Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den
vergangenen zwei Jahren sind in Deutschland rund
900 000 neue Arbeitsplätze entstanden.
({0})
Das sind so viele neue Arbeitsplätze, wie in den Jahren
von 1991 bis 1998 verloren gegangen sind.
({1})
Diese Bundesregierung hat immer gesagt, sie lässt sich an
den Erfolgen am Arbeitsmarkt messen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung ist erfolgreich.
({2})
Allein im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Erwerbstätigen um rund 580 000.
({3})
Die Arbeitslosenquote sank auf 9,6 Prozent. Der Abbau
der Arbeitslosigkeit gelang dadurch stärker, als ich selbst
noch vor einem Jahr geglaubt hatte. Ich würde mich auch
in diesem Jahr gerne positiv überraschen lassen. Aber
schon, wenn es uns gelingt, die Zahl der Arbeitslosen im
Jahresdurchschnitt an die 3,5 Millionen heranzuführen,
wäre das ein großer Erfolg.
({4})
Wir erwarten für dieses Jahr einen Rückgang der Zahl der
Arbeitslosen um 270 000.
Meine Damen und Herren, anders als es die Opposition
behauptet, hilft uns die demographische Entwicklung das ist Ihre Fälschung - dabei nicht. Zwar gehen Jahr für
Jahr viele Menschen in Rente, noch mehr drängen aber
neu auf den Arbeitsmarkt. Menschen, die seit langem die
Hoffnung auf einen Arbeitsplatz aufgegeben hatten, fassen wieder Mut. Sie suchen einen Arbeitsplatz und sie finden ihn. Sie kommen aus der so genannten stillen Reserve. Die Legende, die Entlastung des Arbeitsmarktes sei
allein auf demographische Effekte zurückzuführen, ist
widerlegt. Die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt ist echt
und sie wäre ohne unsere erfolgreiche Wirtschafts- und
Finanzpolitik nicht so deutlich ausgefallen.
({5})
Der Chef von Audi, Herr Paefgen, hat in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ letzte Woche gesagt,
langfristig erwarte sein Unternehmen Produktionsengpässe. Dann sagte er wörtlich: „An den deutschen Standorten ist das Reservoir geeigneter Fachkräfte nahezu
ausgeschöpft.“ Dazu kann ich nur sagen: Sehr geehrter
Herr Paefgen, bilden Sie neue aus! Sie werden sie in Zukunft noch brauchen.
({6})
Es ist doch nicht so, dass es in Deutschland keine arbeitswilligen Menschen mehr gäbe, und es ist auch längst
nicht so, dass die, die gerne arbeiten wollen, nicht ausbildungsfähig und ausbildungswillig wären. Die Unternehmen müssen wissen, dass Investitionen in Ausbildung
ähnlich wichtig sind wie Investitionen in Anlagekapital.
({7})
Bei aller Unterstützung durch den Staat bleibt es die
Aufgabe der Unternehmen, in ihre Arbeitnehmer zu investieren. Deswegen bin ich froh über das, was das Bündnis
für Arbeit am vergangenen Sonntag zu diesem Thema gesagt hat.
({8})
- Ich komme zu Ihnen. - Anders sieht das scheinbar die
Union: Aus deren Reihen kam der Vorschlag, den Anspruch auf Weihnachtsgeld teilweise in einen Fortbildungsanspruch umzuwandeln. Ich kann da alle Arbeitnehmer nur warnen: Die Union will euch ans
Weihnachtsgeld. Ihr sollt einen Teil der Kosten der Unternehmen übernehmen.
({9})
- Dann dürfen Sie nicht solche Vorschläge machen.
({10})
Präsident Wolfgang Thierse
Ich bin sehr für lebenslanges Lernen. Fortbildungsbereitschaft muss bei den Arbeitnehmern bis ins hohe Alter
bestehen. Wir müssen auch wieder lernen, ältere Arbeitnehmer zu schätzen, und sie nicht frühzeitig in Rente
schicken.
({11})
Aber die Kosten zulasten der Arbeitnehmer zu verschieben, halte ich in der Tat für falsch. Das zeigt jedoch ausdrücklich, welche Position Sie einnehmen.
({12})
- Ja, darauf komme ich noch, wenn ich mir Ihre Haushaltsvorschläge anschaue. Für Sie kam der Aschermittwoch gerade eine Woche zu spät.
({13})
Bis vorige Woche, sogar bis zum Anfang dieser Woche,
hieß es: Der schwimmt im Geld. Jetzt heißt es - manchmal hat Ihr haushaltspolitischer Sprecher beides ja in einem Satz unterbekommen -: Er hat große Haushaltslöcher. Sie müssten sich einmal entscheiden, meine
Damen und Herren. Es ist unglaublich, was Sie sich in der
Haushaltspolitik alles leisten.
Das Wirtschaftswachstum in Deutschland war im
vergangenen Jahr so stark wie seit dem Wiedervereinigungsboom nicht mehr. Mit 3 Prozent lag es deutlich über
dem Durchschnitt der 90er-Jahre. Der Jahresdurchschnitt
betrug damals nämlich 1,4 Prozent. In den von Ihnen in
letzter Zeit hoch gehaltenen 80er-Jahren - weil Sie nicht
so gerne über die 90er reden - betrug der Durchschnitt
2 Prozent. Für 2001 erwarten wir weiterhin ein starkes
und robustes Wirtschaftswachstum. Die Dynamik wird
sich zwar leicht abschwächen; angesichts von 2,75 Prozent
realem Wachstum bleibt das Umfeld zum Aufbau neuer
Arbeitsplätze aber weiterhin günstig.
Meine Damen und Herren, die Lage in den neuen Ländern muss derzeit noch differenziert betrachtet werden.
({14})
Der Anpassungsprozess in der Bauwirtschaft dauert an
und ist auch unvermeidlich. Die ersten Jahre waren durch
einen - ich sage nicht überhöhten - Boom gekennzeichnet.
Angesichts der nach Jahrzehnten der Nichtinvestition vorgefundenen Situation in der ehemaligen DDR war das auch
notwendig. Das kann aber keine Dauersituation bleiben.
Andererseits übertrifft die Dynamik des verarbeitenden Gewerbes dort die im Westen schon seit längerem.
Die Unternehmen expandieren und sie sind auch international wettbewerbsfähig. Diese positive Entwicklung
wird von uns gefördert. Zur Verbesserung der Infrastruktur werden wir vor der Bundestagswahl einen neuen Solidarpakt schließen; so hat es der Bundeskanzler mit den
Ministerpräsidenten verabredet.
({15})
An dieser Stelle rate ich im Übrigen dazu, sich gelegentlich des Sachverstandes eines Ihrer Mitglieder, nämlich Herrn Späths, zu bedienen, um zu erkennen, wie die
Entwicklung in den neuen Bundesländern tatsächlich verläuft.
Als Wachstumsprognose für ganz Deutschland nenne
ich bewusst 2,75 Prozent. Prognosen, die sich auf einen
Zehntelprozentpunkt festlegen, versuchen eher, eine Tendenz anzudeuten. So genau kann niemand schätzen und
mit dieser Präzision können Wirtschaftsabläufe nicht vorhergesagt werden. Mit 2,75 Prozent meinen die Experten
die Bandbreite zwischen 2,875 Prozent und 2,625 Prozent. Noch im November sahen uns alle Experten eher am
oberen Rand dieser Spanne.
Die gestiegenen Energiepreise und die Abschwächung
der Wirtschaftsentwicklung in den Vereinigten Staaten
lassen uns vorsichtiger werden.
({16})
Deutschland wird in diesem Jahr wahrscheinlich eher am
unteren Rand dieser Spanne bleiben; die Aussichten sind
aber weiterhin günstig. Das belegen die Umfrageergebnisse des Deutschen Industrie- und Handelstages, der uns
seinerseits mit 2,8 Prozent eher am oberen Ende sieht und
der direkt am Puls der Zeit ist, also das Geschehen in den
Betrieben kennt.
Auch die gestern durch das Statistische Bundesamt
veröffentlichten Zahlen über den Auftragseingang zeigen: Auf der einen Seite gab es von Dezember zu
Januar eine leichte Abschwächung; im Zweimonatsvergleich - aus einem Einmonatsvergleich kann man nicht
viel schließen - sieht das schon anders aus. Eines kann
man sehen: Wir bewegen uns auf wesentlich höherem
Niveau als vor einem Jahr. Der Vergleich zwischen
Dezember 1999/Januar 2000 und Dezember 2000/
Januar 2001 zeigt, dass es insgesamt einen Anstieg des
Auftragseingangs um 10,3 Prozent - Inland 5,3 Prozent,
Ausland 16,8 Prozent - gibt. In Ostdeutschland sind die
Zuwächse doppelt so hoch wie im Westen. Das zeigt, dass
die These richtig ist: Wir haben - niemand bestreitet das eine Wachstumsabschwächung; aber wir haben gleichzeitig ein starkes, robustes Wirtschaftswachstum auf außerordentlich hohem Niveau. Das ist der eigentliche Sachverhalt, mit dem wir es zu tun haben.
({17})
Es besteht kein Grund zur Schwarzmalerei. Aus unbegründeter, übertriebener Schwarzmalerei - darin sind wir
Deutschen offenbar gut - könnte eher ein Risiko entstehen. Schwarzmalerei könnte bei den Verbrauchern zu
unnötiger Kaufzurückhaltung führen.
({18})
Wir blieben dann unter unseren Möglichkeiten. In der jetzigen Wirtschaftslage gilt: Schwarz sehen kommt teuer zu
stehen.
({19})
Im Hinblick auf die vor uns stehenden Wahlen - man
denke an die Staatsverschuldung - sage ich ebenfalls:
Auch schwarz wählen kommt uns teuer zu stehen.
({20})
Unsere Wachstumserwartung stützt sich vor allem auf
eine Binnennachfrage, die stärker als im vergangenen
Jahr ist. Unsere Erfolgsformel lautet: Höheres Netto-einkommen dank Steuersenkung multipliziert mit höherer
Beschäftigung gleich mehr Kaufkraft. Das Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr rund ein halbes Prozent
höher liegen, als es ohne die beschlossene Steuerreform
gewesen wäre. Die Entlastung der Bürger durch die Steuerreform ist auch deutlich höher als die Belastung durch
die gestiegenen Energiepreise. Von Ihrer Falschmünzerei
in Bezug auf das Thema Ökosteuer will ich gar nicht reden. Das Verhältnis zwischen Entlastung auf der einen
Seite und Belastung durch die Ökosteuer auf der anderen
Seite - diese Belastung wird über die Höhe der Rentenversicherungsbeiträge voll zurückgegeben - beträgt neun
zu eins.
({21})
Allein in diesem Jahr sinkt durch die Steuerreform die
Steuerbelastung der Bürgerinnen und Bürger sowie der
Unternehmen um rund 45 Milliarden DM. Es handelt sich
um nahezu 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Kein
Land in Europa - das ist gut so - hat eine solch durchgreifende Steuersenkung wie Deutschland durchgeführt,
obwohl eine Reihe von Ländern zum 1. Januar Steuersenkungen in Kraft gesetzt hat. Die Arbeitnehmer haben im
Januar und im Februar bereits mehr Nettolohn erhalten.
Im Schnitt bedeutet das einen Nettozuwachs um 3 Prozent. Von den Tariferhöhungen und von den Kaufpreissteigerungen - auch das muss man natürlich dagegenrechnen - will ich gar nicht sprechen. Ich wiederhole: Der
Nettozuwachs durch die Steuerreform liegt bei 3 Prozent.
Ich kann allen Arbeitnehmern versichern: Das bleibt
nicht nur so; vielmehr wächst 2003 und 2005 die Entlastung noch an.
Nutzen Sie das zusätzliche Einkommen!
Herr Uldall, ich bin übrigens ganz zufrieden mit dem,
was Sie gesagt haben. Sie haben inzwischen anerkannt,
dass es sich in der Tat um eine große Steuerreform handelt, nachdem Sie die ganze Zeit versucht haben, das in
Abrede zu stellen. Sie haben aber hinzugefügt, sie sei
nicht größer als die Steuerreform von Stoltenberg. Es gibt
dennoch einen großen Unterschied, sehr geehrter Herr
Uldall: Zu der Zeit von Stoltenberg betrug die Zinsausgabenquote 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wir
haben aber von Ihnen einen Haushalt mit einer Zinsausgabenquote von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
übernommen. Der Unterschied entspricht einer Summe
von 40 Milliarden DM. Ausgehend von dieser höheren
Ausgabe musste ich die Steuerreform durchführen. Insofern handelt es sich um eine weitaus größere Anstrengung,
als Sie sie in den 80er-Jahren zusammen mit Herrn
Stoltenberg im Rahmen Ihrer Steuerreform auf sich genommen haben.
({22})
Unsere Steuerreform kommt genau zur rechten Zeit.
Wenn wir sie nicht schon beschlossen hätten, müssten wir
uns jetzt damit beeilen. Deutschland reagiert auf die Abkühlung der Weltwirtschaft im richtigen Augenblick mit
einer Steuersenkung. Wir stärken die Binnennachfrage
und kompensieren so den womöglich etwas schwächeren
Export.
Man muss allerdings den Export genauer betrachten
- man kann sich zum Beispiel den Automobilexport in
die Vereinigten Staaten ansehen -: Zwar hat auf der einen
Seite der Automobilhersteller Volkswagen weniger Autos
in den USA abgesetzt - gleichzeitig konnte er in Deutschland mehr Autos absetzen; allgemein haben wir bei den
Zulassungen im Januar 2001 einen Zuwachs gegenüber
dem Januar 2000 -, aber auf der anderen Seite hat der Absatz aller anderen deutschen Automobilhersteller in den
USA zugelegt. Diese erstaunliche Entwicklung zeigt, dass
unsere Produkte gut sind.
Im Übrigen weise ich darauf hin, dass für unsere Volkswirtschaft der Export in die mittelosteuropäischen Reformstaaten dieselbe Bedeutung hat wie der Export in die
Vereinigten Staaten. Die Wirtschaft der mittelosteuropäischen Reformstaaten wächst nämlich stark.
Auch die amerikanische Regierung plant eine Steuerreform, um dort die Wachstumsschwäche zu überwinden.
Die amerikanische Notenbank hat bereits schnell und
drastisch die Zinsen gesenkt. Es sieht so aus, als könnten
die USA - dies ist jetzt aber eine Sache der Interpretation;
keiner kann es genau vorhersagen - bald wieder bessere
Wachstumswerte erreichen. Davon wird die gesamte Weltwirtschaft profitieren, auch Deutschland.
Im vergangenen Jahrzehnt haben die Vereinigten Staaten eine nie da gewesene Phase von Wirtschaftswachstum, von sinkender Arbeitslosigkeit und von relativ stabilen Preisen erlebt. Viele sahen darin den Beginn einer
New Economy. Ich weise allerdings auch auf die Schattenseiten hin, die wir lange Zeit nicht ausreichend diskutiert haben: das große Leistungsbilanzdefizit, das uns in
der Tat mit Blick auf die Weltwirtschaft Sorgen machen
muss, die geringe Sparrate und in vielen Fällen die hohe
Verschuldung der privaten Haushalte.
Aber die anderen Entwicklungen sind positiv. Träger dieser positiven Entwicklungen war die Informations- und
Kommunikationstechnologie. Der Jahreswirtschaftsbericht 2001 widmet diesem Phänomen ein eigenes Kapitel.
Die jüngste Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft
steht nicht unbedingt im Widerspruch zur New Economy;
denn nicht zu übersehen sind die Produktivitätszuwächse in
den USA, die durch den Einsatz der Informations- und
Kommunikationstechnologie zu verzeichnen waren. Das
Produktionspotenzial in den USA wurde auf Dauer erhöht
und modernisiert.
Die New Economy hat darüber hinaus zu einem anhaltenden Strom von Innovationen geführt. Innovationen sind
der Antrieb des Wirtschaftswachstums. Wir müssen uns um
mehr Innovationen bemühen. Träger von Innovationen sind
häufig Unternehmensgründer. Nicht ohne Grund werden
Unternehmungsgründungen in vielen deutschen Förderprogrammen als Start-ups bezeichnet. Herr Präsident, Sie müssen mir verzeihen, der Fachausdruck für Unternehmensgründungen ist nun einmal „Start-ups“; ich kann kein
anderes Wort dafür finden. Viele Unternehmungsgründungen starten aus dem Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie. Dort dominiert Englisch als Fachsprache. Die Wortwahl entspricht der Zielgruppe.
In einer hoch entwickelten Volkswirtschaft wie der
deutschen ist es schwer, als Unternehmensgründer einen
Markt zu erobern. Wer ohne viel Geld unternehmerisch
tätig werden will, dem bietet die Informations- und
Kommunikationstechnologie weiterhin beste Chancen.
Mit einer überzeugenden Idee lässt sich viel bewegen.
Darin liegt ein großer Teil der Faszination der New Economy. Ich hoffe, dass noch viele ihre Kreativität auf diesem Sektor ausprobieren. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung wird sie dabei unterstützen.
Ich sage aber auch mit allem Nachdruck: Vorstellungen, insbesondere Vorstellungen an der Börse, die nur auf
Fantasie gegründet sind, sind nicht die richtige Grundlage. Das haben wir an der Entwicklung auf dem Neuen
Markt sehen können.
({23})
Der Europäische Rat von Lissabon hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, im Bereich der Informations- und
Kommunikationstechnologie nicht nur zu den Vereinigten
Staaten aufzuschließen, sondern die führende Wettbewerbsposition in der Welt zu übernehmen. Die Bundesregierung
arbeitet auf dieses Ziel hin. Wir brauchen dazu einen stabilen makroökonomischen Rahmen, eine verlässliche Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch eine technikfreundliche Gesellschaft.
Für eine verlässliche, stabilitätsorientierte Finanzpolitik steht diese Bundesregierung. Die Offenheit gegenüber
technischen Entwicklungen ist in allen Bevölkerungsgruppen hoch. Es gibt keine strukturellen Gründe, warum
Europa und Deutschland nicht ebenso wie die Vereinigten
Staaten zu einer lang anhaltenden Phase eines starken
Wirtschaftswachstums und einer stetig sinkenden Arbeitslosigkeit bei stabiler Preisentwicklung kommen sollten. Der Euro hat die Voraussetzungen dafür übrigens
deutlich verbessert.
Die Wachstumsprognosen der Bundesregierung stützen sich aber nicht auf überzogene Erwartungen an die Informations- und Kommunikationstechnologie. Vielleicht
schon in wenigen Monaten wird aus der Gentechnik eine
„New New Economy“, oder ein Sektor, an den wir noch
gar nicht denken, bringt über eine Basisinnovation zusätzlichen Schwung in die Wirtschaftsentwicklung.
In diesem Jahr dürfte das Wachstum in der Europäischen Union bei rund 3 Prozent liegen. Deutschland hat
im vergangenen Jahr mit seinem starken Wirtschaftswachstum zum Trend in der Europäischen Union aufgeschlossen. Das hatten wir auch bitter nötig, nachdem wir
seit Mitte der 90er-Jahre hintendran hingen. Der lange
Zeit große Abstand Deutschlands zum Durchschnittswachstum in Europa wurde stark verringert, und das trotz
der Anpassungsprobleme in den neuen Bundesländern.
Ähnliche Probleme hat keiner unserer europäischen
Nachbarn zu bewältigen. Schon wenn die schlechte Lage
der Bauwirtschaft in den neuen Ländern, die sich zwingend ergab, unberücksichtigt bliebe, sähe das Gesamtergebnis viel freundlicher aus.
Wir arbeiten darauf hin, dass Deutschland eine angemessene Rolle in Europa spielt, so wie es der größten
Volkswirtschaft zukommt, und gemeinsam mit Frankreich unter den Großen eine starke Position in der Mitte
Europas einnimmt. Dieser Prozess verlangt eine stärkere
Zusammenarbeit der nationalen Regierungen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Verflechtungen zwischen den Staaten haben zugenommen. Den
zunehmenden Interdependenzen muss Deutschland mit
seinen europäischen Partnern gemeinsam gerecht werden.
Wir brauchen in Europa günstige makroökonomische
Bedingungen und weitere Strukturreformen, um die Arbeitslosigkeit weiter zu bekämpfen. In einem Satz: „Reformkurs fortsetzen - Wachstumsdynamik stärken“, so
auch der Titel des diesjährigen Jahreswirtschaftsberichts.
Der Jahreswirtschaftsbericht stellt ausführlich die Vernetzung der nationalen mit der europäischen Wirtschaftspolitik dar. Es sind die gemeinsamen Grundzüge der Wirtschaftspolitik aller Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, an
denen sich auch die nationale Politik, die vorher an ihrer
Formulierung beteiligt ist, anschließend orientieren muss.
Gerade die Grundzüge der Wirtschaftspolitik zeigen, wie
stark der Einfluss der europäischen Einigung auf unsere
Wirtschafts- und Finanzpolitik inzwischen notwendigerweise geworden ist.
Im Europäischen Rat der Wirtschafts- und Finanzminister wollen wir nächste Woche einen weiteren
Schritt in Richtung einer wissensbasierten, fortschrittlichen Wirtschaft und Gesellschaft in Europa gehen. Das deutsche Positionspapier für diesen Ecofin-Rat
ist sehr konkret. Wir nennen die Maßnahmen, die wir uns
wünschen, und verbinden sie mit Zeitpunkten, die wir anstreben. Das gilt beispielsweise für die vollständige Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes bis zum
Ende des Jahres, aber auch der Post-, Gas- und Strommärkte, für die spätere Zeitpunkte gelten.
Bei dieser Gelegenheit will ich noch eine Bemerkung
zum Thema Postmonopol machen. Ich bin sehr für eine
Öffnung der Märkte. Wir werden das Wachstumspotenzial des Binnenmarktes nur entfalten, wenn wir ihn wirklich öffnen. Das heißt, nationale Regulierungen stören
und müssen weg; wir brauchen europäischen Regulierungen. Aber wir brauchen auch einen ungefähren Gleichklang bei der Deregulierung in den nationalen Volkswirtschaften. Es kann nicht so sein, dass wir alle unsere
Märkte öffnen und andere aus gesicherten Monopolen heraus in unsere Märkte eindringen. Das kann auch nicht
deutsches Interesse sein.
({24})
So werden wir übrigens bei der Öffnung der Märkte in
Europa auch nicht vorankommen. Wenn der Druck auf
diejenigen, die sich bisher noch der Öffnung der Märkte
verweigern - das hat ja nationale Gründe, die man politisch alle verstehen kann -, nicht aufrechterhalten wird,
dann werden wir es nicht schaffen. Infolgedessen brauchen wir ein Stück Harmonisierung bei der Öffnung der
Märkte. Es dient deutschen Interessen nicht, an dieser
Stelle zu sagen: Wir machen das ohne Rücksicht darauf,
ob die anderen mitziehen oder nicht. Daran, dass wir das
nicht tun, möchte ich angesichts der Debatte in der letzten
Zeit um das, was Herr Kollege Müller angestoßen hat,
herzlich appellieren.
({25})
Auch die drängenden Probleme des Verbraucher- und
des Umweltschutzes können wir nur gemeinsam lösen.
Dabei will ich auch auf eine positive Nachricht dieser
Tage hinweisen: Nachdem es bisher eine Fundamentalopposition Spaniens gegen die Harmonisierung der Energiebesteuerung in Europa gab, scheint sich jetzt die spanische Position langsam zu verändern, und zwar im
Hinblick auf den Vorschlag, den die schwedische Präsidentschaft auf den Tisch gelegt hat, ebenso wie im Hinblick darauf, dass auch Spanien ein großes eigenes Interesse daran hat, einen gemeinsamen europäischen
Energiemarkt zu schaffen.
Dies zeigt, dass man keinen gemeinsamen europäischen Energiemarkt schaffen kann, wenn man nicht auch
die Energiebesteuerung harmonisiert. Die Umsetzung
dieser Erkenntnis würde uns übrigens aus vielen Debatten
herausbringen, die wir ganz unnötigerweise führen. Ich
erinnere daran, dass dies schon das Ziel der Vorgängerregierung war - ich kritisiere das nicht -, das wir nachhaltig verfolgen, und dass die Ökosteuer damals bereits ein
europäisches Thema war und nur an Spanien und Irland
gescheitert ist. Warum führen wir heute solche Debatten?
Mir leuchtet das nicht ein.
({26})
Meine Damen und Herren, die günstige Situation in
Deutschland ist natürlich nicht nur das Ergebnis unserer
Politik, sondern daran haben alle Menschen im Lande
mitgearbeitet. Auch die Tarifpartner haben großen Anteil
daran. Im Bündnis für Arbeit hatten sie eine beschäftigungsfördernde Lohnpolitik vereinbart, die auch umgesetzt wurde. Dies hat verhindert, dass aus dem Anstieg der
Ölpreise eine Lohn-Preis-Spirale geworden ist. Die Lohnabschlüsse haben sich auch positiv auf den Arbeitsmarkt
ausgewirkt. Sie belegen, was Mitbestimmung und Mitverantwortung bedeuten, dass sie sich für alle Beteiligten
auszahlen und dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Organisationen, die Gewerkschaften,
sehr wohl sehr verantwortlich damit umgehen. Das sollte
auch in der Debatte um die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes beachtet werden.
({27})
Wir haben große Fortschritte bei der Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit gemacht. Die Finanzpolitik hat wesentlich dazu beigetragen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, dessen Bericht hier auch zur Aussprache steht, hat die Richtung unserer Finanzpolitik ausdrücklich gelobt. Natürlich
gibt es Kritik im Detail; das erwarte ich von Wissenschaftlern auch. Aber die Konsolidierung und die Steuerreform werden in ihren Grundzügen ausdrücklich begrüßt. Der Sachverständigenrat formuliert wörtlich:
Die Politik hat begonnen, den wachstumshemmenden Reformstau aufzulösen.
Für den Stau waren andere vor uns verantwortlich. Seine
Beseitigung erfolgt durch uns.
({28})
Wir haben für unsere Politik das beste Zeugnis erhalten, das eine Regierung seit langem bekam. Wäre das Urteil der Fünf Weisen zu Zeiten der Regierung Kohl auch
nur einmal so gut ausgefallen, wie es diesmal für uns ausfällt, hätte das bayerische Fernsehen dieses Urteil nonstop
den ganzen Tag über verlesen.
({29})
Ich bin davon überzeugt: Wir machen die richtige Wirtschafts- und Finanzpolitik. Deutschland ist in europäischer Einbindung auf gutem Wege. Genau diesen Weg
werden wir weitergehen.
({30})
Ich erteile dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wer soeben diese Rede gehört hat,
muss zu der Erkenntnis kommen, dass es wohl ein schwerer Fehler war, die Zuständigkeit für den Jahreswirtschaftsbericht dem Finanzminister zu übertragen.
({0})
Diese Rede, Herr Eichel, hätte jedenfalls der Präsident des
Statistischen Bundesamtes der Bundesrepublik Deutschland genauso halten können.
({1})
Aber ich will den Ball schon aufnehmen und auf die
Zahlen zu sprechen kommen, die Sie hier erwähnt haben.
Lassen Sie mich zunächst etwas zu den Wachstumserwartungen für das Jahr 2001 sagen und dabei auch einen kurzen Blick zurück auf das Jahr 2000 werfen.
Wir haben in der Tat im Jahr 2000 in der Bundesrepublik Deutschland ein höheres Wachstum als im Vorjahr
gehabt, aber das Wachstum des Jahres 2000 in unserem
Land befand sich am unteren Rand des Mittelfeldes der
Europäischen Union. Die meisten stark wachsenden Länder in der Euro-Zone haben ein höheres Wachstum als die
Bundesrepublik Deutschland gehabt.
Wenn Sie es im Quartalsvergleich sehen, dann wird die
Entwicklung des Jahres 2000 noch deutlicher.
({2})
Im ersten Quartal betrug das Wachstum in Deutschland
1 Prozent, im zweiten Quartal 1,2 Prozent, im dritten
Quartal 0,3 Prozent und im vierten Quartal 0,2 Prozent.
Das war das Ergebnis des Jahres 2000.
Herr Eichel, für das Jahr 2001 glaubt außer Ihnen in
Deutschland mittlerweile kaum noch jemand daran, dass
wir ein Wachstum von 2,75 Prozent erreichen.
({3})
Die Probleme sind unübersehbar.
({4})
Die Konjunktur leidet unter dem, was in Amerika und in
Japan bevorsteht. Wir haben in der Bundesrepublik
Deutschland wegen der hohen Exportabhängigkeit keine
Chance, den Ausfall im Wachstum in der Binnenkonjunktur zu kompensieren.
({5})
Dies schlägt sich auf dem Arbeitsmarkt nieder. Herr
Eichel, es gehört wirklich schon eine ganze Menge Dreistigkeit dazu zu behaupten, wir hätten in der Bundesrepublik Deutschland einen Zuwachs an Beschäftigung und
eine Abnahme der Arbeitslosigkeit.
Auch ich will es jetzt nicht mit Zahlen übertreiben,
aber eine Zahl will ich Ihnen schon nennen. Im Oktober 1998, im Monat der Regierungsübernahme durch Sie,
gab es 3,9 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Im Februar 2001, nach der Halbzeit, sind es 4,11 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Wo kommt denn der Abbau der
Arbeitslosigkeit her?
({6})
Herr Eichel, Sie können nun wirklich niemandem in
Deutschland erklären, dass die Arbeitslosigkeit abnimmt.
Sie haben sämtliche statistischen Effekte herausgerechnet.
({7})
- Ja, ich kann gut verstehen, dass es Ihnen Probleme bereitet, wenn ich Ihnen die Zahlen vorhalte, mit denen Sie
hier jonglieren.
({8})
Meine Damen und Herren, auch der Sachverständigenrat sagt klipp und klar:
({9})
Es hat keine Zunahme der Beschäftigung in Deutschland
gegeben, keine Zunahme an Arbeitsstunden. Wenn Sie
sich darauf beziehen, dass die Beschäftigtenzahlen zugenommen haben, dann sind das ausschließlich die früheren
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die Sie jetzt
sozialversicherungspflichtig gemacht haben. Das ist die
Zunahme an Beschäftigung, Herr Eichel, die Sie uns hier
gerade dokumentiert haben.
({10})
Sie haben relativ kurz und ziemlich oberflächlich etwas zur Lage in den neuen Ländern gesagt. Wir hätten
erwartet, dass in dieser Rede ein wesentlich größerer
Schwerpunkt auf die Lage in den neuen Ländern gelegt
worden wäre, die nun in der Tat besorgniserregend ist.
Die neuen Länder stehen nicht auf der Kippe, wie der
Herr Bundestagspräsident meinte beurteilen zu müssen.
Die Lage dort ist sehr differenziert zu betrachten; sie ist
unterschiedlich. Sie ist - genauso wie auch in der alten
Bundesrepublik in Baden-Württemberg und Bayern - in
den südlichen Ländern, in Sachsen und in Thüringen,
wesentlich besser als in den Ländern, wo beispielsweise
die SPD zusammen mit der PDS regiert, in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern. Aber sie ist unverändert schwierig.
Weil sie schwierig ist, hat Ihnen, Herr Bundeskanzler,
einer der Ministerpräsidenten der neuen Länder vor knapp
zwei Wochen einen Brief geschrieben, ausführliche Vorschläge gemacht, wie man die Lage in den neuen
Bundesländern verbessern könne, insbesondere mit einer
Infrastrukturoffensive Ost, und diesen Brief hat in der vergangenen Nacht per Fax Ihr Staatsminister Schwanitz beantwortet, die Zahlen bestritten,
({11})
die Vorschläge abgelehnt
({12})
und damit ist das Thema für Sie erledigt.
({13})
Herr Bundeskanzler, Sie haben den Aufbau Ost zur
Chefsache erklärt. Dann ist es eine Unverschämtheit, dass
der Brief eines Ministerpräsidenten aus einem der neuen
Länder mit konkreten Vorschlägen zur Verbesserung der
Lage durch einen Staatsminister beantwortet wird. Es ist
eine Unverschämtheit!
({14})
Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist fast dreimal so hoch wie in der alten Bundesrepublik Deutschland.
Die Entwicklung geht nicht zueinander, sondern sie geht
wieder auseinander. Das Wachstum dort ist geringer als in
der alten Bundesrepublik Deutschland, obwohl die
Wachstumslücke so groß ist, dass es eigentlich größer sein
müsste. Was sind die konkreten Antworten der BundesreFriedrich Merz
gierung auf die Probleme in den neuen Bundesländern im
Rahmen der Chefsache Ost, die vom Bundeskanzler ausgerufen worden ist? Sie hätten heute die Gelegenheit nutzen sollen, darauf eine Antwort zu geben.
({15})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat
- nicht ohne gute Gründe - einen Schwerpunkt auf den
Abbau der Jugendarbeitslosigkeit gelegt. Zum Thema
Jugendarbeitslosigkeit, Herr Eichel, haben Sie kein Wort
gesagt. Lassen Sie es mich tun: Der Anteil der arbeitslosen Jugendlichen an den Arbeitslosen insgesamt ist seit
dem Zeitpunkt, seit dem diese Regierung im Amt ist, von
10,9 auf 11,4 Prozent angestiegen. Nun hat der absolute
Wert bei den Jugendlichen etwas abgenommen. Bei
knapp 500 000 arbeitslosen Jugendlichen sind es in den
letzten zwei Jahren 20 000 weniger. Für diese 20 000 Jugendlichen haben Sie im Rahmen Ihres so genannten
JUMP-Programms zwei Jahre lang jeweils 2 Milliarden DM aufgewendet, also insgesamt 4 Milliarden DM
für ein Programm, das dazu geführt hat, dass 20 000 Jugendliche weniger arbeitslos sind.
({16})
Das ist eine Verschwendung von Steuermitteln. Sie setzen
sie nicht so effizient ein, dass gerade auf diesem Teil des
Arbeitsmarktes eine Verbesserung erfolgt. Das ist ein katastrophales Ergebnis.
({17})
Herr Bundeskanzler, Sie haben sehr viel Wert darauf
gelegt, dass das Bündnis für Arbeit nach Ihrem Regierungsantritt wieder auflebt. Sie haben zu Beginn Ihrer
Amtszeit dieses Bündnis für Arbeit als das zentrale
makroökonomische Steuerungsinstrument für die Wirtschaftsentwicklung und für den Arbeitsmarkt angesehen.
Mittlerweile ist das alles auf Normalmaß geschrumpft.
Aber vielleicht darf man doch einmal die Verabredungen, die dort getroffen worden sind, im Lichte der Ergebnisse beurteilen. Ich begrüße es übrigens sehr, dass Sie
beim letzten Zusammentreffen des Bündnisses für Arbeit
am letzten Sonntag verabredet haben, den verhängnisvollen Weg zur Frühverrentung älterer Arbeitnehmer zu stoppen. Ich bezweifle allerdings, ob man diese Verabredung
irgendwann einmal umgesetzt sieht. Denn das, was Sie
vor acht Monaten, nämlich am 10. Juli des letzten Jahres,
als das Bündnis für Arbeit zum letzten Mal zusammengetreten ist, verabredet haben, ist überhaupt nicht Realität
geworden. Sie haben sich damals für den beschäftigungswirksamen Abbau von Überstunden ausgesprochen. Mit
1,9 Milliarden Überstunden kam es Ende letzten Jahres zu
einem Höchststand in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland.
Lassen Sie mich einmal die Ergebnisse Ihrer Arbeitsmarktpolitik zusammenfassen: 4,11 Millionen Arbeitslose,
({18})
1,8 Millionen in der so genannten stillen Reserve, 1,9 Milliarden Überstunden - dies ist ein Höchststand -, 500 000 offene Stellen und gleichzeitig - dazu haben Sie, Herr
Eichel, kein Wort gesagt - eine dreimal so schnell wachsende Schattenwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zum tatsächlichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts.
Niemand behauptet, es gebe in diesem Land zu wenig
Arbeit. Es gibt genug Arbeit. Aber offensichtlich ist die
vorhandene Arbeit nicht mehr so organisiert, dass sie in
der realen Volkswirtschaft stattfinden und zu bezahlbaren
Preisen als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung
angeboten werden kann.
({19})
Was ist die Antwort der Bundesregierung? Sie regulieren den Arbeitsmarkt immer mehr und Sie benachteiligen
einseitig die Unternehmen, die eigentlich für einen Zuwachs an Beschäftigung und auch für einen Zuwachs an
Ausbildungsplätzen in Deutschland sorgen könnten, nämlich die mittelständischen Unternehmen.
({20})
Die einseitige Benachteiligung des Mittelstandes in
Deutschland
({21})
ist die eigentliche Ursache für die nicht überwundene Beschäftigungskrise.
({22})
Sie stellen uns zu Recht immer wieder die Frage: Was
ist denn nun Ihre Alternative zur Wirtschaftspolitik der
rot-grünen Bundesregierung? Ich will Ihnen vier Punkte
nennen:
({23})
Erstens. Wir müssen in Deutschland den Mittelstand
stärken und dürfen ihn nicht weiter schwächen.
({24})
Dies hat konkrete Auswirkungen auf die Steuerpolitik.
({25})
Sie haben im letzten Jahr eine viel gefeierte Steuerreform durchgesetzt. Diese Steuerreform entpuppt sich
immer mehr als eine Steuerreform zugunsten der großen
Unternehmen - die zunehmend, richtigerweise, auch im
Ausland investieren - und als eine Steuerreform, die ohne
jede sachliche Begründung einseitig den Mittelstand benachteiligt.
({26})
Wir fordern Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass die mittelständischen Unternehmen in Deutschland früher als im
Jahr 2005 entlastet werden!
In diesem Zusammenhang lassen Sie mich ein offenes
Wort an die Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. richten.
Ich finde es ja bemerkenswert, dass Sie in der Steuerpolitik jetzt neue Initiativen ergreifen und die Politik auffordern, schneller voranzugehen. Wir teilen diese Einschätzung. Aber ich bin, so muss ich sagen, schon etwas
erstaunt, wenn ich lese, was der zukünftige Vorsitzende
der F.D.P. in einem Gastbeitrag für eine Zeitung vor einigen Tagen veröffentlicht hat. In diesem Artikel vergleicht
er die Steuerpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika
- diese dürfte in der Tat eine große Herausforderung auch
für uns werden - mit der von der Bundesregierung durchgesetzten Steuerreform. Er schreibt dort:
Was im direkten Zahlenvergleich schon armselig genug wirkt,
- er meint die deutsche Steuerpolitik entpuppt sich auf den zweiten Blick als volkswirtschaftlicher Offenbarungseid.
Ich teile diese Einschätzung, frage mich nur: Warum haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.,
im letzten Jahr der Steuerreform im Bundesrat zugestimmt?
({27})
Wir brauchen eine Steuerreform, die auf die mittleren und
kleinen Unternehmen ausgerichtet ist und deren Wachstum ermöglicht.
Zudem muss, meine Damen und Herren, der Unfug mit
der Ökosteuer aufhören.
({28})
Herr Bundesfinanzminister, wir hätten uns schon gewünscht, dass Sie im Namen der Bundesregierung ein
klärendes Wort sagen, wie es denn nun nach 2002 mit der
Ökosteuer weitergehen soll.
({29})
Dazu haben wir in den letzten Tagen von Rot und Grün
die verschiedensten Varianten gehört. Bei Ihnen geht es
bei der Debatte über die Ökosteuer zu wie in einem Kegelklub nach der fünften Lokalrunde.
({30})
Wir hätten schon gerne Klarheit: Wie geht es jetzt weiter?
Was ist die Position der rot-grünen Bundesregierung zur
Zukunft der Ökosteuer? Wird weiter abgezockt oder ist,
wie der Bundeskanzler sagt, das Ende der Fahnenstange
erreicht?
({31})
Was gilt denn nun, Rot-Grün?
({32})
Zweitens. In der Bundesrepublik Deutschland besteht
durch Mitbestimmungsgesetz und Betriebsverfassungsgesetz ein außergewöhnlich hohes Maß an sozialem Frieden in Unternehmen und es gibt bewährte soziale Partnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
Aber das, was wir jetzt mit der Vorlage eines neuen Betriebsverfassungsgesetzes erleben,
({33})
das hat mit der Fortsetzung der Mitbestimmung und der
Fortsetzung der sozialen Partnerschaft in den Betrieben
nichts mehr zu tun. Was Sie hier vorlegen, ist ein Gesetz
zur Stärkung der Funktionäre von außen zulasten der Autonomie und der Verantwortung der Belegschaft von innen.
({34})
An dieser Stelle sind wir an einem Grundproblem Ihrer Wirtschaftspolitik. Das hat mit Mitbestimmung gar
nichts mehr zu tun, sondern berührt die Grundfrage, ob es
richtig ist, dass wir in einem Staat leben, in dem die
großen Organisationen, der Staat, die Gewerkschaften,
die Verbände, immer mehr Verantwortung übertragen bekommen, immer mehr Möglichkeiten zur Bevormundung
des Einzelnen und der Betriebe haben, oder ob es nicht
besser wäre, angesichts der großen Herausforderungen in
einer globalisierten Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts
den Betrieben in Deutschland ein höheres Maß an
Eigenverantwortung und Autonomie zu übertragen. Das
ist die entscheidende Frage.
({35})
Herr Bundeskanzler, Sie können sich die, wie ich höre,
groß angelegte Veranstaltung am 3. Oktober zur Bürgergesellschaft in diesem Lande sparen, wenn Sie gleichzeitig ein Betriebsverfassungsgesetz vorlegen, das nicht die
Bürger in Deutschland, sondern die Funktionäre in diesem Land weiter stärkt.
({36})
- Ihre Zwischenrufe bestätigen mich in unserer Einschätzung, dass das, was Sie jetzt als neues Betriebsverfassungsgesetz vorlegen, was durch die Wahlverfahren die
DGB-Gewerkschaften in den Betrieben der Bundesrepublik Deutschland einseitig bevorzugen und stärken soll,
der Dank der rot-grünen Bundesregierung für die Wahlkampfunterstützung in Höhe von 8 Millionen DM im
Jahr 1998 ist. Das ist die Wahrheit.
({37})
Drittens. Wir brauchen durchgreifende und langfristig
wirkende Reformen der sozialen Sicherungssysteme in
Deutschland. 75 Prozent der Menschen in Deutschland
glauben nicht, dass die von Rot-Grün vorgelegte Reform
der Rentenversicherung wirklich für eine Generation
trägt. 75 Prozent der Menschen in Deutschland liegen
richtig mit ihrer Einschätzung. Auch die anderen 25 Prozent werden bald verstehen, dass eine Rentenreform, so
wie Sie sie vorgelegt haben, nicht in der Lage ist, die Probleme, die wir innerhalb der Rentenversicherung haben,
wirklich zu lösen.
({38})
Sie werden allerdings mit Ihrer Politik der falschen Reform in der Rentenversicherung und der Verweigerung
der Reform, die eigentlich in der Krankenversicherung
notwendig wäre, an keiner Stelle in Deutschland eine
wirklich substanzielle Begrenzung der Lohnzusatzkosten
für die Wirtschaft erreichen. Die Kostenbelastung und die
Bürokratiekosten in den Betrieben, die Sozialabgaben,
die Summe der Abgaben aus Sozialversicherungsbeiträgen
({39})
und Steuern in Deutschland sinken unter dieser Regierung
nicht, sondern sie haben im Jahr 2000 einen historischen
Höchststand erreicht.
({40})
Das ist die Politik, meine Damen und Herren, die Sie machen und die mit Sicherheit nicht zur Überwindung der
Beschäftigungskrise führen wird.
({41})
Der vierte Sachverhalt, den ich in diesem Zusammenhang ansprechen möchte, ist in der Rede des Bundesfinanzministers nicht erwähnt worden, der es ja fertig
bringt, Reden zur sozialen Marktwirtschaft zu halten,
vornehmlich außerhalb des Parlaments, in denen das Wort
„Markt“, das Wort „Wettbewerb“ und das Wort „Ordnungspolitik“ nicht ein einziges Mal vorkommen. Es ist
schon eine beachtliche intellektuelle Leistung, eine Rede
zur Marktwirtschaft zu halten, in der „Wettbewerb“,
„Markt“ und „Ordnungspolitik“ mit keinem Wort erwähnt
werden!
Die eigentliche Aufgabe, die uns allen gestellt ist, ist
eine Reform des Arbeitsmarktes selbst. Die Überwindung der Beschäftigungskrise wird nicht gelingen, wenn
wir nicht tief greifende Reformen des Arbeitsmarktes
selbst auf den Weg bringen.
({42})
Obwohl jetzt in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz
und Hessen Wahlkampf ist, sage ich ganz offen: Auch wir
haben in der früheren Koalition diesen Weg nicht beherzt
genug und nicht früh genug beschritten.
({43})
Aber wir haben erste Schritte in die richtige Richtung gemacht, als wir beispielsweise das Bundessozialhilfegesetz
reformiert haben. Nicht wir, nicht neoliberale Turbokapitalisten, sondern der Präsident des Ifo-Instituts in München hat vor einigen Wochen darauf hingewiesen,
({44})
dass die Überwindung der Beschäftigungskrise in
Deutschland nur möglich ist mit einer grundlegenden Reform der Sozialhilfe.
({45})
Ich will genau dies zum Schluss noch einmal kurz begründen. Wenn die Regel weiter gilt, dass die Sozialhilfe
sozusagen die Lohnuntergrenze in Deutschland ist, kein
Betrieb und kein Arbeitgeber in Deutschland aber bereit
sind, einen Mitarbeiter zu beschäftigen, dessen Lohn
oberhalb der Produktivität liegt, dann ist jede Arbeitsproduktivität, die unterhalb der Sozialhilfe liegt, automatisch
mit struktureller Arbeitslosigkeit verbunden.
({46})
Deshalb müssen die Vorschläge zur Reform der Sozialhilfe,
die nicht von uns, sondern von der Wissenschaft gemacht
werden, in dem Licht geprüft werden, ob wir damit einen
besseren Anreiz zur Beschäftigung auslösen, statt durch die
hohen Transferleistungen in der Bundesrepublik Deutschland einen Anreiz zur Nichtbeschäftigung zu geben.
({47})
Wenn Sie sich dieser Frage nicht zuwenden, wenn es
bei der Höhe der Sozialhilfe, die häufig auch bei kinderreichen Familien an die Zahl der Haushaltsmitglieder gebunden ist, bleibt, werden Sie die Beschäftigungskrise in
Deutschland nie überwinden.
Andere Länder haben es uns längst vorgemacht: nicht
nur die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch
Großbritannien, Dänemark und mittlerweile sogar Frankreich, ein Land, das von einer sozialistischen Regierung
regiert wird. Diese Länder haben längst erkannt, dass
durch die sozialen Transfersysteme nicht Anreize zur
Nichtbeschäftigung, sondern Anreize zur Beschäftigung
gegeben werden müssen.
Deswegen machen wir Ihnen, Herr Bundeskanzler, erneut ganz konkret den Vorschlag, darüber zu reden, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen, die
Kompetenzen der Kommunen zu stärken und nicht zu
schwächen, um gerade im Bereich der lokalen Arbeitsmärkte bessere Vermittlungschancen insbesondere für
Langzeitarbeitlose zu eröffnen und durch ein Zusammenwirken von Transferleistungen und Löhnen dafür zu sorgen, dass die Menschen aus der Beschäftigungs- und Armutsfalle herauskommen. Wir machen Ihnen diesen
konkreten Vorschlag.
({48})
Das setzt allerdings voraus, dass der Sozialstaat, die
Gesellschaft insbesondere bei jüngeren Arbeitslosen mit
einer gewissen Härte sagt: Wer eine zumutbare Beschäftigung ohne triftigen Grund ablehnt, muss den Anspruch
auf soziale Transferleistungen im Wesentlichen verlieren.
Sonst wird man nicht zu mehr Beschäftigung kommen.
({49})
Voraussetzung ist, dass Sie bereit sind, mit dieser Härte
vorzugehen.
({50})
Derjenige, der eine zumutbare Beschäftigung ohne erkennbaren Grund ablehnt, verletzt das Solidaritätsprinzip
im Sozialstaat.
({51})
Deswegen muss in Deutschland wieder der Grundsatz
gelten, dass derjenige, der arbeitet, grundsätzlich mehr
Geld bekommt als derjenige, der nicht arbeitet und soziale
Transferleistungen bekommt.
({52})
Dies wäre eine arbeitsmarktorientierte Wirtschaftsund Finanzpolitik. Das hätte etwas mit Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft zu tun. Das wäre ein politisches
Denken in Gesamtzusammenhängen zwischen Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Familienpolitik. Das wäre
die richtige Botschaft gewesen, die heute von dieser Stelle
aus von einem Vertreter der Regierung der Bundesrepublik Deutschland in der Aussprache zum Jahreswirtschaftsbericht hätte gegeben werden müssen. Statt aneinander gereihte Zahlen, Herr Eichel, hätte eine klare
Perspektive für die Überwindung der Beschäftigungskrise
von dieser Stelle aus gegeben werden müssen. Dazu sind
Sie leider nicht in der Lage.
({53})
Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die
wirtschaftliche Lage bietet keinen Anlass, Trübsal zu blasen, wie Sie, Herr Merz, das tun. Aber bei Ihnen ist es
wohl mehr die Furcht vor dem April, mehr die Furcht vor
dem eigenen Absturz als vor dem der Wirtschaft.
({0})
Eine Frage wird durch Ihre Rede allerdings schon beantwortet, die heute in der „Bild“-Zeitung steht, nämlich
warum Sie eigentlich so unbeliebt sind. Sie haben 20 Minuten lang wortreich über all das gesprochen, was Sie
nicht wollen, was Sie schlecht finden, was schief läuft. Sie
sind hier mit der Art eines zum Oberlehrer mutierten Bestschülers aufgetreten.
({1})
Dabei ist es doch eher verblüffend, wie stabil und robust die Konjunktur in Deutschland trotz der Dämpfung
im letzten Quartal des vergangenen Jahres,
({2})
trotz des Einbruchs der US-Konjunktur und der anhaltenden Rezession in Japan, trotz der schwankenden Ölpreise
und des gestiegenen Außenwerts des Euro verläuft. Es ist
doch eher verblüffend, dass wir in Europa eine solche
Wachstumsstabilität haben. Dies ist kein Wunder, sondern
es ist der Politik der Bundesregierung zu verdanken, die
nämlich für mehr Wachstum und Beschäftigung gesorgt
hat.
({3})
Schlüsselbegriffe sind: Haushaltskonsolidierung, Steuerreform, Rentenreform, Senkung der Lohnnebenkosten.
Dies sind alles Projekte, die Sie sich fast 16 Jahre lang
vorgenommen und nicht geschafft haben. Das sind die
Gründe, warum wir relativ optimistisch und mit Zuversicht in dieses Jahr schauen können.
Der Standort Deutschland ist wieder attraktiv. Das
zeigt sich auch an den ausländischen Direktinvestitionen. Fragen Sie Hilmar Kopper, den Bundesbeauftragten
für die Akquirierung von Direktinvestitionen. Er führt
diese Entwicklung unmittelbar auf die rot-grüne Reformpolitik zurück. Oder nehmen Sie das Beispiel Betriebsgründungen. Hier liegt Deutschland nach den USA und
Kanada an dritter Stelle. Das heißt, es gibt viele junge
Leute, die bereit sind, Wagnis- oder Risikokapital aufzunehmen und mit einer Idee in den Wettbewerb und in den
Markt einzutreten. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich an
diesem Standort Deutschland eine Dynamik entwickelt
hat. Das spricht nicht für die These eines festgezurrten,
verkrusteten Arbeitsmarktes, wie Sie, Herr Merz, ihn beschrieben haben. So ist es nicht. Auch haben wir Lehrstühle für Existenzgründung gefördert. All das hat positive Auswirkungen.
Die jüngsten Arbeitsmarktzahlen zeigen den niedrigsten Februarstand seit fünf Jahren. Das ist positiv und
muss festgehalten werden. Trotzdem ist die Zahl der Arbeitslosen noch viel zu hoch. Das verschweigen wir nicht.
Vor allen Dingen die Tatsache, dass die Arbeitsmärkte in
Ost und West auseinander driften, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit im Januar ausschließlich auf den Anstieg im
Osten zurückzuführen ist, macht uns Sorgen. Deswegen
müssen die Anstrengungen verstärkt werden.
Das Bündnis für Arbeit als Kranzlerrunde abzutun,
als einen Gesprächskreis, in dem sich nichts bewegt, ist
völlig verfehlt.
({4})
Ich nenne allein die Aussichten auf moderate Lohnabschlüsse und darauf, dass die Überstunden abgebaut werden. Das sind keine haltlosen Versprechungen, die dort
gegeben worden sind. Schauen wir uns an, was die Gewerkschaft vorgerechnet hat: Wenn man nur ein Viertel
dieser 1,9 Milliarden Überstunden abbauen würde, käme
man auf 250 000 neue Arbeitsplätze. Was dazu noch optimistisch stimmt: Die Arbeitgeberverbände haben sich darauf eingelassen, entsprechende Schritte einzuleiten. Das
sind zwar nur Trippelschritte, aber wir kommen nur in
Trippelschritten voran. „Henneteppele“ würde man in
dem Wahlkampf führenden Land sagen, das bekanntlich
alles außer Hochdeutsch kann.
Mit solchen Schritten oder auch der Qualifizierungsoffensive für ältere Arbeitnehmer kommen wir weiter. Denn
lebenslanges Lernen darf keine hohle Phrase sein. Die
Qualifikation, die Motivation und der Leistungswille von
älteren Arbeitnehmern sind ein wertvolles Kapital, für den
Vorruhestand viel zu wertvoll.
Dies ist auch der Sinn der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes. Schauen Sie sich einmal die neue Gründerwelle bei den Start-up-Unternehmen an, die nach dem
Zähneklappern beim Fall der Stock Options den Wunsch
hatten, Betriebsräte zu gründen, ihre Interessen besser zu
vertreten, um künftig im Betrieb das wirtschaftliche
Wachstum mitzubestimmen und mitzuorganisieren. Genau das beabsichtigen wir mit unserem Gesetzentwurf. Es
ist ein Gesetzentwurf, der einen Kompromiss zwischen
den beiden Tarifpartnern enthält. Ich gehe davon aus, dass
er in der weiteren Beratung noch weiter verbessert wird,
so wie wir auch vorher Kritik aufgegriffen haben.
So gut die wirtschaftliche Lage in Deutschland auch
sein mag, so ist sie doch gespalten. Wir wussten von Anfang an, dass die deutsche Einheit zwar politisch richtig,
aber wirtschaftlich falsch war. Mit anderen Worten: Wir
haben den teuersten Weg der Vereinigung gewählt. Das
lastet auf uns. Wir haben eine Art Transferökonomie aufgebaut. Der Osten - darin stimme ich Ihnen ausdrücklich
zu, Kollege Merz - steht nicht auf der Kippe. Aber was
man hinzufügen muss: Er befindet sich in einem schrägen
Gleichgewicht mit einer fatalen Kreislaufführung. Das
Ganze ist transfergestützt und schafft Abhängigkeiten. Sie
können das auch bildhaft umsetzen.
({5})
- Bei Ihnen dreht sich das Rädchen etwas langsamer. Das
merke ich.
Hier tritt ein Gewöhnungseffekt ein, sodass die strukturellen und sektoralen Schwächen nicht ausgeglichen
werden. Begleiterscheinungen sind die sehr hohe Arbeitslosigkeit und die geringe Steuerkraft. Aber ein MezzogiornoVergleich ist völlig absurd.
({6})
Kein Großunternehmen würde eine Chipfabrik wie die in
Frankfurt/Oder im Mezzogiorno ansiedeln. Wenn man
sich den Mezzogiorno heute einmal etwas genauer anschaut, dann stellt man fest, dass es auch dort Wirtschaftsentwicklung gibt, seit einige Subventionen abgebaut worden sind. Auch hier steht der Wettbewerbstest
einigen ostdeutschen Unternehmen noch bevor. Das wird
sich im Rahmen der EU-Osterweiterung ergeben.
Viel interessanter ist aber, dass der Deindustriealisierung im Osten eine Reindustriealisierung gefolgt ist. Es
hat sich im Grunde genommen ein sehr interessanter
Strukturwandel vollzogen: Abbau von Überkapazitäten
im Baugewerbe und im öffentlichen Dienst auf der einen
Seite und auf der anderen Seite Wachstumsraten im zweistelligen Bereich bei der gewerblichen Wirtschaft, bei
hochmodernen und wettbewerbsfähigen Branchen. Das
ist etwas, was sich auch auf dem Arbeitsmarkt widerspiegelt, denn nur wenn man oberflächlich hinsieht, gewinnt
man den Eindruck, als stagniere die Arbeitslosigkeit im
Osten. Sie ist zwar - weitgehend jedenfalls - gleich bleibend, aber wir können auch erkennen, dass Arbeitsstellen
im Baugewerbe ebenso wie ABM-Stellen abgebaut werden, dies aber auf der anderen Seite durch die Schaffung
neuer Stellen in der gewerblichen Wirtschaft und im
Dienstleistungsgewerbe aufgefangen wird.
Das ist der eigentliche Aufholprozess, der sich in Ostdeutschland ereignet und zum Aufbau einer wirklich leistungsfähigen Industrie beigetragen hat, die keine Scheinblüten hinterlässt, wie wir das Anfang der 90er-Jahre mit
leeren Büropalästen und geprellten Anlegern erlebt haben. Hier ist etwas in den letzten Jahren passiert, was ich
schon als Trendwende bezeichnen möchte. Daran können
Sie möglicherweise auch die Chefsache ablesen, die im
Kanzleramt nicht verwaltet, sondern gestaltet wird.
Ich weiß nicht, mit welchem Glauben Sie immer nach
dem Kanzler rufen. Das ist ein später Nachruf auf Günter
Mittag oder die Staatliche Plankommission. Als ob das ein
Einzelner richten könnte! Ich wundere mich, dass ausgerechnet so junge Kollegen wie der Kollege Merz solche
Forderungen aufstellen.
({7})
Natürlich wird der Solidarpakt II weitergeführt werden
müssen. Das ist überhaupt keine Frage. Ich muss Ihnen,
Kollege Merz, um das Schreiben des Kollegen Vogel zu
beantworten, sagen: Uns ist mit pauschalen Forderungen
aus der Vogelperspektive und dem pauschalen Aufmerksammachen auf eine generelle Infrastrukturlücke nicht
geholfen. Ich hätte mir gewünscht, dass eine Projekt- und
Dringlichkeitsliste vorgelegt würde, aus der hervorginge,
wo man einen Bedarf in Höhe von 40 Milliarden DM sieht
und in kürzester Zeit verbauen will. Das wäre höchst interessant gewesen, statt immer nur neue Finanzforderungen aufzustellen und die Diskussion über die Milliardengräber Ost fortzuführen.
({8})
Mit Sofort- oder Aktionsprogrammen kommen wir
nicht weiter. Sie helfen genauso wenig wie der Vorschlag
des DGB, eine weitere Vorruhestandsregelung für 55-jährige Arbeitnehmer aufzulegen. Hier stehen Qualifizierungsmaßnahmen für ältere Arbeitnehmer im Osten und
vielleicht auch großzügigere Übergangshilfen, Überbrückungs- und Umzugshilfen an, die wir zum Beispiel
für die Bonner Beamten geschaffen haben. Sie müssten
greifen, wenn ostdeutsche Arbeitnehmer bereit sind, einen Arbeitsplatz im Südwesten anzunehmen, wo Fachkräftemangel herrscht.
Das sind die Punkte, auf die wir stärker eingehen müssen. Daneben müssen wir die Chancen der EU-Osterweiterung nutzen, die in der Markterschließung der revitalisierten Märkte in Osteuropa und in entsprechenden
Wirtschaftskooperationen bestehen. Was alles möglich
ist, zeigt allein das Beteiligungsangebot von PNK Orlen,
die bei der Leuna-Raffinerie einsteigen wollen.
Werner Schulz ({9})
Einen Aspekt, den bisher keiner meiner Vorredner angesprochen hat, will ich zum Ende meiner Rede noch ansprechen. Wenn wir über Klimaverbesserungen sprechen, geht
es nicht nur um das Wirtschafts- und Betriebsklima, sondern die jüngsten Prognosen zur weltweiten Klimaveränderung sind echte Alarmzeichen, die zeigen, dass das
Klima zwar träger auf Treibhausgase reagiert als das Rinderhirn auf Prionen, doch wir haben diesmal die Chance,
vorher zu handeln und nicht erst durch Schaden klug zu
werden. Daran gemessen wirkt der Streit über die Ökosteuer regelrecht kurzsichtig und kleinkariert. Gerade jetzt,
wo eindeutig Lenkungseffekte eingetreten sind und wir ein
Wirtschaftswachstum bei besserer Ressourcenproduktivität verzeichnen, zeigt sich der Erfolg der Ökosteuer. Sie
ist keine Episode, sie ist ein Erfolg. Gerade die Einführung
der Ökosteuer war ein Erfolg, den wir fortsetzen werden.
Dabei werden wir von Fachleuten wie Professor
Norbert Walter bis hin zu Wolfgang Wiegard, dem neuen
Mitglied des Sachverständigenrates, bestärkt. Sie betonen
beide, dass die Ökosteuer ein sinnvolles umweltpolitisches Instrument ist. Das werden wir unter keinen Umständen aus der Hand legen. Selbst die hartkrumige Landwirtschaft hat mit der Agrarwende, das heißt dem
ökologischen Umbau, betont, dass die Nachhaltigkeit ein
Leitprinzip des Wirtschaftens werden muss.
Ich frage mich bei dieser Debatte: Wo sind die Reformer geblieben, die die soziale Marktwirtschaft zu einer
ökologisch-sozialen Marktwirtschaft weiterentwickeln
wollten? Herr Kollege Merz, das war doch wohl einmal
ein Programmpunkt bei Ihnen in der Union. Ich höre jetzt
nur noch, dass Sie die soziale Marktwirtschaft wiederbeleben wollen. Ich lese von einem „mitfühlenden Konservatismus“. Ich hoffe, Sie meinen damit mehr als das Mitgefühl mit dem Zustand Ihrer Partei.
({10})
Sie sollten endlich mit dieser unsäglichen Kampagne gegen die Ökosteuer aufhören und in diesem Punkt lieber
auf Klaus Töpfer hören. Ich glaube, in Ihren Reihen gibt
es noch kluge und mutige Protagonisten für eine ökologische Steuerreform und für einen ökologischen Strukturwandel.
Wir wollen jedenfalls daran festhalten, dass aus einer
Ressourceneinheit ein Vielfaches an Wohlstand erwirtschaftet werden kann. Das ist letztlich mit dem „Faktor
vier“ gemeint, den Ernst Ulrich von Weizsäcker in die Debatte gebracht hat. Darin liegt der Sinn der ökologischen
Steuerreform: ein Joint-Venture zwischen Ökonomie und
Ökologie. Das anzustreben wird uns keiner - auch nicht
mit einem Machtwort - ausreden können.
({11})
Ich erteile dem Kollegen Rainer Brüderle, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Zunächst eine Anmerkung zu Ihnen, Herr Kollege Merz:
Ihre Hinweise auf die Ausführungen meines Freundes
Guido Westerwelle sind das, was man klassischerweise
einen Rohrkrepierer, eine Selbstbeschädigung nennt. Sie
sind mit dem Versuch Ihrer Strategie, um das Halbeinkünfteverfahren als großen Hit mit einer Totalblockade zu
kämpfen, voll gegen die Wand gefahren.
({0})
Ihre Leute haben um Zuschüsse für das Olympiastadion,
für Theater oder ein Stückchen Straße gefeilscht,
({1})
während es uns gelungen ist, dauerhaft 7 Milliarden DM
pro Jahr an zusätzlicher Entlastung durch Tarifsenkungen
für alle zu erreichen.
Sie sprechen zu Recht von der Förderung des Mittelstands als zentraler Aufgabe.
({2})
Mit der Wiedereinführung des halben Steuersatzes, der
abgeschafft worden war, ist eine Ungerechtigkeit für den
Mittelstand beseitigt worden.
({3})
Sie sollten in diesem Punkt absolut zurückhaltend sein.
Sie haben nichts erreicht und Ihre eigenen Leute nicht auf
eine Linie bringen können. Sie sind voll gegen die Wand
gefahren und sollten bei diesem Thema ganz still sein.
({4})
Meine Damen und Herren, am deutschen Konjunkturhimmel ziehen dunkle Wolken auf. Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung ist natürlich bemüht,
die konjunkturelle Lage schönzufärben. Wir haben heute
Morgen ein solches Bemühen auch bei Bundesfinanzminister Eichel entdecken können. Ich verstehe das: Es ist
ja Ihr Job, die Ergebnisse der Politik besser darzustellen,
als sie sind.
Wir wollen jetzt aber einmal die grün-rote Tagträumerei beenden und die wirtschaftspolitische Realität betrachten. Zum Aufwärmen einige Eckdaten: Die Wachstumsprognosen für dieses Jahr werden nach unten
korrigiert. Das Ifo-Institut hat gerade erst seine Prognose
von 2,4 Prozent als zu optimistisch bezeichnet. Das Institut für Weltwirtschaft rechnet sogar nur noch mit einem
Anstieg von 2,1 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stagniert
auf ernüchternd hohem Niveau. Über 4,1 Millionen Arbeitslose für den Monat Februar belegen das Versagen der
Regierung bei diesem zentralen Thema. Wo bleiben denn
die versprochenen Jobs? Die Preise steigen wieder, vor allem die Preise für Strom, Gas, Heizöl und Benzin. Der
Euro dümpelt bei niedrigem Außenwert vor sich hin und
führt uns jeden Tag vor Augen, dass eine bessere Einschätzung des Euro nicht mit einer Rüge des kleinen Irland erreicht wird, das wirtschaftlich boomt, sondern
durch Fortschritte in den großen Mitgliedsländern
Werner Schulz ({5})
Deutschland, Italien und Frankreich, die einen Rückstand
an internen Reformen aufweisen.
({6})
Im Sachverständigengutachten heißt es, dass der zukünftige Konjunkturverlauf nicht mit einer Wachstumsdynamik aus eigener Kraft gleichzusetzen sei, wie sie gebraucht würde, um im härter gewordenen Wettbewerb auf
globalisierten Märkten bestehen zu können. Wenn
Deutschland tatsächlich „Chancen auf einen höheren
Wachstumspfad“ haben soll, dann brauchen wir eine entschlossen betriebene Reformpolitik und keine Politik, die
sich nach einer Teilsteuerreform schon ein Reformpäuschen erlaubt.
({7})
Die Bundesregierung hat sich allein auf die EuroSchwäche und auf eine günstige Exportkonjunktur verlassen. Die scharfsinnige Äußerung des Bundeskanzlers,
ein schwacher Euro sei gut für den Export, zeigt die
schlichte Strategie. Dahinter steht eine Milchmädchenökonomie. Das hat das gleiche Niveau wie der Satz: „Lieber 5 Prozent Inflation als 5 Prozent Arbeitslosigkeit.“ Am
Schluss haben Sie Inflation und Arbeitslosigkeit.
({8})
Herr Eichel, entgegen Ihrer immer wieder geäußerten
Meinung gehen nur rund 44 Prozent der Exporte nach
Euro-Land, allein über 20 Prozent in die Schweiz, in die
USA und nach Großbritannien, wo die Wechselkursrelationen in den vergangenen Jahren sehr vorteilhaft für
Deutschland waren. Hinzu kommt, dass die Verkäufe
deutscher Niederlassungen in den USA fünfmal größer
sind als der Anteil deutscher Waren an den direkten Exporten. Das heißt, je härter die Ökonomie in den USA landen wird, desto schwächer wird das Wachstum in
Deutschland sein, und zwar deshalb, weil bei uns die
Strukturreformen verbummelt werden.
Herr Eichel, Sie laufen jetzt auch Gefahr, Ihren Ruf als
Sparkommissar zu verlieren. Der „Spiegel“ hat Haushaltsrisiken in Höhe von über 20 Milliarden DM in den
kommenden beiden Jahren aufgedeckt. Das zeigt: Die
Bundesregierung hat zu wenig auf der Ausgabenseite getan. In der Rentenpolitik wurde die Gelegenheit für einen
mutigen Schritt unter dem Druck der Gewerkschaften
vertan. Die ineffiziente und teure aktive Arbeitsmarktpolitik wurde ausgedehnt. Über die Steinkohlesubventionen
reden Sie gar nicht mehr. Jetzt offenbart sich: Beim Sparen hat zu sehr das Prinzip der Verlagerung auf die Länder und das Verschieben auf die Zukunft regiert.
Ich habe meinen Ohren nicht getraut, als ich am Sonntag die Worte des Bundeskanzlers vernahm. Herr Schröder
erklärte, er wolle die Arbeitslosigkeit in Deutschland
unter die 3-Millionen-Grenze senken, und zwar im
Jahr 2002. Ganz kurz hatte ich die Hoffnung, dass diese
Bundesregierung trotz grüner und gewerkschaftsnaher
Protagonisten einen politischen Kurswechsel hin zu mehr
Beschäftigung einleiten wollte.
({9})
Leider bin ich am folgenden Tag wieder tief enttäuscht
worden. Mein Weltbild wurde zurechtgerückt. Der Kanzler hat Angst vor der eigenen Courage und ist wieder auf
die bekannte Politik der Mut- und Perspektivlosigkeit
eingeschwenkt. Jetzt gibt er sich mit „3,5 Millionen Arbeitslosen“ zufrieden. Ich finde es schon bemerkenswert,
dass der Bundeskanzler innerhalb eines Tages über
500 000 Einzelschicksale so locker hinweggehen kann.
({10})
Das erinnert mich ein wenig an die Brutto-Netto-Probleme Ihres heutigen Verteidigungsministers.
({11})
Die Reduzierung der Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen käme auch dann zustande, wenn die Bundesregierung Ihre Tätigkeit komplett einstellen würde.
Grund: altersbedingt ausscheidende Arbeitnehmer. Solche Angsthasenziele offenbaren das Dilemma grün-roter
Beschäftigungspolitik. Sie ist geprägt von einem diffusen
Verständnis wirtschaftspolitischer Abläufe. Mit Umarmungsstrategien werden keine Arbeitsplätze geschaffen. Wenn man sich ständig umarmt, dann hat man die
Hände nicht zum Arbeiten frei.
({12})
Das systematische Abwenden von den wirklichen Problemen auf dem Arbeitsmarkt führt dazu, dass IG-MetallChef Zwickel, also Ihr Chef, die Arbeitsmarktbilanz der
Bundesregierung als schlecht beurteilt. BDI-Präsident
Rogowski bezeichnet die Arbeitsmarktpolitik als den
größten Schwachpunkt grün-roter Politik. Die sonntägliche Bündnisrunde war dafür wieder einmal ein Beleg. Der
syndikalistische Ansatz ist längst gescheitert.
({13})
Die Bündnisgespräche bremsen den Tatendrang, statt ihn
zu fördern. Strittige Themen werden ausgeblendet, als
gäbe es sie nicht. Die Verschärfung der Mitbestimmung
und die gewerkschaftliche Forderung nach einem Abbau
der Überstunden spielen keine Rolle. Was macht der Bundeskanzler? Er betätigt sich als Weichzeichner und betreibt eine Weichzeichnerpolitik, mit der gefährlichen
Tendenz zum überlebten Strukturkonservatismus. Der
Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle,
Rüdiger Pohl, stellt zu Recht fest: „Das Bündnis für Arbeit ist schlichtweg überflüssig.“
Meine Damen und Herren, wir brauchen keinen Konsensbrei, keine nutzlosen Kaffeekränzchen, die die Leute
davon abhalten, etwas zu tun. Was wir brauchen, ist eine
Renaissance der sozialen Marktwirtschaft. Wir brauchen mehr Wettbewerb in Deutschland. Wir brauchen flexiblere Güter- und Arbeitsmärkte. Nur so bekommen wir
mehr Jobs.
({14})
Doch was macht die Bundesregierung? Sie spürt
auch noch die letzten Flexibilitätsnischen auf dem deutschen Arbeitsmarkt auf und verregelt, verriestert sie. Ich
brauche auch an dieser Stelle nur aus dem letzten Gutachten des Sachverständigenrats zu zitieren. Zwangsteilzeit, Zurückdrängung der befristeten Arbeitsverhältnisse,
Verschärfung der Mitbestimmung - alles geht in die
falsche Richtung.
({15})
Wer die Flexibilisierungsspielräume weiter einschränkt,
der nimmt in Kauf, dass weniger Beschäftigung zustande
kommt - so jedenfalls der Sachverständigenrat.
Die grün-rote Politik ist einzig darauf ausgerichtet, die
Gewerkschaften vor der nächsten Bundestagswahl zu besänftigen. Das hört man auch bei den Zwischenschreiern.
Das ist durchsichtig, rückwärts gewandt und ein Schlag
ins Gesicht der Arbeitslosen in Deutschland.
({16})
Sie sollten keine Politik für machtbewusste Gewerkschaftsfunktionäre, sondern lieber eine Politik für die
Menschen anpacken, die Hoffnung und Perspektive haben wollen, Menschen, die Entscheidungs- und Handlungsspielräume brauchen, um neue Investitionen vorzunehmen und neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Die Bundesregierung hält nichts von Aufbruch. Sie tritt
lieber auf die Bremse. Vor allem der kleinere Koalitionspartner, die Grünen, die sich selbst so gern als Reformmotor bezeichnen, steht noch stärker auf der Bremse als
so manches gestandene Gewerkschaftsmitglied von der
SPD.
Um ihre Haltung deutlich zu machen, bedienen sich die
Grünen neuerdings eines Tricks. Sie schicken regelmäßig
ihren Fraktionsvorsitzenden Rezzo Schlauch nach vorne,
lassen ihn das ausplaudern, was der politische Gegner
denkt - beispielhaft nenne ich Schlauchs Einsichten zur
Flexibilisierung des Flächentarifvertrags -, und sofort
kommt die gesamte grüne Parteispitze aus der Deckung
und macht den Fraktionsvorsitzenden einen Kopf kürzer.
Das hat Methode. Schlauch spielt quasi den Bremskraftverstärker grüner Reformverweigerer.
({17})
Man könnte auch sagen: Er ist der wirtschaftspolitische
Harlekin der Grünen.
({18})
- Sogar Sie haben es verstanden. Das muss toll sein. Herr
Baron, ich begrüße Sie! Ihre Zwischenrufe, Herr Baron,
machen immer deutlich, dass der Neofeudalismus eine
konkrete Gefahr in Deutschland ist.
({19})
Dann gibt es noch eine grüne Staatssekretärin im Wirtschaftministerium. Das sollte man bei einer Debatte über
den Jahreswirtschaftsbericht zumindest einmal erwähnen.
Frau Wolf kommt doch tatsächlich zu der Einsicht, dass
die Tatsache, dass sich in Unternehmen der New Economy derzeit Betriebsräte gründen, ein Beleg dafür sei,
dass wir eine Verschärfung der Mitbestimmung bräuchten. Liebe Frau Wolf, Entschuldigung, wenn ich Sie belehren muss.
({20})
Soweit ich weiß, ist das Gesetz des Herrn Riester, das mit
heftiger Gewerkschaftsunterstützung jetzt eine Verschärfung der Mitbestimmung vorsieht, noch nicht in Kraft.
Ihre eigene Aussage zeigt doch, dass Mitbestimmung
funktioniert und keine Verschärfung notwendig ist. Es ist
doch Quatsch mit Soße, was Sie erklären.
({21})
Moderne Mitbestimmung, Herr Baron, funktioniert im
Übrigen anders, nämlich über direkte Gespräche zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
({22})
Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen brauchen
wir keine zusätzlichen Gewerkschaftsfunktionäre, auch
nicht mit Adelstitel, die dem Mitarbeiter sagen, wie er
seine Arbeitszeit einzuteilen hat und wann er Weiterbildung zu betreiben hat. Gerade im Zeitalter der New
Economy gilt: Wir brauchen eine Stärkung der Mitarbeiterbeteiligung und nicht der klassischen Mitbestimmungsrituale von gestern.
({23})
Wir brauchen mehr Miteinander und nicht eine Wiederbelebung des veralteten Gegensatzes zwischen Arbeit
und Kapital. Lassen Sie Karl Marx in seinem Museum in
Trier! Er hat solch einen Bart. Wir brauchen mehr Mut zur
Veränderung, mehr Bewegungsspielräume.
Über die Qualität grüner Beschäftigungspolitik sagen
auch nackte Zahlen etwas. In Nordrhein-Westfalen betrug
die Arbeitslosenquote im Durchschnitt des vergangenen
Jahres 9,2 Prozent, in Schleswig-Holstein 8,5 Prozent, in
Hamburg 8,9 Prozent. Überall dort regieren Grüne mit.
Diese Zahlen zeigen, dass die Sozialdemokraten sich den
falschen Koalitionspartner ausgesucht haben.
({24})
Ich kann Ihnen sagen, wie eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik aussieht. In Rheinland-Pfalz haben wir mit
7,3 Prozent Arbeitslosigkeit die drittbeste Arbeitsmarktsituation in Deutschland.
({25})
Das bestätigt meine These, dass die SPD dann eine andere
Partei ist, wenn sie mit einem starken liberalen Koalitionspartner zur Vernunft getrieben wird.
({26})
- Ihr Kanzler hat sich schon festgelegt. Das ist doch so
schön. Zum Nulltarif bekommt er vielleicht einen grünen,
aber nie einen liberalen Koalitionspartner.
({27})
- Ja, liberaler Wirtschaftsminister, da haben Sie Recht; zitieren Sie Döring einmal! Nachmachen, Herr Schauerte!
Anstrengen!
({28})
Die gerade umgesetzte Steuerreform muss bald durch
eine zweite Steuerreform ergänzt werden. Die Bundesregierung macht aber das Gegenteil: Statt weitere Steuersenkungen umzusetzen, sorgt sie für 10 Milliarden DM
außerplanmäßige Zusatzbelastungen: Die AfA-Tabellen
führen zu fast doppelt so hohen Belastungen wie versprochen. ({29})
- Herr Baron, das ist trotzdem richtig; Sie können nicht
rechnen; schon Ihre Vorfahren im Mittelalter konnten
nicht richtig rechnen.
({30})
Die Mitbestimmungsnovelle kostet knapp 3 Milliarden
DM zusätzlich; das geplante Zwangspfand - hören Sie genau zu, Herr Baron! - belastet die Unternehmen mit weiteren 3 Milliarden DM. Dabei sind die Ökosteuer und die
Preistreiberei auf dem Strommarkt durch die Förderung
von Kraft-Wärme-Kopplung im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes noch gar nicht eingerechnet.
Eigentlich hat sich die SPD ja mental von der Ökosteuer verabschiedet. Der Kanzler beruhigt die Wähler
vor den Landtagswahlen. Wenn Sie aber konsequent sind,
machen Sie Schluss mit dieser unsinnigen Besteuerung!
Millionen Pendler, Rentner, Taxifahrer, Studenten und
Fuhrunternehmer würden es Ihnen herzlich danken.
({31})
Die Grünen klammern sich krampfhaft an die Ökosteuer; das ist ihr letztes ureigenes Projekt. Ansonsten haben sie alles aufgegeben: Der Pazifismus ist seit dem
Kosovo-Krieg und den Bombardements im Irak passé,
({32})
den Atomausstieg in 32 Jahren erleben selbst die gesündesten Grünen kaum und die Menschenrechtspolitik muss
sich den Karrierewünschen von Joseph Fischer beugen.
Die Ökosteuer ist der letzte Kitt, der Sie zusammenhält;
aber die Ökosteuer bringt keine neuen Jobs, sie ist völlig
falsch konzipiert. Auch die Verteuerung der Prozessenergie führt bei den Unternehmen, die sich rational verhalten,
zu einer höheren Kapitalintensität und nicht zur Schaffung neuer Jobs. Die neue Strategie führt dazu, dass der
Umbau hin zu mehr Arbeitsplätzen, wie Sie propagiert haben, in keiner Weise stattfindet. Im Gegenteil: Sie belasten die Wirtschaft und beseitigen Arbeitsplätze.
Die SPD ist ganz ruhig geworden; selbst der rote Baron. Mit der Ökosteuer wollten Sie doch einmal Energie
teurer machen, Herr Baron, um Arbeitsplätze zu schaffen.
Jetzt sind auch Sie ganz ruhig geworden, weil sogar Sie
gemerkt haben, Herr Baron, dass diese Rechnung nicht
aufgeht.
({33})
Bei den Grünen geht es um Ideologie. Sie wollen, dass
die Menschen weniger mobil, vor allen Dingen weniger
automobil sind. Wir Liberale halten das für eine völlig
falsche Strategie. Ökosteuer und Zwangsabgaben sind
grüne Verhinderungsstrategien; sie geben keine Zukunftsperspektive. Wir brauchen Strategien, die uns weiterführen und nicht zurückführen auf einen Weg, wo Arbeitsplätze aus ideologischen Gründen von den Grünen
beseitigt werden.
In Rheinland-Pfalz haben wir die Grünen und ihre
Ökosteuer nicht gebraucht, um modernste Güterverkehrszentren zu bauen und Wasser-, Schienen- und Straßentransport miteinander zu kombinieren.
({34})
Wir haben die Grünen und die Ökosteuer in RheinlandPfalz nicht gebraucht, um das modernste Konzept im
ÖPNV umzusetzen. Wir haben die Grünen und ihre Ökosteuer nicht gebraucht, um in Rheinland-Pfalz das modernste Eisenbahnsystem umzusetzen, das 150 Prozent
mehr Fahrgäste auf die Schiene gebracht hat. Wir haben
die Grünen und ihre Ökosteuer auch nicht gebraucht, um
aus dem amerikanischen Militärflughafen Hahn einen
höchst erfolgreichen zivilen zu machen und 2 000 neue
Arbeitsplätze zu schaffen.
({35})
Wenn es nach den Grünen gegangen wäre, wäre dort ein
Arbeitsplatz für einen Schäfer entstanden, weil sie dort
Schafe weiden lassen wollten. So verhalten sich Ihre grünen Mitstreiter in Rheinland-Pfalz, die alles Fortschrittliche blockiert haben und noch behaupten, sie würden
irgendetwas Vernünftiges machen. Selbst der Bundeskanzler konnte sich vor kurzem vor Ort überzeugen, wie
erfolgreich wir sind.
Im Jahreswirtschaftsbericht hat mich vor allen Dingen
das Kapitel Wettbewerbspolitik erstaunt. Da schreiben
Sie, wie wichtig der Wettbewerb in der Marktwirtschaft
ist. Was Sie aber machen, ist dem diametral entgegengesetzt. In Bezug auf den Strommarkt drehen Sie durch die
Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung, die Herr Müller da hat er einmal einen lichten Moment gehabt - „Pennerprämie“ genannt hat, die Uhr zurück. Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz belasten Sie zusätzlich den nationalen Energiesockel. Der Strommarkt wird resozialisiert,
die Marktwirtschaft wird teilweise wieder abgeschafft.
Das ist Ihre Politik.
({36})
- Herr Baron, hören Sie zu! Sie werden es bald verstehen.
Auch Ihre Vorfahren haben länger gebraucht.
Herr Brüderle, Ihre
Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte, zum Ende zu kommen.
Darf ich den Satz noch zu
Ende bringen, Herr Präsident? Seien Sie gegenüber meinen Vorrednern und mir gleichermaßen fair. Ich vertraue
auf Ihre Fairness, dass ich meinen Gedanken zu Ende
bringen darf.
Sie haben die volle
Redezeit der F.D.P.-Fraktion. Was die Rede des Kollegen
Merz angeht, war freie Redezeit angemeldet.
Lassen Sie mich den Satz
beenden.
Ich bitte Sie, ganz
schnell zum Ende zu kommen.
Ich beende den Satz.
Der Monopolminister Müller hat nicht nur in der Energiepolitik die Weichen falsch gestellt. Die Weichen stellt
er auch bei der Verlängerung des Briefmonopols falsch.
Fehlentwicklungen erleben wir ebenfalls bei der Telekom;
Kleinanleger werden in ihren Erwartungen enttäuscht. Wo
bleibt die Verbraucherministerin? Sie ist offenbar nur für
Lebensmittel da, aber nicht für Verbraucherschutz bei
Monopolfehlgriffen dieses Monopolministers.
({0})
Deshalb brauchen wir eine andere Politik. Wenn Sie es
nicht können, dann hören Sie auf und lassen Sie es andere
machen!
({1})
Ich erteile der Kollegin Christa Luft, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht, den
wir heute debattieren, datiert vom 31. Januar 2001. Das
heißt, die Tinte ist noch nicht ganz trocken und schon erreichen uns täglich neue Hiobsbotschaften, auf die der
Bundesfinanzminister heute leider nicht eingegangen ist;
auch im Jahreswirtschaftsbericht werden sie noch nicht
einmal andeutungsweise aufgegriffen.
Was meine ich? Die offizielle Arbeitslosigkeit überschreitet im ganzen Land die 4-Millionen-Grenze wieder
weit. Im Osten kann jeder fünfte Erwerbsfähige sein Brot
nicht allein verdienen. Kommen Sie diesen Menschen
einmal mit Ihrem Rentenkonzept - wenn es tatsächlich
umgesetzt wird - und privater Vorsorge. Ich kann mir
nicht vorstellen, wie das dort aufgenommen wird.
Herr Kollege Merz, Sie haben für Arbeitsmarktvergleiche eben das Jahr 1998 angeführt. Ich muss Sie bitten, mit
diesen Daten ein bisschen seriöser umzugehen. Sie werden sich wie ich daran erinnern, dass im Wahlkampfjahr 1998 die damalige Regierung, von Ihrer Partei getragen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in großer Anzahl
initiiert hat. Vermutlich hätte auch eine CDU-geführte Regierung diese Anzahl alsbald wieder abgebaut.
({0})
Die Steuereinnahmen - eine neue Hiobsbotschaft werden geringer als erwartet ausfallen. Also müssen wir
uns offenbar auf weitere Kürzungen von öffentlichen
Investitionen und von Sozialausgaben gefasst machen.
Große Unternehmen wie Daimler-Chrysler und die
Dresdner Bank können sich nach der rot-grünen Steuerreform aber ganz legal aus der Finanzierung des Gemeinwesens zurückziehen. Wie der „Spiegel“ kürzlich berichtete, werden diese großen Unternehmen im Jahr 2000
nicht nur keine Steuern zahlen, sondern sogar Rückforderungen geltend machen. Demgegenüber - wir alle bekommen in diesen Tagen ganz viel Post - muss der kleine
Handwerksmeister - er hat schon Haus und Hof verpfändet, nur um seinen Betrieb am Leben zu erhalten - bei
verzögerten oder ausbleibenden Zahlungseingängen aufgrund einer unerhört schlecht gewordenen Zahlungsmoral seine Steuern an das Finanzamt selbstverständlich
pünktlich abführen. Sie müssen einmal erklären, wie Sie
mit dieser Absurdität zwischen Groß und Klein weiter
umgehen wollen.
({1})
Im inzwischen vorliegenden Armutsbericht kann
man lesen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich ununterbrochen wächst. Fast ein Drittel der 80 Millionen Bundesbürger hat nicht einmal die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Unter diesen Menschen sind
vor allem allein erziehende Frauen. Am 8. März darf man
daran ganz besonders erinnern. 10 Prozent der Haushalte
verfügen bereits über die Hälfte allen Besitzes. Auf dieses
Problem muss die Wirtschaftspolitik reagieren.
Die Kontroverse um den Aufbau Ost kocht täglich
höher. Herr Schulz bestreitet, dass der Osten auf der
Kippe steht. Er hat eine Wortakrobatik parat. Er sagt, der
Osten befinde sich nicht auf der Kippe, sondern nur im
Gleichgewicht eines fatalen Kreislaufs. Soeben hat er von
einem „schrägen Gleichgewicht“ gesprochen. Herr Schulz,
ich versuche mir immer vorzustellen, wie das mit einem
„schrägen Gleichgewicht“ so ist. Ich versuche mir auch
vorzustellen, wie Sie noch 1998 reagiert hätten, wenn jemand von der CDU/CSU hier behauptet hätte, der Osten
befände sich nur in einem schrägen Gleichgewicht.
({2})
Ich kann nur sagen: Eine Antwort darauf, ob der Osten
auf der Kippe steht oder nicht, geben junge Leute. Nach
einer jüngsten Umfrage der „Leipziger Volkszeitung“ will
jeder dritte Ostdeutsche zwischen 18 und 29 Jahren den
Osten verlassen. Wenn man angesichts dieser Zahlen
nicht zu dem Schluss kommt, dass der Osten auf der
Kippe steht, dann weiß ich nicht, was man noch an Daten
benötigt.
Das mag an Hiobsbotschaften genügen. Zu fragen
bleibt: Woran misst man eigentlich den Erfolg von Wirtschaftspolitik? Misst man den Erfolg von Wirtschaftspolitik nur an der Höhe der Steuern, nur an der Höhe der
Staatsquote oder nur an der Höhe der Wachstumsraten?
Auf diesem Gebiet hat sich tatsächlich etwas bewegt.
Aber das kann doch nicht der Erfolgsmaßstab sein. Die
gerade genannten Punkte sind Mittel der Wirtschaftspolitik; sie können aber nicht die Ziele sein.
Im Jahreswirtschaftsbericht wird das nur an einer einzigen Stelle genauso gesehen - ich zitiere -:
Der beste Beitrag einer sozial verantwortlichen Wirtschaftspolitik besteht darin, durch eine dynamische
Wirtschaftsentwicklung und geeignete Reformen
möglichst vielen Menschen eine ausreichende Beteiligung am Erwerbsleben und so ein Einkommen aus
eigener Kraft zu ermöglichen.
({3})
Wenn dies von der Bundesregierung als Maßstab angenommen würde, dann hätte sie ihre Nagelprobe noch vor
sich.
Herr Brüderle, wenn ich mich richtig erinnere, war es
einmal der Sinn der sozialen Marktwirtschaft - Sie wollen sie ja wiederbeleben -, ein Einkommen aus eigener
Kraft zu ermöglichen.
({4})
Ich habe bei Ludwig Erhard nachgelesen.
({5})
Er hat gesagt - ich zitiere wörtlich -:
Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so lange
für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht.
Damit können wir uns voll einverstanden erklären. Aber
um dies zu erreichen, hat die Bundesregierung noch allerhand vor sich.
({6})
Die im vergangenen Jahr entstandenen und überschwänglich als Erfolg deklarierten Jobzuwächse
beruhen zum großen Teil nicht auf einem Zuwachs bei
unbefristeten Vollzeitarbeitsplätzen, sondern bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, die nicht existenzsichernd sind. Es kann doch niemand diesen Zusammenhang leugnen: Wenn das Arbeitsvolumen nicht steigt - das
weist die Statistik aus -, aber die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse gewachsen ist, dann kann auf das einzelne Beschäftigungsverhältnis nur ein geringeres Arbeitsvolumen mit einem entsprechend geringeren Einkommen
entfallen.
Damit Armut tatsächlich bekämpft werden kann, fordern wir, die Weichen so zu stellen, dass erwerbstätige
Menschen ohne zusätzliche Hilfe zum Leben auskommen
können. Dazu gehört der Abbau der Überstunden; darüber
darf man nicht nur parlieren, sondern es muss endlich
praktisch etwas geschehen. Wir werden alsbald eine Initiative zu diesem Thema in das Parlament bringen. Es darf
nicht mehr nur allein außerhalb des Parlaments über die
Arbeitszeit und den Überstundenabbau geredet werden.
Wir fordern die Rückholung dieses Themas ins Parlament. Wir werden initiativ, um die wöchentliche
Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden gesetzlich zu beschränken.
({7})
Damit würde in der Bundesrepublik die Praxis der meisten EU-Mitgliedsländer endlich eingeführt.
Die Pleiten im Handwerk und im Baugewerbe wegen
schlechter Zahlungsmoral der Kunden eskalieren. Hier
bedarf es einer unverzüglichen Novellierung des Schuldrechts, das im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht
wurde. Beispielsweise muss der Eigentumsvorbehalt geregelt werden, sonst werden wir bei den kleinen Unternehmen Pleite über Pleite erleben.
Die Wirtschaftsförderung muss evaluiert werden. Es
kann doch nicht so weitergehen, dass öffentliche Gelder,
vornehmlich Steuergelder von abhängig beschäftigten
Menschen, in privaten Unternehmen versickern, ohne
dass es öffentliche Effekte, insbesondere Beschäftigungseffekte, gibt.
({8})
Ein Wort zum Osten. Diesem Thema widmen gegenwärtig Millionen Menschen - nicht nur im Osten, sondern
auch im Westen - ihre Aufmerksamkeit. Der Bericht ist
114 Seiten lang; dem Osten werden aber nur viereinhalb
Seiten gewidmet. Ich finde, das ist sehr ärmlich. Das spiegelt sozusagen den Rang wider, den das Thema gegenwärtig in der Bundesregierung einnimmt.
Wir fordern ein energisches Umdenken und Umsteuern
in der Bundesregierung, sonst wird der Osten den Pfad
des selbsttragenden Aufschwungs verfehlen. Das wäre
zum Schaden des ganzen Landes. Unserer Meinung nach
ist eine Initiative zur Markterschließung und zur Vermarktung von Produkten ostdeutscher Unternehmen - sowohl regional als auch überregional und international endlich notwendig. Uns nützt kein Investitionszuwachs
schlechthin. Investitionen in den Kapitalstock nutzen nur,
wenn eine Vermarktung der Produkte möglich ist; nur
dann kommt es zur erforderlichen Effizienz der Investitionen.
Daher fordern wir von der Bundesregierung eine Offensive zur Erschließung von Märkten für international
handelbare Güter. Ein Bündnis für Aufträge, beispielsweise aus Russland, zur Modernisierung der Gas- und
Ölindustrie, aber auch der Landwirtschaft und des Umweltschutzes wäre möglich. Wir werden auch hierfür Vorschläge für eine Initiative vorlegen. Das wäre sowohl für
einen Beschäftigungszuwachs als auch für Steuerzuwächse eine wichtige Offensive.
Notwendig sind aus unserer Sicht konzentrierte öffentliche Investitionen in Bildung, Wissenschaft, Forschung und in die Vernetzung von kleinen und mittleren
Unternehmen. Das muss vor der EU-Osterweiterung im
Jahr 2004 geschehen; denn sonst wird der Landstrich zwischen Elbe und Oder tatsächlich in Agonie verfallen. Das
kann nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in Ost
und West sein.
Danke schön.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Merz hat heute in der „Bild“-Zeitung
auf die Frage, was zu tun sei, von sich gegeben: „Die
Marschrichtung lautet: Schotten dicht und arbeiten.“ Das
Ergebnis seiner geistigen Abschottung war heute Morgen
hier zu hören.
({0})
Ich habe mich schon in der Vergangenheit des Öfteren darüber gewundert, dass Herrn Merz profunde wirtschaftsund finanzpolitische Kenntnisse unterstellt wurden. Dieses Bild hat er heute Morgen erneut erfolgreich zerstört,
wie ich fand.
({1})
Insofern diente das auch zur Aufklärung der Öffentlichkeit.
Herr Merz, ich würde Ihnen empfehlen, bei Vorwürfen
an die Adresse von Hans Eichel ganz vorsichtig zu sein.
Wenn Sie hier konstatieren, dass er wie der Präsident des
Statistischen Bundesamtes geredet habe
({2})
- Herr Eichel; das habe ich erwähnt -, dann muss man auf
der anderen Seite feststellen: Auch Sie haben, wie Herr
Eichel, über Zahlen geredet, aber bei Herrn Eichel stimmten die Zahlen und die Zahlenvergleiche, während bei Ihnen weder eine Zahl noch irgendein Zahlenvergleich
stimmte.
({3})
Das heißt, wenn es denn eine Aufnahmeprüfung für einen
Grundkurs in Statistik gäbe, hätten Sie nicht einmal diese
bestanden; Sie hätten es also noch nicht einmal zum Abteilungsleiter in diesem Bundesamt gebracht.
({4})
Vorsicht: Sie ziehen einen abenteuerlichen Vergleich
der Arbeitslosenzahl von Oktober 1998 - die Kollegin
Luft hat auf die Besonderheiten dieser Zahl hingewiesen mit der von Februar 2000. Einen solchen Vergleich würde
kein Statistiker anstellen; nicht einmal ein seriöser Politiker würde das tun.
