Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/8/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den vergangenen zwei Jahren sind in Deutschland rund 900 000 neue Arbeitsplätze entstanden. ({0}) Das sind so viele neue Arbeitsplätze, wie in den Jahren von 1991 bis 1998 verloren gegangen sind. ({1}) Diese Bundesregierung hat immer gesagt, sie lässt sich an den Erfolgen am Arbeitsmarkt messen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung ist erfolgreich. ({2}) Allein im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Erwerbstätigen um rund 580 000. ({3}) Die Arbeitslosenquote sank auf 9,6 Prozent. Der Abbau der Arbeitslosigkeit gelang dadurch stärker, als ich selbst noch vor einem Jahr geglaubt hatte. Ich würde mich auch in diesem Jahr gerne positiv überraschen lassen. Aber schon, wenn es uns gelingt, die Zahl der Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt an die 3,5 Millionen heranzuführen, wäre das ein großer Erfolg. ({4}) Wir erwarten für dieses Jahr einen Rückgang der Zahl der Arbeitslosen um 270 000. Meine Damen und Herren, anders als es die Opposition behauptet, hilft uns die demographische Entwicklung das ist Ihre Fälschung - dabei nicht. Zwar gehen Jahr für Jahr viele Menschen in Rente, noch mehr drängen aber neu auf den Arbeitsmarkt. Menschen, die seit langem die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz aufgegeben hatten, fassen wieder Mut. Sie suchen einen Arbeitsplatz und sie finden ihn. Sie kommen aus der so genannten stillen Reserve. Die Legende, die Entlastung des Arbeitsmarktes sei allein auf demographische Effekte zurückzuführen, ist widerlegt. Die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt ist echt und sie wäre ohne unsere erfolgreiche Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht so deutlich ausgefallen. ({5}) Der Chef von Audi, Herr Paefgen, hat in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ letzte Woche gesagt, langfristig erwarte sein Unternehmen Produktionsengpässe. Dann sagte er wörtlich: „An den deutschen Standorten ist das Reservoir geeigneter Fachkräfte nahezu ausgeschöpft.“ Dazu kann ich nur sagen: Sehr geehrter Herr Paefgen, bilden Sie neue aus! Sie werden sie in Zukunft noch brauchen. ({6}) Es ist doch nicht so, dass es in Deutschland keine arbeitswilligen Menschen mehr gäbe, und es ist auch längst nicht so, dass die, die gerne arbeiten wollen, nicht ausbildungsfähig und ausbildungswillig wären. Die Unternehmen müssen wissen, dass Investitionen in Ausbildung ähnlich wichtig sind wie Investitionen in Anlagekapital. ({7}) Bei aller Unterstützung durch den Staat bleibt es die Aufgabe der Unternehmen, in ihre Arbeitnehmer zu investieren. Deswegen bin ich froh über das, was das Bündnis für Arbeit am vergangenen Sonntag zu diesem Thema gesagt hat. ({8}) - Ich komme zu Ihnen. - Anders sieht das scheinbar die Union: Aus deren Reihen kam der Vorschlag, den Anspruch auf Weihnachtsgeld teilweise in einen Fortbildungsanspruch umzuwandeln. Ich kann da alle Arbeitnehmer nur warnen: Die Union will euch ans Weihnachtsgeld. Ihr sollt einen Teil der Kosten der Unternehmen übernehmen. ({9}) - Dann dürfen Sie nicht solche Vorschläge machen. ({10}) Präsident Wolfgang Thierse Ich bin sehr für lebenslanges Lernen. Fortbildungsbereitschaft muss bei den Arbeitnehmern bis ins hohe Alter bestehen. Wir müssen auch wieder lernen, ältere Arbeitnehmer zu schätzen, und sie nicht frühzeitig in Rente schicken. ({11}) Aber die Kosten zulasten der Arbeitnehmer zu verschieben, halte ich in der Tat für falsch. Das zeigt jedoch ausdrücklich, welche Position Sie einnehmen. ({12}) - Ja, darauf komme ich noch, wenn ich mir Ihre Haushaltsvorschläge anschaue. Für Sie kam der Aschermittwoch gerade eine Woche zu spät. ({13}) Bis vorige Woche, sogar bis zum Anfang dieser Woche, hieß es: Der schwimmt im Geld. Jetzt heißt es - manchmal hat Ihr haushaltspolitischer Sprecher beides ja in einem Satz unterbekommen -: Er hat große Haushaltslöcher. Sie müssten sich einmal entscheiden, meine Damen und Herren. Es ist unglaublich, was Sie sich in der Haushaltspolitik alles leisten. Das Wirtschaftswachstum in Deutschland war im vergangenen Jahr so stark wie seit dem Wiedervereinigungsboom nicht mehr. Mit 3 Prozent lag es deutlich über dem Durchschnitt der 90er-Jahre. Der Jahresdurchschnitt betrug damals nämlich 1,4 Prozent. In den von Ihnen in letzter Zeit hoch gehaltenen 80er-Jahren - weil Sie nicht so gerne über die 90er reden - betrug der Durchschnitt 2 Prozent. Für 2001 erwarten wir weiterhin ein starkes und robustes Wirtschaftswachstum. Die Dynamik wird sich zwar leicht abschwächen; angesichts von 2,75 Prozent realem Wachstum bleibt das Umfeld zum Aufbau neuer Arbeitsplätze aber weiterhin günstig. Meine Damen und Herren, die Lage in den neuen Ländern muss derzeit noch differenziert betrachtet werden. ({14}) Der Anpassungsprozess in der Bauwirtschaft dauert an und ist auch unvermeidlich. Die ersten Jahre waren durch einen - ich sage nicht überhöhten - Boom gekennzeichnet. Angesichts der nach Jahrzehnten der Nichtinvestition vorgefundenen Situation in der ehemaligen DDR war das auch notwendig. Das kann aber keine Dauersituation bleiben. Andererseits übertrifft die Dynamik des verarbeitenden Gewerbes dort die im Westen schon seit längerem. Die Unternehmen expandieren und sie sind auch international wettbewerbsfähig. Diese positive Entwicklung wird von uns gefördert. Zur Verbesserung der Infrastruktur werden wir vor der Bundestagswahl einen neuen Solidarpakt schließen; so hat es der Bundeskanzler mit den Ministerpräsidenten verabredet. ({15}) An dieser Stelle rate ich im Übrigen dazu, sich gelegentlich des Sachverstandes eines Ihrer Mitglieder, nämlich Herrn Späths, zu bedienen, um zu erkennen, wie die Entwicklung in den neuen Bundesländern tatsächlich verläuft. Als Wachstumsprognose für ganz Deutschland nenne ich bewusst 2,75 Prozent. Prognosen, die sich auf einen Zehntelprozentpunkt festlegen, versuchen eher, eine Tendenz anzudeuten. So genau kann niemand schätzen und mit dieser Präzision können Wirtschaftsabläufe nicht vorhergesagt werden. Mit 2,75 Prozent meinen die Experten die Bandbreite zwischen 2,875 Prozent und 2,625 Prozent. Noch im November sahen uns alle Experten eher am oberen Rand dieser Spanne. Die gestiegenen Energiepreise und die Abschwächung der Wirtschaftsentwicklung in den Vereinigten Staaten lassen uns vorsichtiger werden. ({16}) Deutschland wird in diesem Jahr wahrscheinlich eher am unteren Rand dieser Spanne bleiben; die Aussichten sind aber weiterhin günstig. Das belegen die Umfrageergebnisse des Deutschen Industrie- und Handelstages, der uns seinerseits mit 2,8 Prozent eher am oberen Ende sieht und der direkt am Puls der Zeit ist, also das Geschehen in den Betrieben kennt. Auch die gestern durch das Statistische Bundesamt veröffentlichten Zahlen über den Auftragseingang zeigen: Auf der einen Seite gab es von Dezember zu Januar eine leichte Abschwächung; im Zweimonatsvergleich - aus einem Einmonatsvergleich kann man nicht viel schließen - sieht das schon anders aus. Eines kann man sehen: Wir bewegen uns auf wesentlich höherem Niveau als vor einem Jahr. Der Vergleich zwischen Dezember 1999/Januar 2000 und Dezember 2000/ Januar 2001 zeigt, dass es insgesamt einen Anstieg des Auftragseingangs um 10,3 Prozent - Inland 5,3 Prozent, Ausland 16,8 Prozent - gibt. In Ostdeutschland sind die Zuwächse doppelt so hoch wie im Westen. Das zeigt, dass die These richtig ist: Wir haben - niemand bestreitet das eine Wachstumsabschwächung; aber wir haben gleichzeitig ein starkes, robustes Wirtschaftswachstum auf außerordentlich hohem Niveau. Das ist der eigentliche Sachverhalt, mit dem wir es zu tun haben. ({17}) Es besteht kein Grund zur Schwarzmalerei. Aus unbegründeter, übertriebener Schwarzmalerei - darin sind wir Deutschen offenbar gut - könnte eher ein Risiko entstehen. Schwarzmalerei könnte bei den Verbrauchern zu unnötiger Kaufzurückhaltung führen. ({18}) Wir blieben dann unter unseren Möglichkeiten. In der jetzigen Wirtschaftslage gilt: Schwarz sehen kommt teuer zu stehen. ({19}) Im Hinblick auf die vor uns stehenden Wahlen - man denke an die Staatsverschuldung - sage ich ebenfalls: Auch schwarz wählen kommt uns teuer zu stehen. ({20}) Unsere Wachstumserwartung stützt sich vor allem auf eine Binnennachfrage, die stärker als im vergangenen Jahr ist. Unsere Erfolgsformel lautet: Höheres Netto-einkommen dank Steuersenkung multipliziert mit höherer Beschäftigung gleich mehr Kaufkraft. Das Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr rund ein halbes Prozent höher liegen, als es ohne die beschlossene Steuerreform gewesen wäre. Die Entlastung der Bürger durch die Steuerreform ist auch deutlich höher als die Belastung durch die gestiegenen Energiepreise. Von Ihrer Falschmünzerei in Bezug auf das Thema Ökosteuer will ich gar nicht reden. Das Verhältnis zwischen Entlastung auf der einen Seite und Belastung durch die Ökosteuer auf der anderen Seite - diese Belastung wird über die Höhe der Rentenversicherungsbeiträge voll zurückgegeben - beträgt neun zu eins. ({21}) Allein in diesem Jahr sinkt durch die Steuerreform die Steuerbelastung der Bürgerinnen und Bürger sowie der Unternehmen um rund 45 Milliarden DM. Es handelt sich um nahezu 1,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Kein Land in Europa - das ist gut so - hat eine solch durchgreifende Steuersenkung wie Deutschland durchgeführt, obwohl eine Reihe von Ländern zum 1. Januar Steuersenkungen in Kraft gesetzt hat. Die Arbeitnehmer haben im Januar und im Februar bereits mehr Nettolohn erhalten. Im Schnitt bedeutet das einen Nettozuwachs um 3 Prozent. Von den Tariferhöhungen und von den Kaufpreissteigerungen - auch das muss man natürlich dagegenrechnen - will ich gar nicht sprechen. Ich wiederhole: Der Nettozuwachs durch die Steuerreform liegt bei 3 Prozent. Ich kann allen Arbeitnehmern versichern: Das bleibt nicht nur so; vielmehr wächst 2003 und 2005 die Entlastung noch an. Nutzen Sie das zusätzliche Einkommen! Herr Uldall, ich bin übrigens ganz zufrieden mit dem, was Sie gesagt haben. Sie haben inzwischen anerkannt, dass es sich in der Tat um eine große Steuerreform handelt, nachdem Sie die ganze Zeit versucht haben, das in Abrede zu stellen. Sie haben aber hinzugefügt, sie sei nicht größer als die Steuerreform von Stoltenberg. Es gibt dennoch einen großen Unterschied, sehr geehrter Herr Uldall: Zu der Zeit von Stoltenberg betrug die Zinsausgabenquote 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Wir haben aber von Ihnen einen Haushalt mit einer Zinsausgabenquote von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts übernommen. Der Unterschied entspricht einer Summe von 40 Milliarden DM. Ausgehend von dieser höheren Ausgabe musste ich die Steuerreform durchführen. Insofern handelt es sich um eine weitaus größere Anstrengung, als Sie sie in den 80er-Jahren zusammen mit Herrn Stoltenberg im Rahmen Ihrer Steuerreform auf sich genommen haben. ({22}) Unsere Steuerreform kommt genau zur rechten Zeit. Wenn wir sie nicht schon beschlossen hätten, müssten wir uns jetzt damit beeilen. Deutschland reagiert auf die Abkühlung der Weltwirtschaft im richtigen Augenblick mit einer Steuersenkung. Wir stärken die Binnennachfrage und kompensieren so den womöglich etwas schwächeren Export. Man muss allerdings den Export genauer betrachten - man kann sich zum Beispiel den Automobilexport in die Vereinigten Staaten ansehen -: Zwar hat auf der einen Seite der Automobilhersteller Volkswagen weniger Autos in den USA abgesetzt - gleichzeitig konnte er in Deutschland mehr Autos absetzen; allgemein haben wir bei den Zulassungen im Januar 2001 einen Zuwachs gegenüber dem Januar 2000 -, aber auf der anderen Seite hat der Absatz aller anderen deutschen Automobilhersteller in den USA zugelegt. Diese erstaunliche Entwicklung zeigt, dass unsere Produkte gut sind. Im Übrigen weise ich darauf hin, dass für unsere Volkswirtschaft der Export in die mittelosteuropäischen Reformstaaten dieselbe Bedeutung hat wie der Export in die Vereinigten Staaten. Die Wirtschaft der mittelosteuropäischen Reformstaaten wächst nämlich stark. Auch die amerikanische Regierung plant eine Steuerreform, um dort die Wachstumsschwäche zu überwinden. Die amerikanische Notenbank hat bereits schnell und drastisch die Zinsen gesenkt. Es sieht so aus, als könnten die USA - dies ist jetzt aber eine Sache der Interpretation; keiner kann es genau vorhersagen - bald wieder bessere Wachstumswerte erreichen. Davon wird die gesamte Weltwirtschaft profitieren, auch Deutschland. Im vergangenen Jahrzehnt haben die Vereinigten Staaten eine nie da gewesene Phase von Wirtschaftswachstum, von sinkender Arbeitslosigkeit und von relativ stabilen Preisen erlebt. Viele sahen darin den Beginn einer New Economy. Ich weise allerdings auch auf die Schattenseiten hin, die wir lange Zeit nicht ausreichend diskutiert haben: das große Leistungsbilanzdefizit, das uns in der Tat mit Blick auf die Weltwirtschaft Sorgen machen muss, die geringe Sparrate und in vielen Fällen die hohe Verschuldung der privaten Haushalte. Aber die anderen Entwicklungen sind positiv. Träger dieser positiven Entwicklungen war die Informations- und Kommunikationstechnologie. Der Jahreswirtschaftsbericht 2001 widmet diesem Phänomen ein eigenes Kapitel. Die jüngste Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft steht nicht unbedingt im Widerspruch zur New Economy; denn nicht zu übersehen sind die Produktivitätszuwächse in den USA, die durch den Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologie zu verzeichnen waren. Das Produktionspotenzial in den USA wurde auf Dauer erhöht und modernisiert. Die New Economy hat darüber hinaus zu einem anhaltenden Strom von Innovationen geführt. Innovationen sind der Antrieb des Wirtschaftswachstums. Wir müssen uns um mehr Innovationen bemühen. Träger von Innovationen sind häufig Unternehmensgründer. Nicht ohne Grund werden Unternehmungsgründungen in vielen deutschen Förderprogrammen als Start-ups bezeichnet. Herr Präsident, Sie müssen mir verzeihen, der Fachausdruck für Unternehmensgründungen ist nun einmal „Start-ups“; ich kann kein anderes Wort dafür finden. Viele Unternehmungsgründungen starten aus dem Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie. Dort dominiert Englisch als Fachsprache. Die Wortwahl entspricht der Zielgruppe. In einer hoch entwickelten Volkswirtschaft wie der deutschen ist es schwer, als Unternehmensgründer einen Markt zu erobern. Wer ohne viel Geld unternehmerisch tätig werden will, dem bietet die Informations- und Kommunikationstechnologie weiterhin beste Chancen. Mit einer überzeugenden Idee lässt sich viel bewegen. Darin liegt ein großer Teil der Faszination der New Economy. Ich hoffe, dass noch viele ihre Kreativität auf diesem Sektor ausprobieren. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung wird sie dabei unterstützen. Ich sage aber auch mit allem Nachdruck: Vorstellungen, insbesondere Vorstellungen an der Börse, die nur auf Fantasie gegründet sind, sind nicht die richtige Grundlage. Das haben wir an der Entwicklung auf dem Neuen Markt sehen können. ({23}) Der Europäische Rat von Lissabon hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie nicht nur zu den Vereinigten Staaten aufzuschließen, sondern die führende Wettbewerbsposition in der Welt zu übernehmen. Die Bundesregierung arbeitet auf dieses Ziel hin. Wir brauchen dazu einen stabilen makroökonomischen Rahmen, eine verlässliche Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch eine technikfreundliche Gesellschaft. Für eine verlässliche, stabilitätsorientierte Finanzpolitik steht diese Bundesregierung. Die Offenheit gegenüber technischen Entwicklungen ist in allen Bevölkerungsgruppen hoch. Es gibt keine strukturellen Gründe, warum Europa und Deutschland nicht ebenso wie die Vereinigten Staaten zu einer lang anhaltenden Phase eines starken Wirtschaftswachstums und einer stetig sinkenden Arbeitslosigkeit bei stabiler Preisentwicklung kommen sollten. Der Euro hat die Voraussetzungen dafür übrigens deutlich verbessert. Die Wachstumsprognosen der Bundesregierung stützen sich aber nicht auf überzogene Erwartungen an die Informations- und Kommunikationstechnologie. Vielleicht schon in wenigen Monaten wird aus der Gentechnik eine „New New Economy“, oder ein Sektor, an den wir noch gar nicht denken, bringt über eine Basisinnovation zusätzlichen Schwung in die Wirtschaftsentwicklung. In diesem Jahr dürfte das Wachstum in der Europäischen Union bei rund 3 Prozent liegen. Deutschland hat im vergangenen Jahr mit seinem starken Wirtschaftswachstum zum Trend in der Europäischen Union aufgeschlossen. Das hatten wir auch bitter nötig, nachdem wir seit Mitte der 90er-Jahre hintendran hingen. Der lange Zeit große Abstand Deutschlands zum Durchschnittswachstum in Europa wurde stark verringert, und das trotz der Anpassungsprobleme in den neuen Bundesländern. Ähnliche Probleme hat keiner unserer europäischen Nachbarn zu bewältigen. Schon wenn die schlechte Lage der Bauwirtschaft in den neuen Ländern, die sich zwingend ergab, unberücksichtigt bliebe, sähe das Gesamtergebnis viel freundlicher aus. Wir arbeiten darauf hin, dass Deutschland eine angemessene Rolle in Europa spielt, so wie es der größten Volkswirtschaft zukommt, und gemeinsam mit Frankreich unter den Großen eine starke Position in der Mitte Europas einnimmt. Dieser Prozess verlangt eine stärkere Zusammenarbeit der nationalen Regierungen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Verflechtungen zwischen den Staaten haben zugenommen. Den zunehmenden Interdependenzen muss Deutschland mit seinen europäischen Partnern gemeinsam gerecht werden. Wir brauchen in Europa günstige makroökonomische Bedingungen und weitere Strukturreformen, um die Arbeitslosigkeit weiter zu bekämpfen. In einem Satz: „Reformkurs fortsetzen - Wachstumsdynamik stärken“, so auch der Titel des diesjährigen Jahreswirtschaftsberichts. Der Jahreswirtschaftsbericht stellt ausführlich die Vernetzung der nationalen mit der europäischen Wirtschaftspolitik dar. Es sind die gemeinsamen Grundzüge der Wirtschaftspolitik aller Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, an denen sich auch die nationale Politik, die vorher an ihrer Formulierung beteiligt ist, anschließend orientieren muss. Gerade die Grundzüge der Wirtschaftspolitik zeigen, wie stark der Einfluss der europäischen Einigung auf unsere Wirtschafts- und Finanzpolitik inzwischen notwendigerweise geworden ist. Im Europäischen Rat der Wirtschafts- und Finanzminister wollen wir nächste Woche einen weiteren Schritt in Richtung einer wissensbasierten, fortschrittlichen Wirtschaft und Gesellschaft in Europa gehen. Das deutsche Positionspapier für diesen Ecofin-Rat ist sehr konkret. Wir nennen die Maßnahmen, die wir uns wünschen, und verbinden sie mit Zeitpunkten, die wir anstreben. Das gilt beispielsweise für die vollständige Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes bis zum Ende des Jahres, aber auch der Post-, Gas- und Strommärkte, für die spätere Zeitpunkte gelten. Bei dieser Gelegenheit will ich noch eine Bemerkung zum Thema Postmonopol machen. Ich bin sehr für eine Öffnung der Märkte. Wir werden das Wachstumspotenzial des Binnenmarktes nur entfalten, wenn wir ihn wirklich öffnen. Das heißt, nationale Regulierungen stören und müssen weg; wir brauchen europäischen Regulierungen. Aber wir brauchen auch einen ungefähren Gleichklang bei der Deregulierung in den nationalen Volkswirtschaften. Es kann nicht so sein, dass wir alle unsere Märkte öffnen und andere aus gesicherten Monopolen heraus in unsere Märkte eindringen. Das kann auch nicht deutsches Interesse sein. ({24}) So werden wir übrigens bei der Öffnung der Märkte in Europa auch nicht vorankommen. Wenn der Druck auf diejenigen, die sich bisher noch der Öffnung der Märkte verweigern - das hat ja nationale Gründe, die man politisch alle verstehen kann -, nicht aufrechterhalten wird, dann werden wir es nicht schaffen. Infolgedessen brauchen wir ein Stück Harmonisierung bei der Öffnung der Märkte. Es dient deutschen Interessen nicht, an dieser Stelle zu sagen: Wir machen das ohne Rücksicht darauf, ob die anderen mitziehen oder nicht. Daran, dass wir das nicht tun, möchte ich angesichts der Debatte in der letzten Zeit um das, was Herr Kollege Müller angestoßen hat, herzlich appellieren. ({25}) Auch die drängenden Probleme des Verbraucher- und des Umweltschutzes können wir nur gemeinsam lösen. Dabei will ich auch auf eine positive Nachricht dieser Tage hinweisen: Nachdem es bisher eine Fundamentalopposition Spaniens gegen die Harmonisierung der Energiebesteuerung in Europa gab, scheint sich jetzt die spanische Position langsam zu verändern, und zwar im Hinblick auf den Vorschlag, den die schwedische Präsidentschaft auf den Tisch gelegt hat, ebenso wie im Hinblick darauf, dass auch Spanien ein großes eigenes Interesse daran hat, einen gemeinsamen europäischen Energiemarkt zu schaffen. Dies zeigt, dass man keinen gemeinsamen europäischen Energiemarkt schaffen kann, wenn man nicht auch die Energiebesteuerung harmonisiert. Die Umsetzung dieser Erkenntnis würde uns übrigens aus vielen Debatten herausbringen, die wir ganz unnötigerweise führen. Ich erinnere daran, dass dies schon das Ziel der Vorgängerregierung war - ich kritisiere das nicht -, das wir nachhaltig verfolgen, und dass die Ökosteuer damals bereits ein europäisches Thema war und nur an Spanien und Irland gescheitert ist. Warum führen wir heute solche Debatten? Mir leuchtet das nicht ein. ({26}) Meine Damen und Herren, die günstige Situation in Deutschland ist natürlich nicht nur das Ergebnis unserer Politik, sondern daran haben alle Menschen im Lande mitgearbeitet. Auch die Tarifpartner haben großen Anteil daran. Im Bündnis für Arbeit hatten sie eine beschäftigungsfördernde Lohnpolitik vereinbart, die auch umgesetzt wurde. Dies hat verhindert, dass aus dem Anstieg der Ölpreise eine Lohn-Preis-Spirale geworden ist. Die Lohnabschlüsse haben sich auch positiv auf den Arbeitsmarkt ausgewirkt. Sie belegen, was Mitbestimmung und Mitverantwortung bedeuten, dass sie sich für alle Beteiligten auszahlen und dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Organisationen, die Gewerkschaften, sehr wohl sehr verantwortlich damit umgehen. Das sollte auch in der Debatte um die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes beachtet werden. ({27}) Wir haben große Fortschritte bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit gemacht. Die Finanzpolitik hat wesentlich dazu beigetragen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, dessen Bericht hier auch zur Aussprache steht, hat die Richtung unserer Finanzpolitik ausdrücklich gelobt. Natürlich gibt es Kritik im Detail; das erwarte ich von Wissenschaftlern auch. Aber die Konsolidierung und die Steuerreform werden in ihren Grundzügen ausdrücklich begrüßt. Der Sachverständigenrat formuliert wörtlich: Die Politik hat begonnen, den wachstumshemmenden Reformstau aufzulösen. Für den Stau waren andere vor uns verantwortlich. Seine Beseitigung erfolgt durch uns. ({28}) Wir haben für unsere Politik das beste Zeugnis erhalten, das eine Regierung seit langem bekam. Wäre das Urteil der Fünf Weisen zu Zeiten der Regierung Kohl auch nur einmal so gut ausgefallen, wie es diesmal für uns ausfällt, hätte das bayerische Fernsehen dieses Urteil nonstop den ganzen Tag über verlesen. ({29}) Ich bin davon überzeugt: Wir machen die richtige Wirtschafts- und Finanzpolitik. Deutschland ist in europäischer Einbindung auf gutem Wege. Genau diesen Weg werden wir weitergehen. ({30})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer soeben diese Rede gehört hat, muss zu der Erkenntnis kommen, dass es wohl ein schwerer Fehler war, die Zuständigkeit für den Jahreswirtschaftsbericht dem Finanzminister zu übertragen. ({0}) Diese Rede, Herr Eichel, hätte jedenfalls der Präsident des Statistischen Bundesamtes der Bundesrepublik Deutschland genauso halten können. ({1}) Aber ich will den Ball schon aufnehmen und auf die Zahlen zu sprechen kommen, die Sie hier erwähnt haben. Lassen Sie mich zunächst etwas zu den Wachstumserwartungen für das Jahr 2001 sagen und dabei auch einen kurzen Blick zurück auf das Jahr 2000 werfen. Wir haben in der Tat im Jahr 2000 in der Bundesrepublik Deutschland ein höheres Wachstum als im Vorjahr gehabt, aber das Wachstum des Jahres 2000 in unserem Land befand sich am unteren Rand des Mittelfeldes der Europäischen Union. Die meisten stark wachsenden Länder in der Euro-Zone haben ein höheres Wachstum als die Bundesrepublik Deutschland gehabt. Wenn Sie es im Quartalsvergleich sehen, dann wird die Entwicklung des Jahres 2000 noch deutlicher. ({2}) Im ersten Quartal betrug das Wachstum in Deutschland 1 Prozent, im zweiten Quartal 1,2 Prozent, im dritten Quartal 0,3 Prozent und im vierten Quartal 0,2 Prozent. Das war das Ergebnis des Jahres 2000. Herr Eichel, für das Jahr 2001 glaubt außer Ihnen in Deutschland mittlerweile kaum noch jemand daran, dass wir ein Wachstum von 2,75 Prozent erreichen. ({3}) Die Probleme sind unübersehbar. ({4}) Die Konjunktur leidet unter dem, was in Amerika und in Japan bevorsteht. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland wegen der hohen Exportabhängigkeit keine Chance, den Ausfall im Wachstum in der Binnenkonjunktur zu kompensieren. ({5}) Dies schlägt sich auf dem Arbeitsmarkt nieder. Herr Eichel, es gehört wirklich schon eine ganze Menge Dreistigkeit dazu zu behaupten, wir hätten in der Bundesrepublik Deutschland einen Zuwachs an Beschäftigung und eine Abnahme der Arbeitslosigkeit. Auch ich will es jetzt nicht mit Zahlen übertreiben, aber eine Zahl will ich Ihnen schon nennen. Im Oktober 1998, im Monat der Regierungsübernahme durch Sie, gab es 3,9 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Im Februar 2001, nach der Halbzeit, sind es 4,11 Millionen Arbeitslose in Deutschland. Wo kommt denn der Abbau der Arbeitslosigkeit her? ({6}) Herr Eichel, Sie können nun wirklich niemandem in Deutschland erklären, dass die Arbeitslosigkeit abnimmt. Sie haben sämtliche statistischen Effekte herausgerechnet. ({7}) - Ja, ich kann gut verstehen, dass es Ihnen Probleme bereitet, wenn ich Ihnen die Zahlen vorhalte, mit denen Sie hier jonglieren. ({8}) Meine Damen und Herren, auch der Sachverständigenrat sagt klipp und klar: ({9}) Es hat keine Zunahme der Beschäftigung in Deutschland gegeben, keine Zunahme an Arbeitsstunden. Wenn Sie sich darauf beziehen, dass die Beschäftigtenzahlen zugenommen haben, dann sind das ausschließlich die früheren geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die Sie jetzt sozialversicherungspflichtig gemacht haben. Das ist die Zunahme an Beschäftigung, Herr Eichel, die Sie uns hier gerade dokumentiert haben. ({10}) Sie haben relativ kurz und ziemlich oberflächlich etwas zur Lage in den neuen Ländern gesagt. Wir hätten erwartet, dass in dieser Rede ein wesentlich größerer Schwerpunkt auf die Lage in den neuen Ländern gelegt worden wäre, die nun in der Tat besorgniserregend ist. Die neuen Länder stehen nicht auf der Kippe, wie der Herr Bundestagspräsident meinte beurteilen zu müssen. Die Lage dort ist sehr differenziert zu betrachten; sie ist unterschiedlich. Sie ist - genauso wie auch in der alten Bundesrepublik in Baden-Württemberg und Bayern - in den südlichen Ländern, in Sachsen und in Thüringen, wesentlich besser als in den Ländern, wo beispielsweise die SPD zusammen mit der PDS regiert, in Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern. Aber sie ist unverändert schwierig. Weil sie schwierig ist, hat Ihnen, Herr Bundeskanzler, einer der Ministerpräsidenten der neuen Länder vor knapp zwei Wochen einen Brief geschrieben, ausführliche Vorschläge gemacht, wie man die Lage in den neuen Bundesländern verbessern könne, insbesondere mit einer Infrastrukturoffensive Ost, und diesen Brief hat in der vergangenen Nacht per Fax Ihr Staatsminister Schwanitz beantwortet, die Zahlen bestritten, ({11}) die Vorschläge abgelehnt ({12}) und damit ist das Thema für Sie erledigt. ({13}) Herr Bundeskanzler, Sie haben den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt. Dann ist es eine Unverschämtheit, dass der Brief eines Ministerpräsidenten aus einem der neuen Länder mit konkreten Vorschlägen zur Verbesserung der Lage durch einen Staatsminister beantwortet wird. Es ist eine Unverschämtheit! ({14}) Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern ist fast dreimal so hoch wie in der alten Bundesrepublik Deutschland. Die Entwicklung geht nicht zueinander, sondern sie geht wieder auseinander. Das Wachstum dort ist geringer als in der alten Bundesrepublik Deutschland, obwohl die Wachstumslücke so groß ist, dass es eigentlich größer sein müsste. Was sind die konkreten Antworten der BundesreFriedrich Merz gierung auf die Probleme in den neuen Bundesländern im Rahmen der Chefsache Ost, die vom Bundeskanzler ausgerufen worden ist? Sie hätten heute die Gelegenheit nutzen sollen, darauf eine Antwort zu geben. ({15}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat - nicht ohne gute Gründe - einen Schwerpunkt auf den Abbau der Jugendarbeitslosigkeit gelegt. Zum Thema Jugendarbeitslosigkeit, Herr Eichel, haben Sie kein Wort gesagt. Lassen Sie es mich tun: Der Anteil der arbeitslosen Jugendlichen an den Arbeitslosen insgesamt ist seit dem Zeitpunkt, seit dem diese Regierung im Amt ist, von 10,9 auf 11,4 Prozent angestiegen. Nun hat der absolute Wert bei den Jugendlichen etwas abgenommen. Bei knapp 500 000 arbeitslosen Jugendlichen sind es in den letzten zwei Jahren 20 000 weniger. Für diese 20 000 Jugendlichen haben Sie im Rahmen Ihres so genannten JUMP-Programms zwei Jahre lang jeweils 2 Milliarden DM aufgewendet, also insgesamt 4 Milliarden DM für ein Programm, das dazu geführt hat, dass 20 000 Jugendliche weniger arbeitslos sind. ({16}) Das ist eine Verschwendung von Steuermitteln. Sie setzen sie nicht so effizient ein, dass gerade auf diesem Teil des Arbeitsmarktes eine Verbesserung erfolgt. Das ist ein katastrophales Ergebnis. ({17}) Herr Bundeskanzler, Sie haben sehr viel Wert darauf gelegt, dass das Bündnis für Arbeit nach Ihrem Regierungsantritt wieder auflebt. Sie haben zu Beginn Ihrer Amtszeit dieses Bündnis für Arbeit als das zentrale makroökonomische Steuerungsinstrument für die Wirtschaftsentwicklung und für den Arbeitsmarkt angesehen. Mittlerweile ist das alles auf Normalmaß geschrumpft. Aber vielleicht darf man doch einmal die Verabredungen, die dort getroffen worden sind, im Lichte der Ergebnisse beurteilen. Ich begrüße es übrigens sehr, dass Sie beim letzten Zusammentreffen des Bündnisses für Arbeit am letzten Sonntag verabredet haben, den verhängnisvollen Weg zur Frühverrentung älterer Arbeitnehmer zu stoppen. Ich bezweifle allerdings, ob man diese Verabredung irgendwann einmal umgesetzt sieht. Denn das, was Sie vor acht Monaten, nämlich am 10. Juli des letzten Jahres, als das Bündnis für Arbeit zum letzten Mal zusammengetreten ist, verabredet haben, ist überhaupt nicht Realität geworden. Sie haben sich damals für den beschäftigungswirksamen Abbau von Überstunden ausgesprochen. Mit 1,9 Milliarden Überstunden kam es Ende letzten Jahres zu einem Höchststand in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Lassen Sie mich einmal die Ergebnisse Ihrer Arbeitsmarktpolitik zusammenfassen: 4,11 Millionen Arbeitslose, ({18}) 1,8 Millionen in der so genannten stillen Reserve, 1,9 Milliarden Überstunden - dies ist ein Höchststand -, 500 000 offene Stellen und gleichzeitig - dazu haben Sie, Herr Eichel, kein Wort gesagt - eine dreimal so schnell wachsende Schattenwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zum tatsächlichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts. Niemand behauptet, es gebe in diesem Land zu wenig Arbeit. Es gibt genug Arbeit. Aber offensichtlich ist die vorhandene Arbeit nicht mehr so organisiert, dass sie in der realen Volkswirtschaft stattfinden und zu bezahlbaren Preisen als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung angeboten werden kann. ({19}) Was ist die Antwort der Bundesregierung? Sie regulieren den Arbeitsmarkt immer mehr und Sie benachteiligen einseitig die Unternehmen, die eigentlich für einen Zuwachs an Beschäftigung und auch für einen Zuwachs an Ausbildungsplätzen in Deutschland sorgen könnten, nämlich die mittelständischen Unternehmen. ({20}) Die einseitige Benachteiligung des Mittelstandes in Deutschland ({21}) ist die eigentliche Ursache für die nicht überwundene Beschäftigungskrise. ({22}) Sie stellen uns zu Recht immer wieder die Frage: Was ist denn nun Ihre Alternative zur Wirtschaftspolitik der rot-grünen Bundesregierung? Ich will Ihnen vier Punkte nennen: ({23}) Erstens. Wir müssen in Deutschland den Mittelstand stärken und dürfen ihn nicht weiter schwächen. ({24}) Dies hat konkrete Auswirkungen auf die Steuerpolitik. ({25}) Sie haben im letzten Jahr eine viel gefeierte Steuerreform durchgesetzt. Diese Steuerreform entpuppt sich immer mehr als eine Steuerreform zugunsten der großen Unternehmen - die zunehmend, richtigerweise, auch im Ausland investieren - und als eine Steuerreform, die ohne jede sachliche Begründung einseitig den Mittelstand benachteiligt. ({26}) Wir fordern Sie auf: Sorgen Sie dafür, dass die mittelständischen Unternehmen in Deutschland früher als im Jahr 2005 entlastet werden! In diesem Zusammenhang lassen Sie mich ein offenes Wort an die Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. richten. Ich finde es ja bemerkenswert, dass Sie in der Steuerpolitik jetzt neue Initiativen ergreifen und die Politik auffordern, schneller voranzugehen. Wir teilen diese Einschätzung. Aber ich bin, so muss ich sagen, schon etwas erstaunt, wenn ich lese, was der zukünftige Vorsitzende der F.D.P. in einem Gastbeitrag für eine Zeitung vor einigen Tagen veröffentlicht hat. In diesem Artikel vergleicht er die Steuerpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika - diese dürfte in der Tat eine große Herausforderung auch für uns werden - mit der von der Bundesregierung durchgesetzten Steuerreform. Er schreibt dort: Was im direkten Zahlenvergleich schon armselig genug wirkt, - er meint die deutsche Steuerpolitik entpuppt sich auf den zweiten Blick als volkswirtschaftlicher Offenbarungseid. Ich teile diese Einschätzung, frage mich nur: Warum haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., im letzten Jahr der Steuerreform im Bundesrat zugestimmt? ({27}) Wir brauchen eine Steuerreform, die auf die mittleren und kleinen Unternehmen ausgerichtet ist und deren Wachstum ermöglicht. Zudem muss, meine Damen und Herren, der Unfug mit der Ökosteuer aufhören. ({28}) Herr Bundesfinanzminister, wir hätten uns schon gewünscht, dass Sie im Namen der Bundesregierung ein klärendes Wort sagen, wie es denn nun nach 2002 mit der Ökosteuer weitergehen soll. ({29}) Dazu haben wir in den letzten Tagen von Rot und Grün die verschiedensten Varianten gehört. Bei Ihnen geht es bei der Debatte über die Ökosteuer zu wie in einem Kegelklub nach der fünften Lokalrunde. ({30}) Wir hätten schon gerne Klarheit: Wie geht es jetzt weiter? Was ist die Position der rot-grünen Bundesregierung zur Zukunft der Ökosteuer? Wird weiter abgezockt oder ist, wie der Bundeskanzler sagt, das Ende der Fahnenstange erreicht? ({31}) Was gilt denn nun, Rot-Grün? ({32}) Zweitens. In der Bundesrepublik Deutschland besteht durch Mitbestimmungsgesetz und Betriebsverfassungsgesetz ein außergewöhnlich hohes Maß an sozialem Frieden in Unternehmen und es gibt bewährte soziale Partnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Aber das, was wir jetzt mit der Vorlage eines neuen Betriebsverfassungsgesetzes erleben, ({33}) das hat mit der Fortsetzung der Mitbestimmung und der Fortsetzung der sozialen Partnerschaft in den Betrieben nichts mehr zu tun. Was Sie hier vorlegen, ist ein Gesetz zur Stärkung der Funktionäre von außen zulasten der Autonomie und der Verantwortung der Belegschaft von innen. ({34}) An dieser Stelle sind wir an einem Grundproblem Ihrer Wirtschaftspolitik. Das hat mit Mitbestimmung gar nichts mehr zu tun, sondern berührt die Grundfrage, ob es richtig ist, dass wir in einem Staat leben, in dem die großen Organisationen, der Staat, die Gewerkschaften, die Verbände, immer mehr Verantwortung übertragen bekommen, immer mehr Möglichkeiten zur Bevormundung des Einzelnen und der Betriebe haben, oder ob es nicht besser wäre, angesichts der großen Herausforderungen in einer globalisierten Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Betrieben in Deutschland ein höheres Maß an Eigenverantwortung und Autonomie zu übertragen. Das ist die entscheidende Frage. ({35}) Herr Bundeskanzler, Sie können sich die, wie ich höre, groß angelegte Veranstaltung am 3. Oktober zur Bürgergesellschaft in diesem Lande sparen, wenn Sie gleichzeitig ein Betriebsverfassungsgesetz vorlegen, das nicht die Bürger in Deutschland, sondern die Funktionäre in diesem Land weiter stärkt. ({36}) - Ihre Zwischenrufe bestätigen mich in unserer Einschätzung, dass das, was Sie jetzt als neues Betriebsverfassungsgesetz vorlegen, was durch die Wahlverfahren die DGB-Gewerkschaften in den Betrieben der Bundesrepublik Deutschland einseitig bevorzugen und stärken soll, der Dank der rot-grünen Bundesregierung für die Wahlkampfunterstützung in Höhe von 8 Millionen DM im Jahr 1998 ist. Das ist die Wahrheit. ({37}) Drittens. Wir brauchen durchgreifende und langfristig wirkende Reformen der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland. 75 Prozent der Menschen in Deutschland glauben nicht, dass die von Rot-Grün vorgelegte Reform der Rentenversicherung wirklich für eine Generation trägt. 75 Prozent der Menschen in Deutschland liegen richtig mit ihrer Einschätzung. Auch die anderen 25 Prozent werden bald verstehen, dass eine Rentenreform, so wie Sie sie vorgelegt haben, nicht in der Lage ist, die Probleme, die wir innerhalb der Rentenversicherung haben, wirklich zu lösen. ({38}) Sie werden allerdings mit Ihrer Politik der falschen Reform in der Rentenversicherung und der Verweigerung der Reform, die eigentlich in der Krankenversicherung notwendig wäre, an keiner Stelle in Deutschland eine wirklich substanzielle Begrenzung der Lohnzusatzkosten für die Wirtschaft erreichen. Die Kostenbelastung und die Bürokratiekosten in den Betrieben, die Sozialabgaben, die Summe der Abgaben aus Sozialversicherungsbeiträgen ({39}) und Steuern in Deutschland sinken unter dieser Regierung nicht, sondern sie haben im Jahr 2000 einen historischen Höchststand erreicht. ({40}) Das ist die Politik, meine Damen und Herren, die Sie machen und die mit Sicherheit nicht zur Überwindung der Beschäftigungskrise führen wird. ({41}) Der vierte Sachverhalt, den ich in diesem Zusammenhang ansprechen möchte, ist in der Rede des Bundesfinanzministers nicht erwähnt worden, der es ja fertig bringt, Reden zur sozialen Marktwirtschaft zu halten, vornehmlich außerhalb des Parlaments, in denen das Wort „Markt“, das Wort „Wettbewerb“ und das Wort „Ordnungspolitik“ nicht ein einziges Mal vorkommen. Es ist schon eine beachtliche intellektuelle Leistung, eine Rede zur Marktwirtschaft zu halten, in der „Wettbewerb“, „Markt“ und „Ordnungspolitik“ mit keinem Wort erwähnt werden! Die eigentliche Aufgabe, die uns allen gestellt ist, ist eine Reform des Arbeitsmarktes selbst. Die Überwindung der Beschäftigungskrise wird nicht gelingen, wenn wir nicht tief greifende Reformen des Arbeitsmarktes selbst auf den Weg bringen. ({42}) Obwohl jetzt in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen Wahlkampf ist, sage ich ganz offen: Auch wir haben in der früheren Koalition diesen Weg nicht beherzt genug und nicht früh genug beschritten. ({43}) Aber wir haben erste Schritte in die richtige Richtung gemacht, als wir beispielsweise das Bundessozialhilfegesetz reformiert haben. Nicht wir, nicht neoliberale Turbokapitalisten, sondern der Präsident des Ifo-Instituts in München hat vor einigen Wochen darauf hingewiesen, ({44}) dass die Überwindung der Beschäftigungskrise in Deutschland nur möglich ist mit einer grundlegenden Reform der Sozialhilfe. ({45}) Ich will genau dies zum Schluss noch einmal kurz begründen. Wenn die Regel weiter gilt, dass die Sozialhilfe sozusagen die Lohnuntergrenze in Deutschland ist, kein Betrieb und kein Arbeitgeber in Deutschland aber bereit sind, einen Mitarbeiter zu beschäftigen, dessen Lohn oberhalb der Produktivität liegt, dann ist jede Arbeitsproduktivität, die unterhalb der Sozialhilfe liegt, automatisch mit struktureller Arbeitslosigkeit verbunden. ({46}) Deshalb müssen die Vorschläge zur Reform der Sozialhilfe, die nicht von uns, sondern von der Wissenschaft gemacht werden, in dem Licht geprüft werden, ob wir damit einen besseren Anreiz zur Beschäftigung auslösen, statt durch die hohen Transferleistungen in der Bundesrepublik Deutschland einen Anreiz zur Nichtbeschäftigung zu geben. ({47}) Wenn Sie sich dieser Frage nicht zuwenden, wenn es bei der Höhe der Sozialhilfe, die häufig auch bei kinderreichen Familien an die Zahl der Haushaltsmitglieder gebunden ist, bleibt, werden Sie die Beschäftigungskrise in Deutschland nie überwinden. Andere Länder haben es uns längst vorgemacht: nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika, sondern auch Großbritannien, Dänemark und mittlerweile sogar Frankreich, ein Land, das von einer sozialistischen Regierung regiert wird. Diese Länder haben längst erkannt, dass durch die sozialen Transfersysteme nicht Anreize zur Nichtbeschäftigung, sondern Anreize zur Beschäftigung gegeben werden müssen. Deswegen machen wir Ihnen, Herr Bundeskanzler, erneut ganz konkret den Vorschlag, darüber zu reden, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen, die Kompetenzen der Kommunen zu stärken und nicht zu schwächen, um gerade im Bereich der lokalen Arbeitsmärkte bessere Vermittlungschancen insbesondere für Langzeitarbeitlose zu eröffnen und durch ein Zusammenwirken von Transferleistungen und Löhnen dafür zu sorgen, dass die Menschen aus der Beschäftigungs- und Armutsfalle herauskommen. Wir machen Ihnen diesen konkreten Vorschlag. ({48}) Das setzt allerdings voraus, dass der Sozialstaat, die Gesellschaft insbesondere bei jüngeren Arbeitslosen mit einer gewissen Härte sagt: Wer eine zumutbare Beschäftigung ohne triftigen Grund ablehnt, muss den Anspruch auf soziale Transferleistungen im Wesentlichen verlieren. Sonst wird man nicht zu mehr Beschäftigung kommen. ({49}) Voraussetzung ist, dass Sie bereit sind, mit dieser Härte vorzugehen. ({50}) Derjenige, der eine zumutbare Beschäftigung ohne erkennbaren Grund ablehnt, verletzt das Solidaritätsprinzip im Sozialstaat. ({51}) Deswegen muss in Deutschland wieder der Grundsatz gelten, dass derjenige, der arbeitet, grundsätzlich mehr Geld bekommt als derjenige, der nicht arbeitet und soziale Transferleistungen bekommt. ({52}) Dies wäre eine arbeitsmarktorientierte Wirtschaftsund Finanzpolitik. Das hätte etwas mit Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft zu tun. Das wäre ein politisches Denken in Gesamtzusammenhängen zwischen Wirtschafts-, Finanz-, Sozial- und Familienpolitik. Das wäre die richtige Botschaft gewesen, die heute von dieser Stelle aus von einem Vertreter der Regierung der Bundesrepublik Deutschland in der Aussprache zum Jahreswirtschaftsbericht hätte gegeben werden müssen. Statt aneinander gereihte Zahlen, Herr Eichel, hätte eine klare Perspektive für die Überwindung der Beschäftigungskrise von dieser Stelle aus gegeben werden müssen. Dazu sind Sie leider nicht in der Lage. ({53})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die wirtschaftliche Lage bietet keinen Anlass, Trübsal zu blasen, wie Sie, Herr Merz, das tun. Aber bei Ihnen ist es wohl mehr die Furcht vor dem April, mehr die Furcht vor dem eigenen Absturz als vor dem der Wirtschaft. ({0}) Eine Frage wird durch Ihre Rede allerdings schon beantwortet, die heute in der „Bild“-Zeitung steht, nämlich warum Sie eigentlich so unbeliebt sind. Sie haben 20 Minuten lang wortreich über all das gesprochen, was Sie nicht wollen, was Sie schlecht finden, was schief läuft. Sie sind hier mit der Art eines zum Oberlehrer mutierten Bestschülers aufgetreten. ({1}) Dabei ist es doch eher verblüffend, wie stabil und robust die Konjunktur in Deutschland trotz der Dämpfung im letzten Quartal des vergangenen Jahres, ({2}) trotz des Einbruchs der US-Konjunktur und der anhaltenden Rezession in Japan, trotz der schwankenden Ölpreise und des gestiegenen Außenwerts des Euro verläuft. Es ist doch eher verblüffend, dass wir in Europa eine solche Wachstumsstabilität haben. Dies ist kein Wunder, sondern es ist der Politik der Bundesregierung zu verdanken, die nämlich für mehr Wachstum und Beschäftigung gesorgt hat. ({3}) Schlüsselbegriffe sind: Haushaltskonsolidierung, Steuerreform, Rentenreform, Senkung der Lohnnebenkosten. Dies sind alles Projekte, die Sie sich fast 16 Jahre lang vorgenommen und nicht geschafft haben. Das sind die Gründe, warum wir relativ optimistisch und mit Zuversicht in dieses Jahr schauen können. Der Standort Deutschland ist wieder attraktiv. Das zeigt sich auch an den ausländischen Direktinvestitionen. Fragen Sie Hilmar Kopper, den Bundesbeauftragten für die Akquirierung von Direktinvestitionen. Er führt diese Entwicklung unmittelbar auf die rot-grüne Reformpolitik zurück. Oder nehmen Sie das Beispiel Betriebsgründungen. Hier liegt Deutschland nach den USA und Kanada an dritter Stelle. Das heißt, es gibt viele junge Leute, die bereit sind, Wagnis- oder Risikokapital aufzunehmen und mit einer Idee in den Wettbewerb und in den Markt einzutreten. Das ist ein Zeichen dafür, dass sich an diesem Standort Deutschland eine Dynamik entwickelt hat. Das spricht nicht für die These eines festgezurrten, verkrusteten Arbeitsmarktes, wie Sie, Herr Merz, ihn beschrieben haben. So ist es nicht. Auch haben wir Lehrstühle für Existenzgründung gefördert. All das hat positive Auswirkungen. Die jüngsten Arbeitsmarktzahlen zeigen den niedrigsten Februarstand seit fünf Jahren. Das ist positiv und muss festgehalten werden. Trotzdem ist die Zahl der Arbeitslosen noch viel zu hoch. Das verschweigen wir nicht. Vor allen Dingen die Tatsache, dass die Arbeitsmärkte in Ost und West auseinander driften, dass der Anstieg der Arbeitslosigkeit im Januar ausschließlich auf den Anstieg im Osten zurückzuführen ist, macht uns Sorgen. Deswegen müssen die Anstrengungen verstärkt werden. Das Bündnis für Arbeit als Kranzlerrunde abzutun, als einen Gesprächskreis, in dem sich nichts bewegt, ist völlig verfehlt. ({4}) Ich nenne allein die Aussichten auf moderate Lohnabschlüsse und darauf, dass die Überstunden abgebaut werden. Das sind keine haltlosen Versprechungen, die dort gegeben worden sind. Schauen wir uns an, was die Gewerkschaft vorgerechnet hat: Wenn man nur ein Viertel dieser 1,9 Milliarden Überstunden abbauen würde, käme man auf 250 000 neue Arbeitsplätze. Was dazu noch optimistisch stimmt: Die Arbeitgeberverbände haben sich darauf eingelassen, entsprechende Schritte einzuleiten. Das sind zwar nur Trippelschritte, aber wir kommen nur in Trippelschritten voran. „Henneteppele“ würde man in dem Wahlkampf führenden Land sagen, das bekanntlich alles außer Hochdeutsch kann. Mit solchen Schritten oder auch der Qualifizierungsoffensive für ältere Arbeitnehmer kommen wir weiter. Denn lebenslanges Lernen darf keine hohle Phrase sein. Die Qualifikation, die Motivation und der Leistungswille von älteren Arbeitnehmern sind ein wertvolles Kapital, für den Vorruhestand viel zu wertvoll. Dies ist auch der Sinn der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes. Schauen Sie sich einmal die neue Gründerwelle bei den Start-up-Unternehmen an, die nach dem Zähneklappern beim Fall der Stock Options den Wunsch hatten, Betriebsräte zu gründen, ihre Interessen besser zu vertreten, um künftig im Betrieb das wirtschaftliche Wachstum mitzubestimmen und mitzuorganisieren. Genau das beabsichtigen wir mit unserem Gesetzentwurf. Es ist ein Gesetzentwurf, der einen Kompromiss zwischen den beiden Tarifpartnern enthält. Ich gehe davon aus, dass er in der weiteren Beratung noch weiter verbessert wird, so wie wir auch vorher Kritik aufgegriffen haben. So gut die wirtschaftliche Lage in Deutschland auch sein mag, so ist sie doch gespalten. Wir wussten von Anfang an, dass die deutsche Einheit zwar politisch richtig, aber wirtschaftlich falsch war. Mit anderen Worten: Wir haben den teuersten Weg der Vereinigung gewählt. Das lastet auf uns. Wir haben eine Art Transferökonomie aufgebaut. Der Osten - darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, Kollege Merz - steht nicht auf der Kippe. Aber was man hinzufügen muss: Er befindet sich in einem schrägen Gleichgewicht mit einer fatalen Kreislaufführung. Das Ganze ist transfergestützt und schafft Abhängigkeiten. Sie können das auch bildhaft umsetzen. ({5}) - Bei Ihnen dreht sich das Rädchen etwas langsamer. Das merke ich. Hier tritt ein Gewöhnungseffekt ein, sodass die strukturellen und sektoralen Schwächen nicht ausgeglichen werden. Begleiterscheinungen sind die sehr hohe Arbeitslosigkeit und die geringe Steuerkraft. Aber ein MezzogiornoVergleich ist völlig absurd. ({6}) Kein Großunternehmen würde eine Chipfabrik wie die in Frankfurt/Oder im Mezzogiorno ansiedeln. Wenn man sich den Mezzogiorno heute einmal etwas genauer anschaut, dann stellt man fest, dass es auch dort Wirtschaftsentwicklung gibt, seit einige Subventionen abgebaut worden sind. Auch hier steht der Wettbewerbstest einigen ostdeutschen Unternehmen noch bevor. Das wird sich im Rahmen der EU-Osterweiterung ergeben. Viel interessanter ist aber, dass der Deindustriealisierung im Osten eine Reindustriealisierung gefolgt ist. Es hat sich im Grunde genommen ein sehr interessanter Strukturwandel vollzogen: Abbau von Überkapazitäten im Baugewerbe und im öffentlichen Dienst auf der einen Seite und auf der anderen Seite Wachstumsraten im zweistelligen Bereich bei der gewerblichen Wirtschaft, bei hochmodernen und wettbewerbsfähigen Branchen. Das ist etwas, was sich auch auf dem Arbeitsmarkt widerspiegelt, denn nur wenn man oberflächlich hinsieht, gewinnt man den Eindruck, als stagniere die Arbeitslosigkeit im Osten. Sie ist zwar - weitgehend jedenfalls - gleich bleibend, aber wir können auch erkennen, dass Arbeitsstellen im Baugewerbe ebenso wie ABM-Stellen abgebaut werden, dies aber auf der anderen Seite durch die Schaffung neuer Stellen in der gewerblichen Wirtschaft und im Dienstleistungsgewerbe aufgefangen wird. Das ist der eigentliche Aufholprozess, der sich in Ostdeutschland ereignet und zum Aufbau einer wirklich leistungsfähigen Industrie beigetragen hat, die keine Scheinblüten hinterlässt, wie wir das Anfang der 90er-Jahre mit leeren Büropalästen und geprellten Anlegern erlebt haben. Hier ist etwas in den letzten Jahren passiert, was ich schon als Trendwende bezeichnen möchte. Daran können Sie möglicherweise auch die Chefsache ablesen, die im Kanzleramt nicht verwaltet, sondern gestaltet wird. Ich weiß nicht, mit welchem Glauben Sie immer nach dem Kanzler rufen. Das ist ein später Nachruf auf Günter Mittag oder die Staatliche Plankommission. Als ob das ein Einzelner richten könnte! Ich wundere mich, dass ausgerechnet so junge Kollegen wie der Kollege Merz solche Forderungen aufstellen. ({7}) Natürlich wird der Solidarpakt II weitergeführt werden müssen. Das ist überhaupt keine Frage. Ich muss Ihnen, Kollege Merz, um das Schreiben des Kollegen Vogel zu beantworten, sagen: Uns ist mit pauschalen Forderungen aus der Vogelperspektive und dem pauschalen Aufmerksammachen auf eine generelle Infrastrukturlücke nicht geholfen. Ich hätte mir gewünscht, dass eine Projekt- und Dringlichkeitsliste vorgelegt würde, aus der hervorginge, wo man einen Bedarf in Höhe von 40 Milliarden DM sieht und in kürzester Zeit verbauen will. Das wäre höchst interessant gewesen, statt immer nur neue Finanzforderungen aufzustellen und die Diskussion über die Milliardengräber Ost fortzuführen. ({8}) Mit Sofort- oder Aktionsprogrammen kommen wir nicht weiter. Sie helfen genauso wenig wie der Vorschlag des DGB, eine weitere Vorruhestandsregelung für 55-jährige Arbeitnehmer aufzulegen. Hier stehen Qualifizierungsmaßnahmen für ältere Arbeitnehmer im Osten und vielleicht auch großzügigere Übergangshilfen, Überbrückungs- und Umzugshilfen an, die wir zum Beispiel für die Bonner Beamten geschaffen haben. Sie müssten greifen, wenn ostdeutsche Arbeitnehmer bereit sind, einen Arbeitsplatz im Südwesten anzunehmen, wo Fachkräftemangel herrscht. Das sind die Punkte, auf die wir stärker eingehen müssen. Daneben müssen wir die Chancen der EU-Osterweiterung nutzen, die in der Markterschließung der revitalisierten Märkte in Osteuropa und in entsprechenden Wirtschaftskooperationen bestehen. Was alles möglich ist, zeigt allein das Beteiligungsangebot von PNK Orlen, die bei der Leuna-Raffinerie einsteigen wollen. Werner Schulz ({9}) Einen Aspekt, den bisher keiner meiner Vorredner angesprochen hat, will ich zum Ende meiner Rede noch ansprechen. Wenn wir über Klimaverbesserungen sprechen, geht es nicht nur um das Wirtschafts- und Betriebsklima, sondern die jüngsten Prognosen zur weltweiten Klimaveränderung sind echte Alarmzeichen, die zeigen, dass das Klima zwar träger auf Treibhausgase reagiert als das Rinderhirn auf Prionen, doch wir haben diesmal die Chance, vorher zu handeln und nicht erst durch Schaden klug zu werden. Daran gemessen wirkt der Streit über die Ökosteuer regelrecht kurzsichtig und kleinkariert. Gerade jetzt, wo eindeutig Lenkungseffekte eingetreten sind und wir ein Wirtschaftswachstum bei besserer Ressourcenproduktivität verzeichnen, zeigt sich der Erfolg der Ökosteuer. Sie ist keine Episode, sie ist ein Erfolg. Gerade die Einführung der Ökosteuer war ein Erfolg, den wir fortsetzen werden. Dabei werden wir von Fachleuten wie Professor Norbert Walter bis hin zu Wolfgang Wiegard, dem neuen Mitglied des Sachverständigenrates, bestärkt. Sie betonen beide, dass die Ökosteuer ein sinnvolles umweltpolitisches Instrument ist. Das werden wir unter keinen Umständen aus der Hand legen. Selbst die hartkrumige Landwirtschaft hat mit der Agrarwende, das heißt dem ökologischen Umbau, betont, dass die Nachhaltigkeit ein Leitprinzip des Wirtschaftens werden muss. Ich frage mich bei dieser Debatte: Wo sind die Reformer geblieben, die die soziale Marktwirtschaft zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft weiterentwickeln wollten? Herr Kollege Merz, das war doch wohl einmal ein Programmpunkt bei Ihnen in der Union. Ich höre jetzt nur noch, dass Sie die soziale Marktwirtschaft wiederbeleben wollen. Ich lese von einem „mitfühlenden Konservatismus“. Ich hoffe, Sie meinen damit mehr als das Mitgefühl mit dem Zustand Ihrer Partei. ({10}) Sie sollten endlich mit dieser unsäglichen Kampagne gegen die Ökosteuer aufhören und in diesem Punkt lieber auf Klaus Töpfer hören. Ich glaube, in Ihren Reihen gibt es noch kluge und mutige Protagonisten für eine ökologische Steuerreform und für einen ökologischen Strukturwandel. Wir wollen jedenfalls daran festhalten, dass aus einer Ressourceneinheit ein Vielfaches an Wohlstand erwirtschaftet werden kann. Das ist letztlich mit dem „Faktor vier“ gemeint, den Ernst Ulrich von Weizsäcker in die Debatte gebracht hat. Darin liegt der Sinn der ökologischen Steuerreform: ein Joint-Venture zwischen Ökonomie und Ökologie. Das anzustreben wird uns keiner - auch nicht mit einem Machtwort - ausreden können. