzung eines Ausschusses für Verbraucher-
fragen
- Drucksache 14/5568 -
Zum Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis-
ses 90/Die Grünen liegt ein Änderungsantrag der Fraktion
der F.D.P. vor.
Ich habe heute Mittag im Ältestenrat gesagt, dass ich
auf die Weitsicht der Parlamentarischen Geschäftsführer
und auf die Einsicht der Redner vertraue. Wie die nächs-
ten vier Tagesordnungspunkte zeigen, ist dieses Vertrauen
gerechtfertigt. Bei diesem Tagesordnungspunkt geben die
Redner Ilse Janz, SPD, Peter Harry Carstensen,
CDU/CSU, Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen,
Gudrun Kopp, F.D.P., und Kersten Naumann, PDS, ihre
Reden zu Protokoll.1)
({0})
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar
zunächst über den Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Ein-
setzung eines Ausschusses für Verbraucherfragen. Wer
stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/5568? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
CDU/CSU bei Enthaltung der PDS gegen die Stimmen
der F.D.P. abgelehnt.
Wir kommen nun zu dem Antrag der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Einset-
zung eines Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernäh-
rung und Landwirtschaft“, Drucksache 14/5543. Hierzu
liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf
Drucksache 14/5569 vor, über den wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegen-
probe! - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
anderen Fraktionen abgelehnt.
Nun stimmen wir über den Antrag auf Drucksache
14/5543 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung von
CDU/CSU und PDS gegen die Stimmen der F.D.P. ange-
nommen. Damit ist der Ausschuss für Ernährung, Land-
wirtschaft und Forsten in Ausschuss für Verbraucher-
schutz, Ernährung und Landwirtschaft umbenannt. Der
Ausschuss hat 35 Mitglieder.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung der Formvorschriften des Pri-
vatrechts und anderer Vorschriften an den mo-
dernen Rechtsgeschäftsverkehr
1) Anlage 3
- Drucksache 14/4987 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 14/5561 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Dr. Wolfgang Götzer
Volker Beck ({3})
Dr. Evelyn Kenzler
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform des Verfahrens bei Zustellungen
im gerichtlichen Verfahren ({4})
- Drucksache 14/4554 ({5})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6})
- Drucksache 14/5564 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Dr. Norbert Röttgen
Helmut Wilhelm ({7})
Dr. Evelyn Kenzler
Die Kolleginnen und Kollegen Christine Lambrecht,
SPD, Dr. Wolfgang Götzer, CDU/CSU, Helmut Wilhelm,
Bündnis 90/Die Grünen, Rainer Funke, F.D.P., Dr. Evelyn
Kenzler, PDS, und die Bundesministerin der Justiz,
Dr. Herta Däubler-Gmelin, geben ihre Reden zu Pro-
tokoll.1)
Wir stimmen über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts und anderer Vorschriften an den modernen
Rechtsgeschäftsverkehr auf den Drucksachen 14/4987
und 14/5561 ab. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen des Hauses
bei Enthaltung der Fraktion der PDS angenommen.
Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des
gerichtlichen Zustellungsverfahrens auf den Drucksachen
14/4554 und 14/5564: Wer möchte diesem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte, hier ähnlich wie bei
der zweiten Beratung abzustimmen und sich zu erheben,
wenn Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen wollen. - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Bundesdisziplinarrechts
({8})
- Drucksache 14/4659 ({9})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({10})
- Drucksache 14/5529 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Enders
Meinrad Belle
Cem Özdemir
Petra Pau
Zu Protokoll gegeben wurden die Reden von Peter
Enders, SPD, Meinrad Belle, CDU/CSU, Helmut
Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Edzard Schmidt-
Jortzig, F.D.P., Petra Pau, PDS, und des Parlamentari-
schen Staatssekretärs beim Bundesminister des Innern,
Fritz Rudolf Körper.2)
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Bundesdisziplinarrechts auf den Drucksachen 14/4659 und
14/5529: Wer diesem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der F.D.P. und gegen die Stimmen der PDS ist
dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Beratung
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 217 zu Petitionen
({12})
- Drucksache 14/5256 -
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
1) Anlage 4 2) Anlage 5
Die Kolleginnen und Kollegen Reinhold Hiller, SPD,
Martin Hohmann, CDU/CSU, Cem Özdemir, Bündnis 90/
Die Grünen, Dr. Karlheinz Guttmacher, F.D.P., Ulla
Jelpke, PDS, und für die Bundesregierung die Staatsse-
kretärin Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast geben ihre Reden
zu Protokoll.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses in Sammelübersicht 217. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/5537 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Wer stimmt für Sammelübersicht 217 auf Drucksache
14/5256? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Sammelübersicht 217 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind am Schluss
der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. März 2001, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.