({5})
Dass die Abgaben zu hoch sind, ist leider das Ergebnis Ihrer Politik. Wir sind erfolgreich dabei, das zu ändern,
Schritt für Schritt, Jahr für Jahr. Früher haben Sie doch so
gerne den Sachverständigenrat zitiert. Hätten Sie einmal
heute Morgen zitiert, was der Sachverständigenrat über
die Entwicklung von Staatsausgaben und Abgabenquoten
in den nächsten Jahren sagt! Wir arbeiten doch alles, was
Sie uns hinterlassen haben, Schritt für Schritt ab. Das ist
das Problem, mit dem wir zu tun haben.
({6})
Ich glaube, dass das immer mehr Menschen deutlich wird.
Herr Merz, in Wahrheit war Ihre Rede - das ist, glaube
ich, keine Polemik - ein Beleg dafür, dass Sie keine konkreten Alternativen haben, dass Sie schier ratlos sind. Es
war ein wirkliches Bild der Ratlosigkeit, das Sie hier geboten haben.
Dass Sie es wagen, das Thema der Jugendarbeitslosigkeit anzusprechen, ist nun wirklich der Gipfel an Dreistigkeit,
({7})
um ein Wort von Ihnen aufzunehmen. Denn in diesem Bereich haben Sie in der Vergangenheit überhaupt nichts gemacht. Wenn sich der Regierungswechsel 1998 für irgendwen gelohnt hat, dann doch für Tausende junger
Frauen und Männer, die endlich wieder eine Perspektive
bekommen haben.
({8})
Sie waren doch vor dem Regierungswechsel ohne Perspektive. Deren Sorgen und Nöte haben Sie nicht einmal
registriert, geschweige denn als Problem diagnostiziert
und entsprechende Schritte eingeleitet. Allein wegen dieser jungen Frauen und Männer hat sich der Regierungswechsel gelohnt.
Lassen Sie mich wiederholen, was bereits der Bundesfinanzminister gesagt hat, und den Sachverständigenrat
zitieren, der ja mit Lob vorsichtig ist:
Die Politik hat begonnen, den wachstumshemmenden Reformstau
- ich ergänze: aus Ihrer Zeit, meine Damen und Herren
von CDU/CSU und F.D.P. aufzulösen.
Als Sie noch in der Regierungsverantwortung standen
- das ist noch gar nicht so lange her -, bestand die Gefahr,
die Grenze von 5 Millionen registrierten Arbeitslosen zu
überschreiten. Das versuchen Sie wohl gänzlich auszublenden.
({9})
- Es ist doch wohl nicht zu leugnen, dass in einer bestimmten Phase 5 Millionen Arbeitslose realistisch erschienen, auch wenn diese Grenze dann nicht überschritten wurde.
Gemessen an dieser Ausgangssituation hat diese Koalition beachtliche Veränderungen durchsetzen können.
Sie können doch gar nicht bestreiten, dass die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt erreicht ist; Herr Eichel hat
die Zahlen dazu genannt. Wir sind dabei, die Lasten abzutragen, die Sie angehäuft haben. Das gilt auch für andere Themen, die in diesen Tagen eine Rolle spielen. So
ist es doch auch dreist, uns im Zusammenhang mit der
Bundeswehrreform Vorwürfe zu machen. Auch die Bundeswehrreform zeigt: Wir machen das, was Sie liegen
ließen.
({10})
Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass dies
keine einfache Aufgabe ist.
Die gesamtwirtschaftlichen Daten sind insgesamt
durchaus positiv: Das Preisniveau ist stabil. Das Wirtschaftswachstum ist auch weiterhin beachtlich. Die hohen
Exportzahlen sprechen eine klare Sprache. Die Arbeitslosigkeit geht zurück. Die Steuer- und Abgabenbelastung
sinkt. Aber ich füge hinzu: Es ist nicht befriedigend, dass
wir in Deutschland Regionen haben, in denen es nach wie
vor große Beschäftigungsprobleme gibt; das sind vor allem weite Teile in Ostdeutschland. Das will und kann niemand leugnen. Es gibt aber auch in den alten Bundesländern Regionen, die einen gravierenden Strukturwandel
durchmachen und ebenfalls hohe Arbeitslosenzahlen aufweisen.
Aber lassen Sie uns das ganz realistisch betrachten:
Welche Handlungsmöglichkeiten waren überhaupt nach
dem Regierungswechsel gegeben und was ist gemacht
worden? Wir haben den richtigen Rahmen gesetzt: durch
unsere Wirtschafts- und Finanzpolitik, durch die stetige
Sanierung der öffentlichen Haushalte, mit einer klaren
und verlässlichen Perspektive in der Steuerpolitik, durch
die begonnene Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die ökonomischen und demographischen Erfordernisse von Gegenwart und Zukunft sowie mit der nachhaltigen Begrenzung von Sozialabgaben. Das machen wir
so weiter.
Wir werden in diesem Jahr bei den Verhandlungen über
die Bund-Länder-Finanzbeziehungen und insbesondere
über die Fortführung des Solidarpaktes über das Jahr 2004
hinaus die Voraussetzungen dafür schaffen, dass den
strukturell schwächeren Ländern Deutschlands weiterhin
die Möglichkeit gesichert wird, Anschluss an die Gesamtentwicklung zu finden.
Die Forderung von Herrn Ministerpräsident Vogel
nach einem 40-Milliarden-DM-Sonderförderprogramm Ost ist leider deshalb nicht verhandelbar, weil die
von ihm vorgeschlagene Finanzierung dieses Programms
nicht seriös ist. Das weiß auch jeder, der sich damit ein
wenig auskennt; Herr Merz hat ja offenbar den Brief von
Herrn Schwanitz gelesen, in dem im Einzelnen darauf Bezug genommen wird. Man kann jetzt, nachdem wir im
Konsens aller Parteien etwas anderes festgelegt haben,
nicht einfach fordern, den Gewinn der Deutschen Bundesbank jenseits von 7 Milliarden DM anders zu verwenden. Ähnliches gilt auch für andere Finanzierungsvorschläge von Herrn Vogel. Das heißt, dieses Programm ist
nicht seriös finanziert und deswegen nicht im ostdeutschen Interesse. Im ostdeutschen Interesse kann nur etwas
sein, was anschließend konkrete Handlungsmöglichkeiten bietet, nicht aber etwas, was man nur in Aussicht stellt,
was sich aber nicht konkret umsetzen lässt.
({11})
Es wäre der Sache schon sehr dienlich, wenn Herr
Vogel oder auch Herr Nooke oder wer auch immer uns dabei helfen würden, über die Parteigrenzen hinweg die angemessene Fortführung des Solidarpaktes zu gewährleisten. Ich bin mir nämlich überhaupt nicht sicher, ob die
Herren Stoiber, Koch und Teufel, die ja derzeit das
Machtzentrum in der Union darstellen, mit ihren vehement vorgetragenen Vorstellungen über die Zukunft des
bundesstaatlichen Finanzausgleichs ernsthaft bereit sind,
ihrer gesamtdeutschen Verantwortung nachzukommen.
({12})
Ich glaube, das tun sie nur verbal. Tatsächlich geht es ihnen, meine Damen und Herren, um puren Eigennutz.
({13})
- Um puren Eigennutz, Herr Michelbach. Es soll mehr
Geld in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg bleiben
und dafür weniger nach Ostdeutschland fließen. Das ist
der Kern der Politik, die Sie zu verantworten haben.
({14})
Die Position der SPD in dieser Frage ist eindeutig:
Trotz aller erkennbaren Aufbauerfolge wird unstreitig
anerkannt, dass es in den neuen Ländern noch erhebliche Infrastrukturdefizite und noch immer gravierende
teilungsbedingte Sonderlasten gibt. Deswegen werden
wir die bewährten Instrumente des Solidarpakts, die
Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen und das
Investitionsförderungsgesetz, ergänzt durch Mittel der
Gemeinschaftsaufgaben, durch Mittel der europäischen
Strukturfonds und durch alles, was dazu gehört, sowie den
gezielten Einsatz von Bundesinvestitionen so wie bisher
fortführen und da noch verstärken, wo es erforderlich ist,
um eine Mezzogiorno-Situation zu verhindern. Das ist unsere Linie; für sie stehen die Sozialdemokraten hier im
Deutschen Bundestag, nicht für das, was Sie durch die
Vorstöße von Koch, Stoiber, Teufel und wie sie alle heißen
mitzuverantworten haben.
({15})
Ein letztes Wort zum Mittelstand - weil Herr Merz
auch darauf zu sprechen kam; aber auch die ständige Wiederholung macht es nicht richtig -: Durch unser Steuersenkungsgesetz nebst Ergänzungsgesetz entsteht eine
Entlastung um 62,5 Milliarden DM. Davon entfallen auf
Private 32,6 Milliarden DM, auf Großunternehmen
6,8 Milliarden DM und auf den Mittelstand 23,1 Milliarden DM. Deshalb ist es richtig, was die Beratungsgesellschaft Arthur Andersen im Auftrag des „Handelsblatts“
festgestellt hat „Der Mittelstand wird nicht benachteiligt.“
Er wird jedenfalls nicht durch diese Steuerreform
benachteiligt. Der Mittelstand wurde systematisch durch
die Politik benachteiligt, die nun wirklich Sie zu verantworten haben. Dadurch ist die Schieflage zulasten des
Mittelstandes entstanden, meine Damen und Herren, und
auch da müssen wir Aufräumarbeiten leisten - im Interesse der Handwerksmeister, im Interesse des Mittelstandes. Das werden wir in den nächsten Jahren so fortsetzen.
Vielen Dank.
({16})
Ich erteile dem Kollegen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Dokument der Selbstzufriedenheit
dieser Bundesregierung. Vielleicht war es diese Selbstzufriedenheit, die den Bundeskanzler am Wochenende
veranlasste, zu verkünden, dass er bis zur Wahl die Arbeitslosigkeit auf 3 Millionen Beschäftigungssuchende
zurückführen will. Er hat sich einen Tag später leider wieder korrigiert. Er hat wohl gewusst, warum.
({0})
Es mehren sich vielmehr die Anzeichen dafür, dass die
objektive wirtschaftliche Lage längst nicht so gut ist, wie
uns von der Bundesregierung glauben gemacht werden
soll. Das gilt vor allen Dingen für die Lage im deutschen
Mittelstand.
Wir hatten bereits im letzten Jahr einen massiven
Rückgang des Wirtschaftswachstums zu verzeichnen.
Nach 3,7 Prozent im ersten Quartal, 3,5 Prozent im zweiten Quartal und gerade noch 2,8 Prozent im dritten Quartal waren es im vierten Quartal des letzten Jahres nur noch
1,9 Prozent Wachstum.
Die Abkühlung der Konjunktur in den USA und der etwas stärkere Euro werden nicht spurlos an der deutschen
Exportwirtschaft vorübergehen; sie werden die konjunkturellen Auftriebskräfte weiter schwächen. Ob das
Wachstumsziel von 2,75 Prozent in diesem Jahr erreicht
wird, ist deshalb ernstlich zu bezweifeln.
Stattdessen steigen die Preise immer stärker. Im Februar verteuerte sich die Lebenshaltung in Deutschland
um 2,7 Prozent und damit so stark wie seit sieben Jahren
nicht mehr. Die Regierung hat zweifellos mit ihrer dritten
Stufe der Ökosteuer dazu massiv beigetragen.
Es ist schon beängstigend, mit welcher Schnelligkeit
die Preise in Deutschland steigen. Noch bei der Steuerschätzung im Mai letzten Jahres ging man von einer Inflationsrate von nur 0,7 Prozent für das Jahr 2000 aus, um
dann bei 1,9 Prozent zu landen.
Mit der Beschleunigung des Preisanstiegs schwinden
die Aussichten auf eine deutliche Zinssenkung durch die
EZB, die reale Kaufkraft sinkt. Zugleich wächst die Gefahr, dass es bei den Löhnen Zweitrundeneffekte gibt, die
die Preisstabilität weiter untergraben würden. Wenn, wie
am Wochenende geschehen, führende Gewerkschafter
eine harte Tarifrunde ankündigen, dann hat das auch damit zu tun, dass beim Abschluss der Tarifverträge im letzten Jahr, die für zwei Jahre gelten, niemand mit einem derart dramatischen Anstieg der Preise in Deutschland
rechnen konnte.
Offenbar bleibt auch das Ökosteueraufkommen
hinter den Erwartungen zurück. Dass Staatssekretär
Zitzelsberger in der „Berliner Zeitung“ - offenbar erschreckt - vermerkt, dass die Ökosteuer eine Lenkungswirkung erzeuge, zeigt, dass diese Ökosteuer nur zum Abkassieren geplant war - und zu sonst nichts.
({1})
Wir spüren zunehmend deutlicher, dass die gute Konjunktur - im letzten Jahr durch den Export getragen und
durch einen äußerst schwachen Euro begünstigt - nicht
durch eine gute, sich selbst tragende Binnenkonjunktur
gestützt wird.
Wenn die Bundesregierung jemals den Mut und den
Willen zu durchgreifenden Strukturreformen im Sinne
von mehr Wachstum und Beschäftigung gehabt haben
sollte, dann hat sie dieser Mut längst verlassen. Am erschreckendsten ist die Reformunfähigkeit der Bundesregierung auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik. Wenn
sich hier etwas bewegt, dann in die falsche Richtung!
Trotz einer insgesamt guten Konjunktur im vergangenen
Jahr ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland weit weniger
stark gesunken als in anderen Ländern der Euro-Zone.
Schon der Sachverständigenrat hat festgestellt, dass in
Deutschland im letzten Jahr fast 5,5 Millionen Menschen
offen oder verdeckt arbeitslos gewesen sind. Das sind
13,2 Prozent. Die Entwicklung in anderen Ländern zeigt:
Es gibt kein Naturgesetz, wonach es auf Dauer hohe Arbeitslosigkeit geben muss. Die Arbeitslosigkeit beträgt
zum Beispiel in den Niederlanden 3 Prozent und in Dänemark sowie in den USA 4 Prozent. Der Arbeitsmarkt in
Deutschland - das wird immer deutlicher - ist die Achillesferse der Bundesregierung.
({2})
Friedrich Merz hat heute Morgen dazu Wichtiges gesagt.
({3})
Die Erstellung von Diagnosen und Prognosen zur Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wurde in den letzten zwei
Jahren dadurch erschwert, dass erhebliche Korrekturen an
der amtlichen Erwerbstätigenzahl vorgenommen wurden. Allein das Hinzurechnen der 630-Mark-Jobs, die
früher nie mitgerechnet wurden, hat auf einen Schlag zu
2 Millionen mehr Beschäftigten in der Statistik geführt.
Die jetzt vorliegenden Zahlen, die nach hinten korrigiert wurden, zeigen, dass der Beschäftigungsaufwuchs
bereits 1997 begonnen und sich bis heute fortgesetzt hat.
({4})
- Hören Sie bitte gut zu und schauen Sie sich einmal die
entsprechenden Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit an. Diese Zahlen zeigen aber auch, dass das Arbeitsvolumen
in Deutschland, gemessen in Erwerbstätigenstunden,
1997, 1998 und 1999 zugenommen hat - das hat wohl
mehr mit der alten Regierung als mit der neuen Regierung
zu tun - und dass es im Jahr 2000 zum Stillstand gekommen ist. Das deckt sich mit der Feststellung des Sachverständigenrates, dass der Arbeitsmarkt, gemessen in Erwerbsstunden, im Jahr 2000 zum Erliegen gekommen ist.
Auch das, Herr Poß, finden Sie im Gutachten der Sachverständigen. - Das heißt mit anderen Worten: Wir hatten
im letzten Jahr in Deutschland zwar mehr Beschäftigte,
aber deshalb nicht mehr Arbeit.
Ein weiterer Vergleich: Wir hatten im Februar 2001
352 000 Arbeitslose weniger als im Februar 1999. Dieses
Weniger an Arbeitslosen deckt sich exakt mit der Zahl des
Rückgangs beim Erwerbspersonenpotenzial, das in den
Jahren 1999 und 2000 ebenfalls um 350 000 zurückgegangen ist.
({5})
Das heißt mit anderen Worten: Die Entspannung auf dem
Arbeitsmarkt hängt ausschließlich damit zusammen, dass
mehr ältere Menschen in den Ruhestand gegangen sind,
als junge Menschen in das Erwerbsleben eingetreten sind.
Die jetzige Regierung hat überhaupt keinen Grund, sich
mit angeblichen Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt zu brüsten. Im Gegenteil: Diese Erfolge gibt es nicht.
Für mich sind die Ursachen klar: Wer wie diese Regierung eine Politik gegen den Mittelstand in Deutschland
betreibt, wird auf dem Arbeitsmarkt Schiffbruch erleiden
und keinen Erfolg haben.
({6})
Es war und ist der Mittelstand, der in Deutschland zusätzliche Arbeitsplätze schafft. Das war in den 80er-Jahren so, als 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen wurden - das bräuchten wir auch heute -; das war in
der Rezession 1993/94 so, als in Betrieben mit weniger als
zehn Beschäftigten 700 000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden, während in der Großindustrie 1,4 Millionen
Arbeitsplätze abgebaut wurden. Und das war auch im
letzten Jahr so: In den kleinen und mittleren Betrieben
wurden 350 000 Arbeitsplätze geschaffen, während in
den 100 größten deutschen Unternehmen 50 000 Arbeitsplätze abgebaut worden sind. Diese Steuerreform war
- das gehört zur Wahrheit dazu - eine Reform für die
großen Unternehmen, die Kapitalgesellschaften, aber gegen die Unternehmer und Arbeitnehmer in diesem Land.
({7})
Herr Eichel und Herr Poß, in diesen Tagen haben die
Arbeitnehmer und die Mittelständler gespürt, dass die Erwartungshaltung in Sachen Steuerreform in keiner Weise
durch die Realität gedeckt wird.
({8})
Die Januar- und Februar-Abrechnungen haben den
Facharbeitern in Deutschland gezeigt, dass sie monatlich
circa 70 bis 90 DM mehr im Geldbeutel haben. Gleichzeitig jedoch bekommen die Mieter in diesen Tagen die
Nebenkostenabrechnungen und stellen fest, dass sie aufgrund der gestiegenen Energiepreise pro Quadratmeter
Wohnfläche und Monat 1 DM mehr zahlen müssen.
({9})
Das heißt, Ökosteuer, schwacher Euro und Verteuerung
der Rohölpreise haben die Wirkung der Steuerreform für
die Arbeitnehmer bereits komplett aufgefressen.
({10})
Da Sie immer sagen, der Mittelstand werde entlastet,
bitte ich Sie, einen Moment nachzudenken: Um wie viel
mehr gilt das erst für den kleinen und mittleren Betrieb in
Deutschland,
({11})
der energieintensiv produziert oder dienstleistet? Denn
darüber hinaus haben diese Betriebe die Abschreibungsverschlechterungen im Zuge der lafontaineschen
Reform sowie die jetzigen Verschlechterungen bei den
AfA-Tabellen zu tragen - Verschlechterungen, die insgesamt dazu führen, dass im Schnitt circa 20 Prozent mehr
Gewinn zu versteuern sind, ohne dass eine Mark mehr für
Liquidität zur Verfügung stünde oder gar der Eigenkapitalanteil verbessert worden wäre. Das Gegenteil ist der
Fall: Der Eigenkapitalanteil sinkt.
Meine Damen und Herren, die Behauptung, dass die
Steuerreform insbesondere den Mittelstand in Deutschland entlastet habe, ist das größte Märchen, das man seit
den Gebrüdern Grimm den Deutschen erzählt hat.
({12})
Kollege Rauen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poß?
Ja, bitte schön.
Kollege Rauen, bestreiten Sie
die vom Bundesfinanzministerium angegebenen Entlastungen für den Mittelstand von mehr als 23 Milliarden DM und können Sie bestätigen, dass in dem Alternativentwurf der CDU/CSU vom Frühjahr letzten Jahres
ebenfalls Abschreibungsverschlechterungen in Höhe von
3,5 Milliarden DM zur Gegenfinanzierung vorgesehen
waren?
({0})
Herr Poß, ich bestreite die
Zahlen, mit denen angegeben wird, in welchem Maß der
Mittelstand entlastet wird. Sie müssen sehen - das habe
ich Ihnen schon eben gesagt -: Unternehmer, die Sie nicht
entlasten wollen, und Arbeitnehmer haben denselben
Steuersatz. Beim Arbeitnehmer sind die Erleichterungen
bereits durch die Verteuerungen auf dem Energiesektor
aufgefressen.
({0})
Das gilt natürlich umso mehr für den Unternehmer, der
zudem die Ihnen bekannten Abschreibungsverschlechterungen zu tragen hat.
({1})
- Wenn Sie schon Fragen stellen, Herr Poß, dann bleiben
Sie bitte auch stehen. Sie wollen ja offenbar schlau
gemacht werden.
Herr Poß, ein mittelständischer Betrieb, der seine Leistungen nur energieintensiv erbringen kann - denken Sie
an Speditionen, an Fuhrunternehmen, an Busunternehmen, an Unterglasbaubetriebe -, der wird doch aufgrund
der Energiepreisverteuerungen viel stärker belastet als der
normale Arbeitnehmer. Wenn dieser schon keine Erleichterung bekommt, um wie viel mehr muss das für den Mittelständler gelten!
({2})
- Sie müssen trotzdem stehen bleiben.
({3})
- Ich will Ihnen erklären, Herr Poß, warum diese Zahlen
nicht stimmen. Sie wollen die Antwort bewusst nicht
hören. Denn Sie verschweigen, dass bei dieser „größten
Steuerreform aller Zeiten“, die von 1998 bis 2005 läuft,
den Menschen letztlich nur das an Steuern zurückgegeben
wird, was ihnen vorher durch die kalte Progression, durch
das Zusammenwirken von Progression und Inflation,
abgenommen worden ist.
Das alles rechnen Sie im Zeitraffer zusammen.
({4})
Sie rechnen Entlastungen zu Preisen aus dem Jahr 1998
mit Tarifen des Jahres 2005 auf und geben den Leuten lediglich zurück, was im Rahmen der kalten Progression
vorher von ihnen abkassiert worden ist. Das ist das große
Märchen bei dieser angeblich größten Steuerreform aller
Zeiten.
({5})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung behindert den Mittelstand in Deutschland in seiner Fähigkeit, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, weil sie die Freiheit
der Unternehmer immer mehr einschränkt. Die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung geht in die völlig falsche Richtung. Das bescheinigt niemand anderes als der
von der Bundesregierung berufene Sachverständigenrat.
Der Sachverständigenrat benennt dazu das 630-DM-Gesetz, die überbürokratisierten Regeln zur Scheinselbstständigkeit, die erneute Regulierung beim Kündigungsschutz, die Rücknahme der verminderten Lohnfortzahlung, die Schlechtwettergeldregelung und die erneute Regulierung der Energie- und Telekommunikationsmärkte.
Statt den viel zu starren Arbeitsmarkt zu deregulieren, machen Sie das Gegenteil dessen, was OECD, lnternationaler Währungsfonds, EU-Kommission und der von Ihnen
bestellte Sachverständigenrat Ihnen vorschlagen. Stattdessen geht Ihre sozialistische Regulierungswut genau in
die umgekehrte Richtung:
({6})
Verschlechterung der befristeten Arbeitsverträge, neue
Regelungen zur Altersteilzeit, voraussetzungsloser Anspruch auf Teilzeitarbeit.
Jetzt wollen Sie auch noch das Betriebsverfassungsgesetz gegen den Mittelstand als Waffe in Anschlag bringen.
({7})
Es geht Ihnen doch gar nicht um Mitbestimmung.
Wenn es darum ginge, würden Sie dafür sorgen, dass Betriebe und ihre Belegschaften in eigener Verantwortung
Regelungen treffen können, die Arbeitsplätze sichern und
Beschäftigung mobilisieren, so wie wir von der Union es
vorgeschlagen haben, so wie es teilweise Ihr Wirtschaftsminister Müller vorgeschlagen hat und so wie es Ihnen der
Sachverständigenrat seit zwei Jahren aufgeschrieben hat.
({8})
Die Betriebe und die Menschen in den Betrieben wollen diese Regelungen. Indem sie orts- und betriebsnahen
Regelungen zustimmen, machen die Belegschaften und
die Betriebsräte ihren Anspruch geltend, selber darüber zu
bestimmen, was für sie am günstigsten ist. Wer ein solches
Verfahren als Tarifbruch denunziert, spielt sich zum Vormund der Menschen auf. Er spricht ihnen nicht nur das
Recht, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung
ab. Das ist mit meiner Vorstellung von einer freiheitlich
verfassten Gesellschaft unvereinbar. Aber das ist bei vielen politischen Entscheidungen der große Unterschied
zwischen unserer Partei und Ihrer Partei: Wir bauen auf
den einzelnen Menschen, seine Eigenverantwortung und
seine Fähigkeit, selbst zu entscheiden, was für ihn gut ist,
während Sie die Menschen bevormunden, erziehen und
fremdbestimmen wollen.
({9})
Sie wollen mit diesem Betriebsverfassungsgesetz
keine Mitbestimmung, Sie wollen nur eines: Sie wollen
die Macht der Gewerkschaften und ihrer Funktionäre stärken.
({10})
Mit dem Wahlverfahren geben Sie ihnen das Instrument
an die Hand, von außen gesteuerte Betriebsräte in den BePeter Rauen
trieben zu installieren, auch gegen den Willen der Mehrheit der Belegschaft.
({11})
Was Sie da vorhaben, ist ein Anschlag auf den Mittelstand
in Deutschland, ein Anschlag auf die unternehmerische
Entscheidungsfreiheit, ein Anschlag auf diejenigen, die
für das zu haften haben, was in den Betrieben geschieht.
({12})
Wir müssen den Arbeitsmarkt aufbrechen. Dazu hat
Friedrich Merz heute Morgen Entscheidendes gesagt.
5,5 Millionen Menschen ohne Beschäftigung, Zunahme
der Schwarzarbeit, 1,5 Millionen offene Stellen und
gleichzeitig über 4,1 Millionen Arbeitslose - das geht einfach nicht mehr zusammen. Hier muss der Arbeitsmarkt
kräftig aufgebrochen werden.
({13})
- Heute Morgen hat Friedrich Merz dazu Entscheidendes
gesagt. Ich hoffe, Sie haben zugehört.
({14})
- Das ist wohl wahr.
Das gilt insbesondere mit Blick auf den Arbeitsmarkt
in den neuen Bundesländern. Wir müssen einfach zur
Kenntnis nehmen, dass das Netzwerk an Regulierungen,
das wir in fünf Jahrzehnten geknüpft haben, die jungen
und kapitalschwachen Unternehmen in den neuen Bundesländern vielfach erdrückt. Wenn wir in den 50er- und
60er-Jahren in den alten Bundesländern das heutige Regelungswerk schon gehabt hätten, wären wir auch nicht
auf die Beine gekommen. Es fehlt auch in den neuen Bundesländern nicht an wagnisbereiten Menschen, die Unternehmen gründen und sich behaupten wollen. Die Zahl der
Unternehmensneugründungen ist in den neuen Bundesländern seit Jahren praktisch konstant. Leider nimmt aber
die Zahl der Unternehmen seit Jahren nicht mehr zu, da
viel zu viele Betriebe nach wenigen Jahren aufgeben müssen, weil sie mit der Dichte an Regelungen und Vorschriften einfach nicht fertig werden können.
Es reicht nicht, wenn man - wie diese Bundesregierung - viel von der Neuen Mitte redet, in Sonntagsreden
auf die Bedeutung des Mittelstandes hinweist, man aber
nicht weiß, welche Politik gemacht werden muss, um die
in unserem Volk millionenfach schlummernden Kräfte
freizusetzen und so die Zukunft des Wohlstandes zu sichern. Weil diese Regierung das nicht weiß und wohl auch
nicht lernen wird, wird sie nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch bei der Bundestagswahl im nächsten
Jahr verlieren.
Schönen Dank.
({15})
Ich gebe das
Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem Kollegen Oswald Metzger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man stellt hier
im Gremium immer wieder fest, dass das Niveau der Debatten in einem direkten Zusammenhang mit bevorstehenden Wahlen steht.
({0})
Hierin fühlte ich mich heute wieder bestätigt, als ich die
rheinland-pfälzische Einfalt Brüderle gehört habe, dessen
einfache Logik in etwa so lautete: SPD, nimm die F.D.P.
als Koalitionspartner, dann sinken die Arbeitslosenzahlen, dann sinkt die Staatsverschuldung, dann haben wir
keine Probleme mehr!
Gerade Sie, Kollege Brüderle, müssen sich sagen lassen: Die F.D.P. hat als Regierungspartei 29 Jahre lang die
wirtschaftspolitische Entwicklung auf Bundesebene mitbestimmt.
({1})
Sie, Kollege Brüderle, sind zum Beispiel für einen Anstieg der Lohnnebenkosten in dieser Zeit um über 14 Prozent, für eine Verzehnfachung der Staatsschulden auf
Bundesebene, für einen Anstieg der Steuerquote sowie für
die Mitnahmeeffekte der heimlichen Steuererhöhungen,
von denen der Kollege Rauen gesprochen hat, verantwortlich. Dies sind die Fakten.
({2})
Sich hier hinzustellen, sich aufzublasen und den Eindruck
zu erwecken, als wären die Liberalen sozusagen die
Gralshüter der mittelstandsfreundlichen Politik, der Arbeitnehmer, der Beschäftigung, ist deshalb grotesk.
({3})
Kollege Merz, wenn Sie die ernsthaften Auguren hören
und sich auch die Tagesberichte aus dem Umfeld der Institute, der volkswirtschaftlichen Abteilungen der Sparkassenorganisationen zu den wirtschaftspolitischen Fakten ansehen, müssen Sie feststellen, dass alle sagen: Die
Wachstumsdynamik hat sich gegenüber dem letzten
Jahr verlangsamt - keine Frage -, aber das weltwirtschaftliche Umfeld ist ein Umfeld, für das weder Sie in
der Vergangenheit etwas konnten noch wir jetzt etwas
können.
({4})
Jetzt haben wir in Deutschland folgende Situation: Weil
die deutsche Regierung der Volkswirtschaft, den Unternehmen wie den Arbeitnehmern, durch die Steuerreform
1 Prozent Entlastung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, gibt, hat die deutsche Volkswirtschaft überhaupt nur
die Chance, mit einem relativ robusten Wachstum dazu
beizutragen, dass sich der Euro-Raum insgesamt von
der Entwicklung abkoppelt, die wir derzeit in den USA
beobachten können.
({5})
Das ist keine Frage. Deshalb muss man nicht schwarz malen, muss auch nicht in regierungsamtlichen Optimismus
verfallen. Unser Land befindet sich in einer robusten Verfassung und das lässt sich belegen.
({6})
Ein weiterer Gesichtspunkt, den Sie von der Opposition alle unterschätzen, ist der: Die Bürgerinnen und Bürger in unserer Gesellschaft wissen, dass ein Staat, der in
die Verschuldung marschiert - wie wir es über Jahrzehnte gemacht haben, egal, wer regiert hat -, seinen Bürgerinnen und Bürgern sowie der Wirtschaft ständig mehr
Steuern abnehmen muss, um allein die Zinsen bedienen
zu können. Als wir 1998 antraten und die von Union und
F.D.P. hinterlassene Erbmasse übernahmen, betrug der
Anteil der Zinsausgaben an den Gesamtausgaben des
Bundeshaushaltes 18 Prozent. Die Steuerquote, die besagt, wie viel die Bürgerinnen und Bürger für Zinsausgaben bezahlen müssen, lag bei fast 25 Prozent. Deshalb ist
für eine solide Politik genau die Linie Voraussetzung, die
der Finanzminister vertritt. Die Koalitionsfraktionen wollen die Verschuldung senken. Diesen Prozess setzen wir
trotz aller Mühen fort, um den Menschen langfristig mehr
Geld in der Tasche lassen zu können. Glauben Sie, die seit
dem 1. Januar dieses Jahres geltende Steuerreform, die Sie
so gering schätzen, wäre ohne die Konsolidierung möglich gewesen? - Natürlich nicht.
Kollege Rauen, was mich gerade bei Ihnen als Unternehmer ärgert: Wenn Sie einmal die Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU außen vor lassen, dann müssen Sie
doch wissen, dass die Unternehmer bei fast allen
Veranstaltungen quer durch die Republik und auch die Industrie- und Handelskammern diese Steuerreform loben.
Viele Mittelständler werden am 10. März, dem großen
Steuertermin, merken, dass sie als Personengesellschaft
durch die Steuerreform dieser Koalition faktisch keine Gewerbeertragsteuer mehr bezahlen müssen. Daher kommt
ein erheblicher Teil der Entlastungswirkung der Steuerreform dem Mittelstand zugute. So sehen die Fakten aus.
An die Opposition und besonders an Friedrich Merz
gerichtet: Warum haben Sie offensichtlich vergessen, dass
diese Koalition eine Rentenreform verabschiedet hat, die
bei der Ausgabenstrukturbegrenzung im Kern in die Richtung geht, die Sie früher selber gefordert haben? Warum
Sie jetzt gegen diese Reform sind, versteht doch kein
Mensch. Dass unsere Koalition - das ist im Bundesrat
eine strittige Position - den Einstieg in die Kapitaldeckung bei der Rente schafft, ist ein Beitrag dazu, den
jahrzehntelangen Reformstau Ihrer Regierungszeit aufzulösen. Das sind Projekte, die die Rahmenbedingungen
für volkswirtschaftliche Dynamik in Deutschland verbessern.
({7})
Sie können uns natürlich die Überregulierung des
Arbeitsmarktes vorwerfen. Bei dieser Debatte haben Sie
mich sofort auf Ihrer Seite. Aber was haben Sie in den
16 Jahren Ihrer Regierungszeit getan, in Zeiten, in denen
die Arbeitslosigkeit nominal deutlich höher war als in unserer Regierungszeit? - Sie haben von Mittelstandspolitik
geredet und das Gegenteil getan. Wir bemühen uns, die
Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu stärken, beispielsweise beim Mittelstand und beim Handwerk, die in
der Tat mit ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern
die Leistungsträger unserer Volkswirtschaft sind.
({8})
Ich will zum Thema Betriebsverfassungsgesetz die
Debatte ein wenig versachlichen. Wenn Umfragen sagen,
dass in 86 Prozent aller Unternehmen die Arbeit der Betriebsräte eine volkswirtschaftlich positive Konsequenz
hat, dann kommt doch kein Arbeitgeber an dieser Tatsache vorbei. Dass deshalb die Mitbestimmung in Deutschland darüber hinaus zur sozialen Stabilität in der Gesellschaft beiträgt, versteht sich von selbst. Soziale Sicherheit
in einer Gesellschaft ist ein volkswirtschaftliches Kriterium für wirtschaftliche Prosperität. Menschen, die verunsichert sind und nichts mit entscheiden dürfen, sind
weniger produktiv. Das weiß man.
Wenn man außerdem den Tarifvorrang infrage stellte
- dies ist die Forderung der F.D.P. -, dann bedeutete diese
Diskussion im Extremfall, die Lohnfindung nur auf die
Ebene des Betriebs zu verlagern. In einer ausdifferenzierten Volkswirtschaft wäre es fatal, die Lohnfindung allein auf die Einzelbetriebe zu verlagern, weil es durch
ständige Streiks und Arbeitskämpfe zu einer Stilllegung
unserer Volkswirtschaft kommen würde. Deshalb müssen
wir einen Mittelweg wählen. Das haben wir getan.
Unsere Fraktion hat den Wirtschaftsminister unterstützt, der mit dem Arbeitsminister einen Kompromiss gesucht hat, bevor die Kabinettsentscheidung über die
Bühne ging. Ich finde, diesen Kompromiss kann man im
Gesetzgebungsverfahren auch unter Berücksichtigung
des Verhältniswahlrechtes in der Öffentlichkeit und auch
bei der Unternehmerschaft durchaus vertreten. Man darf
nicht schwarz-weiß malen, sondern muss ehrlich sagen:
Die Volkswirtschaft lebt von verschiedenen Stellgrößen.
Wir bemühen uns, diese verschiedenen Stellgrößen in ein
Verhältnis zu bringen, das zu mehr Wachstum und Beschäftigung in unserer Volkswirtschaft führt. Das geht nur
mit einer soliden Finanzpolitik, einer Politik, die langfristig Unternehmen und Arbeitnehmern weniger Steuern
aufbürdet, und mit einer Reform der sozialen Sicherungssysteme, die die Lohnnebenkosten senkt.
Das ist die einfache ordnungspolitische Wahrheit. Sich
an ihr zu orientieren ist im politischen Prozess mühsam.
Daher müssen sich alle auf ihrer Ebene in diesem Haus
darum kümmern. Wir arbeiten daran.
Vielen Dank.
({9})
Das war
eine Rede nach § 33 der Geschäftsordnung. Das möchte
ich hervorheben.
Ich gebe nun das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll
für die Fraktion der PDS.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über den Jahreswirtschaftsbericht, das grundlegende politische Dokument der Wirtschaftspolitik der nächsten Jahre. Herr
Eichel hat ihn vorgestellt. Herr Eichel wird oftmals als der
höchste Kassenwart der Republik bezeichnet. Ich denke,
er ist sicher ein guter Kassenwart. Allerdings wäre ich als
Politikerin über ein solches Lob nicht besonders erfreut;
denn es bedeutet gleichermaßen, dass er sich, wie die
Bundesregierung, ein Stück weit von der Wirtschaftspolitik verabschiedet hat.
Dieser Jahreswirtschaftsbericht stellt nicht mehr die
politische Frage, wie wollen wir leben - wie es Erhard
Eppler ausgedrückt hat -, sondern es geht nur noch darum: Wie haben wir zu leben, damit wir wettbewerbsfähig
sind?
({0})
Was es noch zwischen dem Markt und dem Homo oeconomicus gibt, wird unterschlagen und als hinderlich empfunden. Genau das ist das Problem Ihrer Wirtschaftspolitik.
Sie versprechen letztendlich mit Blick auf die nähere und
weitere Zukunft auf der Basis der wissensorientierten Gesellschaft - die Sie nur noch im Sinne von Informations-,
Bio- und Gentechnologie verstehen -, dass dann alles gut
wird. Alle Probleme werden gelöst sein. Mit diesem Versprechen sind Sie bereit, die sozialen Ungerechtigkeiten in
diesem Lande und weltweit in der Gegenwart und damit
auch in der Zukunft zu akzeptieren. Sie akzeptieren, wie der
britische Historiker Gray sagt, die tägliche Katastrophe auf
diesem Erdball. Sie haben das eindeutig im Jahreswirtschaftsbericht geschrieben: Wenn Menschen trotz eigener
Anstrengungen den Anforderungen der Wissensgesellschaft
nicht mehr gewachsen sind, dann ist es notwendig, eine
zielgerichtete soziale Unterstützung zu leisten.
Es wird nicht mehr die Frage gestellt: Wozu brauchen
wir das Wissen, wozu brauchen wir die Wirtschaft? Heute,
am Internationalen Frauentag, sehen wir das Problem klar:
Wir haben im vergangenen Jahr eine Unternehmensteuerreform für dieses Land verabschiedet, welche auf
kolossalen Risiken basiert, die sich jetzt bezüglich der
Selbstfinanzierungseffekte zeigen. Das Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr nicht 2,75 Prozent betragen und
sich auch nicht in dem Korridor, den Herr Eichel nannte,
bewegen, sondern es wird, wie das Kieler Ifo-Institut heute
verkündete, höchstens 2,1 Prozent betragen. Das heißt, die
ohnehin fragwürdigen Selbstfinanzierungseffekte können
nicht mehr eintreten. Es sind Fehlkonstruktionen in dieser
Reform enthalten. Ein Beispiel dafür ist, dass die Steuerhinterziehung der Organschaft weiterhin legal möglich
sein wird, indem man Veräußerungsgewinne steuermindernd einstellen wird.
Diese Steuerreform haben Sie mit Ihrer Mehrheit mit
Blick auf wahnsinnige Risiken verabschiedet. Es musste
aber eine Steuerreform zur Entlastung der großen Konzerne durchgezogen werden, um diese globalisierungsfähig zu machen. Ich frage Sie heute, am Internationalen
Frauentag: Wo ist Ihr Ansatz für Familien- und Kinderpolitik?
({1})
Die Kinderbetreuung diskutieren Sie nur vor dem Hintergrund der Kassenlage - sie darf höchstens 7 Milliarden DM kosten - und nicht aus der Zielstellung heraus,
dass es notwendig ist, den Kindern in unserer Gesellschaft
eine wirklich gesicherte Zukunft zu bieten und ihnen
Rechte einzuräumen. Das gilt auch für das Recht auf eine
kostenfreie Kinderbetreuung. Da können Sie sich ein Beispiel an Frankreich nehmen. In Frankreich hat jedes Kind
ab drei Jahre das Recht auf eine kostenfreie Betreuung
und diese wird auch realisiert. Wir sind hier ein absolutes
Entwicklungsland.
Sie akzeptieren mit Ihrer Wirtschaftspolitik die sozialen Ungerechtigkeiten und die Polarisierungen in dieser
Gesellschaft. Letztendlich geht der Streit bei Ihnen nur
darum, wer am schnellsten und konsequentesten auf den
neoliberalen Wirtschaftskurs eingeschwenkt ist. Das ist
keine Politik, die mit Demokratischen Sozialistinnen und
Sozialisten zu machen ist.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort
hat nunmehr der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Dr. Werner Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich, nachdem schon manches Grundsätzliche gesagt wurde, mit einem Zweig unserer Wirtschaft, an den weniger gedacht wird, anfangen. Nicht
zuletzt, weil gerade sehr erfolgreich in Berlin die Internationale Tourismus-Börse stattgefunden hat, nenne ich den
Tourismus, einen Wirtschaftszweig, der in diesem Lande
280 Milliarden DM umsetzt und in dem annähernd 3 Millionen Menschen beschäftigt sind. Er ist damit ein wirklich großer Wirtschaftszweig.
Im letzten Jahr hatte er erfreuliche Zuwachsraten: Ausländer haben 10 Prozent und Inländer 6 Prozent mehr
Übernachtungen in Deutschland gebucht. Der Generalsekretär der Welttourismusorganisation, Herr Frangialli, hat
am Montag in der „Welt“ dazu Folgendes gesagt:
„Deutschland hat als Reiseziel eine hervorragende Leistung hingelegt.“
({0})
Ganz anders, Herr Merz, scheint das ja Ihre Fraktion zu
sehen.
({1})
Sie haben für den Tourismusstandort Deutschland SOS
ausgerufen und haben sogar eine Postkartenaktion initiiert. Meine Postkarte ist schon etwas zerknittert, weil sie
bereits im Papierkorb war.
({2})
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Wenn Sie angesichts der Leistungen des deutschen Tourismus von einem SOS für den Tourismusstandort
Deutschland sprechen, sage ich Ihnen ganz klar: Das ist
eine Beleidigung für die Leistungen der Menschen.
({3})
SOS für den Tourismusstandort Deutschland müssen Sie
erst dann ausrufen, wenn Sie als Fraktion anfangen, Ferienwohnungen zu vermieten.
({4})
Ich habe mit diesem Beispiel angefangen, weil wir hier
das Vorbild eines schnell und dynamisch wachsenden
Wirtschaftszweiges haben. Diese Tatsache scheint bei Ihrer Beobachtung völlig unterzugehen. Dieser Realitätsverlust in der Betrachtung der Dinge gibt mir doch zu denken, nicht zuletzt deshalb, weil er mit einer statistischen
Betrachtung gepaart ist, die unter Ihrer Würde ist, Herr
Merz. Wenn Sie von einem Vergleich der Arbeitslosenzahlen zwischen früher und heute reden, können Sie nicht
irgendwelche Monatswerte nehmen, sondern müssen den
Februar 1998 mit dem Februar 2001 vergleichen. Wir hatten im Februar 1998 4,819 Millionen Arbeitslose und im
Februar 2001 4,1 Millionen Arbeitslose. Das sind 700 000
weniger. Das ist ein korrekter Vergleich.
({5})
Wenn wir über einen Realitätsverlust oder über eine
bewusst falsche Darstellung der Fakten sprechen, frage
ich mich wirklich: Was nützt es eigentlich, wenn wir mit
Unterstützung von viel Sachverstand, insbesondere aus
der deutschen Wirtschaft, sagen, wir haben in diesem Jahr
nach bestem Wissen und Gewissen mit 2,7 bis 2,8 Prozent
Wirtschaftswachstum zu rechnen? Warum müssen Sie
in Ihrer Rede nur negative Möglichkeiten erwähnen und
diese Wachstumspotenziale kaputtreden?
({6})
Ich habe fast den Eindruck, dass es Sie stört - offenbar
sind Sie so egoistisch -, wenn unser Wachstum doppelt so
hoch ist wie das während Ihrer Regierungsperiode.
({7})
- Das stimmt. - Sie sollten doch froh sein, dass wir in den
ersten vier Jahren unserer Regierung beim Zuwachs des
Bruttoinlandsproduktes einen absoluten Zuwachs in der
Größenordnung hinbekommen wie Sie zuletzt innerhalb
von acht Jahren.
({8})
Aus meiner Sicht haben Sie als Opposition die Aufgabe, die Fakten so zu nehmen, wie sie sind, und nicht laufend schlecht zu reden.
({9})
Darauf aufbauend sollten Sie dem Bürger dann bessere
Konzepte vorstellen. Das ist das, was die Bürger erwarten. Wenn Sie offensichtlich keine besseren Konzepte
vorlegen können, können Sie als Konsequenz daraus nicht
alles kaputtreden. Das ist unverantwortlich!
({10})
- Herr Schauerte, das gilt auch für Sie und ganz besonders
für Herrn Brüderle. - Lassen Sie in Ihren Reden doch die
Mischung von „scheintot“ und „scheinheilig“
({11})
und werden Sie Ihrer wirtschaftspolitischen Verantwortung gerecht! Reden und handeln Sie für die Chancen der
deutschen Unternehmen und nicht gegen die Chancen der
deutschen Unternehmen!
({12})
Ich möchte Ihnen das am Beispiel der Deutschen Post
verdeutlichen.
({13})
Unsere traditionelle gelbe Post hat sich enorm gemausert
und hat alle Voraussetzungen, um auf dem Weltmarkt
chancenreich zu sein. Der Weltlogistikmarkt ist wirklich
der Zukunftsmarkt. Ich möchte, dass die Deutsche Post
als Global Player im dortigen Konzert mitspielt.
({14})
Mitspielen wollen auch die Staatsmonopolisten beispielsweise aus Frankreich oder England. Ich sehe überhaupt
nicht ein, dass unsere Post angesichts der globalen Herausforderung, die auf sie zukommt, nicht als Global
Player auf diesem Weltmarkt mitspielen soll, weil Sie sie
national zerschlagen wollen.
({15})
- Natürlich reden Sie davon. - Soll die Deutsche Post
denn auf dem deutschen Markt der Konkurrenz ausländischer Staatsmonopolisten ausgesetzt sein? Das wäre doch
rundum ein unfairer Wettbewerb, wozu ich Ihnen einfach
sage: mit mir nicht!
({16})
Mich beeindruckt es null, wenn sich irgendwelche
Leute aus Ihrer Fraktion irgendwelche Gutachten von den
Konkurrenten der Deutschen Post bezahlen lassen. Mich
beeindruckt schon wesentlich mehr, dass Sie diese beBundesminister Dr. Werner Müller
stellten und bezahlten Gutachten zur Basis Ihrer Politik
machen.
({17})
- Ich bin vorsichtig. Ich weiß, wovon ich rede.
({18})
- Fragen Sie doch einmal Ihre Leute, von denen in der
letzten Zeit in der Presse zu lesen gewesen ist. Dann wissen Sie das. Ich lese doch auch Zeitung.
({19})
- Beruhigen Sie sich doch! Ich weiß gar nicht, warum Sie
sich so aufregen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Uldall?
Ja.
Herr Minister, angesichts des schweren Vorwurfs, den Sie eben erhoben haben, nämlich dass sich unsere Fraktion ein Gutachten, das
zur Entscheidungsgrundlage unserer Politik geworden
sein soll, von einem Unternehmen habe bezahlen lassen,
bitte ich Sie nachdrücklich, jetzt klar Ross und Reiter zu
nennen, wer ein solches Gutachten hat anfertigen lassen
und wo ein solches Gutachten bei uns zur Entscheidungsgrundlage geworden ist.
({0})
Ich habe ausdrücklich nicht gesagt, dass
sich Ihre Fraktion irgendein Gutachten von den Konkurrenten der Deutschen Post hat aufschwätzen lassen. Ich
bitte, sich auf das zu beziehen, was ich gesagt habe.
({0})
Sie wissen, dass ein Mitglied Ihrer Fraktion ein Gutachten von Konkurrenten der Deutschen Post hat erstellen
lassen. Sowohl diese Postkonkurrenten als auch das betreffende Mitglied Ihrer Fraktion sind im Zusammenhang
mit diesem Gutachten breitflächig in den deutschen Zeitungen vertreten gewesen. Das hat sich sogar bis nach
Hessen herumgesprochen. Ich habe gestern einen Brief
des hessischen Wirtschaftsministers
({1})
bekommen, in dem mir mit Bezug auf das von einem Mitglied Ihrer Fraktion in Auftrag gegebene Gutachten erklärt wird, dass aus Sicht der CDU dieses und jenes auf
dem Postmarkt unbedingt zu geschehen habe. Alles, was
Sie jetzt sagen, deckt sich völlig mit dem, was in dem Gutachten verbreitet wurde.
({2})
- Herr Uldall, ich freue mich ja und bin regelrecht beruhigt, wenn Sie diese Gutachten zur Verlängerung des
Postmonopoles - darauf wollte ich gleich noch zu sprechen kommen - als nicht existent betrachten. Dafür bin
ich Ihnen dankbar.
({3})
- Ich bin gerne bereit, Ihnen meine Presseausschnitte zum
Lesen zu geben, Herr Uldall.
({4})
Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Uldall?
Aber gern.
Herr Minister, können
Sie einmal erklären, wie meine Fraktion ein Gutachten zur
Entscheidungsgrundlage machen kann, wenn weder mir
als zuständigem Sprecher für Wirtschaftspolitik - dazu
gehört auch die Postpolitik - noch offensichtlich meinen
hier versammelten Kollegen dieses Gutachten bekannt ist?
({0})
Wie kann ein solches Gutachten überhaupt Grundlage unserer Entscheidungsfindung sein? Können Sie das bitte
erläutern?
({1})
Nein, das kann ich Ihnen nicht erläutern.
({0})
Ich bin sofort bereit, mich zu korrigieren, weil ich erst
eben erfahre, dass dieses Gutachten, das mir von allen
möglichen Leuten - wie gesagt, auch von Mitgliedern Ihrer Partei - mit der Bitte ins Haus geschickt wird, ja nichts
an den Gesetzen zu ändern und das Postmonopol enden zu
lassen, Ihnen völlig unbekannt ist.
({1})
Das begrüße ich. Denn das Gutachten ist nicht richtig.
({2})
Es gibt, Herr
Minister, den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
Ja. Ich habe Zeit.
Herr Minister, sind Sie
denn bereit, uns dieses Gutachten zur Verfügung zu stellen, damit wir es überhaupt kennen?
({0})
Herr Uldall, das mache ich sehr gerne,
wenn Sie mir im Gegenzug versprechen, es hernach wegzuwerfen.
({0})
Zum Ernst der Sache zurück: Ich werde in allernächster Zeit das Bundeskabinett um Zustimmung zu einer Gesetzesänderung bitten, die nur aus einer einzigen Zeile besteht. Wir werden das Postmonopol von 2002 auf 2007
verlängern. Glauben Sie mir: Wir haben das rundum geprüft. Das ist in Ordnung.
({1})
Vor diesem Hintergrund bitte ich schon jetzt um Ihre Zustimmung. Das geht auch in Richtung Bundesrat.
({2})
Herr Bundesminister Müller, der Kollege Brüderle möchte eine
Frage an Sie richten.
Das lässt sich nicht vermeiden.
({0})
Bei Ihrer Politik ja, Herr
Müller.
Herr Müller, sind Sie erstens bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, dass Ihre Aussage nicht zutrifft, dass der CDUWirtschaftsminister von Hessen dieses oder jenes mitgeteilt habe? Der Wirtschaftsminister von Hessen ist Mitglied der F.D.P.
({0})
Sie sollten die politische Landschaft ein bisschen kennen;
das ist manchmal hilfreich, wenn man sich äußert.
Zweitens. Halten Sie es für vertretbar, dass der Bund
hier Schiedsrichter und Mitspieler gleichzeitig ist? Sie
sind Eigentümer einer erdrückenden Mehrheit an der
Deutschen Post AG. Sie begünstigen sich selbst, indem
Sie das Briefmonopol verlängern, damit Herr Eichel mehr
Privatisierungserlöse kriegt. Ist das Ihre Ordnungspolitik?
Ich will Ihnen zum ersten Punkt sagen:
Das ist jetzt in der Tat für mich neu.
({0})
Aber das liegt auch daran, dass ich diesen Kollegen, der
seit etwa zwei Jahren im Amt ist, bisher vergeblich gebeten habe, vielleicht einmal, wie alle anderen es machen,
zum Bundeswirtschaftsminister zu kommen. Dann hätte
ich ihn kennen gelernt.
({1})
Nun zu dem anderen Punkt. Ich habe deutlich gesagt:
Ich möchte nicht, dass die Deutsche Post unter die Mühlsteine unfairer Konkurrenz kommt, weder auf dem deutschen Markt noch insbesondere auf dem großen Zukunftsfeld der Weltlogistik, wo sich die Deutsche Post
aufgestellt hat, ein Global Player zu werden. Das findet
die volle Unterstützung der Politik der Bundesregierung,
die volle Unterstützung des Eigners Bundesregierung,
übrigens auch die volle Unterstützung des Aufsichtsrates
der Post. Das Ganze geschieht vor dem Hintergrund, dass
wir die Beschäftigung bei der Post weiter stabilisieren und
ausbauen wollen.
({2})
Gestatten
Sie, Herr Bundesminister, eine weitere Zwischenfrage? Bitte, Herr Brüderle.
Herr Müller, Sie haben
zwar etwas gesagt, aber nicht meine Frage beantwortet.
Meine Frage war, zugespitzt, ob Sie nicht eine Selbstbegünstigung darin sehen, dass der Eigentümer Bund Regelungen zum Briefmonopol trifft, die ihn selbst besser stellen und damit höhere Privatisierungserlöse in die Kasse
von Herrn Eichel bringen, als wenn Wettbewerb bestehen
würde.
({0})
Folgt daraus im Umkehrschluss, dass
wir die in unserem Eigentum stehende Post erst kaputt
machen müssen, damit wir sie nicht mehr verkaufen können?
({0})
Also, Herr Brüderle, Ihre Parteifarbe ist zwar gelb, aber
für die Post stellen Sie eher eine gelbe Gefahr dar.
({1})
Lassen Sie mich wieder auf das eigentliche Thema
zurückkommen: Es wird in unserem Land - das ist meine
Beobachtung - dermaßen viel an den Dingen vorbeigeredet und über Scheinprobleme geredet, dass dadurch Probleme herbeigeredet werden, die es nicht gibt. Das Betriebsverfassungsgesetz soll ja nun, wenn man einigen
Wirtschaftsverbänden Glauben schenkt, zum Untergang
Deutschlands führen.
({2})
Dabei ist § 1 schon am 4. Februar 1920 im Reichstag in
der Form beschlossen worden, wie er auch jetzt, nach
80 Jahren, noch unverändert im Gesetz steht. Dort heißt
es: Betriebe haben einen Betriebsrat. Das ist die simple
Aussage seit 1920. Für Betriebe mit weniger als 100 Beschäftigten ändert die Reform von Herrn Riester ganz und
gar nichts.
({3})
Jetzt muss man wissen, dass beispielsweise nur 0,9 Prozent aller Handwerksbetriebe mehr als 100 Beschäftigte
haben. Diese 0,9 Prozent aber werden als 100 Prozent gesetzt. Hiervon ausgehend wird dann Politik gemacht. Sie
gehen dem auf den Leim, so als ob Sie wieder ein Gutachten hätten; das aber nur am Rande.
({4})
Die Steuerreform falle für den Mittelstand ungünstiger aus als für Kapitalgesellschaften, behaupten Sie.
Fragen Sie doch einmal irgendjemanden im Mittelstand,
ob er sich wie eine Kapitalgesellschaft besteuern lassen
will. Bedenken Sie bitte dabei, dass 99 Prozent aller
mittelständischen Personengesellschaften weniger als
500 000 DM im Jahr versteuern. Erst ab diesem Wert
wird eine Kapitalgesellschaft überhaupt steuerlich marginal besser gestellt. Wer also so etwas behauptet, straft
steuerlich 99 Prozent aller mittelständischen Personenunternehmen.
({5})
Deswegen - das muss ich Ihnen ehrlich sagen - bekomme
ich manches, was Sie so sagen, nicht mehr richtig mit.
({6})
Deswegen sprach ich vom Realitätsverlust
Joachim Poß [SPD]: Ja, Schotten dicht!)
und auch von mangelnden Konzepten.
({7})
Mittelstandspolitik heißt - das muss man deutlich sagen -, nicht für 0,9 Prozent der Betriebe etwas zu machen.
Mittelstandspolitik heißt, für alle Betriebe des Mittelstandes eine neue Technologieoffensive zu starten, allen Betrieben des Mittelstandes deutlich zu machen, dass sie
sich auch mehr um den Export kümmern müssen. Mittelstandspolitik für alle heißt, das Internet dem Mittelstand
nahe und den Mittelstand ins Internet zu bringen.
({8})
All diese Dinge werden in unserer Politik klar berücksichtigt. Wir erhalten ja auch vom Mittelstand große Zustimmung, beispielsweise auch bezüglich der Frage der
Finanzierung des Mittelstandes. Die Finanzierung des
Mittelstandes war eines der großen Probleme, nicht zuletzt aufgrund der ersten Entwürfe des Basler Akkords mit
Vorschriften zur Eigenkapitalunterlegung usw.
({9})
Wir haben die damit zusammenhängende Problematik
gelöst. Ich könnte Ihnen bezüglich dieser Frage beliebig
viele anerkennende Worte der Mittelstandsverbände anführen.
Zum Schluss lassen Sie mich sagen: Alles in allem rege
ich mich nicht auf, weil ich weiß, dass unsere Politik vor
Ort ankommt.
({10})
Sie können hier ruhig alles madig machen. Wichtig ist,
dass wir vor Ort ankommen, dass dort Wachstum verzeichnet wird; denn gewählt wird zum Schluss vor Ort.
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile
das Wort dem Kollegen Dr. Bernd Protzner für die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann nur fragen:
„Alles Müller oder was?“ Müller hat bei Milch und
Milchprodukten immerhin einen guten Namen, was ich
hier vom Wirtschaftsminister nach seinem Auftritt nicht
sagen kann.
Es ist erstaunlich, an welcher Position er sprechen darf:
Sieben Rangstufen nach dem Bundesfinanzminister darf
er auftreten. Dies entspricht dem gehörigen Abstand zwischen Ministerialratsebene und der Leitung des Hauses.
({0})
Er darf dann das große Gebiet des Tourismus bearbeiten,
wobei er Umsatz mit Erträgen verwechselt. Herr Müller,
Sie sind nicht mehr bei einem Energieversorgungsunternehmen mit Monopolstellung. Dort konnte man das einfach gleichsetzen.
({1})
- Das hat nichts mit Polemik zu tun. Wenn sich der Minister auf eine so simple Argumentation einlässt, dann ist das
sein Problem.
Ich hätte eigentlich erwartet, dass er etwas mehr sagt.
Meiner Ansicht nach ist er nicht nur Minister für Messeeröffnungen - gestern hat er die Handwerksmesse eröffnet - und Rücktrittsdrohminister; das ist er in regelmäßigen Abständen, etwa jedes Vierteljahr, wenn es darum
geht, die Wirtschaft zu beruhigen. Er sollte sein Amt endlich als das des Wirtschaftsministers begreifen. Ich hätte
mir gewünscht, dass er etwas Sachverstand seines Hauses
in den Jahreswirtschaftsbericht einbringt und den Jahreswirtschaftsbericht nicht dem Bundeseinnahmeminister
Eichel überlässt.
({2})
Herr Minister Eichel, dass Sie bestimmte wirtschaftliche Probleme gar nicht ansprechen wollen, ist mir schon
klar. Auf dem Arbeitsmarkt herrscht Stillstand.
({3})
Weshalb lehnen Sie, meine Damen und Herren von der
SPD und von den Grünen, unseren Antrag, die Statistik
sauber darzustellen, ab, wenn die Lage auf dem Arbeitsmarkt so gut ist?
({4})
Heute liegt die Vorlage des Ausschusses vor, in der die
Ablehnung empfohlen wird. Ihre Kollegen im Wirtschaftsausschuss haben es abgelehnt, diese Statistik endlich zu bereinigen und die tatsächliche Entwicklung klarzustellen. Wir können uns heute auf die Aussagen von
Fachleuten verlassen: Die Anzahl der Arbeitsstunden in
der Bundesrepublik Deutschland hat die letzten Jahre
nicht zugenommen; sie stagniert. Die Arbeit mag auf ein
paar Personen mehr verteilt worden sein; aber die Menschen brauchen mehr Arbeitsstunden, um mehr zu verdienen und um mehr zu konsumieren. Nur wenn das geschieht, bringen wir die Binnenkonjunktur in Gang.
({5})
Ihr Bundeseinnahmeminister tut alles, um die Kräfte in
Deutschland zu schwächen. Er stellt sich hin und beklagt
in Hintergrundgesprächen mit Zeitungsjournalisten die
Einnahmesituation. Unter diesem Minister ist die Steuerlast um 1 Prozent des Bruttosozialproduktes - das sind
immerhin 40 Milliarden DM - gewachsen. Trotzdem erklärt er auch hier wieder, dass zum Beispiel das für die
Bundeswehr vorgesehene Geld nicht ausreicht. Dazu
muss ich sagen: Er scheint mit seinen Ausgaben offensichtlich nicht zurechtzukommen. Er sollte einmal eine
ordentliche Kassenführung betreiben und die richtigen
Schwerpunkte setzen.
({6})
Warum verhindern Sie mit Ihrer politischen Mehrheit
beispielsweise, dass bei der Bundesanstalt für Arbeit eine
moderne Eingliederungsstatistik - dafür wurde letztes
Jahr der Nobelpreis verliehen - zur Überprüfung der Ausgaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitik in Höhe von
48 Milliarden DM angewandt wird? Wenn das geschähe,
käme heraus, dass diese staatlichen Maßnahmen ineffektiv sind und dass Sie Arbeitslosigkeit finanzieren. Es wäre
besser, die 48 Milliarden DM für Investitionen heranzuziehen und damit Arbeit zu finanzieren. Sie gehen an diesem Punkt einen falschen Weg.
({7})
Einen falschen Weg gehen Sie auch im Hinblick auf die
Regulierung. Der Bundeseinnahmeminister Eichel hat
vorhin gesagt, er lehne deutsche Regulierungen ab und er
halte europäische Regulierungen für besser. Ich halte
beide Regulierungen für falsch und für schlecht; das gilt
insbesondere für die vorgesehene Verlängerung der Regulierung bei der Post.
({8})
Herr Minister Müller, Sie haben sich der Einnahmepolitik des Bundeseinnahmeministers untergeordnet. Er
wird, wenn Sie das Monopol für die nächsten Jahre verlängern, für seine Postaktien nämlich mehr bekommen,
weil es dann Monopolgewinne gibt, weswegen die Erträge höher sind. Nur, Sie verstoßen gegen die Neutralitätspflicht des Amtes und gegen Ihre Pflichten als Wirtschaftsminister. Sie müssen sich immer überlegen, in
welcher Tradition Sie stehen: Dem Wirtschaftsministerium stand einmal Ludwig Erhard und auch ein Müller, allerdings ein Müller-Armack und nicht ein Werner Müller,
vor.
({9})
Sie betreiben eine Politik für Funktionäre. Schauen Sie
sich doch einmal an, wie viele Bezirksleiter von Gewerkschaften in Ihrer Fraktion sind!
({10})
Es ist doch ganz klar, dass bei der Reform der Betriebsverfassung nur ein Funktionärsgesetz herauskommt, aber
leider nichts, was die Wirtschaft voranbringt.
Hier unterscheiden sich eben die Wege der Union und
die Wege von Rot-Grün:
({11})
Wir setzen auf einen aktiven, aber nicht auf einen übermächtigen Staat. Wir wollen in unserem Land Freiraum
und Freiheit für den Ideenreichtum unserer Bürger, für die
Initiative und den Arbeitswillen der Arbeitnehmer sowie
für den Unternehmergeist, die wir dringend brauchen, um
die Wirtschaft bei uns voranzubringen. In dem Jahreswirtschaftsbericht findet sich aber nichts davon. Hier wird
weiter der Weg in den Steuer- und Abgabenstaat, in den
Bürokratiestaat und in den Funktionärsstaat beschrieben.
({12})
Zum Weg in den Steuer- und Abgabenstaat: Ihre so genannte Steuerreform setzt eine Fehlentwicklung in
Gang; denn das, was Sie den Bürgern durch die Entlastung bei der Lohn- und Einkommensteuer vorübergehend
belassen, das nehmen Sie ihnen bei den indirekten Steuern, insbesondere bei der Ökosteuer, wieder weg.
({13})
Lieber Herr Tauss, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer
steht an. Das zeigt eindeutig, welche Absichten Sie in der
Steuerpolitik verfolgen. Ihr einziges Ziel scheint zu sein,
die Menschen in unserem Land um den Ertrag ihrer harten Arbeit zu bringen.
({14})
Zum Weg in den Bürokratiestaat: Der Sachverständigenrat warnt zwar davor. Aber was machen Sie? - Sie tauschen einfach die Sachverständigen aus. Sie haben mit
Bert Rürup jemanden gefunden, der als Multifunktionär
in Ihrem Sinne argumentiert. Aber in dem bayerischen
Vertreter haben Sie sich offensichtlich geirrt. Was die
Öffnung des Arbeitsmarktes angeht, argumentiert er nämlich sehr in unserem Sinne und im Sinne des Kollegen
Merz, der seine Vorstellungen eingangs der Debatte vorgetragen hat.
Echte soziale Marktwirtschaft vertraut auf mündige
Arbeitnehmer und nicht auf einen Funktionärsstaat und
eine Funktionärsmitbestimmung. Echte soziale Marktwirtschaft vertraut auf Selbstständige und fördert sie, anstatt sie mit Gesetzen wie beispielsweise mit dem Gesetz
zur Scheinselbstständigkeit zu bekämpfen. Echte soziale
Marktwirtschaft baut auf mittelständische Familienunternehmen, die traditionsgemäß die Innovationen vorantreiben und die die Mehrzahl der Arbeitsplätze und
80 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutschland stellen.
Es sind eben nicht die Großunternehmen mit Tausenden
und Zehntausenden von Arbeitnehmern, die bei uns im
Land die Beschäftigung garantieren und die Ausbildung
sicherstellen, sondern es sind die kleinen und
mittelständischen Unternehmen, die dafür sorgen. Deshalb sollten diese durch eine Steuerreform bevorzugt
werden.
Es hilft nichts, wenn deutsche Unternehmer Maschinen
ins Ausland liefern. Herr Minister Müller, deutsche Unternehmer würden sich freuen, wenn sie durch vernünftige Abschreibungsregelungen in die Lage versetzt werden würden, selbst solche Maschinen anschaffen zu können.
({15})
Allerdings müssten Sie sich dann als Wirtschaftsminister
endlich einmal gegen den Finanzminister durchsetzen
und Sie müssten im Bundeskabinett endlich einmal eine
Mehrheit für Ihre Vorschläge bekommen. Bis jetzt hat
sich immer der Bundeseinnahmeminister, Herr Eichel,
durchgesetzt.
Da Sie bezweifeln, dass der Mittelstand mit der Steuerreform unzufrieden ist,
({16})
muss ich Ihnen sagen: Es ist schlicht und einfach ein
Gerücht, dass Herr Eichel in den letzten Tagen sein Ministerium nicht mehr betreten konnte, weil der Briefkasten vor Dankesschreiben der Mittelständler übergequollen ist.
({17})
Im Gegenteil: Wir als Oppositionsabgeordnete haben eine
Vielzahl von Schreiben mit Klagen darüber erhalten, wie
die Steuerpolitik dieser Regierung den Mittelstand belastet, wie sie ihn mit Bürokratie überhäuft und wie sie ihn
mit einer unseligen Funktionärsmitbestimmung an der
Arbeit hindert.
Selbstständigkeit und Mittelstand haben die soziale
Marktwirtschaft bei uns in der Bundesrepublik Deutschland groß gemacht. Wenn es eine Kraft des Südens gibt,
die in den südlichen Bundesländern zu höheren
Wirtschaftswachstumsraten führt, dann beruht sie auf der
hohen Zahl von Selbstständigen und von mittelständischen Unternehmen. Das macht die Kraft des Südens aus.
({18})
Wir freuen uns natürlich, wenn Sie eine Unternehmensteuerreform machen, durch die ein einzelner im
Süden angesiedelter Konzern allein in einem Jahr 2,1 Milliarden DM mehr Gewinn ausweisen kann. Aber wir
wünschten uns, dass auch die Mittelständler mehr Gewinn
ausweisen könnten, mehr investieren könnten und mehr
für Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze tun könnten.
Dafür müssten aber die Steuerreform und die Neuregelung der Abschreibungstabellen für sie günstiger ausfallen, als es Ihre Regierung plant.
Wir freuen uns über die Kraft des Südens.
({19})
Wir wollen sie aber nicht auf den Süden beschränken. Wir
hätten es gern, wenn auch im Norden, im Westen und im
Osten Selbstständigkeit und Mittelstand mehr Verbreitung finden würden. Allerdings müsste dann im Jahreswirtschaftsbericht eine andere Politik eingeleitet werden,
eine mittelstandsfreundliche Politik und eine Abkehr von
der allein auf Konzerne und internationale Großunternehmen ausgerichteten Politik, wie Sie sie betreiben.
Geben Sie doch endlich der sozialen Marktwirtschaft
und dem Mittelstand wieder die Chance, die sie brauchen!
Damit würden Sie die Wachstumsdynamik stärken und
die Herausforderungen Deutschlands zu Beginn des
21. Jahrhunderts bewältigen können. Wir leben, wie alle
sagen, am Beginn einer Dienstleistungsgesellschaft. In
dieser Dienstleistungsgesellschaft müsste auch Ihr Bundeseinnahmeminister, Herr Eichel, anerkennen, dass der
Staat für die Bürger da ist und nicht die Bürger für den
Staat da sind. In der Wirtschaftspolitik könnten Sie damit
endlich anfangen.
({20})
Für die
SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Klaus Lennartz.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es leuchtete
einmal ein Stern eines Generalsekretärs. Nun war vom
Stern des Südens die Rede. Aber dieser wird wahrscheinlich genauso erlöschen wie der Stern des Generalsekretärs. Die Rede, die Sie hier geboten haben, war nicht
gerade ein Aushängeschild für den Süden. Was Sie hier
geliefert haben, Herr Kollege, haben die Unternehmerinnen und Unternehmer aus Bayern und Baden-Württemberg nicht verdient.
({0})
Der Jahreswirtschaftsbericht dokumentiert, was die
Menschen längst spüren: Der wirtschaftliche Aufschwung wird sich trotz gestiegener Rohölpreise fortsetzen und die Zahl der Arbeitslosen wird weiter abgebaut.
Allein im Jahr 2000 stieg die Zahl der Erwerbstätigen
bei uns um 580 000, im Jahr 2001 erwarten wir einen Abbau der Zahl der Erwerbslosen um rund 270 000. Das sind
die Zahlen, die mit unserer Politik verbunden sind.
Wir haben in Deutschland ein neues, ausgesprochen
positives Wirtschaftsklima. Wir schaffen neue Arbeitsplätze. Die frostigen Zeiten politischer Erstarrtheit sind
vorbei. Wir legen Reformen nicht aufs Eis, wir packen sie
an, mit neuen Ideen, Mut und Erfolg. Wir lösen die Probleme, die die Kohl-Regierung und Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, den Menschen in
Deutschland hinterlassen haben. Glauben Sie mir: In
knapp 200 Monaten haben Sie mehr Probleme als Lösungen hinterlassen.
Nachdem ich heute Morgen Ihren Reden gefolgt bin,
darf ich Folgendes in Erinnerung rufen. Haben Sie eigentlich die Staatsverschuldung in Höhe von 1 600 Milliarden DM vergessen, die Sie aufgebaut haben? Haben Sie
die höchste Arbeitslosigkeit mit 4,6 Millionen Menschen
vergessen, die Sie aufgebaut haben? Haben Sie die höchste Steuer- und Abgabenlast vergessen, die Sie aufgebaut
haben?
Ich komme zurück auf den Kollegen Merz. Ich habe
mir notiert, dass er heute Morgen davon sprach, wir hätten im Oktober 1998 bei der Übernahme der Regierung
rund 3,9 Millionen Erwerbslose gehabt. Wir müssen aber
festhalten, dass wir im gleichen Monat des Jahres 2000
nur circa 3,6 Millionen Erwerbslose hatten. Das heißt, die
Zahl der Erwerbslosen ist in diesem Zeitraum um 300 000
verringert worden. Auch so kann man die Statistik verfälschen, wie es hier von Herrn Merz gemacht worden ist.
Wir lösen diese Probleme. Aber Fast-Food-Politik im
Containerstil, meine Damen und Herren von der F.D.P., ist
mit dieser Regierung nicht zu machen. Das Wiedergewinnen der Zukunftsfähigkeit in Deutschland erfordert Verantwortung über den Tag hinaus. Deshalb sind die Reformvorhaben dieser Bundesregierung als langfristige
Prozesse angelegt. Unsere Marschrichtung lautet: Zukunftsinvestitionen statt Zinszahlungen. Hans Eichel,
unser Finanzminister, hat mit seinem konsequenten Sparkurs Deutschland aus dem festgeschnürten Korsett der
Schuldenfalle befreit.
({1})
Den Fehler der Kohl-Regierung, einmalige Privatisierungserlöse zur Finanzierung laufender Ausgaben einzusetzen statt Schulden abzubauen, werden wir nicht machen.
Unsere Sparpolitik schafft Gestaltungsspielraum. Die
Steuerreform der Regierung erhöht die internationale
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und des
Wirtschaftsstandortes Deutschland. Meine Damen und
Herren, es lohnt sich - insbesondere für ausländische Investoren - wieder, in Deutschland zu investieren. Wie attraktiv der Wirtschaftsstandort Deutschland geworden ist,
möchte ich Ihnen an zwei Zahlen verdeutlichen. In der
Zeit von 1990 bis zum Jahre 1998 haben ausländische Investoren in Deutschland rund 111,4 Milliarden DM investiert. In der Zeit von 1999 bis zum Jahr 2000 sind nach
Abzug der Mannesmann-Übernahme rund 256 Milliarden DM von ausländischen Investoren in Deutschland angelegt worden. Das zeigt, wie unsere Politik Glaubwürdigkeit zurückgebracht hat.
({2})
Das ist die Politik von Hans Eichel und Wirtschaftsminister Müller. Das ist die Wahrheit, das sind belastbare Fakten!
({3})
Durch unsere Steuerpolitik werden die Bürger und die
Wirtschaft im Jahr 2005 im Vergleich zu 1998 rund
93 Milliarden DM weniger Steuern zahlen. Allein der
Mittelstand wird in diesem Zeitraum, Herr Brüderle, um
rund 30 Milliarden DM entlastet. Meine Damen und Herren von der Opposition, auch wenn Sie es so nicht kennen:
Das sind keine Steuersenkungen auf Pump, sondern Steuersenkungen, die von uns aus eigener Kraft finanziert
werden.
Wer wie Sie jahrelang von der Hand in den Mund gelebt hat, kann für den Mittelstand nichts übrig haben. Wir
handeln! Durch das Bereitstellen günstiger Finanzierungsmöglichkeiten erhielten kleine und mittelständische
Betriebe 42 Milliarden DM aus dem ERP-Sondervermögen sowie aus den Programmen der Deutschen AusDr. Bernd Protzner
gleichsbank und der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Allein im Jahr 2000 wurden aus dem ERP-Sondervermögen
8 Milliarden DM an Finanzierungshilfen für Existenzgründer zur Verfügung gestellt. Solche Zahlen konnten
Sie in Ihrer Regierungszeit niemals aufweisen.
Der Mittelstand erwartet von der Politik zu Recht eine
Stärkung seiner Innovationsfähigkeit. Mit der steuerlichen Entlastung des Mittelstandes sind hierfür die finanziellen Freiräume für Forschung und Entwicklung geschaffen worden. Die Bundesregierung unterstützt
innovationsbereite Unternehmen mit Kreditfinanzierungen und der Bereitstellung von Beteiligungskapital.
2,3 Milliarden DM wurden im letzten Jahr an Beteiligungskapital mobilisiert.
({4})
- Dass Sie diese Zahlen nicht gerne hören, Herr Repnik,
ist mir schon klar.
({5})
Sie müssen den Jahreswirtschaftsbericht einmal lesen,
Herr Repnik. Zum Lesen gehört nicht nur das Aneinanderreihen von Buchstaben, sondern auch das Verstehen.
Aber Sie wollen es nicht verstehen.
({6})
Meine Damen und Herren, die Regierungskoalition unterstützt den Mittelstand auch in Fragen des E-Commerce.
In 24 bundesweit eingerichteten Kompetenzzentren für
den elektronischen Handel werden Informationen gegeben sowie Schulungen und Beratungen für Mittelständler
durchgeführt. Mit der Umsetzung der E-Commerce- und
Signaturrichtlinie Mitte des Jahres sind darüber hinaus die
Grundlagen für einen sicheren elektronischen Geschäftsverkehr gelegt.
Meine Damen und Herren, unsere Politik hat die Rahmenbedingungen für ein günstiges Wirtschaftsklima geschaffen. Aber die unternehmerische Verantwortung liegt
nicht bei der Politik. Sie liegt beim Mittelstand: bei denen,
die 70 Prozent der Arbeitsplätze stellen, bei denen, die
80 Prozent aller Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen,
bei denen, die Ideen in Produkte umsetzen, und bei denen,
die ihr privates Vermögen investieren und dabei auch das
Risiko eingehen, mit ihrem Kapital wirtschaftlich Schiffbruch zu erleiden. Denen muss der Staat Diener und nicht
Herr sein. Eine Kultur der Selbstständigkeit setzt voraus, dass der Zusammenhang von Risikoübernahme und
wirtschaftlichem Erfolg gesellschaftspolitisch anerkannt
wird. So stolz, wie wir auf die Leistungen und den Fleiß
unserer Facharbeiter, Ingenieure und Informatiker sind, so
stolz können wir auch auf Unternehmer sein, insbesondere
auf Jungunternehmer, da jeder Jungunternehmer drei neue
Arbeitsplätze schafft. Anerkennung statt Neid ist hier angebracht, denn Gewinn sollte auch für Sie, meine Damen
und Herren von der Opposition, kein Schimpfwort sein.
Gerade mittelständische Unternehmen legen mit ihrem
Handeln vor Ort Tag für Tag Zeugnis für konkrete gesellschaftliche Verantwortung ab. Sie hierbei zu unterstützen,
ist eine hervorragende Aufgabe unserer Politik. Deshalb
gibt es mit uns keine Reformpausen. Stillstand ist Gift für
die Wirtschaft.
Was müssen wir heute tun, damit Deutschland auch in
zehn bis 15 Jahren die zweitgrößte Industrienation ist und
der kreative Mittelstand Garant für zukunftssichere
Arbeitsplätze bleibt? Wissen ist Qualität. Die Leistungen
des Bildungssystems sind wesentliche Grundlage für Erfolge auch und gerade in der Beschäftigungspolitik. Wir
erhöhen wie in den letzten zwei Jahren die Ausgaben für
Bildung und Forschung. Wir investieren in die Aus-, Fortund Weiterbildung. Wir investieren in die Hochschulen,
wir investieren in die Forschung. Wir investieren in den
Wissenschaftsstandort Deutschland.
Meine Damen und Herren von der Opposition, 1998,
im letzten Jahr Ihrer Regierung, haben Sie in diesem Bereich circa 14 Milliarden DM investiert. Wir haben hier im
Jahr 2000 über 17 Milliarden DM investiert. Das ist Zukunftsförderung. So viel werden wir auch in den nächsten
Jahren zur Sicherung des Standortes Deutschland bereitstellen; denn Handeln bedeutet Zukunft.
Der Faktor Humankapital ist entscheidend für die
Dynamik einer ressourcenarmen Volkswirtschaft. Mit der
„Zukunftsinitiative Hochschule“, die in diesem Jahr
startet, wird der Aufbau eines bundesweiten Netzwerkes
für die Patentierung und Verwertung von Forschungsergebnissen vorangetrieben. So verstauben die Früchte der
Forschung nicht in den Regalen, sondern werden in
Gewinn bringende und Arbeitsplätze schaffende Produkte
umgewandelt. Das ist zukunftsträchtiger Wissenschaftstransfer. Damit steigt die Attraktivität unserer Hochschulen auch für die besten Köpfe im In- und Ausland.
Das sind erfolgreiche Rahmenbedingungen für unsere
Wirtschaft. Im Jahreswirtschaftsbericht ist es nachzulesen: Wir haben mehr Wirtschaftswachstum, wir haben
mehr Beschäftigung, und wir haben den Willen zur kreativen Gestaltung für die Zukunft.
({7})
Eines haben wir nicht, meine Damen und Herren von
der Opposition, und das sind Ihre Probleme. Ihre Reden
von heute Morgen erinnern an einen Tropfen, der auf eine
heiße Herdplatte fällt, hin- und herhüpft und letztendlich
verdampft. Das ist die Politik der Opposition.
Ich bedanke mich.
({8})
Ich gebe der
Kollegin Michaele Hustedt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Seiters! Meine Damen und Herren! Eines der wichtigsten Themen im Zeitalter der Globalisierung ist die
Frage nach dem Verhältnis von Markt und Staat. Ein zentraler Punkt bei der Modernisierung unserer Wirtschaft ist
die Liberalisierung der Monopolmärkte.
({0})
Monopolmärkte sind nicht mehr zeitgemäß; sie sind ein
überholtes Relikt aus vergangenen Zeiten.
({1})
Die Liberalisierung nützt allen, Verbrauchern und Unternehmern. Zum Beispiel kosteten Ferngespräche bei der
Telekom 1997 noch 60 Pfennig pro Minute; jetzt kosten
sie 19 bzw. 5,4 Pfennig pro Minute. Im Ergebnis der Liberalisierung bei der Bahn befahren Konkurrenten der Deutschen Bahn wieder zuvor stillgelegte Strecken. Die Energiepreise sind für die Industrie um 40 Prozent und für
Verbraucher immerhin um 20 Prozent gesunken.
({2})
- Dazu komme ich noch; keine Sorge. - Liberalisierung
und Wettbewerb sorgen also für niedrige Preise, sie sorgen für Effizienz. Deswegen wird dieser Prozess von uns
voll und ganz unterstützt.
Allerdings kann durch den Markt nicht alles geregelt
werden. In dieser Auffassung unterscheiden wir uns von
Ihnen, Herr Brüderle. Ich nenne einige Beispiele: Bei der
Telekom muss man für Datenschutz sorgen. Man muss für
die Oma, die das Internet nicht selbstverständlich nutzen
kann, eine flächendeckende Versorgung mit Post und
Telefonanschlüssen sicherstellen. Es ist im Zeitalter der
Wissensgesellschaft wichtig, für billige Internetanschlüsse zu sorgen. Man muss natürlich auch - siehe
Kalifornien - für Versorgungssicherheit im Energiebereich sorgen. Das ist ein ganz substanzieller Punkt. Selbstverständlich muss vor dem Hintergrund, dass UN-Wissenschaftler vor der Klimakatastrophe verstärkt warnen,
in liberalisierten Märkten auch der Umweltschutz ein
wichtiger Aspekt sein. Wenn man nur an niedrige Preise
denkt, Herr Brüderle, dann wird man das später teuer bezahlen. In diesem Punkt ist Handeln angesagt!
({3})
Frau Kollegin Hustedt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Frau Hustedt, uns interessiert
sehr, wie Sie und die Grünen zur Verlängerung des
Briefmonopols stehen. Würden Sie sich bitte einmal konkret dazu äußern?
Ich finde es wunderbar, dass Sie mir diese Zwischenfrage
stellen. Dieses Thema wollte ich nämlich im Weiteren ansprechen. Durch diese Zwischenfrage kann ich zusätzlich
Zeit gewinnen.
Wir sehen die Verlängerung des Briefmonopols bis
2007 durchaus kritisch.
({0})
Ich verstehe die Argumentationen von Herrn Minister
Müller. In der Tat ist es so, dass einige Länder in Europa
die Liberalisierung verzögern. Nun muss man aber feststellen: Erstens haben viele nordeuropäische Länder, zum
Beispiel Schweden, den Postmarkt bereits vollständig liberalisiert.
({1})
Wir sind also nicht die einzigen Vorreiter. Zweitens hat
Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern in Europa die zweithöchsten Portokosten.
({2})
Drittens ist es meiner Ansicht nach so, dass die Vorreiterrolle in Bezug auf liberalisierte Märkte kein Nachteil für
Unternehmen ist. Wir sehen im Bereich der Telekom und
vor allem auch im Energiebereich, dass die Unternehmen,
die frühzeitig liberalisiert haben, bestens aufgestellt sind,
weil sie gelernt haben, wie man mit dem Wettbewerb umgeht.
Deswegen sage ich ganz klar: Wir sehen die Verlängerung des Briefmonopols bis 2007 kritisch.
({3})
Ich persönlich glaube nicht - Herr Brüderle, ich gehe sogar noch weiter als Sie -, dass diese Verlängerung für die
Aktienkurse der Deutschen Post gut ist. Denn die Frage,
ob sich die Deutsche Post auf dem Markt behaupten kann,
wird offen gelassen und die Anleger müssen mit dieser
Unsicherheit umgehen. Es kann durchaus sein, dass es für
die Aktienkurse gar nicht gut ist, wenn man zu sehr verlängert.
Wir werden mit den Koalitionspartnern sehr freundschaftlich darüber sprechen. Das kann ich Ihnen versichern.
({4})
Frau Kollegin Hustedt, die Kollegin Kopp möchte eine zweite Zwischenfrage an Sie richten. Gestatten Sie das?
Ja.
Bitte schön.
Frau Hustedt, mich würde
jetzt noch interessieren, ob Sie innerhalb der rot-grünen
Koalition, in der Sie ja in aller Freundschaft diskutieren,
trotz Ihrer kritischen Haltung, die wir sehr gerne hören
und die wir unterstützen, der geplanten Gesetzesänderung
zustimmen werden oder ob Sie zusammen mit der Staatssekretärin Wolf noch einmal versuchen, Wirtschaftsminister Müller auf Ihre - richtige - Linie zu bringen.
({0})
Ich habe doch gesagt: Noch gibt es in der rot-grünen Koalition keinen Beschluss. Wir werden darüber noch einmal sehr freundschaftlich diskutieren.
({0})
Nun wieder zurück zu dem Punkt, dass der Markt nicht
alles kann. Der Markt versagt zum Beispiel dann, wenn
die Preise nicht die Begrenzungen bzw. Belastungen der
Volkswirtschaft und der zukünftigen Generationen widerspiegeln.
({1})
Der Weg, den wir im Rahmen der ökologischen Steuerreform eingeschlagen haben, nämlich dass wir die Preise
Schritt für Schritt an die tatsächlichen Kosten der Volkswirtschaft und der zukünftigen Generationen heranführen, ist richtig. Wir sind sehr froh darüber, dass die
ökologische Steuerreform ein positives Projekt ist und beginnt, tatsächlich eine Lenkungswirkung zu entfalten.
Dazu gehört auch, dass wir uns vorgenommen haben,
mit rechtlichen Instrumenten den Anteil der erneuerbaren
Energien und den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an
der Energieversorgung in den nächsten zehn Jahren zu verdoppeln. Bei den erneuerbaren Energien haben wir mit dem
EEG einen wichtigen Impuls gegeben: Die Industrie
boomt, es wird investiert und es entsteht eine neue Branche.
In Bezug auf die Kraft-Wärme-Kopplung deutet sich
an - da bin ich mir sicher; es gab ja in der letzten Zeit eine
relativ polarisierte Debatte -, dass wir einen fairen Kompromiss finden. Klar ist aber auch: Dieser faire Kompromiss beinhaltet ohne Wenn und Aber, dass wir durch den
Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung auf der Grundlage
einer rechtlichen Absicherung 23 Millionen Tonnen CO2
einsparen werden.
({2})
Es gibt Beschränkungen; der Markt kann nicht alles
leisten. Aber die Liberalisierung des Marktes schafft geringe Kosten, eine höhere Effizienz, eine hohe Kundenorientierung, neue Angebote und eine Chance für kleine
und neue Unternehmen. Deswegen ist es wichtig, auf den
bestehenden Märkten, auf dem der Telekommunikation
und dem der Energie, die Entwicklung der Marktwirtschaft vom Monopol zum Wettbewerb zu verstärken.
Auch in diesen Bereichen liegen jedoch noch weitere Aufgaben vor uns. Denn was die alte Bundesregierung dazu
vorgelegt hat, war absolut unzulänglich.
({3})
Zur Telekommunikation: Es gibt derzeit eine Debatte
darüber, ob der Telekommunikationsmarkt schon ein
selbsttragender Markt ist oder ob er lediglich aufgrund der
Regulierung funktioniert. Die Frage ist also: Kann man
die Regulierung zurückführen und dem Kartellamt mit
seiner Erfahrung und Kompetenz die Wettbewerbsaufsicht überlassen? Ist dies unter Umständen für gewisse
Teilmärkte sinnvoll, und wenn ja, wie groß sind diese
Teilmärkte und wie verhindert man - das ist eine ganz
zentrale Frage, die wir klären müssen - dann Quersubventionierung?
({4})
Die Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation hat in diesem Bereich erste Schritte unternommen:
Die Regulierung im Bereich der Auslandsgespräche in die
Türkei wurde zurückgefahren. Das finde ich okay, aber
ich warne davor, diesen Bereich gänzlich aus den Augen
zu lassen. Wir sollten nicht zu schnell „entregulieren“, damit die Wettbewerbsintensität im Bereich der Telekommunikation weiter wächst.
Dasselbe gilt für den Energiebereich. Wir stehen ja vor
der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes zur Einführung
der Liberalisierung der Gasmärkte. Natürlich muss dann
auch diskutiert werden, ob die Wettbewerbsintensität auf
dem Strommarkt ausreichend ist oder ob wir nachsteuern
müssen. Nun ist es so, dass es auch in diesem Bereich - wie
bei der Telekommunikation oder der Bahn - ein natürliches
Monopol gibt, weil die Netze für den Anbieter unabdingbar notwendig sind, um den Kunden zu erreichen. Aber
anders als im Bereich der Telekommunikation und auch
anders als im Bereich der Bahn, wo wir dem Eisenbahnbundesamt jetzt die Funktion einer Regulierungsbehörde
übertragen, gibt es auf dem Energiesektor keine Regulierungsbehörde, sondern den so genannten verhandelten
Netzzugang. Angesichts der Tatsache, dass die Netzbetreiber in der Praxis ihre Konkurrenten am Zugang zum
Markt behindern, halte ich es für an der Zeit, auch in
Deutschland den regulierten Netzzugang zu gewährleisten. Ich habe damit eine durchaus vergleichbare Position
wie die EU-Kommissarin de Palacio, die eine stärkere
Regulierung - Deutschland ist das einzige Land in Europa, das keinen regulierten, sondern einen verhandelten
Netzzugang hat - sowie ein verstärktes Unbundling fordert. Dies kann ich unterstützen. Ich hoffe, dass wir auch
über diese Fragen diskutieren, wenn wir das Energiewirtschaftsgesetz novellieren.
Ich danke.
({5})
Als letztem
Redner in dieser Debatte gebe ich nunmehr das Wort für
die SPD-Fraktion dem Kollegen Dr. Mathias Schubert.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht
der Bundesregierung enthält einen Gedanken, der für
manche vielleicht eine Art blasphemische Abkehr von einer zehn Jahre lang mehr oder weniger kultivierten reinen
Lehre bedeutet. Er begreift nämlich ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung nicht mehr ausschließlich als regionalpolitisches Spezialproblem der Bundesrepublik
Deutschland.
Mit diesem integrativen Ansatz eröffnet sich natürlich
auch eine veränderte Optik auf das, was als Leitvorstellung für den Aufbau Ost in der Perspektive der nächsten
Jahre gelten könnte. Gerade unter Anerkennung der nach
wie vor schwierigen Situation in Ostdeutschland wird
deutlich, dass neben den Unterschieden eben auch fundamentale - und zunehmend mehr - Gemeinsamkeiten die
Gesellschaft der Bundesrepublik und damit natürlich
auch ihre Volkswirtschaft prägen.
({0})
Beide befinden sich mitten im Strukturwandel von Globalisierung, hin zu einer wissensorientierten Gesellschaft.
In diesem Prozess werden von Gesellschaft und Wirtschaft, unabhängig ob hie Ost und da West, mehr Eigenverantwortung, mehr Kreativität und mehr Innovationsfähigkeit verlangt - Eigenschaften übrigens, die sich noch
nie als ausschließlich westdeutsche oder ausschließlich
ostdeutsche Charakteristika beschreiben ließen.
An der Politik war und ist es, darauf mit tief greifenden
Reformen zu reagieren. Dies geschieht seit zwei Jahren,
obwohl der Reformstau Ende 1998 nahezu unüberwindbar zu sein schien. Es sind neben dem politischen Großprojekt Steuerreform vor allem auch die neuen arbeitsmarktpolitischen und wirtschaftspolitischen Ansätze, die
in Ost wie in West gleichermaßen positiv wirken. Es lohnt
sich, am Schluss dieser Debatte noch einmal auf wenige
Beispiele kurz einzugehen.
Das JUMP-Programm hat sich als ein wirklich bedeutender Baustein beim Abbau der Jugendarbeitslosigkeit erwiesen,
({1})
auch wenn die Opposition mit ihrem Zwischenruf beweist, dass sie das, was damit erreicht worden ist, nicht
zur Kenntnis genommen hat. Vermutlich ist sie aufgrund
ihrer internen politischen Situation zurzeit auch gar nicht
in der Lage ist, so etwas zur Kenntnis zu nehmen.
({2})
1999 war es Ziel, mit dem JUMP-Programm 100 000 Jugendlichen Ausbildung, Qualifizierung oder Beschäftigung anzubieten. Dieses Ziel wurde mehr als erfüllt. Von
Anfang 1999 bis Herbst 2000 haben 250 000 Jugendliche
an der Maßnahme teilgenommen. Dies war also ein entsprechend der Situation notwendiger Erfolg, in Ost wie in
West gleichermaßen. Aus gutem Grund wird dieses Programm daher in diesem Jahr fortgesetzt.
Ähnlich positive Beispiele, insbesondere im Osten,
sind das Inno-Regio-, das Inno-Net- und FUTOURProgramm. Diese Förderprogramme, die den Aufbau
von Innovationsnetzwerken zwischen Wirtschaft, Forschung, Bildung und Wissenschaft in den Mittelpunkt
stellen, haben sich nicht nur in ihrer konkreten Umsetzung
als besonders erfolgreich erwiesen, sondern zeigen auch
den Weg zu einer ganz neuen Förderpolitik in Deutschland insgesamt. Im Mittelpunkt stehen Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Selbstorganisation der Akteure
statt Druck von oben, Amtsbürokratie und Alimentation,
wie das trotz Herrn Protzners Einwendungen bis 1998
heftigst der Fall gewesen ist.