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Rainer Brüderle, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst eine Anmerkung zu Ihnen, Herr Kollege Merz: Ihre Hinweise auf die Ausführungen meines Freundes Guido Westerwelle sind das, was man klassischerweise einen Rohrkrepierer, eine Selbstbeschädigung nennt. Sie sind mit dem Versuch Ihrer Strategie, um das Halbeinkünfteverfahren als großen Hit mit einer Totalblockade zu kämpfen, voll gegen die Wand gefahren. ({0}) Ihre Leute haben um Zuschüsse für das Olympiastadion, für Theater oder ein Stückchen Straße gefeilscht, ({1}) während es uns gelungen ist, dauerhaft 7 Milliarden DM pro Jahr an zusätzlicher Entlastung durch Tarifsenkungen für alle zu erreichen. Sie sprechen zu Recht von der Förderung des Mittelstands als zentraler Aufgabe. ({2}) Mit der Wiedereinführung des halben Steuersatzes, der abgeschafft worden war, ist eine Ungerechtigkeit für den Mittelstand beseitigt worden. ({3}) Sie sollten in diesem Punkt absolut zurückhaltend sein. Sie haben nichts erreicht und Ihre eigenen Leute nicht auf eine Linie bringen können. Sie sind voll gegen die Wand gefahren und sollten bei diesem Thema ganz still sein. ({4}) Meine Damen und Herren, am deutschen Konjunkturhimmel ziehen dunkle Wolken auf. Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung ist natürlich bemüht, die konjunkturelle Lage schönzufärben. Wir haben heute Morgen ein solches Bemühen auch bei Bundesfinanzminister Eichel entdecken können. Ich verstehe das: Es ist ja Ihr Job, die Ergebnisse der Politik besser darzustellen, als sie sind. Wir wollen jetzt aber einmal die grün-rote Tagträumerei beenden und die wirtschaftspolitische Realität betrachten. Zum Aufwärmen einige Eckdaten: Die Wachstumsprognosen für dieses Jahr werden nach unten korrigiert. Das Ifo-Institut hat gerade erst seine Prognose von 2,4 Prozent als zu optimistisch bezeichnet. Das Institut für Weltwirtschaft rechnet sogar nur noch mit einem Anstieg von 2,1 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stagniert auf ernüchternd hohem Niveau. Über 4,1 Millionen Arbeitslose für den Monat Februar belegen das Versagen der Regierung bei diesem zentralen Thema. Wo bleiben denn die versprochenen Jobs? Die Preise steigen wieder, vor allem die Preise für Strom, Gas, Heizöl und Benzin. Der Euro dümpelt bei niedrigem Außenwert vor sich hin und führt uns jeden Tag vor Augen, dass eine bessere Einschätzung des Euro nicht mit einer Rüge des kleinen Irland erreicht wird, das wirtschaftlich boomt, sondern durch Fortschritte in den großen Mitgliedsländern Werner Schulz ({5}) Deutschland, Italien und Frankreich, die einen Rückstand an internen Reformen aufweisen. ({6}) Im Sachverständigengutachten heißt es, dass der zukünftige Konjunkturverlauf nicht mit einer Wachstumsdynamik aus eigener Kraft gleichzusetzen sei, wie sie gebraucht würde, um im härter gewordenen Wettbewerb auf globalisierten Märkten bestehen zu können. Wenn Deutschland tatsächlich „Chancen auf einen höheren Wachstumspfad“ haben soll, dann brauchen wir eine entschlossen betriebene Reformpolitik und keine Politik, die sich nach einer Teilsteuerreform schon ein Reformpäuschen erlaubt. ({7}) Die Bundesregierung hat sich allein auf die EuroSchwäche und auf eine günstige Exportkonjunktur verlassen. Die scharfsinnige Äußerung des Bundeskanzlers, ein schwacher Euro sei gut für den Export, zeigt die schlichte Strategie. Dahinter steht eine Milchmädchenökonomie. Das hat das gleiche Niveau wie der Satz: „Lieber 5 Prozent Inflation als 5 Prozent Arbeitslosigkeit.“ Am Schluss haben Sie Inflation und Arbeitslosigkeit. ({8}) Herr Eichel, entgegen Ihrer immer wieder geäußerten Meinung gehen nur rund 44 Prozent der Exporte nach Euro-Land, allein über 20 Prozent in die Schweiz, in die USA und nach Großbritannien, wo die Wechselkursrelationen in den vergangenen Jahren sehr vorteilhaft für Deutschland waren. Hinzu kommt, dass die Verkäufe deutscher Niederlassungen in den USA fünfmal größer sind als der Anteil deutscher Waren an den direkten Exporten. Das heißt, je härter die Ökonomie in den USA landen wird, desto schwächer wird das Wachstum in Deutschland sein, und zwar deshalb, weil bei uns die Strukturreformen verbummelt werden. Herr Eichel, Sie laufen jetzt auch Gefahr, Ihren Ruf als Sparkommissar zu verlieren. Der „Spiegel“ hat Haushaltsrisiken in Höhe von über 20 Milliarden DM in den kommenden beiden Jahren aufgedeckt. Das zeigt: Die Bundesregierung hat zu wenig auf der Ausgabenseite getan. In der Rentenpolitik wurde die Gelegenheit für einen mutigen Schritt unter dem Druck der Gewerkschaften vertan. Die ineffiziente und teure aktive Arbeitsmarktpolitik wurde ausgedehnt. Über die Steinkohlesubventionen reden Sie gar nicht mehr. Jetzt offenbart sich: Beim Sparen hat zu sehr das Prinzip der Verlagerung auf die Länder und das Verschieben auf die Zukunft regiert. Ich habe meinen Ohren nicht getraut, als ich am Sonntag die Worte des Bundeskanzlers vernahm. Herr Schröder erklärte, er wolle die Arbeitslosigkeit in Deutschland unter die 3-Millionen-Grenze senken, und zwar im Jahr 2002. Ganz kurz hatte ich die Hoffnung, dass diese Bundesregierung trotz grüner und gewerkschaftsnaher Protagonisten einen politischen Kurswechsel hin zu mehr Beschäftigung einleiten wollte. ({9}) Leider bin ich am folgenden Tag wieder tief enttäuscht worden. Mein Weltbild wurde zurechtgerückt. Der Kanzler hat Angst vor der eigenen Courage und ist wieder auf die bekannte Politik der Mut- und Perspektivlosigkeit eingeschwenkt. Jetzt gibt er sich mit „3,5 Millionen Arbeitslosen“ zufrieden. Ich finde es schon bemerkenswert, dass der Bundeskanzler innerhalb eines Tages über 500 000 Einzelschicksale so locker hinweggehen kann. ({10}) Das erinnert mich ein wenig an die Brutto-Netto-Probleme Ihres heutigen Verteidigungsministers. ({11}) Die Reduzierung der Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen käme auch dann zustande, wenn die Bundesregierung Ihre Tätigkeit komplett einstellen würde. Grund: altersbedingt ausscheidende Arbeitnehmer. Solche Angsthasenziele offenbaren das Dilemma grün-roter Beschäftigungspolitik. Sie ist geprägt von einem diffusen Verständnis wirtschaftspolitischer Abläufe. Mit Umarmungsstrategien werden keine Arbeitsplätze geschaffen. Wenn man sich ständig umarmt, dann hat man die Hände nicht zum Arbeiten frei. ({12}) Das systematische Abwenden von den wirklichen Problemen auf dem Arbeitsmarkt führt dazu, dass IG-MetallChef Zwickel, also Ihr Chef, die Arbeitsmarktbilanz der Bundesregierung als schlecht beurteilt. BDI-Präsident Rogowski bezeichnet die Arbeitsmarktpolitik als den größten Schwachpunkt grün-roter Politik. Die sonntägliche Bündnisrunde war dafür wieder einmal ein Beleg. Der syndikalistische Ansatz ist längst gescheitert. ({13}) Die Bündnisgespräche bremsen den Tatendrang, statt ihn zu fördern. Strittige Themen werden ausgeblendet, als gäbe es sie nicht. Die Verschärfung der Mitbestimmung und die gewerkschaftliche Forderung nach einem Abbau der Überstunden spielen keine Rolle. Was macht der Bundeskanzler? Er betätigt sich als Weichzeichner und betreibt eine Weichzeichnerpolitik, mit der gefährlichen Tendenz zum überlebten Strukturkonservatismus. Der Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle, Rüdiger Pohl, stellt zu Recht fest: „Das Bündnis für Arbeit ist schlichtweg überflüssig.“ Meine Damen und Herren, wir brauchen keinen Konsensbrei, keine nutzlosen Kaffeekränzchen, die die Leute davon abhalten, etwas zu tun. Was wir brauchen, ist eine Renaissance der sozialen Marktwirtschaft. Wir brauchen mehr Wettbewerb in Deutschland. Wir brauchen flexiblere Güter- und Arbeitsmärkte. Nur so bekommen wir mehr Jobs. ({14}) Doch was macht die Bundesregierung? Sie spürt auch noch die letzten Flexibilitätsnischen auf dem deutschen Arbeitsmarkt auf und verregelt, verriestert sie. Ich brauche auch an dieser Stelle nur aus dem letzten Gutachten des Sachverständigenrats zu zitieren. Zwangsteilzeit, Zurückdrängung der befristeten Arbeitsverhältnisse, Verschärfung der Mitbestimmung - alles geht in die falsche Richtung. ({15}) Wer die Flexibilisierungsspielräume weiter einschränkt, der nimmt in Kauf, dass weniger Beschäftigung zustande kommt - so jedenfalls der Sachverständigenrat. Die grün-rote Politik ist einzig darauf ausgerichtet, die Gewerkschaften vor der nächsten Bundestagswahl zu besänftigen. Das hört man auch bei den Zwischenschreiern. Das ist durchsichtig, rückwärts gewandt und ein Schlag ins Gesicht der Arbeitslosen in Deutschland. ({16}) Sie sollten keine Politik für machtbewusste Gewerkschaftsfunktionäre, sondern lieber eine Politik für die Menschen anpacken, die Hoffnung und Perspektive haben wollen, Menschen, die Entscheidungs- und Handlungsspielräume brauchen, um neue Investitionen vorzunehmen und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Bundesregierung hält nichts von Aufbruch. Sie tritt lieber auf die Bremse. Vor allem der kleinere Koalitionspartner, die Grünen, die sich selbst so gern als Reformmotor bezeichnen, steht noch stärker auf der Bremse als so manches gestandene Gewerkschaftsmitglied von der SPD. Um ihre Haltung deutlich zu machen, bedienen sich die Grünen neuerdings eines Tricks. Sie schicken regelmäßig ihren Fraktionsvorsitzenden Rezzo Schlauch nach vorne, lassen ihn das ausplaudern, was der politische Gegner denkt - beispielhaft nenne ich Schlauchs Einsichten zur Flexibilisierung des Flächentarifvertrags -, und sofort kommt die gesamte grüne Parteispitze aus der Deckung und macht den Fraktionsvorsitzenden einen Kopf kürzer. Das hat Methode. Schlauch spielt quasi den Bremskraftverstärker grüner Reformverweigerer. ({17}) Man könnte auch sagen: Er ist der wirtschaftspolitische Harlekin der Grünen. ({18}) - Sogar Sie haben es verstanden. Das muss toll sein. Herr Baron, ich begrüße Sie! Ihre Zwischenrufe, Herr Baron, machen immer deutlich, dass der Neofeudalismus eine konkrete Gefahr in Deutschland ist. ({19}) Dann gibt es noch eine grüne Staatssekretärin im Wirtschaftministerium. Das sollte man bei einer Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht zumindest einmal erwähnen. Frau Wolf kommt doch tatsächlich zu der Einsicht, dass die Tatsache, dass sich in Unternehmen der New Economy derzeit Betriebsräte gründen, ein Beleg dafür sei, dass wir eine Verschärfung der Mitbestimmung bräuchten. Liebe Frau Wolf, Entschuldigung, wenn ich Sie belehren muss. ({20}) Soweit ich weiß, ist das Gesetz des Herrn Riester, das mit heftiger Gewerkschaftsunterstützung jetzt eine Verschärfung der Mitbestimmung vorsieht, noch nicht in Kraft. Ihre eigene Aussage zeigt doch, dass Mitbestimmung funktioniert und keine Verschärfung notwendig ist. Es ist doch Quatsch mit Soße, was Sie erklären. ({21}) Moderne Mitbestimmung, Herr Baron, funktioniert im Übrigen anders, nämlich über direkte Gespräche zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. ({22}) Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen brauchen wir keine zusätzlichen Gewerkschaftsfunktionäre, auch nicht mit Adelstitel, die dem Mitarbeiter sagen, wie er seine Arbeitszeit einzuteilen hat und wann er Weiterbildung zu betreiben hat. Gerade im Zeitalter der New Economy gilt: Wir brauchen eine Stärkung der Mitarbeiterbeteiligung und nicht der klassischen Mitbestimmungsrituale von gestern. ({23}) Wir brauchen mehr Miteinander und nicht eine Wiederbelebung des veralteten Gegensatzes zwischen Arbeit und Kapital. Lassen Sie Karl Marx in seinem Museum in Trier! Er hat solch einen Bart. Wir brauchen mehr Mut zur Veränderung, mehr Bewegungsspielräume. Über die Qualität grüner Beschäftigungspolitik sagen auch nackte Zahlen etwas. In Nordrhein-Westfalen betrug die Arbeitslosenquote im Durchschnitt des vergangenen Jahres 9,2 Prozent, in Schleswig-Holstein 8,5 Prozent, in Hamburg 8,9 Prozent. Überall dort regieren Grüne mit. Diese Zahlen zeigen, dass die Sozialdemokraten sich den falschen Koalitionspartner ausgesucht haben. ({24}) Ich kann Ihnen sagen, wie eine erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik aussieht. In Rheinland-Pfalz haben wir mit 7,3 Prozent Arbeitslosigkeit die drittbeste Arbeitsmarktsituation in Deutschland. ({25}) Das bestätigt meine These, dass die SPD dann eine andere Partei ist, wenn sie mit einem starken liberalen Koalitionspartner zur Vernunft getrieben wird. ({26}) - Ihr Kanzler hat sich schon festgelegt. Das ist doch so schön. Zum Nulltarif bekommt er vielleicht einen grünen, aber nie einen liberalen Koalitionspartner. ({27}) - Ja, liberaler Wirtschaftsminister, da haben Sie Recht; zitieren Sie Döring einmal! Nachmachen, Herr Schauerte! Anstrengen! ({28}) Die gerade umgesetzte Steuerreform muss bald durch eine zweite Steuerreform ergänzt werden. Die Bundesregierung macht aber das Gegenteil: Statt weitere Steuersenkungen umzusetzen, sorgt sie für 10 Milliarden DM außerplanmäßige Zusatzbelastungen: Die AfA-Tabellen führen zu fast doppelt so hohen Belastungen wie versprochen. ({29}) - Herr Baron, das ist trotzdem richtig; Sie können nicht rechnen; schon Ihre Vorfahren im Mittelalter konnten nicht richtig rechnen. ({30}) Die Mitbestimmungsnovelle kostet knapp 3 Milliarden DM zusätzlich; das geplante Zwangspfand - hören Sie genau zu, Herr Baron! - belastet die Unternehmen mit weiteren 3 Milliarden DM. Dabei sind die Ökosteuer und die Preistreiberei auf dem Strommarkt durch die Förderung von Kraft-Wärme-Kopplung im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes noch gar nicht eingerechnet. Eigentlich hat sich die SPD ja mental von der Ökosteuer verabschiedet. Der Kanzler beruhigt die Wähler vor den Landtagswahlen. Wenn Sie aber konsequent sind, machen Sie Schluss mit dieser unsinnigen Besteuerung! Millionen Pendler, Rentner, Taxifahrer, Studenten und Fuhrunternehmer würden es Ihnen herzlich danken. ({31}) Die Grünen klammern sich krampfhaft an die Ökosteuer; das ist ihr letztes ureigenes Projekt. Ansonsten haben sie alles aufgegeben: Der Pazifismus ist seit dem Kosovo-Krieg und den Bombardements im Irak passé, ({32}) den Atomausstieg in 32 Jahren erleben selbst die gesündesten Grünen kaum und die Menschenrechtspolitik muss sich den Karrierewünschen von Joseph Fischer beugen. Die Ökosteuer ist der letzte Kitt, der Sie zusammenhält; aber die Ökosteuer bringt keine neuen Jobs, sie ist völlig falsch konzipiert. Auch die Verteuerung der Prozessenergie führt bei den Unternehmen, die sich rational verhalten, zu einer höheren Kapitalintensität und nicht zur Schaffung neuer Jobs. Die neue Strategie führt dazu, dass der Umbau hin zu mehr Arbeitsplätzen, wie Sie propagiert haben, in keiner Weise stattfindet. Im Gegenteil: Sie belasten die Wirtschaft und beseitigen Arbeitsplätze. Die SPD ist ganz ruhig geworden; selbst der rote Baron. Mit der Ökosteuer wollten Sie doch einmal Energie teurer machen, Herr Baron, um Arbeitsplätze zu schaffen. Jetzt sind auch Sie ganz ruhig geworden, weil sogar Sie gemerkt haben, Herr Baron, dass diese Rechnung nicht aufgeht. ({33}) Bei den Grünen geht es um Ideologie. Sie wollen, dass die Menschen weniger mobil, vor allen Dingen weniger automobil sind. Wir Liberale halten das für eine völlig falsche Strategie. Ökosteuer und Zwangsabgaben sind grüne Verhinderungsstrategien; sie geben keine Zukunftsperspektive. Wir brauchen Strategien, die uns weiterführen und nicht zurückführen auf einen Weg, wo Arbeitsplätze aus ideologischen Gründen von den Grünen beseitigt werden. In Rheinland-Pfalz haben wir die Grünen und ihre Ökosteuer nicht gebraucht, um modernste Güterverkehrszentren zu bauen und Wasser-, Schienen- und Straßentransport miteinander zu kombinieren. ({34}) Wir haben die Grünen und die Ökosteuer in RheinlandPfalz nicht gebraucht, um das modernste Konzept im ÖPNV umzusetzen. Wir haben die Grünen und ihre Ökosteuer nicht gebraucht, um in Rheinland-Pfalz das modernste Eisenbahnsystem umzusetzen, das 150 Prozent mehr Fahrgäste auf die Schiene gebracht hat. Wir haben die Grünen und ihre Ökosteuer auch nicht gebraucht, um aus dem amerikanischen Militärflughafen Hahn einen höchst erfolgreichen zivilen zu machen und 2 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. ({35}) Wenn es nach den Grünen gegangen wäre, wäre dort ein Arbeitsplatz für einen Schäfer entstanden, weil sie dort Schafe weiden lassen wollten. So verhalten sich Ihre grünen Mitstreiter in Rheinland-Pfalz, die alles Fortschrittliche blockiert haben und noch behaupten, sie würden irgendetwas Vernünftiges machen. Selbst der Bundeskanzler konnte sich vor kurzem vor Ort überzeugen, wie erfolgreich wir sind. Im Jahreswirtschaftsbericht hat mich vor allen Dingen das Kapitel Wettbewerbspolitik erstaunt. Da schreiben Sie, wie wichtig der Wettbewerb in der Marktwirtschaft ist. Was Sie aber machen, ist dem diametral entgegengesetzt. In Bezug auf den Strommarkt drehen Sie durch die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung, die Herr Müller da hat er einmal einen lichten Moment gehabt - „Pennerprämie“ genannt hat, die Uhr zurück. Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz belasten Sie zusätzlich den nationalen Energiesockel. Der Strommarkt wird resozialisiert, die Marktwirtschaft wird teilweise wieder abgeschafft. Das ist Ihre Politik. ({36}) - Herr Baron, hören Sie zu! Sie werden es bald verstehen. Auch Ihre Vorfahren haben länger gebraucht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Brüderle, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Ich bitte, zum Ende zu kommen.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Darf ich den Satz noch zu Ende bringen, Herr Präsident? Seien Sie gegenüber meinen Vorrednern und mir gleichermaßen fair. Ich vertraue auf Ihre Fairness, dass ich meinen Gedanken zu Ende bringen darf.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Sie haben die volle Redezeit der F.D.P.-Fraktion. Was die Rede des Kollegen Merz angeht, war freie Redezeit angemeldet.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie mich den Satz beenden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich bitte Sie, ganz schnell zum Ende zu kommen.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich beende den Satz. Der Monopolminister Müller hat nicht nur in der Energiepolitik die Weichen falsch gestellt. Die Weichen stellt er auch bei der Verlängerung des Briefmonopols falsch. Fehlentwicklungen erleben wir ebenfalls bei der Telekom; Kleinanleger werden in ihren Erwartungen enttäuscht. Wo bleibt die Verbraucherministerin? Sie ist offenbar nur für Lebensmittel da, aber nicht für Verbraucherschutz bei Monopolfehlgriffen dieses Monopolministers. ({0}) Deshalb brauchen wir eine andere Politik. Wenn Sie es nicht können, dann hören Sie auf und lassen Sie es andere machen! ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Christa Luft, PDS-Fraktion, das Wort.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht, den wir heute debattieren, datiert vom 31. Januar 2001. Das heißt, die Tinte ist noch nicht ganz trocken und schon erreichen uns täglich neue Hiobsbotschaften, auf die der Bundesfinanzminister heute leider nicht eingegangen ist; auch im Jahreswirtschaftsbericht werden sie noch nicht einmal andeutungsweise aufgegriffen. Was meine ich? Die offizielle Arbeitslosigkeit überschreitet im ganzen Land die 4-Millionen-Grenze wieder weit. Im Osten kann jeder fünfte Erwerbsfähige sein Brot nicht allein verdienen. Kommen Sie diesen Menschen einmal mit Ihrem Rentenkonzept - wenn es tatsächlich umgesetzt wird - und privater Vorsorge. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das dort aufgenommen wird. Herr Kollege Merz, Sie haben für Arbeitsmarktvergleiche eben das Jahr 1998 angeführt. Ich muss Sie bitten, mit diesen Daten ein bisschen seriöser umzugehen. Sie werden sich wie ich daran erinnern, dass im Wahlkampfjahr 1998 die damalige Regierung, von Ihrer Partei getragen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in großer Anzahl initiiert hat. Vermutlich hätte auch eine CDU-geführte Regierung diese Anzahl alsbald wieder abgebaut. ({0}) Die Steuereinnahmen - eine neue Hiobsbotschaft werden geringer als erwartet ausfallen. Also müssen wir uns offenbar auf weitere Kürzungen von öffentlichen Investitionen und von Sozialausgaben gefasst machen. Große Unternehmen wie Daimler-Chrysler und die Dresdner Bank können sich nach der rot-grünen Steuerreform aber ganz legal aus der Finanzierung des Gemeinwesens zurückziehen. Wie der „Spiegel“ kürzlich berichtete, werden diese großen Unternehmen im Jahr 2000 nicht nur keine Steuern zahlen, sondern sogar Rückforderungen geltend machen. Demgegenüber - wir alle bekommen in diesen Tagen ganz viel Post - muss der kleine Handwerksmeister - er hat schon Haus und Hof verpfändet, nur um seinen Betrieb am Leben zu erhalten - bei verzögerten oder ausbleibenden Zahlungseingängen aufgrund einer unerhört schlecht gewordenen Zahlungsmoral seine Steuern an das Finanzamt selbstverständlich pünktlich abführen. Sie müssen einmal erklären, wie Sie mit dieser Absurdität zwischen Groß und Klein weiter umgehen wollen. ({1}) Im inzwischen vorliegenden Armutsbericht kann man lesen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich ununterbrochen wächst. Fast ein Drittel der 80 Millionen Bundesbürger hat nicht einmal die Hälfte des Durchschnittseinkommens zur Verfügung. Unter diesen Menschen sind vor allem allein erziehende Frauen. Am 8. März darf man daran ganz besonders erinnern. 10 Prozent der Haushalte verfügen bereits über die Hälfte allen Besitzes. Auf dieses Problem muss die Wirtschaftspolitik reagieren. Die Kontroverse um den Aufbau Ost kocht täglich höher. Herr Schulz bestreitet, dass der Osten auf der Kippe steht. Er hat eine Wortakrobatik parat. Er sagt, der Osten befinde sich nicht auf der Kippe, sondern nur im Gleichgewicht eines fatalen Kreislaufs. Soeben hat er von einem „schrägen Gleichgewicht“ gesprochen. Herr Schulz, ich versuche mir immer vorzustellen, wie das mit einem „schrägen Gleichgewicht“ so ist. Ich versuche mir auch vorzustellen, wie Sie noch 1998 reagiert hätten, wenn jemand von der CDU/CSU hier behauptet hätte, der Osten befände sich nur in einem schrägen Gleichgewicht. ({2}) Ich kann nur sagen: Eine Antwort darauf, ob der Osten auf der Kippe steht oder nicht, geben junge Leute. Nach einer jüngsten Umfrage der „Leipziger Volkszeitung“ will jeder dritte Ostdeutsche zwischen 18 und 29 Jahren den Osten verlassen. Wenn man angesichts dieser Zahlen nicht zu dem Schluss kommt, dass der Osten auf der Kippe steht, dann weiß ich nicht, was man noch an Daten benötigt. Das mag an Hiobsbotschaften genügen. Zu fragen bleibt: Woran misst man eigentlich den Erfolg von Wirtschaftspolitik? Misst man den Erfolg von Wirtschaftspolitik nur an der Höhe der Steuern, nur an der Höhe der Staatsquote oder nur an der Höhe der Wachstumsraten? Auf diesem Gebiet hat sich tatsächlich etwas bewegt. Aber das kann doch nicht der Erfolgsmaßstab sein. Die gerade genannten Punkte sind Mittel der Wirtschaftspolitik; sie können aber nicht die Ziele sein. Im Jahreswirtschaftsbericht wird das nur an einer einzigen Stelle genauso gesehen - ich zitiere -: Der beste Beitrag einer sozial verantwortlichen Wirtschaftspolitik besteht darin, durch eine dynamische Wirtschaftsentwicklung und geeignete Reformen möglichst vielen Menschen eine ausreichende Beteiligung am Erwerbsleben und so ein Einkommen aus eigener Kraft zu ermöglichen. ({3}) Wenn dies von der Bundesregierung als Maßstab angenommen würde, dann hätte sie ihre Nagelprobe noch vor sich. Herr Brüderle, wenn ich mich richtig erinnere, war es einmal der Sinn der sozialen Marktwirtschaft - Sie wollen sie ja wiederbeleben -, ein Einkommen aus eigener Kraft zu ermöglichen. ({4}) Ich habe bei Ludwig Erhard nachgelesen. ({5}) Er hat gesagt - ich zitiere wörtlich -: Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht. Damit können wir uns voll einverstanden erklären. Aber um dies zu erreichen, hat die Bundesregierung noch allerhand vor sich. ({6}) Die im vergangenen Jahr entstandenen und überschwänglich als Erfolg deklarierten Jobzuwächse beruhen zum großen Teil nicht auf einem Zuwachs bei unbefristeten Vollzeitarbeitsplätzen, sondern bei geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, die nicht existenzsichernd sind. Es kann doch niemand diesen Zusammenhang leugnen: Wenn das Arbeitsvolumen nicht steigt - das weist die Statistik aus -, aber die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse gewachsen ist, dann kann auf das einzelne Beschäftigungsverhältnis nur ein geringeres Arbeitsvolumen mit einem entsprechend geringeren Einkommen entfallen. Damit Armut tatsächlich bekämpft werden kann, fordern wir, die Weichen so zu stellen, dass erwerbstätige Menschen ohne zusätzliche Hilfe zum Leben auskommen können. Dazu gehört der Abbau der Überstunden; darüber darf man nicht nur parlieren, sondern es muss endlich praktisch etwas geschehen. Wir werden alsbald eine Initiative zu diesem Thema in das Parlament bringen. Es darf nicht mehr nur allein außerhalb des Parlaments über die Arbeitszeit und den Überstundenabbau geredet werden. Wir fordern die Rückholung dieses Themas ins Parlament. Wir werden initiativ, um die wöchentliche Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden gesetzlich zu beschränken. ({7}) Damit würde in der Bundesrepublik die Praxis der meisten EU-Mitgliedsländer endlich eingeführt. Die Pleiten im Handwerk und im Baugewerbe wegen schlechter Zahlungsmoral der Kunden eskalieren. Hier bedarf es einer unverzüglichen Novellierung des Schuldrechts, das im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht wurde. Beispielsweise muss der Eigentumsvorbehalt geregelt werden, sonst werden wir bei den kleinen Unternehmen Pleite über Pleite erleben. Die Wirtschaftsförderung muss evaluiert werden. Es kann doch nicht so weitergehen, dass öffentliche Gelder, vornehmlich Steuergelder von abhängig beschäftigten Menschen, in privaten Unternehmen versickern, ohne dass es öffentliche Effekte, insbesondere Beschäftigungseffekte, gibt. ({8}) Ein Wort zum Osten. Diesem Thema widmen gegenwärtig Millionen Menschen - nicht nur im Osten, sondern auch im Westen - ihre Aufmerksamkeit. Der Bericht ist 114 Seiten lang; dem Osten werden aber nur viereinhalb Seiten gewidmet. Ich finde, das ist sehr ärmlich. Das spiegelt sozusagen den Rang wider, den das Thema gegenwärtig in der Bundesregierung einnimmt. Wir fordern ein energisches Umdenken und Umsteuern in der Bundesregierung, sonst wird der Osten den Pfad des selbsttragenden Aufschwungs verfehlen. Das wäre zum Schaden des ganzen Landes. Unserer Meinung nach ist eine Initiative zur Markterschließung und zur Vermarktung von Produkten ostdeutscher Unternehmen - sowohl regional als auch überregional und international endlich notwendig. Uns nützt kein Investitionszuwachs schlechthin. Investitionen in den Kapitalstock nutzen nur, wenn eine Vermarktung der Produkte möglich ist; nur dann kommt es zur erforderlichen Effizienz der Investitionen. Daher fordern wir von der Bundesregierung eine Offensive zur Erschließung von Märkten für international handelbare Güter. Ein Bündnis für Aufträge, beispielsweise aus Russland, zur Modernisierung der Gas- und Ölindustrie, aber auch der Landwirtschaft und des Umweltschutzes wäre möglich. Wir werden auch hierfür Vorschläge für eine Initiative vorlegen. Das wäre sowohl für einen Beschäftigungszuwachs als auch für Steuerzuwächse eine wichtige Offensive. Notwendig sind aus unserer Sicht konzentrierte öffentliche Investitionen in Bildung, Wissenschaft, Forschung und in die Vernetzung von kleinen und mittleren Unternehmen. Das muss vor der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 geschehen; denn sonst wird der Landstrich zwischen Elbe und Oder tatsächlich in Agonie verfallen. Das kann nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger in Ost und West sein. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion, das Wort.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Merz hat heute in der „Bild“-Zeitung auf die Frage, was zu tun sei, von sich gegeben: „Die Marschrichtung lautet: Schotten dicht und arbeiten.“ Das Ergebnis seiner geistigen Abschottung war heute Morgen hier zu hören. ({0}) Ich habe mich schon in der Vergangenheit des Öfteren darüber gewundert, dass Herrn Merz profunde wirtschaftsund finanzpolitische Kenntnisse unterstellt wurden. Dieses Bild hat er heute Morgen erneut erfolgreich zerstört, wie ich fand. ({1}) Insofern diente das auch zur Aufklärung der Öffentlichkeit. Herr Merz, ich würde Ihnen empfehlen, bei Vorwürfen an die Adresse von Hans Eichel ganz vorsichtig zu sein. Wenn Sie hier konstatieren, dass er wie der Präsident des Statistischen Bundesamtes geredet habe ({2}) - Herr Eichel; das habe ich erwähnt -, dann muss man auf der anderen Seite feststellen: Auch Sie haben, wie Herr Eichel, über Zahlen geredet, aber bei Herrn Eichel stimmten die Zahlen und die Zahlenvergleiche, während bei Ihnen weder eine Zahl noch irgendein Zahlenvergleich stimmte. ({3}) Das heißt, wenn es denn eine Aufnahmeprüfung für einen Grundkurs in Statistik gäbe, hätten Sie nicht einmal diese bestanden; Sie hätten es also noch nicht einmal zum Abteilungsleiter in diesem Bundesamt gebracht. ({4}) Vorsicht: Sie ziehen einen abenteuerlichen Vergleich der Arbeitslosenzahl von Oktober 1998 - die Kollegin Luft hat auf die Besonderheiten dieser Zahl hingewiesen mit der von Februar 2000. Einen solchen Vergleich würde kein Statistiker anstellen; nicht einmal ein seriöser Politiker würde das tun. ({5}) Dass die Abgaben zu hoch sind, ist leider das Ergebnis Ihrer Politik. Wir sind erfolgreich dabei, das zu ändern, Schritt für Schritt, Jahr für Jahr. Früher haben Sie doch so gerne den Sachverständigenrat zitiert. Hätten Sie einmal heute Morgen zitiert, was der Sachverständigenrat über die Entwicklung von Staatsausgaben und Abgabenquoten in den nächsten Jahren sagt! Wir arbeiten doch alles, was Sie uns hinterlassen haben, Schritt für Schritt ab. Das ist das Problem, mit dem wir zu tun haben. ({6}) Ich glaube, dass das immer mehr Menschen deutlich wird. Herr Merz, in Wahrheit war Ihre Rede - das ist, glaube ich, keine Polemik - ein Beleg dafür, dass Sie keine konkreten Alternativen haben, dass Sie schier ratlos sind. Es war ein wirkliches Bild der Ratlosigkeit, das Sie hier geboten haben. Dass Sie es wagen, das Thema der Jugendarbeitslosigkeit anzusprechen, ist nun wirklich der Gipfel an Dreistigkeit, ({7}) um ein Wort von Ihnen aufzunehmen. Denn in diesem Bereich haben Sie in der Vergangenheit überhaupt nichts gemacht. Wenn sich der Regierungswechsel 1998 für irgendwen gelohnt hat, dann doch für Tausende junger Frauen und Männer, die endlich wieder eine Perspektive bekommen haben. ({8}) Sie waren doch vor dem Regierungswechsel ohne Perspektive. Deren Sorgen und Nöte haben Sie nicht einmal registriert, geschweige denn als Problem diagnostiziert und entsprechende Schritte eingeleitet. Allein wegen dieser jungen Frauen und Männer hat sich der Regierungswechsel gelohnt. Lassen Sie mich wiederholen, was bereits der Bundesfinanzminister gesagt hat, und den Sachverständigenrat zitieren, der ja mit Lob vorsichtig ist: Die Politik hat begonnen, den wachstumshemmenden Reformstau - ich ergänze: aus Ihrer Zeit, meine Damen und Herren von CDU/CSU und F.D.P. aufzulösen. Als Sie noch in der Regierungsverantwortung standen - das ist noch gar nicht so lange her -, bestand die Gefahr, die Grenze von 5 Millionen registrierten Arbeitslosen zu überschreiten. Das versuchen Sie wohl gänzlich auszublenden. ({9}) - Es ist doch wohl nicht zu leugnen, dass in einer bestimmten Phase 5 Millionen Arbeitslose realistisch erschienen, auch wenn diese Grenze dann nicht überschritten wurde. Gemessen an dieser Ausgangssituation hat diese Koalition beachtliche Veränderungen durchsetzen können. Sie können doch gar nicht bestreiten, dass die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt erreicht ist; Herr Eichel hat die Zahlen dazu genannt. Wir sind dabei, die Lasten abzutragen, die Sie angehäuft haben. Das gilt auch für andere Themen, die in diesen Tagen eine Rolle spielen. So ist es doch auch dreist, uns im Zusammenhang mit der Bundeswehrreform Vorwürfe zu machen. Auch die Bundeswehrreform zeigt: Wir machen das, was Sie liegen ließen. ({10}) Wir haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass dies keine einfache Aufgabe ist. Die gesamtwirtschaftlichen Daten sind insgesamt durchaus positiv: Das Preisniveau ist stabil. Das Wirtschaftswachstum ist auch weiterhin beachtlich. Die hohen Exportzahlen sprechen eine klare Sprache. Die Arbeitslosigkeit geht zurück. Die Steuer- und Abgabenbelastung sinkt. Aber ich füge hinzu: Es ist nicht befriedigend, dass wir in Deutschland Regionen haben, in denen es nach wie vor große Beschäftigungsprobleme gibt; das sind vor allem weite Teile in Ostdeutschland. Das will und kann niemand leugnen. Es gibt aber auch in den alten Bundesländern Regionen, die einen gravierenden Strukturwandel durchmachen und ebenfalls hohe Arbeitslosenzahlen aufweisen. Aber lassen Sie uns das ganz realistisch betrachten: Welche Handlungsmöglichkeiten waren überhaupt nach dem Regierungswechsel gegeben und was ist gemacht worden? Wir haben den richtigen Rahmen gesetzt: durch unsere Wirtschafts- und Finanzpolitik, durch die stetige Sanierung der öffentlichen Haushalte, mit einer klaren und verlässlichen Perspektive in der Steuerpolitik, durch die begonnene Anpassung der sozialen Sicherungssysteme an die ökonomischen und demographischen Erfordernisse von Gegenwart und Zukunft sowie mit der nachhaltigen Begrenzung von Sozialabgaben. Das machen wir so weiter. Wir werden in diesem Jahr bei den Verhandlungen über die Bund-Länder-Finanzbeziehungen und insbesondere über die Fortführung des Solidarpaktes über das Jahr 2004 hinaus die Voraussetzungen dafür schaffen, dass den strukturell schwächeren Ländern Deutschlands weiterhin die Möglichkeit gesichert wird, Anschluss an die Gesamtentwicklung zu finden. Die Forderung von Herrn Ministerpräsident Vogel nach einem 40-Milliarden-DM-Sonderförderprogramm Ost ist leider deshalb nicht verhandelbar, weil die von ihm vorgeschlagene Finanzierung dieses Programms nicht seriös ist. Das weiß auch jeder, der sich damit ein wenig auskennt; Herr Merz hat ja offenbar den Brief von Herrn Schwanitz gelesen, in dem im Einzelnen darauf Bezug genommen wird. Man kann jetzt, nachdem wir im Konsens aller Parteien etwas anderes festgelegt haben, nicht einfach fordern, den Gewinn der Deutschen Bundesbank jenseits von 7 Milliarden DM anders zu verwenden. Ähnliches gilt auch für andere Finanzierungsvorschläge von Herrn Vogel. Das heißt, dieses Programm ist nicht seriös finanziert und deswegen nicht im ostdeutschen Interesse. Im ostdeutschen Interesse kann nur etwas sein, was anschließend konkrete Handlungsmöglichkeiten bietet, nicht aber etwas, was man nur in Aussicht stellt, was sich aber nicht konkret umsetzen lässt. ({11}) Es wäre der Sache schon sehr dienlich, wenn Herr Vogel oder auch Herr Nooke oder wer auch immer uns dabei helfen würden, über die Parteigrenzen hinweg die angemessene Fortführung des Solidarpaktes zu gewährleisten. Ich bin mir nämlich überhaupt nicht sicher, ob die Herren Stoiber, Koch und Teufel, die ja derzeit das Machtzentrum in der Union darstellen, mit ihren vehement vorgetragenen Vorstellungen über die Zukunft des bundesstaatlichen Finanzausgleichs ernsthaft bereit sind, ihrer gesamtdeutschen Verantwortung nachzukommen. ({12}) Ich glaube, das tun sie nur verbal. Tatsächlich geht es ihnen, meine Damen und Herren, um puren Eigennutz. ({13}) - Um puren Eigennutz, Herr Michelbach. Es soll mehr Geld in Bayern, Hessen und Baden-Württemberg bleiben und dafür weniger nach Ostdeutschland fließen. Das ist der Kern der Politik, die Sie zu verantworten haben. ({14}) Die Position der SPD in dieser Frage ist eindeutig: Trotz aller erkennbaren Aufbauerfolge wird unstreitig anerkannt, dass es in den neuen Ländern noch erhebliche Infrastrukturdefizite und noch immer gravierende teilungsbedingte Sonderlasten gibt. Deswegen werden wir die bewährten Instrumente des Solidarpakts, die Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen und das Investitionsförderungsgesetz, ergänzt durch Mittel der Gemeinschaftsaufgaben, durch Mittel der europäischen Strukturfonds und durch alles, was dazu gehört, sowie den gezielten Einsatz von Bundesinvestitionen so wie bisher fortführen und da noch verstärken, wo es erforderlich ist, um eine Mezzogiorno-Situation zu verhindern. Das ist unsere Linie; für sie stehen die Sozialdemokraten hier im Deutschen Bundestag, nicht für das, was Sie durch die Vorstöße von Koch, Stoiber, Teufel und wie sie alle heißen mitzuverantworten haben. ({15}) Ein letztes Wort zum Mittelstand - weil Herr Merz auch darauf zu sprechen kam; aber auch die ständige Wiederholung macht es nicht richtig -: Durch unser Steuersenkungsgesetz nebst Ergänzungsgesetz entsteht eine Entlastung um 62,5 Milliarden DM. Davon entfallen auf Private 32,6 Milliarden DM, auf Großunternehmen 6,8 Milliarden DM und auf den Mittelstand 23,1 Milliarden DM. Deshalb ist es richtig, was die Beratungsgesellschaft Arthur Andersen im Auftrag des „Handelsblatts“ festgestellt hat „Der Mittelstand wird nicht benachteiligt.“ Er wird jedenfalls nicht durch diese Steuerreform benachteiligt. Der Mittelstand wurde systematisch durch die Politik benachteiligt, die nun wirklich Sie zu verantworten haben. Dadurch ist die Schieflage zulasten des Mittelstandes entstanden, meine Damen und Herren, und auch da müssen wir Aufräumarbeiten leisten - im Interesse der Handwerksmeister, im Interesse des Mittelstandes. Das werden wir in den nächsten Jahren so fortsetzen. Vielen Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Dokument der Selbstzufriedenheit dieser Bundesregierung. Vielleicht war es diese Selbstzufriedenheit, die den Bundeskanzler am Wochenende veranlasste, zu verkünden, dass er bis zur Wahl die Arbeitslosigkeit auf 3 Millionen Beschäftigungssuchende zurückführen will. Er hat sich einen Tag später leider wieder korrigiert. Er hat wohl gewusst, warum. ({0}) Es mehren sich vielmehr die Anzeichen dafür, dass die objektive wirtschaftliche Lage längst nicht so gut ist, wie uns von der Bundesregierung glauben gemacht werden soll. Das gilt vor allen Dingen für die Lage im deutschen Mittelstand. Wir hatten bereits im letzten Jahr einen massiven Rückgang des Wirtschaftswachstums zu verzeichnen. Nach 3,7 Prozent im ersten Quartal, 3,5 Prozent im zweiten Quartal und gerade noch 2,8 Prozent im dritten Quartal waren es im vierten Quartal des letzten Jahres nur noch 1,9 Prozent Wachstum. Die Abkühlung der Konjunktur in den USA und der etwas stärkere Euro werden nicht spurlos an der deutschen Exportwirtschaft vorübergehen; sie werden die konjunkturellen Auftriebskräfte weiter schwächen. Ob das Wachstumsziel von 2,75 Prozent in diesem Jahr erreicht wird, ist deshalb ernstlich zu bezweifeln. Stattdessen steigen die Preise immer stärker. Im Februar verteuerte sich die Lebenshaltung in Deutschland um 2,7 Prozent und damit so stark wie seit sieben Jahren nicht mehr. Die Regierung hat zweifellos mit ihrer dritten Stufe der Ökosteuer dazu massiv beigetragen. Es ist schon beängstigend, mit welcher Schnelligkeit die Preise in Deutschland steigen. Noch bei der Steuerschätzung im Mai letzten Jahres ging man von einer Inflationsrate von nur 0,7 Prozent für das Jahr 2000 aus, um dann bei 1,9 Prozent zu landen. Mit der Beschleunigung des Preisanstiegs schwinden die Aussichten auf eine deutliche Zinssenkung durch die EZB, die reale Kaufkraft sinkt. Zugleich wächst die Gefahr, dass es bei den Löhnen Zweitrundeneffekte gibt, die die Preisstabilität weiter untergraben würden. Wenn, wie am Wochenende geschehen, führende Gewerkschafter eine harte Tarifrunde ankündigen, dann hat das auch damit zu tun, dass beim Abschluss der Tarifverträge im letzten Jahr, die für zwei Jahre gelten, niemand mit einem derart dramatischen Anstieg der Preise in Deutschland rechnen konnte. Offenbar bleibt auch das Ökosteueraufkommen hinter den Erwartungen zurück. Dass Staatssekretär Zitzelsberger in der „Berliner Zeitung“ - offenbar erschreckt - vermerkt, dass die Ökosteuer eine Lenkungswirkung erzeuge, zeigt, dass diese Ökosteuer nur zum Abkassieren geplant war - und zu sonst nichts. ({1}) Wir spüren zunehmend deutlicher, dass die gute Konjunktur - im letzten Jahr durch den Export getragen und durch einen äußerst schwachen Euro begünstigt - nicht durch eine gute, sich selbst tragende Binnenkonjunktur gestützt wird. Wenn die Bundesregierung jemals den Mut und den Willen zu durchgreifenden Strukturreformen im Sinne von mehr Wachstum und Beschäftigung gehabt haben sollte, dann hat sie dieser Mut längst verlassen. Am erschreckendsten ist die Reformunfähigkeit der Bundesregierung auf dem Gebiet der Arbeitsmarktpolitik. Wenn sich hier etwas bewegt, dann in die falsche Richtung! Trotz einer insgesamt guten Konjunktur im vergangenen Jahr ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland weit weniger stark gesunken als in anderen Ländern der Euro-Zone. Schon der Sachverständigenrat hat festgestellt, dass in Deutschland im letzten Jahr fast 5,5 Millionen Menschen offen oder verdeckt arbeitslos gewesen sind. Das sind 13,2 Prozent. Die Entwicklung in anderen Ländern zeigt: Es gibt kein Naturgesetz, wonach es auf Dauer hohe Arbeitslosigkeit geben muss. Die Arbeitslosigkeit beträgt zum Beispiel in den Niederlanden 3 Prozent und in Dänemark sowie in den USA 4 Prozent. Der Arbeitsmarkt in Deutschland - das wird immer deutlicher - ist die Achillesferse der Bundesregierung. ({2}) Friedrich Merz hat heute Morgen dazu Wichtiges gesagt. ({3}) Die Erstellung von Diagnosen und Prognosen zur Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wurde in den letzten zwei Jahren dadurch erschwert, dass erhebliche Korrekturen an der amtlichen Erwerbstätigenzahl vorgenommen wurden. Allein das Hinzurechnen der 630-Mark-Jobs, die früher nie mitgerechnet wurden, hat auf einen Schlag zu 2 Millionen mehr Beschäftigten in der Statistik geführt. Die jetzt vorliegenden Zahlen, die nach hinten korrigiert wurden, zeigen, dass der Beschäftigungsaufwuchs bereits 1997 begonnen und sich bis heute fortgesetzt hat. ({4}) - Hören Sie bitte gut zu und schauen Sie sich einmal die entsprechenden Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit an. Diese Zahlen zeigen aber auch, dass das Arbeitsvolumen in Deutschland, gemessen in Erwerbstätigenstunden, 1997, 1998 und 1999 zugenommen hat - das hat wohl mehr mit der alten Regierung als mit der neuen Regierung zu tun - und dass es im Jahr 2000 zum Stillstand gekommen ist. Das deckt sich mit der Feststellung des Sachverständigenrates, dass der Arbeitsmarkt, gemessen in Erwerbsstunden, im Jahr 2000 zum Erliegen gekommen ist. Auch das, Herr Poß, finden Sie im Gutachten der Sachverständigen. - Das heißt mit anderen Worten: Wir hatten im letzten Jahr in Deutschland zwar mehr Beschäftigte, aber deshalb nicht mehr Arbeit. Ein weiterer Vergleich: Wir hatten im Februar 2001 352 000 Arbeitslose weniger als im Februar 1999. Dieses Weniger an Arbeitslosen deckt sich exakt mit der Zahl des Rückgangs beim Erwerbspersonenpotenzial, das in den Jahren 1999 und 2000 ebenfalls um 350 000 zurückgegangen ist. ({5}) Das heißt mit anderen Worten: Die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt hängt ausschließlich damit zusammen, dass mehr ältere Menschen in den Ruhestand gegangen sind, als junge Menschen in das Erwerbsleben eingetreten sind. Die jetzige Regierung hat überhaupt keinen Grund, sich mit angeblichen Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt zu brüsten. Im Gegenteil: Diese Erfolge gibt es nicht. Für mich sind die Ursachen klar: Wer wie diese Regierung eine Politik gegen den Mittelstand in Deutschland betreibt, wird auf dem Arbeitsmarkt Schiffbruch erleiden und keinen Erfolg haben. ({6}) Es war und ist der Mittelstand, der in Deutschland zusätzliche Arbeitsplätze schafft. Das war in den 80er-Jahren so, als 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen wurden - das bräuchten wir auch heute -; das war in der Rezession 1993/94 so, als in Betrieben mit weniger als zehn Beschäftigten 700 000 neue Arbeitsplätze geschaffen wurden, während in der Großindustrie 1,4 Millionen Arbeitsplätze abgebaut wurden. Und das war auch im letzten Jahr so: In den kleinen und mittleren Betrieben wurden 350 000 Arbeitsplätze geschaffen, während in den 100 größten deutschen Unternehmen 50 000 Arbeitsplätze abgebaut worden sind. Diese Steuerreform war - das gehört zur Wahrheit dazu - eine Reform für die großen Unternehmen, die Kapitalgesellschaften, aber gegen die Unternehmer und Arbeitnehmer in diesem Land. ({7}) Herr Eichel und Herr Poß, in diesen Tagen haben die Arbeitnehmer und die Mittelständler gespürt, dass die Erwartungshaltung in Sachen Steuerreform in keiner Weise durch die Realität gedeckt wird. ({8}) Die Januar- und Februar-Abrechnungen haben den Facharbeitern in Deutschland gezeigt, dass sie monatlich circa 70 bis 90 DM mehr im Geldbeutel haben. Gleichzeitig jedoch bekommen die Mieter in diesen Tagen die Nebenkostenabrechnungen und stellen fest, dass sie aufgrund der gestiegenen Energiepreise pro Quadratmeter Wohnfläche und Monat 1 DM mehr zahlen müssen. ({9}) Das heißt, Ökosteuer, schwacher Euro und Verteuerung der Rohölpreise haben die Wirkung der Steuerreform für die Arbeitnehmer bereits komplett aufgefressen. ({10}) Da Sie immer sagen, der Mittelstand werde entlastet, bitte ich Sie, einen Moment nachzudenken: Um wie viel mehr gilt das erst für den kleinen und mittleren Betrieb in Deutschland, ({11}) der energieintensiv produziert oder dienstleistet? Denn darüber hinaus haben diese Betriebe die Abschreibungsverschlechterungen im Zuge der lafontaineschen Reform sowie die jetzigen Verschlechterungen bei den AfA-Tabellen zu tragen - Verschlechterungen, die insgesamt dazu führen, dass im Schnitt circa 20 Prozent mehr Gewinn zu versteuern sind, ohne dass eine Mark mehr für Liquidität zur Verfügung stünde oder gar der Eigenkapitalanteil verbessert worden wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Der Eigenkapitalanteil sinkt. Meine Damen und Herren, die Behauptung, dass die Steuerreform insbesondere den Mittelstand in Deutschland entlastet habe, ist das größte Märchen, das man seit den Gebrüdern Grimm den Deutschen erzählt hat. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Rauen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Poß?