Dass sich an dem Inno-Net- und dem FUTOUR-Programm, an den beiden gesamtdeutschen Programmen,
ostdeutsche Firmen überproportional beteiligen, deutet
nicht nur auf zunehmende Fitness dieser Unternehmen
hin, es zeigt auch die zunehmende Integration gerade auf
diesem Gebiet zwischen West und Ost.
Solche Neuorientierungen erfordern natürlich politischen Mut, besonders den, sich von manchem Althergebrachten zu verabschieden. Die positiven Effekte solcher
Programme machen Mut, nicht nur bewährte konservative Förderinstrumente, sondern auch alternative Programme wie die erwähnten in der Zukunft fortzusetzen.
Wie gesagt, ich bin davon überzeugt, dass sich die dabei gewonnenen ostspezifischen Erfahrungen auch in anderen Regionen unseres Landes positiv auswirken werden. Man muss darüber nicht gleich in überschwängliche
Begeisterung verfallen, aber es ist schon der Erwähnung
wert, dass die innovativen Programme erheblich dazu beitragen, die Klischees vom Osten langsam, aber sicher aufzubrechen und abzubauen.
({3})
Dies ist auch ein Grund dafür - bei allen spezifischen
Problemen, die der Osten immer noch hat, die ich an dieser Stelle auch überhaupt nicht wegdiskutiere; der Jahreswirtschaftsbericht tut dies auch nicht -, in der Zukunft
stärker über regionale Kooperationen zwischen Wirtschaft und Forschung über Bundesländergrenzen hinaus
nachzudenken und entsprechende Programme zu entwickeln, von denen langfristig alle profitieren werden.
({4})
Ich hoffe sehr, dass das Bündnis für Arbeit seine wichtige
Rolle in diesem Sinne wahrnimmt, denn nur im Konsens
mit den großen gesellschaftlichen Entscheidungsgruppen
kann hier entsprechend viel bewegt werden.
Einen wichtigen Punkt will ich zum Schluss noch ansprechen: Die europäische Integration fordert uns zusammen mit den weltweiten Globalisierungsprozessen natürlich auch zu einer Modernisierung von Wirtschaft und
Gesellschaft auf allen Ebenen heraus. Dabei stellt die
EU-Osterweiterung selbstverständlich nicht nur ein Problem, sondern auch eine unglaubliche Chance gerade für
Ostdeutschland dar.
({5})
Allerdings sage ich auch ganz klar: Das wird eine der
bedeutendsten Herausforderungen und Aufgaben in diesem Jahrzehnt für uns alle sein. Hier müssen nicht nur
Ängste abgebaut werden, sondern hier muss auch Mut gemacht werden, neue Ideen und Initiativen in diesem Kontext zu entwickeln. Denn mit der Osterweiterung ist nicht
mehr und nicht weniger verbunden, als dass Ostdeutschland vom Rand in die Mitte der EU rückt,
({6})
also seine Chancen als europäische Verbindungsregion
begreifen und entsprechend gestalten muss. Das wird aber
nur dann gelingen, wenn der innerdeutsche Integrationsprozess politisch konsequent begleitet und gefördert wird.
Im Sinne dieses Gedankens erspare ich mir dieses
nichts sagende Lob vom richtigen Weg als aus dem Jahreswirtschaftsbericht zu ziehendes Fazit. Viel wichtiger
ist es, diesen eingeschlagenen Weg der wirtschaftspolitischen Reformen, verbunden mit dem integrativen OstWest-Ansatz, weiterzugehen. Er fordert in beiden Himmelsrichtungen einiges an Umdenken, ist aber zugleich
Ausdruck eines hochdynamischen Prozesses und mehr
und mehr erfolgreich.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe
die Aussprache.
Bei den Tagesordnungspunkten 3 a und 3 b wird inter-
fraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 14/5201 und 14/4792 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Nun kommen wir zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Beschäftigung
als Ziel der Wirtschaftspolitik herausstellen“ auf der
Drucksache 14/3845, Tagesordnungspunkt 3 c. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2988 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grü-
nen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
4 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Peter Hintze, Michael Stübgen, Klaus Hofbauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Erweiterung der Europäischen Union
- Drucksache 14/3872, 14/5232 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten
der Europäischen Union ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Günter
Gloser, Hans-Werner Bertl, Hans Büttner ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Christian Sterzing, Ulrike Höfken, Claudia
Roth ({2}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN
Flankierung der Erweiterung der Europäischen Union als innenpolitische Aufgabe
- zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Hofbauer, Peter Hintze, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Die deutschen Grenzregionen auf die EUErweiterung durch einen Grenzgürtel-Aktionsplan vorbereiten
- Drucksachen 14/4886, 14/4643, 14/5475 Berichterstattung:
Abgeordnete Winfried Mante
Markus Meckel
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Dr. Helmut Haussmann
Manfred Müller ({3})
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Weichen für die Erweiterung der Europäischen Union richtig stellen
- Drucksache 14/5447 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun ({5}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Die Bürger für die Ost-Erweiterung der EU gewinnen
- Drucksache 14/5454 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6})
Auswärtiger Ausschuss
Zu der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU
und ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Das Haus
ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Volker Rühe für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum debattieren wir heute über
die Osterweiterung der Europäischen Union? Ich glaube,
das Entscheidende ist: Wir müssen stärker über die Chancen der Osterweiterung sprechen. Es ist bedrückend
und, wie ich finde, zum Teil auch beschämend, wenn man
feststellen muss, dass je konkreter die Dinge werden,
umso negativer die Ergebnisse der Umfragen über die Unterstützung der Osterweiterung in der Bevölkerung ausfallen. Nur noch 36 Prozent unserer Bürger stehen hinter
dieser Erweiterung. Damit liegt Deutschland übrigens im
Ländervergleich im unteren Drittel.
({0})
Deswegen müssen wir als Konsequenz nicht nur über die
Probleme und die Herausforderungen sprechen, sondern
vor allen Dingen über die großartigen Chancen der Osterweiterung. Das ist eine politische Führungsaufgabe, bei
der nicht weiter versagt werden darf.
({1})
Hier sind wir alle gefordert, aber Aufgabe der Regierung
sollte es sein, eine Informationskampagne in Gang zu setzen. Wir müssen unseren Mitbürgern konkret die politischen und ökonomischen Vorteile für unser Land nahe
bringen.
Ein weiterer Punkt: In der politischen Debatte wird immer wieder der Eindruck erweckt, als ob diese Erweiterung ein Routinevorgang sei. Es gibt im Parlament einen
Konsens darüber, dass dies nicht irgendeine Erweiterung
ist, wie früher die Erweiterung um England. England
wollte zunächst nicht Mitglied werden, hat sich aber später doch um die Mitgliedschaft beworben. Staaten wie
Spanien und Portugal durften wegen ihrer innenpolitischen Situation nicht Mitglied werden. Diesmal haben wir
eine ganz neue Runde der Erweiterung. Hier handelt es
sich um Staaten, die vier Jahrzehnte lang von Moskau systematisch gehindert wurden, Mitglied dieses neuen Europas zu werden. Ich nenne beispielhaft Polen, Ungarn und
Tschechien. Deswegen dürfen wir über diese Erweiterung
nicht so sprechen, als sei es eine Erweiterung wie jede andere auch.
({2})
Es ist die Wiedervereinigung Europas.
Wenn wir genau überlegen, dann stellen wir fest, dass
es im Grunde genommen noch mehr ist, Herr Außenminister: Die europäische Spaltung wird überwunden. Das
ist eine großartige Leistung. Wenn Polen, Deutschland
und Frankreich nicht nur in dem Bündnis der NATO vereinigt sind, sondern auch in der Europäischen Union,
dann ist das eine Form der Gemeinsamkeit, wie es sie nie
zuvor in der Geschichte Europas gegeben hat. Deswegen
ist es mehr als nur die großartige Wiedervereinigung Europas. Wir müssen unseren Mitbürgern klarmachen, dass
das ein Vorgang, eine Nähe, eine Gemeinsamkeit und ein
Miteinander der Europäer sein wird, wie es nie zuvor in
der Geschichte der Fall gewesen ist.
({3})
Wir unterhalten uns über das Thema der Globalisierung. Ich glaube, dies ist die richtige Antwort Europas auf
die Globalisierung; denn durch die Aufnahme der mittelund osteuropäischen Staaten und ihrer Wachstumsmärkte
wird die Europäische Union als mit Abstand größter Binnenmarkt der westlichen Welt ihre Interessen in diesem
globalen Wettbewerb sehr viel besser behaupten können,
als dies in einer kleineren Gemeinschaft möglich ist. Wir
werden unseren Einfluss erhöhen können und damit wirksamer als Stabilitäts- und Ordnungsfaktor in der Weltpolitik handeln können.
Die Europäische Union wird nach ihrer Erweiterung illegale Zuwanderung und organisierte Kriminalität durch
die Zusammenarbeit mit den neuen EU-Mitgliedern sehr
viel erfolgreicher bekämpfen können. Zu den Chancen
dieses politischen und historischen Prozesses gehört
natürlich auch, dass wir die Umweltprobleme im gemeinsamen Europa durch die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Umweltrisiken sehr viel besser angehen
können. Dies wird nicht zuletzt in Deutschland zu einer
weiteren Verbesserung der Lebensqualität führen.
Zu den Chancen, über die wir sprechen müssen, gehört
auch, dass durch die Erweiterung neue Absatzmärkte in
den Beitrittsländern entstehen. Davon profitiert niemand mehr als Deutschland. Das hat dazu geführt, dass in
Frankreich manche von einem deutschen Projekt sprechen. Das ist es aber nicht, es ist ein gemeinsames europäisches Projekt. Wir müssen unseren Mitbürgern deutlich machen, dass dies ein schwieriger Vorgang ist, aber
dass niemand mehr davon profitiert als Deutschland.
Seit 1993 hat es im Handel unseres Landes mit den
Beitrittsländern Steigerungsraten von rund 20 Prozent
jährlich gegeben. Es ist davon auszugehen, dass dieser
Prozess anhält. Der Anteil der Beitrittskandidaten am
Außenhandel Deutschlands hat sich in dieser Zeit fast
verdoppelt. Es ist keine zu gewagte Prognose, wenn man
davon ausgeht, dass in wenigen Jahren unser Export in
diese Länder mindestens so wichtig sein wird wie die
Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von
Amerika.
Unser Problem ist, dass in den politischen Debatten in
Deutschland allzu oft nur die Probleme im Vordergrund
stehen. In dieser Debatte wäre dies jedoch völlig unangemessen.
Neben den Chancen, die im Vordergrund stehen müssen, brauchen wir natürlich auch überzeugende Antworten
auf die Sorgen der Menschen vor der Osterweiterung, beispielsweise auf die Sorge, dass es durch die Osterweiterung einen massiven Zustrom billiger Arbeitskräfte geben könnte und dies zu sinkenden Löhnen und steigender
Arbeitslosigkeit in Deutschland führen würde.
Alle aktuellen Untersuchungen zeigen aber, dass damit
eher nicht zu rechnen ist. Es ist eben nicht so, als säßen
die Menschen in Polen, Tschechien oder Ungarn auf gepackten Koffern, um nach dem Beitritt ihres Landes in
Scharen zu uns zu kommen.
({4})
Eines muss man ganz klar sagen: Entweder sind sie
schon hier - wir sind sehr froh darüber, dass sie infolge der
Liberalisierung hier sind - oder aber die meisten bleiben in
ihrem Land, gerade weil sie in dem bevorstehenden Beitritt eine gute Perspektive für ihr Leben zu Hause sehen.
Wir haben 1990 von den Deutschen in den neuen Bundesländern gehört: Entweder kommt die DM zu uns oder
wir kommen zur DM. Analog dazu möchte ich formulieren - und das gilt für die Menschen in Polen, Ungarn,
Tschechien und den anderen Ländern -: Entweder kommt
die Europäische Union zu uns und der Prozess wird nicht
weiter verzögert oder wir gehen in die Europäische
Union. Deswegen ist dieser Prozess eine Chance, dass die
Menschen ihre Zukunft in ihren eigenen Ländern sehen.
Das ist die Wahrheit im Zusammenhang mit diesen Befürchtungen.
({5})
Andererseits darf es aufgrund der unterschiedlichen
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nicht durch
Zuwanderung zu einer Verschärfung der Arbeitsmarktsituation insbesondere in den strukturschwachen und
grenznahen Regionen kommen. Deshalb haben wir seit
langem länderspezifisch differenzierte, flexible Übergangsfristen bei der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und
Dienstleistungen gefordert. Wir begrüßen insofern, dass die
Bundesregierung unsere Forderung aufgegriffen und jetzt
auch ihre konzeptionellen Vorstellungen vorgelegt hat.
Wir erwarten von ihr, dass sie ihre Position bei den jetzt
anstehenden Verhandlungen noch präzisiert: Erstens müssen die Übergangsfristen länderspezifisch differenziert
vereinbart werden. Nicht für jedes Beitrittsland müssen
Übergangsfristen mit der gleichen Dauer festgelegt werden. Als der Bundeskanzler plötzlich eine feste Frist für
alle Beitrittländer nannte, konnte ich mich des Eindrucks
nicht erwehren, dass das eher innenpolitisch ausgerichtet
war. Wir sollten hier länderspezifisch ganz differenziert
vorgehen. Das ist die beste Möglichkeit, diesen Prozess
vernünftig zu fördern.
({6})
Zweitens muss es auch möglich sein, dass für einige
Länder keine Fristen oder kürzere Fristen vereinbart werden, als das bei anderen Ländern der Fall ist. Die Übergangsfristen müssen flexibel sein und es muss eine jährliche Überprüfung ab dem zweiten Jahr stattfinden. Ich
glaube, dieser Vorschlag der Kommission ist gut. So können die Fristen verkürzt werden, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind.
Drittens ist es überfällig, dass die Bundesregierung objektive Kriterien für die Bemessung der Übergangsfristen
und für ihre Flexibilisierung nennt. Sie muss auch verlässliche Zahlen zur Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes vorlegen. Wir müssen den Eindruck der Beliebigkeit oder einer Abwehrhaltung vermeiden.
({7})
Deswegen ist es ganz wichtig, dass durch die politische
Diskussion klar wird, dass wir die Sorgen der Menschen
in den Grenzregionen sehen
({8})
- der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern
wird ebenso wie der Kollege Stübgen aus unserer Fraktion
dazu sprechen -, aber niemals die Chancen dieses politischen Prozesses für alle Menschen, auch für diejenigen in
den Grenzregionen, außer Acht lassen. Darum geht es.
({9})
Meine Damen und Herren, Sorgen und Ängste vor der
Erweiterung - das ist ein Vorwurf an die Bundesregierung resultieren aber auch daraus, dass der Kreis der Beitrittskandidaten auf zwölf ausgeweitet und die Türkei aufgesattelt worden ist. Herr Bundesaußenminister, den Menschen ist nicht klar, wie das politisch, finanziell und
institutionell machbar sein soll. Deswegen sage ich: Dass es
diese Ängste und Sorgen gibt - das zeigen die Umfragen -,
hängt damit zusammen, dass man den Kreis zu groß gemacht hat.
Wie geht man damit um? Ich glaube - darauf haben wir
schon seit längerem hingewiesen -, es gibt nur eine Lösung: Die Europäische Union muss sich so erweitern, dass
sie sich auch noch in Zukunft weiter vertiefen kann. Es
gibt gerade auch bei den stärksten Anhängern der Europäischen Union Ängste, dass durch eine zu schnell und zu
umfassend organisierte Erweiterung eine Vertiefung unmöglich gemacht werden könnte. Also: Erweiterung so,
dass die weitere Vertiefung der Europäischen Union möglich bleibt.
Nach meiner Meinung geht das am besten durch eine
zügige Erweiterung. Die erste Verhandlungsrunde sollte
bis Ende 2002 abgeschlossen sein, damit zunächst eine
kleinere Gruppe von Ländern aufgenommen und der Prozess der Osterweiterung in mehreren Schritten vorangetrieben werden kann. Es muss alles getan werden, damit
Ende 2002 die Verhandlungen mit denjenigen Ländern
abgeschlossen werden können, die zu diesem Zeitpunkt
die vereinbarten politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Kriterien - auch die in Kopenhagen genannten Kriterien der Menschenrechte und Minderheitenrechte sowie
das Kriterium funktionierender Verwaltungsstrukturen erfüllen. Dann könnten sich diese Staaten bereits an den
nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre
2004 beteiligen.
Was wir brauchen - das ist in der Antwort der Bundesregierung, Herr Bundesaußenminister, nicht enthalten, ist ein klares Bekenntnis der Bundesregierung, dass sie alles dafür tun wird, damit die Verhandlungen mit den ersten Staaten bis Ende 2002 abgeschlossen werden können.
Es besteht die Gefahr, dass der Zeitplan der Kommission
nicht eingehalten werden kann. Es ist angesichts der
großartigen Chancen einer Erweiterung, von denen ich
gesprochen habe, nicht akzeptabel, dass eine solche weiter verzögert wird.
({10})
- Ich werde das noch konkretisieren.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: Setzen Sie
sich aktiv für eine Intensivierung der Verhandlungen ein.
({11})
Der Rat muss mehr politische Verantwortung für den zügigen und erfolgreichen Verlauf der Verhandlungen übernehmen, indem er sich erheblich umfassender als bisher
auf Ministerebene mit den zentralen Problemen der einzelnen Kapitel der Verhandlungen befasst.
Wenn man es mit dem Abschluss der ersten Verhandlungsrunde bis Ende 2002 tatsächlich ernst meint, dann
dürfen doch die schwierigsten Fragen nicht bis zum Ende
der Verhandlungen aufgeschoben werden. Davon sprechen wir in unserem Antrag: Die Europäische Union
sollte noch in diesem Halbjahr und nicht erst im nächsten
Jahr ihre Positionen in den Fragen der Landwirtschaft
und der Regionalpolitik präzisieren, wenn sie es mit einem schnellen Verhandlungsprozess ernst meint.
({12})
Es ist nicht nur eine Sache der Kommission, die Verhandlungen bis Ende 2002 zum Abschluss zu bringen, sondern
es ist Sache jeder einzelnen Regierung in Europa, auch und
gerade, Herr Außenminister, der deutschen Regierung.
Mehr als elf Jahre nach Öffnung des Eisernen Vorhangs
haben wir jetzt eine konkrete zeitliche Perspektive für die
Überwindung der Teilung. Deswegen ist es wichtig, dass
dieser Bundestag gemeinsam aufpasst, dass es bei diesem
Prozess nicht zu weiteren Verzögerungen kommt.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen: In Bezug auf einen Beitrittskandidaten, nämlich die Türkei, zeigen sich Fehler, die von der Politik gemacht worden sind.
Sowohl der letzte Fortschrittsbericht als auch die jüngsten
Entwicklungen haben unsere Sorge bestätigt, dass die auf
Ihr Drängen erfolgte Verleihung des Beitrittskandidatenstatus zumindest verfrüht war. Es wird immer offensichtlicher, dass die mit diesem Status auf türkischer Seite verbundenen hohen Erwartungen so schnell nicht erfüllt
werden. Wenn stattdessen der Türkei über Jahre hinweg in
den Fortschrittsberichten bescheinigt wird, sie sei nicht
einmal verhandlungsreif, muss man befürchten, dass es
eher zu einer Entfremdung als zu einer Annäherung zwischen Europa und der Türkei kommen wird.
({13})
Wir sind der Meinung, dass es unser strategisches Ziel
sein sollte, die Türkei bei ihrer europäischen Orientierung
zu stärken und sie enger mit der EU zu verbinden. Deshalb
halten wir es für falsch, dass die Bundesregierung den türkischen Wunsch nach Mitwirkung an den Entscheidungsverfahren der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ablehnt. Sie darf dort erst mitwirken, wenn
sie Truppen stellt. Wir sind der Auffassung, dass die Mehrzahl potenzieller Einsatzszenarien im Zusammenhang mit
einer europäischen Verteidigungsidentität wahrscheinlich
ohnehin in geographischer Nähe zur Türkei zu sehen ist.
Es ist falsch, dass wir ihr die Chance verbauen, enger mit
der EU - jedenfalls in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik - zusammenzuarbeiten.
Sie hatte den Status eines assoziierten Mitgliedes in der
Westeuropäischen Union. Deswegen glauben wir, dass es
klug wäre, der Türkei den Status eines assoziierten Mitgliedes der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik anzubieten, um sie gerade in den Fragen der Sicherheitspolitik schon jetzt an Europa zu binden, also zu
einem Zeitpunkt, zu dem die volle Mitgliedschaft in der
Europäischen Union nicht möglich ist. Das wäre eine
kluge Politik und eine klügere Politik, als sie die Bundesregierung bisher verfolgt hat.
({14})
Wenn Sie politische Gespräche führen, etwa auch in
den Vereinigten Staaten von Amerika, stellen Sie immer
wieder fest: Es gibt Kritik an Europa,
({15})
zum Teil zu Recht, und zwar auch schon vor der USAReise des Bundeskanzlers. Darüber müssen wir sprechen;
denn das ist ein merkwürdiges Europa, das sagt: „Wir
wollen stärker werden; wir wollen unsere eigene Verteidigungsidentität haben“, und dann werden überall in Europa die Verteidigungsetats gekürzt.
({16})
- Bei uns am meisten? Herr Bundesaußenminister, die
vorherige Regierung hat in vier Jahren 20 Milliarden DM
mehr für die Bundeswehr aufgewendet als die rot-grüne
Regierung, 20 Milliarden DM mehr! Seien Sie also ganz
vorsichtig!
({17})
Wie gesagt, es gibt berechtigte Kritik an Europa. Sie
betreiben eine Politik nach dem Motto: Große Sprüche,
nichts dahinter!
({18})
Die Osterweiterung aber ist vielleicht der wichtigste
Beitrag Europas zur Sicherung der Stabilität in der Welt.
Mit der Osterweiterung werden die Europäer eine gewaltige Leistung vollbringen, an der auch viele andere ihren
Anteil haben werden. In diesem Geiste werden wir an
diese Aufgabe herangehen und die notwendige Führungsverantwortung entwickeln. Darauf kommt es an. Ich
glaube, ehemalige Bundeskanzler haben anders, mit mehr
Anteilnahme, mit mehr Herz, mit mehr Wärme und mit
mehr Engagement, über den Prozess der europäischen Integration gesprochen.
({19})
- Politisch die mehrheitliche Unterstützung für die Einführung des Euro zu bekommen war eine viel schwierigere politische Leistung, als die Menschen davon zu überzeugen, dass die Teilung Europas überwunden werden
muss. Das ist auch nur durch einen engagierten und kontinuierlichen Einsatz geschafft worden.
Ich finde jedenfalls, die Umfrageergebnisse sind für
Deutschland beschämend.
({20})
Es ist Ausdruck eines Mangels an politischer und geistiger Führung, wenn noch nicht einmal das Land, das ökonomisch am meisten von der Osterweiterung profitiert, in
der Lage ist, seine Bevölkerung mehrheitlich für den Integrationsprozess zu gewinnen. Was sollen wir dann von
Spanien, Italien und zum Teil auch von Großbritannien
und Frankreich erwarten? Darum geht es. Deswegen ist
die jetzige Debatte notwendig und deswegen sollten Sie
das umsetzen, was wir angeregt haben.
({21})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Tribüne hat soeben
der Präsident der Staatsversammlung der Republik
Slowenien, Borut Pahor, mit seiner Delegation Platz genommen. Ich begrüße Sie, Herr Präsident, im Namen des
ganzen Hauses sehr herzlich.
({0})
Wir freuen uns über Ihre Anwesenheit, besonders auch
deshalb, weil wir heute erneut über die Erweiterung der
Europäischen Union diskutieren. Ich möchte Ihnen sagen,
dass wir Ihren Weg in die Europäische Union mit großer
Sympathie begleiten. Wir wünschen Ihnen für Ihren Aufenthalt in Berlin, im Deutschen Bundestag und im Reichstagsgebäude weiterhin alles Gute. Für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken begleiten Sie unsere guten Wünsche.
({1})
Wir fahren in der Debatte fort. Ich gebe das Wort dem
Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Harald Ringstorff.
Dr. Harald Ringstorff, Ministerpräsident ({2}): Herr Präsident! Meine Damen und
Herren Abgeordneten! „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Das waren die Worte Willy Brandts, als
Ost- und Westdeutschland nach 40 Jahren Teilung endlich
wieder zusammenfanden. Mit der deutschen Einheit kam
ein Prozess in Gang, der nun zur Osterweiterung der Europäischen Union führen wird und damit den Weg für die
Überwindung der Teilung ganz Europas ebnet.
Mit der Osterweiterung eröffnen sich für Deutschland,
auch für den Osten Deutschlands, neue Chancen, die wir
nutzen wollen. Die Erweiterung kann für uns alle ein Gewinn sein, wenn wir es gemeinsam richtig anpacken.
Niemand gibt sich dabei der Illusion hin, die EU-Osterweiterung wäre ein Selbstläufer. Ich gebe Ihnen Recht,
Kollege Rühe, dass das keine Routineangelegenheit ist.
Sie erfordert von uns allen harte Arbeit, Besonnenheit und
Mut.
Viele Menschen haben aber auch Sorgen. Es gibt Sorgen vor zunehmender Billigkonkurrenz, Sorgen vor einem Zustrom von Arbeitskräften, auch von Pendlern, Sorgen vor Lohn-, Sozial- und Umweltdumping. Davon ist
manches berechtigt, anderes nicht.
Diese Sorgen treffen in unserem Landesteil Vorpommern, im Grenzraum, auf eine Arbeitslosigkeit von 25 bis
30 Prozent, auf das Wegbrechen von Unternehmen, den
Abzug der Bundeswehr aus Eggesin und manches mehr.
Das alles wirkt sich ganz konkret in den Familien und in
den Handwerksbetrieben vor Ort aus.
Vorbehalte und Ängste müssen wir ernst nehmen. Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit sind nötig. Sie sind die
beste Gewähr dafür, dass Sorgen und Ängste nicht von denen instrumentalisiert werden, die der Intoleranz das Wort
reden.
({3})
Das ist wirklich das Letzte, was wir in diesem Zusammenhang brauchen.
Was wir hingegen brauchen, ist ein überzeugendes und
transparentes Beitrittskonzept, das für die Menschen im
Land, in den Grenzregionen und darüber hinaus glaubwürdig ist und ihnen Chancen aufzeigt, und zwar nicht nur
in ferner Zukunft, sondern auch in der Gegenwart, nicht
in allgemeinen Theorien, sondern in konkreten Perspektiven, die der Realität vor Ort standhalten.
Wenn wir den Menschen die Chancen und Vorteile der
Osterweiterung erläutern, dürfen wir von den Marktchancen nicht undifferenziert sprechen. Natürlich gibt es
diese Chancen. Sie sind, insgesamt gesehen, groß, vor allem für große Unternehmen. Für den Handwerks- und
Dienstleistungsbetrieb im Grenzraum stellt sich das Problem jedoch differenzierter dar. Er hat in der Regel keine
starke Kapitaldecke. Er hat nicht die personellen Ressourcen und das Know-how, um ohne weiteres ausländische Märkte bedienen oder sich auf sie einstellen zu können. Es beginnt oft schon mit den Sprachbarrieren.
Probleme mit Verwaltung und Justiz im Ausland sind für
ihn viel schwerer zu lösen als für die Stäbe großer Unternehmen. Deshalb muss den mittelständischen Betrieben
bei der Marktanpassung und der Vorbereitung auf die Erweiterung mehr Unterstützung als bisher angeboten werden. Einem fairen Wettbewerb wollen wir uns auch
zukünftig stellen. Wettbewerbsverzerrungen wollen wir
nicht.
Die Erweiterung betrifft uns alle. Doch es ist auch klar:
Die Auswirkungen sind regional ganz unterschiedlich. Ich
will in diesem Zusammenhang drei Punkte nennen:
Erstens das Wohlstands- und Lohngefälle. Zwischen
den bisherigen und den zukünftigen EU-Mitgliedern wird
es im Grenzraum am deutlichsten. Dieses Gefälle wird
Migrations- und Anpassungsdruck erzeugen, für den nicht
alle regionalen und sektoralen Arbeitsmärkte gerüstet
sind. Das Gefälle wird sich nur mittel- bis langfristig verringern.
Zweitens die Tagespendler. Kollege Rühe, ich gebe
Ihnen Recht, dass nicht alle Polen und Tschechen auf gepackten Koffern sitzen. Aber das Tagespendlerproblem ist
ein besonderes. Sie können in den für sie erreichbaren Regionen arbeiten, aber in ihrem Heimatland leben. Das
wirkt sich auf die Arbeitsplätze zum Beispiel in den
Grenzregionen aus.
Drittens nenne ich die Verkehrsinfrastruktur. Hier
sind zuerst die Grenzübergänge und die Zufahrtsstraßen
zu sehen. Es sind Nadelöhre; erst später verteilt sich der
Verkehr.
Ich denke, dass es eine ganze Reihe von Aspekten gibt,
die im Rahmen des Beitrittskonzeptes für die Grenzregionen berücksichtigt werden können und auch berücksichtigt werden müssen.
({4})
Hieran machen sich konkrete Erfahrungen der Menschen und der Betriebe mit der Erweiterung fest. Ich begrüße daher ausdrücklich, dass der Europäische Rat von
Nizza die Kommission aufgefordert hat, ein Programm
zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Grenzregionen aufzulegen. Wir werden sehen, ob es den Bedürfnissen und den Realitäten vor Ort gerecht wird.
({5})
Was wir brauchen, sind administrativ und finanziell ausgewogene Lösungen für diese Räume.
({6})
Zur Wahrung der Chancen unserer Grenzregionen
drängen wir deshalb auf einen Aktionsplan, der zum Ziel
haben muss, das Zusammenwachsen der Regionen auf
beiden Seiten zu fördern, die Verkehrsinfrastruktur zu
verbessern sowie den kleinen und mittleren Unternehmen
die Anpassung an die veränderte Marktsituation zu erleichtern. Insgesamt gilt es, die Wettbewerbsfähigkeit der
kleinen und mittleren Unternehmen in den Grenzregionen
zu stärken. Hier muss ein Programm für die Grenzregionen effektiv ansetzen.
({7})
Ein wichtiger Teil dieses Programms sind die Übergangsregelungen im Bereich der Freizügigkeit und der
Dienstleistungsfreiheit, wie es sie auch 1986 bei Vollzug
der Süderweiterung für die Arbeitnehmerfreizügigkeit
gab. Wir brauchen hier flexible und intelligente Lösungen, die auch regional unterschiedlich ausfallen können.
Herr Kollege Rühe, wenn Sie den Vorschlag des Bundeskanzlers richtig gelesen haben,
({8})
hätten Sie erkennen können, dass es Revisionsklauseln
geben soll und dass er für flexible Lösungen plädiert. Es
handelt sich nicht um einen starren Vorschlag, wie Sie uns
hier glauben machen wollten.
({9})
Aber auch die Problematik der Tagespendler muss
berücksichtigt und gelöst werden.
Neben der notwendigen Unterstützung der Grenzregionen von außen sind natürlich auch die Regionen selbst
gefordert. Selbstverständlich erwarten wir auch Eigeninitiative der Wirtschaft. Ich will zwei konkrete Beispiele
für innovative Eigenaktivitäten nennen:
Erstens. Im Herbst letzten Jahres haben wir in Stettin
ein Haus der Wirtschaft gegründet. Es bietet ganz konkrete Hilfen für Unternehmen beider Seiten, die sich im
jeweils anderen Land betätigen wollen. Dieses Haus ist
mit großem Erfolg gestartet.
Zweitens. Im Herbst dieses Jahres startet in Mecklenburg-Vorpommern ein Pilotprojekt für eine Lehre über
die deutsch-polnische Grenze hinweg. 45 deutsche und
45 polnische Lehrlinge werden mehrwöchige Ausbildungsabschnitte im jeweils anderen Land absolvieren.
Auch ein solches Projekt ist zukunftsweisend.
({10})
Insgesamt gilt: Die positive und integrationsfördernde
Wirkung der in den letzten Jahren entwickelten intensiven
grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf allen Gebieten ist nicht gering zu achten. Das gilt sicherlich nicht
nur für Mecklenburg-Vorpommern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei all diesen
Projekten und Formen der Zusammenarbeit auf staatlicher, privater, regionaler oder lokaler Ebene werden
Menschen zusammengebracht. Ich möchte so weit gehen
zu sagen: In vielen Bereichen ist auf unteren Ebenen die
EU-Osterweiterung bereits vollzogen. Daher können wir
jetzt den entscheidenden großen Schritt mit Optimismus
tun, aber auch mit dem Willen, sie im Interesse der Menschen überzeugend zu gestalten, damit aus den Chancen,
die die Zukunft Europas bietet, Chancen für alle und nicht
für wenige werden, damit zusammenwächst, was in unserem heutigen Europa zusammengehört.
Vielen Dank.
({11})
Für die
F.D.P.-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen
Dr. Helmut Haussmann.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind der
Meinung, dass die Europapolitik derzeit drei Mängel aufweist:
Erstens. Im Gegensatz zu früheren Projekten fehlt es an
europäischer Führung und einer europäischen Vision.
({0})
Es fehlt an Begeisterung; aber ohne Begeisterung - das
wird zu Recht gesagt - lassen sich Ängste und Befürchtungen nicht überwinden.
({1})
Zweitens. Für konkrete Probleme müssen Lösungen
erarbeitet werden. Diese Probleme müssen zugegeben
Ministerpräsident Dr. Harald Ringstorff ({2})
werden. Zugleich müssen aber die Vorteile sehr viel stärker herausgestellt werden.
Drittens. Herr Außenminister, der Post-Nizza-Prozess
kann nicht nur darin bestehen, das wichtige Projekt einer
europäischen Verfassung vorzubereiten, sondern dazu
gehört auch die Verbesserung des unzureichenden Ergebnisses des Vertrages von Nizza. Ansonsten wird die
Verfassung auf tönernen Füßen stehen.
({3})
Ich komme zum ersten Punkt und damit zur „Begeisterung“. Ich war für die Schaffung des europäischen Binnenmarkts mitverantwortlich und ich habe mir große
Mühe gegeben, die Menschen für das Projekt einer europäischen Währung zu begeistern. Im Gegensatz zu früheren Projekten, an denen wir mitgewirkt haben, fehlt es
derzeit - das sagt Herr Verheugen - an einer gemeinsamen
Zukunftsvision.
({4})
Der Privatmann Fischer erklärt in der Humboldt-Universität, die Osterweiterung habe oberste nationale Priorität.
Nur, das Regierungshandeln zeigt relativ viel Kleinmütigkeit. Nizza war schlecht vorbereitet. Man hat es bisher nicht geschafft, Frankreich für das Projekt der Osterweiterung wirklich zu gewinnen. Man hat kleine Länder
schlecht behandelt und man verkürzt in der innenpolitischen Debatte die Osterweiterung auf das Problem der
Freizügigkeit im Falle der Grenzöffnungen. Wenn man
die Debatte auf dieses Problem verkürzt, dann wird man
es nicht schaffen, die Menschen für die Vision der Wiedervereinigung Europas zu begeistern.
({5})
Wir brauchen überhaupt nicht zu suchen: Die Vision besteht in der Wiedervereinigung Europas. Darauf hat Herr
Rühe völlig zu Recht hingewiesen.
({6})
Gerade von Berlin, dem neuen geographischen Zentrum eines wiedervereinigten Europas, sollte mehr europäische Führung - im guten Sinne - ausgehen. Unter
„Berliner Republik“ verstehe ich nicht, wie dies der Bundeskanzler tut, eine Renationalisierung der Politik, nach
dem Motto: Wir sind wieder wer, basta!
({7})
Unter „Berliner Republik“ verstehe ich Führung und Vorbild in europäischen Fragen, Herr Kollege.
({8})
Wir sind das größte Land. Kleinere Staaten erwarten von
Berlin, dass es sich in Nizza nicht hinter den Problemen
Frankreichs versteckt, sondern dass es von sich aus bereit
ist, mehr für die Integration zu tun, und dass es sich nachher nicht rühmen lässt, dass es aus nationalen Gründen bestimmte alte Positionen gewahrt hat. Wir haben im Vergleich zu anderen Staaten, zum Beispiel zu Belgien, auch
in Nizza zu wenig getan.
Der zweite Punkt betrifft das Problem der Gewinnung
der Bürger für das großartige Projekt der Wiedervereinigung Europas. Natürlich sollte man über die Freizügigkeit
diskutieren. Wenn der Kanzler allerdings in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den deutschen Gewerkschaften
gleich mit sieben Jahren anfängt - die deutschen Gewerkschaften gehen von zehn Jahren aus -, dann darf man sich
nicht wundern, dass Polen in anderen sensiblen Fragen von
Übergangsfristen von 15 Jahren ausgeht. Wir sollten als
wirtschaftlich stärkstes Land eine flexible Lösung vorschlagen.
({9})
Es ist doch interessant, dass weder Außenminister
Fischer noch Herr Verheugen auf die Migrationsforschung eingehen. Sämtliche Gutachten führen zu dem
Vorschlag: vier Jahre Übergangszeit und nach zwei Jahren
Überprüfung. Auf diesen Vorschlag kann man eingehen.
Das Lamentieren und das In-den-Vordergrund-Stellen der
Angst ist aus meiner Sicht falsch. Die Migrationsforschung sagt eindeutig, es werde zu keinen größeren Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt kommen.
({10})
Herr Ministerpräsident, allerdings kommt es in den
Grenzregionen zu einem erhöhten Anpassungsbedarf. Es
wäre besser, wenn die Bundesregierung ihre Reformaufgaben vorher machen würde. Wenn sie durch eine richtige
Steuerreform und eine richtige Mittelstandspolitik neue
Arbeitsplätze in Deutschland schaffen würde, dann wäre
die Osterweiterung arbeitsmarktmäßig natürlich sehr viel
leichter zu verkraften.
({11})
Wir verschenken in Deutschland Wachstum.
Der dritte Punkt - ich halte ihn für den entscheiden den -: Herr Bundesaußenminister, nicht der mangelnde
Reformwillen der Osteuropäer ist das Problem bei der
Wiedervereinigung Europas. Die Osteuropäer haben seit
1989 nationale Opfer in einem Maße gebracht, an dem wir
uns in keiner Form messen können. Die eigentliche Gefahr für die Wiedervereinigung Europas liegt in dem mangelnden Reformwillen, in den nationalen Egoismen der
Altmitglieder, einschließlich Deutschlands. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Nizza bedeutet jede Erweiterungsrunde eine Zunahme der Zahl der Vetoinhaber in
Bezug auf zentrale politische und wirtschaftliche Entscheidungen und damit eine reale Gefahr der Selbstblockierung eines erweiterten Europas. Das ist der entscheidende Punkt.
Wenn Sie heute das Gutachten von 150 Europaabgeordneten aller Fraktionen - Liberale, Grüne, Christdemokraten und Sozialisten - lesen, dann können Sie feststellen, dass sie davor warnen, unter den jetzigen
Bedingungen von Nizza zu erweitern. Herr Bundesaußenminister, der Post-Nizza-Prozess darf sich nicht nur
auf das große Projekt einer europäischen Verfassung verkürzen. Wir müssen die Zeit bis 2004 nutzen, die Ergebnisse von Nizza zu verbessern, sodass die Erweiterung
der Europäischen Union durch Mehrheitsentscheidungen, die verstärkt das Vetorecht ersetzen, möglich wird.
({12})
Das jetzige Problem mit den Ergebnissen von Nizza
besteht doch darin, dass wir gerade den wichtigen osteuropäischen Ländern auch innenpolitisch keinen Gefallen
tun, wenn die Reformer sowie die liberalen und demokratischen Kräfte von Anfang an von früheren Kommunisten
und neuen Nationalisten dazu gedrängt werden würden,
bei wichtigen Entscheidungen zu blockieren. Angesichts
der globalen Rolle Europas muss die Osterweiterung als
Antwort auf den Druck verstanden werden, der durch die
Globalisierung, durch die Politik der Amerikaner, durch
die verstärkten Anstrengungen auf dem Gebiet der
Verteidigung, durch eine große Steuersenkung und durch
den internationalen Wettbewerb bezüglich der Arbeitsplätze auf uns ausgeübt wird. Die Globalisierung lässt uns
keine andere Wahl, als den gesamten Kontinent wirtschaftlich und politisch neu zu organisieren.
({13})
Langfristig wäre Westeuropa allein nicht in der Lage,
mit den Vereinigten Staaten von Amerika und später mit
China oder Indien mitzuhalten. Insofern ist die Osterweiterung nicht nur eine Frage der innereuropäischen Organisation. Die Osterweiterung muss vielmehr unter dem
Aspekt der Effizienz und der Handlungsfähigkeit vollzogen werden. Der entscheidende Punkt ist, dass Gesamteuropa in verteidigungs- und währungspolitischen
Fragen handlungsfähig bleibt.
({14})
Ich erwähne ausdrücklich das wirklich hervorragende
Referat, das Herr Schäuble gestern Abend in der bayerischen Landesvertretung - ausgerechnet dort - gehalten
hat. Er hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es für die
weitere Entwicklung Europas zwei Kriterien gibt: die
Handlungsfähigkeit und die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb sind die Bedingungen von Nizza für die Osterweiterung so wichtig. Es
darf zu keiner weiteren Zersplitterung und zur Selbstblockade kommen. Aus globaler Sicht müssen Entscheidungen in einem Europa, bestehend aus 25 Staaten, durch
Mehrheitsentscheid getroffen werden, damit wir auf
Dauer zu einer globalen Partnerschaft fähig werden.
Aus liberaler Sicht bedingt die Zustimmung zur Osterweiterung eine Verbesserung der Ergebnisse von Nizza.
Herr Bundesaußenminister, da Sie zu Recht von der Notwendigkeit einer weiteren Verbesserung der deutschfranzösischen Beziehungen gesprochen haben, will ich
Ihnen sagen: Eines der ersten Themen, über das Sie mit
Frankreich sprechen sollten, muss sein, wie die ungelösten Probleme von Nizza durch Nachverhandlungen so beseitigt werden können, dass wir am Ende dem Vertrag von
Nizza mit großer Mehrheit - wie bei allen europäischen
Verträgen - zustimmen können.
Vielen Dank.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Herrn Bundesaußenminister.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als im November 1989 der Kalte Krieg zu Ende ging und die Mauer
fiel, da zeigte sich, dass das wichtigste historische Projekt,
das nach 1945 in Westeuropa begonnen wurde, auch eine
Antwort für die Neuordnung Gesamteuropas bereithielt.
Der europäische Einigungsprozess als Antwort auf die
historische Herausforderung umfasste nämlich nicht nur
Westeuropa, sondern ganz Europa. Er ist die Antwort auf
den Prozess der europäischen Selbstzerstörung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die wichtigsten europäischen Staaten meinten, in Konfrontation, ja in Krieg
ihre legitimen oder auch illegitimen Ansprüche gegeneinander durchsetzen zu können und durchsetzen zu müssen, einer Selbstzerstörung, in deren Zentrum gerade
Deutschland stand.
Es ist, gerade wenn man die Geschichte unseres Landes in der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
sieht, ein unglaubliches, fast nicht für möglich gehaltenes
Glück, dass wir in Frieden und Freiheit wiedervereinigt
sind, dass wir, in der Mitte Europas liegend, eingebunden
sind in die europäische Integration, umgeben von Nachbarn, Partnern und Freunden. Noch vor zehn Jahren standen sich die Rote Armee und die NATO auf dem ersten
Schlachtfeld eines dritten Weltkriegs gegenüber. Diese
Lage hat sich grundsätzlich geändert.
Wir haben auch die Krise auf dem Balkan erlebt, bei
der wir feststellen mussten, dass dieser Kontinent nicht
zwei unterschiedliche Sicherheitsprinzipien aushalten
wird. Es kann nicht ein Europa des Nationalismus auf
der einen Seite und ein Europa der Integration auf der
anderen Seite geben. Ein Europa des Nationalismus
würde das Europa der Integration nicht unbeschädigt lassen.
Wenn es, wie die Bundesregierung sagt - das sagt nicht
nur die Bundesregierung, sondern das ist ein breiter Konsens in diesem Haus, was deutlich wird, wenn man einmal
die Polemik weglässt -, im höchsten deutschen Interesse
ist, die politische Europäische Union zu schaffen und zu
vollenden, dann reflektiert das nicht nur unsere Geschichte, nicht nur die Chancen und Risiken, die in unserer Geschichte offensichtlich wurden, sondern auch die
aktuellen Herausforderungen, das aktuelle Interesse
Deutschlands. Das haben alle Redner hier betont.
Ich kann nur unterstreichen: Die Osterweiterung ist
die große historische Chance des Zusammenführens des
geteilten Europas. Unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts - das werden wir feststellen - werden der Druck
in Richtung Handlungsfähigkeit, und die Krisen, die von
außen auf uns einwirken, die Notwendigkeit der politischen Integration dramatisch verstärken. Aber auch die
Osterweiterung selbst wird den Einigungsdruck erhöhen.
Das ist ein Prozess, den ich mir durchaus wünsche.
Denn die erweiterte Union steht vor der großen Frage:
Wie wird eine Union der 22, der 25, ja der 27 handlungsfähig bleiben? Diese Frage müssen wir in den kommenDr. Helmut Haussmann
den Jahren in dem so genannten Prozess der europäischen
Integration beantworten, den wir bis 2004 in Richtung einer
Verfassung, der Abgrenzung der Kompetenzen, aber auch
der weiter gehenden Klärung der Handlungsfähigkeit dieser
sich erweiternden Union durch- und fortführen wollen.
Hier wird viel davon gesprochen, dass wir die Vorteile
in den Vordergrund stellen müssen. Richtig. Aber wir
müssen genauso die Ängste ernst nehmen. Es nützt nichts,
den Kopf in den Sand zu stecken. Man soll diese Ängste
nicht verstärken, aber man muss schon zur Kenntnis nehmen, dass viele Menschen, bedingt auch durch die großen
historischen Veränderungen, so etwas wie Veränderungsstress erlebt haben, wo sie sich nicht immer auf der Gewinnerseite gesehen haben. Mein gestriges Gespräch mit
dem Bundesausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes, bei dem die Ängste in den Betrieben reflektiert wurden, hat nochmals klargemacht, dass wir die Ängste ernst
nehmen müssen. Es geht nicht darum, sie zu verstärken,
sondern darum, sie zu entkräften.
Auch das, was der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern dargestellt hat, ist richtig. Natürlich
gibt es in der Grenzregion - davon konnte ich mich bei
Bürgerforen selbst überzeugen - entsprechende Sorgen.
Natürlich gibt es in der Grenzregion ganz spezifische Probleme, auf die wir eingehen müssen. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit der österreichischen Regierung
durchgesetzt, dass wir auf unserer Seite bei der Osterweiterung ein Strukturanpassungsprogramm für die Grenzregionen schaffen.
Aber die Erfahrung zeigt eben auch: Das Schicksal von
Grenzregionen ist, dass, wenn die Grenze geschlossen
bleibt, sich quasi Fuchs und Hase dauerhaft niederzulassen versuchen, während die Durchlässigkeit der Grenze
- das geht nicht von jetzt auf gleich, aber so sind die Erfahrungen mit der Europäischen Union zum Beispiel in
Rheinland-Pfalz und Baden wie auch in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen - gewaltige Entwicklungschancen in Regionen an der Westgrenze geschaffen hat, die zuvor mit Problemen zu kämpfen hatten.
Ich erinnere mich sehr gut, dass es in Südbaden - ich
bin in Baden-Württemberg aufgewachsen - über lange
Zeit sehr attraktiv war, in Deutschland zu wohnen und in
die Schweiz zu pendeln.
Man muss dort bestimmte Strukturanpassungen vornehmen. Aber zugleich bieten die Öffnung der Grenze
und die ökonomische Entwicklung, die die Europäische
Union mit sich bringt, eine große Chance gerade für die
neuen Bundesländer und die Regionen an der Grenze zu
Polen. Würde Polen nicht Mitglied, würden sich alle
Probleme, die zu Recht benannt werden, exponentiell
steigern. Das heißt, wir würden die Probleme dort dauerhaft und in erheblichen Größenordnungen bekommen.
Die Süderweiterung mit Portugal, Spanien und Griechenland hat gezeigt, dass aus armen Ländern mittlerweile bedeutende Faktoren in der großen europäischen Volkswirtschaft geworden sind, was übrigens auch zu unserem
Vorteil ist, wenn man die Exporte und damit die Arbeitsplätze sieht.
({0})
Diese Erfolgsgeschichte wollen wir wiederholen,
meine Damen und Herren, und dafür haben wir die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen. Ich verstehe ja,
dass sich die Opposition an einem Punkt schwer tut, bei
dem wir einen breiten Konsens haben. Aber ich halte
überhaupt nichts von der Position der Opposition - ({1})
- Herr Rühe, ich wollte gerade auf Sie zu sprechen kommen, weil Sie vorhin sagten: große Sprüche und nichts dahinter. - Wenn ich Ihre Rede mit dem Beitrag des Kollegen Schäuble vergleiche, der heute in der „FAZ“
abgedruckt ist, dann meine ich: Sie sollten diesen Beitrag
zum Maßstab zukünftiger Reden nehmen, die Sie zum
Thema Europa im Bundestag halten.
({2})
Herr Kollege Rühe, ich muss Ihnen entgegenhalten,
dass in Bezug auf die Osterweiterung der Satz „große
Sprüche und nichts dahinter“ für Ihre Regierungszeit gilt.
Polen wurde versprochen, im Jahre 2000 Mitglied zu sein.
Wir haben in der zweiten Hälfte des Jahres 1998 unter
österreichischer Präsidentschaft eine konkrete Beitrittsperspektive beschlossen. Dann kam der Beschluss von
Helsinki, der die ganze Sache durch das Zusammenziehen
von ehemals zwei Gruppen wirklich dynamisiert hat. Hätten Sie sich besser informiert, wüssten Sie, dass es vorher
zwei unterschiedliche Gruppen mit entsprechenden Reibungsproblemen gegeben hat. In Helsinki wurde konkret
beschlossen - ich halte das für völlig richtig -, alle Beitrittskandidaten in einer Gruppe zusammenzufassen, dann
aber jeweils konkrete Bedingungen zu implementieren.
An den Fortschrittsberichten können Sie ablesen, wie hervorragend dies funktioniert. Gerade mein Gespräch mit
dem rumänischen Außenminister vor zwei Tagen hat klar
gezeigt, dass es richtig war, das Zweigruppenmodell aufzugeben, zumal ja auch schon mit der zweiten Gruppe,
wenn auch nachrangig, verhandelt wurde. Jetzt geht es für
jeden nach seinen Möglichkeiten und individuellen Fortschritten. Dieser in Helsinki beschlossene Ansatz ist wirklich hervorragend.
({3})
Aber das sind Ihre Widersprüche; damit müssen Sie klarkommen.
Sie wollen der Türkei einen Sonderstatus bei der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik einräumen, ihr aber gleichzeitig den Status im Zusammenhang
mit der Heranführungsstrategie streitig machen. Es wird
ja mit der Türkei nicht verhandelt. Das Einzige, was der
Rat von Helsinki über Luxemburg und Cardiff hinaus beschlossen hat, ist, dass wir die Türkei nicht mehr vertrösten, sondern ihr klar sagen: Wenn ihr in Richtung Europa
wollt, dann müsst ihr euch zusammen mit der Kommission eine Heranführungsstrategie erarbeiten und sie umsetzen, bis ihr die Kopenhagener Kriterien erfüllt. Diese
Kriterien stellen keine „Lex Türkei“ dar, sondern gelten
für Mitglieder wie für Beitrittskandidaten und müssen
erfüllt sein, damit Verhandlungen überhaupt begonnen
werden können. Das galt und gilt für alle; auf dieser
Grundlage haben wir eine Heranführungsstrategie beschlossen. Jetzt aber der Türkei bei der sich entwickelnden
ESVP einen Sonderstatus einzuräumen, davor kann ich
nur warnen. Das ist nicht zu Ende gedacht, Herr Rühe. Sie
sollten dieses Thema einmal mit Ihren Fachleuten und Europapolitikern sorgfältig erörtern. Ich glaube, dann würden
Sie sehr schnell feststellen, dass Sie hier in eine Situation
gerieten, die Sie sich selbst nicht wünschen können.
({4})
Meine Damen und Herren, dem Bundeskanzler „Renationalisierung“ vorzuwerfen ist, Herr Haussmann,
doch wirklich blühender Unsinn. Gerade die Rolle, die
der Bundeskanzler sowohl in Berlin als auch in Nizza
insbesondere bei der Wahrung der Interessen der kleinen
Länder gespielt hat, zeigt - ich habe es doch unmittelbar
mitbekommen -, dass das Gegenteil der Fall ist: Deutschlands nationale Interessen bestehen darin, Europa voranzubringen, und zwar gemeinsam mit unserem Partner
Frankreich. Der Bundeskanzler hat sich in einem Maße
dafür eingesetzt, dass ihm die anderen dafür gedankt haben. Das sollten Sie hier auch sagen, anstatt blühenden
Unsinn von „Renationalisierung“ zu verkünden.
({5})
Lassen Sie mich noch Folgendes hinzufügen, wenn die
F.D.P. der Meinung ist, wir müssten unser Verhältnis zu
Frankreich verbessern: Ich treffe mich heute Abend mit
dem Kollegen Védrine. Ich stelle mir einmal vor, dass ich
ihm sage: Ihr habt das in Nizza großartig gemacht; leider
ist das Ergebnis von Nizza schlecht, weshalb wir nachverhandeln wollen. Auf dieser Grundlage verbessern wir
die deutsch-französischen Beziehungen!
({6})
- Das ist nicht primitiv, sondern es ist der Vorschlag der
F.D.P. Ich meine jetzt ja gar nicht die CDU/CSU.
Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Wenn Sie mit
einer Nachbesserungsposition nach Paris fahren wollen
- das weiß Kollege Pflüger nur zu gut, das weiß auch Kollege Merz, nur die F.D.P. weiß es nicht -, dann brauchen
Sie erst gar nicht loszufahren. Es ist doch völlig klar, dass
das nur auf der Grundlage von Nizza geht. Nizza ist meines Erachtens besser, als Sie es hier darstellen. Ich kann
Ihnen nur sagen: Auf der Grundlage der Ergebnisse von
Nizza werden die nächsten Schritte möglich und die
nächsten Ziele in der Osterweiterung wollen wir auch erreichen.
({7})
Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt ansprechen. Ich halte nichts davon - ich bitte Sie, auch das vielleicht in den Ausschussberatungen nochmals sorgfältig
durchzudiskutieren -, bei den Übergangsvorschriften
nach Ländern zu differenzieren, wie es Kollege Rühe vorschlägt. Daraus würde sehr schnell eine Debatte resultieren, die sich nicht an der Sache orientiert, sondern an dem
nationalen Prestige: diskriminierend oder nicht diskriminierend. Davon halte ich nichts.
Ich finde vielmehr den Vorschlag, den der Bundeskanzler in Weiden gemacht hat, seinen Fünf-PunktePlan für den freien Personenverkehr, durchdachter. Da
geht es auch nicht darum, ob sich die Übergangsfrist über
vier oder sieben Jahre erstreckt. Meine Position war immer - insofern finde ich das, was der Bundeskanzler vorgeschlagen hat, völlig richtig -: Es ist besser, eine längere
Übergangsfrist zu wählen, um - bei gleichzeitiger hoher
Flexibilität in der Überprüfung - Ängste abzubauen, denn
diese Ängste müssen wir ernst nehmen. Erweisen sich
diese Ängste als gegenstandslos und hat man entsprechend eng gefasste Überprüfungsklauseln - das ist der
Vorschlag des Bundeskanzlers -, dann kann man die weitere Übergangsfrist ad acta legen.
Genau auf dieser Grundlage kann man sich einigen.
Anhand der Empirie, der konkreten Bedingungen und der
eng gefassten Überprüfungsvorschriften kann man dann
entscheiden, ob der Tatbestand gegeben ist, ob man
tatsächlich noch weiter Sorge tragen muss oder ob die
Sorgen schlicht und einfach gegenstandslos sind, sodass
auf die weitere Übergangsfrist verzichtet werden kann.
Da vertraue ich voll der Kommission, die das bisher auch
in den anderen Erweiterungsprozessen hervorragend gemacht hat.
Gleichzeitig sind wir der Meinung, dass einzelne Mitgliedstaaten ihren Arbeitsmarkt von Anfang an öffnen
können, wenn sie dieses wünschen. Das ist dann deren Sache. Auch das ist ein Vorschlag des Bundeskanzlers.
Ich finde, auf dieser Grundlage lassen sich die Ängste
in unserem Lande - zusammen mit einer entsprechenden
Strukturanpassungsmaßnahme für die Grenzregionen überwinden. Diese Bundesregierung hat sich der Osterweiterung verpflichtet. Am Anfang wurden wir mit einem gewissen Misstrauen beobachtet, aber dieses Misstrauen wurde völlig ausgeräumt.
In Polen und anderswo weiß man heute sehr genau,
dass es diese Bundesregierung ist, die die polnischen Interessen, die ungarischen Interessen, die tschechischen Interessen, auch die Interessen der baltischen Staaten voranbringt.
({8})
Wir wollen zum frühestmöglichen Zeitpunkt diese Erweiterung. Ich halte aber nichts davon, wenn Herr Rühe
jetzt, nur weil wir vorsichtig sind, mit neuen Fristen
kommt. Wir vertrauen hier auf den Beschluss von Helsinki. Die Fortschrittsberichte der Kommission werden
zeigen, wann es so weit ist, dass konkretisiert werden
kann, wann die Signatur unter die Verträge kommt. Dann
muss ratifiziert werden, dann kann beigetreten werden.
In Nizza haben die Europäer die Erwartung geäußert,
dass wir bei der nächsten Europawahl im FrühsomBundesminister Joseph Fischer
mer 2004 mit einer erweiterten Union rechnen können.
Etwa um diesen Zeitpunkt herum wird es wohl sein, sagen die kundigen Auguren in Brüssel.
Ich denke, wir sollten uns jetzt nicht auf Diskussionen
über das Datum konzentrieren, sondern auf Fortschritte in
der Sache. Genau das will die Bundesregierung.
({9})
Nun erteile ich dem
Kollegen Uwe Hiksch, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Erweiterung um die Staaten
Mittelosteuropas ist für Europa und für die Europäische
Union endlich der entscheidende Beitrag dazu, um erreichen zu können, dass Europa einen entscheidenden
Schritt vorangeht, dass endlich die Spaltung überwunden
wird.
Wir, die PDS-Fraktion, wollen mithelfen, dass gemeinsam mit den Menschen Mittelosteuropas, mit den
Menschen in Polen, in Tschechien, in Ungarn und in den
baltischen Staaten daran gearbeitet wird, dass möglichst
viele dieser Menschen die Chance bekommen, bereits zur
Europawahl 2004 an den demokratischen Wahlen Europas teilzunehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns auch
dafür einsetzen, dass die Diskussion über die Kopenhagener Kriterien und die Diskussion über den Acquis Communautaire eine wichtige Rolle bei den Beitrittsverhandlungen spielen und wir gemeinsam mithelfen können,
solche Bedingungen zu schaffen, dass dieser Beitritt sozialverträglich funktioniert.
Wir sollten aber bei der Diskussion über die Europäische Union nicht vergessen, dass Europa größer als das
Europa der heutigen 15 Mitglieder und derjenigen Staaten, die beitreten wollen, ist. Die Menschen in der
Ukraine, die Menschen in Russland, die Menschen in
Weißrussland wollen natürlich von uns eine gemeinsame
Antwort auf die Frage haben, wie wir im Rahmen des
Erweiterungsprozesses der Europäischen Union mithelfen, dass Integration nicht an den Grenzen der Europäischen Union aufhört
({0})
und dass auch diese Staaten und Regierungen in die Entwicklungen Europas eingeschlossen werden.
Die Menschen im ehemaligen Jugoslawien wollen
natürlich von uns eine Antwort darauf bekommen, wie für
die Staaten auf dem Balkan eine mittelfristige Beitrittsperspektive aussehen kann. Deshalb sagt die PDS deutlich, dass wir die zunehmende Militarisierung der Europäischen Union für einen falschen Schritt halten, weil sie
die Wahrnehmung russischer Interessen und das Eingehen
auf russische Befindlichkeiten erschwert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische
Union bietet uns allen die große Chance auf Rückgewinnung des Primates der Politik. Während die Vernetzung
der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Westeuropa
auf der einen Seite - Deutschland mitten drin - und den
osteuropäischen Staaten auf der anderen Seite ständig
voranschreitet, haben die Menschen und Regierungen in
diesen Regionen ein Bedürfnis danach, dass nicht nur die
wirtschaftlichen Verflechtungen vorankommen. Diese
Regierungen, diese Staaten, diese Menschen wollen vielmehr auch an den demokratischen Entscheidungsprozessen der Europäischen Union teilnehmen. Wir
sind der Überzeugung, dass die Europäische Union den
Menschen in Polen, in Tschechien, in Ungarn und im Baltikum die Möglichkeit der Schaffung eines wirtschaftlichen Binnenmarktes bieten sollte. Darüber hinaus sollten
sie bei der Entwicklung der Europäischen Union mitbestimmen.
Wir sehen, dass die Erweiterung der Europäischen
Union uns allen auch eine kulturelle Weiterentwicklung
bringen wird.
({1})
Es ist nicht nur so, dass 16 Millionen Menschen der ehemaligen DDR, die einmal ein anderes Staats- und Politikverständnis hatten, Mitglied der Europäischen Union
geworden sind. Es wird vielmehr so sein, dass über
100 Millionen Menschen Mitglied der Europäischen
Union werden, Menschen, die in ihrem Leben schon einmal erfahren haben, dass politische Forderungen wie beispielsweise das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung
und die Vorstellung, dass die Wirtschaft nicht sich alleine
überlassen werden darf, sondern dass der Staat auch eine
soziale Verantwortung hat, in Europa eine Rolle spielen
müssen. Deshalb gehen wir davon aus, dass Diskussionen, wie sie beispielsweise die PDS führt, nämlich dass
Europa eine soziale und ökologische Dimension haben
muss, verstärkt durch die Menschen aus den mittelosteuropäischen Staaten geführt werden.
Daher glauben wir, dass die Europäische GrundrechteCharta eine ganz neue Dynamik gewinnen wird. Wir glauben auch, dass Diskussionen in der Europäischen Union,
wie sie beispielsweise von Ihnen, Herr Fischer, oder von
Herrn Schäuble vor wenigen Jahren im Rahmen der Kerneuropa- bzw. Avantgardethese begonnen wurden, für die
Menschen in den mittelosteuropäischen Staaten in die
falsche Richtung gehen, weil die Menschen aus der Peripherie Europas endlich als gleichberechtigte Partner Mitglied der Europäischen Union werden wollen. Deshalb
wird die PDS auch dafür einstehen, dass sich Avantgardevorstellungen in Europa im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit nicht durchsetzen können.
Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird sich
das soziale Gefälle innerhalb der Europäischen Union
weit über die bisherige soziale Situation hinaus verändern. Bisher erkennen wir vonseiten der PDS in keiner
Weise, dass die Regierungen der Europäischen Union
bzw. die rot-grüne Bundesregierung eine Antwort darauf
haben, wie sozial-, beschäftigungs- und regionalpolitisch
Verantwortung für diese unterschiedlichen Wohlstandsund Wirtschaftsentwicklungen übernommen werden
kann.
In der aktuellen Diskussion wird vor allen Dingen von
Übergangsvorschriften gesprochen. Dies wird damit
verbunden, dass über die Frage der Freizügigkeit der
Menschen Mittelosteuropas diskutiert wird. Wir glauben
- da hat Ministerpräsident Ringstorff völlig Recht -, dass
man die Ängste der Menschen, dieses Nichtwissen, was
aus der Erweiterung um Mittelosteuropa folgt, ernst nehmen muss. Wir als PDS glauben auch, dass wir eine
aufklärerische Aufgabe haben.
({2})
Wir müssen deutlich machen, dass alle zwischenzeitlich
von unterschiedlichen Regierungen und Institutionen sowie
von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen
Studien deutlich gemacht haben, dass es keinen Migrationsdruck in die Europäische Union geben wird und dass keine
größeren Wanderungsbewegungen aus den mittelosteuropäischen Staaten zu erwarten sind. Deshalb sind wir der
Überzeugung, dass eine Diskussion über Übergangsvorschriften vor allem im Bereich der Arbeitnehmerinnen- und
Arbeitnehmerfreizügigkeit zunächst einmal keines der realen Probleme lösen wird, sondern dass dadurch lediglich
versucht wird, in diesem Zusammenhang eine Aufschiebung von sieben Jahren, wie es beispielsweise der Bundeskanzler vorgeschlagen hatte, zu erreichen.
Wir als PDS wollen deshalb deutlich machen, dass das
Ernstnehmen der Ängste von Menschen auch etwas damit
zu tun haben muss, dass sich in der Europäischen Union,
in der realen Politik etwas ändert. Wir brauchen neue Politikziele, müssen beispielsweise darüber diskutieren, wie
die Europäische Union eine demokratische Koordination
zwischen Geld- und Fiskalpolitik erreichen kann. Es muss
darüber geredet werden, wie Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in den Mittelpunkt der Politik rücken.
({3})
Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel hat gemeinsam mit den Industrie- und Handelskammern und den
Handwerkskammern in den Grenzregionen vorgeschlagen, ein Struktur- und Infrastrukturprogramm aufzulegen.
Damit könnte man dazu beitragen, den Menschen in diesen Regionen Hoffnung zu geben. Ein solches spezielles
Programm darf jedoch nicht nur - so wie es die CDU vorschlägt - auf das deutsche Grenzgebiet zielen, sondern
muss die Grenzregionen sowohl in den Beitrittsländern
als auch in Deutschland umfassen und auf alle europäischen Außengrenzen, seien sie in Österreich, in Deutschland oder der Slowakei, in Tschechien oder in Polen, ausgedehnt werden.
({4})
Darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir
sehr genau nachdenken, gerade vor dem Hintergrund der
Tatsache, dass wir hier im Deutschen Bundestag die
Grundrechte-Charta fast einstimmig verabschiedet haben. Dort heißt es in Art. 15 Abs. 2 - ich zitiere -:
Alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die
Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen,
sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen.
({5})
Wir sollten deshalb darüber nachdenken: Wollen wir dieses ganz wichtige Recht, die menschliche Freiheit, wirklich einschränken, weil wir Ängste haben - deren Grundlage bisher durch keine Studie bewiesen worden ist -,
oder sollte nicht vielmehr diese Grundrechte-Charta auch
den Menschen Mittelosteuropas gelten?
Ich bitte darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
wir die Diskussion über die Frage, wie Ängste abgebaut
werden könnten, nicht einseitig verengen auf Übergangsvorschriften. Massenarbeitslosigkeit, fehlende
Wohnungen, schlechte wirtschaftliche Bedingungen oder
auch nur eine sich am Konjunkturhimmel abzeichnende
Rezession dürfen eine Erweiterung um Mittelosteuropa,
zu unseren Freunden in diesen Ländern, nicht verhindern. Deshalb bitte ich darum: Lasst uns darüber diskutieren, wie Politik verändert werden muss! Man darf
nicht glauben, über Restriktionen könnten die Ängste der
Menschen und manch schlechte Befindlichkeit überwunden werden.
Besten Dank fürs Zuhören.
({6})
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Dr. Christoph Zöpel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltiger
Friede in Europa - diese Vision ist mehr als 200 Jahre alt.
Sie ist in bis heute unübertroffen gültiger Weise in den
90er-Jahren des 18. Jahrhunderts von Immanuel Kant
formuliert worden,
({0})
in Preußen. Er hat in seiner Schrift über den ewigen Frieden auch die Bedingungen formuliert
({1})
für dieses Ziel, eine Gemeinschaft von republikanischen
Demokratien, die die Menschenrechte achten. Nicht viel
- außer schlechter und guter historischer Erfahrung - ist
seitdem dazugekommen. Es macht Sinn, wenn man über
diese größte geistige Leistung Preußens spricht, auch einzuordnen, wann Kant sie formuliert hat: nach den Erfahrungen mit den Kriegen Friedrich des Großen und
während der Erfahrungen mit dem neuerlichen Missbrauch des Absolutismus im Inneren durch Friedrichs
Nachfolger Friedrich Wilhelm II.
Die Vision hat lange gebraucht, bis sie - nach den napoleonischen Kriegen, den bismarckschen Kriegen und
zwei Weltkriegen - zur konkrete Utopie wurde. Nachhaltiger Friede in Europa als konkrete Utopie wurde aufgeschrieben in der Charta von Paris 1989. Aber damals
wusste noch keiner genau, ob dies für den ganzen Bereich
der Staaten, die sich an dieser Charta beteiligt haben, oder
für einige zu einem wirklich realisierbaren Projekt werden würde.
Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, kann, glaube ich,
kein vernünftiger Mensch daran zweifeln: Nachhaltiger
Frieden für zunächst 500 Millionen Europäer ist ein realisierbares Projekt.
({2})
Von einem realisierbaren Projekt können wir sprechen,
wenn wir historische Erfahrungen haben. Unsere historischen Erfahrungen sind: 370 Millionen Europäer haben es
geschafft, dauerhaften Frieden für sich zu sichern. Kein
Mensch kann sich einen Krieg wie die napoleonischen
oder die bismarckschen Kriege mehr vorstellen.
Eine weitere historische Erfahrung: Wenn das 370 Millionen Menschen schaffen, dann schaffen sie es gleichzeitig, ihren Wohlstand gemeinsam schneller zu steigern
und soziale Probleme eher zu mindern als unter anderen
Bedingungen. Wer hätte es vor 20 Jahren für möglich
gehalten, dass Irland Einwanderungsland wird und die
höchsten Wachstumsraten der EU hat?
Zu den historischen Erfahrungen, die es erlauben, von
einem realisierbaren Projekt zu sprechen, gehört auch,
dass jeder, der vorurteilsfrei herangeht, feststellen wird:
Die zwölf Staaten, mit denen derzeit die Europäische
Union verhandelt, sind in der Lage, die Kriterien von
Kopenhagen zu erfüllen und sich in ihrem staatlichen,
parlamentarischen und administrativen Verhalten so darzustellen, dass sie den Umsetzungsprozess schaffen.
Das alles wissen wir heute. Damit wird als Viertes
nachhaltiger Frieden in Europa nun zu einer Verpflichtung
politischer Moral. Wir reden manchmal unter fragwürdigen Gesichtspunkten über Moral in der Politik. Für mich
ist Moral in der Politik ein realisierbares Projekt, und hier
ist das Edelste der Aufklärung, das dann, wenn es möglich
ist, auch umzusetzen. Wer sich daran auch nur durch Zögern schuldhaft nicht beteiligt, der handelt im Sinne von
Demokratie nicht moralisch.
({3})
Erlauben Sie mir als Sozialdemokraten, dieses realisierbare Projekt politischer Moral mit einem Satz in Verbindung zu bringen, den ein sozialdemokratischer Bundeskanzler geprägt hat. Willy Brandt hat gesagt: „Frieden ist
nicht alles, aber ohne Frieden ist alles andere nichts.“
({4})
Ich würde das in dieser historischen Situation für 500 Millionen Europäer so konkretisieren: Die Europäische
Union ist nicht alles, aber ohne diese Europäische Union
ist alles andere nichts.
({5})
Was das praktisch bedeutet und was die Mitgliedstaaten der Europäischen Union jetzt schon tun können, das
haben sie in Nizza gezeigt. Sie haben auf der Grundlage
der Berichte der Kommission, vor allem der Berichte, die
Günter Verheugen vorgelegt hat, ein Datum genannt. Sie
haben gesagt: Wir hoffen und wir wollen, dass die ersten
neuen Mitgliedstaaten im Jahr 2004 in der Europäischen
Union sind und ihre Bürgerinnen und Bürger das nächste
Europäische Parlament mit wählen können. Vermutlich
wird das im Juni jenes Jahres der Fall sein.
({6})
Wenn diese sehr generelle Konklusion von Nizza umgesetzt wird und wir auf das schauen, was im Verwaltungshandeln der Europäischen Union zum Integrationsprozess geschieht, können wir sehr nüchtern folgende
Fakten feststellen: Unter der Präsidentschaft Schwedens
im ersten Halbjahr 2001 werden mit zehn der zwölf Staaten, mit denen verhandelt wird, alle Kapitel weit fortgeschritten verhandelt sein. Es gibt den weiteren Fahrplan,
dass diese Verhandlungen nach und nach bis zum Ende
der spanischen Präsidentschaft abgeschlossen werden.
In der Situation so komplexer Verhandlungen - 15 Staaten verhandeln mit zwölf, und ich gebe Herrn Kollegen
Rühe und anderen Recht, dass die einzelnen Regierungen
und vor allem die Regierung des bevölkerungsreichsten
EU-Landes, der Bundesrepublik Deutschland, in der Verantwortung sind - kann etwas passieren, nicht nur wegen
der Nichtbereitschaft von Regierungen. Wahlsituationen
sind besondere Situationen. Im Jahr 2002 finden in acht
der insgesamt 27 Länder Wahlen statt. Das alles sollten
Opposition wie Regierung - sie tun das auch - berücksichtigen. Dann können die Verhandlungen vielleicht im
zweiten Halbjahr des Jahres 2002 zu Ende gebracht werden. Dann können wir ratifizieren und dann kann für viele
Länder das Ziel des Beitritts bis zum Jahre 2004 erreicht
werden.
Die Formel „Es können nur Länder aufgenommen werden, die die Kopenhagen-Kriterien erfüllen“, ist so richtig, wie sie partiell überholt ist. Bei ehrlicher Einschätzung des Erreichten kann man sagen: Von den zwölf
können es zehn schaffen. Wenn sie aber wegen dauerhafter Regierungskrisen beschließen, nicht mehr zu handeln,
werden sie es nicht schaffen. Dann können wir hier in
Deutschland oder in Frankreich zehnmal sagen: Wir
möchten es aber. Dies gilt auch für Polen, wozu die Bundesregierung durch den Bundeskanzler gesagt hat: Wir
möchten, dass Polen bei den Ersten ist. Ich füge aber auch
hinzu: Ich sehe keinen Anlass dafür, dass irgendein Land
der zehn von den zwölf in den nächsten Monaten bzw.
Jahren so handeln würde, dass es nicht mehr beitreten
könnte.
Einige Risiken liegen auch bei uns. Es ist nicht europäisch im Sinne der 500 Millionen Menschen gedacht,
immer nur zu sagen: Die anderen müssen es schaffen.
Ohne die Bereitschaft und die Fähigkeit der 15 Mitgliedstaaten, zum Beispiel bezüglich der zukünftigen Agrarpolitik und der Fonds Entscheidungen zu treffen, die einigen
unserer Bürgerinnen und Bürger wehtun, wird es nicht gelingen.
({7})
Zu sagen, es liegt bei den Beitrittskandidaten und nicht
bei uns, etwa den Deutschen, den Franzosen, den SpaniDr. Christoph Zöpel
ern oder Engländern, ist nicht mehr ehrlich und kann Ausdruck von Hochmut sein. Hochmut wäre moralisch nicht
angemessen.
({8})
- Wissen Sie, keine Regierung ist so gut wie das von ihr
selbst gesteckte Ziel.
({9})
Das galt schon für Willy Brandt und Konrad Adenauer.
Die anderen will ich auslassen.
({10})
Ich habe sehr bewusst die konkreten Einwohnerzahlen
genannt, weil zu dem, was notwendig ist, nämlich keine
Ängste zu wecken, sondern sie nach Möglichkeit zu vermeiden, gehört, Fakten zu nennen. Deshalb noch einmal:
370 Millionen Bürgerinnen und Bürger gehören bereits
jetzt zur Europäischen Union. Die zehn Länder, über die
ich spreche, haben zusammen 70 Millionen Einwohner.
38 Millionen davon sind Polen und 32 Millionen verteilen sich auf neun weitere Staaten. Ich glaube, selbst nicht
mit den Daten der Sozialökonomie vertraute Menschen
wissen sofort: Wenn 70 Millionen zu 370 Millionen Einwohnern kommen, kann keine besondere Verwerfung eintreten. Das weiß jeder. Deshalb macht es immer wieder
Sinn, diese Einwohnerzahlen gegeneinander zu stellen. Je
mehr wir integrieren, umso gleichgültiger wird es, wie
viele Bürokratien dazu kommen. Je mehr Politik vereinheitlicht wird, umso mehr wird der Einfluss der Bürokratien der einzelnen Staaten - sei es Deutschland, sei es
Slowenien - zurückgehen, nicht aber die kulturelle Identität.
Wenn wir über die Rechte der Mitgliedstaaten sprechen, sollten wir sehr sorgfältig vorgehen. Der Beitritt zur
EU bedeutet für viele von ihnen, ihre kulturelle Identität
zum ersten Mal ohne Angst vor anderen leben zu können.
Ich konnte mich heute hierüber mit unseren Kollegen aus
Slowenien austauschen. Die Europäische Union gibt
Slowenien die Chance, eine über Jahrhunderte fast bewundernswerterweise erhaltene Sprache ungefährdet leben zu können. Das soll so bleiben. Auf der anderen Seite
wird vieles, was bisher nationalstaatliche Bürokratien tun
können, europäisiert. Man muss beide Seiten sehen. Aber
es geht im Kern um die Menschen und um ihre kulturelle
Identität.
In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts werden 30 Millionen Rumänen und Bulgaren - Bulgaren und Rumänen
könnte man vielleicht sagen - die Chance des Beitritts haben, wenn es dort so positiv weitergeht, wie es sich abzeichnet. Ich glaube, wir alle sollten schon jetzt jedes Vorurteil über Kroaten, Bosnier, Albaner und andere
vermeiden und uns darauf vorbereiten, dass diese Staaten
im Jahrzehnt darauf, wenn es dort nach demokratischen
Wahlen demokratische und verantwortliche Regierungen
geben wird, genauso wie die Slowenen Mitglieder der Europäischen Union werden können.
({11})
Das sind dann zusammen 500 Millionen Menschen. Dazwischen liegt ein Prozess von über zehn Jahren und damit auch die Chance der Gewöhnung.
({12})
Jetzt mache ich ganz bewusst eine Pause. Außer diesen
500 Millionen Menschen gibt es derzeit keine Nachbarn,
die die Kopenhagen-Kriterien erfüllen oder kurzfristig erfüllen können. Das wird länger dauern. Es wird dann unsere Aufgabe sein, das Verhältnis zu diesen Nachbarn zu
bestimmen: den Russen, den Ukrainern, den Türken, den
Menschen im nördlichen Afrika und im Mittleren Osten.
Ich habe mit dem israelischen Botschafter in diesen Tagen
sehr intensiv darüber diskutiert: Wie nahe steht Israel der
Europäischen Union? Und wo sind Punkte, in denen Israel
aus einigen Gründen nicht mit der Union übereinstimmen
möchte?
({13})
Ich nenne zwei Punkte: Die Kopenhagen-Kriterien müssen erfüllt werden. Zudem stellen sich Fragen der territorialen Ausdehnung Europas. Es wird darüber diskutiert
werden müssen, was dieses Verhältnis bestimmt.
Ich habe eine Bitte, weil es um moralische Verantwortung geht: Lassen Sie uns den Bürgern, mit denen wir reden, sagen: Jetzt können zusätzlich 70 Millionen Europäer zu uns kommen, dann 30 Millionen. Zurzeit stellt
sich nicht die Frage, ob Türken in diesem Sinne europäische Bürger werden. Man muss davor jetzt keine Angst
haben. Es stellt sich aber die Frage, wie das Verhältnis zu
den Türken zu bestimmen ist, damit sie zumindest gute
Nachbarn in Europa sind. Wenn sie tatsächlich selber entscheiden, Europäer in dem Sinne zu sein, dass sie in unserem Sinne, im Sinne der Aufklärung die Menschenrechte achten, dann sinken auch Ängste. Aber das ist ein
Prozess des nächsten Jahrzehnts. Die Frage, ob 38 Millionen Polen hoffentlich 2004 Mitglieder der Europäischen
Union sind, mit berechtigten Hinweisen auf die Nichtachtung der Menschenrechte in der Türkei zu verbinden,
halte ich nicht für in Ordnung.
({14})
Auf dem Weg zu diesem Ziel gilt ein weiteres Prinzip.
Gerade bei einem historischen Projekt sind Vorsicht und
Behutsamkeit das Wesentliche. Vorsicht und Behutsamkeit bedeuten hier, auf berechtigte Ängste einzugehen und
deutlich Verblendungen abzuwehren, die es nicht geben
darf. Man muss sorgfältig vorgehen. Bei diesem Prozess
der Integration kann ein Jahr mehr an Übergangsvorschrift besser als ein Jahr zu wenig sein, weil es den ehrlichen Menschen die Chance gibt, tatsächlich zu erkennen, dass ihre Ängste nicht berechtigt sind, und uns die
Möglichkeit gibt, den Verblendeten zu antworten. Das ist
besser, als unvorsichtig zu sein.
Es gibt in jeder Gesellschaft - also auch in der europäischen - Menschen, deren sozialpsychologische Konstitution nicht die der Aufklärung ist. Immer wieder in der
Geschichte - von Hitler bis Milosevic - gibt es Menschen,
die dies ausnutzen und damit spielen. Zu dem verantwortlichen Prozess, den dauerhaften und nachhaltigen
Frieden in Europa zu erreichen, gehört es, nicht mit den
Menschen, die verblendet und der Aufklärung nicht innerlich verbunden sind, zu spielen. Dies zu vermeiden ist ein
Teil unserer moralischen Verpflichtung.
Herzlichen Dank.
({15})
Ich erteile nun dem
Kollegen Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten Mittel- und
Südosteuropas ist politisch und wirtschaftlich für Europa
notwendig und moralisch eine Bedingung für die Europäische Union. Die Erweiterung und auch der jetzige Erweiterungsprozess sorgen für Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung in Europa.
Dieser Erweiterungsprozess ist auf der anderen Seite
die größte Herausforderung der Europäischen Union seit
ihrem Bestehen. Sie wird zu großen Veränderungen in allen Strukturen der Europäischen Union führen. Insgesamt
kann man aber feststellen, dass der bisher beschrittene
Weg ein Erfolgsweg ist. Er begann mit den Assoziierungsverträgen von 1990, mit dem historischen Datum
des Europäischen Rates in Kopenhagen 1993 mit der
Festlegung, dass Reformländer der Europäischen Union
beitreten können, wenn sie bestimmte Voraussetzungen
erfüllen, welche in drei großen Komplexen festgelegt
wurden. Der Europäische Rat in Luxemburg beschloss die
Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit sechs der mittel- und osteuropäischen Reformländer und Helsinki
1999 - ich hielt und halte das für richtig - und hat die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit den übrigen mittelund osteuropäischen Reformländern beschlossen.
Besonders wichtig für den europäischen Erweiterungsprozess ist der Teil der Agenda 2000 gewesen, mit dem die
so genannten Vorbeitrittshilfen beschlossen wurden, nämlich 45 Milliarden Euro für den Zeitraum 2000 bis 2006
für die Beitrittskandidaten zur Infrastrukturförderung und
als Hilfe für die Beitrittspolitik dieser Länder.
Bei allem Lob über die europäische Politik bezüglich
des Einigungsprozesses muss ich auch - das fällt vielleicht der Opposition etwas leichter, obwohl ich weiß,
dass einige Kollegen aus der Koalition das ähnlich
sehen - auf einige Fehlentscheidungen der Europäischen
Union in den letzten Jahren, insbesondere seit 1999, hinweisen, die teilweise eine wachsende Gefahr für den Zeitraum 2005/2006 bedeuten.
1999 blieb in Berlin bei der Verhandlung der Agenda
2000 unter der deutschen Ratspräsidentschaft die Agrarreform auf halbem Wege stecken.
({0})
Am Ende blieben bei der notwendigen Agrarreform drastische Einkommenseinbußen für deutsche und europäische Landwirte übrig und - ich nenne das den Sündenfall
der Europäischen Union - erstmalig in der Geschichte der
Europäischen Union kam es zur Einführung einer Zweiklassengesellschaft: Das eine ist die Nobelklasse, zu der
die alten und im Verhältnis zu den Reformländern reichen
EU-Mitgliedsländer gehören, die sich die Direktbeihilfen
für die Landwirtschaft genehmigen. Das andere ist die
Holzklasse, zu der die Reformländer gehören. Wenn sie
Mitglieder geworden sind, wird es keine Direktbeihilfen
für die Landwirtschaft geben.
Diese Entscheidung birgt zwei schwerwiegende Probleme: Erstens. Solche Entscheidungen haben eine fatale
psychologische Wirkung in den Reformländern. Wer sich
mit der Politik der Reformländer beschäftigt, weiß, unter
welchem Druck dort die Politiker und Regierungen stehen. Sie müssen drastische und unpopuläre Reformen
durchführen, für die man normalerweise gejagt wird.
({1})
Wenn dann von allen Staats- und Regierungschefs auch
noch der Eindruck vermittelt wird, dass sie trotz aller Anstrengungen die zweite Klasse bleiben werden, wird das
den Reformeifer in diesen Ländern nicht fördern.
({2})
Zweitens birgt der Beschluss von Berlin unter deutscher Ratspräsidentschaft ein schwer kalkulierbares finanzielles Risiko. Jeder, der sich damit beschäftigt, weiß,
dass die Zweiteilung der EU-Agrarpolitik bezüglich der
Beitrittsländer und der Stammländer nach 2006 mit Sicherheit nicht aufrechterhalten werden kann. Polen akzeptiert das - in diesem Punkt verstehe ich die polnische
Forderung - schon jetzt nicht. Es ist bis jetzt völlig unklar,
zu welchen finanziellen Folgen es führen kann, wenn im
Jahre 2006 bei der neuen finanziellen Vorausschau ein anderes System eingeführt werden sollte.
({3})
- Es gibt in dieser Frage im Moment keine Überlegungen.
Als nächsten Punkt möchte ich den Vertrag von Nizza
kritisch bewerten. Insgesamt war er nicht ausreichend erfolgreich. Gestartet ist die Europäische Union, auch die
Bundesregierung - wir als Opposition haben das unterstützt
und werden diese Politik weiter unterstützen -, mit dem
Ziel, die Europäische Union in Nizza erweiterungsfähig zu
machen. Aus der großen Reform wurde ein Reförmchen.
Das Resultat von Nizza ist insgesamt für die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union mangelhaft.
Mir ist wohl klar, dass die Rahmenbedingungen für
Nizza besonders schwierig waren; denn in Nizza sollten
die Reformen beschlossen werden, die schon in Maastricht
und in Amsterdam verschoben worden sind. Es war klar,
dass es bei den Verhandlungen über nationale Besonderheiten und Eitelkeiten in Nizza ans Eingemachte, ans Mark
gehen würde. Trotzdem muss man feststellen: Das Ergebnis ist nicht ausreichend.
Besonders schwerwiegend finde ich, dass es in mehreren Punkten Fehlentscheidungen gibt, die die Gefahr bergen, dass der Erweiterungsprozess in einigen Jahren ins
Stocken kommt. Damit komme ich auf die faktische
Nichteinführung der Mehrheitsabstimmung im Bereich
der Struktur- und Kohäsionsfonds zu sprechen. In
Nizza wurde festgeschrieben, dass die Mehrheitsentscheidung bei den Struktur- und Kohäsionsfonds frühestens im Jahr 2007 und - um ganz sicher zu gehen - erst
nach Beschlussfassung über die neue finanzielle Vorausschau für den Zeitraum 2007 bis 2013 eingeführt wird.
Das heißt: Wir haben faktisch frühestens im Jahr 2014
Mehrheitsentscheidungen in diesen sensiblen Politik- und
Finanzbereichen. Damit ist nahezu völlig unklar, wie die
Struktur- und Kohäsionsfonds im Zusammenhang mit
dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Reformländer überhaupt finanziert werden können. Nach der NizzaRegelung müssen die jetzigen Empfänger von Zuweisungen aus den Struktur- und Kohäsionsfonds freiwillig auf
einen Großteil ihrer Subventionen verzichten, um Mittel
für die wirklich strukturschwachen, armen Beitrittsländer
freizubekommen. Nach allen bisherigen Erfahrungen solcher Finanzrunden - auch in Berlin - müssen wir davon
ausgehen, dass dies nicht oder nur in viel zu geringem
Umfang gelingen wird.
Damit droht uns im Jahre 2005 eine Zangenbewegung,
da die Mittel für die Beitrittsländer bereitgestellt werden
müssen; diejenigen, die jetzt Mittel erhalten, werden nicht
darauf verzichten, und somit muss der Finanzrahmen der
Europäischen Union ausgeweitet werden. Dies bedeutet
in der Folge höhere Beiträge für die Länder, insbesondere
Deutschland, die ohnehin schon durch die ungleiche Nettolastenverteilung besonders betroffen sind. Ich vermute,
der Finanzminister würde mir zustimmen, wenn er hier
wäre. Die Zangenbewegung wird darin bestehen, dass
diejenigen, die etwas bekommen, nicht verzichten und die
anderen, die mehr zahlen müssen, nicht mehr zahlen können oder wollen.
Somit besteht die Gefahr, dass in diesem Spagat der gesamte Beitrittsprozess - möglicherweise noch während
der Ratifizierung von Beitritten neuer Länder - ins
Stocken kommt. Bisher hat sich noch niemand Gedanken
darüber gemacht, wie diese Zeitbombe entschärft werden
könnte. Wir werden als Opposition besonderen Wert darauf legen, dass über diese Frage schon jetzt nachgedacht
wird, um es nicht im Jahre 2005 oder 2006 zu einem Crash
kommen zu lassen.
({4})
Ich möchte noch kurz auf einen Beschluss von Nizza
eingehen, den ich nicht verstehen kann. Er wird materiell
glücklicherweise keine besonderen Auswirkungen haben,
ideell stellt er aber eine Fortsetzung des Sündenfalls, der
in Berlin unsäglich begonnen wurde, dar. Es handelt sich
um den Beschluss hinsichtlich der Mandatsverteilung
im Europäischen Parlament. Die Staats- und Regierungschefs haben beschlossen - irgendwann in der Nacht,
ich weiß es nicht genau -, von dem bisher gültigen Grundprinzip, die Mandatsverteilung im Europäischen Parlament nach der Einwohnerzahl auszurichten, abzurücken.
Jetzt soll das anders werden. So sollen zum Bespiel Ungarn und die Tschechische Republik zwei Mandate weniger erhalten als Belgien und Portugal, obwohl sie jeweils
mehr Einwohner als diese Länder haben. Auch hier zeigt
sich der unsägliche Trend: First Class für die alteingesessenen EU-Mitgliedsländer und Holzklasse für die Reformländer. Diese Entscheidung halte ich für peinlich. Sie
wirft kein gutes Licht auf die Verfasstheit der Europäischen Union und der Staats- und Regierungschefs, einschließlich des Bundeskanzlers der Bundesrepublik
Deutschland.
({5})
Um nicht nur zu kritisieren, will ich sagen, dass in
Nizza auch gute und wichtige Beschlüsse gefasst wurden.
Dabei möchte ich auf einen kurz eingehen, weil heute
noch über zwei Anträge zu diesem Thema beraten wird.
Es geht darum, dass die Kommission beauftragt worden
ist, ein Grenzlandförderprogramm bzw. ein Aktionsprogramm zur Grenzlandförderung vorzuschlagen. Jeder,
der sich mit der besonderen Problematik unserer Grenzregionen - im Wesentlichen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Bayern gelegen ({6})
- Berlin nicht unbedingt, vielleicht Brandenburg, aber
Berlin gehört ja irgendwie zu Brandenburg - beschäftigt,
weiß, dass eine besondere Förderung wichtig ist.
Es gibt bisher schon Förderprogramme, die ein guter
Ansatz sind, aber nicht ausreichend sind. Eine besondere
Berücksichtigung in einem solchen Aktionsprogramm ist
wichtig. Ich möchte darauf hinweisen: Ich höre in der letzten Zeit - ich habe es bisher noch nicht lesen können -,
dass innerhalb der Europäischen Kommission in Arbeitsgruppen auf Ratsebene darüber nachgedacht wird, die
Mittel für das Aktionsförderprogramm lediglich durch
Umschichtung aus dem jetzigen Interreg-Programm aufzubringen. Eine solche Lösung wäre für uns völlig inakzeptabel. Das Interreg-Programm muss in der jetzigen
Form bestehen bleiben und für das Aktionsförderprogramm müssen zusätzliche Mittel zur Förderung dieser
Grenzregionen bereitgestellt werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich erteile dem Kollegen Christian Sterzing vom Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst möchte ich der Opposition für ihre Große Anfrage Dank sagen. Natürlich möchte ich auch der Regierung für ihre Antwort auf diese Große Anfrage Dank sagen; denn es war eine ungewöhnlich umfangreiche Große
Anfrage und dementsprechend auch eine ungewöhnlich
umfangreiche Antwort. Dahinter steckt viel Arbeit. InsoMichael Stübgen
fern haben wir eine gute Grundlage nicht nur für die jetzige
Debatte, sondern auch für die weitere Auseinandersetzung
mit dem Thema „Erweiterung der Europäischen Union“.
Alle großen Worte zur Erweiterung der Europäischen
Union sind eigentlich schon gesagt worden, auch heute,
so zum Beispiel die Stichworte von der historischen
Chance oder der historischen Herausforderung, von unserer Verpflichtung und Verantwortung, von der Rückkehr
nach Europa und von den Chancen für Gesamteuropa. Es
ist natürlich wichtig, immer wieder an diese Perspektiven
und daran zu erinnern, dass all die konkreten Probleme,
die wir zu erörtern haben und über deren Lösung wir politisch streiten, in diesem Kontext zu sehen und in diesen
zu stellen sind. Das heißt, dass wir auf der einen Seite
natürlich die Ängste und die Sorgen vieler Menschen gerade in den Grenzregionen ernst nehmen müssen, dass wir
uns aber auf der anderen Seite vor dem Hintergrund der
historischen Perspektive dagegen wehren müssen, dass
die Erweiterung mit bilateralen Problemen überladen
bzw. überlastet wird oder dass sogar neue Hürden für die
beitrittswilligen Länder aufgebaut werden. Das darf nicht
passieren.
({0})
Insofern ist der Zweck der heutigen Debatte und der Auseinandersetzungen über die Erweiterung, immer wieder
der Stimmung entgegenzuwirken - darauf wurde schon
hingewiesen -, die die Probleme als so gewaltig erscheinen lässt, dass die historische, gesamteuropäische Perspektive in den Hintergrund gedrängt wird, und auch der
Stimmung entgegenzuwirken, die manchmal den Anschein erweckt, dass die Probleme, die im Kern eigentlich
Übergangsprobleme sind, nur zu bewältigen seien, wenn
wir die Erweiterung weiter hinausschieben würden. Damit
würden wir der historischen Notwendigkeit nicht gerecht.
Zwei Bemerkungen scheinen mir im Rahmen der
Erweiterungsdiskussion wichtig zu sein. Erster Punkt. Ich
möchte auf den dynamischen Prozess hinweisen. Wir reden im Zusammenhang mit den Beitritten immer nur von
einem Datum im Kalender, an dem sich der Beitritt der
entsprechenden Länder vollziehen wird. Aber der Beitrittsprozess läuft schon lange. Er hat schon zu erheblichen Veränderungen und Strukturanpassungsprozessen
geführt. Diese sind im Wesentlichen positiv verlaufen. Es
erscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, ebenso wie darauf, dass das Datum des Beitritts nur im europäischen
Gesamtprozess zu sehen ist.
Der zweite Punkt betrifft das Stichwort „politische
Steuerungsfähigkeit“. Vielleicht gibt es einen geheimen
oder verborgenen Zusammenhang zwischen BSE-Krise
und Erweiterung. Ich glaube, dass viele Menschen das
Vertrauen in die politische Steuerungsfähigkeit und Problemlösungsfähigkeit der EU verloren haben. Insofern ist
es wichtig, dass wir dem dadurch verursachten Akzeptanzverlust in der Bevölkerung entgegenwirken, indem wir den Erweiterungsprozess mit seinen Übergangsproblemen ernst nehmen und deutlich machen, dass wir
auch über politische Instrumente verfügen, um mögliche
Probleme in den Griff zu bekommen.