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Rauen, bestreiten Sie die vom Bundesfinanzministerium angegebenen Entlastungen für den Mittelstand von mehr als 23 Milliarden DM und können Sie bestätigen, dass in dem Alternativentwurf der CDU/CSU vom Frühjahr letzten Jahres ebenfalls Abschreibungsverschlechterungen in Höhe von 3,5 Milliarden DM zur Gegenfinanzierung vorgesehen waren? ({0})

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Poß, ich bestreite die Zahlen, mit denen angegeben wird, in welchem Maß der Mittelstand entlastet wird. Sie müssen sehen - das habe ich Ihnen schon eben gesagt -: Unternehmer, die Sie nicht entlasten wollen, und Arbeitnehmer haben denselben Steuersatz. Beim Arbeitnehmer sind die Erleichterungen bereits durch die Verteuerungen auf dem Energiesektor aufgefressen. ({0}) Das gilt natürlich umso mehr für den Unternehmer, der zudem die Ihnen bekannten Abschreibungsverschlechterungen zu tragen hat. ({1}) - Wenn Sie schon Fragen stellen, Herr Poß, dann bleiben Sie bitte auch stehen. Sie wollen ja offenbar schlau gemacht werden. Herr Poß, ein mittelständischer Betrieb, der seine Leistungen nur energieintensiv erbringen kann - denken Sie an Speditionen, an Fuhrunternehmen, an Busunternehmen, an Unterglasbaubetriebe -, der wird doch aufgrund der Energiepreisverteuerungen viel stärker belastet als der normale Arbeitnehmer. Wenn dieser schon keine Erleichterung bekommt, um wie viel mehr muss das für den Mittelständler gelten! ({2}) - Sie müssen trotzdem stehen bleiben. ({3}) - Ich will Ihnen erklären, Herr Poß, warum diese Zahlen nicht stimmen. Sie wollen die Antwort bewusst nicht hören. Denn Sie verschweigen, dass bei dieser „größten Steuerreform aller Zeiten“, die von 1998 bis 2005 läuft, den Menschen letztlich nur das an Steuern zurückgegeben wird, was ihnen vorher durch die kalte Progression, durch das Zusammenwirken von Progression und Inflation, abgenommen worden ist. Das alles rechnen Sie im Zeitraffer zusammen. ({4}) Sie rechnen Entlastungen zu Preisen aus dem Jahr 1998 mit Tarifen des Jahres 2005 auf und geben den Leuten lediglich zurück, was im Rahmen der kalten Progression vorher von ihnen abkassiert worden ist. Das ist das große Märchen bei dieser angeblich größten Steuerreform aller Zeiten. ({5}) Meine Damen und Herren, die Bundesregierung behindert den Mittelstand in Deutschland in seiner Fähigkeit, mehr Arbeitsplätze zu schaffen, weil sie die Freiheit der Unternehmer immer mehr einschränkt. Die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung geht in die völlig falsche Richtung. Das bescheinigt niemand anderes als der von der Bundesregierung berufene Sachverständigenrat. Der Sachverständigenrat benennt dazu das 630-DM-Gesetz, die überbürokratisierten Regeln zur Scheinselbstständigkeit, die erneute Regulierung beim Kündigungsschutz, die Rücknahme der verminderten Lohnfortzahlung, die Schlechtwettergeldregelung und die erneute Regulierung der Energie- und Telekommunikationsmärkte. Statt den viel zu starren Arbeitsmarkt zu deregulieren, machen Sie das Gegenteil dessen, was OECD, lnternationaler Währungsfonds, EU-Kommission und der von Ihnen bestellte Sachverständigenrat Ihnen vorschlagen. Stattdessen geht Ihre sozialistische Regulierungswut genau in die umgekehrte Richtung: ({6}) Verschlechterung der befristeten Arbeitsverträge, neue Regelungen zur Altersteilzeit, voraussetzungsloser Anspruch auf Teilzeitarbeit. Jetzt wollen Sie auch noch das Betriebsverfassungsgesetz gegen den Mittelstand als Waffe in Anschlag bringen. ({7}) Es geht Ihnen doch gar nicht um Mitbestimmung. Wenn es darum ginge, würden Sie dafür sorgen, dass Betriebe und ihre Belegschaften in eigener Verantwortung Regelungen treffen können, die Arbeitsplätze sichern und Beschäftigung mobilisieren, so wie wir von der Union es vorgeschlagen haben, so wie es teilweise Ihr Wirtschaftsminister Müller vorgeschlagen hat und so wie es Ihnen der Sachverständigenrat seit zwei Jahren aufgeschrieben hat. ({8}) Die Betriebe und die Menschen in den Betrieben wollen diese Regelungen. Indem sie orts- und betriebsnahen Regelungen zustimmen, machen die Belegschaften und die Betriebsräte ihren Anspruch geltend, selber darüber zu bestimmen, was für sie am günstigsten ist. Wer ein solches Verfahren als Tarifbruch denunziert, spielt sich zum Vormund der Menschen auf. Er spricht ihnen nicht nur das Recht, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ab. Das ist mit meiner Vorstellung von einer freiheitlich verfassten Gesellschaft unvereinbar. Aber das ist bei vielen politischen Entscheidungen der große Unterschied zwischen unserer Partei und Ihrer Partei: Wir bauen auf den einzelnen Menschen, seine Eigenverantwortung und seine Fähigkeit, selbst zu entscheiden, was für ihn gut ist, während Sie die Menschen bevormunden, erziehen und fremdbestimmen wollen. ({9}) Sie wollen mit diesem Betriebsverfassungsgesetz keine Mitbestimmung, Sie wollen nur eines: Sie wollen die Macht der Gewerkschaften und ihrer Funktionäre stärken. ({10}) Mit dem Wahlverfahren geben Sie ihnen das Instrument an die Hand, von außen gesteuerte Betriebsräte in den BePeter Rauen trieben zu installieren, auch gegen den Willen der Mehrheit der Belegschaft. ({11}) Was Sie da vorhaben, ist ein Anschlag auf den Mittelstand in Deutschland, ein Anschlag auf die unternehmerische Entscheidungsfreiheit, ein Anschlag auf diejenigen, die für das zu haften haben, was in den Betrieben geschieht. ({12}) Wir müssen den Arbeitsmarkt aufbrechen. Dazu hat Friedrich Merz heute Morgen Entscheidendes gesagt. 5,5 Millionen Menschen ohne Beschäftigung, Zunahme der Schwarzarbeit, 1,5 Millionen offene Stellen und gleichzeitig über 4,1 Millionen Arbeitslose - das geht einfach nicht mehr zusammen. Hier muss der Arbeitsmarkt kräftig aufgebrochen werden. ({13}) - Heute Morgen hat Friedrich Merz dazu Entscheidendes gesagt. Ich hoffe, Sie haben zugehört. ({14}) - Das ist wohl wahr. Das gilt insbesondere mit Blick auf den Arbeitsmarkt in den neuen Bundesländern. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass das Netzwerk an Regulierungen, das wir in fünf Jahrzehnten geknüpft haben, die jungen und kapitalschwachen Unternehmen in den neuen Bundesländern vielfach erdrückt. Wenn wir in den 50er- und 60er-Jahren in den alten Bundesländern das heutige Regelungswerk schon gehabt hätten, wären wir auch nicht auf die Beine gekommen. Es fehlt auch in den neuen Bundesländern nicht an wagnisbereiten Menschen, die Unternehmen gründen und sich behaupten wollen. Die Zahl der Unternehmensneugründungen ist in den neuen Bundesländern seit Jahren praktisch konstant. Leider nimmt aber die Zahl der Unternehmen seit Jahren nicht mehr zu, da viel zu viele Betriebe nach wenigen Jahren aufgeben müssen, weil sie mit der Dichte an Regelungen und Vorschriften einfach nicht fertig werden können. Es reicht nicht, wenn man - wie diese Bundesregierung - viel von der Neuen Mitte redet, in Sonntagsreden auf die Bedeutung des Mittelstandes hinweist, man aber nicht weiß, welche Politik gemacht werden muss, um die in unserem Volk millionenfach schlummernden Kräfte freizusetzen und so die Zukunft des Wohlstandes zu sichern. Weil diese Regierung das nicht weiß und wohl auch nicht lernen wird, wird sie nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr verlieren. Schönen Dank. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem Kollegen Oswald Metzger.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man stellt hier im Gremium immer wieder fest, dass das Niveau der Debatten in einem direkten Zusammenhang mit bevorstehenden Wahlen steht. ({0}) Hierin fühlte ich mich heute wieder bestätigt, als ich die rheinland-pfälzische Einfalt Brüderle gehört habe, dessen einfache Logik in etwa so lautete: SPD, nimm die F.D.P. als Koalitionspartner, dann sinken die Arbeitslosenzahlen, dann sinkt die Staatsverschuldung, dann haben wir keine Probleme mehr! Gerade Sie, Kollege Brüderle, müssen sich sagen lassen: Die F.D.P. hat als Regierungspartei 29 Jahre lang die wirtschaftspolitische Entwicklung auf Bundesebene mitbestimmt. ({1}) Sie, Kollege Brüderle, sind zum Beispiel für einen Anstieg der Lohnnebenkosten in dieser Zeit um über 14 Prozent, für eine Verzehnfachung der Staatsschulden auf Bundesebene, für einen Anstieg der Steuerquote sowie für die Mitnahmeeffekte der heimlichen Steuererhöhungen, von denen der Kollege Rauen gesprochen hat, verantwortlich. Dies sind die Fakten. ({2}) Sich hier hinzustellen, sich aufzublasen und den Eindruck zu erwecken, als wären die Liberalen sozusagen die Gralshüter der mittelstandsfreundlichen Politik, der Arbeitnehmer, der Beschäftigung, ist deshalb grotesk. ({3}) Kollege Merz, wenn Sie die ernsthaften Auguren hören und sich auch die Tagesberichte aus dem Umfeld der Institute, der volkswirtschaftlichen Abteilungen der Sparkassenorganisationen zu den wirtschaftspolitischen Fakten ansehen, müssen Sie feststellen, dass alle sagen: Die Wachstumsdynamik hat sich gegenüber dem letzten Jahr verlangsamt - keine Frage -, aber das weltwirtschaftliche Umfeld ist ein Umfeld, für das weder Sie in der Vergangenheit etwas konnten noch wir jetzt etwas können. ({4}) Jetzt haben wir in Deutschland folgende Situation: Weil die deutsche Regierung der Volkswirtschaft, den Unternehmen wie den Arbeitnehmern, durch die Steuerreform 1 Prozent Entlastung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, gibt, hat die deutsche Volkswirtschaft überhaupt nur die Chance, mit einem relativ robusten Wachstum dazu beizutragen, dass sich der Euro-Raum insgesamt von der Entwicklung abkoppelt, die wir derzeit in den USA beobachten können. ({5}) Das ist keine Frage. Deshalb muss man nicht schwarz malen, muss auch nicht in regierungsamtlichen Optimismus verfallen. Unser Land befindet sich in einer robusten Verfassung und das lässt sich belegen. ({6}) Ein weiterer Gesichtspunkt, den Sie von der Opposition alle unterschätzen, ist der: Die Bürgerinnen und Bürger in unserer Gesellschaft wissen, dass ein Staat, der in die Verschuldung marschiert - wie wir es über Jahrzehnte gemacht haben, egal, wer regiert hat -, seinen Bürgerinnen und Bürgern sowie der Wirtschaft ständig mehr Steuern abnehmen muss, um allein die Zinsen bedienen zu können. Als wir 1998 antraten und die von Union und F.D.P. hinterlassene Erbmasse übernahmen, betrug der Anteil der Zinsausgaben an den Gesamtausgaben des Bundeshaushaltes 18 Prozent. Die Steuerquote, die besagt, wie viel die Bürgerinnen und Bürger für Zinsausgaben bezahlen müssen, lag bei fast 25 Prozent. Deshalb ist für eine solide Politik genau die Linie Voraussetzung, die der Finanzminister vertritt. Die Koalitionsfraktionen wollen die Verschuldung senken. Diesen Prozess setzen wir trotz aller Mühen fort, um den Menschen langfristig mehr Geld in der Tasche lassen zu können. Glauben Sie, die seit dem 1. Januar dieses Jahres geltende Steuerreform, die Sie so gering schätzen, wäre ohne die Konsolidierung möglich gewesen? - Natürlich nicht. Kollege Rauen, was mich gerade bei Ihnen als Unternehmer ärgert: Wenn Sie einmal die Mittelstandsvereinigung der CDU/CSU außen vor lassen, dann müssen Sie doch wissen, dass die Unternehmer bei fast allen Veranstaltungen quer durch die Republik und auch die Industrie- und Handelskammern diese Steuerreform loben. Viele Mittelständler werden am 10. März, dem großen Steuertermin, merken, dass sie als Personengesellschaft durch die Steuerreform dieser Koalition faktisch keine Gewerbeertragsteuer mehr bezahlen müssen. Daher kommt ein erheblicher Teil der Entlastungswirkung der Steuerreform dem Mittelstand zugute. So sehen die Fakten aus. An die Opposition und besonders an Friedrich Merz gerichtet: Warum haben Sie offensichtlich vergessen, dass diese Koalition eine Rentenreform verabschiedet hat, die bei der Ausgabenstrukturbegrenzung im Kern in die Richtung geht, die Sie früher selber gefordert haben? Warum Sie jetzt gegen diese Reform sind, versteht doch kein Mensch. Dass unsere Koalition - das ist im Bundesrat eine strittige Position - den Einstieg in die Kapitaldeckung bei der Rente schafft, ist ein Beitrag dazu, den jahrzehntelangen Reformstau Ihrer Regierungszeit aufzulösen. Das sind Projekte, die die Rahmenbedingungen für volkswirtschaftliche Dynamik in Deutschland verbessern. ({7}) Sie können uns natürlich die Überregulierung des Arbeitsmarktes vorwerfen. Bei dieser Debatte haben Sie mich sofort auf Ihrer Seite. Aber was haben Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit getan, in Zeiten, in denen die Arbeitslosigkeit nominal deutlich höher war als in unserer Regierungszeit? - Sie haben von Mittelstandspolitik geredet und das Gegenteil getan. Wir bemühen uns, die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu stärken, beispielsweise beim Mittelstand und beim Handwerk, die in der Tat mit ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern die Leistungsträger unserer Volkswirtschaft sind. ({8}) Ich will zum Thema Betriebsverfassungsgesetz die Debatte ein wenig versachlichen. Wenn Umfragen sagen, dass in 86 Prozent aller Unternehmen die Arbeit der Betriebsräte eine volkswirtschaftlich positive Konsequenz hat, dann kommt doch kein Arbeitgeber an dieser Tatsache vorbei. Dass deshalb die Mitbestimmung in Deutschland darüber hinaus zur sozialen Stabilität in der Gesellschaft beiträgt, versteht sich von selbst. Soziale Sicherheit in einer Gesellschaft ist ein volkswirtschaftliches Kriterium für wirtschaftliche Prosperität. Menschen, die verunsichert sind und nichts mit entscheiden dürfen, sind weniger produktiv. Das weiß man. Wenn man außerdem den Tarifvorrang infrage stellte - dies ist die Forderung der F.D.P. -, dann bedeutete diese Diskussion im Extremfall, die Lohnfindung nur auf die Ebene des Betriebs zu verlagern. In einer ausdifferenzierten Volkswirtschaft wäre es fatal, die Lohnfindung allein auf die Einzelbetriebe zu verlagern, weil es durch ständige Streiks und Arbeitskämpfe zu einer Stilllegung unserer Volkswirtschaft kommen würde. Deshalb müssen wir einen Mittelweg wählen. Das haben wir getan. Unsere Fraktion hat den Wirtschaftsminister unterstützt, der mit dem Arbeitsminister einen Kompromiss gesucht hat, bevor die Kabinettsentscheidung über die Bühne ging. Ich finde, diesen Kompromiss kann man im Gesetzgebungsverfahren auch unter Berücksichtigung des Verhältniswahlrechtes in der Öffentlichkeit und auch bei der Unternehmerschaft durchaus vertreten. Man darf nicht schwarz-weiß malen, sondern muss ehrlich sagen: Die Volkswirtschaft lebt von verschiedenen Stellgrößen. Wir bemühen uns, diese verschiedenen Stellgrößen in ein Verhältnis zu bringen, das zu mehr Wachstum und Beschäftigung in unserer Volkswirtschaft führt. Das geht nur mit einer soliden Finanzpolitik, einer Politik, die langfristig Unternehmen und Arbeitnehmern weniger Steuern aufbürdet, und mit einer Reform der sozialen Sicherungssysteme, die die Lohnnebenkosten senkt. Das ist die einfache ordnungspolitische Wahrheit. Sich an ihr zu orientieren ist im politischen Prozess mühsam. Daher müssen sich alle auf ihrer Ebene in diesem Haus darum kümmern. Wir arbeiten daran. Vielen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das war eine Rede nach § 33 der Geschäftsordnung. Das möchte ich hervorheben. Ich gebe nun das Wort der Kollegin Dr. Barbara Höll für die Fraktion der PDS.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren über den Jahreswirtschaftsbericht, das grundlegende politische Dokument der Wirtschaftspolitik der nächsten Jahre. Herr Eichel hat ihn vorgestellt. Herr Eichel wird oftmals als der höchste Kassenwart der Republik bezeichnet. Ich denke, er ist sicher ein guter Kassenwart. Allerdings wäre ich als Politikerin über ein solches Lob nicht besonders erfreut; denn es bedeutet gleichermaßen, dass er sich, wie die Bundesregierung, ein Stück weit von der Wirtschaftspolitik verabschiedet hat. Dieser Jahreswirtschaftsbericht stellt nicht mehr die politische Frage, wie wollen wir leben - wie es Erhard Eppler ausgedrückt hat -, sondern es geht nur noch darum: Wie haben wir zu leben, damit wir wettbewerbsfähig sind? ({0}) Was es noch zwischen dem Markt und dem Homo oeconomicus gibt, wird unterschlagen und als hinderlich empfunden. Genau das ist das Problem Ihrer Wirtschaftspolitik. Sie versprechen letztendlich mit Blick auf die nähere und weitere Zukunft auf der Basis der wissensorientierten Gesellschaft - die Sie nur noch im Sinne von Informations-, Bio- und Gentechnologie verstehen -, dass dann alles gut wird. Alle Probleme werden gelöst sein. Mit diesem Versprechen sind Sie bereit, die sozialen Ungerechtigkeiten in diesem Lande und weltweit in der Gegenwart und damit auch in der Zukunft zu akzeptieren. Sie akzeptieren, wie der britische Historiker Gray sagt, die tägliche Katastrophe auf diesem Erdball. Sie haben das eindeutig im Jahreswirtschaftsbericht geschrieben: Wenn Menschen trotz eigener Anstrengungen den Anforderungen der Wissensgesellschaft nicht mehr gewachsen sind, dann ist es notwendig, eine zielgerichtete soziale Unterstützung zu leisten. Es wird nicht mehr die Frage gestellt: Wozu brauchen wir das Wissen, wozu brauchen wir die Wirtschaft? Heute, am Internationalen Frauentag, sehen wir das Problem klar: Wir haben im vergangenen Jahr eine Unternehmensteuerreform für dieses Land verabschiedet, welche auf kolossalen Risiken basiert, die sich jetzt bezüglich der Selbstfinanzierungseffekte zeigen. Das Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr nicht 2,75 Prozent betragen und sich auch nicht in dem Korridor, den Herr Eichel nannte, bewegen, sondern es wird, wie das Kieler Ifo-Institut heute verkündete, höchstens 2,1 Prozent betragen. Das heißt, die ohnehin fragwürdigen Selbstfinanzierungseffekte können nicht mehr eintreten. Es sind Fehlkonstruktionen in dieser Reform enthalten. Ein Beispiel dafür ist, dass die Steuerhinterziehung der Organschaft weiterhin legal möglich sein wird, indem man Veräußerungsgewinne steuermindernd einstellen wird. Diese Steuerreform haben Sie mit Ihrer Mehrheit mit Blick auf wahnsinnige Risiken verabschiedet. Es musste aber eine Steuerreform zur Entlastung der großen Konzerne durchgezogen werden, um diese globalisierungsfähig zu machen. Ich frage Sie heute, am Internationalen Frauentag: Wo ist Ihr Ansatz für Familien- und Kinderpolitik? ({1}) Die Kinderbetreuung diskutieren Sie nur vor dem Hintergrund der Kassenlage - sie darf höchstens 7 Milliarden DM kosten - und nicht aus der Zielstellung heraus, dass es notwendig ist, den Kindern in unserer Gesellschaft eine wirklich gesicherte Zukunft zu bieten und ihnen Rechte einzuräumen. Das gilt auch für das Recht auf eine kostenfreie Kinderbetreuung. Da können Sie sich ein Beispiel an Frankreich nehmen. In Frankreich hat jedes Kind ab drei Jahre das Recht auf eine kostenfreie Betreuung und diese wird auch realisiert. Wir sind hier ein absolutes Entwicklungsland. Sie akzeptieren mit Ihrer Wirtschaftspolitik die sozialen Ungerechtigkeiten und die Polarisierungen in dieser Gesellschaft. Letztendlich geht der Streit bei Ihnen nur darum, wer am schnellsten und konsequentesten auf den neoliberalen Wirtschaftskurs eingeschwenkt ist. Das ist keine Politik, die mit Demokratischen Sozialistinnen und Sozialisten zu machen ist. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nunmehr der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Dr. Werner Müller.