Der Hinweis auf die Perspektiven und Veränderungen
ist wichtig. Ich möchte das an zwei Bereichen deutlich
machen, und zwar zum einen an der Umweltproblematik
und zum anderen an der Frage der Freizügigkeit. Zum
Stichwort Perspektiven: Mit der Erweiterung besteht die
große Chance, dass die Umweltqualität in Gesamteuropa
durch die Übernahme des umweltrechtlichen Besitzstandes durch die Beitrittsländer nachhaltig verbessert wird.
Das ist ein Vorteil, und zwar nicht nur für die Menschen
in den Beitrittsländern, sondern auch für die Menschen in
den Staaten, die schon jetzt Mitglied in der Europäischen
Union sind. Darauf gilt es hinzuweisen.
Das Ziel ist uns allen klar, nämlich eine möglichst
schnelle und vollständige Übernahme des umweltrechtlichen Acquis zu erreichen. Dabei ist uns natürlich bewusst,
dass einer solchen schnellen Übernahme auch Grenzen
gesetzt sind. In Studien wird davon ausgegangen, dass
120 Milliarden Euro notwendig sind, um dem Investitionsbedarf im Umweltbereich Rechnung tragen zu können. Insofern gibt es auch hier eine Gratwanderung, den
Versuch, auf der einen Seite den Interessen an einem zügigen Beitritt, an einer schnellen Übernahme Rechnung
zu tragen, auf der anderen Seite aber die Menschen, die
Beitrittsstaaten nicht zu überfordern.
Wir müssen in diesem Zusammenhang aber deutlich
sagen, dass es bestimmte Bereiche gibt, in denen wir nicht
großzügig sein können. So darf es unseres Erachtens in
der Frage der Atomkraftwerke keinen Sicherheitsrabatt
geben.
({1})
Wir unterstützen alle Bemühungen, zu gemeinsamen Energiestrategien mit Stilllegungsplänen und Maßnahmen zur
Erneuerung des Energiesektors in den Beitrittsländern zu
kommen.
Wir betrachten die Initiative der Bundesregierung bei
der EBRD, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und
Entwicklung, mit großer Sympathie. Wir unterstützen die
Bemühungen, einen Fonds zur Finanzierung der Stilllegung von AKWs einzurichten. Es gibt eine klare Linie, die
deutlich macht, dass es in zentralen Bereichen keine Rabatte, keinen Nachlass geben darf. Es darf nicht zu dem
kommen, was wir mit dem Stichwort „Umweltdumping“
bezeichnen.
Der zweite Bereich ist der der Freizügigkeit. In diesem
Bereich stellen wir meiner Ansicht nach sehr deutlich unsere
politischen Steuerungsfähigkeiten unter Beweis. Die Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, reichen von einem völligen Verzicht auf irgendwelche Fristen und einem Allesdem-Markt-Überlassen über die Forderung nach Fristen
von zehn und mehr Jahren bis hin zu der weitestgehenden Forderung, eine Freizügigkeit erst dann zuzulassen,
wenn das Lohnniveau weitgehend angeglichen ist.
({2})
Ich glaube, dass die aktuell diskutierten Vorschläge sowohl der Bundesregierung als auch der Kommission die
erforderliche Flexibilität und politische Steuerungsfähigkeit unter Beweis stellen. Es geht darum, der Ungewissheit der Prognosen Rechnung zu tragen und Interessen
auszugleichen. Das heißt, es muss auch die Perspektive
der Beitrittsländer gesehen werden, die nicht wollen, dass
wir ihre Märkte für uns öffnen, dass aber ihre Menschen
keine Freizügigkeit genießen dürfen.
Insofern ist ein flexibles Übergangssystem das Entscheidende.
({3})
Das ist das, was der Bundeskanzler angekündigt hat. Das
ist das, was das Optionenpapier der Kommission als
- meiner Einschätzung nach - realistische Lösung vorsieht. Es sollten also keine festen Fristen, sondern flexible
Überprüfungszeiten vorgesehen sowie regionale und sektorale Differenzierungen ermöglicht werden. All dies erscheint mir sehr wichtig, um auf mögliche Probleme, die
wir alle nicht genau prognostizieren können, adäquat reagieren zu können. Insofern ist es völlig unangemessen,
wenn Sie, Herr Haussmann, auf die sieben Jahre, die in
der Rede des Herrn Bundeskanzlers genannt worden sind,
starren. Es empfiehlt sich, nicht immer nur Überschriften
in Zeitungen zu lesen, sondern sich Reden und Vorschläge
vollständig anzuschauen. Wenn Sie das tun, dann werden
Sie feststellen, dass Flexibilität das entscheidende Stichwort bei den Vorschlägen der Bundesregierung und auch
Leitlinie für das ist, was die Kommission im Augenblick
vorschlägt. Insofern geht das, was die Bundesregierung
hierzu vorschlägt, meiner Ansicht nach in die richtige
Richtung. Damit erhalten wir uns die Fähigkeit zu politischer Steuerung und die Möglichkeit, die Interessen der
Menschen bei uns, aber auch in den Beitrittsländern angemessen zu berücksichtigen.
Wenn wir, wie in dieser Debatte, darin übereinstimmen, dass die Chancen der Erweiterung erheblich überwiegen und wir alles tun müssen, um diese Chancen zu
optimieren und die Risiken zu minimieren, dann haben
wir auch eine gute Chance, der wachsenden Skepsis in der
Bevölkerung gegenüber diesem Erweiterungsprozess entgegenzuwirken. Ich glaube, wir müssen den Menschen
ganz deutlich machen: Die zukünftigen Probleme wären
ohne die Erweiterung viel größer. Wir hätten viel mehr
Anlass zu Sorge und zu Zukunftsängsten, wenn es diesen
Erweiterungsprozess nicht gäbe.
Vielen Dank.
({4})
Nun hat die Kollegin
Gudrun Roos von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Erweiterung der Europäischen
Union - darin sind wir uns einig - eröffnet vielfältige
Chancen für beide Seiten, für die Beitrittsländer und für
die Mitgliedstaaten. So bietet sich die einmalige Gelegenheit, eine gesamteuropäische Umweltpolitik zu gestalten; Herr Sterzing hat das bereits gesagt. Dies wird positive Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten haben und
kann das politische Gewicht der EU in der internationalen
Umweltpolitik stärken, was nicht nur angesichts der weltweiten Klimaproblematik dringend geboten ist.
Die europäische Umweltpolitik ist kein abgeschlossenes Projekt. Zwar fordern wir von den Beitrittsstaaten zu
Recht, dass sie den Umweltschutz in andere Politikbereiche integrieren oder nach den Kriterien der Nachhaltigkeit
wirtschaften, wir müssen aber auch feststellen, dass die Erledigung dieser Hausaufgaben in den Mitgliedstaaten teilweise schon lange vor sich hergeschoben wird.
({0})
Wie in der Energiepolitik - spätestens seit der Katastrophe von Tschernobyl, wenn auch zögerlich - erneuerbare Energien marktfähig gemacht werden und wir seither
an der Energiewende arbeiten, so stehen nun auch in der
Verkehrs- und der Landwirtschaftspolitik umweltverträgliche, nachhaltige Lösungen ganz oben auf der Prioritätenliste der Politik.
({1})
Deshalb unterstützen wir die Beitrittsstaaten zu Recht dabei, die erheblichen Sicherheitsdefizite in Auslegung und
beim Betrieb von Atomkraftwerken zu beseitigen und
drängen auf die Stilllegung hochriskanter Reaktoren.
({2})
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, dass ich
- angeregt durch die aktuelle Diskussion - den Bereich
der Landwirtschaft als Beispiel für europäische Umweltpolitik im Lichte der Erweiterung anspreche. Die mit
annähernd der Hälfte des EU-Haushalts hoch subventionierte Agrarproduktion hatte mit Nachhaltigkeit oder
Umwelt- und Naturschutz sehr wenig zu tun.
({3})
Schon lange vor der Verbreitung der Maul- und Klauenseuche, der Infizierung von Kühen mit Tuberkulose, der
Mästung von Schweinen mit Hormonen oder der Ausbreitung von BSE war die Aufzucht von Tieren für unsere
fleischlastige Ernährung durchaus nicht artgerecht und
nicht naturgemäß.
({4})
Was jahrzehntelange Kritik an einer verfehlten Subventionspolitik der Europäischen Union nicht vermocht hat,
konnte infolge der Verunsicherung der europäischen Konsumentinnen und Konsumenten erreicht werden - allzu
spät.
({5})
Wer in den letzten Monaten nicht nur über Alternativen
zum täglichen Fleisch auf der eigenen Speisekarte nachgedacht hat, sondern auch über dessen bisherige Produktions- und Verteilungsbedingungen, dem wurde klar: Es
geht auch um andere Verhaltensweisen, um eine andere
Lebensweise. Es geht um einen umweltgerechteren Lebensstil der Menschen, der damit einen Beitrag zu artgerechter Tierhaltung leistet.
Ich hatte es zu Beginn gesagt: Die Landwirtschaft ist
nur ein sinnfälliges aktuelles Beispiel. Diese Krise hat jeder und jedem klargemacht: Der unbegrenzte Verbrauch
von Ressourcen, die Verschwendung von Rohstoffen und
die Missachtung der Natur sind nicht nur nicht umweltschonend, sondern für die Menschen auf Dauer einfach
unbekömmlich. Was ist es für ein Glück, auch für die Beitrittsstaaten, dass dieser Umdenkungsprozess in der europäischen Politik nicht erst nach dem Beitritt, sondern
jetzt begonnen hat!
Die Chancen, die sich damit auftun, sollten wir gemeinsam und in einem viel intensiveren Dialog als bisher
nutzen, und das in vielen Bereichen: in der Industriepolitik, in der Verkehrspolitik, in der Energiepolitik und natürlich in der Umweltpolitik. Es gilt, verstärkt eine Politik zu
betreiben, die auf zukunftsverträgliches Wachstum ausgerichtet ist, die ressourcenschonende Produktionsweisen
unterstützt und die Nutzung regenerativer Energien sowie
kurze, sinnvolle Verteilungs- und Vertriebswege für ökologisch vorteilhafte Produkte fördert.
({6})
Wir wissen, dass der umweltpolitische Handlungsbedarf in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern
zwar besonders hoch ist;
({7})
aber gleichzeitig sind die Naturräume bei weitem nicht so
zerschnitten, zersiedelt und versiegelt wie in der EU.
({8})
In diesen Ländern liegen zahlreiche einzigartige, schützenswerte Naturflächen.
({9})
Eine Verstärkung des Dialogs kann verhindern, dass in
den Beitrittsländern die umweltpolitischen Fehler der
EU-Vergangenheit wiederholt werden. Die gezielte Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien kann dabei eine große Hilfe sein. Dazu
gehört vordringlich eine schnellere Vernetzung der Umweltbehörden der Mitgliedstaaten untereinander und eine
schnellere Vernetzung der Umweltbehörden mit den Beitrittsländern sowie eine umfassende Information der Bürgerinnen und Bürger, abrufbar per Internet. Fort- und Weiterbildung in diesem Bereich sollten eine hohe Priorität
erhalten.
Wir alle wollen eine stärkere Einbeziehung der Bevölkerung in diesen Prozess. Wir brauchen einen intensiveren
Wissensaustausch zwischen örtlichen Organisationen in
den Mitgliedstaaten und zwischen den örtlichen Organisationen in den Kandidatenländern. Daher sollten Nichtregierungsorganisationen in den Bereichen Umweltschutz, Gesundheit und Verbraucherschutz vor allem beim
Aufbau und bei der Pflege von Umweltnetzwerken finanziell und organisatorisch effektiver unterstützt werden.
Die wirkungsvollste Art des länderübergreifenden politischen Dialogs ist jedoch die persönliche Begegnung
der Menschen; wir alle wissen das. Begegnungen können
wertvolle Erkenntnisse vermitteln und nachhaltig vertrauensbildend sein. Wir sollten sie auf jeder Ebene unterstützen und wann immer möglich selbst wahrnehmen.
Danke.
({10})
Kollegin Roos, das
war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu, auch weil Sie gleich zu Beginn Ihre Redezeit eingehalten haben. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Nun erteile ich dem Kollegen Klaus Hofbauer,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! Die Erweiterung oder, besser gesagt, die
Einigung der Europäischen Union ist ein Projekt von historischer Dimension. Die Aufnahme von Staaten Mittelund Osteuropas in die Union gewährt die dauerhafte Sicherung des Friedens, der politischen Stabilität und des
Wohlstandes in Europa. Beim Gipfel in Nizza stand die
Osterweiterung im Mittelpunkt der Verhandlungen. Bei
weitem nicht alle Erwartungen - darüber sind wir uns alle
klar - wurden erfüllt.
({0})
Aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist eines
der erfreulichen Ergebnisse, dass die Vereinbarung des
Post-Nizza-Prozesses in Gang gebracht wurde. Für die
Akzeptanz der EU ist es zwingend geboten, die Verträge
zu vereinfachen, transparent zu gestalten und mit klaren
Verantwortungszuweisungen zu versehen.
({1})
Hinzu kommt, dass wir auch eine klare Verlagerung von
Kompetenzen nach unten anstreben müssen.
({2})
Mit diesem Auftrag der Kompetenzabgrenzung wird eine
zentrale Forderung der CDU/CSU-Fraktion und insbesondere unseres bayerischen Ministerpräsidenten,
Edmund Stoiber, erfüllt. Lange Zeit - dies möchte ich
deutlich feststellen - hat sich die Bundesregierung unserer Forderung widersetzt.
Ein zweiter großer Erfolg von Nizza ist, dass die Kommission beauftragt wurde, ein EU-Programm zur Förderung der Grenzregionen vorzulegen. Die CDU/CSUFraktion hat vor wenigen Monaten einen entsprechenden
Antrag eingebracht.
({3})
Ich bedauere sehr, dass die rot-grüne Koalition aus rein
parteipolitischen Gründen diesen Antrag ablehnt. Ein
eigener Antrag der Koalition wurde erst aufgrund unserer
Initiative vorgelegt. Er ist vage formuliert und ohne jegliche konkrete Aussage.
({4})
Eine weitere entscheidende Voraussetzung für das Gelingen der Osterweiterung ist die Vereinbarung von konkreten Beitrittsmodalitäten, die die wirtschaftlichen und
sozialen Verwerfungen infolge der Erweiterung mindern
und - das ist unsere Meinung - total ausschließen müssen.
Warum brauchen wir diese Übergangsregelungen? Der
entscheidende Grund dafür ist, dass das Lohn- und Wohlstandsgefälle auch nach dem Beitritt bestehen bleibt. In
einem Punkt bin ich sehr realistisch: Dieses Gefälle hat
auch positive Seiten, die wir nutzen sollten und die insbesondere im Grenzland genutzt werden. Durch die so genannte Mischkalkulation können nämlich Arbeitsplätze
bei uns gesichert und erhalten werden.
({5})
Diese Chance müssen wir nutzen. Das macht die
Entscheidung, Übergangsregelungen zu schaffen, etwas
schwerer.
Es wird sehr viel von Migration gesprochen. Erlauben
Sie mir, das Problem der Tages- und Wochenpendler, das
sich in den Grenzregionen ergibt und das wir besonders
berücksichtigen müssen, in die Diskussion einzubringen.
Eine Schulklasse in meiner Heimatstadt Cham hat eine
Umfrage zum Stand der Osterweiterung durchgeführt:
48 Prozent der Bürgerinnen und Bürger akzeptieren die
Osterweiterung. Wenn wir jetzt noch klare Antworten auf
die Fragen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, zur Kriminalität, zur Landwirtschaft und zum Umweltschutz geben,
dann wird die Akzeptanz sprunghaft nach oben steigen.
Diese Chance müssen wir nutzen. Darin liegt die Herausforderung.
({6})
Ich möchte ein ganz konkretes Beispiel aus der Praxis
anführen, wie wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit gestalten können: Seit ungefähr zehn Jahren, nämlich seit Öffnung der Grenzen, kennen wir in den Grenzregionen die
so genannte Grenzgänger-Regelung. Ich persönlich bin
der Meinung, dass sich diese Regelung in der Praxis bewährt hat. Unterziehen wir diese Regelung einer kritischen Beurteilung! Arbeiten wir die Vorteile, Chancen
und Möglichkeiten, aber auch die Schwächen heraus!
Entwickeln wir eine Übergangsregelung!
({7})
Ich möchte an dieser Stelle ein Anliegen des Mittelstandes und des Handwerks ansprechen. Ich habe vorhin
gesagt, dass für manche Unternehmen, insbesondere im
produzierenden Bereich, die Chance in der Mischkalkulation liegt. Mittelständische Betriebe, die nicht produzieren und die insbesondere im Dienstleistungsbereich tätig
sind, können dies aber nicht tun, weil sie die Arbeit nicht
auslagern können. Deswegen fürchten diese Betriebe,
dass sie erhebliche Schwierigkeiten bekommen werden.
Mir ist bewusst, dass das Thema „Übergangsfristen“
kritisch diskutiert wird. Ich halte es in diesem Zusammenhang nicht für richtig, einfach eine Zahl in den Raum
zu stellen. Durch die Rede des Herrn Bundeskanzlers ist
ein Übergangszeitraum von sieben Jahren in das Bewusstsein der Bevölkerung gelangt. Die Menschen sind jetzt
der Meinung, die Probleme würden um sieben Jahre verschoben und sie würden erst dann anfangen.
({8})
Dies ist natürlich eine falsche Interpretation, wie sich eine
Übergangsregelung auswirkt. Wegen der Sorgen der
Bevölkerung brauchen wir Übergangsregelungen, die
länderspezifisch differenziert sind, die ständig überprüft
werden und die in einem überschaubaren Zeitraum auf
Null zurückgefahren werden. Nur so können sie überhaupt Sinn machen.
({9})
Erlauben Sie mir eine Schlussbemerkung. Als Abgeordneter eines Wahlkreises, der unmittelbar an der tschechischen Grenze liegt, möchte ich deutlich feststellen,
dass es schon sehr viele Aktivitäten gibt. Ich nenne beispielsweise die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Die Menschen, die sich hier engagieren, sind die
Wegbereiter und die Botschafter für die Osterweiterung,
ob es die Kommunalpolitiker, die Schulen oder die Euregios sind. Man könnte noch viel mehr aufzählen.
({10})
Schlussbemerkung: Nutzen wir die Chancen, kehren
wir aber die Probleme und die Sorgen der Menschen nicht
unter den Tisch! Wir müssen die Menschen mitnehmen.
Wenn uns dies gelingt - nicht mit Plakaten, sondern mit
konkreten Aktionen -, dann wird die Osterweiterung erfolgreich abgeschlossen werden.
Danke schön.
({11})
Nun erteile ich dem
Kollegen Winfried Mante, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich glaube, am Ende der
Debatte kann man mit Leidenschaftslosigkeit, aber doch
mit Genugtuung feststellen, dass bei der Bewertung der
Beitrittsfolgen für Deutschland und Europa trotz einiger
Gegensätze im Detail und auch einiger Polemik, die dazugehört, in den wesentlichsten Punkten quer durch die
Parteien große Übereinstimmung herrscht.
({0})
Das sieht man auch an den vorliegenden Anträgen,
wenn man sie sich durchliest. Viele werden es nicht getan
haben, aber ich habe es getan. Sie zeigen: Die Erweiterung wird nicht nur politische Stabilität und Wohlstandsgewinne in den Beitrittsländern bringen, nein, auch die
Europäische Union und insbesondere Deutschland werKlaus Hofbauer
den zu den Gewinnern einer größeren europäischen Gemeinschaft zählen.
Auch unsere Regionen an den Grenzen zu Polen und
Tschechien, die heute besonders in der Diskussion waren - auch ich komme, wie mein Kollege Hofbauer, aus
einer Grenzregion, nämlich Brandenburg -, werden, auf
Dauer betrachtet, zu den Gewinnern zählen; denn sie werden sich nachhaltig positiv entwickeln. Natürlich ist klar,
dass insbesondere diese Grenzregionen durch die Erweiterung zunächst einem verstärkten Anpassungsdruck ausgesetzt werden, der die vorhandenen Strukturschwächen
noch verstärken könnte. Das ist uns nicht verborgen geblieben und das sorgt unsere Bürgerinnen und Bürger in
diesen Regionen zu Recht; denn sie befürchten, dass der
noch nicht abgeschlossene Prozess der Angleichung der
Lebensverhältnisse zwischen Ost und West einen Abbruch erleiden könnte.
Wir Sozialdemokraten nehmen diese Sorgen ernst.
Deswegen wollen wir, dass sich die Grenzregionen vor
den ersten Beitritten für ein erweitertes Europa fit machen.
({1})
Soweit die Regionen und die Wirtschaft dazu aus eigener
Kraft nicht in der Lage sind, muss die Europäische Union,
müssen Bund und Länder gemeinsam und abgestimmt
handeln. Bereits jetzt steht den Grenzregionen bis 2006
ein breites Spektrum strukturpolitischer Instrumente
zur Verfügung. Hier sind sicher Verbesserungen hinsichtlich der Erhöhung der Flexibilität und Effizienz
sowie der Koordinierung nötig und möglich. Aber ich
halte eine spezifische Stärkung dieser Instrumente für
genauso erforderlich.
({2})
Dieser Förderrahmen - das wurde ebenfalls hier angesprochen - darf nach 2006 nicht abbrechen.
Im Mittelpunkt der verstärkten Anstrengungen müssen
die Förderung der Wirtschaft, die Entwicklung der Arbeitsmärkte, die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur
sowie die soziale und kulturelle Vorbereitung der Bevölkerung auf den Beitritt stehen.
({3})
Allerdings - das ist mir genauso wichtig - dürfen wir
Europa und die Erweiterung nicht zum Sündenbock jedweder Entwicklung machen.
({4})
Die Probleme des Arbeitsmarktes, des Strukturwandels
und der Kriminalitätsentwicklung in den Grenzregionen
müssen notwendigerweise auch ohne Erweiterung gelöst
werden. Dringend erforderlich wäre auch - das fordern
wir schon seit Jahren - eine bessere Verknüpfung der europäischen Fördertöpfe Interreg und PHARE CBC. Damit
können wir Projektförderung wirklich grenzüberschreitend betreiben.
Wir brauchen vor allem eine ehrliche Debatte, die weder beschönigt noch Probleme dramatisiert. Tatsache ist,
dass es schon jetzt zahlreiche positive und nachhaltige
Beispiele grenzüberschreitender Entwicklung gibt.
Wir reden nur leider viel zu wenig darüber. Es gibt Wirtschaftsfördergesellschaften, die sich um deutsche Firmen
in Polen und umgekehrt kümmern. Schulen und Universitäten haben sich zu deutsch-polnischen Gemeinschaftseinrichtungen entwickelt. Vereine, Institutionen,
Städte und Gemeinden haben Partnerschaften, die die
Menschen zusammenführen, und das seit Jahren. Mein
Land Brandenburg mit 235 Kilometern Grenze zu Polen
leistet selbst Erhebliches zur grenzüberschreitenden Entwicklung und ist von jeher ein Motor der deutsch-polnischen Beziehungen.
({5})
Tatsache ist auch, dass zahlreiche Unternehmen gerade
aus den Grenzregionen die Chancen schon jetzt ergriffen
haben, die sich in den Wachstumsregionen Mittel- und
Osteuropas bieten. Nicht von ungefähr verzeichnet das
Statistische Jahrbuch, dass rund 10 000 Deutsche jedes
Jahr nach Polen übersiedeln. Das ist ein deutliches Signal;
denn damit liegt Polen an zweiter Stelle hinter den USA.
Auch warten viele Unternehmen geradezu auf den Grenzwegfall und vereinfachte Grenzbedingungen. Sie warten
allerdings auch auf neue Brücken und neue Verkehrswege; denn diese sind die Voraussetzung für Handel, Begegnungen und Wirtschaftskontakte.
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine ehrliche
Debatte, eine tief gehende Informationskampagne und
eine abgestimmte Flankierungsstrategie von Europa,
Bund und Ländern. Die SPD-Bundestagsfraktion hat
bereits im Juni 2000 mit der Beschlussfassung zur „Flankierung des Erweiterungsprozesses“ die politische Initiative ergriffen und die Weichen für die regionalen Beitrittsvorbereitungen gestellt. Wir sind nicht, wie es der
Kollege Hofbauer behauptet hat, mit unserem Antrag aus
dem Dezember den Anträgen der Opposition hinterhergelaufen. Wir haben, wie gesagt, bereits im Juni, also noch
vor der Sommerpause, etwas vorgelegt. Herr Türk, hätten
Sie aufgepasst, wäre das an Ihnen nicht vorübergegangen.
({6})
Auch mit dem heute vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen geben wir den Bürgerinnen und Bürgern
eine klare Botschaft. Ich vertraue darauf, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung so gerecht wird, wie es
die Bürgerinnen und Bürger gerade in den Grenzregionen
zu Recht erwarten. Schließlich wollen und müssen wir die
Menschen auf den Weg in eine erweiterte Europäische
Union mitnehmen, zu der es wirtschaftlich und politisch
keine Alternative gibt, wie wir alle wissen.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen
und Überweisungen, weswegen ich um Aufmerksamkeit
bitte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 14/5448 zur federführenden Beratung an den Aus-
schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den
Innenausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Tech-
nologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten, den Ausschuss für Arbeit und Sozialord-
nung, den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs-
wesen, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit und den Ausschuss für Angelegenhei-
ten der neuen Länder zu überweisen. Gibt es dazu ander-
weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
der F.D.P. auf Drucksache 14/5461. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Bei Enthaltung der CDU/CSU und der PDS ist der
Antrag mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen abgelehnt.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf
Drucksache 14/5475, und zwar zunächst zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen mit dem Titel „Flankierung der Erweiterung der Eu-
ropäischen Union als innenpolitische Aufgabe“, Drucksa-
che 14/4886. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung die Annahme dieses Antrags. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung von CDU/CSU und
PDS angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Die deutschen Grenzregionen
auf die EU-Erweiterung durch einen Grenzgürtel-Akti-
onsplan vorbereiten“, Drucksache 14/4643. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5447 und 5454 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 g
auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes
und der Bundespflegesatzverordnung ({0})
- Drucksache 14/5396 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes
- Drucksache 14/4925 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, des
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der
PDS
Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt
- Drucksache 14/5456 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der
CDU/CSU, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
der F.D.P.
Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum
neuen Jahrtausend
- Drucksache 14/5243 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({4}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy,
Dr. Klaus W. Lippold ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Neuer Schwung für das System Schiene
- Drucksache 14/5316 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Jörg van Essen, Dirk Niebel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissio-
nen verkürzen - Rahmenbedingungen verbes-
sern
- Drucksache 14/4536 -
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold
Hemker, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie
der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack,
Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({7}),
Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Freiwillige Agrar-Umwelt/Sozial-Zertifizierung
für Entwicklungsländer
- Drucksache 14/4802 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Wir kommen nun zur Beschlussfassung über eine
Reihe von Punkten, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe Punkt 20 a der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens zum Schutz der Meeresumwelt des
Nordostatlantiks ({9})
- Drucksache 14/3949 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11})
- Drucksache 14/5217 Berichterstattung:
Abgeordnete Anke Hartnagel
Kurt-Dieter Grill
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss für Naturschutz, Umwelt und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/5217, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 20 b der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. Februar 1999 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und dem Königreich Kambodscha
über die Förderung und den gegenseitigen
Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/4706 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
- Drucksache 14/5260 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt
auf Drucksache 14/5260, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltungen der PDS ist der
Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe Punkt 20 c der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. September 1998 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Gabunischen Republik
über die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen
- Drucksache 14/4708 ({13})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14})
- Drucksache 14/5261 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt
auf Drucksache 14/5261, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! Stimmenthaltungen? - Wiederum bei Enthaltungen der
PDS ist der Gesetzentwurf angenommen.
Ich rufe Punkt 20 d der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({15}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert,
Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Übergangsregelungen bei der Einführung
des Kapitalgesellschaften- und Co-RichtlinieGesetzes
- Drucksachen 14/3078, 14/5144 Berichterstattung:
Abgeordnete Christine Lambrecht
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3078 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Gegen die Stimmen der PDS ist der Beschlussempfehlung
gefolgt und dieser Antrag abgelehnt worden.
Ich rufe Punkt 20 e der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Grünbuch zur Umweltproblematik von PVC
KOM ({17}) 469 end.; Ratsdok.-Nr. 10861/00
- Drucksachen 14/4570 Nr. 3.1, 14/5156 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Carola Reimann
Dr. Paul Laufs
Winfried Hermann
Birgit Homburger
Eva Bulling-Schröter
Der Ausschuss für Naturschutz, Umwelt und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/5156, in Kenntnis
des Grünbuchs der Europäischen Kommission zur
Umweltproblematik von PVC eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Punkt 20 f der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({18}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Hildebrecht Braun ({19}), Rainer Brüderle,
Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Für eine vertiefte Partnerschaft zwischen
Russland und der EU
- Drucksachen 14/811, 14/5186 Berichterstattung:
Abgeordnete Gert Weisskirchen ({20})
Dr. Andreas Schockenhoff
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/811 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe Punkt 20 g der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 243 zu Petitionen
- Drucksache 14/5338 Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich
der Stimme? - Die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 20 h der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 244 zu Petitionen
- Drucksache 14/5339 Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich
der Stimme? - Bei Enthaltung der PDS ist diese Sammelübersicht angenommen.
Ich rufe Punkt 20 i der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 245 zu Petitionen
- Drucksache 14/5340 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Punkt 20 j der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 246 zu Petitionen
- Drucksache 14/5341 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich der Stimme? - Gegen die Stimmen der PDS, der
CDU/CSU und der F.D.P. ist die Beschlussempfehlung
angenommen.
Ich rufe Punkt 20 k der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 247 zu Petitionen
- Drucksache 14/5342 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen
Übereinkommen von 1989 über Bergung
- Drucksache 14/4673 ({26})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Bergungsrechts in der
See- und Binnenschifffahrt ({27})
- Drucksache 14/4672 ({28})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({29})
- Drucksache 14/5459 Berichterstattung:
Abgeordneten Joachim Stünker
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten
Helmut Wilhelm ({30})
Rainer Funke
Dr. Evelyn Kenzler
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/5459 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf
unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Seerechtsänderungsgesetzes, Drucksache 14/4672. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 14/5459 die Annahme des Gesetzentwurfes
in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Gesetzentwurf ist
einstimmig angenommen.
Nun rufe ich Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zur aktuellen
Haushaltssituation und offensichtlichen Unterfinanzierung der Bundeswehr
({31})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man das Drama um
die Finanzierung der Bundeswehr betrachtet, so stellt man
fest, dass im Zentrum ein und dieselbe Person, nämlich
Bundesverteidigungsminister Scharping, steht. Mit ihm
auf der Bühne befindet sich der Generalinspekteur Kujat
als Kulissenschieber.
({0})
Minister Scharping hat alle Mahnungen von Betroffenen, Verbänden und Medien sowie von der Opposition in
den Wind geschlagen. So geht der Haushalt 2001 an den
Bedürfnissen einer soliden Finanzierung der Bundeswehr
vorbei.
({1})
Minister Scharping hat es sogar abgelehnt, die Ratschläge
der Kommissionen, die er selber berufen hat, zu befolgen.
So hat zum Beispiel die Weizsäcker-Kommission richtigerweise eine Anschubfinanzierung der Bundeswehrreform angemahnt. Minister Scharping hat dies nicht
übernommen.
Minister Scharping ist die haushaltspolitische Realität
seines Verantwortungsbereiches entglitten. Stattdessen
übt er sich in Beschwichtigungsrhetorik. Er schönt, er
trickst und beschimpft all diejenigen, die auf die realen
Probleme der Bundeswehr hinweisen,
({2})
nämlich auf die schlechte Motivation, die miserable
Nachwuchslage, die unzureichende Materiallage, die
Streckungen und Aussetzungen bei den Beschaffungen
usw.
Trotzdem schwadroniert der Haushaltspolitiker
Metzger von den Grünen, die Bundeswehr könne mit keinem Pfennig mehr Geld rechnen. Er will weiter kürzen.
Die zukünftige Vorsitzende der Grünen spricht sogar von
einer guten Nachricht, wenn nicht noch mehr Geld in das
Militär gesteckt wird. Dazu sage ich für die F.D.P.: Die
Bundeswehr ist kein Selbstzweck. Die Bundeswehr erhält
den Auftrag von der Politik. Dann hat die Politik auch
dafür zu sorgen, dass die Finanzen stimmen.
({3})
Da muss sich auch der Außenminister der Grünen die
Frage gefallen lassen, wie er mit dieser unterfinanzierten
Bundeswehr die neue Rolle Deutschlands mit immer
mehr Verantwortung glaubhaft zu vertreten gedenkt. Die
internationale Glaubwürdigkeit und die Verlässlichkeit
Deutschlands als Bündnispartner in der Allianz sind ein
zu hohes Gut, als dass man sie den Grünen mit ihren Zielen überlassen darf.
Aber in dieser Angelegenheit reicht die Kraft von
Minister Scharping nicht aus. Deshalb erwarte ich von
Bundeskanzler Schröder höchstpersönlich ein Machtwort.
({4})
Tönte der Bundeskanzler noch Ende letzten Jahres ich zitiere - „Von Rudi lernen heißt siegen lernen“ und
versprach er diesem bei Amtsantritt noch, es werde
Vizepräsidentin Anke Fuchs
keinesfalls zu Kürzungen im Verteidigungsetat kommen,
so ist heute von diesen vollmundigen Versprechungen
nichts, aber rein gar nichts mehr übrig geblieben.
({5})
Kanzler Schröder lässt seinen Verteidigungsminister im
Regen stehen, wie wir gestern wieder einmal erlebt haben.
Noch nie war die Position eines Verteidigungsministers so
schwach wie zurzeit,
({6})
und das in dieser so entscheidenden Phase des Umbaus
der Bundeswehr. Aber gerade jetzt braucht die Bundeswehr einen starken Minister. Denn bei der Bundeswehr
handelt es sich um diejenige Institution, die für den
Schutz der entscheidenden Güter unseres Staatswesens
verantwortlich ist: für Frieden, für Freiheit, für Menschenwürde, auch außerhalb der Grenzen unseres eigenen
Landes.
({7})
Es ist das Drama dieses Ministers, dass er diese so einfache Erkenntnis noch nicht einmal in der eigenen Fraktion, bei den eigenen Genossen herüberbringen konnte.
Wie sonst sind die Ausführungen der SPD-Haushaltspolitiker Kröning und Wagner zu verstehen, die ebenfalls weitere drastische Kürzungen fordern?
({8})
Für die F.D.P. fordere ich daher den Verteidigungsminister und fordere ich die Regierung auf: Erhöhen Sie den
Verteidigungshaushalt auf 50 Milliarden DM und sorgen
Sie für Verstetigung! Bringen Sie endlich das lange angekündigte Attraktivitätsprogramm auf den Weg! Die
Menschen in der Bundeswehr warten darauf. Sorgen Sie
dafür, dass die Investitionsquote erhöht wird!
({9})
Legen Sie ein Konversionsprogramm auf, das die von der
Reduzierung der Bundeswehr betroffenen Kommunen
nicht auf einem finanziellen Scherbenhaufen zurücklässt.
Ein entsprechender Antrag der F.D.P.-Fraktion liegt vor.
Zeigen Sie den Angehörigen der Bundeswehr endlich
klare Perspektiven auf!
Auch als Oppositionspartei fühlen wir uns verantwortlich für die Parlamentsarmee Bundeswehr.
({10})
Deshalb bieten wir Ihnen auch weiterhin unsere Zusammenarbeit an. Dazu gehört allerdings, dass diese Regierung auch auf uns als Opposition zukommt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Peter Zumkley, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Finanzsituation der Bundeswehr
wird ohne jeden Nachweis behauptet und teilweise völlig
unkritisch weiterverbreitet: Das Haushaltsdefizit für 2001
belaufe sich auf 2 Milliarden DM;
({0})
wegen der Finanzprobleme erwäge das Verteidigungsministerium, auf den Kampfhubschrauber Tiger zu verzichten; darüber hinaus sollten in 2001 25 000 Wehrpflichtige
aus Sparzwängen nicht einberufen werden;
({1})
die Stationierungsentscheidungen müssten erneut auf den
Prüfstand, um Geld zu sparen.
All diese Behauptungen sind falsch. Sie entbehren jeder Grundlage.
({2})
Man merkt die Absicht, die dahinter steckt: durch Verbreitung von Gerüchten und durch Dramatisierung die Situation der Bundeswehr schlechter zu schildern, als sie in
Wahrheit ist.
({3})
Der Haushalt 2001 wird, meine Damen und Herren von
der Opposition, wie vom Parlament beschlossen ungekürzt und ohne Auflagen vollzogen. Die dringend notwendige Reform der Bundeswehr kann wie geplant begonnen werden.
({4})
Dazu gehören auch die Personalmaßnahmen zur Attraktivitätssteigerung.
Es gibt allerdings einen Mehrbedarf bei der Materialerhaltung in Höhe von 372 Millionen DM,
({5})
insbesondere bei Heer und Luftwaffe. Da gibt es auch
keinerlei Geheimnisse. Durch Umschichtungen im Verteidigungshaushalt wird dies, wie in der Vergangenheit
auch bei Ihnen häufig geschehen, im Rahmen des jährlichen Haushaltsvollzuges aus dem Einzelplan 14 gedeckt
werden.
({6})
Im Übrigen: Die Bugwelle bei der Materialerhaltung,
Kollege Rossmanith, gibt es schon seit 1994.
({7})
So wurden zu Zeiten der Vorgängerregierung die Depotbestände in großem Stil abgebaut, Waffensysteme kanniGünther Friedrich Nolting
balisiert und die Ersatzteilbestände nicht aufgefüllt. Es ist
auch nichts Neues, dass die Bundeswehr zurzeit noch
nicht voll bündnis- und europafähig ist. Das ist überhaupt
nichts Neues. Wir haben leider in den Streitkräften noch
die alten Strukturen und die Ausrüstung aus der Vergangenheit. Zugleich hat die Umstrukturierung auf die neuen
Aufgaben begonnen. Dies ist eine schwierige Phase für
die Streitkräfte, wie sie bei Umstrukturierungen häufig
nicht zu vermeiden ist.
Am Ende des Reformprozesses aber wird die Bundeswehr die neu gestellten Aufgaben und Erwartungen besser und vollständiger erfüllen können, als dies jetzt der
Fall ist.
({8})
So werden die Einsatzkräfte beträchtlich erhöht. Ich lasse
die Zahlen weg.
({9})
Das Material wird von Grund auf modernisiert. Alle Vorhaben für 2001, meine Damen und Herren der Opposition,
werden auch umgesetzt. Die Bundeswehr wird so strukturiert, dass sie ihre geänderten internationalen Verpflichtungen besser erfüllen kann.
({10})
Im Übrigen vermissen wir ein Alternativkonzept der
CDU/CSU. Sie müssen sich endlich einigen, wie Sie sich
die zukünftige Bundeswehr vorstellen, sowohl vom Umfang als auch vom Inhalt her. Wo bleiben eigentlich Ihre
Alternativen?
({11})
Keine Sachpolitik, keine Fachpolitik, keine Konzepte,
stattdessen Pauschalkritik gegenüber jedem Regierungshandeln!
({12})
Dabei könnte man über Reformkonzepte durchaus unterschiedlicher Meinung sein, wenn sie denn bei Ihnen vorhanden wären. Man könnte dann endlich in den Wettbewerb um die besseren Ideen eintreten. Auf jeden Fall
sollte aber die Auseinandersetzung so geführt werden,
dass die Bundeswehr keinen Schaden nimmt. Sie von der
Union, aber auch andere haben das Thema leider häufig
parteipolitisch instrumentalisiert.
({13})
Auch das heutige Thema gehört dazu.
({14})
Wir werden unseren Reformweg, der sicherheits- und
verteidigungspolitisch vernünftig und notwendig ist, im
Interesse unseres Landes, der eingegangenen Bündnisverpflichtungen und der Bundeswehr selbst fortsetzen.
Hierzu reichen die Haushaltsmittel für 2001, wenn auch
nur äußerst knapp, insgesamt aus.
- Vielen Dank.
({15})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Thomas Kossendey, CDU/CSUFraktion.
({0})
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haushaltswahrheit und
Haushaltsklarheit - nicht mehr, aber auch nicht weniger
fordern wir heute von Ihnen und von der Bundesregierung.
({0})
Der Haushalt, den Sie für 2002 vorgelegt haben, erfüllt
beide Bedingungen nicht. Weder besteht auf der Einnahmenseite Klarheit und Sicherheit, noch ist auf der Ausgabenseite eine Übersicht vorhanden, auf die man sich wirklich verlassen kann.
({1})
Bei den Einnahmen setzt der Minister eindeutig auf das
Prinzip Hoffnung, wenn er über 1 Milliarde DM als Erlös
aus der Veräußerung von Grundstücken, militärischem
Material und aus Rationalisierungsgewinnen erwartet.
Weder sind bis heute die Grundstücke identifiziert, die er
verkaufen will,
({2})
noch ist das Material aufgelistet, das er eventuell verkaufen möchte, noch ist bekannt, an wen und mit wessen Zustimmung, liebe Frau Beer.
({3})
Noch besteht völlige Unklarheit darüber, was im Bereich
der Rationalisierung wirklich eingespart werden kann.
Wer auf diese erhoffte Einnahme seine Ausgabenplanung
stützt, der erinnert mich an eine Hausfrau, die auf den für
Samstag erwarteten Lottogewinn hin schon am Montag
ihr gesamtes Haushaltsgeld ausgibt.
Im Bereich der Ausgaben herrscht ein ebensolches
Chaos. Wenn schon sechs Wochen nach Beginn des Haushaltsjahres die ersten Probleme im Bereich der Materialerhaltung auftauchen, ist dieser Haushalt entweder nachlässig erarbeitet worden oder ganz einfach zu knapp
gestrickt. Heute rächt sich offensichtlich, dass alle Warnungen der Opposition überheblich in den Wind geschlagen worden sind.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, mit dieser Operation Sparschwein verprellt der
Minister so ziemlich alle diejenigen, die in der Bundeswehr ihren Dienst tun. Sie verprellen darüber hinaus auch
alle diejenigen, auf die die Bundeswehr als Partner dringend angewiesen ist. Investitionslücken, die man identifiziert hat, kann man eben nicht durch radikales Sparen
schließen, sondern nur durch Investieren.
Wer auf der einen Seite beklagt, dass Deutschland nicht
auf Dauer weniger als die Hälfte dessen für Verteidigung
ausgeben kann, was Großbritannien, Frankreich oder Italien dafür aufwenden, kann auf der anderen Seite nicht
den Verteidigungshaushalt für die nächsten Jahre um
20 Milliarden DM kürzen. Haushaltspolitik kann man
nicht gegen Adam Riese planen und durchsetzen. Wer so
fahrlässig mit der Bundeswehr umgeht, muss sich fragen
lassen, wie ernst er es eigentlich mit der Rolle Deutschlands in Europa und im Bündnis meint.
({5})
Das ist nicht nur eine Frage an den Verteidigungsminister, sondern auch eine Frage an den Kanzler. Er hat gesagt: „Von Rudi lernen heißt siegen lernen.“ Ich glaube,
manche haben ihn falsch zitiert. Von Rudi lernen heißt siechen lernen - das scheint mir viel richtiger zu sein.
({6})
Der Kanzler ist nämlich derjenige, der als Erster das Parlament an der Nase herumgeführt hat. Wer war es denn,
der auf den Europagipfeln größere Verteidigungsanstrengungen angekündigt hat? Wer war es denn, der den Amerikanern eine Beteiligung an NMD angekündigt hat, ohne
dafür auch nur einen Groschen im Haushalt bereitgestellt
zu haben?
({7})
Nein, wir brauchen eine radikale Bestandsaufnahme.
Mein Vorschlag dazu ist: Wenn am Monatsende die vom
Minister angekündigte Planung für Material und Ausrüstung vorliegt, sollten wir uns zusammensetzen, um gemeinsam zu überlegen, welche großen Rüstungsvorhaben
in welcher Reihenfolge und mit welchem Zeitablauf in
den nächsten Jahren wirklich in Angriff genommen werden sollen. Wir sollten gemeinsam eine Vereinbarung treffen - nennen Sie es Programmgesetz, wie Richard von
Weizsäcker das getan hat -, nach der eine für die Bundeswehr verlässliche Planung über die nächsten Jahre, auch
über das Ende der Legislaturperiode hinaus, vorgenommen werden kann. Ich habe dies vor eineinhalb Jahren von
diesem Pult aus gefordert und dieser Vorschlag ist heute
aktueller denn je.
({8})
- Liebe Frau Kollegin Beer, gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung zu Ihnen. Wenn ich der Patient Bundeswehr wäre und sich dann Schwester Angelika meinem
Patientenzimmer nähern würde, liefe mir angesichts der
Methoden, mit der die eine oder andere Helferin in der
Vergangenheit ihren Patienten von seinen Leiden erlöst
hat, ein eiskalter Schauer über den Rücken.
({9})
Ich wiederhole meinen Vorschlag: Wir sollten gemeinsam versuchen, die Rüstungsplanung für die nächsten
Jahre, auch über die Legislaturperiode hinaus, zu beschließen. Nur das wird letztendlich dem Anspruch gerecht, den die Soldaten und die Bediensteten der Bundeswehr haben. Das erwartet auch die Bevölkerung von uns.
Ich kann nur an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Regierungsfraktionen, appellieren: Werden Sie diesem Anspruch bitte endlich gerecht!
Schönen Dank.
({10})
Nun erteile ich der
Kollegin Angelika Beer das Wort.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da ich
tatsächlich Arzthelferin war, fasse ich das jetzt als Lob
auf.
({0})
Nun zum Ernst der Debatte. Ich frage mich wirklich,
warum wir heute die von der F.D.P. beantragte Aktuelle
Stunde haben. Ich kann mich noch gut an die Wechselspiele zwischen dem ehemaligen Verteidigungsminister
Rühe und dem Finanzminister Waigel erinnern, in denen
der Bundeswehr zunächst immer zu viel Geld versprochen wurde und die Mittel im Laufe des Haushaltsjahres
de facto wieder gekürzt wurden.
({1})
Es ist interessant zu beobachten, wie aufgeregt Sie von
der Opposition, also auch von der F.D.P., nun weiter diskutieren und spekulieren, als wenn es den gestrigen Tag
gar nicht gegeben hätte.
({2})
Sowohl der Bundeskanzler als auch der Finanzminister
und der Verteidigungsminister haben eine einheitliche Position formuliert, die dem Gesamtkurs der rot-grünen Koalition entspricht.
({3})
Ich will hier noch einmal ganz klar sagen: Ich begrüße
ausdrücklich die klare Aussage vom Verteidigungsminister gegenüber Parlament und Öffentlichkeit, dass die derzeitigen Defizite, über deren Ursachen wir noch einmal
gesondert zu sprechen haben, aus dem laufenden Haushaltsansatz 2001 gedeckt werden und alle Spekulationen
über einen Nachtragshaushalt ohne jede Grundlage sind.
Ich gehe davon aus, dass dieser Konsolidierungskurs unserer Regierung auch in den nächsten Jahren eingehalten
wird.
Wir sind nach der Übernahme der Regierungsverantwortung darangegangen, die Versäumnisse des ehemaligen Verteidigungsministers Volker Rühe aufzuarbeiten.
Wir haben es geschafft, den Reformstau in der Bundeswehr aufzubrechen und die Neuausrichtung der Bundeswehr in die Haushaltskonsolidierung einzupassen. Das ist
nach nur zwei Jahren ein Ergebnis, das sich durchaus sehen lassen kann.
({4})
Der Kabinettsbeschluss vom 14. Juni 2000 hat deutlich gemacht, dass der Einstieg in den lange dauernden
gesellschaftspolitischen Reformprozess - dazu gehört
auch die Bundeswehr - von allen gewollt und praktiziert
wird. Allen Beteiligten, den Bundeswehrangehörigen
und den Politikern, war klar, dass diese Reform erstens
unverzichtbar ist und zweitens schwierig sein würde.
Aber ein komplexer Prozess wie diese Reform lebt davon, dass sich etwas bewegt. Reform heißt Bewegung
und nicht Stillstand. Nichts anderes als das - Stillstand haben Sie, Herr Kollege Kossendey, heute wieder aufgezeigt.
({5})
Wir Grünen - das ist bekannt - hätten uns die Reformen weitgehender gewünscht, weil wir glauben, dass wir
zur Erfüllung der internationalen Anforderungen klare
Schnitte brauchen, um die Planungssicherheit für die Zukunft zu gewährleisten.
({6})
Ich bin überzeugt, dass die Weizsäcker-Kommission
hierzu wichtige Eckpunkte, die weiterhin unsere Linie bestimmen werden, aufgezeigt hat.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU und
insbesondere von der CSU, ich finde, Sie betreiben heute
ein leicht durchschaubares Spiel,
({7})
das vor dem Hintergrund der Versäumnisse Ihrer Regierungszeit in den 90er-Jahren bei Leuten, die ein gutes Gedächtnis haben, so etwas wie Komik erzeugt.
({8})
Zumindest eine komische Komponente kann man dieser
Aktuellen Stunde nicht abstreiten.
Ihre Komik allerdings verliert an Unterhaltungswert,
weil Sie weiterhin vollkommen konzeptionslos in den
Schützengräben des Kalten Krieges agieren wollen und
nicht begreifen, dass die Herausforderungen der Zukunft
andere sind und der Kalte Krieg aber tatsächlich ad acta
gelegt worden ist. Deswegen sind wir in die Regierung
gewählt worden.
({9})
Ihr Kollege Volker Rühe bemühte sich in den letzten
Tagen auf der internationalen Ebene, unsere Regierung in
Misskredit zu bringen, weil er sich nicht traut, im eigenen
Land die Verantwortung für den eigenen Schaden zu übernehmen; denn wenn die Bundeswehr teilweise ein Ersatzteillager ist, dann aufgrund seiner Versäumnisse.
({10})
Dieses Auftreten ist nichts anderes als peinlich und die Inkaufnahme eines außen- und innenpolitischen Schadens
für die Bundesrepublik Deutschland. Das ist an dieser
Stelle eindeutig zurückzuweisen.
Ihr strategieloses Agieren - da beziehe ich mich auch
auf den gestrigen und den heutigen Tag - kann ich nur wie
folgt zusammenfassen: Sie sind in der Realität des
21. Jahrhunderts nicht bündnisfähig.
({11})
Die Bundeswehr der Zukunft wird in eine Politik der
präventiven Außen- und Sicherheitspolitik eingebettet
sein. Die Konzepte der Prävention werden neu formuliert.
({12})
Die Struktur der Bundeswehr wird grundlegend geändert
und modernisiert. Dies ist ein gesamtgesellschaftliches
Interesse, das wir wahrzunehmen haben. Ich stelle heute
fest, dass sich die so genannte Volkspartei CDU offensichtlich bewusst aus dieser gesamtgesellschaftlichen und
politischen Aufgabe verabschiedet hat.
({13})
Das Wort hat nun der
Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu dem Thema der
Aktuellen Stunde spreche, möchte ich an dieser Stelle Ihnen, sehr geehrte Frau Präsidentin, und allen Frauen zum
heutigen 8. März, dem Internationalen Frauentag, herzlich gratulieren.
({0})
Nach diesem Glückwunsch komme ich zu dem sehr
ernsten Thema der Aktuellen Stunde. Minister Scharping
hat offensichtlich selbst Meldungen lanciert,
({1})
wonach die Bundeswehr in eine Finanzkrise geschlittert
sei. Das hört man aus Koalitionskreisen. Er tut dies wohl
mit der Absicht, vom Kanzler und von dessen Finanzminister rasch Zusagen über mehr Gelder für den Etat 2002
und die Etats der Folgejahre zu erheischen.
Schon jetzt aber ist der Verteidigungsetat mit 46,8 Milliarden DM etwa 40-mal höher als der Bundesumwelthaushalt. Da stimmt wohl bei Rot-Grün etwas nicht. Ich
wende mich damit auch an Sie, liebe Kollegin Beer.
({2})
- Sie haben doch vor einigen Jahren ganz anders argumentiert. So schnell können Veränderungen geschehen.
({3})
Wofür braucht Herr Scharping nun mehr Geld? Er will
es doch offenbar nicht dafür einsetzen - dabei würden wir
ihn unterstützen -, um endlich die Angleichung der Besoldung der Zeit- und Berufssoldaten in Ost- und Westdeutschland zu vollziehen.
({4})
Dafür hat sich die PDS eingesetzt und sie wird sich weiter dafür einsetzen.
({5})
Für einen solchen Schritt, liebe Kollegin Beer, der vergleichsweise wenig kostet, ist Herr Scharping einfach zu
feige.
({6})
Nicht einmal den Bundesrat oder die kommunalen Spitzenverbände müsste er dazu befragen. Der Soldatenminister ist in dieser Entscheidung frei. Nur der Bund ist dafür
zuständig. Ausflüchte werden nicht mehr akzeptiert.
({7})
Kollege Scharping will mehr Geld, aber nicht im Millionenpack, sondern im Milliardenpack. Er braucht diesen
Geldsack, um den Umbau der Bundeswehr zu einer hoch
mobilen und international agierenden Interventionsarmee
zu finanzieren. Das lehnt die PDS ganz entschieden ab.
Die Beteiligung an Kriegen wird in dieser Konzeption
ausdrücklich eingeplant. Das ist ein sehr ernstes Thema,
wie der Einsatz der deutschen Bundeswehr im unsäglichen Krieg gegen Jugoslawien zeigt. Ich halte das für ein
sehr ernstes Thema.
({8})
Es war ein Krieg, der Tausende Tote und Schwerstverletzte gebracht hat. Daneben hat er immense materielle
und Umweltschäden angerichtet. Sein erklärtes Ziel aber,
eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, hat dieser
Krieg verfehlt. Das ist fürwahr eine schlimme Bilanz.
({9})
Die qualitative Aufrüstung der Bundeswehr soll nach
Scharpings Willen bis zum Jahr 2015 gigantische
180 Milliarden DM verschlingen. Es kann, wenn es nach
dem Willen des Ministers geht, wohl auch noch etwas
mehr kosten. Allein die mit der Rüstungsindustrie ausgehandelten so genannten Preisgleitklauseln werden dafür
sorgen.
Der Bundesrechnungshof hat nachgewiesen, dass das
Preisdiktat der Rüstungsindustrie gegenüber der Hardthöhe gerade beim Eurofighter die unvorstellbare Summe
von 6 Milliarden DM zusätzlicher Kosten verursacht. Damit wird der Eurofighter für die nächsten Jahre die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland mit fast
40 Milliarden DM - eine unvorstellbare Größenordnung belasten. Wie viel nützlicher könnte dieses Geld für die
Familienförderung oder die Anhebung der Renten eingesetzt werden - aber weit gefehlt.
({10})
Die Kollegen Opel von der Sozialdemokratischen Partei und Kossendey von der CDU fordern sogar ein 50-Milliarden-DM-Sonderprogramm für die Finanzierung der
Hochrüstung der Bundeswehr in den nächsten Jahren. Die
PDS sagt ausdrücklich Nein zu diesen Begehrlichkeiten,
der Kanzler auch - aber wie lange noch?
({11})
Nach der Methode „Hoppla, hier bin ich“ hat sich der
Verteidigungsminister schon so manches Finanzprivileg
vom Kanzler bzw. von Finanzminister Eichel genehmigen
lassen. So ist er das einzige Kabinettsmitglied, das den
Verkaufserlös aus Liegenschaften und Gerätschaften in
die eigene Tasche, also die des Ministeriums, stecken
kann.
({12})
In diesem Jahr ging es dabei immerhin um 1 Milliarde DM.
({13})
Der Zwang aber, möglichst hohe Erlöse für das Ministerium zu erzielen, wird die Kommunen, die als Käufer beispielsweise von Grundstücken auftreten, immens belasten.
({14})
An dieser Stelle muss auch das gesagt werden, da viele
Kommunalpolitiker an den Bildschirmen sitzen.
({15})
Dem Kollegen Scharping wurde im August 2000 das
Recht eingeräumt, verehrter Kollege Poß, eine privatwirtschaftlich organisierte Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb, kurz GEBB, zu errichten, die die
Bundeswehr von Aufgaben entlasten und Kosten einsparen soll. Aber wo bleibt diese GEBB bei der Einsparung?
Wo sind deren Ergebnisse?
Herr Kollege Rössel, wir müssen jetzt leider auch bei Ihrer Redezeit einsparen.
Ich komme zum
Schluss, Herr Präsident. - Ein Paradigmenwechsel in der
Sicherheitspolitik ist dringend geboten. Schneiden Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die
Bundeswehr auf eine Größenordnung zu, die sicherheitspolitisch angemessen ist und sich auf die tatsächliche Aufgabe der Bundeswehr, die im Grundgesetz festgelegt ist
- es handelt sich um den Verteidigungsauftrag - reduziert.
Dann haben Sie auch keine Haushaltsprobleme bei der
Bundeswehr; denn dadurch lassen sich sogar zig Milliarden DM einsparen, die man für andere Aufgaben einsetzen kann.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
- Die soll ja abgeschafft sein; aber der Hinweis war nett.
Das Wort
hat nun der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium Walter Kolbow.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die öffentliche Diskussion über die aktuelle Haushaltssituation der Bundeswehr in diesen Tagen
ist zumeist geprägt von Schlagworten, Effekthascherei
und falschen Behauptungen.
({0})
Leider haben sich die Reden der Opposition, die bisher
gehalten wurden, in dieses Bild eingereiht.
({1})
Nicht wenigen - auch bei Ihnen auf der rechten Seite des
Hauses ({2})
- von mir aus gesehen immer rechts, und das sind Sie ja
auch, das wissen Sie doch, Herr Kollege Kossendey geht es nicht um die Sache und erst recht nicht darum, wie
wir gemeinsam die Streitkräfte modernisieren und auf die
künftigen Aufgaben ausrichten können.
Mit ihrem Verhalten und auch mit dieser Aktuellen
Stunde versucht die Opposition, von ihrem eigenen geschichtlichen Versagen während der Zeit ihrer Regierungsverantwortung abzulenken.
({3})
Damals, in Ihrer Regierungszeit, nach den sicherheitspolitischen Umbrüchen, haben Sie es versäumt, die Bundeswehr neu zu positionieren und die Reform, die wir jetzt
eingeleitet haben, selbst zu machen. Das ist Ihr Problem.
({4})
Lassen Sie es mich gleich zu Beginn meiner Rede deutlich ansprechen: Es zeugt von Verantwortungsbewusstsein - Sie haben das im Übrigen auch immer erwartet und
wir haben es als damalige Opposition begrüßt -, dass militärisch Verantwortliche im Ministerium, in den Einheiten, in den Verbänden die Politik rechtzeitig auf Probleme,
wie zum Beispiel auf dem Feld der Materialerhaltung,
aufmerksam machen. Es ist ein völlig normales Verfahren, dass die militärische Führung auf zusätzliche Erfordernisse hinweist, wenn sie solche erkennt. Deswegen
sind die Interviewaussagen des Generalinspekteurs Normalität.
({5})
Im Übrigen tun diese Äußerungen auch Ihnen weh, denn
seine Feststellungen betreffen auch Ihre Regierungszeit
und damit Ihre Versäumnisse und Ihre Verantwortung.
({6})
Wir kommen schon darauf, Herr Kollege Nolting. Seien
Sie doch nicht immer so ungeduldig; Sorgfalt vor Eile,
auch in der Oppositionsarbeit. Dann machen Sie weniger
Fehler.
({7})
Der Bundesminister, der Generalinspekteur und auch
andere haben keinen Zweifel daran gelassen - ich sage
das vorsorglich, weil man bei Ihnen nie so recht weiß, was
als Nächstes kommt -, dass diese Äußerungen zur
Einsatzbereitschaft selbstverständlich nicht die Einsatzfähigkeit unserer tüchtigen und erfolgreichen Soldatinnen
und Soldaten im ehemaligen Jugoslawien betreffen. Beim
Schutz dieser Soldatinnen und Soldaten und bei dem, was
sie im Einsatz brauchen, lassen wir uns - ich weiß auch:
gemeinsam - nicht übertreffen.
({8})
Nun zum Etat; nun kommen Sie als Initiator dieser Aktuellen Stunde dran, verehrter Herr Kollege. In Bayern
sagt man: überflüssig wie ein Kropf, aber: wat mutt, dat
mutt, sagt man im Norden. Also: Machen wir hier unseren Job. Zum Verteidigungsetat des laufenden Jahres ist
vorab an die Adresse des Kollegen Austermann und anderer zu sagen: Wir brauchen keinen Nachtragshaushalt,
da wir mit dem vom Bundestag beschlossenen Haushaltsrahmen auskommen werden.
({9})
Diejenigen von der Opposition, die das Gespenst der
Zahlungsunfähigkeit heraufbeschwören, verkennen und
verdrehen die Fakten. Die Bundesregierung hat die Reform der Streitkräfte und der Wehrverwaltung entschlossen angepackt. Wir investieren in die Menschen und ihre
Fähigkeiten. Wir investieren in die Ausrüstung der Streitkräfte, damit diese Fähigkeiten rasch sowie für die Zukunft zuverlässig und dauerhaft zur Verfügung stehen.
Wir investieren in mehr Wirtschaftlichkeit und Effizienz
innerhalb der Bundeswehr.
Entgegen dem Trend in der Zeit der Vorgängerregierung ist seit dem Regierungswechsel der Anteil der verteidigungsinvestiven Ausgaben im Verteidigungshaushalt
gestiegen.
({10})
Beginnend mit diesem Jahr können wir im Verteidigungshaushalt Erlöse aus der Verwertung nicht mehr
benötigten Materials und Liegenschaften zum größten
Teil behalten. Erstmals kommen finanzielle Freiräume,
die sich aus Effizienzgewinnen und sinkenden Betriebskosten ergeben, dem Verteidigungsetat in vollem Umfang
zugute. Dies ist integraler Bestandteil und Ergebnis des
umfassendsten Reformprozesses seit Bestehen der Bundeswehr.
({11})
Dennoch stehen wir erst am Anfang. Veränderungen in
Betriebsabläufen und Strukturen erfordern bei aller
Schnelligkeit der Entscheidungen Zeit zur Umsetzung,
bis sich die erwartete Wirkung voll entfaltet.
Die Opposition hat offensichtlich hellseherische
Fähigkeiten, wenn sie bereits zu Beginn des Haushaltsjahres behauptet, die gerade erst anlaufende Verwertung
von Gerät und Liegenschaften sowie die jüngst eingeleiteten Maßnahmen zu Einsparungen und Effizienzgewinnen würden im Laufe des vor uns liegenden Haushaltsjahres keine Erfolge zeigen. Ich rate Ihnen: Setzen Sie
nicht auf Hellseherei!
({12})
Warten Sie lieber die Fakten und die Ergebnisse ab! Dann
sprechen wir uns wieder und dann wird sich - dessen bin
ich mir sicher - die heutige von Ihnen beantragte Aktuelle
Stunde als ein weiterer erfolgloser Versuch erweisen, Oppositionsarbeit zu leisten.
({13})
Natürlich ergeben sich für den Verteidigungshaushalt
- wie fast immer; der aktuelle ist der 21., über den ich mit
Ihnen debattieren darf - besondere Herausforderungen:
Einerseits sind die Mittel für den unverzüglichen Aufbau
der neuen Struktur bereitzustellen. Andererseits kann der
Aufwand für die noch bestehenden, dem künftigen Bedarf
nicht mehr Rechnung tragenden Strukturen mit Rücksicht
auf die Einsatzbereitschaft nur behutsam zurückgeführt
werden. Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Einsatzausgaben lassen sich nun einmal nicht hundertprozentig veranschlagen. Dies gilt auch für die Ausgaben zur
Materialerhaltung. Das wissen Sie alle hier, zumindest
diejenigen, die im Verteidigungs- und im Haushaltsausschuss tätig sind. Das gilt auch für die zusätzlichen Ausgaben, die durch die Anhebung der Löhne entstehen und
die im Rahmen eines Gesetzes erst heute Abend beschlossen werden. Wie sollten wir denn dies schon im November oder im Dezember letzten Jahres etatisieren?
Gerade in diesem Bereich zeigt sich übrigens in ganz
besonderer Weise, wie durch den durch die Vorgängerregierung verursachten Reform- und Investitionsstau gerade in den Jahren 1994 bis 1998 der Bundeswehr allein
durch Haushaltssperren erhebliche Mittel - „same procedure as every year“, Herr Kollege Breuer - entzogen wurden. Das ergab sich aus den Vereinbarungen zwischen
Waigel und Rühe. Allerdings haben diese Herrschaften
- das nehme ich doch an - in sehr nüchternem Zustand an
den Diskussionen ihrer Fraktion teilgenommen und sind
nicht über den berühmten Tigerkopf gestolpert. Aber weil
der Bundeswehr zwischen 1994 und 1998 3 Milliarden
DM entzogen wurden, mussten wir ab 1999 zusätzlich
fast 300 Millionen DM im Durchschnitt pro Jahr in die
Materialerhaltung und fast 1,5 Milliarden DM in die Ausrüstung investieren.
Sie haben auch Anspruch auf Antworten.
({14})
Natürlich bekommen Sie Antworten. Das ist doch selbstverständlich. Wenn Sie sich selbst aufgrund Ihrer Erfahrungen in Ihrer Regierungszeit keine Antworten geben
können, dann bekommen Sie sie von uns. Sie können
dann über sie beraten und mit uns gemeinsam feststellen:
Jawohl, so wird es gemacht, so ist es auch richtig, weil
man es so machen muss und weil es keine anderen Wege
gibt.
({15})
Zum einen werden wir uns im Zuge der Einnahme der
Zielstruktur so rasch wie möglich in erheblichem Umfang
von Material trennen. Zum anderen wird der Instandsetzungsbedarf konsequent priorisiert. Damit sind die drängendsten Probleme beim Heer gelöst. Auch bei der Luftwaffe wird es gelingen, den zwingenden Bedarf zu
decken. Im Übrigen wird der zu erwirtschaftende Mehrbedarf im Haushalt 2001 durch die Einbeziehung aller
Ausgabenbereiche in die Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung und den höheren Ausschöpfungsgrad bezüglich der Haushaltsmittel kompensiert. So sind die Risiken
im Vollzug des Haushalts 2001 beherrschbar und wir
kommen ohne zusätzliche Mittel aus. Noch einmal: Die
Forderung nach einem Nachtragshaushalt entbehrt jeder
Grundlage.
In diesem Zusammenhang ist es nicht nur schlichtweg
falsch, sondern auch politisch völlig abwegig und außenpolitisch schädlich, zu behaupten, Deutschland werde
sein Engagement auf dem Balkan einseitig aufgeben müssen, es würden aus Haushaltsgründen weitere Standorte
geschlossen, im Jahr 2001 - das alles steht in der Zeitung - würden weniger Wehrpflichtige als geplant eingezogen oder - Herr Kollege Raidel, nehmen Sie es mit auf
den Weg - der Hubschrauber Tiger könne nicht beschafft
werden.
Das ist alles falsch; das Gegenteil ist richtig. Bei diesen und anderen Falschmeldungen und Behauptungen
geht es um alles andere als um die Bundeswehr. Denen,
die so argumentieren und sich auf die Basis solcher
falschen Informationen stellen, geht es vornehmlich um
Parteipolitik oder um Desavouierung einer solide arbeitenden Bundesregierung.
({16})
Deswegen werden wir den eingeschlagenen Reformweg fortsetzen. Das gilt auch für den Verteidigungshaushalt 2001. Wir bleiben zuversichtlich und werden uns
auch durch politische Störfeuer, wie die durch die Opposition geforderte Diskussion um den Verteidigungshaushalt, nicht aus der Bahn bringen lassen.
({17})
Wir werden die Probleme lösen. Dies ist im Übrigen
das Markenzeichen dieser Regierung. Die zivilen und militärischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bundeswehr können sich auch weiterhin auf uns verlassen.
Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten dies konstruktiver als bisher begleiten, anstatt auf dem
Rücken der bei der Bundeswehr tätigen Menschen parteipolitisch punkten zu wollen.
({18})
Hierzu fordere ich Sie namens der Bundesregierung für
unsere Soldatinnen und Soldaten und zivilen Mitbeschäftigten nachdrücklich auf.
({19})
Ich erteile
dem Kollegen Dietrich Austermann für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! In den „Kieler Nachrichten“
vom 28. Februar 2001 war ein Zitat der Ministerpräsidentin Frau Simonis zu lesen:
Scharpings Ressort ist eine echte Plage.
({0})
Nach der Rede von Herrn Kolbow weiß ich, was sie gemeint hat. Sie sagt weiter:
Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut. Man
geht mit fünf Meinungen nach Hause. Ich verteidige
im Moment vom Verteidigungsministerium gar
nichts mehr.
So Frau Simonis Ende Februar in den „Kieler Nachrichten“! Ich glaube, sie hat die Situation und das, was Aussagen insbesondere der Verteidigungspolitiker der SPD
betrifft, korrekt beschrieben.
({1})
Herr Kolbow hat gesagt, es habe zu unserer Zeit keine
Reform gegeben. Es sei daran erinnert, dass wir die Armee der Einheit geschaffen haben. Wir haben unter den
Verteidigungsministern Stoltenberg und Scharping 1992
und 1995
({2})
Reform- und Strukturveränderungen erlebt.
({3})
Im Übrigen gab es bei der Bundeswehr einen Haushalt
mit steigenden Ansätzen. Wenn man die letzten vier Jahre
unter unserer Regierung mit den ersten Jahren unter der
neuen Regierung vergleicht, dann stellt man fest, dass wir
an dieser Stelle einige Milliarden Mark mehr ausgegeben
haben, als zurzeit zur Verfügung stehen. Das heißt, die
Bundeswehr war in einer vergleichbaren Situation besser
ausgestattet, als sie es zurzeit ist.
Wenn gesagt wird, es sei alles in Ordnung, dann stellt
sich die Frage, weshalb es dann gestern das Gespräch zwischen Scharping, Eichel und dem Bundeskanzler gegeben
hat. Worüber haben sie sich eigentlich unterhalten, wenn
es keine Probleme gibt?
({4})
Man muss sich die Situation tatsächlich angucken. Es
ist überhaupt nicht mit dem vergleichbar, was vorher da
war. Schauen Sie sich die Situation an. Ich will Ihnen,
Herr Kolbow, jetzt genau vorrechnen, wie sich die fehlenden 2 Milliarden DM zusammensetzen: 800 Millionen DM Überkipper, also Rechnungen, die aus dem
Jahre 2000 in dieses Jahr geschoben werden.
({5})
- Sicherlich hat es auch in der Vergangenheit, Herr Opel,
Überkipper gegeben.
({6})
Es war dann nur so, dass der Verteidigungsetat angestiegen ist. Unter diesen Umständen kriege ich diese Dinge
weg. Wenn er sinkt, wird die Zahl der Überkipper bzw.
der Umfang der nicht erledigten Ausgaben immer
größer.
Wir haben ein zweites Problem, nämlich dass Sie die
Mittel für steigende Personalkosten nicht in den Haushalt
eingestellt haben. Des Weiteren sind - wie jeder weiß die 1,2 Milliarden DM, die aus der Privatisierung für Beschaffungen vorgesehen sind, weit entfernt von jeder Realität.
Wenn Sie allein das addieren, kommen Sie auf eine
Größenordnung von 2 Milliarden DM, die in diesem Etat
fehlen.
({7})
Das macht deutlich, dass wir einen Nachtragshaushalt
brauchen. Ein Nachtragshaushalt ist immer dann fällig,
wenn Entwicklungen, die absehbar, also nicht unvorhersehbar waren, dazu zwingen, Haushaltskorrekturen vorzunehmen.
Nun wollen wir trotz Ihrer Bemühungen, das alles zu
verniedlichen, einmal schauen, was denn die Planungsabteilung des BMVg tatsächlich festgestellt hat. Sie hat bereits Mitte Februar in einer Vorlage - das war nicht die
böse Opposition, sondern das eigene Haus - darauf hingewiesen, dass der unabdingbare Materialerhaltungsbedarf zur Aufrechterhaltung des Ausbildungs-, Übungsund Einsatzbetriebes sowie zur Erfüllung der internationalen Verpflichtungen zusätzliches Geld erfordert. Unabdingbar heißt, ohne zusätzliche Mittel können Materialerhaltungsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung des
Ausbildungs-, Übungs- und Einsatzbetriebes sowie zur
Erfüllung der internationalen Verpflichtungen nicht vorgenommen werden. Deutlicher kann man die Situation
nicht beschreiben. Das heißt, Sie haben die Bundeswehr
in kurzer Zeit heruntergewirtschaftet.
({8})
Dass dies in der Bevölkerung genauso gesehen wird, machen ja das abnehmende Ansehen und die sinkende Zahl
von Bewerbern, die sogar bei besonders attraktiven Diensten zu verzeichnen ist, besonders deutlich.
({9})
Heute besteht die Gefahr, dass zwar die Gehälter der
Soldaten und der zivilen Mitarbeiter noch aufgebracht
werden können, aber Gelder für all das, was vertraglich
nicht gebunden ist, nicht mehr. Das heißt, Aufwendungen
für wehrtechnische Forschung, Beschaffung - wir haben
überhaupt keine gültige Investitionsplanung mehr -, Infrastruktur, Informationstechnologie und Instandsetzung
sowie eine mögliche Steigerung der Personalkosten können nicht bezahlt werden, wenn nicht zusätzliche Mittel
bereitgestellt werden.
Auf die Frage, woher die Gelder kommen sollen, sage
ich ganz deutlich: Der Herr Bundesfinanzminister hat uns
heute vorgeworfen, wir würden auf der einen Seite behaupten, es sprudle das Geld und er schwimme darin, und
auf der anderen Seite, er brauche einen Nachtragshaushalt. Natürlich schwimmt er im Geld; er kassiert in diesem
Jahr voraussichtlich 43 Milliarden DM mehr Steuern als
1998. Herr Kollege Metzger, wenn Ihre Rechnung stimmt
und es 3 Milliarden DM weniger wären, so würde er immer noch 40 Milliarden DM mehr an Steuern einnehmen
als im Jahre 1998. Dabei sind die Ausgaben gegenüber
1998 nur um 20 Milliarden DM gestiegen. Da sage noch
einmal einer, er schwimme nicht im Geld. Auch die Privatisierungserlöse haben eine Rekordhöhe erreicht.
Angesichts dieser Situation sagen wir, das Geld muss
anders verteilt werden. Deshalb brauchen wir einen Nachtragshaushalt; deshalb muss die Plage der schlechten Politik beseitigt werden, die in diesem Ministerium offensichtlich von der Führung ausgeht. Bisher hat es das noch
nicht gegeben, dass leitende Leute an der Spitze des Ministeriums die Öffentlichkeit suchen, um auf die dramatische Situation hinzuweisen, in der sich die Bundeswehr
tatsächlich befindet.
({10})
Sie können in der Geschichte so weit zurückgehen, wie
Sie wollen; dies hat es bisher nicht gegeben, weder bei
Rühe noch bei Stoltenberg. Das macht deutlich: Es besteht Handlungsbedarf; die Bundeswehr braucht mehr
Geld, wenn sie ihrem Auftrag entsprechen will.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort
hat der Kollege Oswald Metzger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Hierbei handelt es sich wiederum um
eine Rede gemäß § 33 der Geschäftsordnung.
Genau, Herr Präsident, wenn man damit einmal angefangen hat, muss man es auch fortführen.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der Opposition! Kollege Austermann, ich
kann die Märchen, die Sie als haushaltspolitischer Sprecher erzählen, nicht mehr hören. Wenn Sie hier als Vertreter der größten Oppositionsfraktion den Eindruck erwecken, der Staat schwimme im Geld, und so tun, als ob
die 43 Milliarden DM, die wir dieses Jahr an Mehreinnahmen erzielen, „on top“ dem Haushalt zugute kämen, aber dabei nicht erwähnen, dass wir noch neue Kredite in Höhe von 43 Milliarden DM aufnehmen, um
diesen Etat auszugleichen, dann muss ich Ihnen leider
vorhalten, dass das nicht zusammenpasst, sondern Volksverdummung und sonst gar nichts ist.
({0})
Nächster Punkt. Ich bin jetzt sechs Jahre im Haushaltsausschuss für Verteidigung zuständig
({1})
und habe die Oppositionszeit mitgemacht. Dabei habe ich
erlebt - darauf hätte ich gerne einmal eine Antwort, Kollege Austermann -, welche Überkipper es während Ihrer
Regierungszeit gegeben hat. Das heißt, man hat
Investitionsrechnungen und Betriebskosten nicht bezahlt,
damit man überhaupt die Personalausgaben bezahlen
konnte; man hat also mit Investitionsmitteln alimentiert.
Sie hatten nämlich bei den Personalkosten immer unteretatisiert. Und Sie reden heute von Haushaltsklarheit und
-wahrheit!
Wissen Sie, was wir machen? - Wir führen wie in anderen gesellschaftspolitischen Bereichen Aufräumarbeiten
und eine Strukturreform durch, die sich bemüht, tatsächlich militärische und sicherheitspolitische Anforderungen
der Verteidigung sowie bündnispolitische Verpflichtungen
mit der Bereitschaft unserer Gesellschaft, Geld für das Militär aufzuwenden, in Einklang zu bringen.
({2})
Dies ist der Zusammenhang. Jeder von Ihnen aus der Opposition, auch Sie, Herr Nolting, weiß doch, dass weder
F.D.P. noch Union in Wahlkämpfen der Bevölkerung klarmachen können, dass die Bundeswehr künftig deutlich
mehr als 10 Prozent der Gesamtausgaben des Bundeshaushaltes bekommen wird. Woher denn bitte? Die im
Bundeshaushalt für das Jahr 2001 vorgesehenen Ausgaben für Verteidigung liegen bei 9,3 Prozent. Auch in den
letzten Jahren lagen sie bei unter 10 Prozent. Das entspricht der Linie, wie sie im Hinblick auf das Ziel der
Konsolidierung verabredet wurde. Es geht hier um die
Ausgaben in Bezug auf den Gesamtetat.
Wenn wir die Reform ernst nehmen, dann muss nun die
Investitionsplanung der Feinausplanung der Personalstruktur folgen. Eine Reihe von Personen aus dem verteidigungspolitischen Bereich hat ein paar Lieblingsfirmen
und Lieblings-Teilstreitkräfte, weswegen sie sich für bestimmte Rüstungsprojekte einsetzen. Das funktioniert
natürlich nicht, wenn man so tut, als ob man künftig alles,
was sozusagen in der Pipeline ist, beschafft. Wir werden
uns vielmehr von bestimmten Beschaffungsvorhaben und
Rüstungsprojekten verabschieden müssen.
({3})
Das wird eine Entscheidung im Zusammenhang mit der
Fortschreibung der Bundeswehrplanung sein, mit der die
Investitionen auf die neue Streitkräftestruktur abgestimmt
werden. Das ist keine Frage.
({4})
- Wollen Sie von mir ein paar Beispiele hören?
({5})
Warum muss das Wehrforschungs- und Erprobungsschiff
sein? Warum muss die K 130 sein? Wir können auch über
Stückzahlen diskutieren. Dort, wo es vertraglich möglich
ist und zum sicherheitspolitischen Profil passt, müssen
auch Stückzahlreduzierungen erfolgen. Darüber brauchen
wir nicht zu diskutieren.
({6})
Das, was die Koalitionsfraktionen im Haushaltsausschuss beschlossen haben, ist doch kein Geheimnis: Der
Einnahmetitel von 1 Milliarde DM braucht in diesem Jahr
natürlich Monate, um wirksam zu werden. Man kann
doch nicht Liegenschaften, die nicht baureif sind, zu
Schleuderpreisen veräußern, weil man sie damit - das
wollen wir nicht - unter Wert verkauft. Wir wollen werthaltige Grundstücke tatsächlich baureif machen. Mit dem
Geld, das durch ihren Verkauf eingenommen wird, sollen
seriöse Investitionen finanziert werden. Um dem Verteidigungsministerium diesen Anschub deutlich zu machen,
haben wir gesagt: Scharping kann aus dem Einnahmetitel
auf jeden Fall 300 Millionen DM als Vorgriffsermächtigung verwenden, egal ob das Geld eingenommen wird
oder nicht. Das ist doch seriös. Wir können doch nicht so
tun, als ob wir von Januar bis Juni Einnahmen aus Veräußerungen in Höhe von 1 Milliarde DM erzielen könnten.
Ein weiteres Stichwort lautet: Rationalisierungspotenziale bzw. Outsourcingpotenziale bei der Bundeswehr;
das ist bei der GEBB angesiedelt. Der konzeptionelle Ansatz, bestimmte Bereiche, die bisher in der Bundeswehr
angesiedelt waren, in die Wirtschaft zu verlagern und damit Kosten zu sparen, ist richtig. Diesen Ansatz hat übrigens auch Ihre Regierung in anderen Politikfeldern verfolgt. Es geht um Outsourcing in den Bereich der
Wirtschaft, um Kosten zu sparen. Aber wir müssen den
Verantwortlichen bei der Bundeswehr Zeit geben, damit
sie seriös vorgehen können. Ich bin sicher: Die Ressourcen und die Effizienzreserven in den Streitkräften reichen
aus, um die Strukturreform im Rahmen der Finanzplanung zustande zu bringen.
Wenn man der Bundeswehr heute mehr Geld zukommen ließe - zum Beispiel weil bestimmte Besitzstandswahrer, auch solche in Uniform, auf der Hardthöhe oder
in der Fläche, aus den Reihen der Opposition oder vielleicht auch im Koalitionslager, meinen, man könne Reformen nur mit mehr Geld durchführen und man müsse
dieses Geld bereits investieren, bevor die Reformschritte
konkret eingeleitet sind -,
({7})
dann machte man die Reform unmöglich. Man müsste
dann in der nächsten Legislaturperiode eine Bundeswehr
finanzieren, die jährlich zwischen 3 und 5 Milliarden DM
mehr kostet.
({8})
Deshalb heißt es jetzt: Im Rahmen der Verabredungen Linie halten!
({9})
- Herr Nolting, ich kenne die Vorschläge der WeizsäckerKommission. Aber Weizsäcker denkt an eine andere Personalstruktur.
({10})
- Er spricht von einer Anschubfinanzierung, stellt dann
aber die Ausgaben in einen Zusammenhang mit der Finanzplanung. Wir brechen die Strukturplanung von der
Ebene der politischen Leitung auf die Teilstreitkräfte
herab. Jetzt brauchen wir die Investitionsseite. Ich
weiß, dass wir in der Aktuellen Stunde, in der man fünf
Minuten Redezeit hat, darüber keine Fachdiskussion
führen können.
Herr Kollege Metzger, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
({0})
Nein, darum geht es mir nicht. Ich will eines deutlich machen: Das Geschrei, dass zu wenig Geld da ist, verhindert
Reformen. Das ist meine Erfahrung aus der Vergangenheit. Nur unter Berücksichtigung der Knappheit der Ansätze lässt sich die Chance einer Umstrukturierung wahrnehmen, sicherheitspolitische Erfordernisse der Republik
und die Finanzierbarkeit des Haushalts langfristig in Einklang zu bringen.
Vielen Dank.
({0})
Ich gebe nun
das Wort dem Kollegen Jürgen Koppelin für die Fraktion
der F.D.P.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Generalinspekteur der Bundeswehr hat das getan, was nach meiner Meinung seine
Pflicht und seine Aufgabe ist: Er hat dem verantwortlichen Bundesminister, aber auch der Politik insgesamt
aufgezeigt, wie bedenklich der Zustand der Bundeswehr
ist. Wir sollten ihm dankbar sein, dass er das in dieser
Deutlichkeit gesagt hat.
({0})
Wir müssen nur die Konsequenzen daraus ziehen.
Ich finde es nicht in Ordnung, dass der Kollege
Zumkley von einer Gerüchteküche spricht, wenn wir
diese Probleme ansprechen.
({1})
Gehört denn das, was der Generalinspekteur sagt, zur
Gerüchteküche? Das darf ja wohl nicht wahr sein.
Vorhin hat die Kollegin Beer gefragt, was diese Aktuelle Stunde soll. Sie sagte, das sei doch völlig überflüssig.
({2})
Allein der Beitrag des Kollegen Metzger hat gezeigt, wie
notwendig diese Aktuelle Stunde ist. Jeder in der Bundeswehr kann nämlich jetzt erkennen, was in der Koalition
los ist und wie die Koalition zur Bundeswehr und zu ihrer
Finanzierung steht.
({3})
Ich bin für diese Aktuelle Stunde ausdrücklich dankbar; denn der Kollege Metzger hat hier deutlich gemacht,
dass er Verteidigungspolitik nach Kassenlage machen
will. Es ist ihm völlig egal, ob, wie der Generalinspekteur
sagt, das Material veraltet ist und wie der Zustand der Gebäude ist. Die Hauptsache ist, dass Metzgers Kasse
stimmt. Da der Kollege davon spricht, dass angesichts der
Lage des Bundeshaushaltes nicht mehr drin sei - ich
stimme ihm zu, dass die Haushaltslage schlecht ist -,
würde ich hier eigentlich gerne auflisten - die Zeit habe
ich aber leider nicht -, welche rot-grünen, aber vor allem
grünen Spielereien sich im Haushalt wiederfinden, für die
also Geld in der Kasse ist und über die das Füllhorn ausgeschüttet wird. Auch das gehört zur Wahrheit.
({4})
Man muss doch erkennen, dass die Bundeswehr in einem katastrophalen Zustand ist,
({5})
dass die Motivation in der Bundeswehr völlig unten ist
und dass das Material überwiegend in einem schlechten
Zustand ist, weil es zum Teil älter ist als die Wehrpflichtigen. Das ist doch das Problem, das wir heute bei der
Bundeswehr haben.
({6})
- Ich komme noch darauf zurück, Frau Kollegin Beer. Im
Übrigen glaube ich, dass Sie am wenigsten geeignet sind,
an dieser Stelle dazwischenzurufen, weil Sie früher bundeswehrfreie Zonen schaffen und den Bundeswehretat radikal herunterfahren wollten.
({7})
Ich sage Ihnen Folgendes: Keiner von uns - insofern
habe ich das anerkannt, was der Generalinspekteur gesagt
hat -, egal, ob er heute den Regierungsfraktionen oder den
Oppositionsfraktionen angehört, kann sich von der Verantwortung freisprechen. Auch wir haben Haushalte für
die Bundeswehr verabschiedet, von denen wir sagen müssen, dass sie unterfinanziert waren. Auch bei Ihnen ist das
heute der Fall. Es bringt uns aber nicht sehr viel weiter,
wenn wir gegenseitig mit dem Finger auf uns zeigen. Ich
werde nachher noch etwas dazu sagen.
({8})
Was uns aber auch nicht weiterbringt, sind Beschönigungsreden des Verteidigungsministers.
({9})
Der Verteidigungsminister sagt, das alles seien Spekulationen. Es gebe keine großen Haushaltsprobleme; es gebe
zwar ein paar kleine Schwierigkeiten, aber ansonsten sei
alles bestens. Ich wundere mich allerdings darüber, dass
die Medien melden, dass sich der Verteidigungsminister
mit dem Bundeskanzler und mit dem Finanzminister zu
einem Krisengespräch getroffen hat.
({10})
Was wurde denn da besprochen? Das müssten Sie uns einmal erzählen; das wäre sehr interessant.
({11})
Ich stelle fest: Der Verteidigungsminister war erneut
erfolglos - deswegen wird die Bedeutung des Gespräches
abgewertet -; er lässt sich ständig vom Kanzler und vom
Finanzminister demütigen und nickt das auch noch ab.
({12})
Ich muss daher sagen, dass er inzwischen zu „Rudi Ratlos“
geworden ist.
Ich weiß nicht, ob der Kollege Austermann das Zitat von
Frau Simonis erwähnt hat. Frau Simonis hat gesagt - das
muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen -:
Dieses Verteidigungsministerium ist eine echte Plage.
({13})
Da weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut.
({14})
Wegen der Kürze der Zeit will ich Ihnen das ganze Zitat
ersparen. Der Kollege Opel verzieht schon das Gesicht,
wenn ich nur den Namen Simonis erwähne.
({15})
Der Verteidigungsminister sagt nun, dass wir bei den
Großprojekten Zusatzentscheidungen brauchen. Was
heißt das denn eigentlich? Darauf ist der Kollege Metzger
überhaupt nicht eingegangen. Zusatzentscheidungen
bedeuten doch, dass man mehr Geld braucht. Der Verteidigungsminister hat aber vor den Haushaltsberatungen
nicht mit dem Finanzminister darüber gesprochen. Das ist
sein entscheidender Fehler gewesen. Er muss sich jetzt
quälen lassen, weil der Finanzminister zu Recht sagt: Wir
haben den Haushalt beschlossen; dabei bleibt es. Es sind
entscheidende Fehler vom Verteidigungsminister gemacht worden; darum braucht man gar nicht herumzureden.
Es besteht ein heilloses Durcheinander: Der Kollege
Zumkley erklärt, die Bundeswehr werde nicht mehr Geld
bekommen. Der Kollege Opel fordert ein Modernisierungsprogramm in Höhe von etwa 50 Milliarden DM.
({16})
Wer hat nun Recht? Werden Sie sich doch erst einmal untereinander einig! Ihr Hauptproblem ist doch, dass Sie im
Bereich Verteidigung noch nicht einmal die Unterstützung Ihrer Haushälter haben.
Hinzu kommt ein weiterer Punkt, Herr Kollege
Metzger. Sie sprechen von Reformen, die wir angeblich
nicht durchgeführt haben. Ihr Fehler ist, dass Sie Folgendes nicht bedenken: Reformen, gerade Reformen bei der
Bundeswehr, kosten erst einmal Geld, bevor man langfristig sparen kann.
({17})
Der Verteidigungsminister will aber kein Geld für die Reformen ausgeben. Er wird also langfristig auch nicht sparen können.
Auch wir haben Fehler gemacht. Deshalb sage ich: Wir
sollten nicht gegenseitig mit dem Finger auf uns zeigen.
Ich bin dafür, dass wir uns zusammensetzen - denn es
geht doch nicht um die Armee einer Regierung oder einer
Partei - und uns wirklich überlegen, wie wir der Bundeswehr helfen können.
({18})
Ich erneuere das Angebot der Freien Demokraten, mit Ihnen darüber zu sprechen, wie wir die Bundeswehr vernünftig finanzieren können und wie wir eine vernünftige
Reform machen können. Es ist aber leider so, dass wir einen Verteidigungsminister haben, der sich da abschottet.
Sie müssen Ihren Verteidigungsminister bewegen, wieder
mit dem Parlament zu sprechen. Das macht er im Moment
nämlich nicht. Er spricht nur mit seinem Küchenkabinett.
Er redet ja nicht einmal mit Ihren Verteidigungspolitikern;
das wissen wir doch inzwischen.
({19})
Wenn wir dann zusammensitzen, nehmen wir uns einmal den Zustandsbericht des Generalinspekteurs vor.
Denn wenn wir nicht zusammen versuchen, Verteidigungspolitik zu machen - ich darf daran erinnern, dass,
als Sie die Regierung übernommen haben, auch wir
Freien Demokraten Ihrem Verteidigungsetat zugestimmt
haben, weil wir wollen, dass die Bundeswehr die Armee
des ganzen Bundestages ist -, dann bleibt an dieser rotgrünen Koalition ein Etikett haften: der niedrigste Verteidigungsetat seit vielen Jahren, aber der höchste Rüstungsexport seit vielen Jahren.
Vielen Dank.
({20})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Hans Georg Wagner.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Was wir heute hier erleben, ist der Höhepunkt der Panikmache der letzten Wochen. Ziel der Opposition auf der rechten Seite ist,
({0})
die Bevölkerung, die Bundeswehr, die Bewohner und die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Donauwörth,
wo der „Tiger“ hergestellt werden soll, zu verunsichern
und sie im Unklaren darüber zu lassen, dass die Politik
dieser Bundesregierung auch in diesen Bereichen richtig
und vernünftig und für die Konsolidierung der Bundesfinanzen notwendig ist.
Sie haben nun einmal diese Misere zu verantworten.
Sie haben 1,5 Billionen DM Schulden gemacht. Sie haben
verursacht, dass jährlich 82 Milliarden DM an Zinsen gezahlt werden müssen. Das ist ein „Erfolg“ Ihrer Politik.
Wir sind sozusagen beim Ausmisten dessen, was Sie uns
hinterlassen haben. Das gilt auch für den Bereich der Bundeswehr.
({1})
Wenn Sie sich an die Haushaltsdebatte im November
erinnern, wissen Sie, dass ich Ihnen damals in Bezug auf
zwei Bereiche ganz konkret gesagt habe, was Sie uns hinterlassen haben, nämlich im Bereich der Bahn und im Bereich der Bundeswehr. Was der Generalinspekteur gesagt
hat, ist eine Bestätigung dessen, was ich schon damals
hier vorgetragen habe.
Nun zum Haushalt selber. Sie wissen ganz genau, dass
von den 46,96 Milliarden DM, die der Haushalt des Verteidigungsministers, der Einzelplan 14, ausmacht, jetzt
372 Millionen DM unsicher sind. Das sind genau 0,6 Prozent. Nun frage ich einen Haushälter, Herrn Austermann
beispielsweise: Erklären Sie mir bitte einmal, warum es
bei fast 47 Milliarden DM nicht möglich sein soll, innerhalb eines Jahres 372 Millionen DM an irgendeiner Stelle
umzuschichten und einzusparen! Das ist machbar und so
wird es auch gemacht. Da lassen wir uns von Ihnen überhaupt nicht beirren.
({2})
Sie wissen ganz genau, Herr Kollege Rossmanith, dass
der Einzelplan 14, den Sie aus der Vergangenheit - zumindest dem Namen nach - kennen, nun einmal anders
zusammengestellt ist als bei allen NATO-Partnern. Die
Versorgungslasten beispielsweise, also die Pensionen, die
bei der Bundeswehr anfallen, sind bei uns im Einzelplan 33. Wenn ich alles, was bei uns aus dem Verteidigungshaushalt ausgeklammert, bei den anderen Ländern
aber eingeschlossen ist, zusammenrechne, dann müssten
wir den Verteidigungshaushalt nominell um 12,5 Milliarden DM erhöhen.
({3})
Das bringt ja nichts, da es nur ein Durchlaufposten ist,
aber so ist das nun einmal. 0,6 Prozent des Verteidigungshaushaltes aufzubringen müsste in diesem Einzelplan eigentlich möglich sein.
Hinsichtlich der Beschaffung - das hat der Kollege
Metzger gesagt - müssen wir jeden Einzelfall betrachten.
Auch mich hat es irritiert, dass es plötzlich hieß, wir
bräuchten den „Tiger“ nicht mehr. Vor ein paar Monaten
hat man uns noch eingetrichtert, man bräuchte ihn unbedingt, und nun heißt es, das sei eine Fehlmeldung gewesen. Frage: Wer setzt solche Fehlmeldungen eigentlich in
die Welt?
Um das Bild einmal abzurunden: Gestern ist zum Beispiel im Haushaltsausschuss das Besoldungsanpassungsgesetz beschlossen worden. Darin war eine Regelung enthalten, dass für die Soldaten der Bundeswehr der
Besoldungsstufen A 1 bis A 9 viermal 100 DM zusätzlich
aufgebracht werden sollen. Das hat die CDU/CSU abgelehnt.
({4})
Ich frage Sie: Wie können Sie auf der einen Seite die Bundesregierung beschimpfen, wenn Sie auf der anderen
Seite dann, wenn die Koalition konkret etwas für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundeswehr, für
die Soldatinnen und Soldaten tun will, dieses ablehnen?
({5})
Das ist nicht verständlich und nicht mehr nachvollziehbar.
({6})
Zum Thema „Überkipper“ müssen Sie ganz ruhig sein.
Sie gehen doch genauso wie ich in die Betriebe. Dann
müssen Sie sich in den Betrieben auch einmal erkundigen. Dass die Betriebe vorfinanzieren, liegt nur daran,
dass wir zurzeit günstige Zinsen haben. Wenn die Rüstungskonzerne also in der Hoffnung auf weitere Aufträge
zunächst einmal darauf verzichten, dass die Rechnungen
bezahlt werden, dann entstehen diese „Überkipper“. Das
ist gar nichts Neues, sondern eine von Ihnen übernommene unrühmliche Geschichte. Das bezeichne ich deshalb so, weil ich meine, dass das irgendwann beseitigt
werden muss und die Rechnungen so bezahlt werden
müssen, wie es dem Haushaltsjahr entspricht. Allerdings
kommt hinzu, dass die Firmen oftmals - das wissen Sie
auch - nicht in der Lage sind, Rechnungen rechtzeitig zu
stellen, sodass die Rechnungen erst im Januar oder Februar kommen.
Nun noch wenige Sätze zu der 1 Milliarde DM. Welcher Makler dieser Welt wäre in der Lage, innerhalb eines
Sechstels eines Jahres, also nach zwei Monaten, bereits
die volle Summe, die zum Jahresende veranschlagt ist, zu
erzielen? Nicht ein einziger Makler! Auch die CDU/CSU
wäre nicht in der Lage, die Grundstücke in den ersten beiden Monaten zu verkaufen.
({7})
Sie müssen bewertet und angeboten werden, sie müssen
in die kommunalen Planungen hineinpassen und dann
muss man sehen, wie das Geld eingeht. Ich bin mir absolut sicher, dass wir diese 1 Milliarde DM erreichen und,
wenn der Verkauf ohne Störungen abgeht, sogar übertreffen werden. Dann werden auch alle Probleme, die Sie in
den letzten Wochen panikartig verbreitet haben, vom
Tisch sein.
Ich sage an dieser Stelle noch einmal, was ich schon in
der Haushaltsdebatte gesagt habe: Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping kann sich auf die Solidarität
der Haushälter der Koalition verlassen.
({8})
Wir werden mit ihm gemeinsam die Probleme lösen, die
Sie verursacht haben.
({9})
Das Wort
hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Paul Breuer.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Bundesverteidigungsminister
Scharping ist gestern in die Vereinigten Staaten geflogen.
Ich frage mich, was er unserem Hauptverbündeten in den
Vereinigten Staaten eigentlich im Hinblick auf die deutsche Leistungsfähigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik erzählen kann.
({0})
Er müsste, wenn er ehrlich wäre, sagen, dass Deutschland
in der Zukunft nicht dazu in der Lage sein wird, den Beitrag zu erbringen, der notwendig ist, um den euro-atlantischen Raum sicher zu halten. Das ist die traurige Wahrheit.
({1})
Die außen- und sicherheitspolitische Konsequenz dessen,
({2})
was hier stattfindet, ist genau das, was wir unseren Mitbürgern vermitteln müssen. Der Kollege Klose, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen
Bundestages, hat vor wenigen Wochen von dieser Stelle
aus gesagt: Wir müssen unseren Mitbürgern erklären,
dass die Zeit, in der man Friedensdividenden verteilen
konnte, vorbei ist und die Verteidigungshaushalte in Europa und speziell in Deutschland in Zukunft steigen müssen, damit wir unserer Verantwortung gerecht werden
können. Herr Klose hat Recht, aber die Sozialdemokraten haben nicht verstanden - und die Grünen schon gar
nicht -, was er damit meinte.
({3})
Meine Damen und Herren, wir leben nicht auf der Insel der Glückseligen. Die Spannungen, die Instabilitäten,
die Kriege rund um unseren Kontinent sind jeden Tag für
jeden Bürger auf dem Bildschirm sichtbar. Wer hier in
Deutschland nicht fähig ist, zur Kenntnis zu nehmen,
dass es unerlässlich ist, in der Untermauerung einer Sicherheits- und Außenpolitik auch militärisch eigene
Beiträge zu Stabilität und Stabilisierung zu erbringen, versagt in der Politik. Ich mache der Koalition den Vorwurf,
dass sie absolut versagt, was Vorsorgepolitik angeht.
({4})
Herr Kollege Wagner, Sie sagten, Herr Scharping
könne sich auf die Solidarität der Haushälter der Koalition verlassen.
({5})
Dazu sage ich Ihnen: Lesen Sie den Kommentar in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von heute, der mit
„Lippenbekenntnisse“ überschrieben ist. Dort heißt es:
Der Verteidigungsminister weiß schon länger, was es
heißt, wenn der Bundeskanzler und der Finanzminister ihm „kurz und kollegial“ ihre Unterstützung für
den Umbau der Bundeswehr zusichern: Er bekommt
kein Geld.
Das ist die Solidarität, die Sie hier versichern. Diese Solidarität ist keinen Schuss Pulver wert. Das sage ich Ihnen
ganz deutlich.
({6})
Ich bin davon überzeugt, dass die eigentliche Problematik in Folgendem besteht: Der Verlust des außen- und
sicherheitspolitischen Renommees Deutschlands, die Gefahr für die Sicherheit unserer Soldaten im Einsatz ist der
Mehrheit der Kollegen in der SPD-Bundestagsfraktion
eigentlich Wurscht. Da liegt das Problem in der deutschen
Verteidigungspolitik.
({7})
Was die Grünen angeht, so bin ich davon überzeugt,
Herr Kollege Metzger, dass es in Ihren Reihen eine große
Mehrheit gibt, die sich darüber freut, dass die Bundeswehr gegen die Wand gefahren wird.
({8})
- Das ist so.
Die Wurschtigkeit in der SPD und das politische Wollen bei den Grünen, die Bundeswehr an die Wand zu fahren, sind das eigentliche Problem.
({9})
Die scharpingsche Reform ist vor diesem Hintergrund
nicht mehr als ein potemkinsches Dorf. Es ist nicht möglich, die Bundeswehr mit einer fallenden Finanzlinie zu
reformieren und zu modernisieren.
({10})
Wenn Sie nicht verstehen, dass das nicht geht, dann wird
Herr Scharping natürlich scheitern.
({11})
Ich bin aber davon überzeugt, dass Ihnen auch das
Wurscht ist.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({12})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Kurt Palis.
Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Vordergrund der öffentlichen
Diskussion um den Verteidigungshaushalt dieses Jahres
steht naturgemäß die Frage, ob der im Einsatz sowie bei
der Ausbildung und bei den Übungen erforderliche Material- und Ausrüstungsaufwand ausreichend finanziert werden kann. Davon hängt viel ab. Mein Kollege Zumkley
und der Staatssekretär haben das Erforderliche dazu gesagt, ebenso unser haushaltspolitischer Sprecher.
Wir sollten aber auf gar keinen Fall übersehen, dass das
größte Gut der Streitkräfte Menschen sind, wie wir sie haben, Menschen, die zuverlässig ihren Dienst erfüllen. Die
Bundeswehr benötigt für eine erfolgreiche Auftragserfüllung motivierte und leistungsbereite Soldatinnen und Soldaten ebenso wie qualifiziertes und engagiertes Zivilpersonal. Noch haben wir diese Menschen und wir haben
Anlass, ihnen für ihren täglichen Einsatz zu danken, insbesondere den Soldatinnen und Soldaten, die heimatfern
ihre Pflicht erfüllen müssen.
({0})
Wir wollen den Leistungswillen und die Einsatzbereitschaft der Menschen bei der Bundeswehr erhalten und fördern. Deshalb halte ich es für geboten, Ihnen, meine Damen
und Herren, noch einmal in Erinnerung zu rufen, welche
Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes
von der Bundesregierung beschlossen wurden und von den
Koalitionsfraktionen mitgetragen werden. Wenn ich diese
Stichworte hier noch einmal nenne, so spiegelt das gleichzeitig wider, was in der Regierungszeit von CDU/CSU und
F.D.P. versäumt wurde und liegen geblieben ist.
Ich nenne als erstes Stichwort die Qualifizierungsoffensive: In Zusammenarbeit mit der Wirtschaft wird das
Angebot an beruflicher Qualifizierung erweitert. Insbesondere ausscheidenden Soldaten wird eine breite Palette
beruflicher Qualifizierungsmöglichkeiten angeboten.
Als Weiteres nenne ich die Planstellenanhebung für
Unteroffiziere und Offiziere des militärfachlichen Dienstes, die Besoldung der Einheitsführer mindestens nach
A 12, die Neuordnung der Unteroffizierslaufbahn
({1})
- ich verstehe Ihre Unruhe, weil das alles ein Sündenregister dessen ist, was in der Vergangenheit liegen geblieben ist -,
({2})
die Schaffung eines gestaffelten Wehrsolds für freiwillig
länger Dienst Leistende, die Anhebung der Eingangsbesoldung für Mannschaften auf A 3
({3})
und den Abbau personeller Überhänge.
Nun wird natürlich von den für diese Aktuelle Stunde
Verantwortlichen die Frage gestellt: Wie wird das alles
finanziert?
({4})
Bereits im vergangenen Jahr haben wir 1 500 zusätzliche
Beförderungsmöglichkeiten für Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere geschaffen.
({5})
In diesem Jahr profitieren die Mannschaftssoldaten im Balkaneinsatz von 1 500 neuen Möglichkeiten der Beförderung zum Hauptgefreiten. Zusätzlich können 1 500 hochwertige Offizier- und Unteroffizierdienstposten für die
Förderung qualifizierter Soldaten genutzt werden. Zivile
Mitarbeiter können durch Stellenanhebungen im mittleren
und gehobenen Dienst aufgabengerecht entlohnt werden.
Die Vorbereitung der gesetzlichen Regelung für weitere Besoldungsverbesserungen, wie zum Beispiel die Besoldung der Kompaniechefs nach A 12 und die Anhebung
der Eingangsbesoldung auf A 3 sowie die Auflösung des
Beförderungs- und Verwendungsstaus, den wir von Ihnen
übernommen haben, ist abgeschlossen. Diese Verbesserungen setzen die Kabinettsbeschlüsse zur Bundeswehrreform konsequent um. Die Abstimmung innerhalb der
Bundesregierung ist eingeleitet.
Es sind Vorkehrungen getroffen worden, um strukturelle Personalüberhänge abzubauen und den damit einhergehenden Verwendungs- und Beförderungsstau aufzulösen. Nach Einführung der erforderlichen gesetzlichen
Regelung können wir die für 2001 vorgesehenen Besoldungsverbesserungen für Kompaniechefs und Spitzendienstgrade der Unteroffiziere erreichen.
Die Rückführung der Zahl ziviler Mitarbeiter soll und
wird in einem mittel- bis langfristigen Prozess geschehen,
indem im Wesentlichen die normale Fluktuation genutzt
wird. Dass es in diesem Abschmelzungsprozess betriebsbedingte Kündigungen nicht geben wird, haben der Verteidigungsminister und der Bundeskanzler ausdrücklich zugesagt, wie Sie wissen. Die Verhandlungen zur Vereinbarung
eines Tarifvertrages zur sozialverträglichen Ausgestaltung
des Reduktionsprozesses haben begonnen. Wir erwarten im
Interesse der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine
zügige Verhandlungsführung und einen baldigen Abschluss.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, dass wir uns um
die berechtigten Interessen kümmern. Die Menschen der
Bundeswehr verdienen dies, und zwar umso mehr, als sie
in den nächsten Monaten und Jahren nicht nur ihren normalen Dienst werden verrichten müssen, sondern gleichzeitig die erforderlichen Reformschritte vollziehen müssen.
Wir werden sie dabei verantwortlich unterstützen. Helfen auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, dabei mit! Beenden Sie vor allem die taktischen Aufgeregtheiten, die sich ja auch in der Beantragung dieser
Aktuellen Stunde ausdrücken! Sie erzeugen bei den Bundeswehrangehörigen und ihren Familien mutwillig, aber
grundlos Verunsicherung. Das haben diese nicht verdient.
({6})
Ich gebe
dem Kollegen Hans Raidel für die Fraktion der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wenn man die bisherige
Debatte zusammenfassend betrachtet, muss man feststellen: Man kommt sich vor wie in einer Märchenstunde,
wenn man all das hört, was seitens der Regierungskoalition gesagt worden ist. Bezieht man das Gesagte nur auf
den Haushalt bzw. auf die Haushaltsgrundsätze, ist zu betonen: Wahrheit und Klarheit kommen in diesem Haushalt
absolut zu kurz. Sonst müssten diese Risiken gar nicht so
beschrieben werden, wie sie von der Führung des Hauses
beschrieben worden sind. Denn dann wäre ja das notwendige Geld vorhanden.
Da ständig bestritten wird, dass das so ist, möchte ich
mit der Erlaubnis des Präsidenten aus dem Schriftverkehr
des Verteidigungsministeriums zitieren. Hier heißt es
ganz einfach, die Situation sei außerordentlich angespannt, insbesondere angesichts des frühen Zeitpunktes
im Jahr und der Gesamtentwicklung. Hier habe sich über
einen längeren Zeitraum ein zusätzlicher Bedarf aufgebaut, der mit den normalen Steuerungsmaßnahmen des
Haushaltsvollzuges nicht mehr bewältigt werden könne.
({0})
Herr Wagner beschreibt hier eine völlig andere Situation und Herr Metzger spricht in seiner bekannten Lyrik
über diese Themen. Eigentlich muss man ihm dankbar
dafür sein, dass er endlich einmal das grüne Herz ausgeschüttet hat und wir endlich wissen, wo Rot-Grün, insbesondere Grün, tatsächlich in Sachen Verteidigung steht.
Die Wahrheit ist: Sie haben für diese Dinge nichts übrig.
({1})
Ich sage Ihnen eines: Sicherheit nach Kassenlage gibt es
nicht. Erst muss das stehen, was wir zur Sicherheit insgesamt brauchen, national und international, und dafür muss
das notwendige Geld gegeben werden - und nicht umgekehrt.
Lassen Sie mich das am Beispiel der Luftwaffe erläutern. In diesem Bereich fehlen, wie von den Fachleuten im
Hause erarbeitet wurde, rund 218 Millionen DM. Dazu
heißt es: Bei Nichtverfügung dieser Mittel können Ersatzteile nicht beschafft werden, können logistische Betreuungsleistungen nicht beauftragt werden, können Instandsetzungen, Inspektionen etc. nicht verfügt werden,
können Materialerhaltungsmaßnahmen nicht mehr durchgeführt werden.
Im Grunde genommen ist dies eine Bankrotterklärung.
Deswegen musste die Luftwaffenführung eine Reduzierung des der NATO zugesagten Assignierungsumfanges
vorschlagen, mit der Folge, dass Luftfahrzeuge stillgelegt
und Einsatzbesatzungen zeitweilig in einen Übungshaltestatus versetzt werden - nur, um Geld zu sparen! Damit
wird es nicht möglich sein, unsere Verpflichtungen gegenüber der NATO - möglicherweise auch gegenüber der
EU, der UN und der OSZE - zu erfüllen.
Und was ist die Folge? Schauen Sie es sich doch an:
Viele Piloten der Luftwaffe verlängern ihre Verträge
nicht, sondern gehen in die zivile Luftfahrt, einfach weil
ein Verbleiben in der Bundeswehr unattraktiv geworden
ist; Lehrgänge können nicht besetzt werden, weil die qualifizierten jungen Leute nicht mehr bei der Luftwaffe Pilot werden wollen. Das zeigt, dass der Zustand der Luftwaffe besorgniserregend ist.
({2})
Aber bei den anderen Truppenteilen ist es nicht anders.
({3})
Wir haben deshalb gefordert: Der Minister muss mit
dem Bundeskanzler und mit dem Finanzminister sprechen, damit er das notwendige Geld bekommt. Weil uns
immer unterstellt wird, wir würden dieses Thema nur
polemisch abhandeln, will ich Ihnen aus einem Kommentar zitieren, der heute in der „Augsburger Allgemeinen“
- eine sicherlich unverdächtige Quelle - erschienen ist:
Scharping hat die Chance ungenutzt verstreichen lassen. Nach dem Gipfeltreffen mit Schröder und
Eichel blieb ihm nur der geordnete Rückzug. ...
Scharping wird so mehr und mehr zur tragischen Figur. Er kann aus der Haut des braven Parteisoldaten
nicht heraus. Das aber ist zu wenig und falsch. Die
Bundeswehr braucht einen Fürsprecher im Kabinett,
einen Kämpfer, der notfalls für die Interessen der
Soldaten einen Konflikt mit dem Finanzminister riskiert. Scharping dagegen redet die Probleme klein,
beschönigt und wiegelt ab. Ihm persönlich nützt das
nichts und der Bundeswehr schadet es. Auf dem
Spiel stehen der Ruf der Bundesrepublik und ihre
Glaubwürdigkeit auf dem internationalen Parkett.
Das ist eine kurz zusammengefasste Beschreibung der
tatsächlichen Situation. Sie aber kommen daher und wollen uns ein Märchen erzählen über den Zustand unserer
Armee und über die Sicherheitslage. Ich fordere Sie von
hier aus auf, sich mit dem Kanzler und dem Finanzminister zusammenzusetzen und gemeinsam das notwendige
Geld zu erstreiten. Es kann nicht sein, dass sich der
Bundeskanzler hinstellt und in seiner bekannten Art
sagt:
({4})
„Ich lassen keinen im Regen stehen!“, aber er jeden im
Regen sitzen lässt. So kann man nicht Politik betreiben.
({5})
Als letzter
Redner in dieser Aktuellen Stunde spricht nun für die
SPD-Fraktion der Kollege Gerd Höfer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das einzig Positive - wenn
man es überhaupt positiv nennen kann -, was der Opposition gelungen ist,
({0})
ist, die Presse von einer Suppe zu überzeugen, zusammengerührt aus einer Tatsache, aus vielen Spekulationen,
Unterstellungen, Verleumdungen und aus Fragen, die von
Altlasten herrühren. Zukunftsfragen sind damit ebenfalls
verbunden worden.
({1})
- Ich werde das gleich durchdeklinieren; aber vorher
möchte ich den Kollegen Breuer bitten, sich bei der SPDFraktion in diesem Hause zu entschuldigen. Es kann doch
wohl nicht wahr sein, dass Sie, Herr Breuer, sich hier hinstellen und sagen, die Sicherheit unserer Soldaten sei uns
Wurscht.
Wer hat denn, beginnend in der letzten Legislaturperiode, gepredigt, es müsse ein Schutzkonzept her, die Beschaffungsmaßnahmen der Bundeswehr müssten sich am
Schutz der Soldaten orientieren? Wer hat denn den M 113
angeschafft, der noch nicht einmal richtig schwimmen
kann, der wie Zunder brennt und durch den man mit dem
Gewehr hindurchschießen kann? Wer hat denn für das
Allzweckfahrzeug gesorgt?
({2})
Wie ist es denn gekommen, dass diese Dinge so verändert
worden sind? Warum wurde mit Splittersicherheit nachgerüstet usw.? Alle diese Dinge haben doch etwas mit dem
Schutz unserer Soldaten zu tun. Glücklicherweise haben
wir das meiste praktisch gemeinsam gemacht. Ich finde es
unerhört und erbärmlich, dass man zu solchen Mitteln
greift, um eine Partei auf dem Rücken der Soldaten zu
diskreditieren. Wie wollen Sie das überhaupt verantworten?
({3})
Die einzige Tatsache, die Sie hier angeführt haben, ist,
dass die Inspekteure in Zusammenarbeit mit dem Generalinspekteur festgestellt haben, dass 380 Millionen DM
für den Unterhalt der Fahrzeuge fehlen. Die Haushaltsexperten unserer Partei haben gesagt, dass diese Mittel aus
dem Kapitel 14 03 erwirtschaftet werden können und
0,6 Prozent des Gesamthaushalts ausmachen.
({4})
Die Frage, wie das gemacht werden soll, wurde also beantwortet. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen.
({5})
Dann haben Sie, um weitere Verunsicherung in die
Truppe zu bringen, locker verbreitet, der „Tiger“ werde
nicht gebaut, es könnten 25 000 Wehrpflichtige nicht eingezogen werden. Das alles haben Sie durch die Zeitungen
verbreiten lassen. In der Regel macht man das so - das ist
nichts Neues -, dass man das mit einer Frage verbindet,
die man gleich selber beantwortet, indem man sagt: Wenn
das so kommt, ist das für die Bundeswehr nicht gut; die
Sozialdemokraten gehen mit der Bundeswehr nicht gut
um.
({6})
Das sind Dinge, die Herr Scharping schon seit zwei
Jahren sagt - nur hat das damals nicht für Aufregung gesorgt -: dass die Bundeswehr zurzeit nicht zu 100 Prozent
einsatzfähig ist, gemessen an den Aufgaben und Verpflichtungen, die Sie nicht eingegangen sind, zu denen Sie
praktisch nicht die Vision und auch nicht die Courage hatten. Es ging zum Beispiel darum, der EU zu helfen und
eine Einsatztruppe zu schaffen. Der Generalinspekteur
hat gesagt, das habe man erst in dem Prozess der Vorbereitung auf Nizza entwickelt. Diese Truppe müsse aufgestellt, umorganisiert, angeboten werden. Da diese Truppe
noch nicht stehe, hat der Generalinspekteur gesagt, sei die
Bundeswehr nur in diesem Bereich noch nicht zu 100 Prozent einsatzfähig. Aber Herr Breuer neigt ja zum kognitiven Umstrukturieren und macht daraus: Die gesamte
Truppe ist in allen Aufgabenspektren nicht einsatzfähig.
Er stellt das einfach in der Öffentlichkeit so fest, wider
besseres Wissen. Das ist das, was aus den Äußerungen des
Generalinspekteurs bewusst herausgelesen und kognitiv
umstrukturiert worden ist. Den anderen - unparlamentarischen - Ausdruck möchte ich nicht benutzen.
Weiterhin beschönigen Sie das, was Altlasten waren.
Hat es schon einmal jemand fertig gebracht, ein neues
Flugzeug zu bestellen, das Jägeraufgaben wahrnehmen
soll, aber keine Bewaffnung hat? Hat es schon einmal jemand fertig gebracht, ein solches Flugzeug zu bestellen,
das noch nicht einmal über einen Eigenschutz verfügt, sodass es hinterher nachgerüstet werden muss?
({7})
Wir waren aus völlig anderen Gründen dagegen.
({8})
Wir hatten doch Recht gehabt, Hans Raidel, als wir gesagt
haben: Der Eurofighter wird wesentlich mehr kosten, als
im Haushalt jemals vorgesehen war. Den Betrag, um den
es wegen fehlender Bewaffnung und fehlenden Eigenschutzes sowie anderer zusätzlicher Dinge teurer geworden ist, müssen wir jetzt abarbeiten.
Nun kommen Sie mir ja nicht wieder mit dem Spruch
von Frau Matthäus-Maier, wie viele Kindergärten man für
einen Eurofighter bauen könnte. Das kennen wir schon.
({9})
Zu dem Punkt Altgerät und Kannibalisierung sagen Sie
mir doch bitte einmal, was Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit für das Heer an modernem neuen Gerät
- außer der Panzerhaubitze 2000 und möglicherweise
Dienstwagen, die 20 Jahre laufen müssen - für die Kommandeure angeschafft haben! Sagen Sie es uns einmal!
Und dann wundern Sie sich, dass hinterher kannibalisiert
werden muss, weil Ersatzteilserien ausgelaufen sind?
({10})
Wir dürfen hier jetzt aufräumen und Sie werfen uns vor,
dass wir solch altes Gerät übernommen haben. Das Einzige, was Sie uns vorwerfen können, ist, dass wir so doof
sind und uns darum kümmern, diese Missstände abzubauen. Das ist teuer genug.
Zusätzlich vermengen Sie das mit der Zukunft, zum
Beispiel mit dem Aufklärer. Aber lieber Gott, wer hat es
denn erfunden? Dazu, dass die Bundesrepublik zusammen
mit anderen Nationen Aufklärung betreiben will, ist immer
gesagt worden: Das nützt auch den anderen. 50 Prozent
kommen aus dem Verteidigungshaushalt und 50 Prozent
aus anderen Haushalten. Das ist alles nichts Neues.
Sie vermischen also allein aus parteipolitischem Kalkül Dinge, die nicht zusammengehören. Dies hilft niemandem und schadet der Bundeswehr sowie den Soldaten. Durch diese Verunsicherung werden Sie nicht zu
mehr Stimmen kommen.
({11})
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b so-
wie Zusatzpunkt 6 auf.
5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur
Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung
- Drucksache 14/5429 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria
Böhmer, Maria Eichhorn, Ilse Falk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Ankündigungen zur Bekämpfung von Gewalt
gegen Frauen umsetzen
- Drucksache 14/5093 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Bläss, Monika Balt, Maritta Böttcher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Frauenrechte sind Menschenrechte - Gewalt
gegen Frauen effektiver bekämpfen
- Drucksache 14/5455 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Das Haus ist einverstanden; dann ist
dies so beschlossen.
Bevor wir in die Debatte eintreten, darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die an der jetzt folgenden Debatte
nicht teilnehmen möchten, bitten, ihre Gespräche in der
Lobby fortzusetzen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe der Bundesjustizministerin, Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist der 90. Internationale Frauentag. Ich finde es
sehr gut, dass wir ausgerechnet heute mit den parlamentarischen Beratungen über das Gewaltschutzgesetz beginnen, das wir Ihnen vorgelegt haben. Sie wissen, Gewalt
gegen Frauen ist in unserer Gesellschaft leider immer
noch ein großes Problem.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
haben sich vorgenommen, die Bekämpfung der Gewalt in
unserer Gesellschaft zu einem Schwerpunkt ihrer Politik
zu machen. Wir tun das - wie ich glaube - auch mit bereits durchaus feststellbarem großen Erfolg. Wir sind der
Auffassung, dass auch die Bekämpfung der häuslichen
Gewalt zu diesem Bereich gehört. Deswegen haben wir
- übrigens auch mit Unterstützung jedenfalls eines Teils
der Opposition - das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in
der Erziehung verabschiedet, das im November 2000 in
Kraft treten konnte. Leider Gottes hat die größte Oppositionsfraktion dem nicht zugestimmt, was wir sehr bedauern, weil wir nach wie vor davon ausgehen, dass die Gewaltbekämpfung und gerade auch die Bekämpfung der
häuslichen Gewalt ein gemeinsames Anliegen des Deutschen Bundestages sein sollte.
({0})
Deswegen drängen wir so darauf, dass der Bund und auch
die Länder ihre Verantwortung erkennen und in der BundLänder-Arbeitsgruppe zusammenarbeiten, wenn es um
die Bekämpfung häuslicher Gewalt geht.
Was bringt nun dieses neue Gewaltschutzgesetz? Es
bringt eine ganze Reihe zusätzlicher Schritte in Richtung
Schutz und Hilfe für Frauen, die geschlagen wurden, das
heißt, Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind. Diese
geprügelten und geschlagenen Frauen sollen erfahren,
dass sie gegen häusliche Gewalt nicht nur den Schutz
des Rechts auf ihrer Seite haben, sondern dass ihnen
gerade auch Polizei und Gerichte in solch schwierigen
Lagen helfen. Wir alle wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass genau das erforderlich ist; denn jedes Jahr
- man höre und staune - müssen in unserem Land, das
sich so viel darauf einbildet, etwas für Frauen zu tun, etwa
45 000 Frauen mit ihren Kindern Zuflucht im Frauenhaus suchen.
Wir wissen auch, dass dies nicht das gesamte Ausmaß
aufzeigt. Die Grauzone in diesem Bereich reicht sehr viel
weiter, weil eine große Zahl geprügelter und geschlagener Frauen nicht ins Frauenhaus gehen kann, da sie dort
keine Unterkunft und Zufluchtsmöglichkeit findet. Diese
Frauen müssen bei ihren Verwandten oder Freunden zumindest vorübergehend Schutz suchen. Sie muss man
ebenfalls berücksichtigen. Wie groß die Grauzone wirklich ist, wissen wir nicht genau. Ich bin meiner Kollegin
Bergmann sehr dankbar, dass sie mithilfe eines Gutachtens versuchen will, diese Dunkelziffer deutlich zu machen und die Grauzone weiter aufzuhellen.
Wir alle sind uns einig: Es ist gut, dass es Frauenhäuser gibt. Wir müssen diese Einrichtungen unterstützen, soweit wir das persönlich noch nicht tun. Wir müssen all denen, die dort arbeiten, gerade heute unseren herzlichen
Dank aussprechen.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es eigentlich richtig und vernünftig, so fortzufahren wie bisher? In einer
Familie wird eine Frau geschlagen und trotzdem muten
wir es der Frau, die Opfer häuslicher Gewalt geworden ist,
zusätzlich zu dieser Schmach und den Schmerzen zu, dass
sie diejenige ist, die die Wohnung verlassen und Schutz
suchen muss, egal, ob bei Bekannten oder in einem Frauenhaus. Ich sage: Das ist weder richtig noch gerecht und
vernünftig ist es schon gar nicht.
({2})
Deswegen legen wir diesen Gesetzentwurf vor, der
nach dem Motto verfährt: Der Schläger geht und die Geschlagene bleibt. Wir handeln hier nach dem österreichischen Vorbild. Dessen Maßnahmen haben uns deutlich
gemacht, dass es Änderungsmöglichkeiten gibt, dass man
helfen kann und dass sich das Verhalten prügelnder Männer beeinflussen lässt. Genau das haben wir vor.
Deshalb legen wir diesen Gesetzentwurf heute in die
Hände des Deutschen Bundestages und bitten Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam mit uns die Beratungen sehr zügig und schnell zu einem guten Ende zu
bringen. Wir möchten gern, dass die fünf wesentlichen
Verbesserungen sehr bald den Opfern häuslicher Gewalt
zugute kommen können:
Wir wollen erreichen, dass die Opfer einer häuslichen
Gewalttat den Anspruch auf die alleinige Nutzung der bislang mit dem prügelnden Täter gemeinsam genutzten
Wohnung bekommen. Dieses Nutzungsrecht soll auch
dann gelten, wenn bisher der Täter derjenige war, der den
Mietvertrag unterschrieben hat, oder wenn er alleiniger
Eigentümer ist. Wir möchten gern, dass auch in solchen
Fällen die Wohnung - jedenfalls für eine gewisse Zeit der Frau und, falls vorhanden, den Kindern überlassen
wird. Diese Frist kann sechs Monate betragen. In Ausnahmefällen kann sie bis zu einem Jahr dauern. Während
dieser Zeit muss die Frau die Möglichkeit haben, eine andere Unterkunft zu suchen.
Maßnahmen müssen getroffen werden, mit denen erreicht werden kann, dass die prügelnden Männer verstehen, dass sie Unrecht getan haben. Ihnen soll dabei geholfen werden, ihre Verhaltensmaßstäbe und ihr Verhalten
zu verändern. Auch in diesem Punkt war uns Österreich
ein gutes Vorbild. Man kann es schaffen.
Wir können solche Maßnahmen nicht alle in unser
Bundesgesetz aufnehmen, weil die Zuständigkeit zum
Teil bei den Ländern liegt. Ich appelliere an die Länder,
gemeinsam mit uns dieses Projekt insgesamt zum Erfolg
zu bringen.
({3})
Das neue Gesetz soll außerdem die Möglichkeit schaffen, weitere Schutzanordnungen zu treffen. Das ist
wichtig, und zwar deshalb, weil uns die Frauen häufig sagen, sie haben Angst, dass der prügelnde Mann in die
Wohnung zurückkommt, sie an ihrem Arbeitsplatz aufsucht, auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz bedrängt, auf
irgendeine Weise einen persönlichen Kontakt herbeiführt
und sie weiter belästigt, bedroht oder sogar schlägt oder
auf andere Art Kontakt aufnimmt, sei es auch durch Telefonterror.
In all diesen Fällen soll das Gericht eine so genannte
Schutzanordnung erlassen können, die wir, wie auch die
Wegweisungsanordnung aus der Wohnung, mit Strafe bewehren. Das heißt auf Deutsch: Wenn sich der Schläger
nicht daran hält, obwohl ein Richter gesprochen hat, kann
er bestraft werden. Wir setzen hier eine Geld- oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr als Strafrahmen fest.
Wir tun mit diesem Gesetz aber noch mehr. Wir sagen:
Es darf nicht gewartet werden, bis es zu Prügeln und Verletzungen kommt. Wir möchten, dass Richter auch dann
mit einer Schutzanordnung eingreifen können, wenn
„erst“ Drohungen vorliegen, das heißt, wenn noch keine
Schläge, noch keine Prügel, aber schon Drohungen erfolgt sind. Für solche Fälle schaffen wir die Grundlage für
Schutzanordnungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir gehen noch einen Schritt weiter - bisher haben wir über Gewalt und
Prügel innerhalb einer Partnerschaft, ob nun Ehe oder Lebensgemeinschaft, gesprochen - und erfassen auch jene
Fälle, von denen wir unter dem Begriff „stalking“ immer
häufiger in der Presse lesen. Hier liegt keine Beziehung,
keine Partnerschaft vor. Entweder gibt es eine eingebildete Beziehung oder den so genannten Liebeswahn, das
heißt, jemand bildet sich ein, er hätte irgendein Recht auf
irgendeinen Menschen - das kann ein Mann oder eine
Frau sein - und damit aus enttäuschter oder eingebildeter
Liebe auch das Recht, ihn zu terrorisieren und zu belästigen.
Das kann sogar noch weiter gehen und seinen Niederschlag in Dauerbelagerungen am Telefon finden oder
auch dazu führen, dass jemand die Haustür seines armen
Opfers eintritt. Die Polizei, die dann dazukommt, kann in
solch schweren Fällen etwas machen. Aber sie kann nichts
unternehmen, wenn die ständigen Belästigungen und Belastungen auf eine Art erfolgen, von der wir heute sagen
müssen: Es ist noch nichts passiert, es hat noch keine Prügel gegeben. Auch mit dieser Form von Belästigungen
muss Schluss sein. Wir wollen hier den Richterinnen und
Richtern die Möglichkeit geben, durch eine Anordnung
solche Belästigungen zu unterbinden, damit das Opfer
solche Formen von Belästigungen und Vorstufen körperlicher Gewalt oder Bedrohung nicht mehr dulden muss.
Das werden wir nicht mehr zulassen und dafür setzen wir
Strafen fest.
({4})
Nun wissen wir, dass der Bund nur die zivilgerichtliche
Seite regeln kann. Ich habe schon erwähnt, dass auch als
Ergänzung das polizeiliche Einschreiten gewährleistet
sein muss, was nur die Länder regeln können. Ich bin
dafür dankbar, dass es in einigen Städten schon den einen
oder anderen sehr erfolgreichen Modellversuch gibt. Es
ist gut, dass die Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die wir angeregt haben, derzeit ihren Abschlussbericht vorlegt, in
dem vorgeschlagen wird, das Musterpolizeigesetz zu ergänzen, um die Klarheit zu schaffen, dass die Polizei helfen will.
Mein Appell geht heute, am Internationalen Frauentag,
nicht nur an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beratungen schnell zu einem guten Ende zu bringen, sondern
auch an die Länder, gemeinsam mit uns dazu beizutragen,
dass sich Frauen in diesem Lande sicherer fühlen und erfahren können, dass sie den Schutz des Rechts auf ihrer
Seite haben.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich bitte nun
um besondere Aufmerksamkeit für den einzigen männlichen Redner in dieser Debatte.
({0})
Es spricht der Kollege Ronald Pofalla für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich will den Appell der Bundesjustizministerin an die Mitglieder des Deutschen Bundestages aufgreifen. Frau Ministerin, ich kann Ihnen zusichern: Wir sind genauso wie Sie an einer schnellen Beratung und nach Möglichkeit auch an einer gemeinsamen
Verabschiedung interessiert.
Ich glaube allerdings - ich werde auf einzelne Punkte
gleich eingehen -, dass wir im Rahmen einer Anhörung zu
diesem Gesetzentwurf zu der einen oder anderen Stelle
Vertreter der Praxis hören sollten, um vielleicht eine noch
feinere Ausjustierung bestimmter Regelungen vornehmen
zu können. Ich versichere Ihnen aber, dass wir Ihr Anliegen,
häusliche Gewalt als etwas, was nicht geht, darzustellen,
für richtig halten und dass auch die Rechtsfolgen, die der
Gesetzentwurf vorsieht, unsere Unterstützung finden.
({0})
Ich glaube, es bedarf keiner besonderen Anmerkung,
dass jede Form von Gewalt vom Deutschen Bundestag
und seinen Fraktionen abgelehnt wird und wir das in der
Vergangenheit durch eine Reihe von Gesetzesinitiativen
deutlich gemacht haben. Der private Bereich - das wird
fälschlicherweise von vielen so verstanden - ist keine
Zone einer reuelosen Gewaltanwendung. Insoweit ist
grundsätzlich jeder Versuch, eine solche Art der Gewaltanwendung zu verhindern, unterstützenswert. Jedoch
muss gerade in einem solch empfindlichen Bereich wie in
dem von zwischenmenschlichen Bindungen geprägten
Ehe-, Verwandtschafts- und Partnerschaftsbereich behutsam vorgegangen werden.
Die Zielsetzung des hier in Rede stehenden Gesetzentwurfes der Bundesregierung - ich habe das eingangs deutlich gemacht - wird von uns grundsätzlich befürwortet
und unterstützt. Sowohl die Gewalt in der Ehe und in der
Partnerschaft als auch Belästigungen wie Nachstellungen
oder ständiges Verfolgen müssen deutlich bekämpft werden. Die Ehe oder Partnerschaft ist kein rechtsfreier
Raum.
Doch bleiben nach Lektüre des Gesetzentwurfs Bedenken, was die Umsetzung des mit dem Gesetz Bezweckten angeht. So ist zwar der Maßnahmenkatalog, der
dem Gericht als Rechtsfolge bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 des Entwurfs des
Gewaltschutzgesetzes zur Verfügung steht, durchaus ausreichend und gibt dem Gericht eine Fülle von Handlungsmöglichkeiten an die Hand; doch bestehen beispielsweise
hinsichtlich der im Entwurf vorgesehenen erleichterten
Beweisführung und der unter Umständen gebotenen - das
will ich deutlich sagen -, jedoch im Entwurf rigoros geregelten Wohnungsüberlassung Bedenken.
Bedenken bestehen auch hinsichtlich der Regelungen
des neuen § 64 b des Gesetzes über die Angelegenheiten
der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Hier soll, was im Einzelfall durchaus geboten erscheinen kann, in bestimmten
Fällen die Vollstreckung vor Zustellung der Entscheidung
des Familiengerichts ermöglicht werden. Das Kernproblem liegt dabei - dies ist nach unserer Auffassung durch
den Gesetzentwurf nicht befriedigend geregelt - im Missbrauchspotenzial der beabsichtigten Regelungen.
Durch die drastischen Maßnahmen kann zwar im
tatsächlichen Misshandlungsfall schnell und effektiv
geholfen werden, doch kann genauso schnell und effektiv
derjenige abgefertigt werden, der Opfer eines abgekarteten Spiels geworden ist.
({1})
- Ich kann auf eine zehnjährige anwaltliche Praxis bei
familiengerichtlichen Auseinandersetzungen zurückblicken. Ich will nur darüber berichten, welche Schwierigkeiten bei der Umsetzung einer an sich vernünftigen
Regelung bestehen können. Meine zehnjährige anwaltliche Praxis zeigt mir Folgendes: Es wird in familienrechtlichen Auseinandersetzungen - seien sie scheidungsrechtlicher, unterhaltsrechtlicher oder sorgerechtlicher Art - in
einer nicht zu unterschätzenden Anzahl von Fällen von
beiden Partnern, um es deutlich zu sagen, gelogen und die
Tatsachen entstellend argumentiert, sodass es in der Sache
für das erkennende Gericht manchmal schwierig ist, den
tatsächlichen Sachverhalt zu erforschen und dann die
richtigen Entscheidungen zu treffen.
Bei der Frage der Güterabwägung bin ich - übrigens in
Übereinstimmung mit dem Gesetzentwurf - der Auffassung, dass jemand, der mit dem Vorwurf belastet wird, er
habe gegenüber dem Lebenspartner oder der Lebenspartnerin Gewalt angewandt oder mit Gewaltanwendung gedroht, diese Behauptung zunächst unter dem Gesichtspunkt der Wohnraumzuweisung gegen sich gelten lassen
muss.
Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen - über die
Feinjustierung müssen wir uns im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens noch verständigen -: Wir werden Fälle
erleben - egal, wie wir das Gesetz im Detail ausgestalten -, in denen eine gerichtliche Entscheidung ergangen
ist und sich im Nachhinein herausstellt, dass das, was behauptet worden ist, so oder gar nicht stattgefunden hat. Ich
weise darauf nur hin, weil das als Gefahr gesehen werden
muss.
Ich sage Ihnen auch aufgrund meiner anwaltlichen Erfahrung: Ich habe eine Reihe von Mandantinnen und Mandanten vertreten, bei denen sich die Wirklichkeit
- das hätte ich mir vor der Gerichtsverhandlung nicht vorstellen können - hinterher völlig anders dargestellt hat, als
es die zwischen den Parteien ausgetauschten Schriftsätze
und Sachvorträge erwarten ließen. Ich weise auf diesen
Umstand hin, um deutlich zu machen, dass wir meiner Ansicht nach die Erfahrung der Personen, die in der Praxis
stehen, im Rahmen einer Anhörung nutzen sollten, um
vielleicht an der einen oder anderen Stelle eine feinere
Ausjustierung bei den jetzt vorgesehenen Maßnahmen
vornehmen zu können. Ich möchte dafür Beispiele nennen.
Zum einen sind im Gesetzentwurf strenge Regelungen
hinsichtlich einer Widerlegungsverpflichtung für den
Gewalttäter und - damit korrespondierend - Beweiserleichterungen für die verletzte Person, wie in der Begründung des Gesetzentwurfs dargestellt, vorgesehen. Zum
anderen gibt es die Regelung des § 64 b Abs. 2 FGG hinsichtlich der Vollstreckung ohne Notwendigkeit der
vorherigen Zustellung der familiengerichtlichen Entscheidung. Aufgrund der Kombination dieser beabsichtigten rechtlichen Regelungen können gerichtliche Entscheidungen ergehen, die sich im Nachhinein - ich wiederhole mich - als falsch herausstellen. Daher muss auch
über die Fristen, die Sie, Frau Ministerin, vorgeschlagen
haben, noch einmal diskutiert werden.
Ich denke dabei an ein gekoppeltes Verfahren. Die
Sechsmonatsfrist und die Möglichkeit, diese Frist um
weitere sechs Monate zu verlängern - das haben Sie, Frau
Ministerin, vorgeschlagen -, sind eventuell unter dem Gesichtspunkt, dass sich im Nachhinein etwas anderes herausstellen kann, als bei der Entscheidung des Gerichts
angenommen wurde, zu verkürzen. Vielleicht sind auch
drei Monate ausreichend, weil sich auch angesichts der
Praxis der Familiengerichte relativ schnell Klarheit verschaffen lässt, ob das, was behauptet wurde, tatsächlich
richtig ist. Die Gerichte sollten die Möglichkeit bekommen, statt einer Frist von sechs Monaten eine Frist von
drei Monaten zu verhängen, in denen ihnen aber durchaus
abverlangt werden kann, den Tatsachenvortrag, soweit
das in dieser Zeitspanne möglich ist, zu überprüfen. Das
sind beispielsweise Fragen, über die wir diskutieren sollten, um eine feinere Ausjustierung vornehmen zu können.
Ich möchte zusammenfassend deutlich sagen, damit
keine Missverständnisse entstehen: Wir begrüßen den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Wir wollen uns an der
Beratung beteiligen und den Gesetzentwurf gemeinsam
verabschieden. Auch wir wollen eine schnelle Beratung.
Daher rege ich an, dass wir uns gleich in einer der nächsten Sitzungen des Rechtsausschusses auf ein enges zeitliches Verfahren verständigen, damit der Gesetzentwurf
zeitnah verabschiedet werden kann.
Ich bitte allerdings auch darum, im Rahmen der Diskussion über die Ausjustierung noch einmal über die eine
oder andere Bestimmung nachzudenken und mit Vertretern der Praxis zu reden; denn meine Erfahrung hat mich
gelehrt, dass sich der anfänglich als richtig angenommene
Tatsachenvortrag in einer nicht zu unterschätzenden Anzahl von Fällen - ich möchte nicht sagen: in einer großen
Anzahl von Fällen; eine solche Behauptung würde ich
nicht aufstellen; aber es ist eben auch nicht die totale Ausnahme - später, relativ schnell, als völlig falsch herausstellt.
Daraus dürfen nicht gerichtliche Entscheidungen zulasten einer Person entstehen, sondern es muss auch hier die
Möglichkeit der kurzfristigen Überprüfung geben. Daher
bieten wir eine gemeinsame Verabschiedung in der Sache
an, wenn man zu gemeinsamen Lösungen kommt.
Herzlichen Dank.
({2})
Zu einer
Kurzintervention erhält die Kollegin Margot von Renesse
das Wort.
Ich finde es immer gut,
Herr Kollege Pofalla, wenn wir uns über weite Strecken
einig sein können. Ihre Rede hat angedeutet, dass dies der
Fall ist. Wir sind uns zunächst einmal darin einig, dass in
diesen Fällen mit hoch emotionalisierten Auseinandersetzungen - ich will nicht sagen: gelogen wird - Wahrnehmungsverzerrungen auf beiden Seiten stattfinden. Auch
das ist eine Erfahrung, die jeder gemacht hat, der mit diesen Dingen zu tun hat.
Auf der anderen Seite hoffe ich, dass wir uns auch
darin einig sind, dass die Gefahr größer ist, wenn jemand
weiter geprügelt wird, und sie nicht so groß ist, wenn jemand ohne Kinder kurzfristig vor einer Tür steht, durch
die er bei Richtigstellung aller Vorwürfe wieder gehen
kann. Wenn wir uns auch darüber einig sind, dass wir verhindern müssen, dass Schlimmes weitergeht, werden wir
eine Lösung finden.
({0})
Das Wort
hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen heute eine gute, wenn auch junge, rotgrüne Tradition fort. Statt am Internationalen Frauentag
schöne Reden voller Absichtserklärungen zu halten,
bringt die rot-grüne Bundesregierung Gesetze ein, die die
Rechte von Frauen stärken. Wir tun also etwas.
({0})
- Ja, das kommt gleich.
Im letzten Jahr war es das eigenständige Aufenthaltsrecht für ausländische Frauen.
({1})
In diesem Jahr ist es das so genannte Gewaltschutzgesetz. Ich erspare mir, den vollen Titel zu nennen; denn er
ist sehr kompliziert.
Wir diskutieren heute einen Gesetzentwurf, der einen
Perspektivwechsel im Umgang mit der Gewalt gegen
Frauen vornimmt. Es handelt sich um einen Gesetzentwurf, der die Verantwortlichkeit festgelegt und daraus
Konsequenzen zieht. Nicht mehr die misshandelte Frau
und ihre Kinder müssen die Ehewohnung verlassen, sondern der gewalttätige Mann. Auf eine kurze Formel gebracht, bedeutet dies: Der Täter geht, das Opfer bleibt.
({2})
Gewalt gegen Frauen im häuslichen Umfeld ist ein wesentliches Fundament, auf dem die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen begründet ist. Frauen, die in ihrem
engsten Umfeld in einer Machtbeziehung leben, erfahren
eine systematische Zerstörung ihres Selbstwertgefühls.
Durch Misshandlungen und Demütigungen, die sie oft über
Jahre hinweg erleben müssen, beschränken sich ihre Handlungs- und Abwehrmöglichkeiten deutlich. Eine misshandelte Frau kann in ihrem Beruf eben nicht erfolgreich sein.
Je länger die Misshandlungen andauern, desto schwerer ist es für die Geschlagene, der Beziehung zu entfliehen. Wir dramatisch die Gewalt ist, die Frauen weltweit
zu ertragen haben, zeigt uns der zum Internationalen Frauentag vorgelegte Bericht von Amnesty International. Seit
Jahren werden in Afghanistan die Menschenrechte von
Frauen mit Füßen getreten. Obwohl das in aller Welt bekannt ist, wurde es von den meisten ignoriert. Jetzt jedoch, da die Buddha-Statuen in Gefahr sind - so schrecklich ich das auch finde -, geht ein Aufschrei durch die
Welt. Wo war dieser Aufschrei, als die Menschenrechte
der afghanischen Frauen zerstört wurden? Wo war er?
({3})
Ich komme zurück zur Situation in Deutschland. Es
war die Frauenbewegung, die mit ihrem Slogan „Das Private ist politisch“ die Gewalt in der Familie öffentlich
machte. Das ist ein Verdienst der 68erinnen; denn bis dahin war dies ein Tabuthema. - Die Staatssekretärin
lächelt; auch sie gehört dazu.
Das ganze Ausmaß, die Hintergründe und die Folgen
der Gewalt, die Frauen im Privatbereich erlebten, waren
unbekannt. Das erste autonome Frauenhaus entstand in
Berlin im Jahre 1976. Frauen fanden dort nicht nur Schutz
vor weiteren Misshandlungen durch ihre Ehemänner,
sondern auch kompetente Unterstützung und Ermutigung.
Geschlagene Frauen erhielten Hilfe auch bei der Überwindung ihrer Misshandlungserfahrungen; denn nicht selten gibt sich die Frau eine Mitschuld dafür, dass der Mann
sie schlägt. Was hat sie wohl falsch gemacht, was hat ihn
so in Rage gebracht?
Herr Pofalla, Ihre Diskussion über den Missbrauch
mag richtig sein. Aber in jedem anderen Rechtsgebiet ist
es möglich, dass Leute eine andere Wahrnehmung haben
und in einem Verfahren lügen. Sind Sie da auch so engagiert und fragen nach, ob nicht auch Missbrauch betrieben
wird? Ich finde es etwas verwunderlich, wie ausführlich
Sie das an dieser Stelle dargelegt haben.
({4})
Auch in der Gesellschaft gibt es derartige Urteile bzw.
Vorurteile. Ich erinnere mich noch gut an eine Frauenhauseröffnung in Nordrhein-Westfalen vor circa 15 Jahren. Eine konservative Politikerin brachte da ein Bügeleisen mit und überreichte es mit den Worten, dass dies doch
ein notwendiges Utensil für Frauen sei und so mancher
Frauenhausaufenthalt vielleicht hätte verhindert werden
können, wenn die Frauen den Männern die Hemden ordentlich gebügelt hätten.
({5})
Ich empfinde dies als eine ziemlich zynische Entgleisung.
Frauenhäuser sind heute nicht mehr wegzudenken. Ihre
Zahl in Deutschland beläuft sich mittlerweile auf 400.
Annähernd 45 000 Frauen suchen hier jährlich Zuflucht,
teilweise auch mit ihren Kindern. Ohne die hervorragende
Arbeit der Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser abzuwerten, wünsche ich mir aber eine Gesellschaft, die keine
Frauenhäuser braucht.
({6})
Mit dem heute vorgelegten Gewaltschutzgesetz gehen
wir den Weg, den die Frauenbewegung vor über 25 Jahren initiiert hat, weiter. Das vorliegende Gesetz ist nicht
nur ein Erfolg für die betroffenen Frauen. Damit werden
auch die Leistungen der Frauen in den Frauenhäusern, Beratungsstellen und an den Notruftelefonen unterstützt.
Durch die Vorschriften des Gewaltschutzgesetzes werden
Frauen, die Gewalt im familiären Umfeld erfahren haben, in ihren Rechten gestärkt. Viel zu lang waren Justiz
und Polizei auf einem Auge blind und haben Gewalt im
sozialen Nahraum als Familienstreitigkeit angesehen, in
die sich der Staat nicht einzumischen habe. Ein Blick in
die Statistik macht deutlich: Nicht der dunkle U-BahnSchacht oder ein unbeleuchteter Park sind für Frauen die
gefährlichsten Orte. Nein, es sind die eigenen vier Wände.
Jede dritte Frau zwischen 20 und 59 Jahren - so eine Untersuchung - erlebt mindestens einmal in ihrem Leben
Gewalt im persönlichen Umfeld.
Wir wollen, dass diese Frauen nicht zum zweiten Mal
Opfer werden, indem sie auch noch ihr vertrautes Lebensumfeld verlassen müssen, während der gewalttätige Ehemann in der Wohnung bleibt. Genau hier setzt das Gesetz
an. Die betroffene Frau wird in der akuten Gefährdungssituation geschützt. Durch das zuständige Familiengericht
ist per Eilanordnung eine vereinfachte Zuweisung der gemeinsamen Wohnung möglich. Die Überlassung der
Wohnung können künftig aber nicht nur Ehefrauen, sondern auch Partnerinnen oder Partner - nach dem neuen
Gesetz für die eingetragenen Partnerschaften natürlich
auch Partner - in Anspruch nehmen, die in häuslichen
Partnerschaften leben. Zur Wegweisung kommt ein ausdrückliches Kontakt-, Belästigungs- und Näherungsverbot hinzu. Auch telefonischer Kontakt oder Kontakt per
E-Mail kann untersagt werden. Verstößt der Gewalttäter
gegen diese Schutzanordnungen, macht er sich automatisch strafbar. Die Frau kann die Polizei rufen, die für
ihren Schutz zu sorgen hat. Jeglicher Kontakt zu einem
gewalttätigen Partner kann so unterbunden werden. In
Zukunft nutzt es den Männern auch nichts mehr, sich darauf hinauszureden, dass sie ja betrunken waren und sonst
immer lammfromm sind. Das Gesetz stellt ausdrücklich
klar, dass die Schutzanordnungen auch dann möglich
sind, wenn der Täter betrunken war oder unter Drogen
stand.
Das Gesetz geht noch weiter - die Justizministerin hat
es vorhin schon gesagt -: Es muss nicht erst etwas passieren, bis sich eine belästigte Person rechtlich zur Wehr
setzen kann. Das wird mit den Schutzregelungen zum so
genannten Stalking sichergestellt. Es sind ja nicht nur
Prominente - aber sie insbesondere -, die von solchen
Nachstellungen oder von Telefonterror betroffen sind.
Damit machen wir der häufigen Verharmlosung derartiger
Nachstellungen endlich ein Ende.
({7})
In Zukunft kann niemand mehr sagen: Es ist ja noch
nichts passiert, da kann man leider nichts machen. - Ein
Verstoß gegen diese Schutzanordnungen hat automatisch
entsprechende strafrechtliche Konsequenzen. Damit beschreiten wir juristisches Neuland. Ich finde es entgegen
der Position der PDS in ihrem Antrag angemessen, nicht
auch schon das Stalking strafrechtlich zu verfolgen, sondern erst den Verstoß gegen die Schutzanordnung. Lassen
Sie uns das aber in einer Anhörung genauer beleuchten.
Dies ist ein neues Phänomen und man muss es sicherlich
auch genau untersuchen.
Die Vorschriften des Gesetzentwurfes wurden in Anlehnung an das österreichische so genannte Wegweisungsrecht formuliert, das es dort seit 1997 gibt. In den
vergangenen vier Jahren wurden dort gute Erfahrungen gemacht. Herr Pofalla, die Sorgen, die Sie vorhin geäußert
haben, können durch das, was in Österreich statistisch belegt wurde, überhaupt nicht begründet werden. Dort werden jährlich über 3 000 Wegweisungen an gewalttätige
Männer ausgesprochen. Hochgerechnet auf Deutschland
wären das 30 000. Das ist eine hohe Zahl. Häufig wird die
Frage gestellt, was denn diese 30 000 Männer machen:
Brauchen sie ein Männerhaus? Brauchen wir für diese
Männer Unterkünfte?
({8})
Ein Blick nach Österreich zeigt, dass sich die Obdachlosenquote nicht erhöht hat; die Männer gehen zurück zu ihren
Müttern oder zu ihren Freundinnen. Wir brauchen uns
also so große Sorgen nicht zu machen.
({9})
In Österreich hat die Polizei das Recht, den Gewalttäter sofort, zunächst für zehn Tage, der Wohnung zu verweisen und ihm den Hausschlüssel abzunehmen. Die Polizei muss also entscheiden, ob ein gefährlicher Angriff
stattgefunden hat oder ob dies befürchtet werden muss.
Sie benachrichtigt Beratungsstellen, die die gefährdete
Frau unterstützen. Auch das ist sicherlich ein wichtiger
Aspekt. Dieses österreichische Verfahren ist effektiv, da
es bereits in der Situation einer akuten Gefährdung ansetzen kann. Ich wünsche mir, dass das auch bei uns so ist.
Allerdings gibt es eine kleine Hürde. Da Polizeiangelegenheiten bei uns in die Länderzuständigkeit fallen,
sind nun die Länder - ein Land hat es schon umgesetzt an der Reihe; denn nun müssen endlich auch die polizeilichen Möglichkeiten zum Schutz der Frauen verbessert
werden. Dazu gehören klare Regelungen, die den Polizisten und Polizistinnen die nötige Rechtssicherheit geben,
um einen Schläger unverzüglich aus der Wohnung zu entfernen und ihm die Rückkehr für eine konkrete Frist zu
untersagen. Es gibt zwar Annahmen, dass die gesetzlichen
Möglichkeiten schon heute ausreichen; ein Beispiel dafür
ist der Platzverweis. Ich kann mir aber nicht vorstellen,
dass ein Polizist oder eine Polizistin einen Mann auf einer
derart vagen Rechtsgrundlage tatsächlich der Wohnung
verweist. In diesem Punkt brauchen wir ganz klare gesetzliche Regelungen.
({10})
Unabdingbar ist aber auch eine feste Verankerung des
Themas häusliche Gewalt in der polizeilichen wie in der
juristischen Aus- und Fortbildung. Nur so kann auch gewährleistet werden, dass Klischeevorstellungen hinterfragt und Frauen vor weiterer Gewalt effektiver geschützt
werden können. Es wäre doch schön, wenn das Plakat des
Frauenhauses Reutlingen mit dem Ausspruch „Und wie
heißt die Treppe, auf der Sie angeblich mal wieder ausgerutscht sind?“ bald nicht mehr zum Einsatz kommen
müsste.
Gewalt gegen Frauen beinhaltet aber auch einen großen
volkswirtschaftlichen Schaden. Den Staat kostet Männergewalt jährlich rund 29 Milliarden DM, die Frauen ihre
persönliche Integrität, ihre Gesundheit und manchmal sogar ihr Leben.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, die meisten der von Ihnen in Ihrem Antrag gestellten Forderungen sind bereits überholt; wir waren da
einfach schneller. Das Gewaltschutzgesetz liegt heute vor.
Eine Kooperation von staatlichen Institutionen und nicht
staatlichen Hilfsangeboten wird bereits umgesetzt. Ich
nenne nur die Finanzierung der Vernetzungsstellen der
Frauenhäuser, der Notrufe und der Beratungsstellen wie
auch deren Vernetzungstreffen. Damit wird die Zusammenarbeit der Antigewaltprojekte unterstützt. Ihrer Forderung nach einer Untersuchung zur Lebenssituation ausländischer Mädchen und Frauen wurde bereits im
6. Familienbericht nachgekommen.
Damit komme ich zum Antrag der PDS. Sie haben einige Punkte angesprochen, deren Umsetzung tatsächlich
noch offen ist. Als Beispiel nenne ich § 179 StGB. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Diskriminierungen von widerstandsunfähigen Opfern zu beheben. Derzeit
wird geprüft, ob § 179 StGB nur als Auffangtatbestand genutzt wird und daher erhalten bleiben sollte. Das würde
bedeuten, dass das Urteil im Falle einer nachgewiesenen
Vergewaltigung nicht nach § 179 StGB gesprochen wird.
Der § 179 StGB würde nur gewählt, wenn keine andere
Möglichkeit bleibt, einen Täter zu bestrafen. Wir müssen
sehr genau schauen, ob wir nicht etwas streichen, was wir
eigentlich brauchen. Es gibt eine Untersuchung derjenigen Urteile, die dazu bisher gesprochen worden sind.
Um geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen als Asylgrund anzuerkennen - wie auch Sie es in
Ihren Forderungen formuliert haben -, hat die rot-grüne
Koalition die entsprechenden Verwaltungsvorschriften
bereits geändert. Es gibt zudem eine Weisung des Innenministers an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Wir hatten heute ein erneutes Gespräch mit Vertretern von Initiativen.
Es sieht so aus, als sei unterhalb der rechtlichen Änderung all das getan, was zu tun ist: Die Verwaltungsvorschriften sind geändert. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat einen großen Wandel
erfahren. Die Entscheiderinnen sind geschult worden. Es
wird nicht mehr automatisch davon ausgegangen, dass
eine Frau, die nachträglich Gründe vorbringt, sich diese
nur ausgedacht hat.
Ich habe schon den Eindruck, dass es große Veränderungen gibt. Wir können natürlich noch nicht zufrieden
sein. In einer rot-grünen Arbeitsgruppe überlegen wir derzeit, ob nicht auch eine Überprüfung des Ausländerrechts
notwendig ist, damit endgültig klargestellt wird, dass
Menschenrechtsverletzungen nicht geduldet werden und
dass wir den betroffenen Frauen in Deutschland Schutz
geben.
({11})
Dass bei einer Bedrohung aufgrund des Geschlechtes
Abschiebeschutz gewährt werden muss, betonen wir übrigens auch in unserem Antrag „Flüchtlingsschutz ist Menschenschutz“, den wir heute Abend beraten und über den
wir abstimmen. Wir machen also einen großen Schritt
nach vorne.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zu dem
Gesetzentwurf zurück. Es ist ein großer Unterschied, ob
die Polizei zur Beruhigung der Situation der Frau nahe
legt, sich in Sicherheit zu bringen und das Haus zu verlassen, oder ob klargemacht wird: Der Mann ist nicht der
uneingeschränkte Herrscher des Hauses. Er muss das
Haus verlassen, wenn er gewalttätig geworden ist. Das
vorliegende Gesetz leistet dies und stellt die Zuständigkeiten klar heraus.
({12})
Die körperliche Unversehrtheit von Frauen ist ein hohes Gut, das wir mit diesem Gesetz schützen. Ich erwarte
davon nicht nur einen Bewusstseinswandel, sondern auch
eine Veränderung der Beziehungsstruktur zwischen den
Geschlechtern. Denn - gibt es ein besseres Fazit für den
heutigen Tag? -: Frauenrechte sind Menschenrechte.
Vielen Dank.
({13})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht die Kollegin Ina Lenke.
Herr Präsident! Liebe Kollegen
und Kolleginnen! Heute ist Weltfrauentag und heute findet die erste Beratung des Gewaltschutzgesetzes statt. Zu
beiden Themen will ich Stellung nehmen.
Der Internationale Frauentag bietet immer Gelegenheit, über den Tellerrand zu blicken und die Situation von
Frauen weltweit zu betrachten. Besonders Frauen leben in
vielen Ländern unter sehr schlechten Bedingungen. Sie
werden ausgegrenzt, unterdrückt und misshandelt. Meine
Kollegin sagte vorhin: Frauenrechte sind Menschenrechte. Aber der Ruf der Weltfrauenkonferenz von Peking
ist in vielen Staaten ungehört geblieben. Die Bundesrepublik Deutschland sollte international eine Vorreiterrolle
spielen und versuchen, auf diese Länder einzuwirken.
({0})
Frau Schewe-Gerigk, ich möchte das, was Sie gesagt
haben, nicht nur einfach wiederholen, sondern noch verstärken: Es kann nicht sein, dass es zwar einen weltweiten Protest gibt, wenn in Afghanistan Buddha-Statuen
und Kulturgüter - Kulturgüter müssen wie auch andere
Güter natürlich geschützt werden - zerstört werden, aber
dass nur wenig darüber berichtet und dagegen protestiert
wird - in dieser Kritik bin ich mit Ihnen einig -, wenn
Frauen in Afghanistan in unerträglicher Weise unterdrückt werden. Ich denke, dies sollten wir im Bundestag
an diesem besonderen Tag tun.
({1})
Wir konnten letzte Woche in der Zeitung lesen, dass es
in Indien immer noch Mitgiftmorde an jungen Frauen
gibt. Hier ist nach meiner Meinung die deutsche Außenpolitik und natürlich auch der deutsche Außenminister
gefordert. Heute hat der Außenminister Joschka Fischer
eine Pressemitteilung zum Internationalen Frauentag herausgegeben. Ich habe sie mir sehr genau angeschaut.
Darin fehlen die Erfolge seiner Politik zum Thema „Menschenrechte und Frauenrechte“.
({2})
Was hat der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland bei seinen vielen Auslandsreisen eigentlich konkret
erreicht?
({3})
Wenn Sie sich die Pressemitteilung durchlesen, dann
werden Sie kaum Punkte finden, die auf entsprechende
Erfolge seiner Außenpolitik hinweisen, und das trotz des
großen rhetorischen Theaters, das Fischer während seiner
Oppositionszeit im Bundestag vom Stapel ließ.
({4})
Morgen ist auch noch ein Tag. Vielleicht erfahren wir
dann von Außenminister Fischer auf einer Pressekonferenz, was er im Ausland in Bezug auf Menschen- und
Frauenrechte ganz konkret unternommen hat.
({5})
- Das ist kein Wahlkampf. Wenn ich mich mit diesem
Thema beschäftige, dann lese ich auch Pressemitteilungen Ihres Außenministers.
({6})
Da habe ich das Recht, hier deutlich Kritik zu äußern.
Herr Fischer kann mich ja eines Besseren belehren.
({7})
Ich warte auf die persönliche Bilanz von Herrn Fischer.
Morgen ist auch noch ein Tag.
({8})
Dass der Frauenhandel blüht, ist oftmals in der
schlechten sozialen und wirtschaftlichen Situation der
Frauen begründet. Frauen sind zunehmend Opfer des international organisierten Menschenhandels. Das ist, wie
wir alle wissen, die moderne Form der Sklaverei. Wir haben uns bereits im Bundestag und im Frauen- und Familienausschuss sehr um dieses Thema gekümmert und wir
kümmern uns noch darum. Wir werden zu diesem Thema egal, von welcher Fraktion oder auch gemeinsam - in dieser Legislaturperiode noch Initiativen verabschieden. Ich
denke, das ist genauso wichtig wie alles andere.
Bei der Ausweisung von Frauen - darauf möchte ich
noch einmal hinweisen -, die sich nicht rechtmäßig in der
Bundesrepublik aufhalten, ist sicherzustellen, dass sie in
ihrer Heimat nicht Gefahren und Repressalien durch die
Täter ausgesetzt sind. Ich denke, wir sollten hier noch einmal genau überlegen und auch parlamentarisch beraten,
was im Hinblick auf das Zeugenschutzprogramm geschehen kann. Da sollten wir vielleicht einiges machen.
Da die gehandelten Frauen in Deutschland häufig zur
Prostitution gezwungen werden, ist - was wir alle wollen, was aber bisher, glaube ich, niemand parlamentarisch
initiiert hat - eine gesetzliche Regelung zur Prostitution
dringend notwendig. Die Möglichkeit, zwischen legaler
und illegaler Prostitution zu unterscheiden, würde uns
helfen, gegen den Frauenhandel besser vorgehen zu können. Dazu gehört in erster Linie, dass die Prostitution in
Deutschland nicht mehr unter dem Verdikt der Sittenwidrigkeit stehen soll. Ich weiß nicht, wie das bei der
CDU/CSU ist, aber ich bin der Meinung, dass wir dazu im
Deutschen Bundestag, wenn eine Initiative vorgelegt
wird, die Mehrheit bekommen. Denn wenn es jeden Tag
millionenfach in Deutschland passiert, dann weiß ich
nicht, ob man als Gesetzgeber die per Gesetz verankerte
Sittenwidrigkeit aufrechterhalten kann.
({9})
Nicht nur für Frauenrechte auf internationaler Ebene
ist hier im Bundestag Position zu beziehen, sondern auch
auf der nationalen Ebene liegt einiges im Argen. Wir haben die Justizministerin gehört. Das Gewaltschutzgesetz
der Bundesregierung weist hier eine Schwachstelle auf,
die jetzt behoben werden soll. Endlich hat die Bundesregierung ihre Vorarbeit erledigt. Mit dem Gesetzentwurf,
der uns heute vorliegt, sollen besonders Frauen in ihrem
häuslichen Umfeld vor roher Gewalt geschützt werden.
Der Täter soll aus der Wohnung gewiesen werden. Aber
es wäre eine Wiederholung, wenn ich diese ganzen Punkte
jetzt aufzählen würde.
Ich will jedoch sagen, dass Bund und Länder Regelungen finden müssen, die aufeinander abgestimmt sind. In
diesem Zusammenhang möchte ich hier gerne das Bundesland nennen, das in dieser Angelegenheit schon tätig
geworden ist: das Bundesland
({10})
Baden-Württemberg.
({11})
Darauf bin ich sehr stolz, weil wir einen liberalen Justizminister, Herrn Goll, haben, der schon im letzten Jahr sehr
aktiv tätig geworden ist.
({12})
Die Justizministerin mahnt die Länder und sagt, ein
Land sei erst tätig geworden. Jetzt lachen Sie über das
Land, das die Justizministerin ohne Namensnennung gelobt hat.
({13})
- Ich lasse keine Zwischenfrage zu.
In Baden-Württemberg wurden keine Gesetze verabschiedet, sondern das Landespolizeigesetz wurde geändert. In Baden-Württemberg wurde das Thema Gewalt in
der Familie aus der Tabuzone genommen und in die
öffentliche Diskussion getragen.
({14})
Über 70 Städte und Gemeinden haben sich an diesem Modellversuch beteiligt. Ich glaube, das hat mit Parteipolitik
überhaupt nichts zu tun,
({15})
sondern das deutet auf die Notwendigkeit hin, hier etwas
zu tun. Wenn das Land Bremen, das auch SPD-regiert ist,
oder andere Bundesländer das machen, wäre ich als
F.D.P.-Bundestagsabgeordnete genauso froh. Ich sehe das
jedenfalls nicht parteipolitisch.
Auf der Grundlage des Landespolizeigesetzes sind in
den letzten Monaten - falls die Herren auf der linken Seite
das nicht wissen, kann ich sie etwas aufklären - mehr als
100 Platzverweise gegen prügelnde Ehemänner ausgesprochen worden. Wenn das kein Erfolg der Modellversuche ist!
Ich war vor kurzem in Baden-Württemberg und habe
mich vor Ort darüber informiert, was da los ist und wie es
läuft. Die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Gemeinde
und Justiz hat sehr gut geklappt. Das Infomaterial liegt
dort auch in verschiedenen Sprachen aus. Das bedeutet,
dass wir nicht nur die deutschsprachigen Frauen erreichen. Wir erreichen mit dem Infomaterial natürlich auch
die Männer; sie wissen jetzt, welche Rechte Frauen haben. Ich denke, das stärkt das Selbstbewusstsein der
Frauen und das Bewusstsein der Männer. Das ist sicherlich auch eine präventive Maßnahme.
Ich möchte noch deutlich auf etwas hinweisen, was mir
aufgefallen ist: Dieses Konzept stärkt auch Kinder. Kinder lernen, dass Gewalt nicht siegt, sondern der schwache
Partner Rechte hat und Rechte erhält. Kinder erfahren,
dass der Schwächere dem Starken nicht schutzlos ausgeliefert ist und dass der Staat sichtlich Schutz gewährt. Ich
meine, hier hat das Land Baden-Württemberg gute Arbeit
geleistet. Ich würde mir wünschen, dass viele andere Länder diesem Beispiel folgen.
Die Initiativen zwischen Ländern und dem Bund - darüber sind wir uns sicher einig - müssen Hand in Hand gehen. Der Bund kann nicht in Ländergesetze, in die Länderhoheit eingreifen. Daher brauchen wir die Länder,
wenn wir in diesem Bereich etwas ändern wollen.
Ich möchte noch etwas zu den Frauenhäusern sagen:
Ich bin der Meinung, dass wir die Frauenhäuser natürlich
brauchen. Es wird immer Frauen geben, die sich unterschiedlich entscheiden. Wenn wir jetzt zwei Optionen haben, ist das umso besser. Ich denke, dass es gerade für
Kinder besser ist, im häuslichen Umfeld - in der Schule
und in der Wohnung - verbleiben zu können, wenn der Täter aus diesem verwiesen wird.
Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird in den Ausschussberatungen Vorschläge zur
Verbesserung des Gesetzestextes vorlegen. Ich wollte eigentlich auf einige Dinge exemplarisch eingehen, die Zeit
reicht aber nicht. Wir werden das in den Ausschussberatungen, vor allem im Rechtsausschuss, regeln. Ich möchte
wirklich darum bitten, dass auch wir als Opposition in den
fachlichen Beratungen in den Bundestagsausschüssen
gehört werden und dass es dann nicht einfach heißt: Hier
ist die Koalition, da ist die Opposition. Letzteres ist ab und
an vorgekommen; es hat aber auch Erfolge gegeben, die
wir durch Zusammenarbeit erzielt haben. Ich denke, an
diesem Thema sollten wir wirklich gemeinsam arbeiten.
Ich werde jedenfalls, wenn es um Kleinigkeiten geht,
meine Fraktion davon zu überzeugen versuchen, dass wir
den großen Weg gemeinsam gehen sollten.
Trotz der Probleme, die wir Frauen manchmal haben,
sollten wir positiv in die Zukunft sehen. Wir sollten die
Probleme, die die Frauen betreffen, anpacken. Das machen wir hier auch; ich glaube, daran sind federführend
Frauen beteiligt. Wenn wir hier im Bundestag gemeinsam
etwas machen, sind die Frauen gemeinsam stark. Wenn
wir den konstruktiven Streit zwischen den Fraktionen
fortführen, dann freue ich mich darauf, dass das
Gewaltschutzgesetz in die parlamentarischen Beratungen
kommt. Auf ein Neues, auf ein Gutes!
Vielen Dank.
({16})
Angemeldet
sind nunmehr zwei Kurzinterventionen, einmal von der
Kollegin Dr. Edith Niehuis und dann vom Kollegen
Alfred Hartenbach. Anschließend, Frau Kollegin Lenke,
können Sie darauf, wenn Sie wünschen, antworten.
Bitte, Frau Kollegin Niehuis.
Frau Kollegin Lenke, Sie
haben vollkommen Recht: Frauenrechte sind Menschenrechte. Sie haben über die auswärtige Politik geredet und
gemeint, dass Außenminister Fischer in dieser Hinsicht
nichts für Frauenrechte tut. Das wichtigste Dokument für
Frauenrechte auf UN-Ebene ist das 20 Jahre alte Antidiskriminierungsabkommen. Als wir noch einen liberalen
Außenminister hatten, war es nicht möglich, das seit langem geforderte Zusatzprotokoll zu verabschieden, weil
insbesondere Deutschland - ganz einsam unter den europäischen Partnern - sich immer geweigert hat, dieses Zusatzprotokoll zu unterzeichnen.
({0})
Anfang 1999, unter deutscher Präsidentschaft in Europa - das wissen Sie -, mit einem grünen Außenminister
und mit unserer Frauenministerin ist dieses Zusatzprotokoll endlich vorangebracht und dann auch verabschiedet
worden. Das heißt, nun können Frauen überall in der Welt
auch individuell klagen, wenn ihre Menschenrechte verletzt sind. Das ist mit dem Außenminister Fischer möglich
gewesen, nicht mit einem liberalen Außenminister.
({1})
Des Weiteren - ich glaube, auch Sie waren anlässlich
des Empfangs hier - hat dann das Auswärtige Amt zusammen mit unserem Ministerium den Frauenausschuss
der Vereinten Nationen für CEDAW eingeladen, um hier
in Deutschland die Arbeit machen zu können, zu der sie
aus Zeitgründen und aus finanziellen Gründen sonst nicht
kommen. Hier in Deutschland hat der UN-Frauenausschuss auf Einladung des Auswärtigen Amtes daran arbeiten können, dass dieses Zusatzprotokoll auch praktisch
mit Leben gefüllt wird.
Fragen Sie einmal bei der UN an, wie dankbar die
Frauen dieser Welt sind, dass die Bundesregierung diese
Initiativen ergriffen hat! Sie sollten sich nicht nur auf
Pressemitteilungen verlassen, sondern vielleicht auch sehen, was wirklich gemacht wird.
({2})
Zu einer
weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Alfred Hartenbach das Wort.
Verehrte Frau Kollegin,
als Sie eben das Land Baden-Württemberg so lobten,
musste ich zunächst einmal im „Kürschner“ nachschauen,
um zu sehen, ob Sie dort Ihre Heimat haben. Ich konnte
eigentlich keine solche Bindung außer Ihrer möglichen
Motivation, dort Wahlkampfhilfe leisten zu wollen, erkennen.
Ansonsten, Frau Lenke, hat das Land Baden-Württemberg das von Ihnen erteilte Lob nicht verdient. Wir wissen, dass sich das Land Baden-Württemberg sehr lange
gegen das selbstständige Aufenthaltsrecht von Frauen gesträubt und sehr lange blockiert hat, bis es sich dazu
durchgerungen hat.
Dann loben Sie Herrn Goll, den ich bis vor wenigen Tagen auch noch sehr geschätzt habe. Wenn man heute, am
Weltfrauentag, diesen Namen in den Mund nimmt, dann
muss man sich schon fragen, ob man damit nicht einem
das Wort redet, der sich in übelster Weise des Mobbings
einer Richterin aus seinem eigenen Geschäftsbereich
schuldig gemacht hat.
({0})
Wie kann es denn angehen, verehrte Frau Kollegin Lenke,
dass dieser Mann eine Kollegin von mir - ich war früher
einmal Richter -, die vom Richterwahlausschuss gewählt
worden ist, in einer so üblen Art und Weise öffentlich
abqualifiziert? Ich hätte mich als Justizminister dafür geschämt.
({1})
Zur Erwiderung erhält Frau Lenke das Wort.
Erstens. Frau Staatssekretärin
Niehuis, wenn ich mich auf eine Pressemitteilung des
Außenministers stütze, dann hätte der Außenminister sehr
wohl, wie Sie sagen, seine Erfolge deutlich machen können. Das hat er aber nicht getan.
({0})
Es sind richtige Nickeligkeiten und Nichtigkeiten in dieser Erklärung, und wenn darin nichts anderes als Nickeligkeiten und Nichtigkeiten enthalten ist, dann scheint es
wohl auch nicht nur an ihm gelegen zu haben, wenn Dinge
wie beispielsweise dieses Zusatzprotokoll verabschiedet
worden sind.
Zweitens. Herr Kollege, ich habe jetzt leider die Unterlagen betreffend diese Richterin nicht, aber nach meiner Kenntnis ist die Sachlage ganz anders, als Sie sie dargestellt haben. Ich werde mich darum kümmern und
werde Ihnen persönlich die richtige Antwort dazu geben,
die mir heute Nachmittag leider nicht möglich ist. Die
Sachlage ist aber eine ganz andere als die, die Sie hier so
polemisch darstellten.
({1})
Als
nächste Rednerin hat Kollegin Petra Bläss von der PDSFraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vielen Aktionen, die heute im gesamten Bundesgebiet stattfinden, verdeutlichen eines:
Auch am 90. Internationalen Frauentag hat der Kampf um
die Durchsetzung von Frauenrechten nicht an Aktualität
verloren, ebenso wenig die Forderungen aus der alten
Frauenbewegung, zu denen auch immer wieder die Bekämpfung jeder Form der Gewalt gegen Frauen gehört
hat.
Gewalt gegen Frauen - das ist hier in der Debatte schon
mehrfach angesprochen worden - ist die häufigste Menschenrechtsverletzung weltweit und eben auch hierzulande, in der Bundesrepublik.
Es gibt keine oder kaum gesicherte Zahlen. Aber die
verschiedensten Studien gehen davon aus, dass hierzulande mindestens jede fünfte, möglicherweise sogar jede
dritte Frau in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erfahren
hat. Der größte Teil der Gewalttaten - auch das ist schon
gesagt worden - findet im sozialen Nahbereich statt: in
der Familie, im Verwandten- und Bekanntenkreis. Gewalt
gegen Frauen und Kinder darf nicht länger ein Tabuthema
sein und als privates Schicksal verstanden werden.
Wenn ich die frauenpolitischen Debatten der letzten
zehn Jahre Revue passieren lasse, dann ist festzustellen:
Wir alle hier im Hohen Hause haben eine neue Qualität
der Debatte erreicht. Es besteht nämlich durchaus ein
Konsens:
({0})
Wir müssen Gewalt als Problem öffentlich machen, sie
zum gesellschaftlichen Problem erheben und ächten.
Die Initiativen der Bundesregierung - ich spreche hier
explizit den nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen, aber auch den heute vorgelegten
Entwurf eines Gewaltschutzgesetzes an - begrüßt die
PDS im Grundsatz. Wir sehen aber in Details Verbesserungs- und Ergänzungsbedarf, vor allem was die konkrete Umsetzung betrifft. Worin der besteht, haben wir in
unserem Antrag „Frauenrechte sind Menschenrechte Gewalt gegen Frauen effektiver bekämpfen“ aufgezeigt.
Erstens. Notrufeinrichtungen, Frauenberatungsstellen
und Frauenhäuser müssen besser und vor allem mit langfristiger Perspektive gefördert werden.
({1})
Die Finanzierung solcher Einrichtungen gilt in der Regel
als so genannte freiwillige soziale Leistung, die in Zeiten
knapper Kassen zurückgefahren wird. Deshalb sehen bereits etliche Projektgruppen - ich fürchte, zu Recht - ihre
Arbeit bedroht.
Zweitens. Wir begrüßen, dass die Täter zukünftig aus
der gemeinsamen Wohnung weggewiesen werden können. Aber diese Regelung darf nicht durch die Hintertür
zulasten von Frauen gehen. Die betroffenen Frauen sollten immer die Wahl haben, wie sie für sich selbst größtmöglichen Schutz vor erneuten Gewalttaten suchen. Von
der Bundesjustizministerin sind hierzu schon einige Zahlen genannt worden; ich möchte eine ergänzen: Im vergangenen Jahr haben allein in Berlin, in der Hauptstadt,
2 000 Frauen die hier bestehenden 5 Frauenhäuser und
43 Zufluchtswohnungen aufgesucht - und das in Not. Die
Einführung des Gewaltschutzgesetzes darf weder Ländern noch Kommunen als Vorwand dienen, die finanziellen Mittel für Frauenhäuser, Beratungsstellen und Notrufe
zu kürzen.
({2})
Drittens. Wir wollen, dass Beraterinnen in Notrufen,
Beratungsstellen und Frauenhäusern ein vertrauensvolles
Verhältnis zu den Opfern von Gewalttaten aufbauen können. Dazu brauchen wir ein Zeugnisverweigerungsrecht
für Beraterinnen analog dem für Ärztinnen und Ärzte.
Viertens. Gewalt gegen Frauen ist und bleibt ein Problem der inneren Sicherheit. Wir fordern deshalb, dass
Gewalt auch im privaten häuslichen Bereich als Offizialdelikt behandelt und von Polizei und Justiz geahndet wird.
Frühzeitige Intervention vermag manches Leid - ich füge
ganz bewusst hinzu: auch manches Geld - zu sparen. Die
Arbeitsgruppe Männer- und Geschlechterforschung
in Berlin hat ermittelt - die diesbezügliche Zahl ist
schon genannt worden -, dass Gewalt von Männern
gegen Frauen und Kinder hierzulande jährlich 29 Milliarden DM kostet.
Fünftens. Wir fordern, dass die Ungleichbehandlung
behinderter Frauen im Sexualstrafrecht abgeschafft wird.
Gewalt gegenüber so genannten widerstandsunfähigen,
also behinderten Frauen muss genauso geahndet und mit
dem gleichen Strafmaß belegt werden wie sexualisierte
Gewalt gegen nicht behinderte. Frau Schewe-Gerigk hat
dazu bereits Ausführungen gemacht. Ich denke, dass wir
darüber in den Ausschüssen ganz konkret beraten werden.
Sechstens. Auch ältere und insbesondere pflegebedürftige Frauen, die in Familien und Heimen Gewalt ausgesetzt sind, benötigen mehr Schutz. Dieses Thema hat erst
vor kurzem das Licht der Öffentlichkeit erblickt; hier bestand lange ein Tabubereich. Im familiären Bereich müssen die im Entwurf des Gewaltschutzgesetzes vorgesehenen Maßnahmen volle Anwendung auch zugunsten
pflegebedürftiger Menschen finden. Um so genannte
Freiheitsentziehungen und Ruhigstellungen im Heimbereich zu verhindern, bedarf es unseres Erachtens eines angemessenen Fachkräfteeinsatzes und entsprechender
Fortbildungsmaßnahmen für das Pflegepersonal. Alte
Menschen haben ein Recht auf Leben in Würde und
Selbstbestimmung.
({3})
Siebtens. Die von Amnesty International am Montag
vorgestellte Studie über Folter und Misshandlung von
Frauen hat einmal mehr auf das weltweite Ausmaß von
Menschenrechtsverletzungen an Frauen aufmerksam gemacht. Amnesty International verlangt, Gewalt gegen
Frauen überall in der Welt öffentlich zu verurteilen, Berichten über Folter an Frauen konkret nachzugehen und
Frauen, die vor frauenspezifischer Verfolgung fliehen,
Asyl zu gewähren.
Die von der Bundesregierung vorgenommene und in
der Debatte schon zitierte Veränderung der Verwaltungsverordnung zum Ausländergesetz reicht meines Erachtens
noch nicht aus. Frau Kollegin Schewe-Gerigk, wir sehen
sehr wohl die gravierenden Verbesserungen, die seit den
Änderungen im Verwaltungsbereich in Kraft sind. Aber
wir brauchen die gesetzliche Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund, um den betroffenen Frauen verlässlich Schutz und Aufnahme gewähren
zu können.
({4})
Der diesbezügliche PDS-Antrag liegt bekanntlich nach
wie vor zur parlamentarischen Beratung vor. Asylbewerberinnen, die Opfer von Gewalt werden, müssen in den
Schutzbereich des Gewaltschutzgesetzes gelangen. Es ist,
so denke ich, wichtig, auch hier noch einmal alle Rechtsvorschriften durchzuforsten.
Achtens. Wir brauchen eine Änderung des § 19 des
Ausländergesetzes im Sinne eines eigenständigen Aufenthaltsrechtes ausländischer Ehefrauen. Nun weiß ich sehr
wohl, was in diesem Bereich in diesem Hause schon
geleistet worden ist. Aber unsere Forderung geht noch ein
Stückchen weiter: Die Mindestbestandsfrist für die Ehe
von zwei Jahren muss unseres Erachtens gestrichen werden. Denn nur so haben ausländische Frauen die Chance,
das Gewaltschutzgesetz in Anspruch zu nehmen, ohne
ihre spätere Ausweisung fürchten zu müssen. Die jetzige
Regelung bedeutet, so denke ich, für die Frauen in den
ersten zwei Ehejahren ein Stück Rechtsunsicherheit.
Neuntens und letztens müssen internationale Vereinbarungen zum Schutz von Frauen vor Gewalt schnell in nationales Recht umgesetzt werden. Wir fordern deshalb die
Bundesregierung auf, das von der Staatssekretärin Edith
Niehuis zitierte Zusatzprotokoll zum Übereinkommen zur
Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen,
genannt CEDAW-Zusatzprotokoll, dem Bundestag schnell
zur Abstimmung vorzulegen, um eine Ratifizierung zu erreichen. Darüber ist lange geredet worden; jetzt sollten diesen Worten auch endlich Taten folgen. Erst dann nämlich
haben Frauen die Möglichkeit, sich gegen Verstöße gegen
das Abkommen tatsächlich zur Wehr zu setzen und ihr
Recht auf Gleichberechtigung gerichtlich einzuklagen.
Ich danke.
({5})
Das Wort
hat jetzt die Bundesministerin Christine Bergmann.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gewalt gegen
Frauen ist nach wie vor eines der bedrückendsten Themen
in unserem Land. Gewalt verletzt die Integrität von
Frauen und ihr Recht auf Selbstbestimmung auf eklatante
Weise. Deshalb ist es so wichtig, dass wir heute, am Internationalen Frauentag, den Entwurf des Gewaltschutzgesetzes, den die Bundesjustizministerin vorgelegt hat,
hier im Deutschen Bundestag diskutieren.
({0})
Dieses Gesetz macht ganz unmissverständlich klar, dass
Gewalt gegen Frauen und Kinder im häuslichen Bereich
eben keine Privatsache ist, sondern eine Angelegenheit,
um die sich unser Rechtsstaat mehr als bisher kümmern
muss.
Auch ich will eine Zahl nennen: Wenn wir uns vor Augen halten, dass schätzungsweise jede dritte Frau in
Deutschland - man will das immer nicht glauben, aber so
sind die Zahlen - von häuslicher Gewalt betroffen ist,
dann müssen wir alles dafür tun, dass Täter künftig konsequenter zur Rechenschaft gezogen werden und dass Opfer besser geschützt werden.
({1})
Die Bundesregierung hat gehandelt und den nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt vorgelegt. Ein ganz wichtiger Teil dieses Planes ist dieses Gewaltschutzgesetz. Aber darin enthalten sind natürlich noch
eine ganze Menge anderer Dinge: Mit dem Aktionsplan
liegt erstmals ein umfassendes Gesamtkonzept vor, mit
dem wir das Ziel verfolgen, strukturelle Veränderungen in
allen Bereichen der Gewaltbekämpfung zu erreichen. Das
geht von der Prävention über die bessere Vernetzung und
die Täterarbeit bis hin zu rechtlichen Maßnahmen.
Ich kann hier sagen - weil dies auch in dem Antrag gefordert wurde -: Alle Maßnahmen, die in der Zuständigkeit der Bundesregierung liegen, sind in Umsetzung oder
bereits abgeschlossen. Wir haben zwar noch etwas zu tun,
aber alles ist bereits auf dem Tisch. Zu einigen dieser
Punkte möchte ich etwas sagen.
Ein wichtiger Bereich in diesem Plan ist die Kooperation zwischen staatlichen Stellen und den verschiedenen
Institutionen und Projekten, die auf dem Gebiet der
Prävention und Bekämpfung von Gewalt arbeiten. Wir
haben sehr wichtige Erfahrungen mit dem Berliner Interventionsprojekt gemacht. Es ist nötig, Maßnahmen im polizeilichen, straf- und zivilrechtlichen sowie im sozialen
Bereich aufeinander abzustimmen und zu vernetzen, um
effektiv gegen häusliche Gewalt vorgehen zu können. So
kann den betroffenen Frauen am besten geholfen werden.
Wir haben die Erfahrungen aus dem Berliner Interventionsprojekt, das jetzt noch ein Stück weiter entwickelt
wird, allen Akteurinnen und Akteuren zugänglich gemacht. Diese Erfahrungen sind vielfach aufgegriffen worden. In vielen Kommunen gibt es jetzt entsprechende Vernetzungen, gibt es runde Tische und versucht man, mit
allen gemeinsam an diesem Problem zu arbeiten. Jetzt
wird ein weiteres Interventionsprojekt, das Projekt in
Schleswig-Holstein, von uns unterstützt. Denn es ist
wichtig, dass wir die Erfahrungen aus dem Berliner Projekt auch in einem Flächenland umsetzen, um zu sehen,
wie wir dort wirksame Hilfe für Frauen schaffen können.
Es ist auch wichtig, dass wir alle diese Interventionsprojekte wissenschaftlich begleiten, damit diese Erfahrungen
nicht verloren gehen, sondern all das, was wir an Erfahrungen sammeln, genutzt wird.
Es ist wichtig, dass sich die Länder und Kommunen
vor Ort engagieren und all diese Maßnahmen mit umsetzen. Ich bin sehr froh, dass es schon einige Bundesländer
gibt, die eigene Landesaktionspläne beschlossen haben,
die die Ziele des Bundesaktionsplanes länderspezifisch
umsetzen. Wir haben in der Frage der Zusammenarbeit
zwischen Bund und Ländern eine Menge auf den Weg gebracht. Hier sind enge Kooperationen notwendig. Wir haben auch eine andere, eine intensive Form der Zusammenarbeit gefunden, bei der wir uns gegenseitig
unterstützen. Ich nenne hier die Arbeitsgruppe Frauenhandel, die es schon länger gibt. Ich möchte nur einen
Punkt erwähnen, an dem gegenwärtig gearbeitet wird.
Dabei geht es um konkrete Maßnahmen zum Schutz von
Opfern des Menschenhandels, zum Beispiel eine HärtePetra Bläss
fallregelung zur Erlangung einer Arbeitserlaubnis für Opferzeuginnen.
({2})
Aber auch hier haben wir noch Handlungsbedarf.
Ich möchte die Bund-Länder-Arbeitsgruppe nennen,
in der auch Nichtregierungsorganisationen und Frauenhäuser vertreten sind, um alles Wissen, das wir haben, einzubeziehen und miteinander zu vernetzen. Diese Arbeitsgruppe erarbeitet derzeit Fortbildungskonzepte für
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugendämtern, für
Familienrichter, Staatsanwaltschaften und die Polizei. All
das, was wir brauchen, um unseren Aktionsplan wirkungsvoll umzusetzen, wird also in diesen Gremien bearbeitet.
Ebenfalls bereits angesprochen wurde das Thema der
Vernetzung. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wir
die Vernetzung der Frauenhäuser, der Notrufe und der Beratungsstellen gegen Frauenhandel finanzieren. Das ist
ganz wichtig, damit sie wirksam zusammenarbeiten können.
Fortbildung ist in diesem Bereich das A und O, insbesondere auch Fortbildung der Polizei. Es entspricht den
Erfahrungen, die in Berlin gemacht wurden, dass die Polizei in der Ausbildung dieses Thema behandeln muss,
dass Fortbildungsveranstaltungen stattfinden, damit es
keinen Polizisten und keine Polizistin mehr gibt, die in einer Situation, zu der sie gerufen werden, nicht wissen, wie
sie sich zu verhalten haben, sondern wirklich agieren
können. Vor Ort müssen entsprechende polizeiliche
Richtlinien vorhanden sein.
({3})
In Zusammenarbeit mit den Ländern werden wir im
April oder Mai ein Projekt zur Entwicklung, Erprobung
und Verbreitung eines Gewaltpräventions- und Fortbildungskonzepts für allgemein bildende und berufsbildende
Schulen starten. Ich halte es für ganz wichtig, bereits in
diesem Bereich mit der präventiven Arbeit, mit der Information darüber, welche Rechte Frauen in dieser Situation
haben, anzusetzen.
Ich möchte noch auf den Schutz ausländischer
Frauen eingehen, der hier schon eine Rolle spielte. Wir
haben es sehr schnell geschafft, das eigenständige Aufenthaltsrecht von Frauen zu verbessern, sodass wir mit
den Verwaltungsvorschriften, die im Bereich der geschlechtsspezifischen Verfolgung und zum Schutz der
Opfer von Menschenhandel gelten, jetzt etwas in der
Hand haben - Sie haben es angesprochen, Frau
Schewe-Gerigk, ich habe mich auch informiert -, was zu
ganz eklatanten Verbesserungen in diesem Bereich geführt hat. Ich habe seitdem keine Klagen mehr auf den
Tisch bekommen. In diesem Bereich hat sich auch qualitativ etwas verändert. Das war enorm wichtig. Das wollten wir auch.
({4})
Wir haben im letzten Jahr eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die uns ein umfassendes Bild der Lebenssituation und der sozialen Integration der in Deutschland lebenden ausländischen Mädchen und Frauen geben wird.
Die Daten, die im Familienbericht stehen, sind wichtig,
reichen uns aber nicht. Wir brauchen weiter gehende Informationen über die Lebenssituation ausländischer
Frauen. Diese werden wir damit bekommen.
In diesem Zusammenhang wären noch eine ganze
Menge anderer Maßnahmen zu nennen, die wir im Rahmen der Umsetzung des Aktionsplans bereits durchgeführt haben. Ich will nur an die Unterstützung der Beratungsstelle für Frauen mit Behinderung sowie an die
wissenschaftliche Untersuchung zum Ausmaß und zu Erscheinungsformen von Gewalt gegen Frauen erinnern. Zu
mehr reicht die Zeit nicht.