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich, nachdem schon manches Grundsätzliche gesagt wurde, mit einem Zweig unserer Wirtschaft, an den weniger gedacht wird, anfangen. Nicht zuletzt, weil gerade sehr erfolgreich in Berlin die Internationale Tourismus-Börse stattgefunden hat, nenne ich den Tourismus, einen Wirtschaftszweig, der in diesem Lande 280 Milliarden DM umsetzt und in dem annähernd 3 Millionen Menschen beschäftigt sind. Er ist damit ein wirklich großer Wirtschaftszweig. Im letzten Jahr hatte er erfreuliche Zuwachsraten: Ausländer haben 10 Prozent und Inländer 6 Prozent mehr Übernachtungen in Deutschland gebucht. Der Generalsekretär der Welttourismusorganisation, Herr Frangialli, hat am Montag in der „Welt“ dazu Folgendes gesagt: „Deutschland hat als Reiseziel eine hervorragende Leistung hingelegt.“ ({0}) Ganz anders, Herr Merz, scheint das ja Ihre Fraktion zu sehen. ({1}) Sie haben für den Tourismusstandort Deutschland SOS ausgerufen und haben sogar eine Postkartenaktion initiiert. Meine Postkarte ist schon etwas zerknittert, weil sie bereits im Papierkorb war. ({2}) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Wenn Sie angesichts der Leistungen des deutschen Tourismus von einem SOS für den Tourismusstandort Deutschland sprechen, sage ich Ihnen ganz klar: Das ist eine Beleidigung für die Leistungen der Menschen. ({3}) SOS für den Tourismusstandort Deutschland müssen Sie erst dann ausrufen, wenn Sie als Fraktion anfangen, Ferienwohnungen zu vermieten. ({4}) Ich habe mit diesem Beispiel angefangen, weil wir hier das Vorbild eines schnell und dynamisch wachsenden Wirtschaftszweiges haben. Diese Tatsache scheint bei Ihrer Beobachtung völlig unterzugehen. Dieser Realitätsverlust in der Betrachtung der Dinge gibt mir doch zu denken, nicht zuletzt deshalb, weil er mit einer statistischen Betrachtung gepaart ist, die unter Ihrer Würde ist, Herr Merz. Wenn Sie von einem Vergleich der Arbeitslosenzahlen zwischen früher und heute reden, können Sie nicht irgendwelche Monatswerte nehmen, sondern müssen den Februar 1998 mit dem Februar 2001 vergleichen. Wir hatten im Februar 1998 4,819 Millionen Arbeitslose und im Februar 2001 4,1 Millionen Arbeitslose. Das sind 700 000 weniger. Das ist ein korrekter Vergleich. ({5}) Wenn wir über einen Realitätsverlust oder über eine bewusst falsche Darstellung der Fakten sprechen, frage ich mich wirklich: Was nützt es eigentlich, wenn wir mit Unterstützung von viel Sachverstand, insbesondere aus der deutschen Wirtschaft, sagen, wir haben in diesem Jahr nach bestem Wissen und Gewissen mit 2,7 bis 2,8 Prozent Wirtschaftswachstum zu rechnen? Warum müssen Sie in Ihrer Rede nur negative Möglichkeiten erwähnen und diese Wachstumspotenziale kaputtreden? ({6}) Ich habe fast den Eindruck, dass es Sie stört - offenbar sind Sie so egoistisch -, wenn unser Wachstum doppelt so hoch ist wie das während Ihrer Regierungsperiode. ({7}) - Das stimmt. - Sie sollten doch froh sein, dass wir in den ersten vier Jahren unserer Regierung beim Zuwachs des Bruttoinlandsproduktes einen absoluten Zuwachs in der Größenordnung hinbekommen wie Sie zuletzt innerhalb von acht Jahren. ({8}) Aus meiner Sicht haben Sie als Opposition die Aufgabe, die Fakten so zu nehmen, wie sie sind, und nicht laufend schlecht zu reden. ({9}) Darauf aufbauend sollten Sie dem Bürger dann bessere Konzepte vorstellen. Das ist das, was die Bürger erwarten. Wenn Sie offensichtlich keine besseren Konzepte vorlegen können, können Sie als Konsequenz daraus nicht alles kaputtreden. Das ist unverantwortlich! ({10}) - Herr Schauerte, das gilt auch für Sie und ganz besonders für Herrn Brüderle. - Lassen Sie in Ihren Reden doch die Mischung von „scheintot“ und „scheinheilig“ ({11}) und werden Sie Ihrer wirtschaftspolitischen Verantwortung gerecht! Reden und handeln Sie für die Chancen der deutschen Unternehmen und nicht gegen die Chancen der deutschen Unternehmen! ({12}) Ich möchte Ihnen das am Beispiel der Deutschen Post verdeutlichen. ({13}) Unsere traditionelle gelbe Post hat sich enorm gemausert und hat alle Voraussetzungen, um auf dem Weltmarkt chancenreich zu sein. Der Weltlogistikmarkt ist wirklich der Zukunftsmarkt. Ich möchte, dass die Deutsche Post als Global Player im dortigen Konzert mitspielt. ({14}) Mitspielen wollen auch die Staatsmonopolisten beispielsweise aus Frankreich oder England. Ich sehe überhaupt nicht ein, dass unsere Post angesichts der globalen Herausforderung, die auf sie zukommt, nicht als Global Player auf diesem Weltmarkt mitspielen soll, weil Sie sie national zerschlagen wollen. ({15}) - Natürlich reden Sie davon. - Soll die Deutsche Post denn auf dem deutschen Markt der Konkurrenz ausländischer Staatsmonopolisten ausgesetzt sein? Das wäre doch rundum ein unfairer Wettbewerb, wozu ich Ihnen einfach sage: mit mir nicht! ({16}) Mich beeindruckt es null, wenn sich irgendwelche Leute aus Ihrer Fraktion irgendwelche Gutachten von den Konkurrenten der Deutschen Post bezahlen lassen. Mich beeindruckt schon wesentlich mehr, dass Sie diese beBundesminister Dr. Werner Müller stellten und bezahlten Gutachten zur Basis Ihrer Politik machen. ({17}) - Ich bin vorsichtig. Ich weiß, wovon ich rede. ({18}) - Fragen Sie doch einmal Ihre Leute, von denen in der letzten Zeit in der Presse zu lesen gewesen ist. Dann wissen Sie das. Ich lese doch auch Zeitung. ({19}) - Beruhigen Sie sich doch! Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Uldall?

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Ja.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, angesichts des schweren Vorwurfs, den Sie eben erhoben haben, nämlich dass sich unsere Fraktion ein Gutachten, das zur Entscheidungsgrundlage unserer Politik geworden sein soll, von einem Unternehmen habe bezahlen lassen, bitte ich Sie nachdrücklich, jetzt klar Ross und Reiter zu nennen, wer ein solches Gutachten hat anfertigen lassen und wo ein solches Gutachten bei uns zur Entscheidungsgrundlage geworden ist. ({0})

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Ich habe ausdrücklich nicht gesagt, dass sich Ihre Fraktion irgendein Gutachten von den Konkurrenten der Deutschen Post hat aufschwätzen lassen. Ich bitte, sich auf das zu beziehen, was ich gesagt habe. ({0}) Sie wissen, dass ein Mitglied Ihrer Fraktion ein Gutachten von Konkurrenten der Deutschen Post hat erstellen lassen. Sowohl diese Postkonkurrenten als auch das betreffende Mitglied Ihrer Fraktion sind im Zusammenhang mit diesem Gutachten breitflächig in den deutschen Zeitungen vertreten gewesen. Das hat sich sogar bis nach Hessen herumgesprochen. Ich habe gestern einen Brief des hessischen Wirtschaftsministers ({1}) bekommen, in dem mir mit Bezug auf das von einem Mitglied Ihrer Fraktion in Auftrag gegebene Gutachten erklärt wird, dass aus Sicht der CDU dieses und jenes auf dem Postmarkt unbedingt zu geschehen habe. Alles, was Sie jetzt sagen, deckt sich völlig mit dem, was in dem Gutachten verbreitet wurde. ({2}) - Herr Uldall, ich freue mich ja und bin regelrecht beruhigt, wenn Sie diese Gutachten zur Verlängerung des Postmonopoles - darauf wollte ich gleich noch zu sprechen kommen - als nicht existent betrachten. Dafür bin ich Ihnen dankbar. ({3}) - Ich bin gerne bereit, Ihnen meine Presseausschnitte zum Lesen zu geben, Herr Uldall. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Minister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Uldall?

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Aber gern.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, können Sie einmal erklären, wie meine Fraktion ein Gutachten zur Entscheidungsgrundlage machen kann, wenn weder mir als zuständigem Sprecher für Wirtschaftspolitik - dazu gehört auch die Postpolitik - noch offensichtlich meinen hier versammelten Kollegen dieses Gutachten bekannt ist? ({0}) Wie kann ein solches Gutachten überhaupt Grundlage unserer Entscheidungsfindung sein? Können Sie das bitte erläutern? ({1})

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Nein, das kann ich Ihnen nicht erläutern. ({0}) Ich bin sofort bereit, mich zu korrigieren, weil ich erst eben erfahre, dass dieses Gutachten, das mir von allen möglichen Leuten - wie gesagt, auch von Mitgliedern Ihrer Partei - mit der Bitte ins Haus geschickt wird, ja nichts an den Gesetzen zu ändern und das Postmonopol enden zu lassen, Ihnen völlig unbekannt ist. ({1}) Das begrüße ich. Denn das Gutachten ist nicht richtig. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Es gibt, Herr Minister, den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Ja. Ich habe Zeit.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, sind Sie denn bereit, uns dieses Gutachten zur Verfügung zu stellen, damit wir es überhaupt kennen? ({0})

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Herr Uldall, das mache ich sehr gerne, wenn Sie mir im Gegenzug versprechen, es hernach wegzuwerfen. ({0}) Zum Ernst der Sache zurück: Ich werde in allernächster Zeit das Bundeskabinett um Zustimmung zu einer Gesetzesänderung bitten, die nur aus einer einzigen Zeile besteht. Wir werden das Postmonopol von 2002 auf 2007 verlängern. Glauben Sie mir: Wir haben das rundum geprüft. Das ist in Ordnung. ({1}) Vor diesem Hintergrund bitte ich schon jetzt um Ihre Zustimmung. Das geht auch in Richtung Bundesrat. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Bundesminister Müller, der Kollege Brüderle möchte eine Frage an Sie richten.

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Das lässt sich nicht vermeiden. ({0})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bei Ihrer Politik ja, Herr Müller. Herr Müller, sind Sie erstens bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass Ihre Aussage nicht zutrifft, dass der CDUWirtschaftsminister von Hessen dieses oder jenes mitgeteilt habe? Der Wirtschaftsminister von Hessen ist Mitglied der F.D.P. ({0}) Sie sollten die politische Landschaft ein bisschen kennen; das ist manchmal hilfreich, wenn man sich äußert. Zweitens. Halten Sie es für vertretbar, dass der Bund hier Schiedsrichter und Mitspieler gleichzeitig ist? Sie sind Eigentümer einer erdrückenden Mehrheit an der Deutschen Post AG. Sie begünstigen sich selbst, indem Sie das Briefmonopol verlängern, damit Herr Eichel mehr Privatisierungserlöse kriegt. Ist das Ihre Ordnungspolitik?

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Ich will Ihnen zum ersten Punkt sagen: Das ist jetzt in der Tat für mich neu. ({0}) Aber das liegt auch daran, dass ich diesen Kollegen, der seit etwa zwei Jahren im Amt ist, bisher vergeblich gebeten habe, vielleicht einmal, wie alle anderen es machen, zum Bundeswirtschaftsminister zu kommen. Dann hätte ich ihn kennen gelernt. ({1}) Nun zu dem anderen Punkt. Ich habe deutlich gesagt: Ich möchte nicht, dass die Deutsche Post unter die Mühlsteine unfairer Konkurrenz kommt, weder auf dem deutschen Markt noch insbesondere auf dem großen Zukunftsfeld der Weltlogistik, wo sich die Deutsche Post aufgestellt hat, ein Global Player zu werden. Das findet die volle Unterstützung der Politik der Bundesregierung, die volle Unterstützung des Eigners Bundesregierung, übrigens auch die volle Unterstützung des Aufsichtsrates der Post. Das Ganze geschieht vor dem Hintergrund, dass wir die Beschäftigung bei der Post weiter stabilisieren und ausbauen wollen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie, Herr Bundesminister, eine weitere Zwischenfrage? Bitte, Herr Brüderle.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Müller, Sie haben zwar etwas gesagt, aber nicht meine Frage beantwortet. Meine Frage war, zugespitzt, ob Sie nicht eine Selbstbegünstigung darin sehen, dass der Eigentümer Bund Regelungen zum Briefmonopol trifft, die ihn selbst besser stellen und damit höhere Privatisierungserlöse in die Kasse von Herrn Eichel bringen, als wenn Wettbewerb bestehen würde. ({0})

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005310

Folgt daraus im Umkehrschluss, dass wir die in unserem Eigentum stehende Post erst kaputt machen müssen, damit wir sie nicht mehr verkaufen können? ({0}) Also, Herr Brüderle, Ihre Parteifarbe ist zwar gelb, aber für die Post stellen Sie eher eine gelbe Gefahr dar. ({1}) Lassen Sie mich wieder auf das eigentliche Thema zurückkommen: Es wird in unserem Land - das ist meine Beobachtung - dermaßen viel an den Dingen vorbeigeredet und über Scheinprobleme geredet, dass dadurch Probleme herbeigeredet werden, die es nicht gibt. Das Betriebsverfassungsgesetz soll ja nun, wenn man einigen Wirtschaftsverbänden Glauben schenkt, zum Untergang Deutschlands führen. ({2}) Dabei ist § 1 schon am 4. Februar 1920 im Reichstag in der Form beschlossen worden, wie er auch jetzt, nach 80 Jahren, noch unverändert im Gesetz steht. Dort heißt es: Betriebe haben einen Betriebsrat. Das ist die simple Aussage seit 1920. Für Betriebe mit weniger als 100 Beschäftigten ändert die Reform von Herrn Riester ganz und gar nichts. ({3}) Jetzt muss man wissen, dass beispielsweise nur 0,9 Prozent aller Handwerksbetriebe mehr als 100 Beschäftigte haben. Diese 0,9 Prozent aber werden als 100 Prozent gesetzt. Hiervon ausgehend wird dann Politik gemacht. Sie gehen dem auf den Leim, so als ob Sie wieder ein Gutachten hätten; das aber nur am Rande. ({4}) Die Steuerreform falle für den Mittelstand ungünstiger aus als für Kapitalgesellschaften, behaupten Sie. Fragen Sie doch einmal irgendjemanden im Mittelstand, ob er sich wie eine Kapitalgesellschaft besteuern lassen will. Bedenken Sie bitte dabei, dass 99 Prozent aller mittelständischen Personengesellschaften weniger als 500 000 DM im Jahr versteuern. Erst ab diesem Wert wird eine Kapitalgesellschaft überhaupt steuerlich marginal besser gestellt. Wer also so etwas behauptet, straft steuerlich 99 Prozent aller mittelständischen Personenunternehmen. ({5}) Deswegen - das muss ich Ihnen ehrlich sagen - bekomme ich manches, was Sie so sagen, nicht mehr richtig mit. ({6}) Deswegen sprach ich vom Realitätsverlust Joachim Poß [SPD]: Ja, Schotten dicht!) und auch von mangelnden Konzepten. ({7}) Mittelstandspolitik heißt - das muss man deutlich sagen -, nicht für 0,9 Prozent der Betriebe etwas zu machen. Mittelstandspolitik heißt, für alle Betriebe des Mittelstandes eine neue Technologieoffensive zu starten, allen Betrieben des Mittelstandes deutlich zu machen, dass sie sich auch mehr um den Export kümmern müssen. Mittelstandspolitik für alle heißt, das Internet dem Mittelstand nahe und den Mittelstand ins Internet zu bringen. ({8}) All diese Dinge werden in unserer Politik klar berücksichtigt. Wir erhalten ja auch vom Mittelstand große Zustimmung, beispielsweise auch bezüglich der Frage der Finanzierung des Mittelstandes. Die Finanzierung des Mittelstandes war eines der großen Probleme, nicht zuletzt aufgrund der ersten Entwürfe des Basler Akkords mit Vorschriften zur Eigenkapitalunterlegung usw. ({9}) Wir haben die damit zusammenhängende Problematik gelöst. Ich könnte Ihnen bezüglich dieser Frage beliebig viele anerkennende Worte der Mittelstandsverbände anführen. Zum Schluss lassen Sie mich sagen: Alles in allem rege ich mich nicht auf, weil ich weiß, dass unsere Politik vor Ort ankommt. ({10}) Sie können hier ruhig alles madig machen. Wichtig ist, dass wir vor Ort ankommen, dass dort Wachstum verzeichnet wird; denn gewählt wird zum Schluss vor Ort. Vielen Dank. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Bernd Protzner für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Dr. Bernd Protzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001756, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann nur fragen: „Alles Müller oder was?“ Müller hat bei Milch und Milchprodukten immerhin einen guten Namen, was ich hier vom Wirtschaftsminister nach seinem Auftritt nicht sagen kann. Es ist erstaunlich, an welcher Position er sprechen darf: Sieben Rangstufen nach dem Bundesfinanzminister darf er auftreten. Dies entspricht dem gehörigen Abstand zwischen Ministerialratsebene und der Leitung des Hauses. ({0}) Er darf dann das große Gebiet des Tourismus bearbeiten, wobei er Umsatz mit Erträgen verwechselt. Herr Müller, Sie sind nicht mehr bei einem Energieversorgungsunternehmen mit Monopolstellung. Dort konnte man das einfach gleichsetzen. ({1}) - Das hat nichts mit Polemik zu tun. Wenn sich der Minister auf eine so simple Argumentation einlässt, dann ist das sein Problem. Ich hätte eigentlich erwartet, dass er etwas mehr sagt. Meiner Ansicht nach ist er nicht nur Minister für Messeeröffnungen - gestern hat er die Handwerksmesse eröffnet - und Rücktrittsdrohminister; das ist er in regelmäßigen Abständen, etwa jedes Vierteljahr, wenn es darum geht, die Wirtschaft zu beruhigen. Er sollte sein Amt endlich als das des Wirtschaftsministers begreifen. Ich hätte mir gewünscht, dass er etwas Sachverstand seines Hauses in den Jahreswirtschaftsbericht einbringt und den Jahreswirtschaftsbericht nicht dem Bundeseinnahmeminister Eichel überlässt. ({2}) Herr Minister Eichel, dass Sie bestimmte wirtschaftliche Probleme gar nicht ansprechen wollen, ist mir schon klar. Auf dem Arbeitsmarkt herrscht Stillstand. ({3}) Weshalb lehnen Sie, meine Damen und Herren von der SPD und von den Grünen, unseren Antrag, die Statistik sauber darzustellen, ab, wenn die Lage auf dem Arbeitsmarkt so gut ist? ({4}) Heute liegt die Vorlage des Ausschusses vor, in der die Ablehnung empfohlen wird. Ihre Kollegen im Wirtschaftsausschuss haben es abgelehnt, diese Statistik endlich zu bereinigen und die tatsächliche Entwicklung klarzustellen. Wir können uns heute auf die Aussagen von Fachleuten verlassen: Die Anzahl der Arbeitsstunden in der Bundesrepublik Deutschland hat die letzten Jahre nicht zugenommen; sie stagniert. Die Arbeit mag auf ein paar Personen mehr verteilt worden sein; aber die Menschen brauchen mehr Arbeitsstunden, um mehr zu verdienen und um mehr zu konsumieren. Nur wenn das geschieht, bringen wir die Binnenkonjunktur in Gang. ({5}) Ihr Bundeseinnahmeminister tut alles, um die Kräfte in Deutschland zu schwächen. Er stellt sich hin und beklagt in Hintergrundgesprächen mit Zeitungsjournalisten die Einnahmesituation. Unter diesem Minister ist die Steuerlast um 1 Prozent des Bruttosozialproduktes - das sind immerhin 40 Milliarden DM - gewachsen. Trotzdem erklärt er auch hier wieder, dass zum Beispiel das für die Bundeswehr vorgesehene Geld nicht ausreicht. Dazu muss ich sagen: Er scheint mit seinen Ausgaben offensichtlich nicht zurechtzukommen. Er sollte einmal eine ordentliche Kassenführung betreiben und die richtigen Schwerpunkte setzen. ({6}) Warum verhindern Sie mit Ihrer politischen Mehrheit beispielsweise, dass bei der Bundesanstalt für Arbeit eine moderne Eingliederungsstatistik - dafür wurde letztes Jahr der Nobelpreis verliehen - zur Überprüfung der Ausgaben für eine aktive Arbeitsmarktpolitik in Höhe von 48 Milliarden DM angewandt wird? Wenn das geschähe, käme heraus, dass diese staatlichen Maßnahmen ineffektiv sind und dass Sie Arbeitslosigkeit finanzieren. Es wäre besser, die 48 Milliarden DM für Investitionen heranzuziehen und damit Arbeit zu finanzieren. Sie gehen an diesem Punkt einen falschen Weg. ({7}) Einen falschen Weg gehen Sie auch im Hinblick auf die Regulierung. Der Bundeseinnahmeminister Eichel hat vorhin gesagt, er lehne deutsche Regulierungen ab und er halte europäische Regulierungen für besser. Ich halte beide Regulierungen für falsch und für schlecht; das gilt insbesondere für die vorgesehene Verlängerung der Regulierung bei der Post. ({8}) Herr Minister Müller, Sie haben sich der Einnahmepolitik des Bundeseinnahmeministers untergeordnet. Er wird, wenn Sie das Monopol für die nächsten Jahre verlängern, für seine Postaktien nämlich mehr bekommen, weil es dann Monopolgewinne gibt, weswegen die Erträge höher sind. Nur, Sie verstoßen gegen die Neutralitätspflicht des Amtes und gegen Ihre Pflichten als Wirtschaftsminister. Sie müssen sich immer überlegen, in welcher Tradition Sie stehen: Dem Wirtschaftsministerium stand einmal Ludwig Erhard und auch ein Müller, allerdings ein Müller-Armack und nicht ein Werner Müller, vor. ({9}) Sie betreiben eine Politik für Funktionäre. Schauen Sie sich doch einmal an, wie viele Bezirksleiter von Gewerkschaften in Ihrer Fraktion sind! ({10}) Es ist doch ganz klar, dass bei der Reform der Betriebsverfassung nur ein Funktionärsgesetz herauskommt, aber leider nichts, was die Wirtschaft voranbringt. Hier unterscheiden sich eben die Wege der Union und die Wege von Rot-Grün: ({11}) Wir setzen auf einen aktiven, aber nicht auf einen übermächtigen Staat. Wir wollen in unserem Land Freiraum und Freiheit für den Ideenreichtum unserer Bürger, für die Initiative und den Arbeitswillen der Arbeitnehmer sowie für den Unternehmergeist, die wir dringend brauchen, um die Wirtschaft bei uns voranzubringen. In dem Jahreswirtschaftsbericht findet sich aber nichts davon. Hier wird weiter der Weg in den Steuer- und Abgabenstaat, in den Bürokratiestaat und in den Funktionärsstaat beschrieben. ({12}) Zum Weg in den Steuer- und Abgabenstaat: Ihre so genannte Steuerreform setzt eine Fehlentwicklung in Gang; denn das, was Sie den Bürgern durch die Entlastung bei der Lohn- und Einkommensteuer vorübergehend belassen, das nehmen Sie ihnen bei den indirekten Steuern, insbesondere bei der Ökosteuer, wieder weg. ({13}) Lieber Herr Tauss, eine Erhöhung der Mehrwertsteuer steht an. Das zeigt eindeutig, welche Absichten Sie in der Steuerpolitik verfolgen. Ihr einziges Ziel scheint zu sein, die Menschen in unserem Land um den Ertrag ihrer harten Arbeit zu bringen. ({14}) Zum Weg in den Bürokratiestaat: Der Sachverständigenrat warnt zwar davor. Aber was machen Sie? - Sie tauschen einfach die Sachverständigen aus. Sie haben mit Bert Rürup jemanden gefunden, der als Multifunktionär in Ihrem Sinne argumentiert. Aber in dem bayerischen Vertreter haben Sie sich offensichtlich geirrt. Was die Öffnung des Arbeitsmarktes angeht, argumentiert er nämlich sehr in unserem Sinne und im Sinne des Kollegen Merz, der seine Vorstellungen eingangs der Debatte vorgetragen hat. Echte soziale Marktwirtschaft vertraut auf mündige Arbeitnehmer und nicht auf einen Funktionärsstaat und eine Funktionärsmitbestimmung. Echte soziale Marktwirtschaft vertraut auf Selbstständige und fördert sie, anstatt sie mit Gesetzen wie beispielsweise mit dem Gesetz zur Scheinselbstständigkeit zu bekämpfen. Echte soziale Marktwirtschaft baut auf mittelständische Familienunternehmen, die traditionsgemäß die Innovationen vorantreiben und die die Mehrzahl der Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze in Deutschland stellen. Es sind eben nicht die Großunternehmen mit Tausenden und Zehntausenden von Arbeitnehmern, die bei uns im Land die Beschäftigung garantieren und die Ausbildung sicherstellen, sondern es sind die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die dafür sorgen. Deshalb sollten diese durch eine Steuerreform bevorzugt werden. Es hilft nichts, wenn deutsche Unternehmer Maschinen ins Ausland liefern. Herr Minister Müller, deutsche Unternehmer würden sich freuen, wenn sie durch vernünftige Abschreibungsregelungen in die Lage versetzt werden würden, selbst solche Maschinen anschaffen zu können. ({15}) Allerdings müssten Sie sich dann als Wirtschaftsminister endlich einmal gegen den Finanzminister durchsetzen und Sie müssten im Bundeskabinett endlich einmal eine Mehrheit für Ihre Vorschläge bekommen. Bis jetzt hat sich immer der Bundeseinnahmeminister, Herr Eichel, durchgesetzt. Da Sie bezweifeln, dass der Mittelstand mit der Steuerreform unzufrieden ist, ({16}) muss ich Ihnen sagen: Es ist schlicht und einfach ein Gerücht, dass Herr Eichel in den letzten Tagen sein Ministerium nicht mehr betreten konnte, weil der Briefkasten vor Dankesschreiben der Mittelständler übergequollen ist. ({17}) Im Gegenteil: Wir als Oppositionsabgeordnete haben eine Vielzahl von Schreiben mit Klagen darüber erhalten, wie die Steuerpolitik dieser Regierung den Mittelstand belastet, wie sie ihn mit Bürokratie überhäuft und wie sie ihn mit einer unseligen Funktionärsmitbestimmung an der Arbeit hindert. Selbstständigkeit und Mittelstand haben die soziale Marktwirtschaft bei uns in der Bundesrepublik Deutschland groß gemacht. Wenn es eine Kraft des Südens gibt, die in den südlichen Bundesländern zu höheren Wirtschaftswachstumsraten führt, dann beruht sie auf der hohen Zahl von Selbstständigen und von mittelständischen Unternehmen. Das macht die Kraft des Südens aus. ({18}) Wir freuen uns natürlich, wenn Sie eine Unternehmensteuerreform machen, durch die ein einzelner im Süden angesiedelter Konzern allein in einem Jahr 2,1 Milliarden DM mehr Gewinn ausweisen kann. Aber wir wünschten uns, dass auch die Mittelständler mehr Gewinn ausweisen könnten, mehr investieren könnten und mehr für Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze tun könnten. Dafür müssten aber die Steuerreform und die Neuregelung der Abschreibungstabellen für sie günstiger ausfallen, als es Ihre Regierung plant. Wir freuen uns über die Kraft des Südens. ({19}) Wir wollen sie aber nicht auf den Süden beschränken. Wir hätten es gern, wenn auch im Norden, im Westen und im Osten Selbstständigkeit und Mittelstand mehr Verbreitung finden würden. Allerdings müsste dann im Jahreswirtschaftsbericht eine andere Politik eingeleitet werden, eine mittelstandsfreundliche Politik und eine Abkehr von der allein auf Konzerne und internationale Großunternehmen ausgerichteten Politik, wie Sie sie betreiben. Geben Sie doch endlich der sozialen Marktwirtschaft und dem Mittelstand wieder die Chance, die sie brauchen! Damit würden Sie die Wachstumsdynamik stärken und die Herausforderungen Deutschlands zu Beginn des 21. Jahrhunderts bewältigen können. Wir leben, wie alle sagen, am Beginn einer Dienstleistungsgesellschaft. In dieser Dienstleistungsgesellschaft müsste auch Ihr Bundeseinnahmeminister, Herr Eichel, anerkennen, dass der Staat für die Bürger da ist und nicht die Bürger für den Staat da sind. In der Wirtschaftspolitik könnten Sie damit endlich anfangen. ({20})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Klaus Lennartz.