Es war ein weiter Weg vom ersten Frauenhaus 1976 in
Berlin bis zum heutigen Tag, an dem wir den Entwurf des
Gewaltschutzgesetzes auf dem Tisch liegen haben. Dies
war nur möglich, weil sich immer wieder sehr engagierte
Frauen für Frauen eingesetzt und Frauen Schutz gegeben
haben, immer wieder das dicke Brett gebohrt haben und
das Thema immer wieder aus dem Tabubereich herausgeholt haben. Dies ist ein Erfolg der Arbeit all dieser Frauen.
Dafür möchte ich an dieser Stelle einmal ganz herzlich
danken.
({5})
Natürlich dürfen wir nicht vor unserer Haustür Halt
machen. Das Thema Gewalt gegen Frauen ist eines, das
wir auch im Rahmen internationaler Kooperation bearbeiten müssen. Es ist wichtig, dies heute, am Internationalen Frauentag, noch einmal zu sagen.
Ich bin froh, dass es uns in den letzten Tagen offensichtlich allen ähnlich ergangen ist, als der Aufschrei
durch die Medien ging, was mit den Kulturgütern in
Afghanistan passiert. Wir sind alle dafür, dass sie erhalten bleiben. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren.
Aber wo ist der Aufschrei, wenn wir von den eklatanten
Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen hören, die
dort passieren? Schlimmere als die, die wir dort erleben,
sind nicht vorstellbar. Wo bleibt da der Aufschrei? Solange dieser nicht erfolgt, haben wir noch eine ganze
Menge zu tun. Und das tun wir auch. Frau Lenke, Sie waren mit in New York und wissen, wie wir dort um entsprechende Regelungen gerade für die Frauen in anderen
Ländern, gerade zur Bekämpfung von Gewalt in Ländern,
in denen genitale Verstümmelungen und Diskriminierung
in ihrer schlimmsten Form an der Tagesordnung sind,
gekämpft haben.
Frau Bläss, ich brauche zu CEDAW nichts mehr zu sagen. Das kriegen wir so schnell hin, wie es geht. Sie wissen, die Verfahren sind etwas langwierig. Aber wir werden es bald im Ausschuss behandeln können.
Ich möchte noch auf einen positiven Punkt hinweisen,
und zwar, dass es jetzt endlich beim Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu einer Verurteilung von Tätern
gekommen ist, die Massenvergewaltigungen begangen
haben. Es ist endlich gelungen, diese Form der Menschenrechtsverletzung als Kriegsverbrechen zu ahnden.
Das ist auch etwas, was Frauen für Frauen errungen haben. Hier sind viele Frauen, die von diesen Menschenrechtsverletzungen betroffen waren, über ihren Schatten
gesprungen und haben etwas getan, damit es anderen
Frauen vielleicht besser geht.
({6})
Ich denke, dass wir in diesem Bereich der konsequenten Verfolgung von Gewaltverbrechen gemeinsam handeln müssen. Die Debatte verlief bislang in diesem Sinne,
auch wenn Frau Lenke einen etwas anderen Ton hineingebracht hat.
({7})
Vergessen wir das einmal. Am Ende machen Sie mit.
Es ist wichtig, dass wir uns hier nicht auseinander dividieren lassen, sondern versuchen, gemeinsam weiterzumachen.
Herzlichen Dank.
({8})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Ingrid Fischbach von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Häusliche Gewalt hat gegenüber dem allgemeinen Gewaltphänomen seit jeher ihre eigene Dimension. Ging es früher darum - das dürfen wir
uns ruhig noch einmal in Erinnerung rufen -, die Zuchtgewalt des Hausherrn gegenüber Frau und Kind zu begründen, aber auch zu begrenzen, sehen sich heute die Familienmitglieder als Träger der Menschenrechte mit
gleichem Recht auf physische und psychische Unversehrtheit. Die Wahrung und Achtung der körperlichen und
seelischen Integrität eines jeden Menschen sind durch die
Grund- und Menschenrechte verfassungsrechtlich verbrieft. Trotzdem nimmt die Zahl an Gewalttaten auch im
häuslichen Umfeld leider zu.
Besonders betroffen sind Kinder und Frauen. Natürlich
sind ebenfalls Männer betroffen. Auch Männer werden
geschlagen und misshandelt. Die Erfahrungen in Österreich, auf die wir heute schon mehrfach zurückgegriffen
haben, gehen von circa 10 Prozent aus. Wenn wir von
jährlich circa 45 000 Frauen sprechen, die in Frauenhäusern Zuflucht vor der Gewalt ihres Partners suchen, dann
erkennen wir, dass hauptsächlich Frauen und mit ihnen
die Kinder die Leidtragenden sind.
Gemessen an der Wirklichkeit genügt die derzeitige
Rechtslage und Praxis in Deutschland, besonders in extremen Fällen, leider nicht, obwohl das Zivilrecht bereits
in seiner geltenden Fassung Möglichkeiten bietet, auf
häusliche Gewalttaten zu reagieren. Um Frauen ausreichend vor häuslicher Gewalt zu schützen, muss die bisherige Rechtslage ergänzt und präzisiert werden. Das neue
Gesetz verbessert die Situation des Opfers. Durch die erweiterten Möglichkeiten, den Kontakt des Täters mit dem
Opfer zu unterbinden, erfährt das Opfer eine deutliche
psychische Entlastung und eine erhöhte Sicherheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU/CSU-Fraktion begrüßt das Bemühen der Bundesregierung, die bereits von uns in unserer Regierungszeit begonnenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen weiter
auszubauen. Unsere damalige Familienministerin
Claudia Nolte hat mit ihrer groß angelegten mehrjährigen
Kampagne „Gewalt gegen Frauen“ ein wichtiges Ziel erreicht: die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das
Thema. Sie sehen es heute: Wir sprechen darüber.
({0})
Auch das mehrfach gelobte - die Frau Ministerin hat
gerade darauf hingewiesen - Berliner Interventionsmodell ist eine Sache, die von der alten Regierung initiiert
worden ist. Sie haben zwar mitgemischt, aber wir hatten
die Regierungsverantwortung. Sie sehen, Frau Ministerin,
wie wichtig es ist, in bestimmten Punkten zusammenzuarbeiten. Das wollen wir auch heute.
({1})
Für Gewalt gegen Frauen und Kinder gibt es keine Entschuldigung. Diejenigen, die ihren Frauen und/oder Kindern Gewalt antun, müssen dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Es gilt, misshandelte Frauen und Kinder
effektiv und schnell zu schützen und die Täter in die Verantwortung zu nehmen. Dazu gehört meiner Meinung
nach auch die polizeirechtliche Möglichkeit eines Platzverweises des Täters bei Gewaltanwendung gegen Frauen
und deren Kinder in häuslichem Bereich. Bisher waren
die betroffenen Frauen gezwungen, die Wohnung zu verlassen, um sich und ihre Kinder zu schützen. Der Gewalttäter blieb weiterhin in der Wohnung.
Die Erfolge, die in Österreich mit dem so genannten
Wegweiserecht gemacht wurden, sind für uns ein Ansporn, auch in Deutschland Wege und Möglichkeiten zu
schaffen, damit Kinder und Frauen - die Opfer - in ihren
Wohnungen bleiben können.
({2})
Österreich hat aber auch gezeigt, dass die dort praktizierte
Wegweisung nicht in allen Fällen die Sicherheit von Kindern und Frauen garantieren kann. Frauen- und Kinderschutzhäuser bleiben weiterhin ein notwendiger Bestandteil des Hilfesystems. Sie sind unverzichtbar; denn, wie
gesagt, nicht jede Gewaltsituation lässt sich durch die befristete Entfernung des Täters lösen. Daher muss die Zukunft der Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen gesichert
bleiben. Allerdings - auch hier gibt es eine Einschränkung -: Schutzwohnungen und Frauenhäuser dürfen nicht
zu Langzeitaufenthaltsräumen für Frauen werden.
Die Wegweisung ist und bleibt ein klares Signal an den
Täter, dass auch im häuslichen Bereich keine Gewalt geduldet und zugelassen wird. Die räumliche Trennung des
gewalttätigen Mannes von der bedrohten Frau ist zu Recht
das zentrale Element eines jeden präventiven Konzepts
und unverzichtbare Vorbedingung eines jeden Verständigungsprozesses.
Wenn betroffene Frauen draußen um Hilfe nachsuchen, sind sie meist Opfer langjähriger Misshandlungen.
Viele Opfer scheuen aus Scham die Öffentlichkeit. Wir
haben die Beispiele gehört: Ich bin die Treppe heruntergefallen; ich bin gestürzt oder was auch immer. Haben
sich diese Frauen doch dazu durchgerungen, sich zu wehren, stehen sie unter erheblichem Druck. Eine sofortige
und effektive Reaktion ist nötig, damit Frauen nicht in einen Zustand der zunehmenden Hilflosigkeit verfallen, in
dem sie sich selbst keine Veränderung zutrauen und sich
auch keine wirksame Hilfe von außen versprechen. In einer akuten Gefährdungssituation müssen sozusagen
rechtliche Erste-Hilfe-Maßnahmen greifen, und zwar
unabhängig von der Frage der Trennung oder Trennungsabsicht, um zunächst einen Schutzraum vor Gewalt und
Bedrohung herzustellen.
Der staatliche Schutz von Frauen muss auf die realen
Lebensverhältnisse einwirken und die Entwicklung der
Maßnahmen auf einer sorgfältigen Tatsachenermittlung
zu häuslicher Gewalt beruhen. Es ist allerdings nicht allein damit getan, Täter lediglich aus den Wohnungen zu
weisen. Gewalt beginnt in den Köpfen; daher können
auch nur psychologische Begleitmaßnahmen in den Köpfen der gewaltbereiten Männer etwas ändern. Das Unrechtsbewusstsein der Täter muss geweckt werden. Ein
Verhaltenstrainingskonzept für gewalttätige Männer
gehört für mich in ein solches Gesamtkonzept. Eine begleitende Täterarbeit muss sichergestellt sein. Ziel muss
es sein, den Gewalttäter zur subjektiven Übernahme der
Verantwortung zu führen. Dabei stellt sich nicht nur die
Motivation der Männer zur Teilnahme an der Beratung als
schwierig dar, sondern auch, sie in der Beratung zu halten. Deshalb könnte eine genaue Abstimmung der Dauer
einer Bewährungsauflage auf die Dauer des Programms
eine sinnvolle Forderung sein.
Meine Damen und Herren, besondere Hilfen benötigen
vor allem die Opfer. Die wenigsten Frauen wissen von
ihren rechtlichen Möglichkeiten. Die Bundesregierung ist
aufgefordert, mittels einer breiten Informationskampagne
für Aufklärung bzw. Information zu sorgen. Hinzu kommen vor allem begleitende Hilfen.
Über den physischen Schutz hinaus muss Hilfe bei der
Bewältigung des Erlebten, aber auch bei der Neugestaltung des nächsten Lebensabschnitts gewährleistet sein.
({3})
Wir dürfen die Opfer nach der Wegweisung nicht allein
lassen. Sie brauchen soziale und psychische Unterstützung.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Schritt in
die richtige Richtung. Isoliert und allein ist er allerdings
unwirksam. Es muss ein Gesamtkonzept erstellt werden,
das alle Bereiche umfasst und von allen mitgetragen wird.
Absichtserklärungen und Unterstützungszusagen müssen
konkretisiert werden. Länder und Kommunen müssen mit
eingebunden werden.
Ich weise noch einmal auf das Land Baden-Württemberg hin; denn wir haben seit dem letzten Jahr ein Modell
laufen und können schon von positiven Erfahrungen berichten. Da können Sie sagen, was Sie wollen, es ist nun
einmal ein Bundesland, das CDU-geführt ist. Sie sehen:
Auch wir arbeiten daran.
({4})
- Dafür werden wir sorgen, Frau Niehuis, aber Sie dürfen
noch ein bisschen hoffen.
Ich möchte hier noch einmal deutlich machen, wie
wichtig der gesamte Bereich der Prävention ist, zum Beispiel schulische Präventionsmaßnahmen gegen Gewalt.
Aber auch Gewaltpräventions- und Fortbildungskonzepte
in den weiterführenden Schulen, in der beruflichen Schule
dürfen nicht fehlen.
Meine Damen und Herren, wir stehen am Anfang der
Beratungen und ich kann Ihnen versichern, dass wir, die
CDU/CSU-Fraktion, an einem Gesamtkonzept mitarbeiten werden. Projekte und Strategien gegen häusliche Gewalt müssen sich als Gebot der Vernunft und als Gebot der
Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft etablieren. Es ist
höchste Zeit, hier zu handeln. Lassen Sie uns dies gemeinsam tun!
({5})
Das Wort
hat jetzt die Ministerin der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt, Karin Schubert.
Karin Schubert, Ministerin ({0}) ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie viele meiner Kolleginnen heute bereits angemerkt haben, ist heute der richtige Tag für dieses Gesetz. Ich hoffe, dass der
90. Internationale Frauentag es auch den Kritikern des
Gewaltschutzgesetzes ermöglicht oder vielleicht erleichtert, hier zuzustimmen.
Ich hoffe, dass die Abwesenheit fast aller Männer hier
in diesem Parlament
({2})
ihre Ursache darin hat, dass Sie vielleicht ausgeschwärmt
sind, um uns Rosen zu kaufen.
({3})
Meine Herren, ich denke, Rosen sind gut, aber schenken
Sie uns nicht nur Rosen, schenken Sie uns auch ein gewaltfreies Frauenleben.
({4})
Meine Damen und Herren, die Ausübung von Gewalt,
insbesondere gegenüber Frauen und Kindern, stellt ein
allgegenwärtiges gesellschaftliches Phänomen dar, ein
Problem, das konsequent angegangen werden muss und
das nicht verschwiegen werden darf.
Das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte
Gesetz ist ein wichtiger Schritt zur Umsetzung des „Bundesaktionsplans zur Bekämpfung von Gewalt gegen
Frauen“ vom Dezember 1999. Der Bundesrat hat diesen
Aktionsplan begrüßt, insbesondere die darin angekündigte
Vereinfachung einer befristeten Wohnungszuweisung zulasten gewalttätiger Angehöriger einer häuslichen Gemeinschaft - auch eines gewalttätigen Ehepartners - sowie
die Grundlage für die Schutzanordnungen bei Kontakt-,
Belästigungs- und Näherungsverboten. Dies hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu dem vorliegenden Gesetzentwurf nochmals deutlich zum Ausdruck gebracht.
Dieser Gesetzentwurf setzt endlich die im Aktionsplan
aufgezeigten Ziele im zivilrechtlichen Bereich um.
Die physische Gewalt zwischen Partnern kommt leider
in allen sozialen Schichten vor. Es ist von einer hohen
Dunkelziffer auszugehen; sie liegt bei fast 90 Prozent. Familiäre Gewalt wird noch heute häufig als Privatsache
zwischen Eheleuten bzw. Partnern angesehen, sodass misshandelte Frauen oft auf eine Strafanzeige verzichten. Die
Angst vor einem Auseinanderbrechen der Familie, die
Schuldgefühle, die Scham, der Imageverlust oder die
Druckausübung durch den Täter, aber auch Zweifel am
Erfolg der Strafverfolgung führen oft zum Verzicht auf
eine Anzeige.
Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass Gewalthandlungen in der Familie nur selten Einzelfälle
sind. Meist werden die Opfer wiederholt misshandelt. Statistisch gesehen ist nicht nur jede dritte Frau Opfer einer
Gewalthandlung im häuslichen Bereich; auch jede siebte
Frau ist mindestens einmal in ihrem Leben Opfer einer
Vergewaltigung oder Nötigung geworden. In der Bundesrepublik suchen jährlich circa 45 000 Frauen mit ihren
Kindern Zuflucht in einem der vielen Frauenhäuser, die
meisten auf der Flucht vor Gewalttätigkeiten.
Durch den heute vorliegenden Entwurf eines Gewaltschutzgesetzes soll die Öffentlichkeit dafür sensibilisiert
werden, dass Gewalt in jeder Form zu ächten ist. Misshandelte Frauen, die sich zur Trennung von ihrem Partner
entschließen, bekunden häufig, dass an erster Stelle für sie
der Wunsch nach Schutz vor weiterer Gewalt steht, der
Wunsch nach Bestrafung des Täters zweitrangig ist.
Herr Pofalla, ich denke, Sie haben zwar Recht, dass es
möglicherweise Lücken gibt. - Wo ist er denn überhaupt?
({5})
- Er schwächelt, gut. - Aber angesichts der 45 000 Frauen,
die in der Unwägbarkeit leben, ob sie außerhalb ihrer
Wohnung, untergebracht in Frauenhäusern, Gerechtigkeit
erfahren, stehen Ihre Bedenken im Hinblick auf die wenigen Männer, die vor Gericht darlegen können, zu Unrecht
ihrer Wohnung verwiesen worden zu sein, in keinem Verhältnis. Ich denke, das Gewaltschutzgesetz sollte in der
Form, wie es von der Bundesregierung vorgelegt worden
ist, verabschiedet werden.
({6})
Wichtig ist zunächst, dass eine räumliche Trennung
vollzogen werden kann. Zudem muss gewährleistet sein,
dass die Frau und die Kinder nicht zu Hause oder andernorts aufgesucht und weiterhin bedroht oder misshandelt
werden. Wichtigster Baustein des Gewaltschutzgesetzes
ist daher das angestrebte Eilverfahren, mit dem betroffene
Frauen den gewalttätigen Ehemann oder Partner aus der
gemeinsam bewohnten Wohnung weisen können. Mit der
Zuweisung der Ehewohnung kann zunächst einmal eine
räumliche Distanz zwischen dem Täter und seinem Opfer
hergestellt werden.
Die Regelung, Partner einzubeziehen, ist unverzichtbar und gegenüber dem bisherigen Zustand neu. Bislang
hat die Polizei immer Schwierigkeiten, den Täter aus der
Wohnung zu weisen. Die Wegweisung ist möglich, soweit
eine weitere Straftat unmittelbar bevorsteht oder erhebliche Gefahr für Leib oder Leben des Opfers besteht. Wer
aber ist in der Lage, in dem Augenblick, in dem er bedroht
oder geschlagen wird, nachzuweisen, dass eine unmittelbar bevorstehende erhebliche Gefahr droht? Wer kann so
etwas in einer solchen Situation? Es darf nicht sein, dass
das Opfer - wie heute vielfach üblich - mit den Kindern
aus der Wohnung ausziehen muss und der Täter in den eigenen vier Wänden bleibt. Ich denke, hier besteht die Notwendigkeit, einen entsprechenden Schutz zu bieten.
Es kommt noch eines hinzu: Gewalt im familiären Bereich bezieht sich nicht nur auf Frauen. Eine gewalttätige
Atmosphäre in der Familie hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Kinder. Gewalt gegen Kinder gehört leider noch in vielen Familien zum Erziehungsalltag. Etwa
80 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland
erfahren in unterschiedlichem Ausmaß Gewalt in der Erziehung. Rund 1,3 Millionen Kinder werden körperlich
misshandelt, darunter 420 000 zum wiederholten Mal.
Sachsen-Anhalt hatte deswegen den Vorschlag unterbreitet, den minderjährigen Kindern ein eigenes Antragsrecht einzuräumen. Diese Anregung ist in den Gesetzentwurf bedauerlicherweise nicht aufgenommen worden.
Von dem Anwendungsbereich des Gewaltschutzgesetzes
sind minderjährige Kinder im Verhältnis zu ihren Eltern
und anderen sorgeberechtigten Personen noch immer ausgenommen. Für diese gilt daher nur das Vormundschaftsrecht. Aber dieses ist als Anspruchsgrundlage für den
Schutz der Kinder nicht ausreichend. Es ist nicht auf Situationen von häuslicher Gewalt ausgerichtet, in denen
Gewalt von nur einem Elternteil ausgeht. Aber das muss
auf längere Sicht nicht das letzte Wort sein. Ich halte ein
eigenständiges Recht des Kindes auf Schutz weiterhin für
erforderlich.
Mit dem heutigen Gesetzentwurf wird letztlich - deshalb ist der gewählte Lösungsweg auch zu unterstützen Gewalt gesellschaftlich geächtet. Das macht den Frauen
Mut und gibt ihnen Hoffnung auf ein gewaltfreies Leben.
Ich bin froh und begrüße es - insoweit ist es mir egal, ob
es ein CDU-geführtes oder ein von einer anderen Partei
geführtes Land ist -, dass Baden-Württemberg, indem es
die zügige Umsetzung in das Polizeigesetz des Landes
vorgenommen hat, einen ersten Schritt gemacht hat. Nur,
Ministerin Karin Schubert ({7})
die anderen Länder müssen nachziehen. Es kann nicht
sein, dass hier nur ein Land aktiv wird. Ich hoffe, dass hier
alle Fraktionen parteiübergreifend ein Gesetz verabschieden werden. Es ist wirklich die Kraft aller Fraktionen erforderlich, um das Gesetz zu verabschieden, ein Gesetz,
das den Frauen und Kindern endlich Schutz vor Gewalt
bietet.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Ilse Falk von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internationaler Frauentag auf der
Tagesordnung des Deutschen Bundestages - mehr als nur
eine Pflichtübung? Gewaltschutzgesetz und Aktionsplan
gegen Gewalt gegen Frauen - hatten wir so etwas nicht
schon tausendmal? Die einen - das ist, wie wir unschwer
erkennen können, die große Mehrzahl - gehen erst gar
nicht hin, weil sie wesentlich Wichtigeres zu erledigen haben. Die anderen fühlen sich verpflichtet, freundlich-aufmerksam zuzuhören, während ihre Gedanken eingedenk
ihrer vielen unerledigten Aufgaben wehmütig abschweifen. Das ist das eine Handicap unserer Debatte.
Das andere können sicherlich alle schildern, die die
Reaktionen auf unser heutiges Thema im Vorfeld erlebt
haben: „Haha, Gewalt gegen Frauen! Da hab ich doch
neulich gehört ...“, und dann folgen einschlägige Stammtischparolen, begleitet von einem breiten Grinsen, oder
- heftig und böse -: „Hier werden wir Männer kriminalisiert und niemand sieht, wie vielen Männern ebenfalls
Gewalt angetan wird.“ Dann gibt es vielleicht noch diejenigen, die sich die Mühe gemacht haben, eine Internetsuchmaschine anzuwerfen, und dann im SeniorInnen-Net
auf eine Adelheid aus Grafenau gestoßen sind, die anlässlich des „Weltmarsches der Frauen 2000 - gegen Armut
und Gewalt“ eine Mitfahrgelegenheit sucht. Gleich anschließend verspricht eine „RBH-Online. Anarchistische
Buchhandlung“ weiterführenden Lesestoff zum Thema.
„Ach ja, die natürlich“, sind Sie versucht zu sagen, „die
haben Probleme!“
Solange aber psychische, körperliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder ein bedrückendes Phänomen unserer Gesellschaft ist, so lange dürfen wir dieses
Thema weder ins Lächerliche ziehen noch es herabspielen
und auch nicht davon ablenken.
({0})
Im Gegenteil: Solange es sie gibt, sind wir aufgefordert,
dagegen anzugehen, auch, indem wir sie immer wieder
thematisieren. Gewalt gegen Frauen ist noch immer die
am weitesten verbreitete Menschenrechtsverletzung in
unserer Welt, die auf ebenso subtile wie infame Weise oft
unausgesprochen als sozial adäquat toleriert wird.
Heute befassen wir uns vor allem mit der Bekämpfung
der häuslichen Gewalt. Wer nach den oben genannten
Beispielen nicht gleich im Internet aufgegeben hat, kann
hier - das ist das Gute am Internet - Dokumentationen
von Fachtagungen über Gewalterfahrungen von Frauen
und Kindern nachlesen, die einen das Gruseln lehren. Gewalt in den eigenen vier Wänden, dem Zuhause, ist oft erschreckender Alltag. Die Familie als Ort und Hort der
Liebe und Fürsorge lernen manche nur noch als sozialromantisch verklärtes Märchenideal kennen. Daher halte
ich es für gerechtfertigt, wenn wir uns heute vor allem mit
Gewalt gegen Frauen und Kinder beschäftigen, ohne zu
verkennen, dass es auch Gewalt gegen Männer gibt.
Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu
sorgen, dass sich die Hoffnung, sich zu Hause am sichersten fühlen zu können, nicht in immer mehr Fällen als trügerisch erweist. Daher haben wir, die Opposition, es in der
ersten Debatte über den Aktionsplan gegen Gewalt gegen
Frauen im März des vergangenen Jahres ausdrücklich begrüßt, dass die Bundesregierung die bereits eingeleiteten
guten Maßnahmen der Vorgängerregierung aufgegriffen
hat und fortschreibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Vorbemerkungen zum Aktionsplan kritisiert die Bundesregierung
allerdings - ich zitiere -:
Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung
betrafen damit in der Regel Einzelbereiche ({1}) und führten dort
auch zu punktuellen Verbesserungen.
Das gestehen Sie großzügig zu.
Themen wie auch Projekte wurden oftmals durch die
jeweilige öffentliche Diskussion bestimmt und folgten keiner langfristig angelegten Strategie. Dies mag
mit ein Grund dafür sein, dass sich an der Tatsache
der Gewalt gegen Frauen bis heute wenig geändert
hat.
Sie werden inzwischen die Erfahrung gemacht haben,
aus wie vielen Einzelpunkten sich ein solches Gesamtkonzept zusammensetzt und wie mühsam es sein kann, bis
jeder Einzelpunkt durchgekämpft ist. Das Gewaltschutzgesetz ist dafür ein nachdrückliches Beispiel, war es doch
vor einem Jahr schon als eigentlich fertig angekündigt.
In unserem Antrag vom Januar 2001, der heute auch
zur Debatte steht, haben wir deshalb erneut unterstrichen,
dass wir die tatsächliche Umsetzung des Gesamtkonzeptes kritisch verfolgen, vor allem da im Aktionsplan wenig
konkrete Aussagen, unter anderem auch in Bezug auf die
mögliche Finanzierung der angekündigten Projekte, gemacht wurden.
Besonders wichtig waren und sind für uns die schulischen Präventionsmaßnahmen wie das von Ihnen
geplante Projekt zur Entwicklung, Erprobung und Verbreitung eines an Schülerinnen orientierten Gewaltpräventions- und Fortbildungskonzepts. Nach Aussagen von Ihnen, Frau Dr. Niehuis, soll dieses Projekt in diesem Jahr
starten. Über die Finanzierung wollten Sie uns Anfang dieses Jahres informieren. Wir warten gespannt darauf.
Ministerin Karin Schubert ({2})
Prävention ist für uns das zentrale Handlungsgebot, um
die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Kinder lernen Gewalt von Eltern, erfahren Gewalt und üben dann oft selbst
Gewalt aus. Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie
Lehrerinnen und Lehrer müssen hier zusammenwirken.
Besonders wichtig ist dabei die Stärkung der Erziehungsfähigkeit der Eltern und die Wertevermittlung in Familie und Schule.
({3})
Familienbildung und Familienberatung, die zielgenau bei den Problemen ansetzt, müssen ein besonderes
Gewicht erhalten. Erziehen heißt übrigens auch, Grenzen
aufzuzeigen und deutlich zu machen, was man nicht darf.
Es sollte uns sehr nachdenklich machen, wenn Jugendliche zur Rechtfertigung von Gewaltspielen erklären, es sei
doch wohl besser, Aggressionen in solchen Spielen auszuleben, als sie gegen Menschen zu richten. Aber ich
denke, da gibt es eine weitere Alternative, nämlich Aggressionen beherrschen zu lernen.
({4})
Der Aktionsplan befasst sich richtigerweise auch mit
der Rechtsetzung des Bundes. Dies ist ein wichtiger Punkt
in der Vorgehensweise gegen Gewalt. So sagte der amerikanische Jurist Neil Lawsen einmal treffend:
Das Gesetz kann niemanden zwingen, seinen Nächsten zu lieben. Aber es kann es schwieriger für ihn machen, seinem Hass Ausdruck zu geben.
Daher begrüßen wir es, dass nun das Gewaltschutzgesetz vorliegt. Im Einzelnen haben sich die Kollegin
Fischbach und der Kollege Pofalla dazu geäußert. Deswegen nur noch eine Anmerkung zum Aktionsplan. Ich
habe einen deutlichen Nachfragebedarf in Bezug auf Tätertherapien. Ohne diesen Aspekt scheint mir auch dieses Gesetz nur unzureichend und kein gutes Beispiel für
ein schlüssiges Gesamtkonzept zu sein; denn auch für die
Täter, die ja nur allzu oft selbst Opfer sozialer Umstände
sind, brauchen wir Beratungsangebote und sozialtherapeutische Trainingsprogramme. Die Justizministerin hat
eben selbst darauf hingewiesen. Sie nehmen in dem Aktionsplan auch Bezug auf die speziellen Lern- und Trainingsprogramme für gewalttätige Partner, die in dem Berliner Interventionsprogramm gegen häusliche Gewalt
entwickelt werden. Dazu heißt es wörtlich:
Das BMFSFJ wird die Berliner Erfahrungen mit den
speziellen Täterkursen Anfang 2001 veröffentlichen
und zur Diskussion stellen.
Dazu habe ich heute nichts gehört. Es interessiert mich
natürlich auch, wie es mit der Finanzierung sozialer Trainingskurse aussieht.
Ich will den Blick nicht auf den Täter lenken, etwa um
ihn zu entschuldigen oder zu verharmlosen; denn damit
würde das Opfer ein zweites Mal gedemütigt und verhöhnt, wie die Leiterin eines Frauenhauses zu Recht sagt.
Aber erstens frage ich Sie: Birgt nicht jede Gewalt ein
Element von Verzweiflung, wie schon Thomas Mann bemerkte, der wir nachgehen müssen? Zweitens. Machen
wir uns doch nichts vor: Irgendwann muss auch an dieser
Stelle die Spirale der Gewalt durchbrochen werden. Sonst
wird neben aller Angst über einen viel zu langen Zeitraum
Schutz nötig sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist Internationaler Frauentag und da müssen wir uns einmal mehr klarmachen, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder weltweit
zunimmt und Frauen die Realität von Gewalt in der Intimität einer Beziehung ebenso erleben wie in Kriegen, in
denen Vergewaltigungen als ein Mittel des Krieges eingesetzt werden. Es ist ein gutes Signal - Frau Ministerin
Bergmann hat gerade darauf hingewiesen -, dass das
Kriegsverbrechertribunal der UNO vor zwei Wochen drei
bosnische Soldaten wegen Folter und Vergewaltigung
moslemischer Mädchen und Frauen zu langjährigen
Haftstrafen zwischen 12 und 28 Jahren verurteilt hat. Dieser Prozess war der erste Kriegsverbrecherprozess, in dem
sexuelle Gewalt gegen Frauen als alleiniger Anklagepunkt zur Verhandlung anstand. Dies ist eine Genugtuung für die betroffenen Frauen. Aber wer von uns kann
sich vorstellen, was es heißt, nicht nur mit den dauerhaften Gesundheitsschäden zu leben, sondern wohl auch die
seelischen Verletzungen niemals wieder loszuwerden?
Lassen Sie uns alle Kraft darauf verwenden, wenigstens da, wo wir selber Einfluss nehmen können, alles zu
tun, um Kindern und Frauen solche Verletzungen zu ersparen. Lassen Sie uns über Fraktions- und Ausschussgrenzen hinweg dieses wichtige Thema beraten.
Der Rechtsausschuss ist zwar der federführende Ausschuss, ich denke aber, auch die Mitglieder des Familienausschusses sollten bei diesem Thema die Stimme sehr
deutlich erheben; so werden wir gemeinsam ein gutes Ergebnis erzielen.
({5})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Renate Gradistanac von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Heute auf den Tag genau vor 90 Jahren forderte Clara Zetkin anlässlich des Internationalen Frauentages für ihre Zeitgenossinnen das Wahlrecht als Grundlage politischer Teilhabe und damit gesellschaftlicher
Gestaltungsmacht. Seitdem kämpfen Frauen und intelligente, emanzipierte Männer und haben einiges erreicht.
({0})
1958 tritt zum Beispiel das Gleichberechtigungsgesetz
in Kraft. Das Letztentscheidungsrecht des Ehemanns in
allen Eheangelegenheiten wird ersatzlos gestrichen und
das Recht des Ehemanns, ein Dienstverhältnis seiner Frau
fristlos zu kündigen, wird aufgehoben. Das war auch eine
Form von Gewalt.
Wenn das vorliegende Gewaltschutzgesetz verabschiedet sein wird, haben Frauen, die von häuslicher GeIlse Falk
walt durch ihre Partner betroffen sind, die Möglichkeit, zu
wählen: Sie können mit ihren Kindern in eines von über
400 Frauenhäusern gehen oder zu Hause bleiben, denn der
Gewalttäter wird der Wohnung verwiesen. In BadenWürttemberg wird in verschiedenen Modellstädten die
Wegweisung erfolgreich praktiziert. In konservativen
Kreisen staunt man, dass der „Herr des Hauses“ gehen
muss und Frau und Kinder, die so genannte Restfamilie
- ein Unwort -, in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können. Wieso diese Empörung, jedenfalls höre ich sie immer
wieder, wenn der Täter gehen muss?
Seit mehr als 25 Jahren thematisiert, hat sich an der alltäglichen Gewalt gegen Frauen kaum etwas geändert. Mit
dem Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen liegt erstmals ein umfassendes
und ressortübergreifendes, nachhaltiges und effektives
Gesamtkonzept vor.
({1})
Dabei geht es nicht nur um punktuelle Maßnahmen und
individuelle Hilfestellungen wie in der Vergangenheit. Es
sind strukturelle Veränderungen auf allen Ebenen notwendig. Seit der Einbringung des Aktionsplans in den
Deutschen Bundestag ist nicht nur für mich Entscheidendes passiert.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, es ist die
Aufgabe der Opposition, also auch Ihre Aufgabe, gute
Ideen einzubringen, gegebenenfalls Druck zu machen
und, wie im vorliegenden Fall, einen Antrag zu stellen.
({2})
Ich zitiere aus Ihrem Antrag:
Der Deutsche Bundestag begrüßt ein solches Aktionsprogramm ...
Das freut mich sehr. Wenn es allerdings an die Verabschiedung und an die Umsetzung von Gesetzen gegen die
Gewalt an Frauen und Kindern ging, dann haben Sie,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, dagegen
gestimmt.
({3})
Ich höre, dass Sie sich für die Zukunft etwas anderes vorgenommen haben.
Erstes Beispiel. Der Aktionsplan legt großen Wert auf
präventive Maßnahmen. Mit dem Gesetz zur Ächtung
von Gewalt in der Erziehung wird unmissverständlich
festgehalten: Gewalt ist kein Mittel der Erziehung; körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere
entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.
({4})
Es geht darum, Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu
stärken.
Leider haben Sie, Frau Fischbach von der CDU, als
ehemalige Vorsitzende der Kinderkommission mit Ihren
Kolleginnen und Kollegen diesem wichtigen Gesetz, das
zu einer friedfertigeren Gesellschaft hinführen soll, nicht
zugestimmt.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Geis?
Nein, danke.
Zweites Beispiel. Die Neuregelung des § 19 Ausländergesetz unterstützt Frauen ausländischer Herkunft, die
mit einem deutschen oder ausländischen Mann verheiratet und von Gewalt bedroht sind. Für misshandelte Frauen
ist die Mindestdauer der für die Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts erforderlichen Ehejahre von
vier auf zwei Jahre verkürzt worden. Auch diese Verbesserung für die ausländischen Frauen haben Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, abgelehnt.
Lassen Sie mich am heutigen Frauentag abschließend
zusammenfassen: Mein Dank richtet sich an die beiden
Ministerinnen Herta Däubler-Gmelin und Christine
Bergmann. Das Programm „Frau und Beruf“ mit seinem
neuen Elternzeitgesetz und das Aktionsprogramm zur
Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen sind unverzichtbare Bausteine, um Clara Zetkins Forderung „Frauenrechte sind Menschenrechte“ weiter umzusetzen. Gewalt
ist ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke.
({0})
Das gilt übrigens auch für verbale Gewalt.
({1})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Ingrid
Fischbach das Wort.
Frau Kollegin
Gradistanac - ich hoffe, ich habe Ihren Namen richtig ausgesprochen; ich habe es geübt -, Sie waren bei der Verabschiedung des Gesetzes zu gewaltfreier Erziehung dabei.
In Ihrer Darstellung haben Sie so getan, als hätten die
CDU/CSU-Fraktion und auch meine Person gegen die gewaltfreie Erziehung gestimmt, das heißt, wir hätten eigentlich dafür gestimmt, dass Kinder mit Gewalt erzogen
werden.
Erste Klarstellung. Sie haben dieses Gesetz mit Unterhaltungsregelungen verknüpft. Unsere Kollegen im
Rechtsausschuss haben deutlich gemacht, wo unsere
Fraktion diesbezüglich Probleme sieht. Wenn Ihnen der
Rechtsanspruch so wichtig gewesen wäre, dann hätten Sie
dazu ein Einzelgesetz vorlegen können.
Zweite Klarstellung. Wir haben Ihnen den Vorschlag
gemacht, die Formulierung des Bundesrates „Kinder sind
gewaltfrei zu erziehen“ zu übernehmen. Ich habe Ihnen
in meiner Funktion als Vorsitzende der Kinderkommission bewusst gesagt: Ich kann es für meine Person
nicht verantworten, Kindern und Jugendlichen einen
Rechtsanspruch vorzugaukeln, der überhaupt nicht justiziabel ist. Sie haben praktisch kein Recht. Deshalb habe
ich gesagt: Lasst uns ehrlich sein und festschreiben, dass
Kinder gewaltfrei zu erziehen sind. - Das möchte ich zur
Klarstellung in Bezug auf die damalige Entscheidung sagen.
({0})
Möchten
Sie erwidern, Frau Gradistanac?
Ja.
Bitte
schön.
Frau Fischbach, nach
meiner Meinung ging es bei dem Gesetz in erster Linie darum, den Wert einer gewaltfreien Erziehung zu dokumentieren. Ich wiederhole: Das Gesetz sollte den Eltern, die
Hilfe brauchen, einen Rechtsanspruch auf Hilfe gewähren
und sie in ihrer Erziehungskompetenz unterstützen. Ich
denke, in diesem Punkt hätten wir gut gemeinsam etwas
tun können.
({0})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Anni Brandt-Elsweier von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ Wer
kennt es nicht, das gern benutzte Nietzsche-Zitat aus dem
Jahre 1884? Wer es heutzutage verwendet, wird Ihnen im
gleichen Atemzug sagen, dass es nur ironisch und nicht
frauenfeindlich gemeint sei. Ich frage: Wirklich nicht?
Die Realität spricht leider eine andere Sprache.
Gewalt an Frauen ist ein uraltes Problem. Gewalt galt
in früheren Zeiten ganz allgemein als ein anerkanntes legitimes Mittel, sowohl in der Erziehung als auch in der
Ehe. Noch im Allgemeinen Preußischen Landrecht von
1774 war das „Recht der mäßigen Züchtigung“ des Ehemannes gegenüber seiner Ehefrau festgeschrieben. Wenn
dieses Recht auch 1812 per Edikt gestrichen wurde, so
nahm man auf juristischer Ebene diese rechtliche Veränderung kaum zur Kenntnis, sodass das Züchtigungsrecht
des Ehemannes gegenüber seiner Ehefrau erst mit der
Einführung des BGB im Jahre 1900 als abgeschafft gelten
kann. Bis vor etwa 100 Jahren war es dem Ehemann also
durchaus erlaubt, seine Frau zu schlagen.
Ich würde gerne sagen, das ist Schnee von gestern.
Doch leider ist das nicht so. Die gesellschaftliche Realität
sieht nämlich anders aus. Gerade die Ehe und die Familie,
die der Hort der Geborgenheit und des Schutzes sein sollten, stellen sich immer häufiger als Ort des Schreckens
und der Gewalt dar. Die häusliche Gewalt ist in der Tat eines der größten Probleme der Gewaltkriminalität überhaupt. Die überwiegende Zahl der Opfer sind Frauen. Die
entsprechenden Zahlen sind mehrfach genannt worden;
ich brauche sie nicht zu wiederholen.
Über das tatsächliche Ausmaß der Gewalt in all ihren
Erscheinungsformen lassen sich keine gesicherten Aussagen machen, unter anderem deshalb - auch das ist bereits
gesagt worden -, weil viele Frauen Gewalttaten innerhalb
der Partnerschaft nicht anzeigen. Häufig dominieren
Schamgefühl und die Auffassung, dass es sich um eine
Privatsache handelt, und auch das Gefühl, die Polizei und
der Staat können ohnehin nichts bewirken.
All diese Gewaltformen haben letzten Endes die gleiche Ursache. Sie beruhen auf dem Abhängigkeitsverhältnis, das in unserer Gesellschaft großenteils immer noch
die Beziehung zwischen Mann und Frau beherrscht. Die
männliche Vormachtstellung ist über Jahrhunderte für
viele, auch für Frauen, zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, dass wir sie in ihren subtilen Formen
manchmal fast nicht mehr bemerken. Oft wird sie verschleiert und tabuisiert.
Hin und wieder kommen diese uralten Rollenvorstellungen ganz unverblümt ans Tageslicht. So sagte mir vorige Woche ein Besucher einer Veranstaltung, als er von
dem Gewaltschutzgesetz hörte: „Wenn mich meine Frau
provoziert, rutscht mir schon mal die Hand aus. Und dann
soll ich auf die Straße? Undenkbar!“ Hinzu kommt auch,
dass die Privatsphäre innerhalb der modernen Familie
deutlich Vorrang hat, sodass nahezu jede öffentliche Kontrolle entfällt. Familienmitglieder und Nachbarn fühlen
sich nicht mehr zuständig nach dem Motto „Da mischen
wir uns nicht ein“.
Aber die hinter Wohnungstüren verübte Gewalt ist kein
Unglück, sondern ein Unrecht und somit ein Problem des
öffentlichen Interesses, dessen sich der Staat anzunehmen
hat.
({0})
Wo private Schutzmechanismen nicht mehr funktionieren, ist der Gesetzgeber gefordert. Ich bin froh, dass wir
mit dem vorliegenden Gewaltschutzgesetz endlich einen
verbesserten Schutz für die Opfer häuslicher Gewalt gewährleisten und damit ein Anliegen umsetzen können, das
wir bereits in der letzten Legislaturperiode verfolgt haben.
Die bereits erwähnte Kampagne der letzten Regierung
„Gewalt gegen Frauen“ mag ja zu einem Bewusstseinswandel geführt haben; sie hat aber nicht zu konkreten
Maßnahmen und Gesetzen geführt. Das von der SPD bereits 1995 in den Bundestag eingebrachte Gesetz über die
erleichterte Zuweisung der Ehewohnung wurde von der
Mehrheit nicht akzeptiert.
({1})
Kampagne ja, konkrete Hilfe nein.
({2})
Der uns vorliegende Gesetzentwurf bietet konkrete
Hilfen an. Ich weise, meine Damen und vor allen Dingen
meine Herren, ausdrücklich darauf hin, dass der GesetzIngrid Fischbach
entwurf nicht geschlechtsspezifisch formuliert ist. Er
schützt nicht nur Frauen, sondern gegebenenfalls auch
geschlagene Männer, die in ihren Familien Opfer von
Gewalttaten geworden sind.
Aber leider spricht die Statistik eine andere, klare
Sprache. Es sind eben in der Mehrzahl Frauen, die Opfer
dieser Gewalt werden. Darum ist es heute, am 8. März,
dem Internationalen Frauentag, nicht nur ein symbolischer Akt, diesen Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen. Der 8. März ist traditionell ein Tag, am dem für
die Rechte der Frauen nicht nur in Deutschland, sondern
weltweit gestritten wird. Wir haben in den letzten Jahrzehnten manches, auch gemeinsam, erreicht, aber wir haben noch vieles vor uns.
({3})
Es ist genau der richtige Tag, um auf dem langen Weg zum
selbstbestimmten und gleichberechtigten Miteinander einen weiteren Schritt vorwärts zu gehen. Was könnte es
heute also Besseres geben als die Einbringung des Entwurfs eines Gewaltschutzgesetzes?
Ich hätte gerne Herrn Pofalla noch persönlich angesprochen. Denn ich denke, die Gefahr des Missbrauchs
kann kein Gesetz völlig ausschließen. Das ist meine Erfahrung. Ich habe aber auch das notwendige Vertrauen in
die Gerichte, dass sie grundsätzlich Recht sprechen. Dass
sie belogen werden, lässt sich nicht ausschließen, auch
nicht durch das beste Gesetz.
({4})
Wenn zukünftig eine Frau durch den Partner regelrecht
grün und blau geschlagen wird, so kann sie nach der
neuen Regelung im Eilverfahren vor den Zivilgerichten
wirksame Schutzmaßnahmen erwirken. Dem Gewalttätigen wird bei Strafe verboten, sich der Wohnung oder
der Betroffenen selbst zu nähern. Auch kann die misshandelte Frau leichter durchsetzen, dass ihr die gemeinsame
Wohnung zeitlich befristet oder dauerhaft zur alleinigen
Nutzung zugewiesen wird.
Besonders wichtig war und ist auch, dass bei Nachstellungen und erheblichen Belästigungen außerhalb einer
Partnerschaft gerichtliche Schutzanordnungen auf klarer
gesetzlicher Grundlage ermöglicht werden. So können die
Zivilgerichte künftig zum Schutz des Opfers wirksam reagieren, wenn jemand von einer anderen Person, etwa aus
unerwiderter Liebe oder aus Rachegefühlen, durch nächtliche Telefonanrufe oder eine Flut von E-Mails mit obszönem Inhalt terrorisiert oder sogar Tag und Nacht verfolgt wird. Es gibt dafür genügend Beispiele.
Es wäre also schön, wenn als Folge des vorliegenden
Gesetzentwurfes - ich habe heute gehört, dass wir gemeinsam daran arbeiten wollen - Frauenhäuser demnächst überflüssig würden und eventuell die Männer in
Männerhäusern zum Nachdenken über ihre „schlagkräftigen“ Argumente gezwungen würden.
Danke schön.
({5})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5429, 14/5093 und 14/5455 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda
Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Norbert Barthle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Wiederherstellung des umfassenden Rechts auf
Vorsteuerabzug
- Drucksache 14/5223 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Jochen-Konrad Fromme von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir fordern die Wiederherstellung des umfassenden Rechtes auf
Vorsteuerabzug, insbesondere bei den Reisekosten und
bei den Personenkraftwagen. Sie hatten es als Koalition
im Rahmen des Steuerentlastungsgesetzes 1999 - man
muss sich das auf der Zunge zergehen lassen - abgeschafft. Wir haben Sie von Anfang an vor dieser Regelung
gewarnt und aufgrund der Rechtsprechung der Finanzgerichte immer wieder aufgefordert, endlich zu handeln.
Lassen Sie mich einmal aus einer Antwort von Ihnen
zitieren:
Die Frage der Vereinbarkeit der Einschränkung des
Vorsteuerabzugs mit Art. 17 Abs. 6 der 6. Umsatzsteuer-Richtlinie ... stellt sich somit nicht.
So waren Ihre arroganten Antworten, bis dann der Bundesfinanzhof Ihnen ganz deutlich gesagt hat: Der Vorsteuerabzug ist ein tragendes Element des Mehrwertsteuerrechtes und deshalb kann es grundsätzlich keine
Einschränkungen geben. Entsprechende Ausnahmen - es
gibt hinsichtlich der Einhaltung der Richtlinie ja keine
Wahlfreiheit - gibt es auch für die Bundesrepublik
Deutschland nicht.
Die Rechtslage ist so eindeutig, dass es im Urteil des
Bundesfinanzhofes heißt:
Eine Vorlage an den EuGH ... ist nicht geboten, weil
keine Zweifel an der Auslegung des ... Gemeinschaftsrechts bestehen.
Sie aber haben in Ihrer arroganten Art und Weise all das
in den Wind geschlagen und haben versucht, sich
nachträglich - ich betone: nachträglich - eine Ermächtigung dazu geben zu lassen.
Die Begründungen waren sehr unterschiedlich.
Zunächst haben Sie im Gesetzentwurf gesagt, es handele
sich um eine Vermischung von privaten und betrieblichen
Interessen. Außerdem haben Sie natürlich eine Finanzierungsmaßnahme für Steuersenkungen gesucht. In dem
Antrag, den Sie dann an die EU gestellt haben, haben Sie
gesagt, Sie möchten eine Einschränkung des Vorsteuerabzugs, um dessen Missbrauch zu bekämpfen. Der EU-Rat
hat dann in seiner Antwort gesagt, es gehe um eine Vereinfachung. Was wollen Sie denn nun eigentlich? Das ist
widersprüchlich hoch drei. Ich kann Ihnen sagen, was Sie
wollen: Abzocken, nichts weiter als abzocken.
({0})
Der Bundesfinanzhof hat immer eindeutig gesagt:
Wenn ein Arbeitnehmer auswärtig tätig werden muss,
dann ist der Arbeitgeber für die Unterbringung zuständig. Ein persönlicher Vorteil, wenn er denn überhaupt gegeben ist, ist so nebensächlich, dass es überhaupt keine
Frage ist, dass das zur Arbeitgebersphäre gehört und beim
Vorsteuerabzug auch so behandelt werden muss. Die lapidare Begründung, die Sie gegeben haben - Essen und
Schlafen seien stets Privatsache -, kann doch hier nicht
ziehen. Sie verkennen schlicht und einfach die Realitäten:
Das Essen zu Hause ist billiger als das Essen unterwegs.
Können Sie denn das Schlafzimmer zu Hause in der Zeit,
in der Sie nicht zu Hause sind, vermieten? Ich möchte mal
sehen, was Ihre Ehefrauen bzw. Ehemänner dann sagen.
Sie tun doch so, als wäre eine Dienstreise eine vergnügungssteuerpflichtige Angelegenheit. Ich warte jedenfalls
nur darauf, dass Sie eine Vergnügungsteuer für Dienstreisen einführen.
({1})
Die Realität sieht doch ganz anders aus. Ich jedenfalls
empfinde eine Dienstreise und die Trennung von der Familie als Belastung. Ich muss natürlich zugeben: Manch
einer, der schon drei- oder viermal gewechselt hat, mag
das anders empfinden und flüchten wollen. Aber für den
Normalfall gilt das nicht.
({2})
Ihre Regelung hat zu erheblichen Gewinneinbrüchen
im Gastgewerbe geführt. Insbesondere in Kombination
mit der 630-Mark-Regelung hat dies Arbeitsplätze vernichtet und nicht geschaffen.
Das Gleiche gilt für das Kraftfahrzeuggewerbe.
Wir haben immer wieder von den Händlern gehört, dass
aufgrund Ihrer Maßnahmen der Absatz zurückgegangen
ist.
({3})
Das Steuerrecht kann keine Arbeitsplätze schaffen; es
kann aber Arbeitsplätze in erheblichem Maße vernichten,
nämlich wenn man Regelungen schafft, die schädlich
sind. Diese Regelung hat eher dazu beigetragen, dass
Arbeitsplätze vernichtet worden sind, als dazu, dass
Arbeitsplätze geschaffen worden sind.
({4})
Steuerpolitik hat immer zwei Elemente: ein fiskalisches und ein wirtschaftspolitisches.
({5})
Unter dem Deckmantel des Steuerentlastungsgesetzes haben Sie aber keine Entlastung, sondern eine Belastung geschaffen. Bei Ihnen hat nichts weiter gezählt als das fiskalische Interesse; denn wenn man einmal in das
Finanztableau hineinschaut, sieht man dort 1,5 Milliarden
DM an Steuermehreinnahmen. Ihr Ziel war also nicht
wirtschaftspolitischer Art, sondern Ihr Ziel war Abzocken.
Sie sagen, Sie wollen die Steuerquote senken, und machen eine Riesensteuerreform. Dann frage ich mich, wie
es in den letzten Tagen zu der Meldung kommen konnte:
Steuerquote um 0,1 Prozent gestiegen.
({6})
Ich denke, Sie haben gerade die größte Steuerreform des
Jahrhunderts auf den Weg gebracht. Das hätte doch bedeuten müssen, dass die Leute weniger Steuern zahlen
statt mehr. Aber das ist bei Ihnen eben nicht so.
Meine Damen und Herren, Sie lassen den Steuerzahler wieder einmal alleine. Es ist doch völlig klar, dass bei
der PKW-Nutzung Privatanteile versteuert werden
müssen. Dafür gibt es ganz eindeutige und klare Regelungen. Was passiert denn jetzt? - Sie lassen die Steuerpflichtigen im Hinblick auf die PKWs mit dem formalen
Argument alleine, der EuGH habe ja auf den Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofes noch nicht entschieden.
Ist Ihnen denn entgangen, dass der EuGH schon einmal
zu einer entsprechenden französischen Regelung ganz
klar Nein gesagt hat? Damit ist doch völlig klar, was hier
kommen wird. Es wird genauso kommen wie bei den
Reisekosten.
({7})
Was geschieht in der Zwischenzeit? Jeder Steuerpflichtige muss sich doch jetzt sagen, dass er, wenn die
Bundesregierung und die Koalition nicht bereit sind, die
Gesetzeslage dem materiellen Recht anzupassen, gegen
seinen Steuerbescheid Einspruch einlegen muss. Das
heißt, es müssen alle Steuerbescheide, die die Mehrwertsteuer in puncto Reisekosten und in puncto PKW-Anschaffung betreffen, offen gehalten werden. Die Angehörigen der steuerberatenden Berufe beraten doch auch
in diese Richtung. Sie sagen: Bitte legt Einspruch ein, damit ihr euch später eure Rechte sichern könnt.
({8})
Nach den Erfahrungen, die wir bei der Abwicklung des
Kindergeldes gemacht haben,
({9})
als Sie zunächst sagten, jeder bekomme es, und es dann
nicht jeder bekam, weil es Schwierigkeiten bei der AbJochen-Konrad Fromme
wicklung gab, ist doch zu erwarten, dass jeder Einspruch
einlegt. Meine Damen und Herren, Millionen von Steuerbescheiden werden nicht rechtskräftig! Wer will eigentlich am Ende - bei den AfAs haben wir ja genau dieselbe
Situation - noch durchsteigen, wenn in der Finanzverwaltung keine Bescheide rechtskräftig abgeschlossen
werden?
({10})
Hier wird doch wieder einmal deutlich, wie Sie auch
die einzelnen am Wirtschaftsleben Teilnehmenden unterschiedlich behandeln. Für die Großbetriebe ist das
kein Problem. Sie haben große Steuerabteilungen und
können das durchstehen. Aber was ist mit dem kleinen
Selbstständigen, mit dem Mittelständler? Er verzweifelt
und muss sich fügen. Er kann am Ende die Rechte nicht
wahrnehmen, die ihm eigentlich zustehen; denn Sie enthalten sie ihm vor, obwohl Sie dies mit einem einzigen
Federstrich im Gesetzblatt - das ist überhaupt kein
großes Problem - mit breiter Mehrheit sofort ändern
könnten.
({11})
Sie halten es in all diesen Fragen so wie mit den Arbeitnehmern. Da ist Wahlkampf in Baden-Württemberg. Da lassen Sie Ihren Herrn Spiller mal eben schnell
verkünden, die Arbeitnehmerabfindungen und die
Handelsvertreterabfindungen sollen geregelt werden.
Der Bundesfinanzminister hat gestern im Finanzausschuss gesagt, überhaupt nichts tut sich; das komme
überhaupt nicht in Frage. Nach vorn wollen Sie populistisch Wahlkampf machen und hinterher tun Sie das
Versprochene nicht. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({12})
In all diesen Fragen verhalten Sie sich arbeitnehmerund insbesondere mittelstandsfeindlich. Das bedeutet,
Ihre einzige steuerpolitische Linie ist abzocken, abzocken
und nochmals abzocken.
({13})
- Ach, Herr Grotthaus, ich wusste ja, dass Sie es nicht verstehen und dass Sie nicht zuhören.
({14})
Es ist doch ganz einfach. Die Entscheidungen liegen klar
auf der Hand. Und weil sie klar auf der Hand liegen, muss
es auch geändert werden. Wir werden uns hier, wenn der
EuGH entschieden hat, noch über die Gesetzesänderung
unterhalten. Der große Unterschied ist nur, dass Sie viel
Verwaltungsaufwand sparen würden, wenn Sie es gleich
machten, Verwaltungsaufwand, der niemandem etwas
nützt, aber viel Frust verursacht.
Meine Damen und Herren, auch das Steuerrecht muss
doch Menschen zur Leistung motivieren. Das bedeutet:
Wenn Sie unnötigen Druck bei der Reisekostenregelung
machen, dann wird die Qualität der Unterbringung durch
die Betriebe abgesenkt. Das ist doch nicht gerade arbeitnehmerfreundlich.
({15})
Das gerade für die Leistungsträger in der Wirtschaft wirklich motivierende Mittel der privaten PKW-Nutzung wird
von Ihnen auf diese Art und Weise kaputtgemacht. Sie
wollen mit Ihrer Steuerpolitik doch gar nicht wirklich die
Wirtschaft positiv beeinflussen; denn sonst würden Sie
sich in solchen relativen Kleinigkeiten, die aber psychologisch von ganz großer Wichtigkeit sind, nicht so hartnäckig und so unbelehrbar zeigen, wie Sie das in dieser
Frage tun.
Meine Damen und Herren, wir werden es ja erleben,
wenn dann Millionen von Steuerbescheiden in der Finanzverwaltung nachbearbeitet werden müssen. Dazu
kommt die Abwicklung der Ökosteuer.
({16})
- Natürlich. Sie bekommen das Wort Ökosteuer so oft zu
hören, bis Sie es nicht mehr hören wollen.
({17})
Denn es ist klar: Auch das wendet sich gegen den kleinen
Mann und nicht gegen den großen.
Mit der Ökosteuer haben Sie doch die Preise angetrieben. Warum haben wir denn plötzlich im Monatsvergleich
eine Inflationsrate zwischen 2,5 und 3 Prozent? Das tun
gerade Sie als Sozialdemokraten. Das ist die unsozialste
Tat, die es gibt.
({18})
Wie blank die Nerven in der Koalition sind, sieht man
daran, dass Sie sich inzwischen offensichtlich in Ihren
Fraktionssitzungen, wie man der „Bild“-Zeitung entnehmen konnte, mit dem „Autofahrergruß“ begrüßen. Das ist
keine vorbildliche Politik. Seien Sie vernünftig! Beseitigen Sie eine Bestimmung, die nur hinderlich ist und von
der jeder weiß, dass sie fallen muss!
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Simone
Violka von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Damen und Herren Abgeordnete! Als ich den Antrag der
CDU/CSU-Fraktion zum ersten Mal gelesen habe, fiel
mir sofort auf, dass die Opposition wohl doch beginnt,
lernfähig zu werden.
({0})
Denn immerhin geben Sie in Ihrem Antrag zu, dass die
Menschen in diesem Land durch das Steuerentlastungsgesetz auch tatsächlich entlastet werden.
({1})
Bisher ließen Sie doch keine mögliche und auch unmögliche Gelegenheit verstreichen, genau das zu bestreiten.
Ich kann nur hoffen, dass sich da bei Ihnen so langsam die
rechte Einsicht durchsetzt - außer vielleicht bei Herrn
Fromme, der das soeben wieder angesprochen hat.
({2})
Herr Fromme, ich kann Ihnen eines sagen:
Steuermehreinnahmen haben auch etwas damit zu tun,
dass wir zu Beginn der Legislaturperiode über 70 Sondertatbestände abgeschafft haben und dass Menschen mit
einem sehr hohen Einkommen, die bis zu diesem Zeitpunkt ihre Steuerschuld sehr stark herunterrechnen konnten, plötzlich Steuern zahlen müssen. Ich verstehe schon,
dass derjenige, der ein hohes Einkommen hat und dieses
bisher netto wie brutto einstreichen konnte, nicht begeistert darüber ist, nun plötzlich dafür Steuern zahlen zu
müssen.
({3})
Ich habe damit kein Problem. Denn ein Verdiener in der
unteren und mittleren Gehaltsklasse konnte das nicht.
Warum sollen sich eigentlich die Großen aus dem Steuergeschehen herauslösen dürfen?
({4})
Ihr Antrag richtet sich gegen die im Rahmen des
Steuerentlastungsgesetzes beschlossene Gesetzesänderung zum Vorsteuerabzug. Sie beziehen sich dabei in
Punkt 3 auf das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 23. November 2000.
({5})
In diesem Urteil bestätigt der Bundesfinanzhof die Entscheidung des Landgerichts Hamburg. Dieser Richterspruch bezieht sich auf den Vorsteueranspruch aus Aufwendungen des Unternehmers, soweit er im eigenen
Namen Übernachtungsleistungen seiner Arbeitnehmer
bestellt hat und ihm darüber hinaus eine Rechnung gestellt wird. So weit, so gut. Allerdings umfasst dieses Urteil eben nicht ausdrücklich die kompletten Reisekosten,
wie Sie es in Punkt 3 Ihres Antrages fordern.
({6})
Während die Übernachtungen, wie eben beschrieben,
vom Unternehmer ausgelöst und beglichen werden können, ist das im Bereich der Verpflegungskosten anders.
Die Verpflegung dient vorrangig der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse, die ebenso anfallen, wenn sich der
Mitarbeiter nicht auf Dienstreise befindet. Herr Fromme,
eines kann ich Ihnen sagen: Es gibt auch Menschen, die
sich auf Dienstreisen nicht in teuren Lokalen sehen lassen,
sondern sich von Schokoriegeln oder Milchschnitten
ernähren.
({7})
- Ja, Frau Ehlert, gesund ist das natürlich nicht. Aber es
bleibt Entscheidung des Mitarbeiters. Es ist seine Sache,
ob er sich an der Ecke eine Roster oder etwas anderes
kauft oder ob er essen geht. Dies wird nicht vom Chef
angeordnet. Insoweit ist dies Privatsache. Da geben Sie
mir mit Sicherheit Recht.
({8})
Soweit es den Vorsteueranspruch aus Übernachtungsleistungen betrifft, beabsichtigt die Finanzverwaltung,
dieses Urteil zu akzeptieren. Dies wurde auch schon gemeinsam mit den zuständigen Finanzbehörden der Länder
erörtert. Allerdings lässt sich daraus nicht automatisch ableiten, dass darunter auch der Vorsteueranspruch aus Verpflegungskosten fällt. Dieses Thema ist zwar weiterhin
auch in den Finanzbehörden der Länder Beratungsgegenstand; aber es ist eben nur ein Beratungsgegenstand. Dazu
schon jetzt eine verbindliche Aussage zu treffen wäre völlig verfrüht.
Natürlich wird in den jeweils zuständigen Stellen auch
dieser Punkt erörtert. Aber ohne eine genaue Untersuchung sowie Prüfung der Sachlage und der juristischen
Gegebenheiten wird es keine rechtsgültige Aussage geben. Das ist ein völlig legitimes Verfahren und es kann in
niemandes Interesse sein, solche Entscheidungen übers
Knie zu brechen.
({9})
- Es ist aus meiner Sicht durchaus legitim, etwas abzulesen. Denn ich habe es vorher selber geschrieben.
({10})
Auch wenn Sie vielleicht der Meinung sind: Dieses
Gesetz ist nicht verfrüht und unausgegoren in Kraft gesetzt worden. Es kommt aufgrund der Gewaltenteilung
durchaus vor, dass Gerichte zu anderen Auffassungen
kommen als der Gesetzgeber. Ich muss Sie, meine Damen
und Herren der CDU/CSU-Fraktion, doch sicher nicht
erst wieder daran erinnern, dass die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Familienbesteuerung das Versagen der Familienpolitik der alten Koalition
seit 1982 offen gelegt haben.
({11})
Dass es erst eines Bundesverfassungsgerichtsurteils bedurfte, kennzeichnet Ihre arrogante Art, Herr Fromme aber den Familien gegenüber! Und das haben Sie jahrelang so gemacht.
({12})
Meiner Meinung nach wurden hinsichtlich der Auswirkungen des BFH-Urteils bereits die richtigen Schritte
eingeleitet. Allerdings müssen wir jetzt auch die Geduld
haben, das Ergebnis abzuwarten.
Sie sprechen sich in Ihrem Antrag auch gegen die Beschränkung des Vorsteuerabzugs aus Anschaffung und
Betrieb von gemischt genutzten Fahrzeugen aus. Die
Europäische Kommission hat sich ja mehrmals mit dem
gesamten Themenkomplex beschäftigt. Allerdings hat die
Kommission gegen die Beschränkung des Vorsteuerabzugs auf 50 Prozent bisher von sich aus keine Einwände
erhoben.
Sie ist der Auffassung - und hat dies am Beispiel der
Vorsteuereinschränkung für die Verwendung eines Mietwagens sowohl für unternehmerisch bedingte als auch für
privat bedingte Fahrten eines Unternehmers aufgezeigt -,
dass die Vorsteuereinschränkung von der deutschen Regelung über die Beschränkung des Vorsteuerabzuges für
Fahrzeuge im Allgemeinen abgedeckt ist, die der Rat auf
der Grundlage von Art. 27 der 6. Mehrwertsteuer-Richtlinie genehmigt hat.
Man muss in diesem Zusammenhang wissen, dass der
Ausschluss der hundertprozentigen Abzugsfähigkeit ja
nicht in jedem Fall gilt. Eine geringe private Nutzung
schließt diese nämlich nicht automatisch aus. Es geht im
Abzugsfall um eindeutig gemischt genutzte Fahrzeuge.
Es betrifft also nicht den Taxifahrer mit eigenem Fahrzeug, der jeden Morgen und Abend von und zu seiner
Wohnung und von und zu seinem Taxiplatz fährt.
({13})
Obwohl diese Fahrten als privat angesehen werden, sind
sie so geringfügig, dass einem hundertprozentigen Abzug
nichts im Wege steht.
Anders schaut es aus, wenn derselbe Taxifahrer außerdem noch regelmäßig mit dem Fahrzeug in den Urlaub
fährt oder das Auto regelmäßig in seiner Freizeit privat
nutzt.
({14})
Wenn das der Fall ist, muss es zu einem verminderten Abzug der Vorsteuer kommen. Es ist selbstverständlich auch
im Sinne der SPD, dass der Unternehmer, welcher einen
solchen Fuhrpark aus betrieblichen Gründen betreibt,
auch voll in den Genuss des Vorsteuerabzuges kommt
- aber eben nur, wenn es sich um eine tatsächliche betriebliche Nutzung handelt.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU-Fraktion, in dieser Frage anderer Meinung
sind, dann bitte ich Sie, den vielen Menschen draußen, die
nicht selbstständig sind, zu erklären, warum ihr Chef für
sein Auto keine Mehrwertsteuer zu bezahlen braucht, obwohl er es genauso privat nutzt.
({15})
Ich glaube nicht, dass Sie viele Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer finden werden, die da mit Ihnen einer Meinung sind. Natürlich bleibt abzuwarten, wie sich der Bundesfinanzhof bzw. der Europäische Gerichtshof zu dieser
Frage äußern werden.
Im Übrigen ist auch das nichts Neues. Von Ihnen wurde
dieses Thema schon ziemlich oft auf die Tagesordnung
gebracht, unter anderem auch in Fragestunden; das letzte
Mal am 7. Februar dieses Jahres.
({16})
Obwohl die Staatssekretärin Frau Barbara Hendricks
Ihrem Fragesteller, Herrn Michelbach, ausführlich erklärt
hat, dass der Bundesfinanzhof gegenüber dem Europäischen Gerichtshof lediglich Zweifel an der Vereinbarkeit
der Ratsentscheidung mit dem Gemeinschaftsrecht
geäußert hat, weil dem deutschen Gesetzgeber durch die
Ratsentscheidung eine rückwirkende Genehmigung gegeben worden ist, stellen Sie in Ihrem Antrag die Gesetzlichkeit der Beschränkung des Vorsteuerabzuges an sich
wieder infrage.
Der Bundesfinanzhof hat aber überhaupt nicht von
Unverhältnismäßigkeit gesprochen. Es ging lediglich um
den Zeitpunkt der Ratsentscheidung. Aber auch das ist Ihnen bekannt, weil Sie es in der angesprochenen Fragestunde genau erläutert bekommen haben. Da frage ich
mich schon, wieso Sie Ihr parlamentarisches Recht auf
Fragen wahrnehmen, wenn Sie überhaupt nicht gewillt
sind, die Antworten zu akzeptieren.
({17})
Aber auch diesbezüglich scheint Ihre Arbeitsweise
recht konfus zu sein. Denn als das Thema am 24. Januar
dieses Jahres als Punkt 14 der Tagesordnung im Finanzausschuss behandelt wurde, hat nicht einer aus Ihren Reihen dazu etwas gesagt.
({18})
Diese EU-Vorlage wurde von Ihnen lediglich zur Kenntnis genommen. Ich habe mir extra das Protokoll zu diesem Tagesordnungspunkt angeschaut, um mich zu vergewissern, dass Sie tatsächlich nichts dazu gesagt haben.
({19})
Wenn Sie noch nicht einmal im Ausschuss darüber diskutieren wollen, frage ich mich, wie wichtig Ihnen dieses
Thema tatsächlich ist. Im Hinblick auf eine noch ausstehende endgültige Entscheidung in dieser Frage halte ich es
für derzeit überhaupt nicht nötig, weiter über dieses Thema
zu diskutieren. Um in der Sache vernünftig weiter voranzukommen, müssen wir abwarten und uns danach Gedanken machen, wie wir im Sinne der Entscheidung verfahren.
({20})
Sollte es ein Urteil gegen das bestehende Gesetz geben,
werden wir selbstverständlich aktiv werden.
({21})
Aber bis dahin bleibt die richterliche Entscheidung abzuwarten. Allerdings bin ich zuversichtlich, dass unser gültiges Gesetz keinen Verstoß beinhaltet.
({22})
Als
nächster Redner hat der Kollege Gerhard Schüßler von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Der heute von der
Union vorgelegte Antrag ist die logische Konsequenz aus
einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs - damit das
einmal klar ist.
({0})
Nicht zum ersten Mal hat ein Gericht rechtliche Bedenken gegenüber der hektischen und unsystematischen
Steuerpolitik der Koalition angemeldet. Diesmal hält der
Bundesfinanzhof die im letzten Jahr vorgenommenen
Einschränkungen beim Vorsteuerabzug aus Reisekosten
für EG-rechtswidrig. Herr Minister Eichel wurde gestern
im Finanzausschuss gebeten, dazu Stellung zu nehmen. Er
hat sich geweigert und gesagt, das werde Frau Hendricks
machen.
({1})
- Ja, er hatte gestern einen schwachen Tag.
({2})
Frau Hendricks hat das aber auch mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt.
Einschränkungen beim Vorsteuerabzug gehen zulasten
der Unternehmer. Für den Vorsteuerabzug gibt es klare
Regeln, gerade im EG-Recht. Das müssten Sie auch mitbekommen haben. Aber die rot-grüne Koalition ist mit
dem Ausschluss des Vorsteuerabzugs aus Reisekosten
wieder einmal klar über das Ziel hinausgeschossen. Die
damals geäußerte massive Kritik der Betroffenen hat Sie
nicht interessiert, und sie war Ihnen, wenn sie Sie interessiert hat, völlig egal, weil Sie einzig und allein Gegenfinanzierungspotenzial für Steuersenkungen erschließen
wollten.
Grundsätzlich ist die Verbreiterung einer Bemessungsgrundlage zu begrüßen, wenn im Gegenzug Steuern gesenkt werden. Das darf aber nicht dazu führen, dass in die
Systematik des Steuerrechts eingegriffen wird.
({3})
Die Koalition hat zwar eine Steuerreform in Gang gesetzt. Das ist auch im Grundsatz richtig, weil nach jahrelanger Blockierung durch Rot-Grün
({4})
endlich mit Steuersenkungen begonnen worden ist. Es ist
aber auch eine Binsenweisheit, dass es an vielen Stellen
ganz erheblichen Nachbesserungsbedarf gibt. Das gilt in
besonderer Weise für den Mittelstand,
({5})
den die Koalition mit dem Abzugsverbot für Vorsteuern
aus Reisekosten erneut getroffen hat.
({6})
Es bedarf dringend erheblicher Korrekturen der bisherigen rot-grünen Steuerpolitik. Da hilft auch die Aussage
von Herrn Eichel, dass das bis zum Jahr 2006 nicht notwendig sei, überhaupt nicht. Es bedarf erheblicher Korrekturen. Ein ganzer Katalog könnte jetzt vorgetragen
werden, aber ich tue das nicht.
Es geht ganz wesentlich auch um die Gleichbehandlung bei der Besteuerung. Die deutsche Wirtschaft ist mittelständisch geprägt. Personengesellschaften und Einzelunternehmen im Handwerk sowie im gewerblichen und
industriellen Mittelstand bilden das Rückgrat unserer
Volkswirtschaft und stellen die meisten Arbeitsplätze.
Dem widerspricht die starke Spreizung der Steuersätze.
Sie muss wesentlich schneller abgebaut werden, um die
rechtsformneutrale Besteuerung zu erreichen. Ich könnte
diese Aufzählung beliebig erweitern. Rot-Grün sollte endlich die ideologische Brille abnehmen und endlich eine
Steuerpolitik für alle machen.
({7})
Die Entlastung des Unternehmens bei Beibehaltung
hoher Steuerlast für die Unternehmer ist der Hauptkritikpunkt der F.D.P. Es nützt dem Mittelstand gar nichts,
wenn Herr Eichel weitere Steuersenkungen auf Jahre hin
ausschließt. Wenn die Politik nicht handelt, werden wieder einmal die Gerichte korrigieren müssen. Der heute
vorliegende Antrag ist nur ein Beispiel dafür.
({8})
Die Rede
der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen,
nehmen wir zu Protokoll.*)
({0})
Damit kommen wir zur Rede der Kollegin Heidemarie
Ehlert von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU, ich muss mich schon sehr wundern, dass Sie für
diesen Antrag zwei Jahre gebraucht haben. Wir haben vor
genau zwei Jahren die Gesetzesänderung beschlossen.
({0})
*) Anlage 2
Ich freue mich trotz alledem, dass auch Sie noch lernfähig
sind.
Die Begründung, das Gastgewerbe werde erheblich benachteiligt, finde ich aber schon bemerkenswert. Erst gestern wurde in diesem Hohen Hause nachgewiesen, dass
die Umsätze für Übernachtungen usw. im letzten Jahr erheblich angestiegen sind. Irgendwelche Aussagen stimmen da nicht.
Sie sprechen von einer mittelstandsfeindlichen Regelung. Da frage ich Sie: Von welchen Größenordnungen reden wir hier überhaupt? Welchen Anteil an den Betriebsausgaben haben Übernachtungs- und Reisekosten? Ich
komme noch auf Ihren Antrag zurück.
Schlimm finde ich, Frau Violka, wenn Sie jetzt den
Dienstreisenden vorschreiben wollen, sich nur noch von
Schokoriegeln und Rostern zu ernähren.
({1})
Dass das familienfreundlich ist, möchte ich bezweifeln.
({2})
Jetzt aber zu dem Antrag.
Frau
Ehlert, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Violka?
Aber sicher doch. Sie hat
das ja empfohlen.
Bitte
schön, Frau Violka.
Frau Ehlert, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass ich nicht den Leuten empfohlen haben, das zu tun, sondern lediglich festgestellt habe,
dass das Sache eines jeden Einzelnen ist und dass es Menschen gibt, die abends in Gaststätten gehen und sich dort
ernähren, und andere, die es vorziehen, sich von Schokoriegeln und anderen Dingen zu ernähren, dass es also in
der Entscheidung des Mitarbeiters liegt, was er tut? Ich
habe das nicht empfohlen. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
({0})
Ich denke, essen ist ein
Menschenrecht. Das müssen wir den Menschen lassen,
auch den Arbeitnehmern.
({0})
Ich zitiere aus dem dritten Bericht des Finanzausschusses vom 3. März 1999:
Nach der Philosophie der meisten EU-Mitgliedstaaten dienen Verpflegung und Übernachtung in erster
Linie der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse
- das haben wir eben noch einmal gehört und sind erst in zweiter Linie unternehmerisch veranlasst. Aus diesem Grund gewähren die meisten
EU-Mitgliedstaaten keinen Vorsteuerabzug aus Verpflegungs- und Übernachtungskosten. Dieser Philosophie schließt sich der deutsche Gesetzgeber durch
die Streichung des Vorsteuerabzugs aus bestimmten
Reisekosten nunmehr an.
Philosophie ist aber nicht gleich Richtlinie. Insofern lohnt
es sich schon, einmal über bestimmte Entscheidungen im
Steuerentlastungsgesetz nachzudenken. Fehler sind ja
dazu da, dass man sie korrigiert.
Nachdenken kann man zum Beispiel darüber, ob eine
Wiederherstellung des Vorsteuerabzuges für Hotelrechnungen oder Fahrscheine doch ermöglicht wird. Allerdings
kann ich einen Vorsteuerabzug aus Pauschbeträgen, wie er
früher möglich war, nicht befürworten. Das wäre einfach
ein Systembruch. Denn in § 15 des Umsatzsteuergesetzes
steht ausdrücklich, dass nur die offen auf Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer abzugsfähig ist.
({1})
Zur Kappung des Vorsteuerabzugs bei PKW hat Frau
Violka zugegeben, dass es unterschiedliche Nutzungen
gibt. Ich möchte hier ein Beispiel bringen: Zum Teil haben wir betriebliche Nutzungen bis zu 90 Prozent; dennoch ist nur ein Vorsteuerabzug von 50 Prozent zulässig.
Darüber sollten wir meines Erachtens nachdenken. Es
gibt Möglichkeiten, die tatsächliche betriebliche Nutzung
nachzuweisen. Der Vorsteuerabzug für tatsächliche betriebliche Nutzungen sollte von uns allen ermöglicht werden.
Ich danke Ihnen.
({2})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5223 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der
SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr ({0})
- Drucksache 14/5446 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen ({2}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Angelika Mertens, Angelika
Graf ({3}), Hans-Werner Bertl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig,
Kerstin Müller ({4}), Albert Schmidt ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Bekämpfung der illegalen Kabotage und des
Sozialdumpings im Transportgewerbe
- Drucksachen 14/3702, 14/4669 Berichterstattung:
Abgeordneter Wilhelm-Josef Sebastian
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Angelika Graf von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Problem ist den
Fachleuten - ich sehe hier nur Fachleute - bekannt und hat
uns im letzten Jahr schon mehrfach beschäftigt.
Dennoch, so meine ich, sollte man eine kurze Beschreibung des Problems geben: Das deutsche mittelständische Fuhrgewerbe leidet unter einem starken, teilweise
ruinösen Wettbewerbsdruck.
({0})
Dies hat eine Reihe von Gründen. Neben Harmonisierungsdefiziten in der EU, insbesondere in steuerlicher
Hinsicht, aber auch in anderen Bereichen, ist eine ganz
wichtige Ursache in der Tatsache zu sehen, dass eine
Reihe der großen, international agierenden Fuhrunternehmen auf Fahrzeugen, die im EU-Ausland zugelassen sind,
illegales Fahrpersonal aus den MOE-Staaten einsetzen.
Immerhin werden laut Schätzungen des Bundesverbandes für Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung,
BGL, 15 Prozent aller Straßengütertransporte in der Bundesrepublik zurzeit von EU-ausländischen Fahrzeugen
und von Fahrzeugen aus Drittländern durchgeführt. In der
Bundesrepublik schlagen die Löhne für die Fahrer normalerweise mit über 30 Prozent der Gesamttransportkosten zu Buche. Durch den Einsatz von illegalen Billigfahrern kommt es zu erheblichen Preisunterbietungen,
welche nach einem Bericht des Europäischen Parlaments
vom 12. Februar 2001 - er ist also ganz frisch und neu bis zu 30 Prozent des üblichen Marktpreises für die entsprechende Transportleistung ausmachen können. Das ist
kein Wunder, weil diese Fahrer einen Stundenlohn von
etwa 5 Mark bekommen.
({1})
Regelungen der EU - inzwischen sind sich übrigens
die EU-Länder Österreich, Deutschland, Frankreich, die
Niederlande, Belgien und Dänemark des Problems durchaus bewusst - werden nicht in allernächster Zeit erwartet.
Dass dieser Missstand deshalb, soweit möglich, national
bekämpft werden muss, darüber waren wir uns bei den
Beratungen in dieser Angelegenheit bei den letzten Debatten in diesem Haus ziemlich einig.
({2})
Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben nun den vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der einerseits die Pflicht jedes Fuhrunternehmers,
der auf deutschen Straßen unterwegs ist, festschreibt, nur
Fahrer mit den entsprechenden Arbeitsgenehmigungen
einzusetzen. Andererseits wird nach dem neuen § 7 c des
Güterkraftverkehrsgesetzes die Verpflichtung auch auf
die Verlader ausgedehnt.
({3})
Die Kontrolle des Fahrpersonals obliegt dem Bundesamt
für Güterverkehr. Bei Verstößen sollen die Bußgelder
deutlich erhöht werden.
({4})
In den letzten Tagen und Wochen ist nun von der Industrie, aber auch von einzelnen Bundesländern die so genannte Verladerhaftung strittig diskutiert worden. Lassen
Sie mich deshalb dazu noch einige Sätze sagen. Bei einem
Preisvorteil von 30 Prozent durch illegale Beschäftigung
gehört auch die verladende Wirtschaft, die die Dienste des
Fuhrunternehmers in Anspruch nimmt, zu den Nutznießern und damit zu den Förderern dieser Praxis.
({5})
Deshalb halten wir diesen neuen § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes für sehr sinnvoll und richtig.
({6})
Deshalb sind wir guten Mutes, dass sich die A-Länder
trotz einiger Bedenken unserer Argumentation anschließen werden.
Die Philosophie, die hinter dieser vorgeschlagenen
Regelung steht, ist übrigens dieselbe, die zum § 404
Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgesetzbuches III geführt hat. Der
Auftraggeber von Leistungen soll nicht von den Leistungen profitieren, die durch den Einsatz illegaler Arbeitnehmer billig angeboten werden. Das fahrlässige Nichtwissen - auch das schreibt der Gesetzentwurf fest - kann
keine Entschuldigung sein.
({7})
Denn von einem Betrieb, der Transportleistungen bestellt,
kann man verlangen, dass er sich einen Überblick über die
Preise und auch über die Preisgrundlagen verschafft. Die
Preisgrundlagen sind leicht zu durchschauen, wenn man
weiß, was für einen Fahrer usw. gezahlt wird.
({8})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Das SGB III benennt bei den Bußgeldvorschriften den
Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit illegalen Arbeitskräften für sich arbeiten lässt, übrigens an erster Stelle, also in Absatz 1, und erst danach - in Absatz 2 den ausführenden Unternehmer. Ich glaube, dass das eine
ganz wichtige Wertung ist, auch um darzustellen, welche
Zusammenhänge in diesen Bereichen bestehen.
({9})
In Anbetracht der durch illegale Beschäftigung im
Fuhrbereich erwirtschafteten Gewinne und des gesellschaftlichen Schadens, den ich in meiner letzten Rede zum
selben Thema durch ein Beispiel aus den Ermittlungsakten
des Hauptzollamtes Rosenheim belegt habe, ist es sehr zu
begrüßen, dass die Bußgeldandrohung für beide Fälle - in
Anlehnung an die Regelungen im SGB III übrigens, die
dieselbe Höhe vorschreiben - auf bis zu 500 000 DM festgelegt wurde. Ich hoffe, dass das eine Möglichkeit ist, die
Herrschaften, die solche Praktiken betreiben, davon zu
überzeugen, dies vielleicht doch nicht zu tun.
({10})
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben mit diesem
Gesetzentwurf einen wichtigen Schritt gegen die Wettbewerbsverzerrungen, die in dieser Branche herrschen, getan. Wir würden uns freuen, wenn Sie dem Antrag heute
zustimmen könnten und auch den vorgelegten Gesetzentwurf entsprechend unterstützen würden.
({11}))
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Renate Blank von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Die Wettbewerbssituation im deutschen Transportgewerbe, das mittelständisch geprägt ist,
hat sich dramatisch verschärft. Gründe sind zum Beispiel
die seit Öffnung des Binnenmarktes fehlende bzw. nicht
abgeschlossene Harmonisierung im Verkehrsbereich, der
verstärkte Druck ausländischer Konkurrenz und der zunehmende Einsatz von Fahrern aus Billiglohnländern.
Ein deutscher Fahrer kostet circa 8 000 bis 9 000 DM im
Monat, ein Fahrer aus Billiglohnländern höchstens
1 500 DM.
Aber es gibt auch hausgemachte Belastungen, zum
Beispiel die Ökosteuer.
({0})
Die Probleme der illegalen Kabotage und Beschäftigung haben in der letzten Zeit zugenommen. Wenn inund ausländische Transportunternehmer bei der Beschäftigung von ausländischem Fahrpersonal Regelungen des
Arbeits-, Sozialversicherungs- und Aufenthaltsrechts umgehen, ergeben sich daraus ein ruinöser Lohn-PreisDruck für Fahrer und Transportgewerbe sowie Ausfälle
bei Steuern und Sozialbeiträgen. Das ist Fakt.
Illegale Beschäftigung von Fahrpersonal aus MOEDrittländern zu deren Heimat-Lohnbedingungen und die
unberechtigte Teilnahme am deutschen und am EU-Binnenmarkt führen zu einer völligen Zerrüttung des Marktes und zu Wettbewerbsverzerrungen. Wir wissen alle,
dass die Rechtslage zwar den unerlaubten Einsatz von
Fahrpersonal aus Nicht-EU-Staaten im binnenländischen
Kabotageverkehr verbietet, dass jedoch die unterschiedlichen Bedingungen und rechtlichen Spielräume sowie
Handhabungen in den EU-Mitgliedstaaten dazu führen,
dass es bisher sehr schwer oder kaum möglich ist, unerlaubte Praktiken zu erkennen bzw. zu verhindern oder gar
wirksam zu ahnden. Deshalb müssen verschärft Kontrollen in ausreichender Dichte, verbunden mit entsprechenden Sanktionen, durchgeführt und die Kontrollbefugnis
des Bundesamtes entsprechend erweitert werden.
({1})
Gerade der grenzüberschreitende Güterverkehr mit
den mittel- und osteuropäischen Staaten hat stark zugenommen und wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen.
Bezüglich meiner bisherigen Ausführungen besteht
wahrscheinlich allgemeiner Konsens - bis auf die Ökosteuer natürlich. Das nun vorliegende Gesetz ist aus unserer Sicht aber nur ein erster Schritt, um das deutsche Gewerbe wettbewerbsfähig zu erhalten und zu sichern. BDI
und DIHT kritisieren den Gesetzentwurf.
({2})
Die Beratungen in den Ausschüssen werden ergeben,
welcher Weg richtig, rechtlich haltbar und zielführend
sein wird.
({3})
Wie gesagt: Der Gesetzentwurf ist nur ein erster
Schritt, aber nicht der entscheidende, so wie es der Verkehrsminister behauptet hat, um den ruinösen Wettbewerb
im Transportgewerbe zu bekämpfen. Es gibt noch mehr zu
tun. Genauso wichtig wären die Abschaffung der Ökosteuer und die Gewährung fiskalischer Hilfen, wie das in
anderen europäischen Ländern praktiziert wird. Die
durchschnittlichen Belastungen für einen LKW liegen in
Deutschland bei 43 000 DM, in Frankreich bei 30 000 DM
und in den Niederlanden bei 28 000 DM.
({4})
Ich sage es immer wieder: Wenn Firmen ausflaggen,
wird kein einziger LKW weniger auf unseren Straßen fahren. Es ändern sich nur die Kennzeichen und unserem
Angelika Graf ({5})
Fiskus gehen circa 120 000 DM pro LKW an Einnahmen
verloren.
({6})
Auch das ist Tatsache.
({7})
Die EU-Kommission beabsichtigt die Einführung einer so genannten Fahrerlizenz zum Nachweis eines legalen Beschäftigungsverhältnisses im Mitgliedstaat des Unternehmenssitzes. Mit der Ausstellung eines solchen
Ausweises an den Fahrer soll bescheinigt werden, dass
dieser legal arbeitet.
({8})
In Ihrem Gesetzentwurf führen Sie aus, dass mit der EUweiten Einführung einer solchen Fahrerbescheinigung in
absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Wir fordern die Bundesregierung mit Nachdruck auf, darauf hinzuwirken,
dass eine EU-Fahrerlizenz schnellstens eingeführt wird.
Sie wollten doch alles besser machen. Das können Sie dadurch beweisen, dass Sie in diesem Punkt etwas schneller
reagieren. Wenn ich in Ihrem Entwurf lese, dass die Einführung „in absehbarer Zeit“ geschehen soll, kann das
auch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben sein.
({9})
- Sie haben durchaus Einfluss, Entscheidungen der Europäischen Union zu beschleunigen. Sie haben ja groß
getönt.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf berührt einen Bereich unseres Antrags vom 26. September 2000, der darauf abzielt, die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes zu erhalten und zu sichern, der
sechs konkrete Forderungen hat und wesentlich umfangreichere Maßnahmen für das Gewerbe beinhaltet. Wir
hoffen, dass Sie nach dem Gesetzentwurf, der das allgemeine Anliegen aller in diesem Hause ist, im Interesse des
deutschen Transportgewerbes mit seinen rund 380 000
Beschäftigten schnell handeln und nicht die Hände in den
Schoß legen. Solange wir Joghurt nicht per E-Mail versenden können, müssen wir uns um das deutsche
Transportgewerbe kümmern. Wir fordern Sie auf, noch
mehr für dieses Gewerbe zu tun.
({10})
Ich erteile
jetzt dem Kollegen Albert Schmidt vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stimme im Wesentlichen den Ausführungen
meiner beiden Vorrednerinnen ausdrücklich zu. Es ist in
der Tat so, dass wir im Bereich des Güterkraftverkehrs,
über den wir heute reden, einen hohen Regelungsbedarf
haben. Ich füge aber auch hinzu: nicht erst seit heute oder
gestern, sondern im Grunde schon seit Jahren. Ich bin
froh, dass die jetzige Bundesregierung den Handlungsbedarf sieht, das Thema aufgreift und entsprechende Maßnahmen umsetzt.
({0})
Die illegale Kabotage im LKW-Gewerbe auf den deutschen Straßen ist ein Musterbeispiel dafür, dass Liberalisierung ohne gleichzeitige Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen schief gehen muss. Deswegen begrüßt
es unsere Fraktion ausdrücklich, dass das Bundesverkehrsministerium - natürlich im Benehmen mit den Sozialpolitikern der Ministerien und der Fraktionen - einen
nach meiner Meinung guten und notwendigen Gesetzesvorschlag vorgelegt hat.
Wir haben es mit Harmonisierungsdefiziten im Steuerbereich zu tun. Die Kollegin Blank hat das zu Recht ausgeführt. Ich möchte allerdings, Frau Kollegin Blank, darauf hinweisen: Wenn man die Situationen der LKW in
den verschiedenen Ländern miteinander vergleicht, darf
man nicht unterschlagen - was in bestimmten Vergleichsrechnungen, die Sie heute auch zitiert haben, immer wieder geschieht -, dass es in vielen Ländern, zum Beispiel
in Frankreich, aber nicht in Deutschland, eine Zulassungssteuer für LKW gibt, um das Fahrzeug überhaupt
kaufen und auf die Straße bringen zu dürfen. Man darf
auch die Autobahnmaut nicht unterschlagen, die es in vielen Ländern, gerade in Westeuropa, in einer Größenordnung von 25 oder 30 oder mehr Pfennig gibt. Bei uns gibt
es sie im Augenblick noch nicht; wir sind dabei, sie einzuführen. Wenn man Vergleiche anstellt, muss man die
gesamte Kostensituation vergleichen.
Das Problem, mit dem wir uns heute beschäftigen, ist
aber nicht das Steuerrecht, sondern in der Tat der zunehmende Einsatz von Fahrern aus so genannten Billiglohnländern, vor allem aus dem mittleren und östlichen Europa. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass ein
Fuhrunternehmer, der seinem Fahrer 8 000 bis 9 000 DM
an Lohn pro Monat zahlen muss, niemals mit einem Fuhrunternehmer konkurrieren kann, der seinem Fahrer gerade einmal 1 500 DM zahlt. Ein solcher Wettbewerb ist
ruinös. Er kann nicht funktionieren.
({1})
Es ist auch zu Recht darauf hingewiesen worden, dass
die Europäische Kommission dieses Problem wohl erkannt hat und dass sie inzwischen einen Verordnungsentwurf vorgelegt hat, der die EU-weite Einführung einer einheitlichen Lizenz für Fahrer aus
Drittstaaten vorsieht. Mit dieser Lizenz soll in erster Linie
sichergestellt werden, dass den Unternehmen, die ihren
Sitz in der Europäischen Gemeinschaft haben, die Möglichkeit genommen wird, Fahrer aus Drittstaaten, aus so
genannten Billiglohnländern, ohne Arbeitsgenehmigung
in der Gemeinschaft einzusetzen. Wir wissen auch, dass
der EU-Verkehrsministerrat in seiner am 20./21. DezemRenate Blank
ber beschlossenen Absichtserklärung entsprechende
Schlussfolgerungen gezogen hat. Nur, zurzeit ist leider
nicht absehbar, ab wann mit einer EU-weiten Einführung
einer einheitlichen Fahrerlizenz gerechnet werden kann.
({2})
Es hängt leider, Frau Kollegin Blank, eben nicht nur von
der deutschen Seite ab, wie schnell das möglich ist. Das
wissen wir alle. Aber wir können und wollen nicht so
lange warten, bis sich alle einig geworden sind. Deshalb
ist hier die Vorreiterrolle Deutschlands gefragt. Im Vorgriff auf eine europäische Regelung werden wir für das
deutsche Transportgewerbe eine entsprechende Regelung
umsetzen. Das ist gut so.
({3})
Die Regelungen im Gesetzentwurf sehen vor, dass der
Unternehmer künftig verpflichtet ist, nur noch Fahrer einzusetzen, die ihre Arbeitsgenehmigung im Original und
eine amtlich beglaubigte Übersetzung dieser Genehmigung mit sich führen. Diese Verpflichtung wird - das ist
§ 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes, den schon die Kollegin Blank angesprochen hat - auch auf die Verlader ausgedehnt. Sie dürfen künftig nur noch Unternehmer einsetzen, die Inhaber einer Einzelerlaubnis oder einer
Gemeinschaftslizenz sind. Damit ist die gesamte Logistikkette in die Verpflichtung einbezogen. Dies halten wir
ausdrücklich für richtig.
({4})
Ich begrüße es auch, dass die Kontrollzuständigkeit
beim Bundesamt für Güterverkehr angesiedelt wird und
dass dort Stellen dafür geschaffen werden. Es wird 13 zusätzliche Stellen geben und es werden so genannte Bürokraftfahrzeuge angeschafft werden, mit denen die Umsetzung der Kontrollen sichergestellt werden soll. Das kostet
nochmals etwa 1,7 bis 1,8 Millionen DM. Ich meine, dass
das Geld des Steuerzahlers hier gut angelegt ist, weil
durch die Kontrollen sozialer Missbrauch verhindert wird
und letztlich die ordnungsgemäße Abführung von Sozialabgaben und Steuern gewährleistet wird. Das hier investierte Geld wird sich mit Sicherheit doppelt und dreifach
refinanzieren.
({5})
Ich möchte abschließend darum bitten, dass wir alle im
anstehenden Beratungsverfahren, in den Ausschüssen und
irgendwann auch im Bundesrat, möglichst an einem
Strang ziehen und dafür sorgen, dass die Vorgriffsregelung der deutschen Bundesregierung für das deutsche
Speditionsgewerbe auch möglichst astrein umgesetzt
wird und nicht durch Einflüsse Dritter, die schon jetzt
wieder Alarm rufen, verwässert und wirkungslos gemacht
wird. In diesem Sinne bitte ich herzlich um Ihre Unterstützung.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, die sich
bei dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stellt, ist: Hilft
das tatsächlich kurzfristig dem deutschen Transportgewerbe oder ist das bis zum Ende Ihrer Regierungszeit
2002 das Einzige, was Sie zu bieten haben, um das deutsche Transportgewerbe zu beruhigen? Denn Fakt ist, dass
sich die Kostenbelastung des deutschen Transportgewerbes im Bereich des Fernverkehrs seit Januar 1999, also in
Ihrer Regierungszeit, um sage und schreibe 18,5 Prozent
erhöht hat, und zwar trotz Ihrer angeblich sozial ausgewogenen Kostenreduzierung.