Klaus Lennartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001319, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es leuchtete einmal ein Stern eines Generalsekretärs. Nun war vom Stern des Südens die Rede. Aber dieser wird wahrscheinlich genauso erlöschen wie der Stern des Generalsekretärs. Die Rede, die Sie hier geboten haben, war nicht gerade ein Aushängeschild für den Süden. Was Sie hier geliefert haben, Herr Kollege, haben die Unternehmerinnen und Unternehmer aus Bayern und Baden-Württemberg nicht verdient. ({0}) Der Jahreswirtschaftsbericht dokumentiert, was die Menschen längst spüren: Der wirtschaftliche Aufschwung wird sich trotz gestiegener Rohölpreise fortsetzen und die Zahl der Arbeitslosen wird weiter abgebaut. Allein im Jahr 2000 stieg die Zahl der Erwerbstätigen bei uns um 580 000, im Jahr 2001 erwarten wir einen Abbau der Zahl der Erwerbslosen um rund 270 000. Das sind die Zahlen, die mit unserer Politik verbunden sind. Wir haben in Deutschland ein neues, ausgesprochen positives Wirtschaftsklima. Wir schaffen neue Arbeitsplätze. Die frostigen Zeiten politischer Erstarrtheit sind vorbei. Wir legen Reformen nicht aufs Eis, wir packen sie an, mit neuen Ideen, Mut und Erfolg. Wir lösen die Probleme, die die Kohl-Regierung und Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, den Menschen in Deutschland hinterlassen haben. Glauben Sie mir: In knapp 200 Monaten haben Sie mehr Probleme als Lösungen hinterlassen. Nachdem ich heute Morgen Ihren Reden gefolgt bin, darf ich Folgendes in Erinnerung rufen. Haben Sie eigentlich die Staatsverschuldung in Höhe von 1 600 Milliarden DM vergessen, die Sie aufgebaut haben? Haben Sie die höchste Arbeitslosigkeit mit 4,6 Millionen Menschen vergessen, die Sie aufgebaut haben? Haben Sie die höchste Steuer- und Abgabenlast vergessen, die Sie aufgebaut haben? Ich komme zurück auf den Kollegen Merz. Ich habe mir notiert, dass er heute Morgen davon sprach, wir hätten im Oktober 1998 bei der Übernahme der Regierung rund 3,9 Millionen Erwerbslose gehabt. Wir müssen aber festhalten, dass wir im gleichen Monat des Jahres 2000 nur circa 3,6 Millionen Erwerbslose hatten. Das heißt, die Zahl der Erwerbslosen ist in diesem Zeitraum um 300 000 verringert worden. Auch so kann man die Statistik verfälschen, wie es hier von Herrn Merz gemacht worden ist. Wir lösen diese Probleme. Aber Fast-Food-Politik im Containerstil, meine Damen und Herren von der F.D.P., ist mit dieser Regierung nicht zu machen. Das Wiedergewinnen der Zukunftsfähigkeit in Deutschland erfordert Verantwortung über den Tag hinaus. Deshalb sind die Reformvorhaben dieser Bundesregierung als langfristige Prozesse angelegt. Unsere Marschrichtung lautet: Zukunftsinvestitionen statt Zinszahlungen. Hans Eichel, unser Finanzminister, hat mit seinem konsequenten Sparkurs Deutschland aus dem festgeschnürten Korsett der Schuldenfalle befreit. ({1}) Den Fehler der Kohl-Regierung, einmalige Privatisierungserlöse zur Finanzierung laufender Ausgaben einzusetzen statt Schulden abzubauen, werden wir nicht machen. Unsere Sparpolitik schafft Gestaltungsspielraum. Die Steuerreform der Regierung erhöht die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und des Wirtschaftsstandortes Deutschland. Meine Damen und Herren, es lohnt sich - insbesondere für ausländische Investoren - wieder, in Deutschland zu investieren. Wie attraktiv der Wirtschaftsstandort Deutschland geworden ist, möchte ich Ihnen an zwei Zahlen verdeutlichen. In der Zeit von 1990 bis zum Jahre 1998 haben ausländische Investoren in Deutschland rund 111,4 Milliarden DM investiert. In der Zeit von 1999 bis zum Jahr 2000 sind nach Abzug der Mannesmann-Übernahme rund 256 Milliarden DM von ausländischen Investoren in Deutschland angelegt worden. Das zeigt, wie unsere Politik Glaubwürdigkeit zurückgebracht hat. ({2}) Das ist die Politik von Hans Eichel und Wirtschaftsminister Müller. Das ist die Wahrheit, das sind belastbare Fakten! ({3}) Durch unsere Steuerpolitik werden die Bürger und die Wirtschaft im Jahr 2005 im Vergleich zu 1998 rund 93 Milliarden DM weniger Steuern zahlen. Allein der Mittelstand wird in diesem Zeitraum, Herr Brüderle, um rund 30 Milliarden DM entlastet. Meine Damen und Herren von der Opposition, auch wenn Sie es so nicht kennen: Das sind keine Steuersenkungen auf Pump, sondern Steuersenkungen, die von uns aus eigener Kraft finanziert werden. Wer wie Sie jahrelang von der Hand in den Mund gelebt hat, kann für den Mittelstand nichts übrig haben. Wir handeln! Durch das Bereitstellen günstiger Finanzierungsmöglichkeiten erhielten kleine und mittelständische Betriebe 42 Milliarden DM aus dem ERP-Sondervermögen sowie aus den Programmen der Deutschen AusDr. Bernd Protzner gleichsbank und der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Allein im Jahr 2000 wurden aus dem ERP-Sondervermögen 8 Milliarden DM an Finanzierungshilfen für Existenzgründer zur Verfügung gestellt. Solche Zahlen konnten Sie in Ihrer Regierungszeit niemals aufweisen. Der Mittelstand erwartet von der Politik zu Recht eine Stärkung seiner Innovationsfähigkeit. Mit der steuerlichen Entlastung des Mittelstandes sind hierfür die finanziellen Freiräume für Forschung und Entwicklung geschaffen worden. Die Bundesregierung unterstützt innovationsbereite Unternehmen mit Kreditfinanzierungen und der Bereitstellung von Beteiligungskapital. 2,3 Milliarden DM wurden im letzten Jahr an Beteiligungskapital mobilisiert. ({4}) - Dass Sie diese Zahlen nicht gerne hören, Herr Repnik, ist mir schon klar. ({5}) Sie müssen den Jahreswirtschaftsbericht einmal lesen, Herr Repnik. Zum Lesen gehört nicht nur das Aneinanderreihen von Buchstaben, sondern auch das Verstehen. Aber Sie wollen es nicht verstehen. ({6}) Meine Damen und Herren, die Regierungskoalition unterstützt den Mittelstand auch in Fragen des E-Commerce. In 24 bundesweit eingerichteten Kompetenzzentren für den elektronischen Handel werden Informationen gegeben sowie Schulungen und Beratungen für Mittelständler durchgeführt. Mit der Umsetzung der E-Commerce- und Signaturrichtlinie Mitte des Jahres sind darüber hinaus die Grundlagen für einen sicheren elektronischen Geschäftsverkehr gelegt. Meine Damen und Herren, unsere Politik hat die Rahmenbedingungen für ein günstiges Wirtschaftsklima geschaffen. Aber die unternehmerische Verantwortung liegt nicht bei der Politik. Sie liegt beim Mittelstand: bei denen, die 70 Prozent der Arbeitsplätze stellen, bei denen, die 80 Prozent aller Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, bei denen, die Ideen in Produkte umsetzen, und bei denen, die ihr privates Vermögen investieren und dabei auch das Risiko eingehen, mit ihrem Kapital wirtschaftlich Schiffbruch zu erleiden. Denen muss der Staat Diener und nicht Herr sein. Eine Kultur der Selbstständigkeit setzt voraus, dass der Zusammenhang von Risikoübernahme und wirtschaftlichem Erfolg gesellschaftspolitisch anerkannt wird. So stolz, wie wir auf die Leistungen und den Fleiß unserer Facharbeiter, Ingenieure und Informatiker sind, so stolz können wir auch auf Unternehmer sein, insbesondere auf Jungunternehmer, da jeder Jungunternehmer drei neue Arbeitsplätze schafft. Anerkennung statt Neid ist hier angebracht, denn Gewinn sollte auch für Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, kein Schimpfwort sein. Gerade mittelständische Unternehmen legen mit ihrem Handeln vor Ort Tag für Tag Zeugnis für konkrete gesellschaftliche Verantwortung ab. Sie hierbei zu unterstützen, ist eine hervorragende Aufgabe unserer Politik. Deshalb gibt es mit uns keine Reformpausen. Stillstand ist Gift für die Wirtschaft. Was müssen wir heute tun, damit Deutschland auch in zehn bis 15 Jahren die zweitgrößte Industrienation ist und der kreative Mittelstand Garant für zukunftssichere Arbeitsplätze bleibt? Wissen ist Qualität. Die Leistungen des Bildungssystems sind wesentliche Grundlage für Erfolge auch und gerade in der Beschäftigungspolitik. Wir erhöhen wie in den letzten zwei Jahren die Ausgaben für Bildung und Forschung. Wir investieren in die Aus-, Fortund Weiterbildung. Wir investieren in die Hochschulen, wir investieren in die Forschung. Wir investieren in den Wissenschaftsstandort Deutschland. Meine Damen und Herren von der Opposition, 1998, im letzten Jahr Ihrer Regierung, haben Sie in diesem Bereich circa 14 Milliarden DM investiert. Wir haben hier im Jahr 2000 über 17 Milliarden DM investiert. Das ist Zukunftsförderung. So viel werden wir auch in den nächsten Jahren zur Sicherung des Standortes Deutschland bereitstellen; denn Handeln bedeutet Zukunft. Der Faktor Humankapital ist entscheidend für die Dynamik einer ressourcenarmen Volkswirtschaft. Mit der „Zukunftsinitiative Hochschule“, die in diesem Jahr startet, wird der Aufbau eines bundesweiten Netzwerkes für die Patentierung und Verwertung von Forschungsergebnissen vorangetrieben. So verstauben die Früchte der Forschung nicht in den Regalen, sondern werden in Gewinn bringende und Arbeitsplätze schaffende Produkte umgewandelt. Das ist zukunftsträchtiger Wissenschaftstransfer. Damit steigt die Attraktivität unserer Hochschulen auch für die besten Köpfe im In- und Ausland. Das sind erfolgreiche Rahmenbedingungen für unsere Wirtschaft. Im Jahreswirtschaftsbericht ist es nachzulesen: Wir haben mehr Wirtschaftswachstum, wir haben mehr Beschäftigung, und wir haben den Willen zur kreativen Gestaltung für die Zukunft. ({7}) Eines haben wir nicht, meine Damen und Herren von der Opposition, und das sind Ihre Probleme. Ihre Reden von heute Morgen erinnern an einen Tropfen, der auf eine heiße Herdplatte fällt, hin- und herhüpft und letztendlich verdampft. Das ist die Politik der Opposition. Ich bedanke mich. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe der Kollegin Michaele Hustedt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Seiters! Meine Damen und Herren! Eines der wichtigsten Themen im Zeitalter der Globalisierung ist die Frage nach dem Verhältnis von Markt und Staat. Ein zentraler Punkt bei der Modernisierung unserer Wirtschaft ist die Liberalisierung der Monopolmärkte. ({0}) Monopolmärkte sind nicht mehr zeitgemäß; sie sind ein überholtes Relikt aus vergangenen Zeiten. ({1}) Die Liberalisierung nützt allen, Verbrauchern und Unternehmern. Zum Beispiel kosteten Ferngespräche bei der Telekom 1997 noch 60 Pfennig pro Minute; jetzt kosten sie 19 bzw. 5,4 Pfennig pro Minute. Im Ergebnis der Liberalisierung bei der Bahn befahren Konkurrenten der Deutschen Bahn wieder zuvor stillgelegte Strecken. Die Energiepreise sind für die Industrie um 40 Prozent und für Verbraucher immerhin um 20 Prozent gesunken. ({2}) - Dazu komme ich noch; keine Sorge. - Liberalisierung und Wettbewerb sorgen also für niedrige Preise, sie sorgen für Effizienz. Deswegen wird dieser Prozess von uns voll und ganz unterstützt. Allerdings kann durch den Markt nicht alles geregelt werden. In dieser Auffassung unterscheiden wir uns von Ihnen, Herr Brüderle. Ich nenne einige Beispiele: Bei der Telekom muss man für Datenschutz sorgen. Man muss für die Oma, die das Internet nicht selbstverständlich nutzen kann, eine flächendeckende Versorgung mit Post und Telefonanschlüssen sicherstellen. Es ist im Zeitalter der Wissensgesellschaft wichtig, für billige Internetanschlüsse zu sorgen. Man muss natürlich auch - siehe Kalifornien - für Versorgungssicherheit im Energiebereich sorgen. Das ist ein ganz substanzieller Punkt. Selbstverständlich muss vor dem Hintergrund, dass UN-Wissenschaftler vor der Klimakatastrophe verstärkt warnen, in liberalisierten Märkten auch der Umweltschutz ein wichtiger Aspekt sein. Wenn man nur an niedrige Preise denkt, Herr Brüderle, dann wird man das später teuer bezahlen. In diesem Punkt ist Handeln angesagt! ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Hustedt, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Hustedt, uns interessiert sehr, wie Sie und die Grünen zur Verlängerung des Briefmonopols stehen. Würden Sie sich bitte einmal konkret dazu äußern?

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich finde es wunderbar, dass Sie mir diese Zwischenfrage stellen. Dieses Thema wollte ich nämlich im Weiteren ansprechen. Durch diese Zwischenfrage kann ich zusätzlich Zeit gewinnen. Wir sehen die Verlängerung des Briefmonopols bis 2007 durchaus kritisch. ({0}) Ich verstehe die Argumentationen von Herrn Minister Müller. In der Tat ist es so, dass einige Länder in Europa die Liberalisierung verzögern. Nun muss man aber feststellen: Erstens haben viele nordeuropäische Länder, zum Beispiel Schweden, den Postmarkt bereits vollständig liberalisiert. ({1}) Wir sind also nicht die einzigen Vorreiter. Zweitens hat Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern in Europa die zweithöchsten Portokosten. ({2}) Drittens ist es meiner Ansicht nach so, dass die Vorreiterrolle in Bezug auf liberalisierte Märkte kein Nachteil für Unternehmen ist. Wir sehen im Bereich der Telekom und vor allem auch im Energiebereich, dass die Unternehmen, die frühzeitig liberalisiert haben, bestens aufgestellt sind, weil sie gelernt haben, wie man mit dem Wettbewerb umgeht. Deswegen sage ich ganz klar: Wir sehen die Verlängerung des Briefmonopols bis 2007 kritisch. ({3}) Ich persönlich glaube nicht - Herr Brüderle, ich gehe sogar noch weiter als Sie -, dass diese Verlängerung für die Aktienkurse der Deutschen Post gut ist. Denn die Frage, ob sich die Deutsche Post auf dem Markt behaupten kann, wird offen gelassen und die Anleger müssen mit dieser Unsicherheit umgehen. Es kann durchaus sein, dass es für die Aktienkurse gar nicht gut ist, wenn man zu sehr verlängert. Wir werden mit den Koalitionspartnern sehr freundschaftlich darüber sprechen. Das kann ich Ihnen versichern. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Hustedt, die Kollegin Kopp möchte eine zweite Zwischenfrage an Sie richten. Gestatten Sie das?

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Bitte schön.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Hustedt, mich würde jetzt noch interessieren, ob Sie innerhalb der rot-grünen Koalition, in der Sie ja in aller Freundschaft diskutieren, trotz Ihrer kritischen Haltung, die wir sehr gerne hören und die wir unterstützen, der geplanten Gesetzesänderung zustimmen werden oder ob Sie zusammen mit der Staatssekretärin Wolf noch einmal versuchen, Wirtschaftsminister Müller auf Ihre - richtige - Linie zu bringen. ({0})

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe doch gesagt: Noch gibt es in der rot-grünen Koalition keinen Beschluss. Wir werden darüber noch einmal sehr freundschaftlich diskutieren. ({0}) Nun wieder zurück zu dem Punkt, dass der Markt nicht alles kann. Der Markt versagt zum Beispiel dann, wenn die Preise nicht die Begrenzungen bzw. Belastungen der Volkswirtschaft und der zukünftigen Generationen widerspiegeln. ({1}) Der Weg, den wir im Rahmen der ökologischen Steuerreform eingeschlagen haben, nämlich dass wir die Preise Schritt für Schritt an die tatsächlichen Kosten der Volkswirtschaft und der zukünftigen Generationen heranführen, ist richtig. Wir sind sehr froh darüber, dass die ökologische Steuerreform ein positives Projekt ist und beginnt, tatsächlich eine Lenkungswirkung zu entfalten. Dazu gehört auch, dass wir uns vorgenommen haben, mit rechtlichen Instrumenten den Anteil der erneuerbaren Energien und den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Energieversorgung in den nächsten zehn Jahren zu verdoppeln. Bei den erneuerbaren Energien haben wir mit dem EEG einen wichtigen Impuls gegeben: Die Industrie boomt, es wird investiert und es entsteht eine neue Branche. In Bezug auf die Kraft-Wärme-Kopplung deutet sich an - da bin ich mir sicher; es gab ja in der letzten Zeit eine relativ polarisierte Debatte -, dass wir einen fairen Kompromiss finden. Klar ist aber auch: Dieser faire Kompromiss beinhaltet ohne Wenn und Aber, dass wir durch den Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung auf der Grundlage einer rechtlichen Absicherung 23 Millionen Tonnen CO2 einsparen werden. ({2}) Es gibt Beschränkungen; der Markt kann nicht alles leisten. Aber die Liberalisierung des Marktes schafft geringe Kosten, eine höhere Effizienz, eine hohe Kundenorientierung, neue Angebote und eine Chance für kleine und neue Unternehmen. Deswegen ist es wichtig, auf den bestehenden Märkten, auf dem der Telekommunikation und dem der Energie, die Entwicklung der Marktwirtschaft vom Monopol zum Wettbewerb zu verstärken. Auch in diesen Bereichen liegen jedoch noch weitere Aufgaben vor uns. Denn was die alte Bundesregierung dazu vorgelegt hat, war absolut unzulänglich. ({3}) Zur Telekommunikation: Es gibt derzeit eine Debatte darüber, ob der Telekommunikationsmarkt schon ein selbsttragender Markt ist oder ob er lediglich aufgrund der Regulierung funktioniert. Die Frage ist also: Kann man die Regulierung zurückführen und dem Kartellamt mit seiner Erfahrung und Kompetenz die Wettbewerbsaufsicht überlassen? Ist dies unter Umständen für gewisse Teilmärkte sinnvoll, und wenn ja, wie groß sind diese Teilmärkte und wie verhindert man - das ist eine ganz zentrale Frage, die wir klären müssen - dann Quersubventionierung? ({4}) Die Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation hat in diesem Bereich erste Schritte unternommen: Die Regulierung im Bereich der Auslandsgespräche in die Türkei wurde zurückgefahren. Das finde ich okay, aber ich warne davor, diesen Bereich gänzlich aus den Augen zu lassen. Wir sollten nicht zu schnell „entregulieren“, damit die Wettbewerbsintensität im Bereich der Telekommunikation weiter wächst. Dasselbe gilt für den Energiebereich. Wir stehen ja vor der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes zur Einführung der Liberalisierung der Gasmärkte. Natürlich muss dann auch diskutiert werden, ob die Wettbewerbsintensität auf dem Strommarkt ausreichend ist oder ob wir nachsteuern müssen. Nun ist es so, dass es auch in diesem Bereich - wie bei der Telekommunikation oder der Bahn - ein natürliches Monopol gibt, weil die Netze für den Anbieter unabdingbar notwendig sind, um den Kunden zu erreichen. Aber anders als im Bereich der Telekommunikation und auch anders als im Bereich der Bahn, wo wir dem Eisenbahnbundesamt jetzt die Funktion einer Regulierungsbehörde übertragen, gibt es auf dem Energiesektor keine Regulierungsbehörde, sondern den so genannten verhandelten Netzzugang. Angesichts der Tatsache, dass die Netzbetreiber in der Praxis ihre Konkurrenten am Zugang zum Markt behindern, halte ich es für an der Zeit, auch in Deutschland den regulierten Netzzugang zu gewährleisten. Ich habe damit eine durchaus vergleichbare Position wie die EU-Kommissarin de Palacio, die eine stärkere Regulierung - Deutschland ist das einzige Land in Europa, das keinen regulierten, sondern einen verhandelten Netzzugang hat - sowie ein verstärktes Unbundling fordert. Dies kann ich unterstützen. Ich hoffe, dass wir auch über diese Fragen diskutieren, wenn wir das Energiewirtschaftsgesetz novellieren. Ich danke. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich nunmehr das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Dr. Mathias Schubert.

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung enthält einen Gedanken, der für manche vielleicht eine Art blasphemische Abkehr von einer zehn Jahre lang mehr oder weniger kultivierten reinen Lehre bedeutet. Er begreift nämlich ostdeutsche Wirtschaftsentwicklung nicht mehr ausschließlich als regionalpolitisches Spezialproblem der Bundesrepublik Deutschland. Mit diesem integrativen Ansatz eröffnet sich natürlich auch eine veränderte Optik auf das, was als Leitvorstellung für den Aufbau Ost in der Perspektive der nächsten Jahre gelten könnte. Gerade unter Anerkennung der nach wie vor schwierigen Situation in Ostdeutschland wird deutlich, dass neben den Unterschieden eben auch fundamentale - und zunehmend mehr - Gemeinsamkeiten die Gesellschaft der Bundesrepublik und damit natürlich auch ihre Volkswirtschaft prägen. ({0}) Beide befinden sich mitten im Strukturwandel von Globalisierung, hin zu einer wissensorientierten Gesellschaft. In diesem Prozess werden von Gesellschaft und Wirtschaft, unabhängig ob hie Ost und da West, mehr Eigenverantwortung, mehr Kreativität und mehr Innovationsfähigkeit verlangt - Eigenschaften übrigens, die sich noch nie als ausschließlich westdeutsche oder ausschließlich ostdeutsche Charakteristika beschreiben ließen. An der Politik war und ist es, darauf mit tief greifenden Reformen zu reagieren. Dies geschieht seit zwei Jahren, obwohl der Reformstau Ende 1998 nahezu unüberwindbar zu sein schien. Es sind neben dem politischen Großprojekt Steuerreform vor allem auch die neuen arbeitsmarktpolitischen und wirtschaftspolitischen Ansätze, die in Ost wie in West gleichermaßen positiv wirken. Es lohnt sich, am Schluss dieser Debatte noch einmal auf wenige Beispiele kurz einzugehen. Das JUMP-Programm hat sich als ein wirklich bedeutender Baustein beim Abbau der Jugendarbeitslosigkeit erwiesen, ({1}) auch wenn die Opposition mit ihrem Zwischenruf beweist, dass sie das, was damit erreicht worden ist, nicht zur Kenntnis genommen hat. Vermutlich ist sie aufgrund ihrer internen politischen Situation zurzeit auch gar nicht in der Lage ist, so etwas zur Kenntnis zu nehmen. ({2}) 1999 war es Ziel, mit dem JUMP-Programm 100 000 Jugendlichen Ausbildung, Qualifizierung oder Beschäftigung anzubieten. Dieses Ziel wurde mehr als erfüllt. Von Anfang 1999 bis Herbst 2000 haben 250 000 Jugendliche an der Maßnahme teilgenommen. Dies war also ein entsprechend der Situation notwendiger Erfolg, in Ost wie in West gleichermaßen. Aus gutem Grund wird dieses Programm daher in diesem Jahr fortgesetzt. Ähnlich positive Beispiele, insbesondere im Osten, sind das Inno-Regio-, das Inno-Net- und FUTOURProgramm. Diese Förderprogramme, die den Aufbau von Innovationsnetzwerken zwischen Wirtschaft, Forschung, Bildung und Wissenschaft in den Mittelpunkt stellen, haben sich nicht nur in ihrer konkreten Umsetzung als besonders erfolgreich erwiesen, sondern zeigen auch den Weg zu einer ganz neuen Förderpolitik in Deutschland insgesamt. Im Mittelpunkt stehen Eigeninitiative, Eigenverantwortung und Selbstorganisation der Akteure statt Druck von oben, Amtsbürokratie und Alimentation, wie das trotz Herrn Protzners Einwendungen bis 1998 heftigst der Fall gewesen ist. Dass sich an dem Inno-Net- und dem FUTOUR-Programm, an den beiden gesamtdeutschen Programmen, ostdeutsche Firmen überproportional beteiligen, deutet nicht nur auf zunehmende Fitness dieser Unternehmen hin, es zeigt auch die zunehmende Integration gerade auf diesem Gebiet zwischen West und Ost. Solche Neuorientierungen erfordern natürlich politischen Mut, besonders den, sich von manchem Althergebrachten zu verabschieden. Die positiven Effekte solcher Programme machen Mut, nicht nur bewährte konservative Förderinstrumente, sondern auch alternative Programme wie die erwähnten in der Zukunft fortzusetzen. Wie gesagt, ich bin davon überzeugt, dass sich die dabei gewonnenen ostspezifischen Erfahrungen auch in anderen Regionen unseres Landes positiv auswirken werden. Man muss darüber nicht gleich in überschwängliche Begeisterung verfallen, aber es ist schon der Erwähnung wert, dass die innovativen Programme erheblich dazu beitragen, die Klischees vom Osten langsam, aber sicher aufzubrechen und abzubauen. ({3}) Dies ist auch ein Grund dafür - bei allen spezifischen Problemen, die der Osten immer noch hat, die ich an dieser Stelle auch überhaupt nicht wegdiskutiere; der Jahreswirtschaftsbericht tut dies auch nicht -, in der Zukunft stärker über regionale Kooperationen zwischen Wirtschaft und Forschung über Bundesländergrenzen hinaus nachzudenken und entsprechende Programme zu entwickeln, von denen langfristig alle profitieren werden. ({4}) Ich hoffe sehr, dass das Bündnis für Arbeit seine wichtige Rolle in diesem Sinne wahrnimmt, denn nur im Konsens mit den großen gesellschaftlichen Entscheidungsgruppen kann hier entsprechend viel bewegt werden. Einen wichtigen Punkt will ich zum Schluss noch ansprechen: Die europäische Integration fordert uns zusammen mit den weltweiten Globalisierungsprozessen natürlich auch zu einer Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft auf allen Ebenen heraus. Dabei stellt die EU-Osterweiterung selbstverständlich nicht nur ein Problem, sondern auch eine unglaubliche Chance gerade für Ostdeutschland dar. ({5}) Allerdings sage ich auch ganz klar: Das wird eine der bedeutendsten Herausforderungen und Aufgaben in diesem Jahrzehnt für uns alle sein. Hier müssen nicht nur Ängste abgebaut werden, sondern hier muss auch Mut gemacht werden, neue Ideen und Initiativen in diesem Kontext zu entwickeln. Denn mit der Osterweiterung ist nicht mehr und nicht weniger verbunden, als dass Ostdeutschland vom Rand in die Mitte der EU rückt, ({6}) also seine Chancen als europäische Verbindungsregion begreifen und entsprechend gestalten muss. Das wird aber nur dann gelingen, wenn der innerdeutsche Integrationsprozess politisch konsequent begleitet und gefördert wird. Im Sinne dieses Gedankens erspare ich mir dieses nichts sagende Lob vom richtigen Weg als aus dem Jahreswirtschaftsbericht zu ziehendes Fazit. Viel wichtiger ist es, diesen eingeschlagenen Weg der wirtschaftspolitischen Reformen, verbunden mit dem integrativen OstWest-Ansatz, weiterzugehen. Er fordert in beiden Himmelsrichtungen einiges an Umdenken, ist aber zugleich Ausdruck eines hochdynamischen Prozesses und mehr und mehr erfolgreich. Vielen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Bei den Tagesordnungspunkten 3 a und 3 b wird inter- fraktionell die Überweisung der Vorlagen auf den Druck- sachen 14/5201 und 14/4792 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Nun kommen wir zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Beschäftigung als Ziel der Wirtschaftspolitik herausstellen“ auf der Drucksache 14/3845, Tagesordnungspunkt 3 c. Der Aus- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2988 ab- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- lung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grü- nen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie die Zusatzpunkte 2 und 3 auf: 4 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Peter Hintze, Michael Stübgen, Klaus Hofbauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Erweiterung der Europäischen Union - Drucksache 14/3872, 14/5232 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Gloser, Hans-Werner Bertl, Hans Büttner ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christian Sterzing, Ulrike Höfken, Claudia Roth ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Flankierung der Erweiterung der Europäischen Union als innenpolitische Aufgabe - zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Peter Hintze, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Die deutschen Grenzregionen auf die EUErweiterung durch einen Grenzgürtel-Aktionsplan vorbereiten - Drucksachen 14/4886, 14/4643, 14/5475 Berichterstattung: Abgeordnete Winfried Mante Markus Meckel Peter Hintze Klaus Hofbauer Dr. Helmut Haussmann Manfred Müller ({3}) ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Weichen für die Erweiterung der Europäischen Union richtig stellen - Drucksache 14/5447 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun ({5}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Die Bürger für die Ost-Erweiterung der EU gewinnen - Drucksache 14/5454 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({6}) Auswärtiger Ausschuss Zu der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Volker Rühe für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Warum debattieren wir heute über die Osterweiterung der Europäischen Union? Ich glaube, das Entscheidende ist: Wir müssen stärker über die Chancen der Osterweiterung sprechen. Es ist bedrückend und, wie ich finde, zum Teil auch beschämend, wenn man feststellen muss, dass je konkreter die Dinge werden, umso negativer die Ergebnisse der Umfragen über die Unterstützung der Osterweiterung in der Bevölkerung ausfallen. Nur noch 36 Prozent unserer Bürger stehen hinter dieser Erweiterung. Damit liegt Deutschland übrigens im Ländervergleich im unteren Drittel. ({0}) Deswegen müssen wir als Konsequenz nicht nur über die Probleme und die Herausforderungen sprechen, sondern vor allen Dingen über die großartigen Chancen der Osterweiterung. Das ist eine politische Führungsaufgabe, bei der nicht weiter versagt werden darf. ({1}) Hier sind wir alle gefordert, aber Aufgabe der Regierung sollte es sein, eine Informationskampagne in Gang zu setzen. Wir müssen unseren Mitbürgern konkret die politischen und ökonomischen Vorteile für unser Land nahe bringen. Ein weiterer Punkt: In der politischen Debatte wird immer wieder der Eindruck erweckt, als ob diese Erweiterung ein Routinevorgang sei. Es gibt im Parlament einen Konsens darüber, dass dies nicht irgendeine Erweiterung ist, wie früher die Erweiterung um England. England wollte zunächst nicht Mitglied werden, hat sich aber später doch um die Mitgliedschaft beworben. Staaten wie Spanien und Portugal durften wegen ihrer innenpolitischen Situation nicht Mitglied werden. Diesmal haben wir eine ganz neue Runde der Erweiterung. Hier handelt es sich um Staaten, die vier Jahrzehnte lang von Moskau systematisch gehindert wurden, Mitglied dieses neuen Europas zu werden. Ich nenne beispielhaft Polen, Ungarn und Tschechien. Deswegen dürfen wir über diese Erweiterung nicht so sprechen, als sei es eine Erweiterung wie jede andere auch. ({2}) Es ist die Wiedervereinigung Europas. Wenn wir genau überlegen, dann stellen wir fest, dass es im Grunde genommen noch mehr ist, Herr Außenminister: Die europäische Spaltung wird überwunden. Das ist eine großartige Leistung. Wenn Polen, Deutschland und Frankreich nicht nur in dem Bündnis der NATO vereinigt sind, sondern auch in der Europäischen Union, dann ist das eine Form der Gemeinsamkeit, wie es sie nie zuvor in der Geschichte Europas gegeben hat. Deswegen ist es mehr als nur die großartige Wiedervereinigung Europas. Wir müssen unseren Mitbürgern klarmachen, dass das ein Vorgang, eine Nähe, eine Gemeinsamkeit und ein Miteinander der Europäer sein wird, wie es nie zuvor in der Geschichte der Fall gewesen ist. ({3}) Wir unterhalten uns über das Thema der Globalisierung. Ich glaube, dies ist die richtige Antwort Europas auf die Globalisierung; denn durch die Aufnahme der mittelund osteuropäischen Staaten und ihrer Wachstumsmärkte wird die Europäische Union als mit Abstand größter Binnenmarkt der westlichen Welt ihre Interessen in diesem globalen Wettbewerb sehr viel besser behaupten können, als dies in einer kleineren Gemeinschaft möglich ist. Wir werden unseren Einfluss erhöhen können und damit wirksamer als Stabilitäts- und Ordnungsfaktor in der Weltpolitik handeln können. Die Europäische Union wird nach ihrer Erweiterung illegale Zuwanderung und organisierte Kriminalität durch die Zusammenarbeit mit den neuen EU-Mitgliedern sehr viel erfolgreicher bekämpfen können. Zu den Chancen dieses politischen und historischen Prozesses gehört natürlich auch, dass wir die Umweltprobleme im gemeinsamen Europa durch die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Umweltrisiken sehr viel besser angehen können. Dies wird nicht zuletzt in Deutschland zu einer weiteren Verbesserung der Lebensqualität führen. Zu den Chancen, über die wir sprechen müssen, gehört auch, dass durch die Erweiterung neue Absatzmärkte in den Beitrittsländern entstehen. Davon profitiert niemand mehr als Deutschland. Das hat dazu geführt, dass in Frankreich manche von einem deutschen Projekt sprechen. Das ist es aber nicht, es ist ein gemeinsames europäisches Projekt. Wir müssen unseren Mitbürgern deutlich machen, dass dies ein schwieriger Vorgang ist, aber dass niemand mehr davon profitiert als Deutschland. Seit 1993 hat es im Handel unseres Landes mit den Beitrittsländern Steigerungsraten von rund 20 Prozent jährlich gegeben. Es ist davon auszugehen, dass dieser Prozess anhält. Der Anteil der Beitrittskandidaten am Außenhandel Deutschlands hat sich in dieser Zeit fast verdoppelt. Es ist keine zu gewagte Prognose, wenn man davon ausgeht, dass in wenigen Jahren unser Export in diese Länder mindestens so wichtig sein wird wie die Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika. Unser Problem ist, dass in den politischen Debatten in Deutschland allzu oft nur die Probleme im Vordergrund stehen. In dieser Debatte wäre dies jedoch völlig unangemessen. Neben den Chancen, die im Vordergrund stehen müssen, brauchen wir natürlich auch überzeugende Antworten auf die Sorgen der Menschen vor der Osterweiterung, beispielsweise auf die Sorge, dass es durch die Osterweiterung einen massiven Zustrom billiger Arbeitskräfte geben könnte und dies zu sinkenden Löhnen und steigender Arbeitslosigkeit in Deutschland führen würde. Alle aktuellen Untersuchungen zeigen aber, dass damit eher nicht zu rechnen ist. Es ist eben nicht so, als säßen die Menschen in Polen, Tschechien oder Ungarn auf gepackten Koffern, um nach dem Beitritt ihres Landes in Scharen zu uns zu kommen. ({4}) Eines muss man ganz klar sagen: Entweder sind sie schon hier - wir sind sehr froh darüber, dass sie infolge der Liberalisierung hier sind - oder aber die meisten bleiben in ihrem Land, gerade weil sie in dem bevorstehenden Beitritt eine gute Perspektive für ihr Leben zu Hause sehen. Wir haben 1990 von den Deutschen in den neuen Bundesländern gehört: Entweder kommt die DM zu uns oder wir kommen zur DM. Analog dazu möchte ich formulieren - und das gilt für die Menschen in Polen, Ungarn, Tschechien und den anderen Ländern -: Entweder kommt die Europäische Union zu uns und der Prozess wird nicht weiter verzögert oder wir gehen in die Europäische Union. Deswegen ist dieser Prozess eine Chance, dass die Menschen ihre Zukunft in ihren eigenen Ländern sehen. Das ist die Wahrheit im Zusammenhang mit diesen Befürchtungen. ({5}) Andererseits darf es aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse nicht durch Zuwanderung zu einer Verschärfung der Arbeitsmarktsituation insbesondere in den strukturschwachen und grenznahen Regionen kommen. Deshalb haben wir seit langem länderspezifisch differenzierte, flexible Übergangsfristen bei der Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Dienstleistungen gefordert. Wir begrüßen insofern, dass die Bundesregierung unsere Forderung aufgegriffen und jetzt auch ihre konzeptionellen Vorstellungen vorgelegt hat. Wir erwarten von ihr, dass sie ihre Position bei den jetzt anstehenden Verhandlungen noch präzisiert: Erstens müssen die Übergangsfristen länderspezifisch differenziert vereinbart werden. Nicht für jedes Beitrittsland müssen Übergangsfristen mit der gleichen Dauer festgelegt werden. Als der Bundeskanzler plötzlich eine feste Frist für alle Beitrittländer nannte, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das eher innenpolitisch ausgerichtet war. Wir sollten hier länderspezifisch ganz differenziert vorgehen. Das ist die beste Möglichkeit, diesen Prozess vernünftig zu fördern. ({6}) Zweitens muss es auch möglich sein, dass für einige Länder keine Fristen oder kürzere Fristen vereinbart werden, als das bei anderen Ländern der Fall ist. Die Übergangsfristen müssen flexibel sein und es muss eine jährliche Überprüfung ab dem zweiten Jahr stattfinden. Ich glaube, dieser Vorschlag der Kommission ist gut. So können die Fristen verkürzt werden, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Drittens ist es überfällig, dass die Bundesregierung objektive Kriterien für die Bemessung der Übergangsfristen und für ihre Flexibilisierung nennt. Sie muss auch verlässliche Zahlen zur Entwicklung des deutschen Arbeitsmarktes vorlegen. Wir müssen den Eindruck der Beliebigkeit oder einer Abwehrhaltung vermeiden. ({7}) Deswegen ist es ganz wichtig, dass durch die politische Diskussion klar wird, dass wir die Sorgen der Menschen in den Grenzregionen sehen ({8}) - der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern wird ebenso wie der Kollege Stübgen aus unserer Fraktion dazu sprechen -, aber niemals die Chancen dieses politischen Prozesses für alle Menschen, auch für diejenigen in den Grenzregionen, außer Acht lassen. Darum geht es. ({9}) Meine Damen und Herren, Sorgen und Ängste vor der Erweiterung - das ist ein Vorwurf an die Bundesregierung resultieren aber auch daraus, dass der Kreis der Beitrittskandidaten auf zwölf ausgeweitet und die Türkei aufgesattelt worden ist. Herr Bundesaußenminister, den Menschen ist nicht klar, wie das politisch, finanziell und institutionell machbar sein soll. Deswegen sage ich: Dass es diese Ängste und Sorgen gibt - das zeigen die Umfragen -, hängt damit zusammen, dass man den Kreis zu groß gemacht hat. Wie geht man damit um? Ich glaube - darauf haben wir schon seit längerem hingewiesen -, es gibt nur eine Lösung: Die Europäische Union muss sich so erweitern, dass sie sich auch noch in Zukunft weiter vertiefen kann. Es gibt gerade auch bei den stärksten Anhängern der Europäischen Union Ängste, dass durch eine zu schnell und zu umfassend organisierte Erweiterung eine Vertiefung unmöglich gemacht werden könnte. Also: Erweiterung so, dass die weitere Vertiefung der Europäischen Union möglich bleibt. Nach meiner Meinung geht das am besten durch eine zügige Erweiterung. Die erste Verhandlungsrunde sollte bis Ende 2002 abgeschlossen sein, damit zunächst eine kleinere Gruppe von Ländern aufgenommen und der Prozess der Osterweiterung in mehreren Schritten vorangetrieben werden kann. Es muss alles getan werden, damit Ende 2002 die Verhandlungen mit denjenigen Ländern abgeschlossen werden können, die zu diesem Zeitpunkt die vereinbarten politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Kriterien - auch die in Kopenhagen genannten Kriterien der Menschenrechte und Minderheitenrechte sowie das Kriterium funktionierender Verwaltungsstrukturen erfüllen. Dann könnten sich diese Staaten bereits an den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 2004 beteiligen. Was wir brauchen - das ist in der Antwort der Bundesregierung, Herr Bundesaußenminister, nicht enthalten, ist ein klares Bekenntnis der Bundesregierung, dass sie alles dafür tun wird, damit die Verhandlungen mit den ersten Staaten bis Ende 2002 abgeschlossen werden können. Es besteht die Gefahr, dass der Zeitplan der Kommission nicht eingehalten werden kann. Es ist angesichts der großartigen Chancen einer Erweiterung, von denen ich gesprochen habe, nicht akzeptabel, dass eine solche weiter verzögert wird. ({10}) - Ich werde das noch konkretisieren. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: Setzen Sie sich aktiv für eine Intensivierung der Verhandlungen ein. ({11}) Der Rat muss mehr politische Verantwortung für den zügigen und erfolgreichen Verlauf der Verhandlungen übernehmen, indem er sich erheblich umfassender als bisher auf Ministerebene mit den zentralen Problemen der einzelnen Kapitel der Verhandlungen befasst. Wenn man es mit dem Abschluss der ersten Verhandlungsrunde bis Ende 2002 tatsächlich ernst meint, dann dürfen doch die schwierigsten Fragen nicht bis zum Ende der Verhandlungen aufgeschoben werden. Davon sprechen wir in unserem Antrag: Die Europäische Union sollte noch in diesem Halbjahr und nicht erst im nächsten Jahr ihre Positionen in den Fragen der Landwirtschaft und der Regionalpolitik präzisieren, wenn sie es mit einem schnellen Verhandlungsprozess ernst meint. ({12}) Es ist nicht nur eine Sache der Kommission, die Verhandlungen bis Ende 2002 zum Abschluss zu bringen, sondern es ist Sache jeder einzelnen Regierung in Europa, auch und gerade, Herr Außenminister, der deutschen Regierung. Mehr als elf Jahre nach Öffnung des Eisernen Vorhangs haben wir jetzt eine konkrete zeitliche Perspektive für die Überwindung der Teilung. Deswegen ist es wichtig, dass dieser Bundestag gemeinsam aufpasst, dass es bei diesem Prozess nicht zu weiteren Verzögerungen kommt. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen: In Bezug auf einen Beitrittskandidaten, nämlich die Türkei, zeigen sich Fehler, die von der Politik gemacht worden sind. Sowohl der letzte Fortschrittsbericht als auch die jüngsten Entwicklungen haben unsere Sorge bestätigt, dass die auf Ihr Drängen erfolgte Verleihung des Beitrittskandidatenstatus zumindest verfrüht war. Es wird immer offensichtlicher, dass die mit diesem Status auf türkischer Seite verbundenen hohen Erwartungen so schnell nicht erfüllt werden. Wenn stattdessen der Türkei über Jahre hinweg in den Fortschrittsberichten bescheinigt wird, sie sei nicht einmal verhandlungsreif, muss man befürchten, dass es eher zu einer Entfremdung als zu einer Annäherung zwischen Europa und der Türkei kommen wird. ({13}) Wir sind der Meinung, dass es unser strategisches Ziel sein sollte, die Türkei bei ihrer europäischen Orientierung zu stärken und sie enger mit der EU zu verbinden. Deshalb halten wir es für falsch, dass die Bundesregierung den türkischen Wunsch nach Mitwirkung an den Entscheidungsverfahren der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ablehnt. Sie darf dort erst mitwirken, wenn sie Truppen stellt. Wir sind der Auffassung, dass die Mehrzahl potenzieller Einsatzszenarien im Zusammenhang mit einer europäischen Verteidigungsidentität wahrscheinlich ohnehin in geographischer Nähe zur Türkei zu sehen ist. Es ist falsch, dass wir ihr die Chance verbauen, enger mit der EU - jedenfalls in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik - zusammenzuarbeiten. Sie hatte den Status eines assoziierten Mitgliedes in der Westeuropäischen Union. Deswegen glauben wir, dass es klug wäre, der Türkei den Status eines assoziierten Mitgliedes der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik anzubieten, um sie gerade in den Fragen der Sicherheitspolitik schon jetzt an Europa zu binden, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die volle Mitgliedschaft in der Europäischen Union nicht möglich ist. Das wäre eine kluge Politik und eine klügere Politik, als sie die Bundesregierung bisher verfolgt hat. ({14}) Wenn Sie politische Gespräche führen, etwa auch in den Vereinigten Staaten von Amerika, stellen Sie immer wieder fest: Es gibt Kritik an Europa, ({15}) zum Teil zu Recht, und zwar auch schon vor der USAReise des Bundeskanzlers. Darüber müssen wir sprechen; denn das ist ein merkwürdiges Europa, das sagt: „Wir wollen stärker werden; wir wollen unsere eigene Verteidigungsidentität haben“, und dann werden überall in Europa die Verteidigungsetats gekürzt. ({16}) - Bei uns am meisten? Herr Bundesaußenminister, die vorherige Regierung hat in vier Jahren 20 Milliarden DM mehr für die Bundeswehr aufgewendet als die rot-grüne Regierung, 20 Milliarden DM mehr! Seien Sie also ganz vorsichtig! ({17}) Wie gesagt, es gibt berechtigte Kritik an Europa. Sie betreiben eine Politik nach dem Motto: Große Sprüche, nichts dahinter! ({18}) Die Osterweiterung aber ist vielleicht der wichtigste Beitrag Europas zur Sicherung der Stabilität in der Welt. Mit der Osterweiterung werden die Europäer eine gewaltige Leistung vollbringen, an der auch viele andere ihren Anteil haben werden. In diesem Geiste werden wir an diese Aufgabe herangehen und die notwendige Führungsverantwortung entwickeln. Darauf kommt es an. Ich glaube, ehemalige Bundeskanzler haben anders, mit mehr Anteilnahme, mit mehr Herz, mit mehr Wärme und mit mehr Engagement, über den Prozess der europäischen Integration gesprochen. ({19}) - Politisch die mehrheitliche Unterstützung für die Einführung des Euro zu bekommen war eine viel schwierigere politische Leistung, als die Menschen davon zu überzeugen, dass die Teilung Europas überwunden werden muss. Das ist auch nur durch einen engagierten und kontinuierlichen Einsatz geschafft worden. Ich finde jedenfalls, die Umfrageergebnisse sind für Deutschland beschämend. ({20}) Es ist Ausdruck eines Mangels an politischer und geistiger Führung, wenn noch nicht einmal das Land, das ökonomisch am meisten von der Osterweiterung profitiert, in der Lage ist, seine Bevölkerung mehrheitlich für den Integrationsprozess zu gewinnen. Was sollen wir dann von Spanien, Italien und zum Teil auch von Großbritannien und Frankreich erwarten? Darum geht es. Deswegen ist die jetzige Debatte notwendig und deswegen sollten Sie das umsetzen, was wir angeregt haben. ({21})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Tribüne hat soeben der Präsident der Staatsversammlung der Republik Slowenien, Borut Pahor, mit seiner Delegation Platz genommen. Ich begrüße Sie, Herr Präsident, im Namen des ganzen Hauses sehr herzlich. ({0}) Wir freuen uns über Ihre Anwesenheit, besonders auch deshalb, weil wir heute erneut über die Erweiterung der Europäischen Union diskutieren. Ich möchte Ihnen sagen, dass wir Ihren Weg in die Europäische Union mit großer Sympathie begleiten. Wir wünschen Ihnen für Ihren Aufenthalt in Berlin, im Deutschen Bundestag und im Reichstagsgebäude weiterhin alles Gute. Für Ihr weiteres parlamentarisches Wirken begleiten Sie unsere guten Wünsche. ({1}) Wir fahren in der Debatte fort. Ich gebe das Wort dem Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Dr. Harald Ringstorff. Dr. Harald Ringstorff, Ministerpräsident ({2}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordneten! „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Das waren die Worte Willy Brandts, als Ost- und Westdeutschland nach 40 Jahren Teilung endlich wieder zusammenfanden. Mit der deutschen Einheit kam ein Prozess in Gang, der nun zur Osterweiterung der Europäischen Union führen wird und damit den Weg für die Überwindung der Teilung ganz Europas ebnet. Mit der Osterweiterung eröffnen sich für Deutschland, auch für den Osten Deutschlands, neue Chancen, die wir nutzen wollen. Die Erweiterung kann für uns alle ein Gewinn sein, wenn wir es gemeinsam richtig anpacken. Niemand gibt sich dabei der Illusion hin, die EU-Osterweiterung wäre ein Selbstläufer. Ich gebe Ihnen Recht, Kollege Rühe, dass das keine Routineangelegenheit ist. Sie erfordert von uns allen harte Arbeit, Besonnenheit und Mut. Viele Menschen haben aber auch Sorgen. Es gibt Sorgen vor zunehmender Billigkonkurrenz, Sorgen vor einem Zustrom von Arbeitskräften, auch von Pendlern, Sorgen vor Lohn-, Sozial- und Umweltdumping. Davon ist manches berechtigt, anderes nicht. Diese Sorgen treffen in unserem Landesteil Vorpommern, im Grenzraum, auf eine Arbeitslosigkeit von 25 bis 30 Prozent, auf das Wegbrechen von Unternehmen, den Abzug der Bundeswehr aus Eggesin und manches mehr. Das alles wirkt sich ganz konkret in den Familien und in den Handwerksbetrieben vor Ort aus. Vorbehalte und Ängste müssen wir ernst nehmen. Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit sind nötig. Sie sind die beste Gewähr dafür, dass Sorgen und Ängste nicht von denen instrumentalisiert werden, die der Intoleranz das Wort reden. ({3}) Das ist wirklich das Letzte, was wir in diesem Zusammenhang brauchen. Was wir hingegen brauchen, ist ein überzeugendes und transparentes Beitrittskonzept, das für die Menschen im Land, in den Grenzregionen und darüber hinaus glaubwürdig ist und ihnen Chancen aufzeigt, und zwar nicht nur in ferner Zukunft, sondern auch in der Gegenwart, nicht in allgemeinen Theorien, sondern in konkreten Perspektiven, die der Realität vor Ort standhalten. Wenn wir den Menschen die Chancen und Vorteile der Osterweiterung erläutern, dürfen wir von den Marktchancen nicht undifferenziert sprechen. Natürlich gibt es diese Chancen. Sie sind, insgesamt gesehen, groß, vor allem für große Unternehmen. Für den Handwerks- und Dienstleistungsbetrieb im Grenzraum stellt sich das Problem jedoch differenzierter dar. Er hat in der Regel keine starke Kapitaldecke. Er hat nicht die personellen Ressourcen und das Know-how, um ohne weiteres ausländische Märkte bedienen oder sich auf sie einstellen zu können. Es beginnt oft schon mit den Sprachbarrieren. Probleme mit Verwaltung und Justiz im Ausland sind für ihn viel schwerer zu lösen als für die Stäbe großer Unternehmen. Deshalb muss den mittelständischen Betrieben bei der Marktanpassung und der Vorbereitung auf die Erweiterung mehr Unterstützung als bisher angeboten werden. Einem fairen Wettbewerb wollen wir uns auch zukünftig stellen. Wettbewerbsverzerrungen wollen wir nicht. Die Erweiterung betrifft uns alle. Doch es ist auch klar: Die Auswirkungen sind regional ganz unterschiedlich. Ich will in diesem Zusammenhang drei Punkte nennen: Erstens das Wohlstands- und Lohngefälle. Zwischen den bisherigen und den zukünftigen EU-Mitgliedern wird es im Grenzraum am deutlichsten. Dieses Gefälle wird Migrations- und Anpassungsdruck erzeugen, für den nicht alle regionalen und sektoralen Arbeitsmärkte gerüstet sind. Das Gefälle wird sich nur mittel- bis langfristig verringern. Zweitens die Tagespendler. Kollege Rühe, ich gebe Ihnen Recht, dass nicht alle Polen und Tschechen auf gepackten Koffern sitzen. Aber das Tagespendlerproblem ist ein besonderes. Sie können in den für sie erreichbaren Regionen arbeiten, aber in ihrem Heimatland leben. Das wirkt sich auf die Arbeitsplätze zum Beispiel in den Grenzregionen aus. Drittens nenne ich die Verkehrsinfrastruktur. Hier sind zuerst die Grenzübergänge und die Zufahrtsstraßen zu sehen. Es sind Nadelöhre; erst später verteilt sich der Verkehr. Ich denke, dass es eine ganze Reihe von Aspekten gibt, die im Rahmen des Beitrittskonzeptes für die Grenzregionen berücksichtigt werden können und auch berücksichtigt werden müssen. ({4}) Hieran machen sich konkrete Erfahrungen der Menschen und der Betriebe mit der Erweiterung fest. Ich begrüße daher ausdrücklich, dass der Europäische Rat von Nizza die Kommission aufgefordert hat, ein Programm zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Grenzregionen aufzulegen. Wir werden sehen, ob es den Bedürfnissen und den Realitäten vor Ort gerecht wird. ({5}) Was wir brauchen, sind administrativ und finanziell ausgewogene Lösungen für diese Räume. ({6}) Zur Wahrung der Chancen unserer Grenzregionen drängen wir deshalb auf einen Aktionsplan, der zum Ziel haben muss, das Zusammenwachsen der Regionen auf beiden Seiten zu fördern, die Verkehrsinfrastruktur zu verbessern sowie den kleinen und mittleren Unternehmen die Anpassung an die veränderte Marktsituation zu erleichtern. Insgesamt gilt es, die Wettbewerbsfähigkeit der kleinen und mittleren Unternehmen in den Grenzregionen zu stärken. Hier muss ein Programm für die Grenzregionen effektiv ansetzen. ({7}) Ein wichtiger Teil dieses Programms sind die Übergangsregelungen im Bereich der Freizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit, wie es sie auch 1986 bei Vollzug der Süderweiterung für die Arbeitnehmerfreizügigkeit gab. Wir brauchen hier flexible und intelligente Lösungen, die auch regional unterschiedlich ausfallen können. Herr Kollege Rühe, wenn Sie den Vorschlag des Bundeskanzlers richtig gelesen haben, ({8}) hätten Sie erkennen können, dass es Revisionsklauseln geben soll und dass er für flexible Lösungen plädiert. Es handelt sich nicht um einen starren Vorschlag, wie Sie uns hier glauben machen wollten. ({9}) Aber auch die Problematik der Tagespendler muss berücksichtigt und gelöst werden. Neben der notwendigen Unterstützung der Grenzregionen von außen sind natürlich auch die Regionen selbst gefordert. Selbstverständlich erwarten wir auch Eigeninitiative der Wirtschaft. Ich will zwei konkrete Beispiele für innovative Eigenaktivitäten nennen: Erstens. Im Herbst letzten Jahres haben wir in Stettin ein Haus der Wirtschaft gegründet. Es bietet ganz konkrete Hilfen für Unternehmen beider Seiten, die sich im jeweils anderen Land betätigen wollen. Dieses Haus ist mit großem Erfolg gestartet. Zweitens. Im Herbst dieses Jahres startet in Mecklenburg-Vorpommern ein Pilotprojekt für eine Lehre über die deutsch-polnische Grenze hinweg. 45 deutsche und 45 polnische Lehrlinge werden mehrwöchige Ausbildungsabschnitte im jeweils anderen Land absolvieren. Auch ein solches Projekt ist zukunftsweisend. ({10}) Insgesamt gilt: Die positive und integrationsfördernde Wirkung der in den letzten Jahren entwickelten intensiven grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf allen Gebieten ist nicht gering zu achten. Das gilt sicherlich nicht nur für Mecklenburg-Vorpommern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei all diesen Projekten und Formen der Zusammenarbeit auf staatlicher, privater, regionaler oder lokaler Ebene werden Menschen zusammengebracht. Ich möchte so weit gehen zu sagen: In vielen Bereichen ist auf unteren Ebenen die EU-Osterweiterung bereits vollzogen. Daher können wir jetzt den entscheidenden großen Schritt mit Optimismus tun, aber auch mit dem Willen, sie im Interesse der Menschen überzeugend zu gestalten, damit aus den Chancen, die die Zukunft Europas bietet, Chancen für alle und nicht für wenige werden, damit zusammenwächst, was in unserem heutigen Europa zusammengehört. Vielen Dank. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Helmut Haussmann.