({0})
Einer der Hauptgründe dafür ist und bleibt die Ökosteuer.
({1})
- Ich habe die offizielle Statistik des BGL vorliegen.
({2})
Bevor Sie dazwischenrufen, sollten Sie diese einmal lesen. Dort steht alles drin.
Sie werden mit diesem Gesetz zu kurz springen, weil
Sie wiederum nur die Auswirkungen kurieren wollen und
nicht an die Ursachen gehen. Die konkrete Tatsache ist
- das ist schon dargestellt worden - die Differenz, was die
Kostensituation angeht. Darauf haben Sie noch einmal
draufgepackt, indem Sie den nationalen Alleingängen
Frankreichs, Belgiens, Italiens und der Niederlande nicht
widersprochen haben. Sie haben sie jetzt im Ecofin-Rat
sogar noch bis Ende 2002 bestätigt. Bis zu diesem Zeitpunkt wird das deutsche Gewerbe Kostennachteile haben.
({3})
Jetzt setzen Sie den Vorschlag zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung obendrauf. Der Grundansatz ist
richtig. Womit ich Probleme habe, ist zunächst einmal die
Behauptung, es seien 10 bis 15 Prozent. Es gibt keine einzige Institution in Deutschland, die diese Zahl seriöserweise belastbar nachprüfen kann.
({4})
- Auch der BGL hat keine belastbaren Zahlen. Er rechnet
sie hoch bzw. schätzt sie.
({5})
Das Bundesamt für Güterverkehr bestätigt dies.
Der nächste Punkt: In § 7 c Ihres Gesetzentwurfs
geht es darum, Kontrolltätigkeiten, die eigentlich im
Albert Schmidt ({6})
Interesse der Polizei oder des Bundesamtes für Güterverkehr liegen, auf einen Privaten zu übertragen, nämlich auf
den Verlader. Der Verlader ist nach Ihrem Gesetzentwurf
verpflichtet, sich zu vergewissern, dass der Transporteur,
den er vielleicht gar nicht kennt, mit dem er überhaupt
keine Rechtsbeziehung hat,
({7})
über eine entsprechende Erlaubnis verfügt.
Ich erinnere mich daran, was die Länder für einen Aufstand gemacht haben, als wir bei der letzten Änderung des
GüKG dem Bundesamt für Güterverkehr mehr Kontrollrechte einräumen wollten. Nun aber erhebt die Länderseite überhaupt keinen Einspruch dagegen, dass bestimmte Kontrolltätigkeiten auf Private übertragen
werden sollen. Angesichts dessen muss man sich schon
fragen, wohin wir eigentlich gekommen sind.
({8})
Es stellt sich auch die Frage, ob das überhaupt greift.
({9})
Wie kann es in diesem Bereich zu einer Vereinheitlichung innerhalb Europas kommen, Herr Kollege
Schmidt? In Frankreich zum Beispiel sind algerische Fahrer, die von französischen Unternehmern eingesetzt werden, überhaupt nicht verpflichtet, einen Beleg bei sich zu
führen.
({10})
Glauben Sie denn ernsthaft, dass ein französisches Unternehmen, das seinen Zug mit einem algerischen Fahrer
nach Deutschland schickt, diesem, obwohl es dazu überhaupt nicht verpflichtet ist, eine Bescheinigung über die
Nichtfreistellung oder Freistellung - noch dazu in
Deutsch - mitgibt?
({11})
Ich habe den Eindruck, der Gesetzentwurf ist noch nicht
in letzter Konsequenz durchdacht, schon gar nicht in europäischer Hinsicht. Deswegen wird es Zeit, dass wir im
Ausschuss über dieses Thema nachdenken.
({12})
Die Firma Betz, die Sie immer anführen, werden Sie
mit dieser Regelung nicht erfassen. Betz hat nämlich
durch die bulgarische Flotte, die er aufgekauft hat, alle
CEMT-Lizenzen aufgekauft. Die Fahrer aus dem Bereich - das ist die eigentliche Konkurrenz - fahren berechtigt in Deutschland. Das ist das eigentliche Problem.
Ich sage Ihnen voraus: Dieses Gesetz ist zum Teil notwendig. Aber Sie springen zu kurz, wenn Sie es nicht ergänzen. Das werden wir in den Ausschussberatungen miteinander zu diskutieren haben. Was wir dann im Endeffekt
machen, wird letztendlich die Abstimmung hier im Bundestag zeigen.
Danke sehr.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Überschriften der Vorlagen zu dieser Debatte zum Gesetz zur
illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr klingen sehr gut. Tatsächlich - das ist hier deutlich
geworden - geht es nur um einen kleinen Ausschnitt des
Problems, nämlich darum, dass Fahrer aus Drittstaaten
auf LKW, die in der Europäischen Union zugelassen sind,
daraufhin kontrolliert werden sollen, ob sie über arbeitsrechtliche Genehmigungen verfügen. Damit ist schon
klar: Es geht nicht um schwarze Schafe irgendwo in Osteuropa, sondern darum, dass Unternehmen in der Europäischen Union, zu einem erheblichen Teil auch deutsche
Unternehmen, Fahrer ohne arbeitsrechtliche Genehmigungen beschäftigen.
({0})
Der Vorschlag ist an sich sinnvoll. Ähnlich wie bei einem Flächentarifvertrag, beim Mindestlohn, kann es sinnvoll sein, EU-Lizenzen und die Pflicht einzuführen, eine
Arbeitserlaubnis mit deutscher Übersetzung mitzuführen.
Ich glaube aber - ausnahmsweise gebe ich dem Kollegen
Friedrich teilweise Recht -, dass der Teufel im Detail
steckt.
({1})
Egal, wie das Gesetz umgesetzt wird: Hierbei handelt es
sich auf alle Fälle um einen nationalen Alleingang.
Erstens glaube ich schon, Frau Graf, dass die Europäische Union sehr schnell auf Ihre Initiative reagiert hat, indem sie schon im März vergangenen Jahres eine Anhörung durchgeführt hat.
Zweitens sehe ich als Nichtjurist ein juristisches Problem darin, wenn man sagt, der Verlader sei mitverantwortlich, sogar dann, wenn er „fahrlässig handelt“, also
nicht weiß, dass ein Fahrer beschäftigt wird, der diese Arbeitserlaubnis nicht mit sich führt.
Drittens und letztens sagt ja sogar der BGL als Ratgeber bei diesem Gesetzesantrag, dass eine Regelung aus
seiner Sicht materiell nichts bringen würde, solange weiterhin zum Beispiel Luxemburg, Österreich, Frankreich
und die Niederlande großzügig Arbeitserlaubnisse ausgeben, egal, in welcher Form.
Hier stellt sich die Frage, warum sie sie ausgeben. Zur
Beantwortung dieser Frage muss man ein wenig weitergehen und tiefer schürfen. Dann kommt man zu dem Ergebnis: Sie verteilen sie auch deswegen so großzügig,
weil die Bedingungen im gesamten Gewerbe ruinös geHorst Friedrich ({2})
worden sind und nicht nur in einzelnen Fällen, sondern
massenhaft Sozialdumping betrieben wird. So hat zum
Beispiel bei einer Umfrage der Internationalen Transportarbeiterföderation ein Drittel der befragten LKW-Fahrer
zugegeben, in den letzten 30 Tagen einmal am Steuer eingeschlafen zu sein. Bei diesem Drittel der Fahrer handelt
es sich wohlgemerkt nicht um MOE-Fahrer, sondern um
in den einzelnen Ländern ansässige Fahrer.
({3})
Wir glauben also, dass das Problem flächendeckend
angegangen werden muss. Wir stimmen mit dem Kollegen Schmidt darin überein, dass Liberalisierung ohne
Harmonisierung im Grunde nur in die Hose gehen kann.
Dieses geschieht hier ganz eindeutig seit mindestens
20 Jahren. Außerdem glauben wir, dass solch eine enorme
Zunahme des Güterverkehrs nicht sein müsste.
({4})
Ich habe in die Statistik geschaut und festgestellt, dass
sich zum Beispiel die Zahl der finnischen LKW, die in den
letzten 10 Jahren die Grenze überfahren haben, verfünffacht hat. Das ist nicht darauf zurückzuführen, dass wir
fünfmal so viel Handel mit Finnland betreiben würden,
sondern darauf, dass es irgendwelche Rahmenbedingungen gibt, die es sinnvoll erscheinen lassen, Wagen in Finnland anzumelden und damit über die Grenze zu fahren.
({5})
Letztendlich dürfte klar sein - hoffentlich sehen das
alle so -, dass die Art und Weise, wie die Schiene im Güterverkehr aufs Abstellgleis geschoben wurde, einen
wichtigen Grund mit dafür darstellt, dass immer mehr
Verkehr zu diesen ruinösen Bedingungen auf die Straßen
gelenkt wird.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika
Mertens.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Blank hatte
die große Sorge, dass wir die Hände in den Schoß legen
werden. Frau Blank, Sie können beruhigt sein, wir sind da
ein wenig anders gestrickt als Sie früher.
({0})
Horst Friedrich sorgte sich sehr darum, dass die Ausnahmeregelungen auf EU-Ebene weiter zunehmen werden. Ich denke, dass Sie während Ihrer Regierungszeit
- Sie haben ja viele Jahrzehnte mitregiert - eine Menge
Ausnahmeregelungen mitgetragen haben. Insofern könnten Sie fast unter die Kronzeugenregelung fallen.
({1})
Wir beraten heute in erster Lesung unseren Gesetzentwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr. Die Dringlichkeit dieser
Frage verdeutlicht auch der Bericht des federführenden
Ausschusses vom November letzten Jahres.
({2})
- Genau, aber vielleicht wollen die sich untereinander unterhalten. - Darin wird die Bundesregierung aufgefordert,
sich für die Einführung einer EU-Fahrerlizenz für Fahrer
aus Drittstaaten einzusetzen, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass durch Sozialdumping eingesparte Gelder bei Kontrollen wieder einzufordern sind,
und die Wirkungsmöglichkeiten der Kontrollen zu steigern. Der Ausschuss hat auch gefordert, weitere flankierende Maßnahmen zu ergreifen.
In allen Ausschüssen, in denen dieser Antrag beraten
wurde, bestand großer Konsens darüber, dass die Verhältnisse im Transportgewerbe verbessert und europaweit
faire Wettbewerbsbedingungen hergestellt werden
müssen. Wenn die CDU/CSU und die F.D.P. nicht in jedem mitberatenden Ausschuss eine grundsätzliche Abstimmungslinie verfolgt haben, mag das vielleicht ein wenig an den in der Vergangenheit vertretenen Positionen
zur Liberalisierung und Harmonisierung gelegen haben.
({3})
Ich erinnere auch an die Rede des Kollegen Sebastian
vor zwei Jahren
({4})
- ich weiß - zur Reform des Güterkraftverkehrsrechts. Er
hat damals die Reform als weiteren bedeutenden Liberalisierungsschritt im europäischen Straßenverkehr begrüßt.
Dem Thema Harmonisierung hat er jedoch keine größere
Aufmerksamkeit geschenkt.
Sie wissen aber nur zu gut, dass seit der Liberalisierung im Jahre 1998 die Probleme durch illegale oder missbräuchliche Beschäftigung von Arbeitnehmern aus
Nicht-EU-Staaten in Deutschland größer geworden sind.
Neben den bereits genannten Punkten ist es eine immer
häufiger anzutreffende Praxis - das ist hier schon mehrmals betont worden -, dass Unternehmen mit Sitz in
anderen EU- oder EWR-Staaten für ihre dort zugelassenen Fahrzeuge Fahrer aus Osteuropa beschäftigen. Diese
Fahrer werden zu extrem niedrigen Löhnen eingesetzt.
Die Folgen sind ein ruinöser Preisdruck für das gesamte Transportgewerbe. Darüber hinaus gibt es einen gemeinwirtschaftlichen Schaden durch Wettbewerbsverzerrungen und Ausfälle bei Steuern bzw. Sozialbeiträgen
sowie negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Dieses Problem ist eine weitere Altlast unserer Vorgängerregierung. Mir ist keine Initiative und vor allem kein Ergebnis in dieser Sache bekannt, obwohl das Gewerbe
schon sehr lange auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Regelung hingewiesen hat. Deshalb ist es umso
wichtiger, dass wir dieses Thema angehen und lange bestehende Defizite beseitigen.
Die EU-Kommission hat Ende des Jahres 2000 einen
Vorschlag für die Einführung einer Fahrerlizenz vorgelegt. Die Bundesregierung unterstützt die Kommission
bei ihren Arbeiten. Die Probleme erfordern aus Sicht der
Bundesregierung - darin sind wir uns letztlich alle einig aber bereits jetzt eine nationale deutsche Lösung.
({5})
Deshalb haben wir im Vorgriff auf die beabsichtigte Einführung der EU-Fahrerlizenz den vorliegenden Gesetzentwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im
gewerblichen Güterverkehr erarbeitet und den parlamentarischen Gremien zur Bearbeitung zugeleitet.
Mit diesem Gesetz soll der ruinöse Preis- und Wettbewerbsdruck, der zulasten der Spediteure, aber auch zulasten der Fahrer aus dem In- und Ausland praktiziert wird,
zurückgedrängt und die illegale Beschäftigung verhindert
werden. Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass Fahrpersonal aus Nicht-EU-Staaten eine Arbeitsgenehmigung mitführen und den Kontrollbeamten vorzeigen muss. Diese
Arbeitsgenehmigung muss von dem Land ausgestellt
sein, in dem das Unternehmen, bei dem der Fahrer beschäftigt ist, niedergelassen ist.
Der Gesetzentwurf sieht zugleich vor, die Kontrolltätigkeit zu verbessern. Herr Schmidt hat eben schon darüber berichtet, dass es neue Stellen gibt. Neben den an
sich zuständigen Behörden wird jetzt das Bundesamt für
Güterverkehr zuständig sein, um die Einhaltung von Vorschriften zur Arbeitsgenehmigung zu kontrollieren. Werden nach In-Kraft-Treten des Gesetzes Verstöße gegen die
Einhaltung der Arbeitserlaubnisvorschriften festgestellt,
kann den Unternehmern nach den schon jetzt bestehenden
Vorschriften die Erlaubnis zur Ausübung des Gewerbes
entzogen werden.
Mit den Regelungen des Gesetzentwurfes kann der
Auftrag aus dem Beschluss des Deutschen Bundestages
bereits als in Angriff genommen betrachtet werden. Wir
begrüßen sowohl die Aktivitäten der EU wie auch den Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen; denn beides
unterstützt unsere bisherige Arbeit und die Zielrichtung
des Gesetzentwurfes in vollem Umfang.
Wir werden dem Transportgewerbe dort helfen, wo die
wirkliche Wurzel des Übels liegt. Es ist in unser aller Interesse, dass im Straßengüterverkehr mittelständische
Unternehmen eine echte Überlebenschance haben. Dafür
werden die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen, und zwar völlig unabhängig von unserem Ziel, möglichst hohe Straßengüterverkehrsanteile auf die Schiene
zu verlagern.
Dieser Gesetzentwurf dokumentiert jedenfalls eines
sehr deutlich: Eine Verdrängung von deutschen Transporteuren durch Transporteure aus europäischen Partnerstaaten oder aus Drittländern durch illegale Beschäftigung
wird von uns nicht mehr hingenommen.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wilhelm Sebastian.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau
Staatssekretärin, Sie haben gesagt, dass Sie nicht die
Hände in den Schoß legen werden. Ich könnte Ihnen eine
lange Liste mit Punkten vortragen, bei denen noch jede
Menge Nachholbedarf besteht.
({0})
Ich habe das bereits im Herbst vorgetragen; vielleicht
komme ich darauf noch zurück.
Sie sind nur Weltmeister im Ankündigen. Man muss
schon fragen: Wo bleiben die Taten?
({1})
Aber eines haben Sie getan - ich kann das an dieser Stelle
nur wiederholen -: Sie haben die Ökosteuer eingeführt,
die das Transportgewerbe in großem Maße belastet.
({2})
Diese Tatsache kann man nicht oft genug wiederholen.
Ich fordere Sie wie so viele in diesen Tagen auf, die Ökosteuer endlich abzuschaffen.
({3})
Alle Redner haben festgestellt, dass der Gesetzentwurf
der richtige Weg ist und dass damit ein wichtiger Schritt
gegangen wird. Es gilt nämlich, die Wettbewerbsfähigkeit
des deutschen Güterkraftverkehrs in Europa zu erhalten.
Die Bedrohung durch illegale Praktiken nimmt zu. Es ist
gut, dass hier schnell und entschlossen gehandelt wird.
Seit der Öffnung des Binnenmarktes im Verkehrsbereich vor einigen Jahren macht sich das Dilemma der
verschiedenen nationalstaatlichen Regelungen in Europa
für das deutsche Transportgewerbe sehr unangenehm bemerkbar. Der Einsatz von Fahrern aus Billiglohnländern
durch Spediteure, die ihren Sitz innerhalb der EU haben,
führt zu einem Wettbewerbsnachteil der deutschen Spediteure, die diesem unerlaubt erreichten Preisvorteil der
Mitbewerber aus anderen Ländern vergeblich hinterherlaufen.
Angesichts dessen muss man sagen, dass in nicht akzeptabler Weise mit Menschen umgegangen wird, wenn
sie für Billiglöhne Schwerstarbeit unter Missachtung jeglicher Arbeitszeitregelung leisten müssen.
({4})
Es ist auch noch festzustellen, dass dies zu einer großen
Verkehrsgefährdung auf deutschen Straßen führt.
({5})
Herr Friedrich hat angezweifelt, ob die hochgerechneten
Zahlen stimmen. Wie bei jeder Statistik kann man an der
Richtigkeit zweifeln. Aber wenn man der Berechnung
Glauben schenkt, dann gibt es eine horrende Zahl von
Missständen.
Wir wollen diesen Missständen begegnen und bieten
unsere Mitarbeit an, dass hier geeignete Maßnahmen ergriffen werden. Weil Deutschland das Haupttransitland in
Europa ist, weil wir das größte Aufkommen an Transportleistungen auf unseren Straßen haben, ist eine Regelung
überfällig. Die Tatsache, dass die Bundesregierung jetzt
zugunsten der deutschen Spediteure einer europäischen
Maßnahme vorgreift, ist positiv hervorzuheben. Unsere
Aufforderung gerade in den letzten Monaten und unser
entsprechender Antrag vom letzten Herbst, in dieser Richtung tätig zu werden, wurden dankenswerterweise aufgegriffen. Endlich wird gehandelt und nicht gewartet, bis die
langsamen Mühlen der Euro-Bürokratie mahlen.
({6})
Ich muss aber unterstreichen: Dies sollte Anlass sein,
auch in anderen Bereichen aktiv zu werden; denn unser
Transportgewerbe leidet erheblich unter den Wettbewerbsunterschieden. Von meiner Kollegin sind die entsprechenden Zahlen vorgetragen worden, die belegen, dass es erhebliche steuerliche Unterschiede in den verschiedenen
Ländern gibt, auch wenn der Kollege Schmidt sagt, dass
man hier alle Faktoren einbeziehen müsse. Das machen
wir natürlich. Trotzdem denke ich, dass ein großer Harmonisierungsbedarf gegeben ist.
In unserem im Herbst eingebrachten Antrag haben wir
alle Forderungen aufgelistet. Ich könnte sie jetzt wiederholen, ich will aber aufgrund der fehlenden Zeit darauf
verzichten.
Ich will zum Schluss die Bundesregierung und insbesondere den Verkehrsminister auffordern, jetzt entsprechende Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Handeln Sie
auch in anderen Bereichen im Interesse des deutschen gewerblichen Güterkraftverkehrs! Lassen Sie es nicht bei diesem Gesetz bewenden, das Sie uns heute vorgelegt haben!
Vielen Dank.
({7})
Ich danke auch
und schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5446 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver-
standen? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zur Bekämpfung der illegalen Kabotage und des Sozial-
dumpings im Transportgewerbe. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/3702 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen worden.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf:
a) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Jörg van
Essen, Rainer Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P.
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit
- Drucksachen 14/1602, 14/5458 ({1})
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung
- Drucksache 14/5166 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Kultur und Medien
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Zur Frage der Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechtes für Journalisten
- Drucksachen 14/2083, 14/3864 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Kein
Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete van Essen.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Pressefreiheit - und vor allen Dingen die Sicherung
der Pressefreiheit - ist für die Demokratie unabdingbar.
Ich denke, dass wir gerade in der letzten Zeit gesehen haben, welche Bedeutung unabhängige Medien in unserem
Land haben. Was auch immer an Skandalen hochgekommen ist, wäre ohne die Aufklärungsarbeit der Medien
und der Presse nicht möglich gewesen. Die Presse hat uns
viele Einzelheiten vermittelt. Deshalb bedarf die Presse
natürlich des Schutzes. Sie bedarf deshalb des Schutzes,
weil sie auf Informanten angewiesen ist, weil sie auf Recherche angewiesen ist. Es gibt immer wieder Versuche
meiner staatsanwaltschaftlichen Kollegen, diesen Schutz
der Presse aufzubohren. Es sind Vorfälle an die Öffentlichkeit gelangt, die einen nachdenklich machen müssen,
selbst dann, wenn das Herz für die Staatsanwaltschaft und
für die Strafverfolgung schlägt.
Insbesondere aufgrund dieser Erfahrung, aber auch
aufgrund des Drucks, den die Organisationen der Presse
und der Medien gemacht haben, haben wir als F.D.P.-Bundestagsfraktion sehr früh einen Gesetzentwurf vorgelegt,
der alle wesentlichen Forderungen der Interessenvertretungen der Medien berücksichtigt
({0})
und deshalb gerade bei diesen Interessenvertretungen sehr
viel Zustimmung gefunden hat.
Wir haben dazu eine Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages durchgeführt und Anregungen bekommen. Aber für uns als F.D.P. war insbesondere wichtig, dass die wesentlichen Weichenstellungen,
die wir vorgenommen haben, dort von den Sachverständigen nachdrücklich unterstützt worden sind.
({1})
Deshalb bedaure ich sehr, dass so viel Zeit ins Land gegangen ist und dass wir zu dem Mittel eines Berichtes
nach § 62 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages greifen mussten, um die Diskussion voranzubringen.
({2})
Es ist notwendig, dass wir hier endlich zu Entscheidungen
kommen.
({3})
Sie haben gesagt, „selbst schuld“. Nein, wir sind nicht
selbst schuld. Denn Sie haben immer wieder angekündigt,
dass es auch einen Gesetzentwurf der Bundesregierung
geben wird.
({4})
Leider haben wir erst heute die erste Beratung dieses Gesetzentwurfes. Uns bestätigt das: Wenn wir diesen Antrag
nach § 62 der Geschäftsordnung nicht gestellt hätten,
wäre es heute nicht zur ersten Lesung gekommen. Von daher ist es deutlich, dass es des Druckes bedurfte. Wir werden auch weiterhin Druck machen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eine einzige Enttäuschung, insbesondere deshalb, weil die Beschlagnahme bereits bei einfachem Tatverdacht möglich
ist. Damit sind all die Umgehungen, die von Journalisten
zu Recht kritisiert werden, nach meiner Auffassung leider
auch in Zukunft möglich.
({5})
Wir haben deshalb ganz bewusst die Tatverdachtsschwelle nach oben verschoben und einen dringenden
Tatverdacht zur Grundlage eines solchen Beschlagnahmeversuches gemacht. Ich denke, wir müssen auch bei
den Beratungen im Rechtsausschuss wieder zum dringenden Tatverdacht kommen. Wir werden dabei, wie gesagt,
auch von den Interessenvertretungen der Journalisten unterstützt.
Das Zweite: Wann ist das Zeugnisverweigerungsrecht
ausgeschlossen? Die Bundesregierung hat vorgesehen,
dass das ausschließlich bei Verbrechen der Fall sein soll.
Wir halten das nicht für ausreichend. Ich erinnere daran,
dass zum Beispiel Sexualdelikte gegenüber Kindern nach
dem Strafgesetzbuch nicht als Verbrechen ausgestaltet
sind. Deshalb wäre hier ein solcher Schutz durchaus möglich. Wir wollen das bewusst nicht. Ich denke, wir sollten
über die Frage, ob ein Straftatenkatalog nicht der bessere
Weg ist, deshalb noch einmal im Rechtsausschuss diskutieren.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege, Sie sagen, es müssen zusätzliche
Straftatbestände in den Katalog aufgenommen werden,
und weisen mit einer gewissen Berechtigung darauf hin,
dass es auch um gravierende andere Delikte geht. Wäre es
dann nicht richtiger, sie allgemein im Strafgesetzbuch
schwerer zu gewichten und sie zu Verbrechen zu machen?
Kann man sie denn im Strafmaß weiter unten ansiedeln
und gleichzeitig sagen: Diese Straftatbestände sind so bedeutend, dass sie es rechtfertigen, das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten in diesen Fällen wegfallen zu
lassen?
Ich denke, dass man das
kann. Sie sehen das an dem Katalog, den wir vorgesehen
haben; wir haben nämlich bei jedem einzelnen Delikt eine
solche Abwägung vorgenommen. Ich denke, dass das der
vernünftige Weg ist.
Sie haben die Möglichkeit angedeutet, zum Beispiel
Straftaten gegenüber Kindern zum Verbrechen aufzustufen. Sie wissen, dass wir uns damit im Rechtsausschuss
befassen. Wir haben aber aus guten Gründen diese Aufstufung zu einem Verbrechen nicht vorgenommen. Ich bin
auch weiterhin der Auffassung, dass das richtig ist; denn
es gibt eine ganze Fülle von Straftaten, die die Stufe des
Verbrechens noch nicht erreicht haben. Deshalb, so denke
ich, sollten wir zu einer Lösung kommen, bei der wir einzelne Tatbestände nach ihrer Gewichtung, insbesondere
was das Zeugnisverweigerungsrecht der Presse angeht, in
den Katalog aufnehmen oder nicht. Das wird weiterhin
die Position der F.D.P. bleiben, weil wir der Auffassung
sind, dass nur so eine vernünftige und sachgerechte Abwägung vorgenommen werden kann, nicht aber mit einer
Pauschalisierung, wie sie im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehen ist.
Das Entscheidende aber ist, dass wir jetzt schnell zu
Lösungen kommen müssen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt auf dem Tisch. Die F.D.P. wird sich intensiv für einen besseren Schutz der Pressefreiheit einsetzen. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Neuregelung,
insbesondere auch des Schutzes des selbst recherchierten
Materials. Ich denke und hoffe, dass wir sehr schnell zu
Ergebnissen kommen werden. Wir werden den nötigen
Druck machen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Meyer.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ihrem heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf entspricht die
Bundesregierung einer Reformforderung, die den Deutschen Bundestag seit drei Legislaturperioden beschäftigt.
Damit wird nach dem Regierungswechsel von 1998 ein
weiterer Beitrag zur Auflösung eines von der alten Regierung zu verantwortenden Reformstaus geleistet.
({0})
Es geht dabei um den besseren Schutz der Presse- und
Rundfunkfreiheit, die bekanntlich vom Bundesverfassungsgericht in vielen Entscheidungen als schlechthin
konstituierend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eingestuft worden ist.
Der Schutz dieses Grundrechtes soll nunmehr auch bei
selbst recherchiertem Material, ähnlich wie bisher schon
bei von dritten Personen stammenden, dem Journalisten
anvertrauten Unterlagen, durch ein weit reichendes Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot gewährleistet werden. Außerdem wird der Schutz über periodische Druckwerke und Rundfunksendungen hinaus
auch auf andere Medienerzeugnisse, wie insbesondere
nicht periodische Druckwerke und Filmberichte, ausgedehnt.
Die erste in diese Richtung zielende Initiative stammte
von der SPD-Bundestagsfraktion, die in der vorletzten,
also der 12. Legislaturperiode einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt hat. Es folgten in der letzten Legislaturperiode Gesetzentwürfe des Bundesrates und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Erst in dieser Legislaturperiode - das hätte ich dem Kollegen van Essen gern
auch persönlich gesagt - hat die F.D.P., nachdem sie von
den Fesseln der Regierungsverantwortung und des größeren Koalitionspartners befreit war,
({1})
einen entsprechenden Entwurf vorgelegt.
({2})
Zu diesem heute noch einmal auf der Tagesordnung
stehenden F.D.P.-Entwurf habe ich in der Debatte vom
Oktober 1999 ausführlich Stellung genommen. Gleichzeitig habe ich angekündigt, dass der demnächst in erster
Lesung auf der Tagesordnung stehende Entwurf der Bundesregierung so evident besser sein werde, dass wir ihn
gemeinsam zur Beratungsgrundlage machen könnten.
({3})
Aus dem „demnächst“ sind dann leider 17 Monate geworden, vor allem deshalb, weil der Bundesrat - oder genauer: die derzeitige Mehrheit des Bundesrates - das Verfahren durch Änderungsvorschläge, von denen leider kein
einziger überzeugen konnte, aufgehalten hat. Darauf
werde ich noch eingehen.
({4})
Die CDU/CSU-Fraktion scheint sich ausweislich der
einleitenden Bemerkungen zu ihrer Großen Anfrage, die
heute ebenfalls auf der Tagesordnung steht, nach wie vor
ablehnend zu dem Reformvorschlag zu verhalten.
({5})
Vielleicht ist sie aber auch durch die Antworten der Bundesregierung und durch die auf hohem Niveau stehende
Sachverständigenanhörung
({6})
vom September vergangenen Jahres eines Besseren belehrt worden.
({7})
Bei dieser Anhörung, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Opposition,
({8})
hat sich die weit überwiegende Zahl der Sachverständigen
mit überzeugender Begründung für den stärkeren Schutz
der Presse- und Rundfunkfreiheit ausgesprochen.
({9})
Zur Klarstellung der praktischen Bedeutung des Vorhabens hat beispielsweise der Justiziar des Deutschen
Journalisten-Verbandes von 69 Fällen mit Durchsuchungsanordnungen in den Jahren von 1987 bis 1998
allein das ZDF betreffend berichtet,
({10})
darunter nur 19 in Verbrechenssachen, hingegen acht allein wegen Beleidigungsverfahren. In den meisten Fällen
sei das angeforderte Filmmaterial nach dem Durchsuchungsbeschluss herausgegeben worden, um der mit einer
Durchsuchung verbundenen massiven Beeinträchtigung
der Arbeit der Rundfunkanstalt zuvorzukommen.
Leichtsinnigerweise, verehrte Kollegen von der
CDU/CSU, berufen Sie sich in der Begründung Ihrer ablehnenden Haltung in Ihrer Großen Anfrage auf ein für
das Bundesministerium der Justiz im Jahre 1988
({11})
beim Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht eingeholtes rechtsvergleichendes Gutachten. Dieses Gutachten
({12})
ist - das ist richtig - seinerzeit unter meiner Verantwortung entstanden. Der rechtsvergleichende Querschnitt,
auf den Sie sich meinen berufen zu können, ist von mir
verfasst und in der Festschrift für Tröndle veröffentlicht
worden.
Darin habe ich nun aber ausdrücklich festgestellt, dass
die geltende gesetzliche Regelung im Einzelfall unbefriedigend sein könne
({13})
und die Lösung dieser Fälle in der unmittelbaren Anwendung von Art. 5 Grundgesetz unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu suchen sei.
({14})
Das war ein Appell und ich hatte eine Hoffnung,
({15})
die sich leider nicht erfüllt hat.
Darauf habe ich bereits in der Bundestagsdebatte im
Dezember 1996 hingewiesen und festgestellt:
({16})
Die Hoffnung auf eine der Pressefreiheit Rechnung
tragende Kasuistik der Praxis hat sich also leider
nicht erfüllt.
({17})
Offenbar geht die Praxis davon aus, dass die gebotene Abwägung zwischen Pressefreiheit und rechtsstaatlicher Effektivität der Strafrechtspflege vom
Gesetzgeber, also von uns, vorzunehmen ist. Dieser
schwierigen Aufgabe müssen wir uns nunmehr stellen.
Also, verehrte Kollegen von der Opposition: Wenn Sie
mich schon freundlicherweise zitieren, dann bitte vollständig.
({18})
Auf die Mängel des F.D.P.-Entwurfes muss ich heute
nicht noch einmal eingehen. So kann ich in der verbleibenden Redezeit deutlich machen, warum die Änderungsvorschläge der Mehrheit des Bundesrates von der
Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung mit Recht abgelehnt worden sind.
Nach unserem Gesetzentwurf soll der Schutz von Material und Erkenntnissen, die auf eigener Recherche des
Journalisten beruhen, nur dann eingeschränkt werden
oder entfallen, wenn ein Verbrechen aufgeklärt werden
soll. Damit soll an die Stelle überwiegend einzelfallbezogener und dem Druck von Tagesemotionen ausgesetzter
Güterabwägung die Wertentscheidung des Gesetzgebers
treten, wonach bestimmte Delikte eben als Verbrechen,
also als schwere Straftaten mit einer angedrohten Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr, einzuordnen sind. Nur
in diesen Fällen, also nicht etwa in Beleidigungsverfahren, tritt der Schutz von Art. 5 Grundgesetz zurück. Der
Bundesrat will stattdessen - insoweit, wie wir eben hörten, in Übereinstimmung mit der F.D.P. - die Ausnahmen
durch einen umfassenden Straftatenkatalog regeln, der
auch Vergehen enthält. Insoweit kann ich auf die Sachverständigen verweisen, die sich fast alle gegen einen derartig starren, völlig unklaren Kriterien folgenden Katalog
ausgesprochen haben. Dies war neben Professor Eser beispielsweise auch der von der CDU/CSU-Fraktion benannte Leitende Oberstaatsanwalt aus Augsburg.
Völlig unverständlich ist aber der schon in der Bundestagsdebatte von 1996 einhellig abgelehnte Vorschlag
des Bundesrates, darüber hinaus Ausnahmen für den Fall
vorzusehen, dass Gegenstand der Ermittlung eine Straftat
ist, wegen der eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr
zu erwarten ist. Welcher Richter oder Staatsanwalt soll eigentlich eine zuverlässige Prognose über die zu erwartende Strafe abgeben können, wenn über die Beschlagnahme oder Nichtbeschlagnahme von journalistischem
Material zu entscheiden ist, das Ermittlungsverfahren
aber erst am Anfang steht? Die Wiederholung des alten
Bundesratsvorschlages ist wohl nur durch ein relativ unreflektiertes Wiedervorlageverfahren erklärbar - und das
bei einem Gesetz, das nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf und bei dem auch deshalb ein besonders sorgfältiges Eingehen auf die Argumente des Bundestages zu
erwarten gewesen wäre.
Ebenso wenig überzeugend ist die Kritik des Bundesrates an dem vorgesehenen Beweiserhebungsverbot zu
Aussagen in anderen gerichtlichen Verfahren. Denn das
Verbot ist an die doppelte Voraussetzung geknüpft, dass
der Journalist zum einen im Strafverfahren von seinem
beruflichen Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht
und dass er zum anderen im außerstrafrechtlichen Verfahren kein Zeugnisverweigerungsrecht hatte. Die über diesen Punkt, der auch im F.D.P.-Entwurf noch klärungsbedürftig ist, im Oktober 1999 geführte Bundestagsdebatte
haben die Verfasser der Stellungnahme des Bundesrates
offenbar noch nicht einmal zur Kenntnis genommen.
({19})
Geradezu erstaunlich ist schließlich der dritte Vorschlag des Bundesrates, die präzisen Vorgaben für die
nach § 97 StPO durchzuführende Verhältnismäßigkeitsprüfung deshalb zu streichen, weil die Justizministerkonferenz 1997 in Nr. 73 a der RiStBV ausdrücklich eine
Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgeschrieben habe. Abgesehen von der unscharfen Fassung jener Richtlinie müsste
es eigentlich inzwischen eine verfassungsrechtliche Binsenweisheit sein, dass die Festlegung der Abwägungskriterien, ob und inwieweit die Presse- und Rundfunkfreiheit
im Einzelfall Vorrang gegenüber den Bedürfnissen der
Dr. Jürgen Meyer ({20})
Strafrechtspflege haben kann, Sache des Gesetzgebers
und nicht irgendwelcher Richtlinien ist.
({21})
Die Schwäche der Argumentation wird auch nicht
durch den sonderbaren Satz behoben, wonach Art. 5 des
Grundgesetzes es nicht gebiete - ich zitiere aus der Stellungnahme des Bundesrates -, „Medien quasi als Deponie für deliktsverstrickte Gegenstände fungieren zu lassen“. Da hat wohl ein Landesjustizminister oder dessen
Sachbearbeiter seiner tiefen Abneigung gegenüber den
Medien freien Lauf gelassen und aus seinem Herzen keine
Mördergrube gemacht.
({22})
- Ich bin ziemlich sicher, dass die Mehrheit des Bundesrates dies zu verantworten hat.
({23})
Ich hoffe, dass unsere Beratungen des Entwurfes eines
Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung im
Rechtsausschuss und im Ausschuss für Kultur und Medien im Vergleich dazu in einem rationalen und dem
Grundrecht der Presse- und Rundfunkfreiheit angemessenen Klima durchgeführt werden.
Ich danke Ihnen.
({24})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich meine, wir können
diese Sitzung, die fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit
stattfindet, in einer ruhigen Atmosphäre fortsetzen. Insofern war der eben gehörte Beitrag durchaus beachtenswert. Aber es gibt, lieber Herr Meyer, auch Gegenargumente.
({0})
- Seien Sie ruhig gespannt, Herr Ströbele!
Zweifellos ist die Feststellung richtig, dass die Pressefreiheit ein ganz hohes Gut ist und dass der Staat verpflichtet ist, die Pressefreiheit zu schützen, wo immer er
kann. Ohne Pressefreiheit kann eine lebendige Demokratie nicht existieren. Dies ist unbestritten.
Durch die Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes - es geht hier um eine Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes! - für Journalisten soll die Pressefreiheit im Strafverfahren in einer besonderen Weise
geschützt werden. Dies kann zu Konflikten mit der anderen Pflicht des Staates führen, nämlich für eine ordentliche Strafverfolgung zu sorgen. Dies ist ein ebenso hohes
Gut, wie das Bundesverfassungsgericht in vielen Entscheidungen festgestellt hat.
Wir wissen, welche Funktion die Strafverfolgung in
unserem Staat hat: Sie hat die Funktion erstens der
Bekämpfung von Kriminalität, zweitens der Wahrung unserer Rechtsordnung und drittens der Wahrung und
Durchsetzung der Gerechtigkeit nicht nur gegenüber dem
Opfer der Kriminalität, sondern auch gegenüber dem Betreffenden selbst, der alle Beweismittel ausschöpfen können muss, um die gegen ihn gerichteten Vorwürfe entkräften zu können.
Hier sehen wir die Abwägungsschwierigkeit. Wir meinen, dass diese Abwägung weder in dem einen noch in
dem anderen Gesetzentwurf richtig vorgenommen worden ist, und haben deshalb unsere Bedenken.
Zweifellos ist richtig - darin werden wir alle miteinander übereinstimmen -, dass die innere Sicherheit, also
die Bekämpfung der Kriminalität, eine der vordringlichsten Aufgaben des Staates ist. Das wird gerade jetzt deutlich, da dieses Kind in Brandenburg verschwunden ist und
bislang noch jede Spur fehlt. Das weckt Ängste, das wirft
sofort Fragen an die Polizei, an die Staatsanwaltschaft und
an die Gerichte, aber auch an den Gesetzgeber auf, ob
denn in der Vergangenheit alles unternommen worden ist,
um die innere Sicherheit zu garantieren. Wenn wir keine
Sicherheit mehr auf den Straßen, auf den Plätzen, im Zug,
in der U-Bahn und vielleicht nicht einmal mehr in der eigenen Wohnung haben, dann wird das Leben zum Albtraum.
Dieses hohe Gut der Strafverfolgung soll mit dazu beitragen, dass die innere Sicherheit in einem großen Maße
gesichert werden kann. Deswegen haben wir unsere Bedenken. Denn jedes Zeugnisverweigerungsrecht führt dazu, dass die Strafverfolgung beeinträchtigt werden kann.
Das muss man einfach so sehen.
({1})
- Nun kommt es darauf an, lieber Herr Ströbele, wie weit
ich in einem solchen Fall gehe. Jedes Zeugnisverweigerungsrecht und das damit verbundene Beschlagnahmeverbot kann im konkreten Einzelfall die Strafverfolgung
hindern, kann den Staat hindern, einer wichtigen Pflicht
nachzukommen. Das ist die Grundüberlegung.
Es besteht kein Zweifel - ich wiederhole das -, dass die
Pressefreiheit einen hohen Rang in unserem Staat einnehmen muss. Aber einen ebenso hohen Rang muss die Strafverfolgung haben. Deswegen ist es dem Staat auch nicht
erlaubt, das Zeugnisverweigerungsrecht beliebig auszudehnen. Ansonsten verletzt er eine wichtige verfassungsmäßige Pflicht, nämlich sicherzustellen, dass in einem
Strafverfahren die Wahrheit in größtmöglichem Umfang
festgestellt werden kann. Diese Feststellung der Wahrheit
soll nicht nur zugunsten der Strafverfolgung erfolgen,
sondern - ich habe es schon gesagt - auch zugunsten des
Betroffenen selbst, letztendlich zugunsten der Gerechtigkeit. Wenn nun das Zeugnisverweigerungsrecht in einem
zu starken Maße ausgeweitet wird, geht die Abwägung
zulasten der Strafverfolgung. Ich glaube, dass dies nicht
notwendig ist.
Dr. Jürgen Meyer ({2})
Wir haben nach unserer Auffassung schon einen ausreichenden Schutz der Journalisten im Strafverfahren. Es
gibt ja das Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich des
nicht selbst recherchierten, sondern von Informanten erhaltenen Materials. Diesbezüglich braucht der Journalist
vor dem Gericht keine Aussage zu machen. Dies hat seinen Grund darin, dass zwischen Journalisten und Informanten ein Vertrauensverhältnis bestehen muss. Wenn
dieses Vertrauensverhältnis nicht besteht, fließen keine
Informationen. Dann können die Presse und die anderen
Medien ihre Pflicht nicht erfüllen, die Bevölkerung umfänglich zu informieren. Deswegen haben wir diesen Informantenschutz - wie ich meine, mit Recht - in das
Zeugnisverweigerungsrecht hineingenommen. Insofern
genießt der Journalist im Gerichtsverfahren ausreichenden Schutz.
Nun wollen Sie von der Regierungskoalition und von
der F.D.P. das Zeugnisverweigerungsrecht über das vom
Informanten bekommene Informationsmaterial hinaus
auch auf das selbst recherchierte Material ausdehnen. Wir
meinen, hier gehen Sie einen Schritt zu weit. Ich möchte
das begründen. Ich glaube - und das sagt das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1997 auch -,
dass der Eingriff in die Pressefreiheit dann nicht rechtens
ist, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt ist.
Nun sagen Sie zu Recht, Herr Meyer, dass dies im konkreten Einzelfall oft nicht beachtet worden ist. Aber Sie
werden immer Ausreißer haben, Sie werden immer Gerichte und immer Staatsanwaltschaften haben, die die Gesetze nicht genau beachten.
({3})
Deswegen gibt es Freisprüche und Fehlurteile. Aber der
Grundsatz, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu wahren ist, bleibt.
Nach diesem Grundsatz ist es verboten, den Eingriff in
das selbst recherchierte Material vorzunehmen, wenn dies
in keinem vernünftigen Verhältnis zum Interesse an der
Aufklärung der Straftat steht, weil die Straftat zu geringfügig ist. Hier ist die Pressefreiheit das höhere Gut. Dann
muss dieser Eingriff unterbleiben. Deswegen meine ich,
dass aufgrund unserer Verfassungsprinzipien der Verhältnismäßigkeit und der größtmöglichen Schonung im Einzelfall das selbst recherchierte Material hinreichend geschützt ist.
Aber nun gehen Sie noch einen Schritt weiter. Sie wollen das Zeugnisverweigerungsrecht nicht nur auf das
selbst recherchierte Material ausdehnen, sondern wollen
auch die nicht periodisch erscheinenden Druckwerke
und die dafür gesammelten Materialien in das Zeugnisverweigerungsrecht einbeziehen. Hier gehen Sie nach
meiner Meinung wiederum einen Schritt zu weit und
schaffen damit unnötige Konflikte, weil Sie jetzt nicht
mehr unterscheiden können, wer Journalist ist und wer
nicht. Jemand, der bei einer Zeitung arbeitet, gilt als Journalist, selbst wenn das Berufsbild des Journalisten gesetzlich nicht genau festgeschrieben ist. Aber ist jeder, der
gerade ein Buch schreibt oder einen Film macht - wer
mag ihm das verwehren oder wer mag das bestreiten? Journalist? Wenn sich dieser auch auf das Zeugnisverweigerungsrecht berufen kann, hat der Staat nicht mehr die
Möglichkeit der Ermittlung der Wahrheit.
({4})
Diese Verpflichtung hat er aber. Dann ist der Staat gezwungen stillzuhalten und darf nicht weitergehen. Ich
meine, Sie gehen in Ihrem Bestreben, die Pressefreiheit zu
schützen, zu weit.
Sie sagen auch, dass in den Fällen, in denen sich ein
Journalist durch den Erwerb des Informationsmaterials
selbst strafbar gemacht hat oder einen anderen deckt, der
Zugriff des Staates nicht erlaubt ist, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt ist.
({5})
Sie schreiben dies ausdrücklich in das Gesetz hinein.
({6})
- Ja, lieber Herr Ströbele. Dadurch aber besteht die Gefahr, dass der ermittelnde Beamte seiner Verpflichtung,
im konkreten Fall zu ermitteln, aus Angst, er könne gegen
das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen, nicht nachkommt. Ich glaube, Herr Meyer,
({7})
dass es ausreicht, dass dieses Prinzip in § 73 der Richtlinien für Strafverfahren und Bußgeldverfahren festgelegt
ist. Es muss nicht eigens ins Gesetz hineingeschrieben
werden.
Aber noch aus einem weiteren Grund meine ich, dass
Sie in diesen Fällen zu weit gehen. Sie sagen: Die Beschlagnahme hat zu unterbleiben, wenn nicht feststeht
- das ist das Problem -, dass der konkrete Sachverhalt
nicht auch auf andere Weise ermittelt werden kann. So
werden Sie jeden Polizeibeamten, jeden Staatsanwalt in
einen Rechtfertigungszwang bringen. Weil er vermeiden
will, in einen solchen Rechtfertigungszwang zu geraten,
wird er erst gar nicht ermitteln.
({8})
Das ist das Problem. Deswegen, lieber Herr Ströbele,
habe ich Bedenken. Ich will ja nicht sagen, dass das alles
verkehrt ist, was Sie machen. Aber ich habe hier ernsthafte Bedenken.
Auch bei dem Beweiserhebungsverbot habe ich Bedenken. Ich sehe eigentlich nicht ein, warum die Aussage
eines Journalisten vor einem anderen Gericht - diese Aussage ist damit objektiviert, im Protokoll festgehalten nicht in einem Strafverfahren verwendet werden kann.
Das ist für mich nicht mehr einsichtig. Hier gehen Sie
nach meiner Auffassung zu weit. Mir kommt das Bild von
der Justitia in den Sinn, deren Augen verbunden sind, aber
nicht, weil sie ohne Ansehen der Person zu richten hat,
sondern ganz offensichtlich deshalb, weil sie ihre Augen
vor der Erkenntnis der Wahrheit verschließen muss. Das,
meine ich, sollte nicht der Fall sein. Deswegen teile ich
die Bedenken des Bundesrates. Ich teile die Bedenken der
Justizministerkonferenz. Ich teile auch die Bedenken des
Juristentages von 1998.
Ich glaube, dass wir, alles in allem gesehen, im Augenblick eine Gesetzeslage haben, die durchaus dem Anspruch der Pressefreiheit gerecht wird. Ich meine, dass es
nicht notwendig ist, das Gesetz zu ändern. Sie haben das
Gutachten des Max-Planck-Instituts zitiert. In ihm steht
nicht, dass die Presse in einem anderen Land eine bessere
Stellung hätte. Das war die eigentliche Frage, die wir gestellt hatten. In der Antwort der Bundesregierung, in der
auch das Gutachten des Max-Planck-Instituts zitiert wird,
wird ausgeführt, dass es keine ausreichenden rechtstatsächlichen Untersuchungen gibt, aus denen folgte, dass
das bestehende Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten nicht ausreichte. Auch das Verfassungsgericht hat in
seinem Urteil von 1987 erklärt: Wir haben eine ausreichende Gesetzeslage; wir brauchen sie nicht zu ändern.
Meine Damen und Herren, Sie müssen sich schon die
Frage stellen, ob es nicht gewichtige Argumente gegen die
Gesetzgebungsvorhaben sowohl der F.D.P. als auch der
Regierungskoalition gibt. Ich bitte Sie, auch diese Gegenargumente bei der Beratung hinreichend zu beachten.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In einem Punkt gebe ich dem lieben Kollegen Geis
Recht:
({0})
Dieses Gesetz ist so gut, dass es in einer früheren Stunde
in diesem Haus hätte verhandelt werden müssen und es
auch verdient hätte, von mehr Abgeordneten behandelt
und diskutiert zu werden.
({1})
In dem Punkte haben Sie Recht.
Dies ist nämlich ein guter Tag nicht nur für Journalisten, sondern für die vierte Gewalt im Staate insgesamt, für
die Rechtskultur und für die Presse und die Medien in diesem Lande. Denn es geht nicht nur um Journalisten und
auch nicht nur um die Informanten, um die Gewährsleute
von Journalisten, sondern auch darum, die Presse - dazu
gehören natürlich die gedruckte Presse und die Journalisten, die ihr zuarbeiten, aber auch die anderen Medien
wie Rundfunk und Fernsehen - in die Lage zu versetzen,
ihr Wächteramt in diesem Staate wirksam auszuüben.
Dazu müssen sie sicher sein, dass sie frei von jeglicher
staatlicher Repression sind. Sie dürfen nicht fürchten
müssen, dass sie etwa einen Informanten preisgeben müssen. Das ist heute schon geregelt. Aber auch das, was sich
ein Journalist aufschreibt, notiert oder mit der Kamera
aufnimmt, darf nicht nachher von der Staatsanwaltschaft
beschlagnahmt werden können. Der Journalist darf nicht
gezwungen werden können, vor Gericht darüber Zeugnis
abzulegen. Die Informationen, die er zu Hause verwahrt,
dürfen nicht gegen einen Angeklagten in einem Strafverfahren benutzt werden.
Nur wenn sichergestellt ist - dazu hat sich das
Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen
klar geäußert -, dass die Quellen der Information für alle
Journalisten und Medien im Verborgenen sprudeln können, können die Journalisten, die Presse und die Medien
ihr Wächteramt in diesem Staate wirksam ausüben.
Um den unsinnigen Streit darüber zu beenden, was
selbst recherchiertes Material und was von einem Informanten zur Verfügung gestelltes Material ist, und ihn obsolet zu machen, haben wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Danach können in Zukunft Journalisten grundsätzlich für sich dasselbe Recht in Anspruch nehmen, das
auch die Abgeordneten, die Rechtsanwälte, die Ärzte und
die Geistlichen für sich in Anspruch nehmen: Sie brauchen zu dem, was sie erfahren oder selbst herausgefunden
haben, vor Gericht keinerlei Aussage zu machen.
Herr Kollege Geis, es ist nicht so, dass die Journalisten
nicht aussagen dürfen, aber sie müssen nicht. Das heißt,
der Journalist muss verantwortlich abwägen, wie er sich
in einem Strafverfahren verhält. Obwohl er das Recht zur
Aussageverweigerung hat, kann er im Interesse des Angeklagten, im Interesse der Wahrheitsfindung oder um zu
verhindern, dass das Gericht einen falschen Kurs einschlägt, trotzdem eine Aussage machen. Es geht nicht darum, die Quelle völlig zu verschließen, sondern dem Journalisten soll die Sicherheit gegeben werden, dass es allein
von ihm abhängt, ob er Informationen, die er bei sich zu
Hause gesammelt hat - sei es von einem Informanten, sei
es von ihm selbst -, preisgibt.
Ein Geistlicher darf über das, was er im Rahmen des
Beichtgeheimnisses, im Rahmen von Gesprächen oder als
Geistlicher sonst erfahren hat, vollständig die Aussage
verweigern.
({2})
- Ich bin dafür, dass dies erhalten bleibt.
({3})
Auch die freie Ausübung der Religion soll gesichert sein.
Das ist der Hintergrund, warum der Staat dem Geistlichen
dieses Recht zugesteht.
({4})
Genauso wichtig ist für uns aber auch ein Funktionieren
der Presse und des Journalismus in diesem Staate.
Deshalb wollen wir dieses umfassende Zeugnisverweigerungsrecht auch für Journalisten einführen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ja, natürlich.
Herr Ströbele, würden Sie
mir zustimmen, dass der Geistliche, der etwas ihm im
Beichtstuhl Anvertrautes nicht weitergeben kann, genau
dasselbe Recht wie der Journalist hat, der von einem
Informanten eine Information bekommen hat? Auch ihn
schützen wir. Deshalb genießt der Geistliche genau denselben Schutz. Mehr beanspruchen wir für den Geistlichen gar nicht.
Das ist nicht zutreffend, Herr Kollege Geis,
({0})
weil auch beim Geistlichen nicht nur das geschützt ist, was
er im Beichtstuhl erfährt oder was ihm von einem Gläubigen zugetragen wird, sondern auch das, was er selber in
diesem Zusammenhang in Erfahrung bringt. All das, was
er in seiner Tätigkeit als Geistlicher erfährt, ist geschützt.
({1})
Deshalb ist es richtig, hier eine Gleichsetzung vorzunehmen.
Herr Kollege Geis, es geht bei dem umfassenden
Zeugnisverweigerungsrecht - ich wende mich auch an
den abwesenden Kollegen van Essen ({2})
vor allen Dingen um die „kleineren“ Fälle, nicht um
schwere oder schwerste Straftaten oder Verbrechen, sondern
nur um Vergehen oder Übertretungen. Dabei ist es von ganz
entscheidender Bedeutung, dass wir die Strafmaßstäbe, die
das Strafgesetzbuch heute vorsieht, für das Zeugnisverweigerungsrecht übernehmen. Wir wollen nicht, dass der jeweilige Gesetzgeber immer wieder neu überlegen muss,
warum die eine oder andere Straftat zwar kein Verbrechen,
aber doch so schwerwiegend ist, dass ein Zeugnisverweigerungsrecht dabei nicht in Betracht kommt.
Außerdem wollen wir - und das aus gutem Grunde das Zeugnisverweigerungsrecht auch dann zubilligen,
wenn der Journalist für nicht periodische Druckwerke arbeitet. Das betrifft gerade jene, die an einem Film oder einem Buch mitarbeiten. Wir wollen keinen Unterschied
machen zwischen dem einen und dem anderen, wollen
hier nicht die Abwägung vornehmen müssen, ob nun das
periodische Druckerzeugnis wichtiger und wertvoller ist
als das einmalig erscheinende. Wenn ein Journalist
({3})
ein Buch über Fakten, Tatsachen, beispielsweise jetzt über
bestimmte Affären, die das Land beschäftigen, schreibt,
dann soll er genauso geschützt sein, als wenn er einen Artikel in einer Zeitung, einer Zeitschrift oder im Rundfunk
veröffentlichen würde. Deshalb ist es richtig und wichtig,
das Zeugnisverweigerungsrecht darüber hinaus auszudehnen. Es soll jetzt für alle berufsmäßig als Journalisten
arbeitende Personen gelten. Das ist die Einschränkung,
Herr Kollege Geis. Insofern stimmt Ihr Argument nicht,
dass wir jedem dieses Zeugnisverweigerungsrecht zubilligen. Vielmehr kommt es auf das berufsmäßige Ausüben
an.
Ich verhehle nicht, dass ich in der Anhörung zusätzliche Argumente von Sachverständigen vernommen habe,
die wir in die Diskussion im Rechtsausschuss einfließen
lassen sollten, etwa jenes, dass ein Verwertungsverbot
dann nicht gelten sollte, wenn Gegenstände beschlagnahmt worden sind, weil ein Journalist im Verdacht stand,
an einer Straftat beteiligt gewesen zu sein. Anders ist es,
wenn aber der Tatverdacht später entfällt, wenn er beispielsweise freigesprochen oder das Verfahren eingestellt
wird.
Herr Kollege!
Wir sollten uns auch überlegen, ob die Anordnung
für Durchsuchungen von einem Einzelrichter vorgenommen werden kann oder ob es nicht richtiger und wichtiger
ist, dass dies Strafkammern tun.
Letztlich will ich den Gedanken aufnehmen, der schon
im F.D.P.-Entwurf enthalten ist, ob für die Beschlagnahme nicht tatsächlich ein dringender Verdacht, der Verdacht der Teilnahme des Journalisten an einer Straftat, gegeben sein muss.
Herr Kollege,
Ihre Redezeit ist vorbei.
Über all diese Vorschläge werden wir Überlegungen anstellen.
Ich möchte einen bekannten Ausspruch des Fraktionsvorsitzenden der SPD aufnehmen und hoffe: Ein Gesetz
geht in den Bundestag, kommt aber nicht so heraus, wie
es hineingekommen ist. Ich wünsche uns allen gute Beratung.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier schon einmal
über den F.D.P.-Entwurf diskutiert. Schon bei dieser Gelegenheit habe ich zum Ausdruck gebracht, dass ich die
Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes durchaus
begrüße, dass aber der umfangreiche Ausnahmekatalog,
den Sie angehängt haben, Ihren Gesetzentwurf ein bisschen ad absurdum führt, weil es natürlich nur in schweren
Fällen zur Hausdurchsuchung oder auch zur Beschlagnahme kommt. Es geht nicht um Schwarzfahren oder Beleidigung, sondern immer um Verbrechen, nämlich um
Terrorismus, Mord, Bestechung und auch Hochverrat.
Jetzt liegt der Regierungsentwurf vor. Ich hatte damals meiner Hoffnung Ausdruck gegeben, dass er besser
wird. Aber ich will Ihre Freude doch ein wenig dämpfen,
weil auch hierin Dinge enthalten sind, die - wie auch in
der Anhörung zum Ausdruck kam - durchaus Fragen offen lassen. Ich finde nicht, dass er besser ist. Eine Synopse
aus beiden Entwürfen könnte sicherlich etwas Gutes bringen. Es geht ja jetzt in die Beratung.
Sie haben statt eines umfangreichen Ausnahmekataloges in Ihrem Gesetzentwurf den kleinen, unauffälligen
Satz, dass Ausnahmen vom Zeugnisverweigerungsrecht dann möglich sind, wenn sich die polizeilichen Ermittlungen um ein Verbrechen drehen, das heißt um ein
Delikt mit einer Strafandrohung von einem Jahr und mehr.
Es stimmt, dass Kataloge - wie bei der F.D.P. - mehr Willkür bedeuten als die eindeutige Regelung in Ihrem Entwurf, aber in der Praxis wird das kaum einen Unterschied
machen. Herr Ströbele, das muss ich Ihnen sicherlich
nicht sagen. Ich möchte Sie zitieren:
Machen Sie den Journalisten einmal klar, dass das
Material, das sie in wirklich wichtigen Fällen, in denen es um Spionage, um kriminelle Vereinigungen
oder um schwere Straftaten geht, erarbeitet und in
ihrem Schreibtisch liegen haben, nicht frei von Beschlagnahme ist. Ich denke - so haben Sie damals gesagt -, dass sie gerade in diesen Fällen geschützt
werden müssen.
Das denke ich auch. Allerdings denke ich, dass sie
durch Ihren Entwurf nicht geschützt sind. Spionage und
schwere Straftaten gemäß § 129 Strafgesetzbuch fielen
auch nach Ihrem Gesetzentwurf unter die Ausnahmeregelung, denn hier handelt es sich um Verbrechen. Deswegen
erschließt sich für mich der Vorteil dieses Entwurfs nicht.
In einem anderen Punkt ist der Regierungsentwurf in
meinen Augen sogar schlechter als der der F.D.P. Das ist
hier im Zusammenhang mit dem einfachen und dem dringenden Tatverdacht schon angeklungen, denn bekanntlich sind schon heute Beschlagnahmen bei Journalisten
möglich, wenn der betroffene Journalist selbst der Tat verdächtigt wird. Nach dem Regierungsentwurf soll schon
der einfache Tatverdacht ausreichen. Das scheint in meinen Augen - Sie haben selbst etwas dazu gesagt - sehr bedenklich.
Die Anhörung im Rechtsausschuss hat gezeigt, dass
Vertreter der Medien und Wissenschaftler in diesem
Punkt allesamt dem F.D.P.-Entwurf den Vorrang geben.
Ich denke, diese Meinungen sind nicht unbedeutend. Der
Justitiar des Deutschen Journalisten-Verbandes bezeichnete in diesem Punkt den F.D.P.-Entwurf als erheblich
besser. Auch der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger hat den Regierungsentwurf als nicht weitgehend
genug kritisiert. Ich denke, man kann sich diesem Urteil
der Experten durchaus anschließen. Beide Vorlagen, die
wir heute beraten, gehen nicht weit genug.
Gerade auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
wird immer wieder hingewiesen; er ist auch im Regierungsentwurf erwähnt. Es ist bereits jetzt so, dass die Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Die Erfahrung hat aber
gezeigt, dass sich die Strafverfolger darum nicht unbedingt scheren. Im Grunde genommen wissen wir alle, dass
der Anspruch der Verhältnismäßigkeit immer verhältnismäßig unverbindlich ist. Das ist das Problem an der Sache.
Dennoch bin ich der Meinung, dass beide Gesetzentwürfe in die richtige Richtung gehen. Die Ausdehnung
des Zeugnisverweigerungsrechts auf selbst recherchiertes
Material, auf nicht periodische Druckwerke und auf elektronische Publikationen ist in meinen Augen überfällig
und ich bin froh, dass es in dieser Frage endlich Bewegung gibt. Ich hoffe, dass in den Ausschüssen noch die
eine oder andere Änderung vorgenommen wird. Wir werden das sehen. Was aber auf gar keinen Fall sein darf - das
klang bei Ihnen, Herr Geis, ein bisschen an -: Journalisten
sind keine Helferinnen und Helfer der Polizei.
({0})
Sie passen auf und achten auf die Exekutive und die Legislative. Es ist ihr Auftrag, etwas öffentlich zu machen,
und nicht, anderen bei ihren Ermittlungen zu helfen. Wir
haben in der Bundesrepublik eine Gewaltentrennung.
Wenn dieser Gesetzentwurf nach ein paar Änderungen gut
wird, ist das ein guter Tag für die Gewaltenteilung.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ich denke, es besteht ein hohes Maß an Übereinstimmung in der Beurteilung der Aufgabe unserer Presse
und der damit verbundenen Pressefreiheit nach Art. 5 unserer Verfassung. Es ist auch richtig, dass die Freiheit der
Berichterstattung durch Rundfunk und Medien für unsere
Demokratie schlechthin konstitutiv oder konstituierend
ist, wie es Herr Meyer vorhin gesagt hat. Das hat auch
das Bundesverfassungsgericht so ausgedrückt, und zwar
aus gutem Grund: Allein unabhängige, von staatlichem
Zwang freie Medien garantieren ein breites Spektrum veröffentlichter Meinungen und davon lebt die politische
Willensbildung.
Nicht weniger wichtig - auch das ist angesprochen
worden - ist die Wächterfunktion der Medien. Häufig
ist es Journalistinnen und Journalisten zu verdanken, dass
verborgenes, zum Teil rechtswidriges oder gar kriminelles
Handeln an das Licht der Öffentlichkeit dringt. Insofern
schützt Art. 5 des Grundgesetzes die Freiheit von Presse
und Rundfunk umfassend, und zwar von der Beschaffung
von Informationen bis zur Verbreitung von Nachrichten
und Meinungen.
({0})
- Geschützt, lieber Herr Geis, ist somit neben dem Vertrauensverhältnis zwischen dem Journalisten und seinem
Informanten auch die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit, einschließlich des Ergebnisses eigener Recherche.
Das ist für die Verwirklichung dieses Grundrechts unabdingbar. Diese Freiheit darf auch aus Gründen der Strafverfolgung nicht ausgehöhlt werden.
Auf der Ebene des einfachen Rechts räumt die Strafprozessordnung den Journalisten bislang ein Zeugnisverweigerungsrecht nur für die von Dritten zugetragenen Informationen ein. Dieses Recht ist darüber hinaus bisher
auf die Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung ganz
bestimmter Medienerzeugnisse beschränkt: nur auf periodisch erscheinende Druckwerke, zum Beispiel Zeitungen, und Rundfunksendungen. Das ist nach unserer Auffassung einfach zu eng.
Weil die Beschlagnahmeverbote vom Umfang des
Zeugnisverweigerungsrechts abhängig sind, kann deshalb
grundsätzlich auch selbst recherchiertes Material beschlagnahmt werden. Informationen, die für ein Buch von Bedeutung sind oder die einer Veröffentlichung in den elektronischen Medien dienen, können sogar voll umfänglich,
das heißt auch dann, wenn es sich um von einem Informationsdienst oder Informanten zugetragene Erkenntnisse handelt, sichergestellt werden. Diesen Zustand
wollen wir angesichts des verfassungsrechtlichen Stellenwertes und im Sinne eines umfassenden Schutzes der Medienfreiheit ändern. Er führt heute zu Unsicherheiten bei
der Rechtsanwendung durch die Staatsanwaltschaften
und die Gerichte.
Dazu hat übrigens auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beigetragen. Es hat festgestellt,
dass sich ein Beschlagnahmeverbot im Einzelfall unmittelbar aus der Verfassung ergibt, und zwar über die Bestimmung der Strafprozessordnung hinaus. Deshalb ist es
wichtig, dass wir die Voraussetzungen, unter denen sich
ein solches Recht ergibt, definieren, weil sie von den
Strafverfolgungsbehörden nicht immer sicher bestimmt
werden können.
({1})
Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung stärkt das Zeugnisverweigerungsrecht von Journalisten, ohne dass dadurch die Wirksamkeit der Kriminalitätsbekämpfung Schaden nehmen würde. Er schafft - das
habe ich schon gesagt - ein Mehr an Rechtssicherheit und
Rechtsklarheit und legt gleichzeitig fest, wann der Journalist zur Aufklärung schwerer Straftaten trotz des verfassungsrechtlich geschützten Redaktionsgeheimnisses
beitragen muss.
Erstmals wird ein Recht auf Zeugnisverweigerung
auch den Journalisten eingeräumt, die bei nicht periodisch
erscheinenden Druckwerken mitwirken, also zum Beispiel bei Büchern, bei Filmberichten oder bei Informations- und Kommunikationsdiensten, die der Unterrichtung
und der Meinungsbildung dienen, und zwar berufsmäßig,
wie ich hervorheben möchte. Mit dieser Erweiterung wird
endlich der Ungleichbehandlung gleichwertiger Medienerzeugnisse ein Ende gesetzt. Zugleich wird mit der
Einbeziehung von Informations- und Kommunikationsdiensten neuen Formen der Informationsvermittlung und
der Meinungsbildung Rechnung getragen. Presse- und
Rundfunkfreiheit werden somit auch in der hoch technologisierten Mediengesellschaft der Zukunft effektiv geschützt bleiben.
Ein weiterer wichtiger Punkt: In Zukunft wird das
selbst recherchierte Material grundsätzlich nicht mehr
dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden unterliegen.
Allerdings zieht der Gesetzentwurf auch hier eine klare
Grenze: Ein Journalist, der aufgrund selbst recherchierter
Erkenntnisse zur Aufklärung eines Verbrechens, also einer Straftat, die mit einer Mindeststrafe von einem Jahr
Freiheitsentzug bedroht ist, beitragen kann, muss dieses
Wissen als Zeuge den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stellen.
({2})
Ich finde, dass dies eine ebenso praxistaugliche wie nachvollziehbare Abwägung zwischen der Pressefreiheit und
den Belangen einer effektiven Strafverfolgung darstellt.
In der Tat ist es so, dass man diese Abwägung sehr sorgfältig vornehmen muss. Ich bin überzeugt, dass wir in den
Beratungen in den zuständigen Ausschüssen auf diese
Fragen noch ausführlich zu sprechen kommen werden.
Ich möchte zum Schluss noch einen Blick - das ist
schon vorhin kurz angedeutet worden - auf unsere europäischen Nachbarn werfen, von denen einige in letzter
Zeit den Schutz des Redaktionsgeheimnisses im Interesse freier Medien gestärkt haben. Ich denke hier insbesondere an die Schweiz mit ihrem Strafverfahrensrecht
aus dem Jahre 1998. Auch in den Niederlanden ist die
Rechtsprechung seit kurzem dazu übergegangen, die Unterscheidung zwischen zugetragenen und selbst recherchierten Erkenntnissen grundsätzlich aufzugeben. Ich
kann also sagen, dass wir uns mit dem Gesetzentwurf auf
einem weithin anerkannten europäischen Standard bewegen. Die Stärkung des Zeugnisverweigerungsrechts von
Journalisten ist nicht zuletzt in diesem europäischen Kontext ein wichtiges rechtspolitisches Reformvorhaben.
Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf setzt die Freiheitsgarantien des Grundgesetzes für Rundfunk und
Presse in das Strafverfahrensrecht um. Er trägt aber auch
dem berechtigten Anspruch der Menschen auf wirksame
Verbrechensbekämpfung Rechnung.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5166 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie die Zusatzpunkte
7 und 8 auf:
9. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz
- Drucksachen 14/4884, 14/5462 Berichterstattung:
Abgeordnete Rudolf Bindig
Claudia Roth ({1})
Carsten Hübner
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut
Haussmann, Hildebrecht Braun ({2}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Stärkeres deutsches Engagement auf der 57. Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen
- Drucksache 14/5452 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({3})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Deutsche Initiative zum Schutz der Binnenvertriebenen
- Drucksache 14/5453 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine
halbe Stunde für die Aussprache vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Lilo Friedrich.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am heutigen Internationalen Frauentag gibt es einen
besonderen Grund zu feiern. Der Internationale Frauentag
wird 90 Jahre alt. Seit neun Jahrzehnten begehen Frauen
in aller Welt am 8. März einen frauenpolitischen Aktionstag, um ihren Forderungen nach Gleichstellung öffentlichkeitswirksam Nachdruck zu verleihen und ihr Engagement für internationale Solidarität zu bekunden.
({0})
Der heutige Tag ist aber kein Anlass zu feiern, wenn
wir unser Augenmerk auf die Situation der Flüchtlinge
richten; denn in vielen Ländern der Welt bleiben Frauen
die Rechte und Chancen, die wir in den Industrieländern
erkämpft haben, noch immer versagt. Sie fliehen, weil
Leib und Leben in Gefahr sind. Sie fliehen, weil sie politisch verfolgt werden oder weil sie Opfer von geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen
sind. Sie fliehen vor nichtstaatlichen Akteuren und aus
zerfallenen Staaten.
Unsere Aufgabe ist es, Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Hierzu wollen wir mit unserem Antrag, den wir
heute beraten, einen wichtigen Beitrag leisten.
({1})
Er resultiert nicht zuletzt aus den Folgerungen, die wir
durch die Anhörung des Menschenrechtsausschusses zur
nichtstaatlichen Verfolgung gewinnen konnten.
Die Vorsitzende des Ausschusses wird heute zum letzten Mal in dieser Funktion im Deutschen Bundestag reden. Liebe Claudia, für dein engagiertes und mutiges Eintreten für die Belange der Menschenrechtspolitik möchte
ich dir stellvertretend für den Ausschuss heute herzlich
danken.
({2})
Wir alle wünschen dir für deine zukünftigen Aufgaben
viel Glück. Ich bin sicher, wir werden heute nicht das
letzte Mal für gemeinsame Ziele streiten.
Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz, so lautet
die Kernaussage unseres Antrages. Um dieser Anforderung gerecht werden zu können, sind uns mehrere Punkte
wichtig. Bei der Definition des Flüchtlingsbegriffs hat
sich in Deutschland eine Rechtsprechung entwickelt,
nach der die Verfolgung vom Staat ausgehen oder ihm zurechenbar sein muss. Aber immer mehr Menschen auf der
Welt flüchten vor nichtstaatlicher Verfolgung. In einigen Ländern haben sich zentralstaatliche Strukturen aufgelöst. An ihre Stelle sind völkerrechtlich nicht anerkannte, quasistaatliche Strukturen getreten.
Ein Beispiel hierfür ist Afghanistan. Zurzeit richtet
sich das Augenmerk der Weltöffentlichkeit vor allem auf
die sinnlose Zerstörung der Kulturschätze dieses Landes.
Wir dürfen darüber aber nicht vergessen, dass es vor allem Menschen sind, die in diesem Land leiden müssen.
Menschen, die das Taliban-Regime als politisch und religiös Andersdenkende einordnet, werden verfolgt und
müssen um Leib und Leben fürchten. In besonderem
Maße sind hiervon Frauen betroffen. Sie haben keine
Möglichkeit, arbeiten zu gehen, werden ins Haus gesperrt
und sind häufig Opfer von gesellschaftlich bedingter
geschlechtsspezifischer Verfolgung. Oft sehen Frauen
Flucht als einzige Möglichkeit an, diesen Qualen zu
entgehen. Sie fliehen dann aber vor Verfolgungen, die
nicht unmittelbar vom Staat ausgehen. Um Menschen wie
sie geht es, wenn wir von nichtstaatlich Verfolgten sprechen.
Nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist der Schutz
eines Flüchtlings oberstes Ziel. Sie besagt, dass kein
Flüchtling in ein Land zurückgeschickt werden darf, in
dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht sind. Nach
dieser Schutztheorie ist es unerheblich, ob der Urheber
der Verfolgung staatlich oder nichtstaatlich ist. Es kommt
allein auf den fehlenden Schutz an.
({3})
In Deutschland erhalten nichtstaatlich Verfolgte bislang allenfalls den Status der Duldung; das heißt, sie werden nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Das
heißt aber auch: Ein solcher Status bietet keine planbare
Zukunftsperspektive. Aus menschenrechtlicher Sicht halten wir es deshalb für notwendig, dass auch diesen Flüchtlingen Schutz vor Abschiebung gewährt wird und dass
geduldete Flüchtlinge, für die eine Rückkehr in ihr Herkunftsland eine besondere Härte darstellen würde, leichter eine Aufenthaltsbefugnis erhalten sollen.
({4})
Bei den Entscheidungen über Abschiebehindernisse
nach § 53 Ausländergesetz sollte unserer Meinung nach
auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
für Menschenrechte stärker berücksichtigt werden. Einen
entscheidenden Schritt hin zu einer verbesserten Situation
der Flüchtlinge in unserem Land haben wir bereits mit der
stärkeren Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen
Verfolgung durch die Änderung der Verwaltungsvorschriften erreicht. In der Praxis geht das hin bis zu Regelungen in Dienstvorschriften.
Meine Damen und Herren, seit Amtsbeginn der rotgrünen Regierung hat sich in der Flüchtlings- und Ausländerpolitik schon vieles positiv bewegt. Das zeigt sich
nicht nur auf politischer Ebene. Auch der Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts zur politischen Verfolgung
vom August letzten Jahres hat eine wichtige Fortentwicklung der deutschen Rechtsprechung eingeleitet. Erst vor
wenigen Tagen ist das Bundesverwaltungsgericht dieser
Auffassung gefolgt. Damit wird zukünftig für Bürgerkriegsflüchtlinge die Anerkennung von Asyl nicht mehr
von vornherein - mangels staatlicher Strukturen - ausgeschlossen. Neben Afghanistan könnte diese neue Rechtsprechung auch Fälle aus Nordirak und Somalia betreffen.
Allerdings bedeutet das nicht, dass generell ein Anspruch
auf Asyl besteht. Die Verfolgung ist auch weiterhin im
Einzelfall nachzuweisen.
Es wird nun darauf ankommen, die Möglichkeiten zu
prüfen, die durch den Beschluss eröffnet wurden. Ermutigend ist, dass sich insbesondere durch die neue Leitung
des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge unter dem neuen Präsidenten, Herrn
Dr. Schmid, eine positive Entwicklung abzeichnet.
({5})
Die Tendenz zu mehr Offenheit gegenüber nichtstaatlich
oder geschlechtsspezifisch verfolgten Flüchtlingen begrüßen wir ausdrücklich.
Wir dürfen nicht vergessen, dass auch für Kriegs- und
Bürgerkriegsflüchtlinge ein dringender Schutzbedarf besteht. Die Innenministerkonferenz hat den interfraktionellen Antrag zu den humanitären Grundsätzen der Flüchtlingspolitik, den wir im Juli einstimmig verabschiedet
haben, im November vergangenen Jahres positiv aufgegriffen, und zwar insofern, als nun schwer traumatisierte
Bosnier und Bosnierinnen weiter in Deutschland bleiben
dürfen. Fortgeführt wurde diese richtungsweisende Entscheidung vor drei Wochen. Die Innenministerkonferenz
hat am 15. Februar beschlossen, bosnischen Flüchtlingen unter bestimmten Voraussetzungen ein dauerhaftes
Bleiberecht in Deutschland einzuräumen. Damit wird unserem Anliegen entsprochen, eine seit langem geforderte
Lösung für die bosnischen Flüchtlinge zu finden. Dies ist
meiner Meinung nach eine gute Lösung, denn sie berücksichtigt humanitäre Gesichtspunkte.
({6})
Wir begrüßen ausdrücklich die Initiativen von Bundesinnenminister Otto Schily und die nun erzielte Einigung mit den Innenministern und mit den Senatoren der
Länder.
({7})
Es ist sehr zu hoffen, dass auf der nächsten Innenministerkonferenz im Mai eine ähnlich gute Lösung für Flüchtlinge aus dem Kosovo beschlossen werden kann.
({8})
Lassen Sie mich abschließend den Blick noch einmal auf
die konkrete Situation in unserem eigenen Land lenken:
Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Rechtsradikalismus
in der Bundesrepublik Deutschland treffen jene Menschen
besonders schmerzlich, die als Flüchtlinge hierher gekommen sind, auf der Suche nach Schutz. Ein Leben in Angst
vor Diskriminierung und gewalttätigen Attacken ist unwürdig. Ob Deutschland seinem Anspruch als ein menschliches
und weltoffenes Land dauerhaft gerecht wird, hängt wesentlich auch davon ab, ob es gelingt, Flüchtlinge und Einwanderer sozial zu integrieren. Dies ist eine der großen gesellschaftspolitischen Aufgaben unserer Zukunft.
({9})
Daher kann ich als waschechte Rheinländerin
({10})
die jüngsten Äußerungen des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden, Friedrich Merz, nur als schlechten Karnevalsscherz werten,
({11})
Lilo Friedrich ({12})
der ein Verbot der politischen Betätigung von Asylbewerbern gefordert hat. Dies bedeutet im Klartext, dass
Augenzeugen von Völkermord und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit mundtot gemacht werden sollen.
({13})
Flüchtlinge, die ihr Leben mit knapper Not retten konnten, sollen nach dem Willen von Merz schweigend zusehen, wie ihre Angehörigen und Freunde ermordet, bombardiert, vergewaltigt und vertrieben werden. Das ist
unzumutbar.
({14})
Politische Beteiligung ist ein Grundrecht in der Demokratie, auch für Flüchtlinge, Herr Merz. Stellen Sie sich
vor, Thomas Mann und mit ihm vielen anderen Schriftstellern, die während des Nationalsozialismus ins Exil
gingen, wäre es verboten gewesen, ihre Kritik an Hitler
und am Dritten Reich zu äußern.
Die Erfahrungen aus der Geschichte haben uns gelehrt,
dass das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl ein
kostbares Gut ist, das auch in Zukunft gewährleistet werden muss. Es ist aber auch unsere Aufgabe, sämtliche Formen von Fremdenfeindlichkeit entschlossen zu bekämpfen. Wir müssen für Verständnis und Toleranz gegenüber
Flüchtlingen werben und wir müssen für einen humanen
Flüchtlingsschutz eintreten. Um den Weg dahin beschreiten zu können, appelliere ich an alle Fraktionen des Deutschen Bundestags, unserem Antrag zuzustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der heute zur
Entscheidung anstehende Antrag der Regierungsfraktionen „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“
wurde aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Amtes
des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, UNHCR, eingebracht. Die Arbeit des UNHCR wird
in diesem Antrag dargestellt und gewürdigt; dem UNHCR
wird für seine Leistung höchster Respekt bezeugt. Dieser
Wertschätzung des UNHCR möchte ich mich für die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich anschließen.
Der stellvertretende Vorsitzende unseres Ausschusses
für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Christian
Schwarz-Schilling, hat am 7. Dezember in einer Debatte
dieses Hauses die Arbeit des UNHCR, insbesondere die
der früheren Hochkommissarin Ogata, mit Worten gewürdigt, die Ihrer aller Zustimmung gefunden haben. Wir
wünschen auch ihrem Nachfolger, dem niederländischen
Christdemokraten Ruud Lubbers, allen nur erdenklichen
Erfolg bei seiner Arbeit zur Linderung der Not von
Flüchtlingen in aller Welt.
({0})
In einem gemeinsamen Antrag der Regierungsfraktionen und der Oppositionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P.
„Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend“ wird die Bundesregierung ausdrücklich aufgefordert, sich für eine Stärkung des UNHCR einzusetzen.
Geht es um Flüchtlingspolitik - Sie, Frau Kollegin
Friedrich, haben darauf hingewiesen -, besteht auch Anlass, an den hier seinerzeit einstimmig verabschiedeten
Gruppenantrag „Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten“ zu erinnern und den Initiatoren zu
danken. Indem die Innenminister dem damaligen Appell,
gerade Traumatisierten und anderen hier ein Bleiberecht
einzuräumen, gefolgt sind, hat, wie es der deutsche Vertreter des UNHCR zu Recht ausdrückte, „die beeindruckende Geschichte der Aufnahme und Rückkehr der
bosnischen Flüchtlinge ihren würdigen Abschluss gefunden“.
Trotz dieser von mir bewusst an den Anfang gestellten
Gemeinsamkeiten besteht unseres Erachtens dennoch
kein Anlass, Ihrem heute vorliegenden Antrag „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“ zuzustimmen.
Dieser Antrag bleibt in wichtigen konkreten Fragen der
Flüchtlingspolitik bewusst schwammig, um Gegensätze
in der Koalition wie auch zwischen den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zu übertünchen.
Grundlegende Meinungsverschiedenheiten zwischen
der Bundesregierung und den Antragstellern gibt es schon
bei der Beurteilung zentraler Sachverhalte. Dies zeigte
sich auch im anlässlich der gestrigen Beratung im federführenden Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre
Hilfe stattfindenden Gespräch mit Ihnen, Frau Staatssekretärin Dr. Sonntag-Wolgast.
Lassen Sie mich dies konkretisieren - Stichwort
„nichtstaatliche Verfolgung“ -: Am 29. November 1999
fand zu diesem Thema eine öffentliche Anhörung des
Menschenrechtsausschusses statt. Mehr als ein Jahr danach ziehen die Koalitionsfraktionen nun die Konsequenzen und stellen fest, dass nichtstaatlich Verfolgten allenfalls der Status der Duldung zugesprochen werde, der
ihnen aber keine planbare Zukunftsperspektive biete. Dagegen stellte Presseberichten zufolge Bundesinnenminister Schily erst im Februar anlässlich eines Treffens der
EU-Innen- und -Justizminister in Stockholm fest, er lehne
es ab, auch nichtstaatliche Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen. Sie, Frau Staatssekretärin, bestritten aber in
der gestrigen Sitzung, dass es eine Schutzlücke gibt, und
wiesen darauf hin, dass auch bei Opfern nichtstaatlicher
Verfolgung eine Verfestigung ihres Aufenthaltsrechts dahin gehend möglich sei, dass ihnen eine Befugnis nach
§ 30 des Ausländergesetzes erteilt wird. Damit erklärten
Sie die zitierte Aussage des Antrags für schlicht unzutreffend.
So vage im Antrag die Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes ist, so unklar bleibt die als Auffassung
Lilo Friedrich ({1})
- nicht etwa als Forderung; denn dann könnte man es ja
nachprüfen - vorgetragene Meinung, es solle den Opfern
nichtstaatlicher Verfolgung Abschiebeschutz gewährt
werden. Ein solcher Abschiebeschutz wird den Opfern
nichtstaatlicher Verfolgung auch heute schon nach § 53
Abs. 6 des Ausländergesetzes gewährt, wobei die Rechtsprechung ein zwingendes Abschiebehindernis jedenfalls
dann annimmt, wenn andernfalls den Betroffenen eine unmittelbar bevorstehende Gefahr für Leib oder Leben
droht.
Wenn Sie für die Opfer nichtstaatlicher Verfolgung
eine Anwendung des § 51 des Ausländergesetzes, das so
genannte kleine Asyl, wollen, dann müssen Sie dies sagen. Wenn Sie darüber hinaus für eine derartige Anwendung des § 51 des Ausländergesetzes eine Gesetzesänderung für notwendig halten, wie es gestern in einer
Pressemitteilung des UNHCR in Deutschland für erforderlich erklärt wurde, dann müssen Sie auch dies klar sagen.
({2})
Beispiel: geschlechtsspezifische Verfolgung. Sie fordern, geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen - an diesem Tag besteht aller Anlass, gerade daran zu
erinnern -, für die es in der Tat schreckliche Beispiele in
wahrlich großer Zahl gibt, stärker zu berücksichtigen,
({3})
ohne aber zu erläutern, wo Sie nach der Veränderung der
allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 53 des Ausländergesetzes heute noch einen konkreten Mangel sehen.
Nach der gestern im Menschenrechtsausschuss vorgetragenen Auffassung der Bundesregierung stellen die geänderten Verwaltungsvorschriften und die sicherlich von
uns allen zu begrüßenden entsprechenden und fortlaufenden Fortbildungsmaßnahmen für die Entscheiderinnen und Entscheider insgesamt ein Maßnahmebündel
dar, das ausreicht. Wenn Sie darüber hinaus etwas tun
wollen, dann sagen Sie, was getan werden soll.
Beispiel: Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Wie
Sie selbstverständlich wissen, wirkt diese Rechtsprechung nur unter den Verfahrensbeteiligten. Angesichts einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die eine restriktivere Auslegung der Genfer
Flüchtlingskonvention zum Inhalt hat, müssen Sie sagen,
wie Sie diese Berücksichtigung anstreben wollen; denn
aus gutem Grunde geht das nicht per „Dienstanweisung“
durch Parlament und Regierung. Wenn Sie die Rechtsprechung durch eine andere Gesetzesgrundlage ändern wollen, dann sagen Sie, welche gesetzliche Grundlage Sie für
diese neue Rechtsprechung ändern wollen.
({4})
- Werden Sie konkret bei dem, was Sie ändern wollen.
Dann können wir uns über Ihre Vorschläge streiten.
Beispiel: Vorbehalte bei der UN-Kinderrechtskonvention. Erneut tragen Sie als Auffassung vor, dass die
Vorbehalte gegenüber dieser Konvention zurückgenommen werden sollen. Die Bundesregierung erklärte dagegen im Dezember, dass für sie eine derartige Rücknahme
der Erklärung nicht in Betracht komme. Überrascht und
quasi nebenbei erfuhren die meisten Mitglieder des Menschenrechtsausschusses gestern, dass das Bemühen, unter
den Bundesländern einen Konsens für eine solche Aufhebung zu finden, im Herbst eingestellt wurde.
({5})
- Dann sagen Sie konkret, was Sie fordern. - Bedenken
nicht zuletzt der Stadtstaaten, darunter das rot-grüne
Hamburg, haben diesen Konsens bisher verhindert.
Beispiel: Zugang von Asylsuchenden zu fairen,
rechtsstaatlichen Verfahren als Kernpunkte einer Harmonisierung der Asylverfahren in der Europäischen
Union. Ist dies angesichts der Rechtslage in Deutschland
wie in den anderen EU-Staaten nicht eine pure Selbstverständlichkeit? Oder verbirgt sich dahinter die Forderung
des UNHCR, dem Asylberechtigten Zugang zu einem fairen, rechtsstaatlichen Verfahren in einem Land seiner
Wahl einzuräumen? Dies wäre Aufgabe jener Drittstaatenregelung, die auch das Bundesinnenministerium für
einen unverzichtbaren Bestandteil des deutschen Asylrechts hält. Wollen Sie an dieser Regelung festhalten oder
nicht? Werden Sie konkret!
So viel Unklarheit wird den schwierigen und wichtigen
Fragen des Flüchtlings- und Asylrechts in keiner Weise
gerecht. Die mangelnde Qualität Ihres Antrages wird sich
übrigens auch darin zeigen, dass der heutigen Beschlussfassung durch die Regierungsmehrheit keine konkrete Änderung in den gerichtlichen oder politischen Entscheidungen folgen wird.
Im Zuge - dies ist meine Hoffnung - der zukünftigen
Zuwanderungsregelung und der Harmonisierung des
Asylrechts auf europäischer Ebene werden uns die in
Ihrem Antrag unzureichend behandelten Themen weiter
beschäftigen. Wir hoffen, dass diese Fragen dann einer
sachgerechten und angemessenen Lösung zugeführt werden können. Dazu werden dann auch andere wichtige Fragen der Flüchtlingspolitik gehören, etwa der Zugang von
jungen Ausländern, die lediglich den Rechtsstatus der
Duldung haben, zum Ausbildungsmarkt und zu öffentlich
geförderten Ausbildungsmaßnahmen. Ich denke, gerade
über dieses Thema sollten wir alle erneut nachdenken und
hier zu einem Fortschreiten kommen.
({6})
Die heutige Debatte - Frau Kollegin Friedrich hat es
gesagt - ist zugleich die letzte Bundestagsdebatte, an der
die Vorsitzende unseres Ausschusses, Claudia Roth, in
dieser Funktion teilnehmen wird, wobei ich mir die nicht
ganz unernst gemeinte Äußerung schon erlauben möchte,
dass man einmal darüber nachdenken sollte, ob Regelungen, die zu einem solchen Mandatsverzicht zwingen, eiHermann Gröhe
gentlich noch mit der Berufsfreiheit und der Freiheit des
Mandats vereinbar sind.
({7})
Nun will ich aber weder das für einen Oppositionsvertreter zulässige Maß des Lobes überschreiten noch durch
zu viel Lob ihr Wahlergebnis auf dem Parteitag der Grünen vermindern.
({8})
Danken will ich ihr allerdings für ein ausgesprochen faires Miteinander im Ausschuss, das bei manchem Streit in
einzelnen Fragen von dem gemeinsamen Bemühen bestimmt war, für die Menschenrechtsidee, für die Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen und die Solidarität mit den Opfern einzutreten.
Ihrer Freude am fröhlichen Streit in der Sache werden
wir auch angesichts ihrer künftigen Funktion gerne gerecht werden, zumal wir sicher sind, dass sie uns dazu
immer wieder Gelegenheit geben wird.
Vielen Dank.
({9})
Die vielfach Geehrte hat jetzt das Wort: Claudia Roth.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Lilo Friedrich, lieber Hermann Gröhe, herzlichen Dank für die guten Wünsche. Nur, bei uns
entscheidet die Bundesdelegiertenkonferenz, ob eine
Bundesvorsitzende gewählt wird oder nicht.
({0})
In circa 24 Stunden wissen Sie und weiß ich hoffentlich,
ob ich heute Abend tatsächlich zum letzten Mal in der
Funktion der Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses gesprochen habe. Ich danke Ihnen aber auf jeden
Fall für Ihre schönen Worte. Das tut ja auch gut.
Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz. Weil
Menschenrechte immer zu Hause anfangen, hat es viel mit
unserer Glaubwürdigkeit zu tun, zu überprüfen, wie stabil
das Fundament für die Menschenrechte in unserem Land
ist und ob humanitäre Grundsätze im Umgang mit Flüchtlingen bei uns eingehalten werden, sowie, wenn es
tatsächlich Schutzlücken gibt, diese auch zu schließen. Es
ist ein gutes und wichtiges Zeichen, dass der Antrag
„Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“ federführend vom Menschenrechtsausschuss des Deutschen
Bundestages diskutiert und bearbeitet wurde. Dies zeigt
die Bedeutung, die wir Menschenrechten bei uns und
außerhalb unseres Landes beimessen.
Hermann Gröhe hat gefragt, wie wir es mit den Vorbehalten gegenüber der Kinderrechtskonvention halten. Lieber Hermann: So, wie es im Antrag steht. Wir fordern die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass die
Vorbehalte gegenüber der Kinderrechtskonvention zurückgenommen werden.
({1})
Ich hoffe, dass das klar genug ist, sodass auch die Opposition dieser richtigen Forderung zustimmen kann.
Lilo Friedrich hat gesagt, dass diese Debatte am Internationalen Frauentag ein wichtiges Zeichen ist. Richtig,
denn unter dem Deckmantel von Tradition, Kultur, Religion oder so genannter Moral werden weltweit Millionen
von Frauen zwangsverheiratet, als Witwen verbrannt, wegen der Familienehre getötet, zwangssterilisiert, werden
weibliche Föten abgetrieben, werden Mädchen und junge
Frauen an ihren Genitalien verstümmelt, erleiden sie
grausame und unmenschliche Strafen, werden Frauen in
Kriegen und Bürgerkriegen Opfer sexueller Gewalt. Das
Charakteristische an dieser Gewalt, an dieser geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzung ist, dass
die Opfer gerade in ihrem Frausein, in ihrer persönlichen
Integrität und der mit ihrem Geschlecht verbundenen gesellschaftlichen Rolle getroffen werden sollen.
Wir haben in den letzten Tagen zu Recht empört auf die
Zerstörungen unschätzbarer Kulturgüter in Afghanistan
reagiert. Vielleicht schafft dies eine Vorstellung über die
barbarische Verfolgung von Frauen in Afghanistan und
über die umfassende Entrechtung, die Frauen dort erleiden. Nach der Delegationsreise des Menschenrechtsausschusses nach Afghanistan in die Hölle des TalibanRegimes ist mir klar geworden, was umfassende
Entrechtung bedeutet, was die Verweigerung der Rechte
auf Arbeit, auf Gesundheit, auf Erziehung und auf Bildung sowie des damit verbundenen Rechts bedeutet, überhaupt eine Zukunft zu haben. Für mich ist das politische
Verfolgung. Die Nichtgewährung eines entsprechenden
Asylstatus bei uns hat nichts mit der Realität dieser
Frauen und ihrer umfassenden Entrechtung zu tun, sondern ist von einer innenpolitischen Flüchtlingsabwehrperspektive geprägt. Das wollen und müssen wir ändern.
({2})
Der moralische Imperativ unseres Rechtsstaats, Art. 1
unseres Grundgesetzes, lautet:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. ...
Frauen sind auch Menschen und Frauenrechte sind auch
Menschenrechte. Die Würde all dieser Frauen wird angetastet. Deswegen haben sie Anspruch auf volle Schutzgewährung in unserem Land. Auch dies will dieser Antrag
ausdrücken.
Amnesty berichtet über Folter und Misshandlung von
Frauen und belegt, was geschlechtsspezifische Verfolgung bedeutet. Es ist Zeit, dass dies in den Asylverfahren
stärker berücksichtigt wird. Wie Lilo Friedrich möchte ich
mich sehr positiv über die deutlichen Veränderungen im
Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge äußern, die ohne Zweifel die Handschrift des
neuen Präsidenten Dr. Schmidt tragen. Vielen Dank,
Dr. Schmidt. Die qualifizierte Schulung von Einzelentscheidern und Dolmetschern ist ein erster wichtiger
Schritt in die Richtung, Flüchtlinge nicht als Bedrohung,
sondern als schutzwürdige Menschen zu empfinden.
({3})
Geschlechtsspezifische Verfolgung ist sehr oft nichtstaatliche Verfolgung. Auch dazu nimmt unser Antrag
Stellung. Er ist für den besseren Schutz von Menschen
richtungsweisend, die Opfer von nichtsstaatlicher Verfolgung in unserem Land werden.