Prof. Dr. Helmut Haussmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000836, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sind der Meinung, dass die Europapolitik derzeit drei Mängel aufweist: Erstens. Im Gegensatz zu früheren Projekten fehlt es an europäischer Führung und einer europäischen Vision. ({0}) Es fehlt an Begeisterung; aber ohne Begeisterung - das wird zu Recht gesagt - lassen sich Ängste und Befürchtungen nicht überwinden. ({1}) Zweitens. Für konkrete Probleme müssen Lösungen erarbeitet werden. Diese Probleme müssen zugegeben Ministerpräsident Dr. Harald Ringstorff ({2}) werden. Zugleich müssen aber die Vorteile sehr viel stärker herausgestellt werden. Drittens. Herr Außenminister, der Post-Nizza-Prozess kann nicht nur darin bestehen, das wichtige Projekt einer europäischen Verfassung vorzubereiten, sondern dazu gehört auch die Verbesserung des unzureichenden Ergebnisses des Vertrages von Nizza. Ansonsten wird die Verfassung auf tönernen Füßen stehen. ({3}) Ich komme zum ersten Punkt und damit zur „Begeisterung“. Ich war für die Schaffung des europäischen Binnenmarkts mitverantwortlich und ich habe mir große Mühe gegeben, die Menschen für das Projekt einer europäischen Währung zu begeistern. Im Gegensatz zu früheren Projekten, an denen wir mitgewirkt haben, fehlt es derzeit - das sagt Herr Verheugen - an einer gemeinsamen Zukunftsvision. ({4}) Der Privatmann Fischer erklärt in der Humboldt-Universität, die Osterweiterung habe oberste nationale Priorität. Nur, das Regierungshandeln zeigt relativ viel Kleinmütigkeit. Nizza war schlecht vorbereitet. Man hat es bisher nicht geschafft, Frankreich für das Projekt der Osterweiterung wirklich zu gewinnen. Man hat kleine Länder schlecht behandelt und man verkürzt in der innenpolitischen Debatte die Osterweiterung auf das Problem der Freizügigkeit im Falle der Grenzöffnungen. Wenn man die Debatte auf dieses Problem verkürzt, dann wird man es nicht schaffen, die Menschen für die Vision der Wiedervereinigung Europas zu begeistern. ({5}) Wir brauchen überhaupt nicht zu suchen: Die Vision besteht in der Wiedervereinigung Europas. Darauf hat Herr Rühe völlig zu Recht hingewiesen. ({6}) Gerade von Berlin, dem neuen geographischen Zentrum eines wiedervereinigten Europas, sollte mehr europäische Führung - im guten Sinne - ausgehen. Unter „Berliner Republik“ verstehe ich nicht, wie dies der Bundeskanzler tut, eine Renationalisierung der Politik, nach dem Motto: Wir sind wieder wer, basta! ({7}) Unter „Berliner Republik“ verstehe ich Führung und Vorbild in europäischen Fragen, Herr Kollege. ({8}) Wir sind das größte Land. Kleinere Staaten erwarten von Berlin, dass es sich in Nizza nicht hinter den Problemen Frankreichs versteckt, sondern dass es von sich aus bereit ist, mehr für die Integration zu tun, und dass es sich nachher nicht rühmen lässt, dass es aus nationalen Gründen bestimmte alte Positionen gewahrt hat. Wir haben im Vergleich zu anderen Staaten, zum Beispiel zu Belgien, auch in Nizza zu wenig getan. Der zweite Punkt betrifft das Problem der Gewinnung der Bürger für das großartige Projekt der Wiedervereinigung Europas. Natürlich sollte man über die Freizügigkeit diskutieren. Wenn der Kanzler allerdings in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den deutschen Gewerkschaften gleich mit sieben Jahren anfängt - die deutschen Gewerkschaften gehen von zehn Jahren aus -, dann darf man sich nicht wundern, dass Polen in anderen sensiblen Fragen von Übergangsfristen von 15 Jahren ausgeht. Wir sollten als wirtschaftlich stärkstes Land eine flexible Lösung vorschlagen. ({9}) Es ist doch interessant, dass weder Außenminister Fischer noch Herr Verheugen auf die Migrationsforschung eingehen. Sämtliche Gutachten führen zu dem Vorschlag: vier Jahre Übergangszeit und nach zwei Jahren Überprüfung. Auf diesen Vorschlag kann man eingehen. Das Lamentieren und das In-den-Vordergrund-Stellen der Angst ist aus meiner Sicht falsch. Die Migrationsforschung sagt eindeutig, es werde zu keinen größeren Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt kommen. ({10}) Herr Ministerpräsident, allerdings kommt es in den Grenzregionen zu einem erhöhten Anpassungsbedarf. Es wäre besser, wenn die Bundesregierung ihre Reformaufgaben vorher machen würde. Wenn sie durch eine richtige Steuerreform und eine richtige Mittelstandspolitik neue Arbeitsplätze in Deutschland schaffen würde, dann wäre die Osterweiterung arbeitsmarktmäßig natürlich sehr viel leichter zu verkraften. ({11}) Wir verschenken in Deutschland Wachstum. Der dritte Punkt - ich halte ihn für den entscheiden den -: Herr Bundesaußenminister, nicht der mangelnde Reformwillen der Osteuropäer ist das Problem bei der Wiedervereinigung Europas. Die Osteuropäer haben seit 1989 nationale Opfer in einem Maße gebracht, an dem wir uns in keiner Form messen können. Die eigentliche Gefahr für die Wiedervereinigung Europas liegt in dem mangelnden Reformwillen, in den nationalen Egoismen der Altmitglieder, einschließlich Deutschlands. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Nizza bedeutet jede Erweiterungsrunde eine Zunahme der Zahl der Vetoinhaber in Bezug auf zentrale politische und wirtschaftliche Entscheidungen und damit eine reale Gefahr der Selbstblockierung eines erweiterten Europas. Das ist der entscheidende Punkt. Wenn Sie heute das Gutachten von 150 Europaabgeordneten aller Fraktionen - Liberale, Grüne, Christdemokraten und Sozialisten - lesen, dann können Sie feststellen, dass sie davor warnen, unter den jetzigen Bedingungen von Nizza zu erweitern. Herr Bundesaußenminister, der Post-Nizza-Prozess darf sich nicht nur auf das große Projekt einer europäischen Verfassung verkürzen. Wir müssen die Zeit bis 2004 nutzen, die Ergebnisse von Nizza zu verbessern, sodass die Erweiterung der Europäischen Union durch Mehrheitsentscheidungen, die verstärkt das Vetorecht ersetzen, möglich wird. ({12}) Das jetzige Problem mit den Ergebnissen von Nizza besteht doch darin, dass wir gerade den wichtigen osteuropäischen Ländern auch innenpolitisch keinen Gefallen tun, wenn die Reformer sowie die liberalen und demokratischen Kräfte von Anfang an von früheren Kommunisten und neuen Nationalisten dazu gedrängt werden würden, bei wichtigen Entscheidungen zu blockieren. Angesichts der globalen Rolle Europas muss die Osterweiterung als Antwort auf den Druck verstanden werden, der durch die Globalisierung, durch die Politik der Amerikaner, durch die verstärkten Anstrengungen auf dem Gebiet der Verteidigung, durch eine große Steuersenkung und durch den internationalen Wettbewerb bezüglich der Arbeitsplätze auf uns ausgeübt wird. Die Globalisierung lässt uns keine andere Wahl, als den gesamten Kontinent wirtschaftlich und politisch neu zu organisieren. ({13}) Langfristig wäre Westeuropa allein nicht in der Lage, mit den Vereinigten Staaten von Amerika und später mit China oder Indien mitzuhalten. Insofern ist die Osterweiterung nicht nur eine Frage der innereuropäischen Organisation. Die Osterweiterung muss vielmehr unter dem Aspekt der Effizienz und der Handlungsfähigkeit vollzogen werden. Der entscheidende Punkt ist, dass Gesamteuropa in verteidigungs- und währungspolitischen Fragen handlungsfähig bleibt. ({14}) Ich erwähne ausdrücklich das wirklich hervorragende Referat, das Herr Schäuble gestern Abend in der bayerischen Landesvertretung - ausgerechnet dort - gehalten hat. Er hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es für die weitere Entwicklung Europas zwei Kriterien gibt: die Handlungsfähigkeit und die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Deshalb sind die Bedingungen von Nizza für die Osterweiterung so wichtig. Es darf zu keiner weiteren Zersplitterung und zur Selbstblockade kommen. Aus globaler Sicht müssen Entscheidungen in einem Europa, bestehend aus 25 Staaten, durch Mehrheitsentscheid getroffen werden, damit wir auf Dauer zu einer globalen Partnerschaft fähig werden. Aus liberaler Sicht bedingt die Zustimmung zur Osterweiterung eine Verbesserung der Ergebnisse von Nizza. Herr Bundesaußenminister, da Sie zu Recht von der Notwendigkeit einer weiteren Verbesserung der deutschfranzösischen Beziehungen gesprochen haben, will ich Ihnen sagen: Eines der ersten Themen, über das Sie mit Frankreich sprechen sollten, muss sein, wie die ungelösten Probleme von Nizza durch Nachverhandlungen so beseitigt werden können, dass wir am Ende dem Vertrag von Nizza mit großer Mehrheit - wie bei allen europäischen Verträgen - zustimmen können. Vielen Dank. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesaußenminister.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als im November 1989 der Kalte Krieg zu Ende ging und die Mauer fiel, da zeigte sich, dass das wichtigste historische Projekt, das nach 1945 in Westeuropa begonnen wurde, auch eine Antwort für die Neuordnung Gesamteuropas bereithielt. Der europäische Einigungsprozess als Antwort auf die historische Herausforderung umfasste nämlich nicht nur Westeuropa, sondern ganz Europa. Er ist die Antwort auf den Prozess der europäischen Selbstzerstörung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die wichtigsten europäischen Staaten meinten, in Konfrontation, ja in Krieg ihre legitimen oder auch illegitimen Ansprüche gegeneinander durchsetzen zu können und durchsetzen zu müssen, einer Selbstzerstörung, in deren Zentrum gerade Deutschland stand. Es ist, gerade wenn man die Geschichte unseres Landes in der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sieht, ein unglaubliches, fast nicht für möglich gehaltenes Glück, dass wir in Frieden und Freiheit wiedervereinigt sind, dass wir, in der Mitte Europas liegend, eingebunden sind in die europäische Integration, umgeben von Nachbarn, Partnern und Freunden. Noch vor zehn Jahren standen sich die Rote Armee und die NATO auf dem ersten Schlachtfeld eines dritten Weltkriegs gegenüber. Diese Lage hat sich grundsätzlich geändert. Wir haben auch die Krise auf dem Balkan erlebt, bei der wir feststellen mussten, dass dieser Kontinent nicht zwei unterschiedliche Sicherheitsprinzipien aushalten wird. Es kann nicht ein Europa des Nationalismus auf der einen Seite und ein Europa der Integration auf der anderen Seite geben. Ein Europa des Nationalismus würde das Europa der Integration nicht unbeschädigt lassen. Wenn es, wie die Bundesregierung sagt - das sagt nicht nur die Bundesregierung, sondern das ist ein breiter Konsens in diesem Haus, was deutlich wird, wenn man einmal die Polemik weglässt -, im höchsten deutschen Interesse ist, die politische Europäische Union zu schaffen und zu vollenden, dann reflektiert das nicht nur unsere Geschichte, nicht nur die Chancen und Risiken, die in unserer Geschichte offensichtlich wurden, sondern auch die aktuellen Herausforderungen, das aktuelle Interesse Deutschlands. Das haben alle Redner hier betont. Ich kann nur unterstreichen: Die Osterweiterung ist die große historische Chance des Zusammenführens des geteilten Europas. Unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts - das werden wir feststellen - werden der Druck in Richtung Handlungsfähigkeit, und die Krisen, die von außen auf uns einwirken, die Notwendigkeit der politischen Integration dramatisch verstärken. Aber auch die Osterweiterung selbst wird den Einigungsdruck erhöhen. Das ist ein Prozess, den ich mir durchaus wünsche. Denn die erweiterte Union steht vor der großen Frage: Wie wird eine Union der 22, der 25, ja der 27 handlungsfähig bleiben? Diese Frage müssen wir in den kommenDr. Helmut Haussmann den Jahren in dem so genannten Prozess der europäischen Integration beantworten, den wir bis 2004 in Richtung einer Verfassung, der Abgrenzung der Kompetenzen, aber auch der weiter gehenden Klärung der Handlungsfähigkeit dieser sich erweiternden Union durch- und fortführen wollen. Hier wird viel davon gesprochen, dass wir die Vorteile in den Vordergrund stellen müssen. Richtig. Aber wir müssen genauso die Ängste ernst nehmen. Es nützt nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Man soll diese Ängste nicht verstärken, aber man muss schon zur Kenntnis nehmen, dass viele Menschen, bedingt auch durch die großen historischen Veränderungen, so etwas wie Veränderungsstress erlebt haben, wo sie sich nicht immer auf der Gewinnerseite gesehen haben. Mein gestriges Gespräch mit dem Bundesausschuss des Deutschen Gewerkschaftsbundes, bei dem die Ängste in den Betrieben reflektiert wurden, hat nochmals klargemacht, dass wir die Ängste ernst nehmen müssen. Es geht nicht darum, sie zu verstärken, sondern darum, sie zu entkräften. Auch das, was der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern dargestellt hat, ist richtig. Natürlich gibt es in der Grenzregion - davon konnte ich mich bei Bürgerforen selbst überzeugen - entsprechende Sorgen. Natürlich gibt es in der Grenzregion ganz spezifische Probleme, auf die wir eingehen müssen. Die Bundesregierung hat gemeinsam mit der österreichischen Regierung durchgesetzt, dass wir auf unserer Seite bei der Osterweiterung ein Strukturanpassungsprogramm für die Grenzregionen schaffen. Aber die Erfahrung zeigt eben auch: Das Schicksal von Grenzregionen ist, dass, wenn die Grenze geschlossen bleibt, sich quasi Fuchs und Hase dauerhaft niederzulassen versuchen, während die Durchlässigkeit der Grenze - das geht nicht von jetzt auf gleich, aber so sind die Erfahrungen mit der Europäischen Union zum Beispiel in Rheinland-Pfalz und Baden wie auch in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen - gewaltige Entwicklungschancen in Regionen an der Westgrenze geschaffen hat, die zuvor mit Problemen zu kämpfen hatten. Ich erinnere mich sehr gut, dass es in Südbaden - ich bin in Baden-Württemberg aufgewachsen - über lange Zeit sehr attraktiv war, in Deutschland zu wohnen und in die Schweiz zu pendeln. Man muss dort bestimmte Strukturanpassungen vornehmen. Aber zugleich bieten die Öffnung der Grenze und die ökonomische Entwicklung, die die Europäische Union mit sich bringt, eine große Chance gerade für die neuen Bundesländer und die Regionen an der Grenze zu Polen. Würde Polen nicht Mitglied, würden sich alle Probleme, die zu Recht benannt werden, exponentiell steigern. Das heißt, wir würden die Probleme dort dauerhaft und in erheblichen Größenordnungen bekommen. Die Süderweiterung mit Portugal, Spanien und Griechenland hat gezeigt, dass aus armen Ländern mittlerweile bedeutende Faktoren in der großen europäischen Volkswirtschaft geworden sind, was übrigens auch zu unserem Vorteil ist, wenn man die Exporte und damit die Arbeitsplätze sieht. ({0}) Diese Erfolgsgeschichte wollen wir wiederholen, meine Damen und Herren, und dafür haben wir die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen. Ich verstehe ja, dass sich die Opposition an einem Punkt schwer tut, bei dem wir einen breiten Konsens haben. Aber ich halte überhaupt nichts von der Position der Opposition - ({1}) - Herr Rühe, ich wollte gerade auf Sie zu sprechen kommen, weil Sie vorhin sagten: große Sprüche und nichts dahinter. - Wenn ich Ihre Rede mit dem Beitrag des Kollegen Schäuble vergleiche, der heute in der „FAZ“ abgedruckt ist, dann meine ich: Sie sollten diesen Beitrag zum Maßstab zukünftiger Reden nehmen, die Sie zum Thema Europa im Bundestag halten. ({2}) Herr Kollege Rühe, ich muss Ihnen entgegenhalten, dass in Bezug auf die Osterweiterung der Satz „große Sprüche und nichts dahinter“ für Ihre Regierungszeit gilt. Polen wurde versprochen, im Jahre 2000 Mitglied zu sein. Wir haben in der zweiten Hälfte des Jahres 1998 unter österreichischer Präsidentschaft eine konkrete Beitrittsperspektive beschlossen. Dann kam der Beschluss von Helsinki, der die ganze Sache durch das Zusammenziehen von ehemals zwei Gruppen wirklich dynamisiert hat. Hätten Sie sich besser informiert, wüssten Sie, dass es vorher zwei unterschiedliche Gruppen mit entsprechenden Reibungsproblemen gegeben hat. In Helsinki wurde konkret beschlossen - ich halte das für völlig richtig -, alle Beitrittskandidaten in einer Gruppe zusammenzufassen, dann aber jeweils konkrete Bedingungen zu implementieren. An den Fortschrittsberichten können Sie ablesen, wie hervorragend dies funktioniert. Gerade mein Gespräch mit dem rumänischen Außenminister vor zwei Tagen hat klar gezeigt, dass es richtig war, das Zweigruppenmodell aufzugeben, zumal ja auch schon mit der zweiten Gruppe, wenn auch nachrangig, verhandelt wurde. Jetzt geht es für jeden nach seinen Möglichkeiten und individuellen Fortschritten. Dieser in Helsinki beschlossene Ansatz ist wirklich hervorragend. ({3}) Aber das sind Ihre Widersprüche; damit müssen Sie klarkommen. Sie wollen der Türkei einen Sonderstatus bei der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik einräumen, ihr aber gleichzeitig den Status im Zusammenhang mit der Heranführungsstrategie streitig machen. Es wird ja mit der Türkei nicht verhandelt. Das Einzige, was der Rat von Helsinki über Luxemburg und Cardiff hinaus beschlossen hat, ist, dass wir die Türkei nicht mehr vertrösten, sondern ihr klar sagen: Wenn ihr in Richtung Europa wollt, dann müsst ihr euch zusammen mit der Kommission eine Heranführungsstrategie erarbeiten und sie umsetzen, bis ihr die Kopenhagener Kriterien erfüllt. Diese Kriterien stellen keine „Lex Türkei“ dar, sondern gelten für Mitglieder wie für Beitrittskandidaten und müssen erfüllt sein, damit Verhandlungen überhaupt begonnen werden können. Das galt und gilt für alle; auf dieser Grundlage haben wir eine Heranführungsstrategie beschlossen. Jetzt aber der Türkei bei der sich entwickelnden ESVP einen Sonderstatus einzuräumen, davor kann ich nur warnen. Das ist nicht zu Ende gedacht, Herr Rühe. Sie sollten dieses Thema einmal mit Ihren Fachleuten und Europapolitikern sorgfältig erörtern. Ich glaube, dann würden Sie sehr schnell feststellen, dass Sie hier in eine Situation gerieten, die Sie sich selbst nicht wünschen können. ({4}) Meine Damen und Herren, dem Bundeskanzler „Renationalisierung“ vorzuwerfen ist, Herr Haussmann, doch wirklich blühender Unsinn. Gerade die Rolle, die der Bundeskanzler sowohl in Berlin als auch in Nizza insbesondere bei der Wahrung der Interessen der kleinen Länder gespielt hat, zeigt - ich habe es doch unmittelbar mitbekommen -, dass das Gegenteil der Fall ist: Deutschlands nationale Interessen bestehen darin, Europa voranzubringen, und zwar gemeinsam mit unserem Partner Frankreich. Der Bundeskanzler hat sich in einem Maße dafür eingesetzt, dass ihm die anderen dafür gedankt haben. Das sollten Sie hier auch sagen, anstatt blühenden Unsinn von „Renationalisierung“ zu verkünden. ({5}) Lassen Sie mich noch Folgendes hinzufügen, wenn die F.D.P. der Meinung ist, wir müssten unser Verhältnis zu Frankreich verbessern: Ich treffe mich heute Abend mit dem Kollegen Védrine. Ich stelle mir einmal vor, dass ich ihm sage: Ihr habt das in Nizza großartig gemacht; leider ist das Ergebnis von Nizza schlecht, weshalb wir nachverhandeln wollen. Auf dieser Grundlage verbessern wir die deutsch-französischen Beziehungen! ({6}) - Das ist nicht primitiv, sondern es ist der Vorschlag der F.D.P. Ich meine jetzt ja gar nicht die CDU/CSU. Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Wenn Sie mit einer Nachbesserungsposition nach Paris fahren wollen - das weiß Kollege Pflüger nur zu gut, das weiß auch Kollege Merz, nur die F.D.P. weiß es nicht -, dann brauchen Sie erst gar nicht loszufahren. Es ist doch völlig klar, dass das nur auf der Grundlage von Nizza geht. Nizza ist meines Erachtens besser, als Sie es hier darstellen. Ich kann Ihnen nur sagen: Auf der Grundlage der Ergebnisse von Nizza werden die nächsten Schritte möglich und die nächsten Ziele in der Osterweiterung wollen wir auch erreichen. ({7}) Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt ansprechen. Ich halte nichts davon - ich bitte Sie, auch das vielleicht in den Ausschussberatungen nochmals sorgfältig durchzudiskutieren -, bei den Übergangsvorschriften nach Ländern zu differenzieren, wie es Kollege Rühe vorschlägt. Daraus würde sehr schnell eine Debatte resultieren, die sich nicht an der Sache orientiert, sondern an dem nationalen Prestige: diskriminierend oder nicht diskriminierend. Davon halte ich nichts. Ich finde vielmehr den Vorschlag, den der Bundeskanzler in Weiden gemacht hat, seinen Fünf-PunktePlan für den freien Personenverkehr, durchdachter. Da geht es auch nicht darum, ob sich die Übergangsfrist über vier oder sieben Jahre erstreckt. Meine Position war immer - insofern finde ich das, was der Bundeskanzler vorgeschlagen hat, völlig richtig -: Es ist besser, eine längere Übergangsfrist zu wählen, um - bei gleichzeitiger hoher Flexibilität in der Überprüfung - Ängste abzubauen, denn diese Ängste müssen wir ernst nehmen. Erweisen sich diese Ängste als gegenstandslos und hat man entsprechend eng gefasste Überprüfungsklauseln - das ist der Vorschlag des Bundeskanzlers -, dann kann man die weitere Übergangsfrist ad acta legen. Genau auf dieser Grundlage kann man sich einigen. Anhand der Empirie, der konkreten Bedingungen und der eng gefassten Überprüfungsvorschriften kann man dann entscheiden, ob der Tatbestand gegeben ist, ob man tatsächlich noch weiter Sorge tragen muss oder ob die Sorgen schlicht und einfach gegenstandslos sind, sodass auf die weitere Übergangsfrist verzichtet werden kann. Da vertraue ich voll der Kommission, die das bisher auch in den anderen Erweiterungsprozessen hervorragend gemacht hat. Gleichzeitig sind wir der Meinung, dass einzelne Mitgliedstaaten ihren Arbeitsmarkt von Anfang an öffnen können, wenn sie dieses wünschen. Das ist dann deren Sache. Auch das ist ein Vorschlag des Bundeskanzlers. Ich finde, auf dieser Grundlage lassen sich die Ängste in unserem Lande - zusammen mit einer entsprechenden Strukturanpassungsmaßnahme für die Grenzregionen überwinden. Diese Bundesregierung hat sich der Osterweiterung verpflichtet. Am Anfang wurden wir mit einem gewissen Misstrauen beobachtet, aber dieses Misstrauen wurde völlig ausgeräumt. In Polen und anderswo weiß man heute sehr genau, dass es diese Bundesregierung ist, die die polnischen Interessen, die ungarischen Interessen, die tschechischen Interessen, auch die Interessen der baltischen Staaten voranbringt. ({8}) Wir wollen zum frühestmöglichen Zeitpunkt diese Erweiterung. Ich halte aber nichts davon, wenn Herr Rühe jetzt, nur weil wir vorsichtig sind, mit neuen Fristen kommt. Wir vertrauen hier auf den Beschluss von Helsinki. Die Fortschrittsberichte der Kommission werden zeigen, wann es so weit ist, dass konkretisiert werden kann, wann die Signatur unter die Verträge kommt. Dann muss ratifiziert werden, dann kann beigetreten werden. In Nizza haben die Europäer die Erwartung geäußert, dass wir bei der nächsten Europawahl im FrühsomBundesminister Joseph Fischer mer 2004 mit einer erweiterten Union rechnen können. Etwa um diesen Zeitpunkt herum wird es wohl sein, sagen die kundigen Auguren in Brüssel. Ich denke, wir sollten uns jetzt nicht auf Diskussionen über das Datum konzentrieren, sondern auf Fortschritte in der Sache. Genau das will die Bundesregierung. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Kollegen Uwe Hiksch, PDS-Fraktion, das Wort.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Erweiterung um die Staaten Mittelosteuropas ist für Europa und für die Europäische Union endlich der entscheidende Beitrag dazu, um erreichen zu können, dass Europa einen entscheidenden Schritt vorangeht, dass endlich die Spaltung überwunden wird. Wir, die PDS-Fraktion, wollen mithelfen, dass gemeinsam mit den Menschen Mittelosteuropas, mit den Menschen in Polen, in Tschechien, in Ungarn und in den baltischen Staaten daran gearbeitet wird, dass möglichst viele dieser Menschen die Chance bekommen, bereits zur Europawahl 2004 an den demokratischen Wahlen Europas teilzunehmen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden uns auch dafür einsetzen, dass die Diskussion über die Kopenhagener Kriterien und die Diskussion über den Acquis Communautaire eine wichtige Rolle bei den Beitrittsverhandlungen spielen und wir gemeinsam mithelfen können, solche Bedingungen zu schaffen, dass dieser Beitritt sozialverträglich funktioniert. Wir sollten aber bei der Diskussion über die Europäische Union nicht vergessen, dass Europa größer als das Europa der heutigen 15 Mitglieder und derjenigen Staaten, die beitreten wollen, ist. Die Menschen in der Ukraine, die Menschen in Russland, die Menschen in Weißrussland wollen natürlich von uns eine gemeinsame Antwort auf die Frage haben, wie wir im Rahmen des Erweiterungsprozesses der Europäischen Union mithelfen, dass Integration nicht an den Grenzen der Europäischen Union aufhört ({0}) und dass auch diese Staaten und Regierungen in die Entwicklungen Europas eingeschlossen werden. Die Menschen im ehemaligen Jugoslawien wollen natürlich von uns eine Antwort darauf bekommen, wie für die Staaten auf dem Balkan eine mittelfristige Beitrittsperspektive aussehen kann. Deshalb sagt die PDS deutlich, dass wir die zunehmende Militarisierung der Europäischen Union für einen falschen Schritt halten, weil sie die Wahrnehmung russischer Interessen und das Eingehen auf russische Befindlichkeiten erschwert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union bietet uns allen die große Chance auf Rückgewinnung des Primates der Politik. Während die Vernetzung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Westeuropa auf der einen Seite - Deutschland mitten drin - und den osteuropäischen Staaten auf der anderen Seite ständig voranschreitet, haben die Menschen und Regierungen in diesen Regionen ein Bedürfnis danach, dass nicht nur die wirtschaftlichen Verflechtungen vorankommen. Diese Regierungen, diese Staaten, diese Menschen wollen vielmehr auch an den demokratischen Entscheidungsprozessen der Europäischen Union teilnehmen. Wir sind der Überzeugung, dass die Europäische Union den Menschen in Polen, in Tschechien, in Ungarn und im Baltikum die Möglichkeit der Schaffung eines wirtschaftlichen Binnenmarktes bieten sollte. Darüber hinaus sollten sie bei der Entwicklung der Europäischen Union mitbestimmen. Wir sehen, dass die Erweiterung der Europäischen Union uns allen auch eine kulturelle Weiterentwicklung bringen wird. ({1}) Es ist nicht nur so, dass 16 Millionen Menschen der ehemaligen DDR, die einmal ein anderes Staats- und Politikverständnis hatten, Mitglied der Europäischen Union geworden sind. Es wird vielmehr so sein, dass über 100 Millionen Menschen Mitglied der Europäischen Union werden, Menschen, die in ihrem Leben schon einmal erfahren haben, dass politische Forderungen wie beispielsweise das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung und die Vorstellung, dass die Wirtschaft nicht sich alleine überlassen werden darf, sondern dass der Staat auch eine soziale Verantwortung hat, in Europa eine Rolle spielen müssen. Deshalb gehen wir davon aus, dass Diskussionen, wie sie beispielsweise die PDS führt, nämlich dass Europa eine soziale und ökologische Dimension haben muss, verstärkt durch die Menschen aus den mittelosteuropäischen Staaten geführt werden. Daher glauben wir, dass die Europäische GrundrechteCharta eine ganz neue Dynamik gewinnen wird. Wir glauben auch, dass Diskussionen in der Europäischen Union, wie sie beispielsweise von Ihnen, Herr Fischer, oder von Herrn Schäuble vor wenigen Jahren im Rahmen der Kerneuropa- bzw. Avantgardethese begonnen wurden, für die Menschen in den mittelosteuropäischen Staaten in die falsche Richtung gehen, weil die Menschen aus der Peripherie Europas endlich als gleichberechtigte Partner Mitglied der Europäischen Union werden wollen. Deshalb wird die PDS auch dafür einstehen, dass sich Avantgardevorstellungen in Europa im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit nicht durchsetzen können. Mit der Erweiterung der Europäischen Union wird sich das soziale Gefälle innerhalb der Europäischen Union weit über die bisherige soziale Situation hinaus verändern. Bisher erkennen wir vonseiten der PDS in keiner Weise, dass die Regierungen der Europäischen Union bzw. die rot-grüne Bundesregierung eine Antwort darauf haben, wie sozial-, beschäftigungs- und regionalpolitisch Verantwortung für diese unterschiedlichen Wohlstandsund Wirtschaftsentwicklungen übernommen werden kann. In der aktuellen Diskussion wird vor allen Dingen von Übergangsvorschriften gesprochen. Dies wird damit verbunden, dass über die Frage der Freizügigkeit der Menschen Mittelosteuropas diskutiert wird. Wir glauben - da hat Ministerpräsident Ringstorff völlig Recht -, dass man die Ängste der Menschen, dieses Nichtwissen, was aus der Erweiterung um Mittelosteuropa folgt, ernst nehmen muss. Wir als PDS glauben auch, dass wir eine aufklärerische Aufgabe haben. ({2}) Wir müssen deutlich machen, dass alle zwischenzeitlich von unterschiedlichen Regierungen und Institutionen sowie von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebenen Studien deutlich gemacht haben, dass es keinen Migrationsdruck in die Europäische Union geben wird und dass keine größeren Wanderungsbewegungen aus den mittelosteuropäischen Staaten zu erwarten sind. Deshalb sind wir der Überzeugung, dass eine Diskussion über Übergangsvorschriften vor allem im Bereich der Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerfreizügigkeit zunächst einmal keines der realen Probleme lösen wird, sondern dass dadurch lediglich versucht wird, in diesem Zusammenhang eine Aufschiebung von sieben Jahren, wie es beispielsweise der Bundeskanzler vorgeschlagen hatte, zu erreichen. Wir als PDS wollen deshalb deutlich machen, dass das Ernstnehmen der Ängste von Menschen auch etwas damit zu tun haben muss, dass sich in der Europäischen Union, in der realen Politik etwas ändert. Wir brauchen neue Politikziele, müssen beispielsweise darüber diskutieren, wie die Europäische Union eine demokratische Koordination zwischen Geld- und Fiskalpolitik erreichen kann. Es muss darüber geredet werden, wie Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik in den Mittelpunkt der Politik rücken. ({3}) Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel hat gemeinsam mit den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern in den Grenzregionen vorgeschlagen, ein Struktur- und Infrastrukturprogramm aufzulegen. Damit könnte man dazu beitragen, den Menschen in diesen Regionen Hoffnung zu geben. Ein solches spezielles Programm darf jedoch nicht nur - so wie es die CDU vorschlägt - auf das deutsche Grenzgebiet zielen, sondern muss die Grenzregionen sowohl in den Beitrittsländern als auch in Deutschland umfassen und auf alle europäischen Außengrenzen, seien sie in Österreich, in Deutschland oder der Slowakei, in Tschechien oder in Polen, ausgedehnt werden. ({4}) Darüber, liebe Kolleginnen und Kollegen, sollten wir sehr genau nachdenken, gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir hier im Deutschen Bundestag die Grundrechte-Charta fast einstimmig verabschiedet haben. Dort heißt es in Art. 15 Abs. 2 - ich zitiere -: Alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen. ({5}) Wir sollten deshalb darüber nachdenken: Wollen wir dieses ganz wichtige Recht, die menschliche Freiheit, wirklich einschränken, weil wir Ängste haben - deren Grundlage bisher durch keine Studie bewiesen worden ist -, oder sollte nicht vielmehr diese Grundrechte-Charta auch den Menschen Mittelosteuropas gelten? Ich bitte darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir die Diskussion über die Frage, wie Ängste abgebaut werden könnten, nicht einseitig verengen auf Übergangsvorschriften. Massenarbeitslosigkeit, fehlende Wohnungen, schlechte wirtschaftliche Bedingungen oder auch nur eine sich am Konjunkturhimmel abzeichnende Rezession dürfen eine Erweiterung um Mittelosteuropa, zu unseren Freunden in diesen Ländern, nicht verhindern. Deshalb bitte ich darum: Lasst uns darüber diskutieren, wie Politik verändert werden muss! Man darf nicht glauben, über Restriktionen könnten die Ängste der Menschen und manch schlechte Befindlichkeit überwunden werden. Besten Dank fürs Zuhören. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Dr. Christoph Zöpel, SPD-Fraktion.

Dr. Christoph Zöpel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002604, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltiger Friede in Europa - diese Vision ist mehr als 200 Jahre alt. Sie ist in bis heute unübertroffen gültiger Weise in den 90er-Jahren des 18. Jahrhunderts von Immanuel Kant formuliert worden, ({0}) in Preußen. Er hat in seiner Schrift über den ewigen Frieden auch die Bedingungen formuliert ({1}) für dieses Ziel, eine Gemeinschaft von republikanischen Demokratien, die die Menschenrechte achten. Nicht viel - außer schlechter und guter historischer Erfahrung - ist seitdem dazugekommen. Es macht Sinn, wenn man über diese größte geistige Leistung Preußens spricht, auch einzuordnen, wann Kant sie formuliert hat: nach den Erfahrungen mit den Kriegen Friedrich des Großen und während der Erfahrungen mit dem neuerlichen Missbrauch des Absolutismus im Inneren durch Friedrichs Nachfolger Friedrich Wilhelm II. Die Vision hat lange gebraucht, bis sie - nach den napoleonischen Kriegen, den bismarckschen Kriegen und zwei Weltkriegen - zur konkrete Utopie wurde. Nachhaltiger Friede in Europa als konkrete Utopie wurde aufgeschrieben in der Charta von Paris 1989. Aber damals wusste noch keiner genau, ob dies für den ganzen Bereich der Staaten, die sich an dieser Charta beteiligt haben, oder für einige zu einem wirklich realisierbaren Projekt werden würde. Jetzt, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, kann, glaube ich, kein vernünftiger Mensch daran zweifeln: Nachhaltiger Frieden für zunächst 500 Millionen Europäer ist ein realisierbares Projekt. ({2}) Von einem realisierbaren Projekt können wir sprechen, wenn wir historische Erfahrungen haben. Unsere historischen Erfahrungen sind: 370 Millionen Europäer haben es geschafft, dauerhaften Frieden für sich zu sichern. Kein Mensch kann sich einen Krieg wie die napoleonischen oder die bismarckschen Kriege mehr vorstellen. Eine weitere historische Erfahrung: Wenn das 370 Millionen Menschen schaffen, dann schaffen sie es gleichzeitig, ihren Wohlstand gemeinsam schneller zu steigern und soziale Probleme eher zu mindern als unter anderen Bedingungen. Wer hätte es vor 20 Jahren für möglich gehalten, dass Irland Einwanderungsland wird und die höchsten Wachstumsraten der EU hat? Zu den historischen Erfahrungen, die es erlauben, von einem realisierbaren Projekt zu sprechen, gehört auch, dass jeder, der vorurteilsfrei herangeht, feststellen wird: Die zwölf Staaten, mit denen derzeit die Europäische Union verhandelt, sind in der Lage, die Kriterien von Kopenhagen zu erfüllen und sich in ihrem staatlichen, parlamentarischen und administrativen Verhalten so darzustellen, dass sie den Umsetzungsprozess schaffen. Das alles wissen wir heute. Damit wird als Viertes nachhaltiger Frieden in Europa nun zu einer Verpflichtung politischer Moral. Wir reden manchmal unter fragwürdigen Gesichtspunkten über Moral in der Politik. Für mich ist Moral in der Politik ein realisierbares Projekt, und hier ist das Edelste der Aufklärung, das dann, wenn es möglich ist, auch umzusetzen. Wer sich daran auch nur durch Zögern schuldhaft nicht beteiligt, der handelt im Sinne von Demokratie nicht moralisch. ({3}) Erlauben Sie mir als Sozialdemokraten, dieses realisierbare Projekt politischer Moral mit einem Satz in Verbindung zu bringen, den ein sozialdemokratischer Bundeskanzler geprägt hat. Willy Brandt hat gesagt: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles andere nichts.“ ({4}) Ich würde das in dieser historischen Situation für 500 Millionen Europäer so konkretisieren: Die Europäische Union ist nicht alles, aber ohne diese Europäische Union ist alles andere nichts. ({5}) Was das praktisch bedeutet und was die Mitgliedstaaten der Europäischen Union jetzt schon tun können, das haben sie in Nizza gezeigt. Sie haben auf der Grundlage der Berichte der Kommission, vor allem der Berichte, die Günter Verheugen vorgelegt hat, ein Datum genannt. Sie haben gesagt: Wir hoffen und wir wollen, dass die ersten neuen Mitgliedstaaten im Jahr 2004 in der Europäischen Union sind und ihre Bürgerinnen und Bürger das nächste Europäische Parlament mit wählen können. Vermutlich wird das im Juni jenes Jahres der Fall sein. ({6}) Wenn diese sehr generelle Konklusion von Nizza umgesetzt wird und wir auf das schauen, was im Verwaltungshandeln der Europäischen Union zum Integrationsprozess geschieht, können wir sehr nüchtern folgende Fakten feststellen: Unter der Präsidentschaft Schwedens im ersten Halbjahr 2001 werden mit zehn der zwölf Staaten, mit denen verhandelt wird, alle Kapitel weit fortgeschritten verhandelt sein. Es gibt den weiteren Fahrplan, dass diese Verhandlungen nach und nach bis zum Ende der spanischen Präsidentschaft abgeschlossen werden. In der Situation so komplexer Verhandlungen - 15 Staaten verhandeln mit zwölf, und ich gebe Herrn Kollegen Rühe und anderen Recht, dass die einzelnen Regierungen und vor allem die Regierung des bevölkerungsreichsten EU-Landes, der Bundesrepublik Deutschland, in der Verantwortung sind - kann etwas passieren, nicht nur wegen der Nichtbereitschaft von Regierungen. Wahlsituationen sind besondere Situationen. Im Jahr 2002 finden in acht der insgesamt 27 Länder Wahlen statt. Das alles sollten Opposition wie Regierung - sie tun das auch - berücksichtigen. Dann können die Verhandlungen vielleicht im zweiten Halbjahr des Jahres 2002 zu Ende gebracht werden. Dann können wir ratifizieren und dann kann für viele Länder das Ziel des Beitritts bis zum Jahre 2004 erreicht werden. Die Formel „Es können nur Länder aufgenommen werden, die die Kopenhagen-Kriterien erfüllen“, ist so richtig, wie sie partiell überholt ist. Bei ehrlicher Einschätzung des Erreichten kann man sagen: Von den zwölf können es zehn schaffen. Wenn sie aber wegen dauerhafter Regierungskrisen beschließen, nicht mehr zu handeln, werden sie es nicht schaffen. Dann können wir hier in Deutschland oder in Frankreich zehnmal sagen: Wir möchten es aber. Dies gilt auch für Polen, wozu die Bundesregierung durch den Bundeskanzler gesagt hat: Wir möchten, dass Polen bei den Ersten ist. Ich füge aber auch hinzu: Ich sehe keinen Anlass dafür, dass irgendein Land der zehn von den zwölf in den nächsten Monaten bzw. Jahren so handeln würde, dass es nicht mehr beitreten könnte. Einige Risiken liegen auch bei uns. Es ist nicht europäisch im Sinne der 500 Millionen Menschen gedacht, immer nur zu sagen: Die anderen müssen es schaffen. Ohne die Bereitschaft und die Fähigkeit der 15 Mitgliedstaaten, zum Beispiel bezüglich der zukünftigen Agrarpolitik und der Fonds Entscheidungen zu treffen, die einigen unserer Bürgerinnen und Bürger wehtun, wird es nicht gelingen. ({7}) Zu sagen, es liegt bei den Beitrittskandidaten und nicht bei uns, etwa den Deutschen, den Franzosen, den SpaniDr. Christoph Zöpel ern oder Engländern, ist nicht mehr ehrlich und kann Ausdruck von Hochmut sein. Hochmut wäre moralisch nicht angemessen. ({8}) - Wissen Sie, keine Regierung ist so gut wie das von ihr selbst gesteckte Ziel. ({9}) Das galt schon für Willy Brandt und Konrad Adenauer. Die anderen will ich auslassen. ({10}) Ich habe sehr bewusst die konkreten Einwohnerzahlen genannt, weil zu dem, was notwendig ist, nämlich keine Ängste zu wecken, sondern sie nach Möglichkeit zu vermeiden, gehört, Fakten zu nennen. Deshalb noch einmal: 370 Millionen Bürgerinnen und Bürger gehören bereits jetzt zur Europäischen Union. Die zehn Länder, über die ich spreche, haben zusammen 70 Millionen Einwohner. 38 Millionen davon sind Polen und 32 Millionen verteilen sich auf neun weitere Staaten. Ich glaube, selbst nicht mit den Daten der Sozialökonomie vertraute Menschen wissen sofort: Wenn 70 Millionen zu 370 Millionen Einwohnern kommen, kann keine besondere Verwerfung eintreten. Das weiß jeder. Deshalb macht es immer wieder Sinn, diese Einwohnerzahlen gegeneinander zu stellen. Je mehr wir integrieren, umso gleichgültiger wird es, wie viele Bürokratien dazu kommen. Je mehr Politik vereinheitlicht wird, umso mehr wird der Einfluss der Bürokratien der einzelnen Staaten - sei es Deutschland, sei es Slowenien - zurückgehen, nicht aber die kulturelle Identität. Wenn wir über die Rechte der Mitgliedstaaten sprechen, sollten wir sehr sorgfältig vorgehen. Der Beitritt zur EU bedeutet für viele von ihnen, ihre kulturelle Identität zum ersten Mal ohne Angst vor anderen leben zu können. Ich konnte mich heute hierüber mit unseren Kollegen aus Slowenien austauschen. Die Europäische Union gibt Slowenien die Chance, eine über Jahrhunderte fast bewundernswerterweise erhaltene Sprache ungefährdet leben zu können. Das soll so bleiben. Auf der anderen Seite wird vieles, was bisher nationalstaatliche Bürokratien tun können, europäisiert. Man muss beide Seiten sehen. Aber es geht im Kern um die Menschen und um ihre kulturelle Identität. In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts werden 30 Millionen Rumänen und Bulgaren - Bulgaren und Rumänen könnte man vielleicht sagen - die Chance des Beitritts haben, wenn es dort so positiv weitergeht, wie es sich abzeichnet. Ich glaube, wir alle sollten schon jetzt jedes Vorurteil über Kroaten, Bosnier, Albaner und andere vermeiden und uns darauf vorbereiten, dass diese Staaten im Jahrzehnt darauf, wenn es dort nach demokratischen Wahlen demokratische und verantwortliche Regierungen geben wird, genauso wie die Slowenen Mitglieder der Europäischen Union werden können. ({11}) Das sind dann zusammen 500 Millionen Menschen. Dazwischen liegt ein Prozess von über zehn Jahren und damit auch die Chance der Gewöhnung. ({12}) Jetzt mache ich ganz bewusst eine Pause. Außer diesen 500 Millionen Menschen gibt es derzeit keine Nachbarn, die die Kopenhagen-Kriterien erfüllen oder kurzfristig erfüllen können. Das wird länger dauern. Es wird dann unsere Aufgabe sein, das Verhältnis zu diesen Nachbarn zu bestimmen: den Russen, den Ukrainern, den Türken, den Menschen im nördlichen Afrika und im Mittleren Osten. Ich habe mit dem israelischen Botschafter in diesen Tagen sehr intensiv darüber diskutiert: Wie nahe steht Israel der Europäischen Union? Und wo sind Punkte, in denen Israel aus einigen Gründen nicht mit der Union übereinstimmen möchte? ({13}) Ich nenne zwei Punkte: Die Kopenhagen-Kriterien müssen erfüllt werden. Zudem stellen sich Fragen der territorialen Ausdehnung Europas. Es wird darüber diskutiert werden müssen, was dieses Verhältnis bestimmt. Ich habe eine Bitte, weil es um moralische Verantwortung geht: Lassen Sie uns den Bürgern, mit denen wir reden, sagen: Jetzt können zusätzlich 70 Millionen Europäer zu uns kommen, dann 30 Millionen. Zurzeit stellt sich nicht die Frage, ob Türken in diesem Sinne europäische Bürger werden. Man muss davor jetzt keine Angst haben. Es stellt sich aber die Frage, wie das Verhältnis zu den Türken zu bestimmen ist, damit sie zumindest gute Nachbarn in Europa sind. Wenn sie tatsächlich selber entscheiden, Europäer in dem Sinne zu sein, dass sie in unserem Sinne, im Sinne der Aufklärung die Menschenrechte achten, dann sinken auch Ängste. Aber das ist ein Prozess des nächsten Jahrzehnts. Die Frage, ob 38 Millionen Polen hoffentlich 2004 Mitglieder der Europäischen Union sind, mit berechtigten Hinweisen auf die Nichtachtung der Menschenrechte in der Türkei zu verbinden, halte ich nicht für in Ordnung. ({14}) Auf dem Weg zu diesem Ziel gilt ein weiteres Prinzip. Gerade bei einem historischen Projekt sind Vorsicht und Behutsamkeit das Wesentliche. Vorsicht und Behutsamkeit bedeuten hier, auf berechtigte Ängste einzugehen und deutlich Verblendungen abzuwehren, die es nicht geben darf. Man muss sorgfältig vorgehen. Bei diesem Prozess der Integration kann ein Jahr mehr an Übergangsvorschrift besser als ein Jahr zu wenig sein, weil es den ehrlichen Menschen die Chance gibt, tatsächlich zu erkennen, dass ihre Ängste nicht berechtigt sind, und uns die Möglichkeit gibt, den Verblendeten zu antworten. Das ist besser, als unvorsichtig zu sein. Es gibt in jeder Gesellschaft - also auch in der europäischen - Menschen, deren sozialpsychologische Konstitution nicht die der Aufklärung ist. Immer wieder in der Geschichte - von Hitler bis Milosevic - gibt es Menschen, die dies ausnutzen und damit spielen. Zu dem verantwortlichen Prozess, den dauerhaften und nachhaltigen Frieden in Europa zu erreichen, gehört es, nicht mit den Menschen, die verblendet und der Aufklärung nicht innerlich verbunden sind, zu spielen. Dies zu vermeiden ist ein Teil unserer moralischen Verpflichtung. Herzlichen Dank. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun dem Kollegen Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten Mittel- und Südosteuropas ist politisch und wirtschaftlich für Europa notwendig und moralisch eine Bedingung für die Europäische Union. Die Erweiterung und auch der jetzige Erweiterungsprozess sorgen für Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung in Europa. Dieser Erweiterungsprozess ist auf der anderen Seite die größte Herausforderung der Europäischen Union seit ihrem Bestehen. Sie wird zu großen Veränderungen in allen Strukturen der Europäischen Union führen. Insgesamt kann man aber feststellen, dass der bisher beschrittene Weg ein Erfolgsweg ist. Er begann mit den Assoziierungsverträgen von 1990, mit dem historischen Datum des Europäischen Rates in Kopenhagen 1993 mit der Festlegung, dass Reformländer der Europäischen Union beitreten können, wenn sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen, welche in drei großen Komplexen festgelegt wurden. Der Europäische Rat in Luxemburg beschloss die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit sechs der mittel- und osteuropäischen Reformländer und Helsinki 1999 - ich hielt und halte das für richtig - und hat die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit den übrigen mittelund osteuropäischen Reformländern beschlossen. Besonders wichtig für den europäischen Erweiterungsprozess ist der Teil der Agenda 2000 gewesen, mit dem die so genannten Vorbeitrittshilfen beschlossen wurden, nämlich 45 Milliarden Euro für den Zeitraum 2000 bis 2006 für die Beitrittskandidaten zur Infrastrukturförderung und als Hilfe für die Beitrittspolitik dieser Länder. Bei allem Lob über die europäische Politik bezüglich des Einigungsprozesses muss ich auch - das fällt vielleicht der Opposition etwas leichter, obwohl ich weiß, dass einige Kollegen aus der Koalition das ähnlich sehen - auf einige Fehlentscheidungen der Europäischen Union in den letzten Jahren, insbesondere seit 1999, hinweisen, die teilweise eine wachsende Gefahr für den Zeitraum 2005/2006 bedeuten. 1999 blieb in Berlin bei der Verhandlung der Agenda 2000 unter der deutschen Ratspräsidentschaft die Agrarreform auf halbem Wege stecken. ({0}) Am Ende blieben bei der notwendigen Agrarreform drastische Einkommenseinbußen für deutsche und europäische Landwirte übrig und - ich nenne das den Sündenfall der Europäischen Union - erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union kam es zur Einführung einer Zweiklassengesellschaft: Das eine ist die Nobelklasse, zu der die alten und im Verhältnis zu den Reformländern reichen EU-Mitgliedsländer gehören, die sich die Direktbeihilfen für die Landwirtschaft genehmigen. Das andere ist die Holzklasse, zu der die Reformländer gehören. Wenn sie Mitglieder geworden sind, wird es keine Direktbeihilfen für die Landwirtschaft geben. Diese Entscheidung birgt zwei schwerwiegende Probleme: Erstens. Solche Entscheidungen haben eine fatale psychologische Wirkung in den Reformländern. Wer sich mit der Politik der Reformländer beschäftigt, weiß, unter welchem Druck dort die Politiker und Regierungen stehen. Sie müssen drastische und unpopuläre Reformen durchführen, für die man normalerweise gejagt wird. ({1}) Wenn dann von allen Staats- und Regierungschefs auch noch der Eindruck vermittelt wird, dass sie trotz aller Anstrengungen die zweite Klasse bleiben werden, wird das den Reformeifer in diesen Ländern nicht fördern. ({2}) Zweitens birgt der Beschluss von Berlin unter deutscher Ratspräsidentschaft ein schwer kalkulierbares finanzielles Risiko. Jeder, der sich damit beschäftigt, weiß, dass die Zweiteilung der EU-Agrarpolitik bezüglich der Beitrittsländer und der Stammländer nach 2006 mit Sicherheit nicht aufrechterhalten werden kann. Polen akzeptiert das - in diesem Punkt verstehe ich die polnische Forderung - schon jetzt nicht. Es ist bis jetzt völlig unklar, zu welchen finanziellen Folgen es führen kann, wenn im Jahre 2006 bei der neuen finanziellen Vorausschau ein anderes System eingeführt werden sollte. ({3}) - Es gibt in dieser Frage im Moment keine Überlegungen. Als nächsten Punkt möchte ich den Vertrag von Nizza kritisch bewerten. Insgesamt war er nicht ausreichend erfolgreich. Gestartet ist die Europäische Union, auch die Bundesregierung - wir als Opposition haben das unterstützt und werden diese Politik weiter unterstützen -, mit dem Ziel, die Europäische Union in Nizza erweiterungsfähig zu machen. Aus der großen Reform wurde ein Reförmchen. Das Resultat von Nizza ist insgesamt für die Erweiterungsfähigkeit der Europäischen Union mangelhaft. Mir ist wohl klar, dass die Rahmenbedingungen für Nizza besonders schwierig waren; denn in Nizza sollten die Reformen beschlossen werden, die schon in Maastricht und in Amsterdam verschoben worden sind. Es war klar, dass es bei den Verhandlungen über nationale Besonderheiten und Eitelkeiten in Nizza ans Eingemachte, ans Mark gehen würde. Trotzdem muss man feststellen: Das Ergebnis ist nicht ausreichend. Besonders schwerwiegend finde ich, dass es in mehreren Punkten Fehlentscheidungen gibt, die die Gefahr bergen, dass der Erweiterungsprozess in einigen Jahren ins Stocken kommt. Damit komme ich auf die faktische Nichteinführung der Mehrheitsabstimmung im Bereich der Struktur- und Kohäsionsfonds zu sprechen. In Nizza wurde festgeschrieben, dass die Mehrheitsentscheidung bei den Struktur- und Kohäsionsfonds frühestens im Jahr 2007 und - um ganz sicher zu gehen - erst nach Beschlussfassung über die neue finanzielle Vorausschau für den Zeitraum 2007 bis 2013 eingeführt wird. Das heißt: Wir haben faktisch frühestens im Jahr 2014 Mehrheitsentscheidungen in diesen sensiblen Politik- und Finanzbereichen. Damit ist nahezu völlig unklar, wie die Struktur- und Kohäsionsfonds im Zusammenhang mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Reformländer überhaupt finanziert werden können. Nach der NizzaRegelung müssen die jetzigen Empfänger von Zuweisungen aus den Struktur- und Kohäsionsfonds freiwillig auf einen Großteil ihrer Subventionen verzichten, um Mittel für die wirklich strukturschwachen, armen Beitrittsländer freizubekommen. Nach allen bisherigen Erfahrungen solcher Finanzrunden - auch in Berlin - müssen wir davon ausgehen, dass dies nicht oder nur in viel zu geringem Umfang gelingen wird. Damit droht uns im Jahre 2005 eine Zangenbewegung, da die Mittel für die Beitrittsländer bereitgestellt werden müssen; diejenigen, die jetzt Mittel erhalten, werden nicht darauf verzichten, und somit muss der Finanzrahmen der Europäischen Union ausgeweitet werden. Dies bedeutet in der Folge höhere Beiträge für die Länder, insbesondere Deutschland, die ohnehin schon durch die ungleiche Nettolastenverteilung besonders betroffen sind. Ich vermute, der Finanzminister würde mir zustimmen, wenn er hier wäre. Die Zangenbewegung wird darin bestehen, dass diejenigen, die etwas bekommen, nicht verzichten und die anderen, die mehr zahlen müssen, nicht mehr zahlen können oder wollen. Somit besteht die Gefahr, dass in diesem Spagat der gesamte Beitrittsprozess - möglicherweise noch während der Ratifizierung von Beitritten neuer Länder - ins Stocken kommt. Bisher hat sich noch niemand Gedanken darüber gemacht, wie diese Zeitbombe entschärft werden könnte. Wir werden als Opposition besonderen Wert darauf legen, dass über diese Frage schon jetzt nachgedacht wird, um es nicht im Jahre 2005 oder 2006 zu einem Crash kommen zu lassen. ({4}) Ich möchte noch kurz auf einen Beschluss von Nizza eingehen, den ich nicht verstehen kann. Er wird materiell glücklicherweise keine besonderen Auswirkungen haben, ideell stellt er aber eine Fortsetzung des Sündenfalls, der in Berlin unsäglich begonnen wurde, dar. Es handelt sich um den Beschluss hinsichtlich der Mandatsverteilung im Europäischen Parlament. Die Staats- und Regierungschefs haben beschlossen - irgendwann in der Nacht, ich weiß es nicht genau -, von dem bisher gültigen Grundprinzip, die Mandatsverteilung im Europäischen Parlament nach der Einwohnerzahl auszurichten, abzurücken. Jetzt soll das anders werden. So sollen zum Bespiel Ungarn und die Tschechische Republik zwei Mandate weniger erhalten als Belgien und Portugal, obwohl sie jeweils mehr Einwohner als diese Länder haben. Auch hier zeigt sich der unsägliche Trend: First Class für die alteingesessenen EU-Mitgliedsländer und Holzklasse für die Reformländer. Diese Entscheidung halte ich für peinlich. Sie wirft kein gutes Licht auf die Verfasstheit der Europäischen Union und der Staats- und Regierungschefs, einschließlich des Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland. ({5}) Um nicht nur zu kritisieren, will ich sagen, dass in Nizza auch gute und wichtige Beschlüsse gefasst wurden. Dabei möchte ich auf einen kurz eingehen, weil heute noch über zwei Anträge zu diesem Thema beraten wird. Es geht darum, dass die Kommission beauftragt worden ist, ein Grenzlandförderprogramm bzw. ein Aktionsprogramm zur Grenzlandförderung vorzuschlagen. Jeder, der sich mit der besonderen Problematik unserer Grenzregionen - im Wesentlichen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Bayern gelegen ({6}) - Berlin nicht unbedingt, vielleicht Brandenburg, aber Berlin gehört ja irgendwie zu Brandenburg - beschäftigt, weiß, dass eine besondere Förderung wichtig ist. Es gibt bisher schon Förderprogramme, die ein guter Ansatz sind, aber nicht ausreichend sind. Eine besondere Berücksichtigung in einem solchen Aktionsprogramm ist wichtig. Ich möchte darauf hinweisen: Ich höre in der letzten Zeit - ich habe es bisher noch nicht lesen können -, dass innerhalb der Europäischen Kommission in Arbeitsgruppen auf Ratsebene darüber nachgedacht wird, die Mittel für das Aktionsförderprogramm lediglich durch Umschichtung aus dem jetzigen Interreg-Programm aufzubringen. Eine solche Lösung wäre für uns völlig inakzeptabel. Das Interreg-Programm muss in der jetzigen Form bestehen bleiben und für das Aktionsförderprogramm müssen zusätzliche Mittel zur Förderung dieser Grenzregionen bereitgestellt werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Christian Sterzing vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich der Opposition für ihre Große Anfrage Dank sagen. Natürlich möchte ich auch der Regierung für ihre Antwort auf diese Große Anfrage Dank sagen; denn es war eine ungewöhnlich umfangreiche Große Anfrage und dementsprechend auch eine ungewöhnlich umfangreiche Antwort. Dahinter steckt viel Arbeit. InsoMichael Stübgen fern haben wir eine gute Grundlage nicht nur für die jetzige Debatte, sondern auch für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema „Erweiterung der Europäischen Union“. Alle großen Worte zur Erweiterung der Europäischen Union sind eigentlich schon gesagt worden, auch heute, so zum Beispiel die Stichworte von der historischen Chance oder der historischen Herausforderung, von unserer Verpflichtung und Verantwortung, von der Rückkehr nach Europa und von den Chancen für Gesamteuropa. Es ist natürlich wichtig, immer wieder an diese Perspektiven und daran zu erinnern, dass all die konkreten Probleme, die wir zu erörtern haben und über deren Lösung wir politisch streiten, in diesem Kontext zu sehen und in diesen zu stellen sind. Das heißt, dass wir auf der einen Seite natürlich die Ängste und die Sorgen vieler Menschen gerade in den Grenzregionen ernst nehmen müssen, dass wir uns aber auf der anderen Seite vor dem Hintergrund der historischen Perspektive dagegen wehren müssen, dass die Erweiterung mit bilateralen Problemen überladen bzw. überlastet wird oder dass sogar neue Hürden für die beitrittswilligen Länder aufgebaut werden. Das darf nicht passieren. ({0}) Insofern ist der Zweck der heutigen Debatte und der Auseinandersetzungen über die Erweiterung, immer wieder der Stimmung entgegenzuwirken - darauf wurde schon hingewiesen -, die die Probleme als so gewaltig erscheinen lässt, dass die historische, gesamteuropäische Perspektive in den Hintergrund gedrängt wird, und auch der Stimmung entgegenzuwirken, die manchmal den Anschein erweckt, dass die Probleme, die im Kern eigentlich Übergangsprobleme sind, nur zu bewältigen seien, wenn wir die Erweiterung weiter hinausschieben würden. Damit würden wir der historischen Notwendigkeit nicht gerecht. Zwei Bemerkungen scheinen mir im Rahmen der Erweiterungsdiskussion wichtig zu sein. Erster Punkt. Ich möchte auf den dynamischen Prozess hinweisen. Wir reden im Zusammenhang mit den Beitritten immer nur von einem Datum im Kalender, an dem sich der Beitritt der entsprechenden Länder vollziehen wird. Aber der Beitrittsprozess läuft schon lange. Er hat schon zu erheblichen Veränderungen und Strukturanpassungsprozessen geführt. Diese sind im Wesentlichen positiv verlaufen. Es erscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, ebenso wie darauf, dass das Datum des Beitritts nur im europäischen Gesamtprozess zu sehen ist. Der zweite Punkt betrifft das Stichwort „politische Steuerungsfähigkeit“. Vielleicht gibt es einen geheimen oder verborgenen Zusammenhang zwischen BSE-Krise und Erweiterung. Ich glaube, dass viele Menschen das Vertrauen in die politische Steuerungsfähigkeit und Problemlösungsfähigkeit der EU verloren haben. Insofern ist es wichtig, dass wir dem dadurch verursachten Akzeptanzverlust in der Bevölkerung entgegenwirken, indem wir den Erweiterungsprozess mit seinen Übergangsproblemen ernst nehmen und deutlich machen, dass wir auch über politische Instrumente verfügen, um mögliche Probleme in den Griff zu bekommen. Der Hinweis auf die Perspektiven und Veränderungen ist wichtig. Ich möchte das an zwei Bereichen deutlich machen, und zwar zum einen an der Umweltproblematik und zum anderen an der Frage der Freizügigkeit. Zum Stichwort Perspektiven: Mit der Erweiterung besteht die große Chance, dass die Umweltqualität in Gesamteuropa durch die Übernahme des umweltrechtlichen Besitzstandes durch die Beitrittsländer nachhaltig verbessert wird. Das ist ein Vorteil, und zwar nicht nur für die Menschen in den Beitrittsländern, sondern auch für die Menschen in den Staaten, die schon jetzt Mitglied in der Europäischen Union sind. Darauf gilt es hinzuweisen. Das Ziel ist uns allen klar, nämlich eine möglichst schnelle und vollständige Übernahme des umweltrechtlichen Acquis zu erreichen. Dabei ist uns natürlich bewusst, dass einer solchen schnellen Übernahme auch Grenzen gesetzt sind. In Studien wird davon ausgegangen, dass 120 Milliarden Euro notwendig sind, um dem Investitionsbedarf im Umweltbereich Rechnung tragen zu können. Insofern gibt es auch hier eine Gratwanderung, den Versuch, auf der einen Seite den Interessen an einem zügigen Beitritt, an einer schnellen Übernahme Rechnung zu tragen, auf der anderen Seite aber die Menschen, die Beitrittsstaaten nicht zu überfordern. Wir müssen in diesem Zusammenhang aber deutlich sagen, dass es bestimmte Bereiche gibt, in denen wir nicht großzügig sein können. So darf es unseres Erachtens in der Frage der Atomkraftwerke keinen Sicherheitsrabatt geben. ({1}) Wir unterstützen alle Bemühungen, zu gemeinsamen Energiestrategien mit Stilllegungsplänen und Maßnahmen zur Erneuerung des Energiesektors in den Beitrittsländern zu kommen. Wir betrachten die Initiative der Bundesregierung bei der EBRD, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, mit großer Sympathie. Wir unterstützen die Bemühungen, einen Fonds zur Finanzierung der Stilllegung von AKWs einzurichten. Es gibt eine klare Linie, die deutlich macht, dass es in zentralen Bereichen keine Rabatte, keinen Nachlass geben darf. Es darf nicht zu dem kommen, was wir mit dem Stichwort „Umweltdumping“ bezeichnen. Der zweite Bereich ist der der Freizügigkeit. In diesem Bereich stellen wir meiner Ansicht nach sehr deutlich unsere politischen Steuerungsfähigkeiten unter Beweis. Die Vorschläge, die auf dem Tisch liegen, reichen von einem völligen Verzicht auf irgendwelche Fristen und einem Allesdem-Markt-Überlassen über die Forderung nach Fristen von zehn und mehr Jahren bis hin zu der weitestgehenden Forderung, eine Freizügigkeit erst dann zuzulassen, wenn das Lohnniveau weitgehend angeglichen ist. ({2}) Ich glaube, dass die aktuell diskutierten Vorschläge sowohl der Bundesregierung als auch der Kommission die erforderliche Flexibilität und politische Steuerungsfähigkeit unter Beweis stellen. Es geht darum, der Ungewissheit der Prognosen Rechnung zu tragen und Interessen auszugleichen. Das heißt, es muss auch die Perspektive der Beitrittsländer gesehen werden, die nicht wollen, dass wir ihre Märkte für uns öffnen, dass aber ihre Menschen keine Freizügigkeit genießen dürfen. Insofern ist ein flexibles Übergangssystem das Entscheidende. ({3}) Das ist das, was der Bundeskanzler angekündigt hat. Das ist das, was das Optionenpapier der Kommission als - meiner Einschätzung nach - realistische Lösung vorsieht. Es sollten also keine festen Fristen, sondern flexible Überprüfungszeiten vorgesehen sowie regionale und sektorale Differenzierungen ermöglicht werden. All dies erscheint mir sehr wichtig, um auf mögliche Probleme, die wir alle nicht genau prognostizieren können, adäquat reagieren zu können. Insofern ist es völlig unangemessen, wenn Sie, Herr Haussmann, auf die sieben Jahre, die in der Rede des Herrn Bundeskanzlers genannt worden sind, starren. Es empfiehlt sich, nicht immer nur Überschriften in Zeitungen zu lesen, sondern sich Reden und Vorschläge vollständig anzuschauen. Wenn Sie das tun, dann werden Sie feststellen, dass Flexibilität das entscheidende Stichwort bei den Vorschlägen der Bundesregierung und auch Leitlinie für das ist, was die Kommission im Augenblick vorschlägt. Insofern geht das, was die Bundesregierung hierzu vorschlägt, meiner Ansicht nach in die richtige Richtung. Damit erhalten wir uns die Fähigkeit zu politischer Steuerung und die Möglichkeit, die Interessen der Menschen bei uns, aber auch in den Beitrittsländern angemessen zu berücksichtigen. Wenn wir, wie in dieser Debatte, darin übereinstimmen, dass die Chancen der Erweiterung erheblich überwiegen und wir alles tun müssen, um diese Chancen zu optimieren und die Risiken zu minimieren, dann haben wir auch eine gute Chance, der wachsenden Skepsis in der Bevölkerung gegenüber diesem Erweiterungsprozess entgegenzuwirken. Ich glaube, wir müssen den Menschen ganz deutlich machen: Die zukünftigen Probleme wären ohne die Erweiterung viel größer. Wir hätten viel mehr Anlass zu Sorge und zu Zukunftsängsten, wenn es diesen Erweiterungsprozess nicht gäbe. Vielen Dank. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat die Kollegin Gudrun Roos von der SPD-Fraktion das Wort.