Lieber Hermann, ich bin sehr gespannt auf eure klaren
und präzisen Vorschläge, wie mit nichtstaatlicher Verfolgung zukünftig umgegangen werden soll. In diesem Zusammenhang hat das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Asylerheblichkeit der Verfolgung in
Afghanistan eine Bedeutung und ist zu begrüßen, denn es
macht den Weg für die Anerkennung afghanischer Flüchtlinge frei, die ihnen bisher mit dem Argument verweigert
wurde, die Taliban würden über keine staatliche Autorität
verfügen.
Wir konnten uns - ob einem das nun gefällt oder nicht vom Gegenteil überzeugen. Es gibt de facto staatliche
Strukturen, und es reicht nicht aus, eine nichtstaatliche
Verfolgung aus der Tatsache abzuleiten, dass die
Bundesrepublik Deutschland aus gutem Grund die Taliban völkerrechtlich nicht anerkennt.
({4})
Unser Festhalten am Grundrecht auf Asyl ist ein Bekenntnis zu unserer historischen Verantwortung. Der
Art. 16 a des Grundgesetzes ist für uns keine „Verfassungsfolklore“, sondern Ausdruck einer klaren Wertorientierung deutscher Asylpolitik, denn der verfassungsrechtlich abgesicherte Flüchtlingsschutz stellt klar:
Asylrecht ist Menschenrecht. Es ist Opportunitätserwägungen der Politik entzogen. Über grundsätzliche Fragen
im Bereich des Asylrechts kann und soll auch zukünftig
nur mit einer verfassungsändernden Mehrheit entschieden
werden können.
Was wir in diesem Land brauchen, ist die Umkehr der
Logik der Debatte. Flüchtlinge sind keine Bedrohung,
über die man redet wie über Naturkatastrophen. Niemand verlässt seine Heimat ohne Grund. Was wir brauchen - das sagen Menschen wie Dr. Schwarz-Schilling
oder Heiner Geißler in unserem Ausschuss, dem Menschenrechtssausschuss, und das ist zu unterstützen -, ist
das Ende der Diskreditierung und Kriminalisierung von
Flüchtlingen und ein Ende des Missbrauchs der Sprache.
({5})
Wer von „Asylmissbrauch“ redet, wenn jemand ein
Grundrecht in Anspruch nehmen will, der missbraucht die
Sprache.
Es ist viel von der Zukunftsfähigkeit, vom Standort,
von der Modernisierung Deutschlands die Rede. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die Zukunftsfähigkeit dieses Landes auch und
gerade davon abhängt, welcher Wert demokratischen
Rechten beigemessen wird, wie stark das Fundament für
die Grundrechte in unserem Land ist.
In diesem Sinn brauchen wir eine Renaissance der
Grundrechte, eine Renaissance der Menschenrechte, damit sich in Köpfe und Herzen vermittelt, dass das Allermodernste, was wir haben, diese Rechte sind, dass sie uns
unglaublich reich machen, dass sie uns etwas nützen, dass
sie unserer Demokratie nützen. Ich hoffe, das kommt auch
beim bayerischen Innenminister an. Das gilt in besonderem Maße für das individuelle Grundrecht auf Asyl. Es ist
unantastbar und muss in seiner Auslegung an einen modernen Begriff des Flüchtlings angepasst werden.
Vielen Dank, liebe Kollegen! Jetzt werde ich doch ein
bisschen wehmütig, aber wir sehen uns ganz sicher wieder.
({6})
Liebe Claudia
Roth, ich glaube, der Beifall hat gezeigt - wir wollen
natürlich alle nicht beschwören, was da nun in 24 Stunden
passiert -, dass dir alle Mitglieder des Hohen Hauses für
deine Arbeit danken und für die Zukunft alles Gute wünschen.
({0})
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine LeutheusserSchnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich darf mit dem Dank an die Noch-Vorsitzende des
Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
beginnen, für die hervorragende Zusammenarbeit danken,
ebenso für das Aufgreifen vieler sehr interessanter Anliegen aus der Mitte des Ausschusses und für das Anstoßen
vieler Themen, auch gerade der Themen, die verdeutlichen, dass Flüchtlingsfragen und die Situation von
Flüchtlingen in Deutschland auch eine Aufgabe im Rahmen des Menschenrechtsschutzes sind. Dass das zu Verwirrungen führen kann, haben wir ja in der Vorbereitung
auf unsere letzte Sitzung erlebt. Auch ich wünsche Ihnen
alles Gute für das, was ab morgen Abend mit großer Wahrscheinlichkeit auf Sie zukommt.
Meine Damen und Herren, wir hatten einstimmig einen
interfraktionellen Antrag zu den humanitären Grundsätzen in der Flüchtlingspolitik beschlossen. Der hat Auswirkungen gehabt. An die Bundesregierung wurden konkrete Aufforderungen gerichtet. Dann ist - dies war
Claudia Roth ({0})
mühsam, weil immer wieder nachgefasst werden musste tatsächlich etwas passiert.
Frau Friedrich, Frau Roth, genau das sehe ich in dem
Antrag, der den Titel „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“ hat und den Sie uns vorgelegt haben, nicht.
In diesem Antrag ist keine einzige Aufforderung an die
Bundesregierung enthalten. Er ist eine Bestätigung der
Auffassung des Bundestages. Natürlich ist es mit Sicherheit für die Bundesregierung sehr beeindruckend, wenn
wir hier einen solchen Antrag beschließen würden. Aber
dieser Antrag enthält noch nicht einmal die Aufforderung
an die Bundesregierung, nach einem gewissen Zeitraum
Rechenschaft darüber abzulegen, was sie in diesem Zusammenhang getan hat. Das ist meine erste große Kritik.
({1})
Er ist letztendlich mehr Schein als Sein, als das, was damit tatsächlich nach außen bezweckt werden soll.
Zum Zweiten sind in ihm sehr viele Unbestimmtheiten enthalten. Wo sind zum Beispiel Forderungen nach einem besseren Zugang zum Arbeitsmarkt? Dies ist dringend notwendig, wie wir von der Ausländerbeauftragten
in der letzten Sitzung des Menschenrechtsausschusses dezidiert vorgetragen bekommen haben. Wo sind denn die
Verbesserungen im Flughafenverfahren, über die seit
zwei Jahren beraten wird? Wo sind denn die Regelungen,
mit denen die bekannt gewordenen Schwierigkeiten und
die Unzulänglichkeiten in der Abschiebehaft beseitigt
werden sollen? Davon ist doch in Deutschland die Situation der Flüchtlinge, um die es geht, geprägt.
({2})
- Sie räumen mit diesem Antrag - das muss ich Ihnen einmal deutlich sagen - überhaupt nichts auf.
({3})
Sie räumen noch nicht einmal mit dem Vorbehalt gegenüber der Kinderkonvention auf, was Sie in der Opposition
immer gefordert haben. Sie schreiben in den vorliegenden
Antrag nur das hinein, was sowieso schon einstimmige
Beschlusslage des Hauses ist. Darauf ist einmal deutlich
hinzuweisen.
({4})
Das ist keine Verbesserung des Flüchtlingsschutzes,
auch wenn Sie versuchen, diesen Eindruck zu erwecken.
Wir können sehr viel über Dinge sprechen, über die wir
einer Meinung sind. Aber mit diesem Antrag, den Sie nach
unseren intensiven Beratungen im Ausschuss und anlässlich von Anhörungen letztes Jahr nicht so, wie Sie dies getan haben, hätten „aus der Hüfte“ ziehen dürfen und der
keine Aufforderung an die Bundesregierung enthält, bewirken Sie leider nichts.
Ich darf einen Punkt zu den Anträgen erwähnen, die die
F.D.P.-Fraktion eingebracht hat und über die nicht abgestimmt wird, nämlich zum Antrag auf Verbesserung der
Situation der Binnenvertriebenen. Das ist eine Forderung, die auch Nichtregierungsorganisationen erheben.
Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass die finanziellen und
organisatorischen Voraussetzungen des UNHCR verbessert werden. Deshalb haben wir unsere Vorschläge in Aufforderungen an die Bundesregierung gekleidet. Es sollte
in Form einer Konvention bzw. einer Vereinbarung der internationalen Staatengemeinschaft, die es bis heute, worüber der UNHCR sehr klagt, nicht gibt, eine Grundlage
für den Umgang mit Binnenvertriebenen geschaffen werden.
Ich wollte natürlich gerne noch sehr viel mehr ansprechen.
({5})
Aber gerade angesichts der Äußerungen von Kollegin
Kerstin Müller, dass die Grünen ihre Programmatik sehr
viel stärker in den Vordergrund stellen sollten, möchte ich
noch einen Punkt erwähnen: Herr Fischer hat zum Beispiel in seinen Einlassungen zum Verhalten Amerikas im
Rahmen der Militärschläge gegen den Irak gesagt, hier
würden deutsche Interessen wahrgenommen - so ist es in
der „Frankfurter Rundschau“ von gestern nachzulesen -,
und hat in diesem Zusammenhang keinerlei Bewertung
abgegeben. Er macht im Gegenteil nur deutlich, hier habe
Deutschland nicht zu kritisieren.
({6})
- Dazu kann ich Ihnen nur sagen, dass früher ganz anders
verhandelt worden ist. - Im Zusammenhang mit dem
NMD-Programm möchte ich Sie fragen: Wer hat denn damals die Auseinandersetzung über SDI angeführt?
Frau Kollegin,
achten Sie bitte auf die Zeit!
Unterwürfigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten war
früher nie Gegenstand der Außenpolitik. Wenn man einmal eine solche Position bezogen hat, dann kann man
nicht die Position vertreten, die richtig und notwendig
wäre. Von daher ist meiner Ansicht nach wichtig, dass die
Haltungen der Grünen,
Frau Kollegin!
- also die des Außenministers, die der Fraktion und die
der Partei, künftig mehr übereinstimmen, als es derzeit
der Fall ist.
({0})
Frau Kollegin,
Sie waren einerseits über der Redezeit, andererseits wollte
ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen; das
hätte Ihnen erlaubt weiterzureden. Möchten Sie diese
Zwischenfrage auch jetzt noch zulassen?
Bitte.
Es tut mir
Leid, dass meine Frage jetzt so nachgeschoben erscheint.
Ich habe mich lange genug gemeldet, aber es wurde nicht
gesehen.
Ich habe folgende kurze Frage, Frau Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger: Können Sie mir sagen,
welche Bemühungen Sie in den Jahren, in denen Sie in der
Regierungskoalition waren und zeitweise mit dem damaligen Innenminister Kanther am Kabinettstisch saßen,
unternommen haben, um all die Thesen und Forderungen,
die Sie heute vorbringen, durchzusetzen?
Frau Sonntag-Wolgast, ich kann Ihnen eines ganz klar sagen: Sie sind in Regierungsverantwortung; Sie setzen die
Maßstäbe an, an denen Sie gemessen werden. Genau das
habe ich zum Gegenstand meiner Ausführungen gemacht.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt den nächsten Redner
aufrufen. Das ist der Abgeordnete Carsten Hübner.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sonne steht im Zenit, der Saal ist brechend voll,
die Besuchertribünen auch - es ist Menschenrechtszeit im
Deutschen Bundestag!
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses! Die
PDS-Bundestagsfraktion teilt die Auffassung, dass der
UNHCR in den vergangenen 50 Jahren eine wirklich
wichtige, wertvolle und zu seiner Gründungszeit noch gar
nicht absehbare Arbeit geleistet hat und dass seine Bedeutung gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Konflikte weltweit eher steigen als sinken wird. Dafür bedarf
es allerdings, nicht zuletzt vonseiten der Bundesrepublik
Deutschland, einer entsprechenden finanziellen Ausstattung. Ich hoffe sehr, dass dieser Bewertung in den weiteren zu erwartenden Schrumpfhaushalten entsprechend
Rechnung getragen wird.
Die PDS-Fraktion hat zunächst besonders gefreut, dass
dieser Würdigungsantrag ganz im Sinne einer verantwortlichen Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik erweitert wurde und wichtige aktuelle Aspekte auch der
deutschen Asylpolitik aufgreift, nämlich die Anerkennung geschlechtsspezifischer Fluchtgründe, die Anerkennung nicht staatlicher Verfolgung, das Spannungsfeld
Entwicklungszusammenarbeit und Verpflichtung zur
Rücknahme von Flüchtlingen sowie die Implementierung
von Härtfallregelungen in der deutschen Asylpolitik. Das
sind Aspekte, die in der Debatte heftig umstritten sind, und
zwar nicht nur bei CDU und CSU, bei denen das Asylrecht
von Einzelnen inzwischen sogar gänzlich infrage gestellt
wird, sondern auch im sozialdemokratisch geführten Innenministerium Otto Schilys. Dort wird eher nach Restriktion denn nach Liberalisierung gerufen.
Umso bedauerlicher ist es, dass der Antrag - wohl mit
Rücksicht auf das Bundesinnenministerium - äußerst unkonkret geblieben ist, statt deutliche Signale zu setzen.
Wenn man es genau nimmt, enthält er nicht eine einzige
konkrete Forderung; darauf ist schon mehrmals hingewiesen worden. Statt dessen heißt es lediglich: „Der Bundestag ist der Auffassung ...“ Passiver ist es kaum zu formulieren.
Wenn man an die gestrige Sitzung des Menschenrechtsausschusses denkt, in der SPD und Grüne, die zuvor
noch frauenspezifische Fluchtgründe in diesen Antrag
aufgenommen hatten, dann aber unseren Antrag zu dieser
Frage abgelehnt haben, so merkt man, wie groß in dieser
Frage die Furcht vor konkreten Forderungen - oder soll
ich sagen: vor dem Innenminister - offenbar ist.
({1})
- Sehr gut! - Denn inhaltlich - das haben Sie in der gestrigen Sitzung bestätigt - teilen Sie die Aussagen unseres
Antrags. Sie werden also verstehen, dass ich große Zweifel an der Umsetzung des Antrages „Flüchtlingsschutz ist
Menschenrechtsschutz“ habe. Das gilt umso mehr, seit ich
gestern im Menschenrechtsausschuss erfahren durfte,
dass sich die Bundesregierung bereits seit Herbst letzten
Jahres nicht mehr bei den Ländern um die Aufhebung des
Vorbehalts gegenüber der Kinderrechtskonvention bemüht,
obwohl sie vom ganzen Haus, mit den Stimmen aller
Fraktionen, dahin gehend aufgefordert worden war. Nicht
einmal eine zeitnahe und konkrete diesbezügliche Information an die zuständigen Ausschüsse hat das Bundesinnenministerium für nötig befunden.
Dennoch wird meine Fraktion dem Antrag zustimmen nicht jedoch ohne anzukündigen, dass wir in vertretbarer
Zeit einen Bericht beantragen werden, um zu prüfen, inwieweit die Bundesregierung dem Antrag auch Taten hat
folgen lassen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Claudia, ich
möchte zum Abschluss nicht darauf verzichten, zu betonen, wie sehr ich politisch und persönlich dein zu erwartendes Ausscheiden als Kollegin, Menschenrechtlerin und
als Vorsitzende des ersten eigenständigen Menschenrechtsausschusses des Bundestages bedaure. Denn bei dir
waren Menschenrechtsthemen immer Erste-Klasse-Themen, selbst wenn wir oft nur Dritte-Klasse-Debattenzeiten zur Verfügung hatten. Und als neuer Parlamentarier
möchte ich sagen, dass ich von deiner Geradlinigkeit, deiner Unbändigkeit und deiner Toleranz und Offenheit eine
Menge lernen konnte. Liebe Claudia, du wirst uns fehlen.
({3})
Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt.
Wir kommen zur Abstimmung und zu den Überweisungen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“, Drucksache 14/5462. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/4884 anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5452 und 14/5453 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnung 10 sowie Zusatzpunkt 9 auf:
10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({0}), Gunnar Uldall, Hansjürgen
Doss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen für
die deutsche und europäische Werftenindustrie
- Drucksache 14/5137 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Heinrich Fink,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Zukunftschancen des deutschen und europäischen Schiffbaus nachhaltig verbessern
- Drucksache 14/5457 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Wolfgang Börnsen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast alle der hundert deutschen Werften haben derzeit ausreichend Wasser
unter dem Kiel. Der Neubaubestand reicht bis zu drei Jahren. Etwa 200 Neubauaufträge wurden bis Ende des Jahres 2000 geordert. Die Gesamtsumme beläuft sich auf
etwa 20,7 Milliarden DM. Ein Erfolg der 220 000 Schiffbauer, Dienstleister und Zulieferer sowie ihre Betriebsleitungen von Flensburg bis Vilshofen! Sie alle leisten eine
erstklassige Arbeit.
({0})
70 Prozent der Wertschöpfung eines Bootes werden im
Süden unseres Landes, nur 30 Prozent im Norden produziert. Werftenpolitik bleibt eine nationale Aufgabe, doch
das Logbuch wird in Brüssel geführt.
Die Förderinstrumente der Vergangenheit haben eine
Stabilisierung der Werftenlandschaft in der Bundesrepublik Deutschland bewirkt. Damit ist aber seit dem 1. Januar 2001 Schluss. Die EU hat das Ende der Wettbewerbshilfe beschlossen. Die Schiffbauförderung alter Art
wurde eingestellt. Die Bundesregierung hat sich mit ihrer
Forderung nach Verlängerung nicht durchgesetzt. Überkapazitäten auf dem Weltschiffbaumarkt, ein rapider
Preisverfall und der Grundsatz, dass Staatshilfen nicht
marktgerecht sind, haben diese EU-Entscheidung beeinflusst. Europas Werften sind jetzt schutzlos der aggressiven koreanischen Schiffbaupolitik ausgesetzt.
({1})
Die Kernfrage bleibt: Welche Zukunft haben deutsche
und europäische Schiffbauer nach diesem Zwischenhoch?
Ein isländisches Sprichwort sagt: „Die Unwissenheit ist
ein Meer, das Wissen ein Floß darauf.“ Die deutsche und
die europäische Werftindustrie sowie ihre Zulieferer
blicken auf dieses Meer und segeln in eine ungewisse Zukunft. Das Floß des Wissens, wie Schiffe gebaut werden,
steuern sie; doch fahren ihnen die Koreaner auf einem Supertanker aus Subventionen davon. 1998 lag der Weltmarktanteil Europas im Schiffbau bei 26 Prozent, der
Koreas bei 25 Prozent, aber sprunghaft steigend.
Brüssel, durch Berichte über Dumpingpreise aus Fernost beunruhigt, reagierte im November 1999 mit einer
ersten Dokumentation. Nachgewiesen wurde in diesem
Papier: Südkorea betreibt eine eklatante Wettbewerbsverzerrung durch Staatshilfen. Der Ministerrat reagierte
auf diese Meldung geradezu lustlos gelassen. Es gab keine
ernsthafte politische Reaktion, weder von der Bundesregierung noch von den anderen EU-Partnern.
({2})
1999 sank Europas Weltmarktanteil im Schiffbau auf
17 Prozent, der von Korea stieg auf 33 Prozent. Brüssel
dokumentierte die anhaltenden Beschwerden über die
Marktverzerrungen im Mai 2000 in einem zweiten Bericht. Weder der Missstand, dass die Koreaner ihre Schiffe
bis zu 40 Prozent unter den eigenen Herstellungskosten
verkaufen, noch der Tatbestand, dass der Internationale
Währungsfonds durch die Stützung des koreanischen
Won indirekt die Regierung vor Ort in die Lage versetzte,
den Großwerften weiter zu helfen, hat zu einer kraftvollen Reaktion der Kommission geführt.
Am IWF-Großkredit war Deutschland mit fast 6 Prozent beteiligt. Bundesdeutsches Geld hat zur Wiedererstarkung der koreanischen Konkurrenz beigetragen. Die
IG Metall hat diesen Sachverhalt mit dem Hinweis auf
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
den Punkt gebracht: Wir mästen unsere eigenen Schlächter. - Damals war aus Gründen der internationalen
Währungsstabilität die Initiative des IWF notwendig.
Doch den Kredit ohne Auflagen zu geben war, gelinde gesagt, grob fahrlässig.
Im vergangenen Jahr erreichten Europas Werften gerade noch einen Anteil von 15 Prozent. Deutschlands Anteil betrug 5,5 Prozent. Für beide ist das der geringste
Weltmarktanteil der vergangenen 50 Jahre. Korea kam auf
40 Prozent.
Die hier vorgelegten Daten und Fakten fußen auf dem
Dritten Bericht, den Brüssel jetzt vorgelegt hat. Er verdeutlicht noch einmal den Sachverhalt: Die Schiffbaunation Nummer eins, Südkorea, fördert den Bootsbau mit
unlauteren Mitteln.
Endlich, drei Jahre nach dem ersten Beweis dieses
Sachverhaltes reagierte auch der Ministerrat - doch völlig anders, als die Betroffenen es erwartet haben. Die
Werftenhilfe, 30 Jahre bewährt als bestes Mittel gegen die
weltweite Wettbewerbsverzerrung, wurde zum 1. Januar 2001 abgeschafft. Was die ganze Hilflosigkeit der EU
kennzeichnet: Es wurde gleichzeitig keine Maßnahme gegen die einseitige koreanische Schiffbauoffensive beschlossen, keine Handelsauflage gegen koreanische Güter
gefordert, keine Strategie entwickelt, um ein weltweites
Preisdumping zu verhindern. Der Stier Europa hat seine
Hörner eingebüßt. Deutschlands Schiffbauer und die der
anderen Länder bleiben mit ihren Existenzsorgen allein.
({3})
Noch vor einem Jahr hat der Bundeskanzler auf der
großen maritimen Konferenz in Emden versprochen:
Wir lassen unsere Werften nicht im Stich und - das hören
Gewerkschafter besonders gerne - wir werden konkret
handeln. Chefsache wurde die maritime Politik.
({4})
Nur, der Chef setzte Deutschlands Interessen in Brüssel
nicht durch. Er und der Wirtschaftsminister erlitten trotz
der Tüchtigkeit ihrer Mitarbeiter in diesem Politikfeld
eine bittere Niederlage.
Eine letzte Chance, das Ruder herumzureißen, gibt es
noch. Im Mai will der EU-Ministerrat noch einmal die
Wettbewerbsverzerrungen im Schiffbau aufgreifen. Doch
der Spielraum ist eng. Die Zeit läuft dem Rat, der drei
Jahre nicht gehandelt hat, davon.
Die koreanische Schiffbauoffensive schafft Tatsachen. Bei den Post-Panamax-Containerschiffen, die 1988
in Europa entwickelt wurden, gingen im vergangenen
Jahr 82 Prozent der Aufträge nach Fernost, 4 Prozent nach
Japan. Zum ersten Mal ging kein Auftrag mehr nach Europa. Auch bei den Kreuzfahrtschiffen, deren Hersteller
bisher in Europa zu Hause waren, gingen die ersten Aufträge nach Fernost. Deutschland gibt auch in diesem Sektor Marktanteile ab. Jeder zweite Neubauauftrag geht
heute nach Korea, Tendenz steigend. Im Windschatten
folgt die Volksrepublik China mit 7 Prozent Marktanteil.
Beide bauen ihre Kapazitäten aus. Die EU dagegen fördert mit Prämien die Stilllegung von Werften - eine Politik des Widersinns. Die Lage der kleinen und mittleren
Werften ist besonders problematisch.
Das Verständnis der Nichtschiffbaustaaten in der EU
für neue Werftenhilfen nimmt ab. Die Beihilfen erreichten im letzten Jahr 22 Prozent der Wertschöpfung. Das
bedeutet: Pro Beschäftigten im Schiffbau zahlt man
28 000 Euro. Also stützen wir einen Werftarbeiterplatz im
Jahr mit 55 000 DM. Die Möglichkeiten, den Marktmissbrauch Südkoreas im Schiffbau zu beenden, nehmen rapide ab. Die Kommission ist in Korea gescheitert. Der europäische Schiffbauverband klagt zwar, hat aber wenig
Chancen, sich bei der WTO durchzusetzen.
Einen Gesichtspunkt sollte die Maikonferenz noch aufnehmen, und zwar den, dass das Transportmittel Schiff
beispielhafte Umweltdaten aufzeigt. So liegen die CO2Emissionen im Seeverkehr bei nur zwei Gramm pro Kilometer transportierter Tonne. Bei der Schiene liegt dieser
Wert 15-mal und beim LKW-Transport 95-mal so hoch.
Auch beim Energieaufwand ist das Boot vor Bahn und
Straße mit Abstand führend.
Außerdem - auch das sollte bei der Maikonferenz beachtet werden - wäre nachhaltige Umweltpolitik auch
durch bessere internationale Umweltstandards im Seeverkehr möglich.
({5})
24 Jahre beträgt derzeit das Durchschnittsalter der Schiffe
auf unseren Meeren. Tausende instabile Rostlauben sind
darunter. Von 8 500 weltweit eingesetzten Tankern besitzen nur 1 400 eine Doppelhülle. Meereskatastrophen sind
täglich möglich. Umwelt- wie wirtschaftspolitisch gäbe
es einen Sinn, bei Alter und Sicherheit der Boote anzusetzen und zu neuen Standards zu kommen, um dem Schiffbau einen neuen Drive zu geben. Wir sind dafür.
({6})
Das Maitreffen der Wirtschaftsminister sollte auch auf
den Aspekt eingehen, die Kapazitätsbeschränkungen,
die es für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern noch
immer gibt, auszusetzen;
({7})
denn sie nehmen den Werften in Wismar, Rostock, Stralsund und Wolgast jede Luft und Flexibilität und beeinträchtigen ihre Wettbewerbsfähigkeit.
Die EU-Kommission ist grundsätzlich gegen Subventionen. Viele Experten meinen, dass die Maikonferenz nur
noch eine Alibiveranstaltung werden wird. Der mögliche
Schiffbauboom unserer Werften wird eventuell auch
durch die Maikonferenz behindert. Trotz dieser Skepsis
ersuchen wir das Parlament, den vorliegenden Antrag zu
unterstützen, und zwar in Sorge um über 100 000 Arbeitsplätze und in Verantwortung für die Zukunft einer erstklassigen, traditionsreichen Industrie. Es ist ein Gebot der
Stunde, jetzt in Brüssel die Regierung zu unterstützen.
Dieser Appell geht besonders an die Kollegen der
Bündnisgrünen, die gegen Schiffbauhilfen sind. Aber wie
wollen Sie die Werften in Europa flottmachen, wenn nicht
Wolfgang Börnsen ({8})
durch Förderung, so lange sich die Konkurrenz staatlicher
Mithilfe bedient? Nach unserer Auffassung wäre eine baldige Verabschiedung der OECD-Regelung der Königsweg, um endlich aus dem Wettlauf der Subventionen im
Schiffbau auszusteigen.
({9})
Ziel muss der Abbau aller Staatsförderung sein. Unsere Werften können trotz hoher Produktkosten der Konkurrenz standhalten, so deren eigene Aussage. Japan und
Korea sind, wie die meisten der Schiffbauländer für ein
solches Abkommen. Nur die USA, die es einmal selbst angeboten haben, sperren sich. Warum greifen wir nicht
- Herr Staatssekretär, Sie werden ja gleich sprechen - Japans Angebot auf, ohne Amerika zu einer Einigung zu
kommen?
Wir von der Union erwarten, dass der Bundeskanzler
das Thema „Wegfall der Subventionen im Schiffbau“ auf
die Tagesordnung des kommenden G-7/G-8-Gipfels setzen lässt. Wir erwarten, dass damit nicht weiter gezögert
wird. Der augenblickliche Auftragsbestand auf deutschen
Werften ist in 24 Monaten abgearbeitet. Sollen die Schiffbauer kein Waterloo erleben, ist es zum Handeln fünf Minuten vor zwölf.
({10})
Vergessen wir nicht: Südkorea will seine Marktmacht
noch weiter ausbauen und China holt rasant auf. Was
sagte ein Schiffbauer - damit komme ich zum Schluss bei meinem letzten Werftbesuch in Flensburg: „Wir in
Deutschland benötigen keine Subventionen, aber einen
fairen Wettbewerb.“
({11})
Das Wort
hat nun der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Siegmar
Mosdorf.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte erstens
feststellen, dass die deutschen Schiffbauer einen erstklassigen Ruf haben und erstklassige Schiffe bauen - das
muss man auch einmal hier im Parlament sagen - und sich
deshalb trotz des schwierigen Wettbewerbs auf dem Weltmarkt sehr gut behaupten.
({0})
Zweitens will ich ausdrücklich sagen, dass die Schiffbauer Anwälte auch hier im Parlament haben: Margrit
Wetzel, Wolfgang Börnsen und Annette Faße sind diejenigen, die immer für die Schiffbauer kämpfen.
({1})
- Alle anderen auch. Sie haben also verlässliche Anwälte
im Parlament.
Ich habe sehr genau zugehört, wie Herr Börnsen sich
eben mit der Kommission auseinander gesetzt, sich aber
sehr differenziert zur Regierung geäußert hat; denn er
weiß, dass wir uns sehr engagiert haben.
({2})
- Das sage ich ja ausdrücklich.
Wenn es im Mai im Ministerrat zu einem Monitoring
kommt, dann ist dies ausschließlich auf unsere Initiative
im letzten Ministerrat zurückzuführen, als es um die Frage
ging: Was machen wir, wenn die Koreaner sich nicht bewegen? Was die Aktivitäten im Mai angeht, habe ich
keine Illusionen und will auch keine in die Welt setzen;
aber wir haben gekämpft. Wir wissen alle, dass dieser
Punkt für uns deshalb von großer Bedeutung ist, weil die
koreanischen Werften bei neuen Aufträgen für Containerschiffe inzwischen einen Weltmarktanteil von 60 Prozent, bei Großcontainerschiffen sogar von 80 Prozent haben.
Betrachtet man die Entwicklung, stellt man fest - das
besagen inzwischen auch alle Kommissionsberichte -,
dass die koreanischen Werften mit Preisen auf dem Weltmarkt operieren, die 20 Prozent unter den Einstandspreisen liegen.
({3})
- Ich gehe von den Kommissionberichten aus; wir wollen
einmal ganz vorsichtig an das Ganze herangehen.
Ich will hinzufügen: Ich habe die Sorge, dass sich die
Lage noch verschärft, wenn die Chinesen auf den Markt
kommen. Die Koreaner befinden sich in genau dieser Erwartungshaltung, weil sie wissen, was sich dann abspielt:
Die Lage wird sich weiter verschärfen. Umso wichtiger
ist, dass wir das, was wir als OECD-Plattform angestrebt
haben, auch durchsetzen. Leider haben wir in Europa, wie
Sie wissen, dafür im Moment noch keine Mehrheit.
Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland
einen guten und modernen Schiffbau aufgebaut. Das gilt
für die Werften, die wir alle kennen, in besonderer Weise.
Die auf der Basis nicht kostendeckender Preise erreichten
hohen koreanischen Marktanteile bei Aufträgen für die
Jahre 2001 bis 2003 resultieren nicht etwa daraus, dass
unsere Modernisierungsanstrengungen nicht erfolgreich
gewesen wären, sondern nur daraus, dass die Koreaner
mit Unter-Kosten-Angeboten, mit Dumping, versuchen,
unsere Schiffbauer auf dem Weltmarkt auszubooten.
Zwar ist es den deutschen Werften ab Ende 1999 gelungen, technisch - das gilt übrigens auch für die Mecklenburger Werften - enorm aufzuholen und im Marktsegment der Fähr- und Passagierschiffe sowie der
Spezialschiffe beachtliche Erfolge zu erzielen, jedoch war
dies in erster Linie aufgrund der Währungsrelation
DM/Dollar und anderer günstiger Bedingungen, aber
auch infolge umfangreicher Rationalisierungsmaßnahmen möglich.
Allein mit Nischenprodukten kann man jedoch - noch
dazu unter dem Druck der Dumpingsituation - in Zukunft
nicht gegen mögliche Wechselkursänderungen ankämpfen.
Wolfgang Börnsen ({4})
Meine Damen und Herren, aufgrund dieser schwierigen Situation hat die Bundesregierung - auch mit Unterstützung des Haushaltsausschusses - eine Aufstockung
der Bundesmittel der bis zum 31. Dezember 2000 zulässigen Wettbewerbsbeihilfen von 240 auf 320 Millionen DM vorgenommen. Das war eine wichtige, wenn
auch schwierige Entscheidung; Frau Hermenau kann sich
noch daran erinnern.
({5})
- Ja, das wollte ich sagen.
({6})
Die Bundesregierung hat das initiiert und der Haushaltsausschuss hat es einstimmig beschlossen.
({7})
- Wie, umgekehrt? Die Bundesregierung ist immer einstimmig. Vorsicht, bitte!
({8})
Zusammen mit der üblichen Kofinanzierung haben die
Küstenländer jetzt Mittel in Höhe von 960 Millionen DM
zur Verfügung. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, weil sie
damit auf Jahre vorhandene Aufträge abarbeiten und ein
Auftragsvolumen von 14 bis 15 Milliarden DM akquirieren können. Das ist eine ganze Menge.
Meine Damen und Herren, ein Ende der von koreanischen Werften verursachten Wettbewerbsverzerrungen
ist leider nicht in Sicht. Ich habe auch keine Hoffnung,
dass das sehr schnell der Fall sein wird. Wir werden an
diesem Thema sehr genau weiter arbeiten müssen. Wir
drängen die Kommission, das genau zu untersuchen und
auch Einzelfälle darzulegen. Bei Marktanteilen von bis zu
80 Prozent in bestimmten Segmenten wird der Letzte hellhörig; das ist völlig klar. Das kann man aus eigener Kraft
nicht schaffen.
Auf der 98. Sitzung der OECD-Schiffsbaugruppe
Mitte Dezember vorigen Jahres hat die koreanische Delegation eingestanden, dass Preisveränderungen nicht beabsichtigt sind. Auch vereinbarte Einblicke in Verträge will
Korea nicht gewähren. Mit dieser Position wird ganz klar,
dass man durch eine Hinhaltetaktik versucht, etwas zu
verdecken, was man offensichtlich meint verdecken zu
müssen, weil man sich im Wettbewerb nicht behaupten
kann.
Wir als Bundesregierung werden alles tun - in den letzten Tagen haben Gespräche zwischen unserem Bundeswirtschaftsminister und Kommissar Lamy zu diesem
Thema stattgefunden -, um unsere Position auf diesem
Sektor klar zu machen und zu verdeutlichen, dass wir
drängen werden, auch Herrn Lamy drängen werden, in
Seoul diese Tatbestände aufzugreifen. Auch wir selbst
werden in Korea vorstellig werden. Wir werden sehr genau untersuchen, wie die Kommission den einzelnen Fällen nachgeht. Wir jedenfalls glauben, alles tun zu müssen,
um auf dem Weltmarkt Wettbewerb herzustellen; denn
sonst haben wir Nachteile, die wir auch dann nicht kompensieren können, wenn wir die besten und modernsten
Anlagen haben.
Dabei werden sicherlich bei vielen Fragen Aspekte,
wie zum Beispiel die Schiffssicherheit oder die Kooperation, eine Rolle spielen. Ich kann hier vorab nur so viel
sagen: Wir haben die Absicht, beim Thema Kapazitätsbeschränkungen der ostdeutschen Werften erneut initiativ zu werden. Sie wissen, dass die Landesregierung von
Mecklenburg-Vorpommern auf diesem Feld engagiert
war. Wir haben dabei klare Bedingungen, wollen eine
Initiative starten und haben dabei vor, die Kommission
mit entsprechenden Vorschlägen anzugehen, um zusammen mit ihr nach Möglichkeit eine Regelung zu finden.
Allerdings ist klar: Die Bedingungen sind hart und wir
müssen versuchen, die gegenwärtig guten Auftragspolster
in die Zukunft zu verlängern.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir sollten als
Parlament gemeinsam - auch über Fraktionsgrenzen hinweg - alles tun, um die Schiffbauer zu unterstützen, und
zwar nicht im Sinne eines Subventionswettlaufs. Wir
bestehen vielmehr auf fairen Wettbewerbsbedingungen, und zwar in jeder Situation. Unter fairen Wettbewerbsbedingungen stellen wir uns auch den Herausforderungen anderer Wettbewerber. Voraussetzung ist aber,
dass die Bedingungen fair sind und sich der Markt entsprechend fair verhält. Solange das nicht der Fall ist, werden wir weiterhin darauf drängen, dass solche Wettbewerbsbedingungen hergestellt werden.
Vielen Dank.
({9})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Michael Goldmann.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Staatssekretär, es war die maritime Allianz, die parlamentarische Gemeinsamkeit, die dafür gesorgt hat, dass Ende
des letzten Jahres 98 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung gestellt wurden, damit deutsche Werften zum Ende
dieses Jahres nochmals Aufträge akquirieren konnten.
Insofern stellen sich deutsche Werften heute als besonders
leistungsfähig dar.
Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die südkoreanischen Werften im Welthandelsschiffbau durch
äußerst unkorrekte Methoden nach wie vor riesige Marktanteile erobern, indem sie sie den europäischen und deutschen Werften, wie man fast sagen kann, stehlen.
Vor diesem Hintergrund sind die Leistungen der deutschen Schiffbauindustrie, die im letzten Jahr Aufträge in
Höhe von immerhin 11,8 Milliarden DM einwerben und
damit ihren Auftragsbestand zum Jahresende auf 22 Milliarden DM erhöhen konnte, außerordentlich bemerkenswert. Sie sind ein wirklich großartiger Beitrag zur SicheParl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf
rung von Arbeitsplätzen in der Hochtechnologie des
Schiffbaus.
({0})
Es ist erfreulich, dass nicht nur die Jade-Werft in Wilhelmshaven, die Werften des Thyssen-Krupp-Konzerns
oder die Meyer-Werft in Papenburg mit vollen Auftragsbüchern in die kommenden Jahre gehen. Es ist auch
erfreulich, dass die Küstenländer wenigstens zum Teil ihrer Verpflichtung nachkommen, die Beihilfeergänzung
zu leisten. In diesem Zusammenhang möchte ich das Land
Schleswig-Holstein loben. Diese Stärkung der Marktposition ist allerdings dringend nötig, weil die Südkoreaner im
Schiffbaumarkt nach wie vor bösartig foulen.
Der Dritte Bericht der EU-Kommission an den Rat zur
Lage des Weltmarkts im Schiffbausektor macht deutlich,
dass die Südkoreaner für Preisverfall und Wettbewerbsverzerrungen zum Nachteil der Arbeitsplätze und zum
Nachteil des deutschen Schiffbaus verantwortlich sind.
Koreanische Werften nehmen Verluste bis zu 40 Prozent
der tatsächlichen Baukosten hin, um mit Dumpingpreisen
Marktanteile zu erobern. Der Bericht der Kommission
zeigt deutlich, dass koreanische Werften weiterhin Aufträge zu Preisen annehmen, die bei weitem nicht die Kosten decken. Das haben neben dem Dritten auch bereits der
Erste und der Zweite Kommissionsbericht in beeindruckender Weise dargelegt.
Leider - das muss man sehr kritisch anmerken - hat die
EU-Kommission bis jetzt nichts erreicht. Während die
Südkoreaner deutschen Schiffbauern auf der Nase herumtanzen, beobachtet die EU-Kommission den Markt. Der
Schluss, den die EU-Kommission aus ihren Berichten,
gerade aus dem dritten, zieht, dass Betriebsbeihilfen das
koreanische Problem nicht gelöst hätten und man deshalb
ruhig auf diese verzichten könne, ist geradezu abenteuerlich. Es war ein schwerer Fehler, dass die Wettbewerbshilfen gegen Ende 2000 abgeschafft wurden,
({1})
ohne vorher mit den Koreanern eine Lösung der anstehenden Probleme zu erreichen.
Die Abschiebung der Verantwortung auf den europäischen Schiffbauverband CESA war falsch. Wie Frau
Staatssekretärin Mertens gestern im Ausschuss ausführte,
wird sich das von CESA eingeleitete Untersuchungsverfahren möglicherweise bis zu zwei Jahre hinziehen, und
somit wird es überhaupt keine Grundlage für schnelle
Lösungen bieten, die aber angesichts der Situation auf
dem internationalen Schiffbaumarkt absolut notwendig
wären.
Wenn es keine Lösungen gibt, dann sind unsere Werften
in ihrer Existenz massiv bedroht und dann werden wir in
diesem Bereich wieder einmal Tausende von Arbeitsplätzen verlieren. Ich denke, wir alle sind hier aufgefordert, die
Bundesregierung mit größtem Nachdruck darauf hinzuweisen, dass sofort effektive Maßnahmen bei der EU-Kommission in Brüssel erreicht werden müssen. In dem im Mai
anstehenden Beratungsgespräch muss eine Anschlussregelung für die Ende 2000 ausgelaufene Verordnung des Rates
zur Beihilfegewährung für Neu- und Umbauten von Schiffen innerhalb der EU bis zur Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen gefunden werden. Aber die Bundesregierung sollte sich auf der EU-Ebene nicht nur durch den
Maritimen Koordinator, dessen Arbeit ich grundsätzlich
sehr begrüße, vertreten lassen, sondern muss hochkarätig
an das Ganze herangehen.
Bei meinem Gespräch mit dem koreanischen Botschafter in Berlin konnte ich in der Sache überhaupt
keine Bewegung erreichen. Als ich auf die Probleme hinwies, fragte er mich, in welchem Bereich die Meyer-Werft
denn tätig sei, und als ich erklärte, dass sie im Wesentlichen im Passagierschiffbau tätig sei, meinte er: „Da konkurrieren wir doch gar nicht miteinander“, so, als ob es
einen separaten Markt in diesem Bereich geben würde, als
ob nicht jeder wüsste, dass das Einkassieren und
Schlucken von großen Aufträgen natürlich die deutschen
Werften in ihrem Bestand gefährdet. Hier ist die
Bundesregierung auch vor dem Hintergrund der Aussagen, die auf maritimen Konferenzen gemacht worden
sind, aufgefordert, etwas zu tun. Hier ist der Kanzler in
der Pflicht. Die Bundesregierung, der Bundeskanzler, wir
alle müssen uns geschlossen und schützend vor die
Arbeitsplätze in der deutschen Werftindustrie stellen. Vor
diesem Hintergrund unterstützen wir die Anträge, die
heute hier zur Erstberatung anstehen.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht die Kollegin Antje Hermenau.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle stimmen darin überein, dass die Dumpingpreise der Koreaner
zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Aber unabhängig
davon, Herr Börnsen, dass es einen erbost, auf welche Art
und Weise diese Dumpingpreise erzielt werden, zum Beispiel auch mit IWF-Krediten, muss man ein bisschen
Augenmaß behalten. Das ist eigentlich der Sinn und Zweck
der heutigen Debatte. Wir werden das in den Ausschüssen
vertiefen.
Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, dass wir ständig
und schicksalsergeben über Plan B diskutieren, indem wir
sagen: Wir brauchen eine Anschlussregelung für die Zinssubventionierung. Das ist mir zu schwach. Ich bin der
Auffassung, dass wir versuchen sollten, die anderen Instrumente, die uns zur Verfügung stehen - darauf komme
ich noch zu sprechen -, stärker zu nutzen und mit ihnen
unsere Interessen durchzusetzen. Auf der einen Seite kann
man immer die Untätigkeit der Europäischen Kommission anprangern. Auf der anderen Seite muss man sich
aber fragen, wie man die Kommission in Bewegung setzen kann. Wir werden in Deutschland zunehmend davon
abhängig sein, dass die EU-Kommission in der Lage ist,
Dinge in Angriff zu nehmen. Ich kann nur davor warnen,
sich schon jetzt sozusagen apathisch zurückzuziehen und
so zu tun, als ob es keine Chance mehr gebe, irgendetwas
zu bewirken. Ich kann nur sagen: Vorsicht, schauen wir
mal!
({0})
Es gibt sicherlich den einen oder anderen, der der Meinung ist: Die innenpolitische Lage in Korea ist so schwierig, dass man Verständnis für das Vorgehen der Koreaner
im Bereich des Schiffbaus haben muss. Ich sage ehrlich:
Ich habe nicht so viel Verständnis. Ich bin der Auffassung,
dass es dann, wenn sich die Koreaner nicht an vernünftige
Normen halten - eigentlich ist die WTO hier der Ansprechpartner; an sie müsste nach unserem Verständnis
die Klage gerichtet werden -, nicht damit getan ist, Verständnis für die schwierige innenpolitische Lage in Korea
aufzubringen. In allen Ländern gibt es manchmal mehr
oder weniger schwierige innenpolitische Situationen. Wir
dürfen also den Koreanern die von ihnen verursachten
Wettbewerbsverzerrungen nicht einfach durchgehen lassen. Aber das hat auch niemand getan. Wir haben die
Wettbewerbsverzerrungen nicht einfach hingenommen;
vielmehr haben wir - das wissen Sie selber; an dieser
Stelle war Ihr melodramatischer Unterton, Herr Börnsen,
vielleicht nicht ganz gerechtfertigt - im Haushaltsausschuss dafür gesorgt, dass die Werften für die nächsten
drei Jahre ein ordentliches Polster haben. Sie haben bis
zum Jahresende 2000 noch einmal Akquise machen können. Die Auftragsbücher der deutschen Werften sind proppevoll.
({1})
Vor dem Hintergrund kann man die gesamte Diskussion meiner Ansicht nach jetzt in aller Ruhe führen. Wir
können uns überlegen, wie wir das legitime Ziel erreichen, dass die Wettbewerbsbedingungen im Schiffbau
weltweit fair sind. Ich bin ganz sicher, die deutschen
Werften hätten es eigentlich viel lieber, sie hätten statt der
Dauersubventionen eine faire Wettbewerbssituation.
Dauersubventionen sind, wenn wir einmal ehrlich sind,
auch kein fairer Wettbewerb. Ich glaube auch nicht, dass
es sinnvoll ist, diesen unfairen Wettbewerb in Form von
Dauersubventionierung auf Dauer zu zementieren, indem
wir im Prinzip, weil wir bei den Dumpingpreisen nicht
mithalten können, unsere Subventionierung fortführen.
Für mich ist das ein ewiger Kreislauf, den wir durchbrechen müssen. Wir haben da keine andere Wahl; denn man
muss sich vor Augen führen, dass die Subventionshöhe im
deutschen Schiffbau pro Arbeitsplatz fast die der deutschen Steinkohle erreicht hat.
({2})
Angesichts dessen weiß ich ganz genau, was auf uns zukommt, wenn wir einfach nur apathisch sagen: Wir werden die Zinssubventionierung verlängern; wir können
nichts anderes machen.
({3})
- Es sind die Zahlen, die da sprechen. Das wissen Sie genau, Herr Goldmann.
({4})
Niedersachsen kommt mit der Kofinanzierung gerade
noch hin; sie haben es im Haushalt noch geschafft. Schleswig-Holstein hat haushaltspolitisch Augenmaß bewiesen
und die Mittel nicht ganz ausgeschöpft; das hat seine
Gründe gehabt. Mecklenburg-Vorpommern hingegen verschuldet sich schamlos über beide roten Ohren. Meiner
Meinung nach besteht für Mecklenburg-Vorpommern
eher das Problem, dass es eine Kapazitätsbeschränkung
gibt. Jedenfalls können wir nicht weiterhin mit der Dauersubventionierung im Zinsbereich arbeiten. Aber das sind
Probleme, die in den Ländern differenziert zu betrachten
sind.
Insgesamt stehen den deutschen Werften mit den Kofinanzierungen der Länder für die nächsten drei Jahre mehr
als 700 Millionen DM zur Verfügung. Das ist eine enorme
Summe. Damit lässt sich schon so manches zusammenpacken.
Ich bin erstaunt darüber, dass Sie von der CDU/CSU es
nicht fertig bringen, sich ordnungspolitisch zu sortieren.
Ich weiß nicht, was Sie von den Reden des Herrn Merz
halten. Aber Herr Merz hat hier, ohne müde zu werden,
ständig davon gesprochen, wie wichtig eine wirkliche
Haushaltskonsolidierung und ein wirklicher Subventionsabbau seien. Er hat dazu fast schwadroniert. Offensichtlich meint er es nicht ernst; denn die Mitnahmeeffekte bei
der Dauersubventionierung in Form von Zinsverbilligungen sind allen bekannt, die sich den deutschen Schiffbau
ein bisschen näher anschauen. Das wissen Sie auch.
Gleichwohl setzen Sie sich für eine Fortsetzung der Dauersubventionierung ein.
({5})
Da ist es kein Wunder, dass die F.D.P. ihr Heil in der
Flucht suchen muss. Wir können die Absetzbewegungen
alle beobachten.
({6})
Ich bin der Auffassung, wir können den Prozess bis
zum Mai in Ruhe abwarten. Bis dahin brennt nichts an.
({7})
- Nein, da brennt überhaupt nichts an. - Die Auftragsbücher sind voll. Wir können sehen, wie weit sich das dort
entwickelt.
({8})
Ich greife noch einen Punkt auf, von dem Sie heute
noch gar nicht gesprochen haben. Sie tun immer so, als
hätte der deutsche Schiffbau allein das Problem. Inzwischen ist jedoch klar geworden, dass selbst die Japaner
nicht mehr zurecht kommen, dass auch sie nicht mehr in
der Lage sind, mit den Dumpingpreisen der Koreaner zu
konkurrieren. Das heißt, meiner Meinung nach wird der
Druck auf die WTO schon ein etwas anderer sein, wenn
sich diese Länder bei ihren Bemühungen zusammentun.
Auch der Druck auf den IWF wird ein anderer sein, als
wenn Deutschland alleine versucht, sich da durchzukämpfen. Wenn wir es nicht schaffen, auf diese Instrumente zurückzugreifen, dann sind diese Instrumente eine
Farce. Dann können wir gleich sagen: Wir machen nur
noch Nationalökonomie und versuchen damit unser
Glück.
({9})
Das halte ich allerdings für einen völlig verkehrten Standpunkt.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Rolf Kutzmutz für die Fraktion der
PDS.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Natürlich lehnt auch die PDS-Fraktion die
existenzbedrohenden Beutezüge der südkoreanischen
Werften auf dem Weltschiffbaumarkt ab. Auch wir plädieren für handelspolitische Sanktionen, wenn sich Südkoreas Regierung weiterhin weigert, ihrer Unterschrift
- diese haben sie ja geleistet - unter vertragliche Abmachungen tatsächlich Taten folgen zu lassen; denn nur Vertragstreue kann das Fundament einer friedlich zusammenlebenden, demokratisch und sozial organisierten
Weltgemeinschaft sein, die wir als Sozialisten anstreben.
Aber wir sollten uns auch nichts vormachen: Wirksame Handelssanktionen, die Südkorea tatsächlich mehr
treffen als die EU selbst, werden nur schwer umsetzbar
sein.
({0})
Mit einem Einlenken beim Schiffbaudumping ist demnach kaum zu rechnen.
Wir sollten auch redlich bleiben in unserer Argumentation. Angesichts der derzeit laufenden Auseinandersetzungen in den südkoreanischen Autokonzernen ist festzustellen, dass es letztlich die 1997 vom IWF festgelegten
Bedingungen waren, die Südkorea erst zum Freibeuter auf
den Meeren machten; denn dazu gehörten die Absenkung
der Löhne und die Entlassung von Arbeitern. Das ist alles
gesagt worden.
({1})
- Missbraucht? Wenn man solche Beschränkungen auferlegt bekommt, muss man reagieren. Wer keine andere
Chance mehr hat, Geld zu verdienen, der greift nach jedem Mittel. Wir dürfen uns darüber nicht wundern, wir
müssen etwas dagegen tun. Das ist richtig. Aber wir müssen auch die Ursache dafür sehen.
({2})
Deshalb sollten wir nicht nur auf WTO- oder OECDSchiffbau-Abkommen schielen, sondern auch im eigenen
Haus all das wegräumen, was einen zukunftsfähigen
Schiffbau in Europa behindert. Was hindert zum Beispiel
die EU daran, nur nach dem jeweiligen Stand der Technik
sichere Tanker und Frachter in ihre Gewässer zu lassen?
Das führte nicht nur zu einem erstklassigen Arbeitsbeschaffungsprogramm für moderne europäische Werften, sondern wäre auch vorteilhaft für die Umwelt.
({3})
Unstrittig dürfte deshalb sein, dass die Bundesrepublik
im vergangenen Jahrzehnt, gemessen an anderen wichtigen Schiffbaunationen, vergleichsweise wenig in die
Fortentwicklung einer zukunftsfähigen maritimen Industrie investiert hat. Das gilt für Forschungs- und Entwicklungsmittel, für die Entfaltung regionaler Netzwerke und
auch für die ingenieurtechnische Aus- und Weiterbildung,
auch wenn mit dem Regierungswechsel zweifellos einiges in Gang gesetzt worden ist.
Wir schätzen das Engagement des Koordinators für die
maritime Wirtschaft, Herrn Dr. Gerlach, und hoffen, dass
er den nötigen langen Atem und auch die nötige politische
Rückendeckung für seine Arbeit bekommt. Das gilt insbesondere auch für die Modifizierung der Ende 2005 auslaufenden Kapazitätsbeschränkungen für die Werften
Mecklenburg-Vorpommerns. Fakt ist: Damit wird mittlerweile nicht mehr der westeuropäische Markt, sondern einzig und allein die südkoreanische Konkurrenz geschützt.
({4})
Es ist Unsinn, so etwas zu machen. Bisher wurde nämlich
traditionell in Wismar und Warnemünde, jetzt zunehmend
auch in Stralsund, in Marktsegmenten produziert, die Fernost derzeit allein zu bedienen versucht. In Ostdeutschland
stecken wir wegen dieser Beschränkungen in einer Produktivitätsfalle.
({5})
Die erreichte Rationalisierung schlägt sich nicht in Dollar
oder Euro nieder, weil die Fixkosten nicht auf mehr Aufträge zu verteilen sind.
({6})
Ich möchte noch etwas zu den Hilfen sagen: Wenn es
weiterhin staatliche Wettbewerbs- und Werfthilfen geben
soll, müssten sie solidarischer als bisher getragen werden.
Es kann nicht länger sein, dass neben dem Bund allein die
Nordlichter dafür Landesmittel aufbringen müssen, in
diesem Jahr immerhin 478 Millionen DM.
({7})
Damit werden schließlich weniger die Arbeitsplätze auf
den Werften als vielmehr vor allem diejenigen bei den Zulieferern subventioniert, auf die immerhin zwei Drittel der
Wertschöpfung beim Schiffbau entfallen.
({8})
Ein letzter Satz hierzu: Diese Firmen befinden sich vor allem in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen.
({9})
Wem die Aufschlüsselung zu schwierig erscheint, der
sollte all dies wenigstens beim Länderfinanzausgleich
berücksichtigen.
Danke schön.
({10})
Nun gebe
ich das Wort der Kollegin Dr. Margrit Wetzel für die Fraktion der SPD.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hermenau hat eben schon zu
Recht darauf hingewiesen: Die Auftragsbücher der Werften, zumindest die der großen Werften, sind prall gefüllt.
Das ist völlig richtig und das verdanken wir der Tatsache,
dass der Bund und die Länder die möglichen Beihilfen
noch drastisch aufgestockt haben. Nichtsdestotrotz darf
uns das aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir jetzt
schon seit Jahren Probleme mit Korea haben. Mir macht
es ganz große Sorge - ich will jetzt nichts wiederholen,
was schon über Marktanteile von Korea usw. gesagt
wurde -, dass Korea inzwischen über 80 Prozent beim
Großcontainerschiffbau akquiriert. Diese Schiffe werden
zukünftig den weltweiten Liniendienst bestimmen. Hier
liegt der Schiffbaumarkt der Zukunft.
({0})
Vor diesem Problem stehen wir.
Bedenken wir, dass die Schleusen des Panamakanals
auf 12 000 TEU-Schiffe erweitert werden sollen, dann sehen wir, wohin die zukünftige Entwicklung geht. Ich habe
einfach ganz große Sorge, ob unsere Werften hierbei noch
mithalten können, wenn wir nicht dafür sorgen, dass sie
alle die entsprechende Auslastung behalten. Deshalb kann
man sich nicht darauf ausruhen, dass hier in den nächsten
drei Jahren Sicherheit besteht. Insbesondere die kleinen
und mittleren Werften haben ganz große Probleme, weil
überhaupt keine Aufträge für Standardtanker und Massengutfrachter mehr nach Deutschland gehen. Solche
Aufträge sichern aber die Auslastung bei den kleinen
Werften. Nur so kann verhindert werden, dass das Knowhow der Mitarbeiter, das sie in langjähriger Qualifizierung
gewonnen haben, verloren geht. Nur bei entsprechender
Auslastung können diese gehalten werden. Diesem Problem muss unsere Sorge gelten.
Bei den durchaus versöhnlichen Ausführungen zur
Schiffbaupolitik der Regierung vonseiten der CDU/CSU
und F.D.P. wurde, wie ich glaube, ein Punkt übersehen:
Die Maritime Konferenz in Emden ist von der gesamten
maritimen Verbundwirtschaft mit ganz großer Freude aufgenommen worden. Gerhard Schröder war nämlich der
erste Bundeskanzler, der das Thema maritime Industrie
zur Chefsache gemacht hat.
({1})
Das ist in der Öffentlichkeit gebührend gewürdigt worden.
({2})
- Bei den Taten sind wir. Nur können wir die Erfolge nicht
erzwingen; denn wir sind ein Rädchen im Getriebe, sowohl im Bereich der EU wie auch des IWF.
({3})
- Auch national. Sie haben doch gerade von Herrn
Mosdorf gehört: Der Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie hat vor kurzem mit EU-Kommissar Lamy
verhandelt. Lamy war unmittelbar zuvor in Korea, wo er
zum Beispiel einen durchschnittlichen Preisanstieg von
20 Prozent angemahnt hat. Das waren völlig richtige Signale.
({4})
- Dort hatten wir mehr Themen als nur den Schiffbau.
({5})
Aber auch der Schiffbau ist in Emden thematisiert worden.
Wichtig ist doch, dass Sie selber in Ihrem Antrag fordern, dass die Verhandlungen mit Korea sowohl auf EUEbene als auch bilateral weitergeführt werden. Das ist
eine völlig korrekte Forderung. Man muss aber einfach
anerkennen - Herr Mosdorf hat das deutlich gemacht -,
dass die Regierung damit nahezu wöchentlich beschäftigt
ist.
Das ist überhaupt keine Kritik an Ihrem Antrag. Ich
finde es absolut anerkennenswert, dass Sie mit Ihrem Antrag diese Debatte im Parlament herbeiführen; denn es ist
unser aller Aufgabe, durch Debatten und durch unser
deutliches Bemühen, die Regierung zu unterstützen, klarzumachen: Das gesamte deutsche Parlament und die Regierung stehen hinter dem Bemühen, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Werften zu sichern.
({6})
- Ich denke, darin sind wir völlig einig.
Das heißt, wir müssen durchsetzen, dass Korea internationale Bilanzierungsregeln und Rechnungsstellungen
akzeptiert. Wir müssen durchsetzen, dass Länder, die
IWF-Kredite in Anspruch nehmen, auch Kapazitätsbeschränkungen akzeptieren; sonst dürfen wir ihnen
keine Kredite geben. Der IWF-Fonds hat auf diesem Gebiet Fehler gemacht. Das nächste Problem besteht darin,
dass der IWF nicht einmal ein Mandat hat, die Einhaltung
der Kriterien durch sektorale Untersuchungen zu überprüfen. Das ist im Grunde genommen ein Skandal. Das
wird uns überhaupt erst jetzt deutlich. Nun erkennen wir
unseren Handlungsbedarf auf allen Ebenen.
Auch die Klage vor der WTO, die durchaus immer als
etwas sehr Fragwürdiges angesehen wird, ist im Moment
eines unserer Mittel, um politischen Druck auf Korea auszuüben. Deshalb muss diese Klage durchgezogen werden
und deshalb muss die EU diese Klage zügig bearbeiten.
Vor allen Dingen muss die EU handelspolitische Sanktionen vorschlagen. Es führt überhaupt kein Weg daran vorbei, dass wir Sanktionen brauchen.
({7})
- Aber die EU muss die Klagevoraussetzungen prüfen
und die Klage an die WTO weitergeben.
Unabhängig von Formalien sind wir uns in der Sache
völlig einig: Der politische Druck ist nötig und die EUKommission muss sich anstrengen, etwas zu tun, damit
Korea begreift, dass es uns ernst ist.
Sie haben auch mit der Forderung völlig Recht, dass
wir bei der nächsten Sitzung des EU-Industrieministerrates dazu kommen müssen, neue wirksame Regelungen zur
Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Werften zu
vereinbaren. Diese Regelungen müssen, unabhängig von
dem, was im Mai geschieht, beschlossen werden; das ist
völlig klar. Ich selber setze ganz große Hoffnungen darauf, dass über das neue Weltschiffbauabkommen wirklich zügig verhandelt wird. Mein Appell an die Regierung
geht dahin, diese Angelegenheit möglichst aktiv voranzutreiben.
Dass Japan und Korea im Moment erklären, sie akzeptierten das alte OECD-Abkommen, ist der reine Hohn.
Wir haben gerade durch die Koreakrise erkannt, dass das
alte OECD-Abkommen überhaupt nicht wirksam ist.
({8})
Dass die USA nicht zustimmen, ist etwas anderes. Aber
dass Korea diesem Abkommen zustimmen will, ist der
reine Hohn; denn es enthält bei Verstößen gegen das Verbot von Dumpingpreisen genau diese Sanktionen nicht
und es enthält keine Vorschriften für Bilanzierungen und
Rechnungsstellungen. Wir haben erkannt, wie notwendig
solche Vorschriften sind. Das heißt, wir brauchen ein absolut neues Weltschiffbauabkommen, das von den entscheidenden Nationen akzeptiert wird. Dass dies zustande
kommt, ist die Hoffnung, auf die sowohl wir Parlamentarier wie auch die Werften setzen.
Mit einem haben sie unisono Recht gehabt: Die Werften wollen keine Dauersubventionen, sondern faire Wettbewerbsbedingungen. Unsere politische Aufgabe ist es,
ihnen dazu zu verhelfen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe
die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksache 14/5137 und 14/5457 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/5137 soll zusätzlich an den
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder überwiesen werden. - Das Haus ist damit einverstanden. Die
Überweisungen sind somit beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard
Jüttemann, Rolf Kutzmutz, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Arbeitsplatzabbau bei Förderung von Produktionsverlagerungen ausschließen
- Drucksache 14/5248 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Vereinbart ist eine Aussprache von einer halben Stunde.
- Ich höre keinen Widerspruch. Das Haus ist also damit
einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Gerhard Jüttemann für die antragstellende Fraktion
der PDS.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Geschichte zum Thema Wirtschaftsförderung: Im niedersächsischen Bad Lauterberg gibt es seit
langem eine Blechwarenfabrik namens Hemeyer-Verpackungen GmbH. Der Chef, Herr Hemeyer, ist ein kühler
Rechner. Er hat deshalb schon vor Jahren im Raum Bitterfeld in Sachsen-Anhalt sehr billig ein großes Gelände erworben und 1998 dort einen Teilbetrieb angesiedelt.
Die Einzelheiten sahen so aus: Herr Hemeyer entließ in
Bad Lauterberg 54 Beschäftigte, die bis dahin tariflich entlohnt worden waren. In Bitterfeld wurden überwiegend
Langzeitarbeitslose eingestellt, deren Löhne in Höhe zwischen 9 und 15 DM bis zu 70 Prozent vom Arbeitsamt
übernommen worden sind.
({0})
- Ja, den kenne ich. - Nur 20 Tage Urlaub sind die Regel;
einen Betriebsrat gibt es nicht. Aus all diesen Gründen hat
Herr Hemeyer einmal gesagt, er fühle sich im Osten wie
auf Rosen gebettet.
({1})
Deshalb will er nun im kommenden Jahr auch den Rest seines Betriebes nach Bitterfeld bringen. Das wird in Bad
Lauterberg erneut knapp 50 tarifliche Arbeitsplätze kosten.
Der Fall Hemeyer ist kein Einzelfall. Wenn zum Beispiel die Zwiebackfirma Brandt ihren Standort im westfälischen Hagen verlässt, um im thüringischen Ohrdruf
wie Phönix aus der Asche neu zu entstehen, dann mag das
zunächst für den Aufbau Ost gut klingen.
({2})
Wenn dabei aber 330 Arbeitsplätze auf Nimmerwiedersehen verschwinden, weil 430 Kündigungen nur
100 Neueinstellungen gegenüberstehen, und wenn diese
Entwicklung vom Staat mit Millionensummen gefördert
wird, dann nenne ich das einen Skandal. Diese Art der
Wirtschaftsförderung bezahlen die Menschen im Westen,
die ihren Arbeitsplatz verlieren, und die Menschen im
Osten, die schlecht bezahlt werden.
Die Regierung Schröder will nach eigenen Aussagen
an nichts anderem gemessen werden als am Abbau der
Arbeitslosigkeit. In Wirklichkeit fördert sie aber, wie
diese Beispiele zeigen, nicht den Abbau der Arbeitslosigkeit, sondern deren Ausweitung. Wo ist da die Logik? Sie
können es doch nicht als Aufbau Ost und als gewünschte
Richtung der Entwicklung bezeichnen, wenn Firmen in
den alten Bundesländern schließen und ihre Beschäftigten
entlassen - Beschäftigte mit existenzsichernden Arbeitsplätzen, tarifvertraglich abgesichert und gewerkschaftlich
organisiert mit funktionierenden Betriebsräten -, dann
aber auf Staatskosten in den Osten ziehen, um dort auf
Dauer sehr viel weniger Arbeitsplätze zweiter und dritter
Klasse zu schaffen.
Merken Sie denn nicht, dass hier gesellschaftliche
Standards, die ja nicht vom Himmel gefallen sind, in Ost
und West mit dauerhafter Wirkung abgebaut werden?
({3})
Diesen Abbau fördern wir mit Steuergeldern in Millionenhöhe. Das ist kein Aufbau Ost; das ist die schamlose
Ausnutzung des Ostens für den sozialen Kahlschlag in
ganz Deutschland.
Gelegentlich hört man als Gegenargument: Es ist ja
klar, dass ein Betrieb, der im Westen schließt und im
Osten neu aufmacht, nicht mehr so viel Arbeitsplätze
benötigt wie vordem; denn die neuen Anlagen sind ja in
der Regel viel produktiver. Natürlich hat diese Argumentation ihren Reiz. Dazu passt nur nicht, dass die Beschäftigten im Osten dann nur 70 Prozent oder noch weniger
des Lohnes ihrer Westkollegen bekommen, obwohl sie
doch so viel effektiver produzieren.
({4})
Die Zeitungen sind ja voll davon, dass im Osten endlich die Lohnerhöhungen gestoppt werden müssen, wenn
der wirtschaftliche Aufschwung nicht gefährdet werden
soll. Ich sage Ihnen: Ohne schnellstmögliche Angleichung vor allem der Löhne - das heißt auch: unverzügliche Angleichung der sozialen Standards der Beschäftigten
in Ost und West - wird es keinen wirtschaftlichen Aufschwung geben. Ohne diese Angleichung wird der Osten
weiter ausbluten, sodass er dann in nicht allzu ferner Zukunft endgültig von Thierses Kippe fällt, mit den entsprechenden negativen sozialen Folgen auch im Westen.
Es kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen,
dass dieser Prozess den gesamtgesellschaftlichen Interessen zuwiderläuft. Die PDS fordert die Regierung deshalb
auf, die finanzielle Förderung des Abbaus von Beschäftigung und von sozialen Standards in Deutschland sofort
einzustellen.
({5})
Im Osten ist schon heute nur noch jeder zweite Arbeitnehmer in einem Unternehmen beschäftigt, das an Tariflöhne gebunden ist, was noch lange nicht heißt, dass auch
jeder zweite diesen Tariflohn tatsächlich erhält. Wir müssen diese Entwicklung nicht noch mit Millionensummen
fördern.
Im Osten fehlen 1,5 Millionen Arbeitsplätze. Aber
Turnschuhjobs haben wir schon zu viele. Was wirklich
fehlt, sind solide, zukunftsfähige, existenzsichernde und
an Tarifverträgen orientiere Arbeitsplätze in Unternehmen, in denen Mitbestimmung, Gewerkschaftsleben und
Betriebsräte keine Fremdworte sind. Geben Sie dafür das
Geld aus! Im anderen Fall werden Sie den Menschen in
den alten Bundesländern niemals erklären können, dass
sie für weitere Hilfen für den Aufbau Ost, die noch lange
nötig sein werden, ihre Zustimmung geben sollen. Da
müssen wir anfangen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Für die
Fraktion der SPD spricht die Kollegin Jelena Hoffmann.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS ist die stärkste Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen. - Das ist
kein Versprechen, sondern das sind offensichtlich Ihre
kühnsten Träume, liebe Kollegen von der PDS, lieber
Herr Jüttemann. Auf jeden Fall spricht Ihr Antrag deutlich
diese Sprache. Ich möchte mich ja nicht in Ihre strategischen Überlegungen einmischen. Aber es muss doch
erlaubt sein, Zweifel anzumelden, ob Ihre Strategie aufgehen wird und ob Ihnen die Westwähler scharenweise in
die Arme laufen werden, wenn Sie solche populistischen
Anträge schreiben.
Worum geht es hier? Es kann passieren, dass ein Unternehmen feststellt, dass sich seine Produktion mit seinen Maschinen nicht mehr lohnt. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen kann sich der Unternehmer entscheiden,
seinen Betrieb zu schließen. Wenn die Produkte gefragt
sind und der Markt da ist, kann er seinen Betrieb auch
verlagern,
({0})
vielleicht an einen neuen Standort im Ausland oder doch
irgendwo in Deutschland.
({1})
Die Entscheidung kann dabei auch für Thüringen oder für
Sachsen fallen.
({2})
Wirtschaftlich gesehen ist dieser Vorgang eine ganz
normale Sache. Entscheidungshilfen für die Standortwahl
füllen die Bibliotheken von Wissenschaft und Managern,
von Theoretikern und Praktikern. Es ist meine feste Überzeugung, dass es die Aufgabe und sogar die Pflicht jedes
Unternehmens ist, seine Produktionsbedingungen so gut
wie möglich zu gestalten. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist selbstverständlich die persönliche
Katastrophe, die so ein Umzug für jeden einzelnen Arbeitnehmer mit sich bringen kann. „Kann“ sage ich ganz
ausdrücklich, denn es gibt umfangreiche Rechte des Betriebsrates, bei eventuellen Standortverlagerungen tätig
zu werden. Mancher ist sehr mobil und packt gerne seine
Koffer und zieht mit der ganzen Familie um. Andere hängen an ihrer Heimat und nehmen die Arbeitslosigkeit in
Kauf. Oder es sind rein wirtschaftliche Überlegungen einer Familie. Meistens sind es leider immer noch die
Frauen, die den Kürzeren ziehen, weil sie noch immer weniger verdienen.
Um jedes Missverständnis von Anfang an zu vermeiden, möchte ich ganz ausdrücklich sagen: Es tut mir in der
Seele weh und Leid um jeden einzelnen Arbeitsplatz in
Deutschland, der verloren geht. Dabei ist es völlig egal,
ob diese Stelle in Hagen, in Chemnitz, in Bremen oder in
Regensburg verloren geht, mit anderen Worten: ob das im
Westen oder im Osten passiert.
Aber warum reden wir nun im Bundestag darüber, was
die Verlagerung einer Produktion bedeutet? Die Firmen,
die im Antrag der PDS aufgezählt sind, ziehen in die
neuen Bundesländer um. Weil viele Regionen im Osten
leider noch immer eine Förderung durch die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ brauchen, können auch besagte Firmen
von der Förderung profitieren. Das war politisch so gewollt und das brauchen wir im Osten noch immer.
({3})
Aber dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
PDS, nur einige Einzelfälle aufgreifen und das bewährte
Förderinstrumentarium der GA infrage stellen, kann ich
nun wirklich nicht verstehen. Sie benutzen die von der Arbeitslosigkeit Betroffenen für Ihre eigenen politischen
Zwecke und rühren im Westen mit populistischen Mitteln
die Werbetrommel.
({4})
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jüttemann?
Ja.
Frau Hoffmann, haben
Sie mich vielleicht falsch verstanden?
({0})
Ich will nicht verhindern, dass sich Unternehmen im
Osten ansiedeln. Ich bin für jeden Arbeitsplatz dankbar.
Aber wir können doch nicht zusehen, wenn Unternehmen
mehr Arbeitsplätze abbauen - egal ob in Ost oder West;
in unseren Referenzbeispielen ging es von West nach
Ost -,
({1})
als sie an neuen schaffen, und sich das noch mit Millionen
honorieren lassen. Das kann doch wohl keine Wirtschaftsförderung sein. Oder haben Sie das missverstanden? Es geht nur um solche Beispiele, nicht um die generelle Verlagerung.
Herr
Jüttemann, ich habe Sie eindeutig verstanden und auch
ganz genau Ihren Antrag gelesen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Sie vertiefen die Gräben zwischen Ost und
West weiter. Das geht so nicht.
({0})
Das ist, wie Frau Hermenau eben völlig zu Recht zugerufen hat, eine wirtschaftliche Entscheidung. Wir alle müssen dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze in Deutschland
bleiben. Zum Teil werden sie auch nach Ostdeutschland
verlagert.
({1})
Tatsache ist doch Folgendes - das gehört auch noch zur
Antwort auf Ihre Frage, Herr Jüttemann -: Ein Betrieb
denkt in der Regel dann über eine Standortverlagerung
nach, wenn die Produktion am alten Standort nicht mehr
rentabel ist oder aus anderen Gründen nicht mehr fortgesetzt werden kann. Das ist also eine unternehmerische
Entscheidung. Man kann die neuen Kapazitäten im Ausland aufbauen. Dann gehen die Arbeitsplätze für Deutschland ganz verloren. Im Interesse von uns allen ist es aber
doch, Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten,
({2})
und zwar auch dann, wenn sie in eine strukturschwache
Region in einem anderen Bundesland gehen. Selbst dann,
wenn wie im Falle der Firma Brandt am Ende weniger
Arbeitsplätze als vorher erhalten bzw. geschaffen werden,
ist eine Förderung nach Ansicht von Bund und Ländern
gerechtfertigt und notwendig. Die Erfahrungen zeigen,
dass die Entscheidung des Unternehmers, den Standort zu
schließen oder zu verlagern, in der Regel nicht aufgrund
der Fördergelder getroffen wird.
Was Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der PDS,
ebenfalls nicht berücksichtigt haben, ist die Tatsache, dass
nicht der Bund die letzte Entscheidung bei der GA-Förderung trifft. Die Bundesländer sind für die Durchführung, das heißt für die Prüfung der Förderanträge, für
die Entscheidung über die Höhe der gewährten Zuschüsse
und für die Kontrolle, allein zuständig und verantwortlich.
Jelena Hoffmann ({3})
Leider gibt es bei dieser Förderung der strukturschwachen Regionen auch Mitnahmeeffekte und Fälle von
Missbrauch. Die Länder sind dazu verpflichtet, die Investitionen zu prüfen. Sollte tatsächlich etwas nicht rechtmäßig sein, dann müssen die Fördergelder zurückgezahlt
werden. Aber auch mithilfe intensiver Kontrollen kann
man solche Fälle von Missbrauch nicht völlig ausschließen. Schwarze Schafe gibt es überall. Man darf aber
nicht nur von solchen Fällen reden. Das ist also noch
lange kein Grund dafür, das Instrument der Gemeinschaftsaufgabe infrage zu stellen Es ist einfach nicht korrekt, sehr geehrte Kollegen von der PDS, den Aufbau Ost
gegen einzelne Fälle in Westdeutschland auszuspielen.
Sie aber machen das mit Ihrem Antrag.
({4})
Wie ich bereits sagte, tut es mir um jeden einzelnen Arbeitsplatz in Ost- und Westdeutschland Leid. Aber wenn
Sie jetzt hergehen und den Betroffenen einreden, der Aufbau Ost sei an ihrer Situation schuld, dann argumentieren
Sie demagogisch und reißen sinnlos neue Gräben auf. Dabei sind wir ein Land, das mit voller Kraft darangehen
muss, Arbeitsplätze im Land zu halten und neue zu schaffen. Das ist die politische Zielgerade, die wir erreichen
müssen. Ihr Flickwerk führt dagegen, wenn es überhaupt
irgendwohin führt, in die Irre.
Vielen Dank.
({5})
Ich gebe dem
Kollegen Jochen-Konrad Fromme für die CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der PDS beinhaltet in klassenkämpferischer Art und
Weise Unterstellungen. Er reißt wieder Gräben auf, deshalb kann man ihm nicht zustimmen.
Herr Kollege Jüttemann, Sie verkennen einfach betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten. Häufig ist es doch
so, dass man vor der Frage „Weniger oder nichts?“ steht.
Dann ist doch das Weniger immer noch besser als gar
nichts.
({0})
Meine Damen und Herren, wir wollen keine neuen Gräben, wir wollen nicht Ost gegen West ausspielen. Wir
müssen die Probleme gemeinsam lösen, und zwar emotionsfrei und ohne Klassenkampf.
({1})
Dieser Antrag gibt mir aber Gelegenheit, ein Problem
aufzuzeigen, das wir auch in umgekehrter Richtung haben. Ich vertrete hier einen Wahlkreis, der im ehemaligen
Zonenrandgebiet liegt. Da sagen mir die Handwerker: Wir
bekommen keinen einzigen öffentlichen Auftrag mehr,
weil alle diese Aufträge an die Firmen gehen, die ihren
Sitz wenige Kilometer weiter in den neuen Bundesländern haben.
({2})
- Es ist nicht die Frage, wer da rübergegangen ist.
Wir haben in zweifacher Hinsicht Probleme an den
Schnittstellen. Ich spreche das auch deshalb so ausführlich an, weil wir darauf achten müssen, dass wir nicht an
der nächsten Schnittstelle, wenn es um die Osterweiterung der EU geht, diese Probleme erneut bekommen. Deswegen müssen wir darüber nachdenken.
({3})
Beipiele Löhne: Wir haben im Westen ein durchschnittliches Lohnniveau von 24 DM, im Osten ein
durchschnittliches Lohnniveau von 17 DM.
({4})
Ich habe das einmal durchgerechnet: Für einen Installationsbetrieb mit 15 Mitarbeitern bedeutet das einen Kostenunterschied von fast 250 000 DM. Wenn dieser Betrieb
mit diesen Mehrkosten anbieten muss, dann hat er natürlich keine Chance im Wettbewerb. Da nützen auch die Tariftreueerklärung und das Entsendegesetz nichts, wenn
das nicht scharf kontrolliert wird. Bundesanstalt für Arbeit und Zollämter, die dafür zuständig sind, dürfen die
Erklärung nicht nur entgegennehmen und abheften, sondern müssen in die Betriebsunterlagen gucken und auch
nachprüfen, was denn wirklich gezahlt wird. Die Tarifverträge gibt es nämlich aus guten Gründen. Dass wir das
nicht allein so sehen, zeigt auch die Tatsache, dass die
SPD-Landtagsfraktion in Hannover darüber nachdenkt,
ein entsprechendes Gesetz einzubringen.
Es geht aber noch um einen weiteren Punkt, nämlich
um die Frage, wie sich Investitionsförderung eigentlich
auswirkt. Natürlich wollen wir, dass die entsprechenden
Betriebe auf die Beine kommen. Deswegen brauchen sie
Investitionsförderung. Ich habe da ganz konkret einen Betrieb vor Augen - 200 Millionen DM Umsatz -, der bei einer Investitionssumme von 200 Millionen DM in Magdeburg 43 Prozent und im ehemaligen Zonenrandgebiet
8 Prozent Förderung bekommt. Das macht, heruntergerechnet auf den Endpreis, 2 Prozent des Angebotspreises
aus, die er nicht abschreiben und verzinsen muss. Eine
Differenz von 2 Prozent führt in einem scharf umkämpften Markt schlicht und einfach dazu, dass man keine Aufträge mehr bekommt. Das ist das Problem.
({5})
Wir müssen auf der einen Seite dafür sorgen, dass die
Förderung gezielt dort eingesetzt wird, wo sie notwendig ist.
Wir müssen aber auf der anderen Seite versuchen,
Verwerfungen, die dadurch im Wettbewerb entstehen, in
den Griff zu bekommen. Es geht nicht darum, ob das jemand
zum Beispiel dazu missbraucht, den Lohn zu drücken. Das
ist eine Frage, mit der sich die Tarifparteien, mit der sich die
Gewerkschaften auseinander setzen müssen.
Es geht darum, dass wir Wettbewerbsverzerrungen an
den Schnittstellen verhindern müssen, um so zu verhinJelena Hoffmann ({6})
dern, dass Betriebe, die eigentlich eine gute Existenz hätten, zerstört werden oder gezwungen werden, mit zusätzlichen Kosten ihren Standort zu verlagern, um dann wieder wettbewerbsfähig zu werden. Das, meine Damen und
Herren, ist die Aufgabe. Darum sollten wir uns kümmern.
Schönen Dank.
({7})
Ich will
doch bekannt machen, dass der Redner auf sieben Minuten seiner Redezeit verzichtet hat.
({0})
Kollege Werner Schulz vom Bündnis 90/Die Grünen
hat erklärt, - ich gehe davon aus, dass auch dies die volle
Zustimmung des Hauses findet -, dass er seine Rede zu
Protokoll gibt.1)
({1})
Für die F.D.P. gebe ich dem Kollegen Hans-Michael
Goldmann das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe soeben im
Kürschner nachgeschaut, welchen Beruf Sie, Herr
Jüttemann, haben. Denn ich konnte gar nicht glauben,
dass das, was Sie von sich gegeben haben, ernst gemeint
sein kann. Ich habe gelesen, dass Sie Zerspanungsfacharbeiter sind. Auf jeden Fall wissen Sie, wie ich annehme,
wie richtig gearbeitet wird. Ich muss Ihnen ganz ehrlich
sagen: Eigentlich müsste doch einem wie Ihnen der Wert
eines Arbeitsplatzes ganz besonders klar sein.
Vor diesem Hintergrund bin ich sehr über das überrascht, was Sie gesagt haben. Nebenbei gesagt, ich werde
Ihre Anregungen in all den Gesprächen, die ich bei mir
vor Ort führe, nicht aufgreifen. Denn es gibt in meiner Region, in der die Arbeitslosigkeit in manchen Bereichen
immerhin 15 Prozent beträgt, eine Menge Leute, die nicht
nur jubeln, wenn es darum geht, neue bzw. zusätzliche
Programme dafür aufzulegen, dass es den Menschen in
den neuen Ländern ein Stück besser geht; was ich persönlich für absolut notwendig halte.
Zu Herrn Kollegen Kutzmutz, der soeben anmerkte:
„Aber nicht mit staatlichen Mitteln!“, kann ich nur sagen:
Eine Entwicklung der Innenstädte, die Beseitigung des
Wohnungsleerstandes und Schaffung von Arbeitsplätzen,
ohne staatliche Mittel? Na, dann Prost! Das sollten Sie
einmal Ihrer Kollegin Ostrowski sagen
({0})
- jetzt hören Sie einmal zu! -,
({1})
die in jeder Ausschusssitzung Anträge in Milliardenhöhe
zur Bereitstellung öffentlicher Mittel für Ostdeutschland
stellt. Wenn Sie Ihren Antrag auch nur andeutungsweise
ernst gemeint haben, dann haben Sie ihm durch Ihre
Ausführungen, die Sie hier vorhin gemacht haben, einen
Bärendienst erwiesen.
Nun möchte ich etwas zu dem ganz konkreten Fall sagen, der Sie ja gar nicht interessiert. Ich habe dem Kollegen aus Hagen gerade gesagt, dass ich hier sagen werde:
Ich finde es richtig, dass die Firma Brandt Zwieback
GmbH nach Thüringen wechselt. Ich will Ihnen auch sagen, warum.
({2})
- Das stimmt überhaupt nicht. Die Firma hatte am Standort Hagen keine Entwicklungsmöglichkeiten. Das wissen Sie genauso gut wie ich.
({3})
Ebenso wissen Sie genauso gut wie ich, dass das Land
Nordrhein-Westfalen einen Arbeitgeber, der Arbeitsplätze
vorhält, nicht ohne Weiteres gehen lässt.
Nein, die Rahmenbedingungen in Hagen waren für einen zukunftsfähigen Betrieb nicht geeignet.
({4})
- Ich war schon einmal da. Ich kenne Hagen ziemlich gut,
vielleicht besser als Sie.
({5})
- Geschätzter Kollege, hören Sie wenigstens zu, wenn Sie
schon einen Zuruf machen! Wollen Sie etwa behaupten,
dass die Kollegen von der PDS soeben richtige Ausführungen gemacht haben, oder wollen Sie vielleicht
nicht doch zur Kenntnis nehmen, dass nach Auffassung
der Firma Brandt der Standort, den sie jetzt im Thüringischen findet, der einzig mögliche zukunftsfähige Standort
in der Bundesrepublik Deutschland ist? Wissen Sie denn
nicht, dass die Firma Brandt weitreichende Angebote aus
Polen und Tschechien bekommen hat?
Seien Sie von der PDS doch froh darüber, dass in dem
Gewerbegebiet mit seiner Infrastruktur, das mit umfangreichen öffentlichen Mitteln entstanden ist und in das die
Firma Brandt ihre Produktion verlagert, und für die Menschen, die an mit öffentlichen Mitteln geförderten Programmen teilnehmen, Arbeitsplätze geschaffen und gesichert werden.
({6})
Das, was Sie hier gesagt haben, finde ich skandalös im
Vergleich zu dem Anspruch, den Sie als sozialistische Partei ansonsten erheben, indem Sie sich für die Menschen
bzw. für die Schaffung von Arbeitsplätzen einsetzen. Was
Sie hier getan haben, ist eine echte Beleidigung der Menschen in Ihrer Region. Das können wir absolut nicht hinnehmen.
({7})
Das Wort
hat nun der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion.
1) Anlage 3
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! 1912 gründet Carl Brandt die Märkische Zwiebackfabrik in Hagen-Haspe. Der Betrieb wächst rasch, die
Zwiebacktüte mit dem Kindergesicht - Sie kennen sie
wahrscheinlich; ich habe Ihnen ein Exemplar mitgebracht - wird schnell zu einem Markenzeichen auch für
die Stadt Hagen. 1984 übernimmt der Sohn des Gründers,
Carl-Jürgen Brandt, das traditionsreiche Unternehmen, in
dem zu diesem Zeitpunkt 2 500 Menschen arbeiten. Zehn
Jahre später arbeiten nur noch 1 300 Menschen in Haspe,
1999 schließlich nur noch 632.
Herr Goldmann, als jemand, der mit dem Zwiebackgeruch groß geworden ist, kann ich Ihnen nur sagen, dass die
Rahmenbedingungen nicht so schlecht waren, wie Sie das
dargestellt haben, und dass die Stadt Hagen viel dafür getan hat, dieses Unternehmen zu halten. Aber dies hat andere Gründe.
({0})
- Weil die Subventionen lockten; aber darauf gehe ich
gleich ein.
Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte im Deutschen Bundestag? - Weil ich deutlich machen will, dass
Hagen mit Brandt Zwieback mehr als Arbeitsplätze verliert. Ein Stück Identität und Geschichte geht in einer Stadt
verloren, die in den letzten dreißig Jahren über 12 000
Stahlarbeitsplätze hat verlieren müssen. Als vor einem
Jahr die Hagener Zeitungen erstmals meldeten, dass CarlJürgen Brandt das Unternehmen nach Ohrdruf in Thüringen verlagern will, ging ein Aufschrei der Empörung, aber
auch der Solidarität, durch die Bevölkerung.
Bei einer Investition von insgesamt etwa 80 Millionen DM zahlen Bund und Land 30 Millionen DM an
Subventionen in Thüringen. 430 Arbeitsplätze in Hagen
gehen verloren; etwas über 100 werden in Ohrdruf geschaffen. Statt kreditfinanziert endlich sein Unternehmen
in Hagen zu modernisieren und seine Pflicht zu tun, kassiert ein Unternehmer Steuersubventionen und baut in
Thüringen neu. „Wir finanzieren mit unserem Solidaritätsbeitrag den Abbau unseres eigenen Arbeitsplatzes“,
sagen die Beschäftigten. Ich kann diese Reaktion verstehen, denn als Hagener kann man den Sinn dieses
Subventionssystems kaum begreifen. „Aber NordrheinWestfalen hätte es umgekehrt genauso gemacht“, sagte
eine Vertreterin des Wirtschaftsministeriums NRW
ehrlicherweise. Das ist in der Tat das Problem.
Umso mehr ärgert mich wieder einmal das Vorgehen
der PDS. Durch Ihre Äußerungen haben Sie der Belegschaft im letzten Jahr Hoffnungen gemacht, die einfach
nicht realistisch sind. Wir dürfen nicht mit den Nöten und
Ängsten der betroffenen Arbeitnehmer und ihrer Familien
spielen. Es ist unverantwortlich, auf dem Rücken der Betroffenen ein politisches Süppchen zu kochen. Damit verbrennen Sie sich auf Dauer die Finger.
({1})
Als Hagener Abgeordneter ist es meine Aufgabe, mit
den Sorgen der Menschen verantwortungsvoll umzugehen und keine Versprechungen zu machen, die ich nicht
halten kann. Die Forderungen in Ihrem Antrag sind an
sich sympathisch, aber sie wecken falsche Hoffnungen.
Das System ist nämlich komplizierter, als Sie es wahrhaben wollen. Die Kriterien in Ihrem Antrag sind kaum zu
verwenden, denn das Lohnniveau in Ostdeutschland ist
nun einmal niedriger als im Westen. Das bedauern wir
ebenfalls; aber das Betriebsverfassungsgesetz - und das
wird demnächst sogar noch besser werden - gibt es auch
im Osten.
({2})
Sie fordern, der Bund möge im Einvernehmen mit den
Bundesländern Kriterien festlegen. Das wollen wir versuchen. Bund und Länder diskutieren nämlich bereits, wie
das Fördersystem nach 2004 aussehen kann. Aber man
darf sich nicht täuschen, wie schwierig solche Verhandlungen sind. Eine Einvernehmensregelung gibt es - der
Kollege von der CDU hat das bereits gesagt - bereits in
vergleichbaren Verlagerungsfällen in den Gebieten der
ehemaligen Zonenrandförderung, zum Beispiel, wenn ein
Unternehmen von Helmstedt zwanzig Kilometer nach
Osten zieht oder - oft genug der Fall - von Bayern über
die Grenze nach Thüringen abwandert. Doch selbst unter
Landesregierungen gleicher politischer Couleur ist die
Herstellung eines Einvernehmens sehr schwierig; es
herrscht ein harter Konkurrenzkampf. Es ist daher die
Frage, inwieweit dieses Modell auf die Bundesebene
übertragbar ist. Die schwachen Regionen, gerade die im
Osten des Landes, werden verständlicherweise stets auf
ihre großen Probleme und auf die Nähe zu Polen und
Tschechien, die als Alternativstandorte immer wieder genannt werden, verweisen.
Für die Förderpolitik gilt es, realistische Modelle zu
diskutieren, die von allen Ländern getragen werden. Der
Belegschaft von Brandt gilt unsere Solidarität und unser
Engagement. Das können Sie glauben; und da reicht es
nun einmal nicht, als PDS-Abgeordneter einzufliegen und
falsche Versprechungen zu machen.
({3})
Zusammen mit dem in dieser Frage sehr engagierten
nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang
Clement und der Stadt Hagen müssen wir versuchen, den
Beschäftigten in Hagen eine Perspektive zu geben. Mein
persönlicher Dank geht an den Betriebsrat - stellvertretend sei der Kollege Bernd Bisterfeld genannt -, an das
Bürgerbündnis und an alle Hasper und Hagener Bürger
für ihre Solidarität.
Glück auf! Den Zwieback gebe ich Ihnen, Herr Präsident - sozusagen zu Protokoll.
({4})
Den Zwieback haben wir uns verdient. Der Kollege hat nämlich
seine Redezeit deswegen überschritten, weil er mit der
Zwiebackpackung das optische Signal des Präsidenten
verdeckt hat.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5248 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. - Das Haus ist einverstanden. Die Überweisung
ist so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis c auf:
12. a) - Zweite und dritte Beratungs des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000
({1})
- Drucksache 14/5198 ({2})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin
Marschewski ({3}), Meinrad Belle,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern
2000/2001 ({4})
- Drucksache 14/4247 (Erste Beratung 140. Sitzung
- Zweite und dritte Beratungs des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Dr. Edzard SchmidtJortzig, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung
von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund
und Ländern 2000 ({5})
- Drucksache 14/4134
({6})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({7})
- Drucksache 14/5476 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Meinhard Belle
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Petra Pau
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({8}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksachen 14/5477, 14/5478
Berichterstattung:
Abgeordnete Gunter Weißgerber
Oswald Metzger
Dr. Werner Hoyer
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({9}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach,
Erwin Marschewski ({10}), Meinrad
Belle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Gleichbehandlung im öffentlichen Dienst - Ta-
rifergebnis auf Beamte übertragen
- Drucksachen 14/3772, 14/5476 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Meinrad Belle
Cem Özdemir
Dr. Max Stadler
Petra Pau
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski
({11}), Meinrad Belle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der beamtenrechtlichen Altersteilzeit
- Drucksache 14/3777 ({12})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({13})
- Drucksache 144594 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Meinhard Belle
Annelie Buntenbach
Dr. Max Stadler
Petra Pau
Die Kollegen Hans-Peter Kemper, SPD, Meinrad
Belle, CDU/CSU, Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grü-
nen, Dr. Max Stadler, F.D.P., Petra Pau, PDS, und für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Fritz Rudolf Körper geben - ich sehe Ihr Einver-
ständnis - ihre Reden zu Protokoll.1)
({14})
Wir kommen unter Tagesordnungspunkt 12 a zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache
14/5476. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zur Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und
Ländern 2000, ({15}). Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Wie war das Abstimmungsverhalten der F.D.P.?
({16})
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von F.D.P. und PDS bei Stimmenthaltung der
CDU/CSU angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
1) Anlage 4
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Lesung
angenommen.
Weiter zu Tagesordnungspunkt 12 a: Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion
der CDU/CSU zur Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000/2001 auf
Drucksache 14/4247. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der F.D.P. zur Anpassung von
Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern
2000 auf Drucksache 14/4134. Wer diesem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen abgelehnt. Auch hier entfällt nach der
Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 12 b: Schließlich empfiehlt der
Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Gleichbehandlung im öffentlichen Dienst - Tarifergebnis auf Beamte übertragen“,
Drucksache 14/3772. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die übrigen Stimmen des Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 12 c: Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der
CDU/CSU zur Fortentwicklung der beamtenrechtlichen
Altersteilzeit auf Drucksache 14/3777. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4594, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen
die Stimmen der anderen Fraktionen abgelehnt. Die weitere Beratung entfällt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus
Riegert, Ilse Aigner, Marie-Luise Dött, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung ehrenamtlicher Tätigkeiten in Vereinen
und Organisationen
- Drucksache 14/5224 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({17})
Sportausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Die Kollegen Dieter Grasediek SPD, Klaus Riegert,
CDU/CSU, Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen,
Gerhard Schüßler, F.D.P. und Dr. Klaus Grehn, PDS ge-
ben ihre Reden zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5224 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisung ist so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis c auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Staatsangehörigkeitsgesetzes
- Drucksache 14/5335 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({18})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard SchmidtJortzig, Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes und des Ausländergesetzes
- Drucksache 14/4537 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({19})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Max
Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
„Schlussoffensive“ für erleichterte Einbürgerung von Kindern
- Drucksache 14/4416 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({20})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Bürsch,
SPD, Thomas Strobl, CDU/CSU, Marie-Luise Beck,
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
1) Anlage 5
Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Max Stadler, F.D.P., Ulla
Jelpke, PDS, und die Parlamentarische Staatssekretärin
Sonntag-Wolgast geben ihre Reden zu Protokoll.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5335, 14/4537 und 14/4416 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende
unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. März, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.