Gudrun Roos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003413, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Erweiterung der Europäischen Union - darin sind wir uns einig - eröffnet vielfältige Chancen für beide Seiten, für die Beitrittsländer und für die Mitgliedstaaten. So bietet sich die einmalige Gelegenheit, eine gesamteuropäische Umweltpolitik zu gestalten; Herr Sterzing hat das bereits gesagt. Dies wird positive Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten haben und kann das politische Gewicht der EU in der internationalen Umweltpolitik stärken, was nicht nur angesichts der weltweiten Klimaproblematik dringend geboten ist. Die europäische Umweltpolitik ist kein abgeschlossenes Projekt. Zwar fordern wir von den Beitrittsstaaten zu Recht, dass sie den Umweltschutz in andere Politikbereiche integrieren oder nach den Kriterien der Nachhaltigkeit wirtschaften, wir müssen aber auch feststellen, dass die Erledigung dieser Hausaufgaben in den Mitgliedstaaten teilweise schon lange vor sich hergeschoben wird. ({0}) Wie in der Energiepolitik - spätestens seit der Katastrophe von Tschernobyl, wenn auch zögerlich - erneuerbare Energien marktfähig gemacht werden und wir seither an der Energiewende arbeiten, so stehen nun auch in der Verkehrs- und der Landwirtschaftspolitik umweltverträgliche, nachhaltige Lösungen ganz oben auf der Prioritätenliste der Politik. ({1}) Deshalb unterstützen wir die Beitrittsstaaten zu Recht dabei, die erheblichen Sicherheitsdefizite in Auslegung und beim Betrieb von Atomkraftwerken zu beseitigen und drängen auf die Stilllegung hochriskanter Reaktoren. ({2}) Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir, dass ich - angeregt durch die aktuelle Diskussion - den Bereich der Landwirtschaft als Beispiel für europäische Umweltpolitik im Lichte der Erweiterung anspreche. Die mit annähernd der Hälfte des EU-Haushalts hoch subventionierte Agrarproduktion hatte mit Nachhaltigkeit oder Umwelt- und Naturschutz sehr wenig zu tun. ({3}) Schon lange vor der Verbreitung der Maul- und Klauenseuche, der Infizierung von Kühen mit Tuberkulose, der Mästung von Schweinen mit Hormonen oder der Ausbreitung von BSE war die Aufzucht von Tieren für unsere fleischlastige Ernährung durchaus nicht artgerecht und nicht naturgemäß. ({4}) Was jahrzehntelange Kritik an einer verfehlten Subventionspolitik der Europäischen Union nicht vermocht hat, konnte infolge der Verunsicherung der europäischen Konsumentinnen und Konsumenten erreicht werden - allzu spät. ({5}) Wer in den letzten Monaten nicht nur über Alternativen zum täglichen Fleisch auf der eigenen Speisekarte nachgedacht hat, sondern auch über dessen bisherige Produktions- und Verteilungsbedingungen, dem wurde klar: Es geht auch um andere Verhaltensweisen, um eine andere Lebensweise. Es geht um einen umweltgerechteren Lebensstil der Menschen, der damit einen Beitrag zu artgerechter Tierhaltung leistet. Ich hatte es zu Beginn gesagt: Die Landwirtschaft ist nur ein sinnfälliges aktuelles Beispiel. Diese Krise hat jeder und jedem klargemacht: Der unbegrenzte Verbrauch von Ressourcen, die Verschwendung von Rohstoffen und die Missachtung der Natur sind nicht nur nicht umweltschonend, sondern für die Menschen auf Dauer einfach unbekömmlich. Was ist es für ein Glück, auch für die Beitrittsstaaten, dass dieser Umdenkungsprozess in der europäischen Politik nicht erst nach dem Beitritt, sondern jetzt begonnen hat! Die Chancen, die sich damit auftun, sollten wir gemeinsam und in einem viel intensiveren Dialog als bisher nutzen, und das in vielen Bereichen: in der Industriepolitik, in der Verkehrspolitik, in der Energiepolitik und natürlich in der Umweltpolitik. Es gilt, verstärkt eine Politik zu betreiben, die auf zukunftsverträgliches Wachstum ausgerichtet ist, die ressourcenschonende Produktionsweisen unterstützt und die Nutzung regenerativer Energien sowie kurze, sinnvolle Verteilungs- und Vertriebswege für ökologisch vorteilhafte Produkte fördert. ({6}) Wir wissen, dass der umweltpolitische Handlungsbedarf in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern zwar besonders hoch ist; ({7}) aber gleichzeitig sind die Naturräume bei weitem nicht so zerschnitten, zersiedelt und versiegelt wie in der EU. ({8}) In diesen Ländern liegen zahlreiche einzigartige, schützenswerte Naturflächen. ({9}) Eine Verstärkung des Dialogs kann verhindern, dass in den Beitrittsländern die umweltpolitischen Fehler der EU-Vergangenheit wiederholt werden. Die gezielte Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien kann dabei eine große Hilfe sein. Dazu gehört vordringlich eine schnellere Vernetzung der Umweltbehörden der Mitgliedstaaten untereinander und eine schnellere Vernetzung der Umweltbehörden mit den Beitrittsländern sowie eine umfassende Information der Bürgerinnen und Bürger, abrufbar per Internet. Fort- und Weiterbildung in diesem Bereich sollten eine hohe Priorität erhalten. Wir alle wollen eine stärkere Einbeziehung der Bevölkerung in diesen Prozess. Wir brauchen einen intensiveren Wissensaustausch zwischen örtlichen Organisationen in den Mitgliedstaaten und zwischen den örtlichen Organisationen in den Kandidatenländern. Daher sollten Nichtregierungsorganisationen in den Bereichen Umweltschutz, Gesundheit und Verbraucherschutz vor allem beim Aufbau und bei der Pflege von Umweltnetzwerken finanziell und organisatorisch effektiver unterstützt werden. Die wirkungsvollste Art des länderübergreifenden politischen Dialogs ist jedoch die persönliche Begegnung der Menschen; wir alle wissen das. Begegnungen können wertvolle Erkenntnisse vermitteln und nachhaltig vertrauensbildend sein. Wir sollten sie auf jeder Ebene unterstützen und wann immer möglich selbst wahrnehmen. Danke. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Kollegin Roos, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich gratuliere Ihnen dazu, auch weil Sie gleich zu Beginn Ihre Redezeit eingehalten haben. Herzlichen Glückwunsch! ({0}) Nun erteile ich dem Kollegen Klaus Hofbauer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Die Erweiterung oder, besser gesagt, die Einigung der Europäischen Union ist ein Projekt von historischer Dimension. Die Aufnahme von Staaten Mittelund Osteuropas in die Union gewährt die dauerhafte Sicherung des Friedens, der politischen Stabilität und des Wohlstandes in Europa. Beim Gipfel in Nizza stand die Osterweiterung im Mittelpunkt der Verhandlungen. Bei weitem nicht alle Erwartungen - darüber sind wir uns alle klar - wurden erfüllt. ({0}) Aus Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist eines der erfreulichen Ergebnisse, dass die Vereinbarung des Post-Nizza-Prozesses in Gang gebracht wurde. Für die Akzeptanz der EU ist es zwingend geboten, die Verträge zu vereinfachen, transparent zu gestalten und mit klaren Verantwortungszuweisungen zu versehen. ({1}) Hinzu kommt, dass wir auch eine klare Verlagerung von Kompetenzen nach unten anstreben müssen. ({2}) Mit diesem Auftrag der Kompetenzabgrenzung wird eine zentrale Forderung der CDU/CSU-Fraktion und insbesondere unseres bayerischen Ministerpräsidenten, Edmund Stoiber, erfüllt. Lange Zeit - dies möchte ich deutlich feststellen - hat sich die Bundesregierung unserer Forderung widersetzt. Ein zweiter großer Erfolg von Nizza ist, dass die Kommission beauftragt wurde, ein EU-Programm zur Förderung der Grenzregionen vorzulegen. Die CDU/CSUFraktion hat vor wenigen Monaten einen entsprechenden Antrag eingebracht. ({3}) Ich bedauere sehr, dass die rot-grüne Koalition aus rein parteipolitischen Gründen diesen Antrag ablehnt. Ein eigener Antrag der Koalition wurde erst aufgrund unserer Initiative vorgelegt. Er ist vage formuliert und ohne jegliche konkrete Aussage. ({4}) Eine weitere entscheidende Voraussetzung für das Gelingen der Osterweiterung ist die Vereinbarung von konkreten Beitrittsmodalitäten, die die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen infolge der Erweiterung mindern und - das ist unsere Meinung - total ausschließen müssen. Warum brauchen wir diese Übergangsregelungen? Der entscheidende Grund dafür ist, dass das Lohn- und Wohlstandsgefälle auch nach dem Beitritt bestehen bleibt. In einem Punkt bin ich sehr realistisch: Dieses Gefälle hat auch positive Seiten, die wir nutzen sollten und die insbesondere im Grenzland genutzt werden. Durch die so genannte Mischkalkulation können nämlich Arbeitsplätze bei uns gesichert und erhalten werden. ({5}) Diese Chance müssen wir nutzen. Das macht die Entscheidung, Übergangsregelungen zu schaffen, etwas schwerer. Es wird sehr viel von Migration gesprochen. Erlauben Sie mir, das Problem der Tages- und Wochenpendler, das sich in den Grenzregionen ergibt und das wir besonders berücksichtigen müssen, in die Diskussion einzubringen. Eine Schulklasse in meiner Heimatstadt Cham hat eine Umfrage zum Stand der Osterweiterung durchgeführt: 48 Prozent der Bürgerinnen und Bürger akzeptieren die Osterweiterung. Wenn wir jetzt noch klare Antworten auf die Fragen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, zur Kriminalität, zur Landwirtschaft und zum Umweltschutz geben, dann wird die Akzeptanz sprunghaft nach oben steigen. Diese Chance müssen wir nutzen. Darin liegt die Herausforderung. ({6}) Ich möchte ein ganz konkretes Beispiel aus der Praxis anführen, wie wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit gestalten können: Seit ungefähr zehn Jahren, nämlich seit Öffnung der Grenzen, kennen wir in den Grenzregionen die so genannte Grenzgänger-Regelung. Ich persönlich bin der Meinung, dass sich diese Regelung in der Praxis bewährt hat. Unterziehen wir diese Regelung einer kritischen Beurteilung! Arbeiten wir die Vorteile, Chancen und Möglichkeiten, aber auch die Schwächen heraus! Entwickeln wir eine Übergangsregelung! ({7}) Ich möchte an dieser Stelle ein Anliegen des Mittelstandes und des Handwerks ansprechen. Ich habe vorhin gesagt, dass für manche Unternehmen, insbesondere im produzierenden Bereich, die Chance in der Mischkalkulation liegt. Mittelständische Betriebe, die nicht produzieren und die insbesondere im Dienstleistungsbereich tätig sind, können dies aber nicht tun, weil sie die Arbeit nicht auslagern können. Deswegen fürchten diese Betriebe, dass sie erhebliche Schwierigkeiten bekommen werden. Mir ist bewusst, dass das Thema „Übergangsfristen“ kritisch diskutiert wird. Ich halte es in diesem Zusammenhang nicht für richtig, einfach eine Zahl in den Raum zu stellen. Durch die Rede des Herrn Bundeskanzlers ist ein Übergangszeitraum von sieben Jahren in das Bewusstsein der Bevölkerung gelangt. Die Menschen sind jetzt der Meinung, die Probleme würden um sieben Jahre verschoben und sie würden erst dann anfangen. ({8}) Dies ist natürlich eine falsche Interpretation, wie sich eine Übergangsregelung auswirkt. Wegen der Sorgen der Bevölkerung brauchen wir Übergangsregelungen, die länderspezifisch differenziert sind, die ständig überprüft werden und die in einem überschaubaren Zeitraum auf Null zurückgefahren werden. Nur so können sie überhaupt Sinn machen. ({9}) Erlauben Sie mir eine Schlussbemerkung. Als Abgeordneter eines Wahlkreises, der unmittelbar an der tschechischen Grenze liegt, möchte ich deutlich feststellen, dass es schon sehr viele Aktivitäten gibt. Ich nenne beispielsweise die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Die Menschen, die sich hier engagieren, sind die Wegbereiter und die Botschafter für die Osterweiterung, ob es die Kommunalpolitiker, die Schulen oder die Euregios sind. Man könnte noch viel mehr aufzählen. ({10}) Schlussbemerkung: Nutzen wir die Chancen, kehren wir aber die Probleme und die Sorgen der Menschen nicht unter den Tisch! Wir müssen die Menschen mitnehmen. Wenn uns dies gelingt - nicht mit Plakaten, sondern mit konkreten Aktionen -, dann wird die Osterweiterung erfolgreich abgeschlossen werden. Danke schön. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich dem Kollegen Winfried Mante, SPD-Fraktion, das Wort.

Winfried Mante (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, am Ende der Debatte kann man mit Leidenschaftslosigkeit, aber doch mit Genugtuung feststellen, dass bei der Bewertung der Beitrittsfolgen für Deutschland und Europa trotz einiger Gegensätze im Detail und auch einiger Polemik, die dazugehört, in den wesentlichsten Punkten quer durch die Parteien große Übereinstimmung herrscht. ({0}) Das sieht man auch an den vorliegenden Anträgen, wenn man sie sich durchliest. Viele werden es nicht getan haben, aber ich habe es getan. Sie zeigen: Die Erweiterung wird nicht nur politische Stabilität und Wohlstandsgewinne in den Beitrittsländern bringen, nein, auch die Europäische Union und insbesondere Deutschland werKlaus Hofbauer den zu den Gewinnern einer größeren europäischen Gemeinschaft zählen. Auch unsere Regionen an den Grenzen zu Polen und Tschechien, die heute besonders in der Diskussion waren - auch ich komme, wie mein Kollege Hofbauer, aus einer Grenzregion, nämlich Brandenburg -, werden, auf Dauer betrachtet, zu den Gewinnern zählen; denn sie werden sich nachhaltig positiv entwickeln. Natürlich ist klar, dass insbesondere diese Grenzregionen durch die Erweiterung zunächst einem verstärkten Anpassungsdruck ausgesetzt werden, der die vorhandenen Strukturschwächen noch verstärken könnte. Das ist uns nicht verborgen geblieben und das sorgt unsere Bürgerinnen und Bürger in diesen Regionen zu Recht; denn sie befürchten, dass der noch nicht abgeschlossene Prozess der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West einen Abbruch erleiden könnte. Wir Sozialdemokraten nehmen diese Sorgen ernst. Deswegen wollen wir, dass sich die Grenzregionen vor den ersten Beitritten für ein erweitertes Europa fit machen. ({1}) Soweit die Regionen und die Wirtschaft dazu aus eigener Kraft nicht in der Lage sind, muss die Europäische Union, müssen Bund und Länder gemeinsam und abgestimmt handeln. Bereits jetzt steht den Grenzregionen bis 2006 ein breites Spektrum strukturpolitischer Instrumente zur Verfügung. Hier sind sicher Verbesserungen hinsichtlich der Erhöhung der Flexibilität und Effizienz sowie der Koordinierung nötig und möglich. Aber ich halte eine spezifische Stärkung dieser Instrumente für genauso erforderlich. ({2}) Dieser Förderrahmen - das wurde ebenfalls hier angesprochen - darf nach 2006 nicht abbrechen. Im Mittelpunkt der verstärkten Anstrengungen müssen die Förderung der Wirtschaft, die Entwicklung der Arbeitsmärkte, die Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur sowie die soziale und kulturelle Vorbereitung der Bevölkerung auf den Beitritt stehen. ({3}) Allerdings - das ist mir genauso wichtig - dürfen wir Europa und die Erweiterung nicht zum Sündenbock jedweder Entwicklung machen. ({4}) Die Probleme des Arbeitsmarktes, des Strukturwandels und der Kriminalitätsentwicklung in den Grenzregionen müssen notwendigerweise auch ohne Erweiterung gelöst werden. Dringend erforderlich wäre auch - das fordern wir schon seit Jahren - eine bessere Verknüpfung der europäischen Fördertöpfe Interreg und PHARE CBC. Damit können wir Projektförderung wirklich grenzüberschreitend betreiben. Wir brauchen vor allem eine ehrliche Debatte, die weder beschönigt noch Probleme dramatisiert. Tatsache ist, dass es schon jetzt zahlreiche positive und nachhaltige Beispiele grenzüberschreitender Entwicklung gibt. Wir reden nur leider viel zu wenig darüber. Es gibt Wirtschaftsfördergesellschaften, die sich um deutsche Firmen in Polen und umgekehrt kümmern. Schulen und Universitäten haben sich zu deutsch-polnischen Gemeinschaftseinrichtungen entwickelt. Vereine, Institutionen, Städte und Gemeinden haben Partnerschaften, die die Menschen zusammenführen, und das seit Jahren. Mein Land Brandenburg mit 235 Kilometern Grenze zu Polen leistet selbst Erhebliches zur grenzüberschreitenden Entwicklung und ist von jeher ein Motor der deutsch-polnischen Beziehungen. ({5}) Tatsache ist auch, dass zahlreiche Unternehmen gerade aus den Grenzregionen die Chancen schon jetzt ergriffen haben, die sich in den Wachstumsregionen Mittel- und Osteuropas bieten. Nicht von ungefähr verzeichnet das Statistische Jahrbuch, dass rund 10 000 Deutsche jedes Jahr nach Polen übersiedeln. Das ist ein deutliches Signal; denn damit liegt Polen an zweiter Stelle hinter den USA. Auch warten viele Unternehmen geradezu auf den Grenzwegfall und vereinfachte Grenzbedingungen. Sie warten allerdings auch auf neue Brücken und neue Verkehrswege; denn diese sind die Voraussetzung für Handel, Begegnungen und Wirtschaftskontakte. Meine Damen und Herren, wir brauchen eine ehrliche Debatte, eine tief gehende Informationskampagne und eine abgestimmte Flankierungsstrategie von Europa, Bund und Ländern. Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits im Juni 2000 mit der Beschlussfassung zur „Flankierung des Erweiterungsprozesses“ die politische Initiative ergriffen und die Weichen für die regionalen Beitrittsvorbereitungen gestellt. Wir sind nicht, wie es der Kollege Hofbauer behauptet hat, mit unserem Antrag aus dem Dezember den Anträgen der Opposition hinterhergelaufen. Wir haben, wie gesagt, bereits im Juni, also noch vor der Sommerpause, etwas vorgelegt. Herr Türk, hätten Sie aufgepasst, wäre das an Ihnen nicht vorübergegangen. ({6}) Auch mit dem heute vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen geben wir den Bürgerinnen und Bürgern eine klare Botschaft. Ich vertraue darauf, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung so gerecht wird, wie es die Bürgerinnen und Bürger gerade in den Grenzregionen zu Recht erwarten. Schließlich wollen und müssen wir die Menschen auf den Weg in eine erweiterte Europäische Union mitnehmen, zu der es wirtschaftlich und politisch keine Alternative gibt, wie wir alle wissen. Herzlichen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen nun zu einer Reihe von Abstimmungen und Überweisungen, weswegen ich um Aufmerksamkeit bitte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck- sache 14/5448 zur federführenden Beratung an den Aus- schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Innenausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Tech- nologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, den Ausschuss für Arbeit und Sozialord- nung, den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungs- wesen, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und den Ausschuss für Angelegenhei- ten der neuen Länder zu überweisen. Gibt es dazu ander- weitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/5461. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthaltun- gen? - Bei Enthaltung der CDU/CSU und der PDS ist der Antrag mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 14/5475, und zwar zunächst zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- nen mit dem Titel „Flankierung der Erweiterung der Eu- ropäischen Union als innenpolitische Aufgabe“, Drucksa- che 14/4886. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme dieses Antrags. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung von CDU/CSU und PDS angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Die deutschen Grenzregionen auf die EU-Erweiterung durch einen Grenzgürtel-Akti- onsplan vorbereiten“, Drucksache 14/4643. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenom- men. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5447 und 5454 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 g auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes und der Bundespflegesatzverordnung ({0}) - Drucksache 14/5396 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes - Drucksache 14/4925 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt - Drucksache 14/5456 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend - Drucksache 14/5243 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer ({4}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dr. Klaus W. Lippold ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Neuer Schwung für das System Schiene - Drucksache 14/5316 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther Friedrich Nolting, Jörg van Essen, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Einsatzdauer von Soldaten bei Friedensmissio- nen verkürzen - Rahmenbedingungen verbes- sern - Drucksache 14/4536 - Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({7}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Freiwillige Agrar-Umwelt/Sozial-Zertifizierung für Entwicklungsländer - Drucksache 14/4802 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zur Beschlussfassung über eine Reihe von Punkten, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Ich rufe Punkt 20 a der Tagesordnung auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Übereinkommens zum Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantiks ({9}) - Drucksache 14/3949 ({10}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({11}) - Drucksache 14/5217 Berichterstattung: Abgeordnete Anke Hartnagel Kurt-Dieter Grill Winfried Hermann Birgit Homburger Eva Bulling-Schröter Der Ausschuss für Naturschutz, Umwelt und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/5217, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Ich rufe Punkt 20 b der Tagesordnung auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. Februar 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Kambodscha über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/4706 ({12}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie - Drucksache 14/5260 Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Hempelmann Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/5260, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Bei Stimmenthaltungen der PDS ist der Gesetzentwurf angenommen. Ich rufe Punkt 20 c der Tagesordnung auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. September 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Gabunischen Republik über die gegenseitige Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/4708 ({13}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({14}) - Drucksache 14/5261 Berichterstattung: Abgeordneter Rolf Kutzmutz Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/5261, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! Stimmenthaltungen? - Wiederum bei Enthaltungen der PDS ist der Gesetzentwurf angenommen. Ich rufe Punkt 20 d der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Vizepräsidentin Anke Fuchs Übergangsregelungen bei der Einführung des Kapitalgesellschaften- und Co-RichtlinieGesetzes - Drucksachen 14/3078, 14/5144 Berichterstattung: Abgeordnete Christine Lambrecht Rainer Funke Der Rechtsausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3078 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Gegen die Stimmen der PDS ist der Beschlussempfehlung gefolgt und dieser Antrag abgelehnt worden. Ich rufe Punkt 20 e der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Grünbuch zur Umweltproblematik von PVC KOM ({17}) 469 end.; Ratsdok.-Nr. 10861/00 - Drucksachen 14/4570 Nr. 3.1, 14/5156 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Carola Reimann Dr. Paul Laufs Winfried Hermann Birgit Homburger Eva Bulling-Schröter Der Ausschuss für Naturschutz, Umwelt und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/5156, in Kenntnis des Grünbuchs der Europäischen Kommission zur Umweltproblematik von PVC eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen. Ich rufe Punkt 20 f der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({18}) zu dem Antrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({19}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Für eine vertiefte Partnerschaft zwischen Russland und der EU - Drucksachen 14/811, 14/5186 Berichterstattung: Abgeordnete Gert Weisskirchen ({20}) Dr. Andreas Schockenhoff Rita Grießhaber Ulrich Irmer Wolfgang Gehrcke Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/811 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe Punkt 20 g der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 243 zu Petitionen - Drucksache 14/5338 Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ist einstimmig angenommen. Ich rufe Punkt 20 h der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 244 zu Petitionen - Drucksache 14/5339 Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Bei Enthaltung der PDS ist diese Sammelübersicht angenommen. Ich rufe Punkt 20 i der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 245 zu Petitionen - Drucksache 14/5340 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ist einstimmig angenommen. Ich rufe Punkt 20 j der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 246 zu Petitionen - Drucksache 14/5341 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Gegen die Stimmen der PDS, der CDU/CSU und der F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe Punkt 20 k der Tagesordnung auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 247 zu Petitionen - Drucksache 14/5342 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen von 1989 über Bergung - Drucksache 14/4673 ({26}) Vizepräsidentin Anke Fuchs - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Bergungsrechts in der See- und Binnenschifffahrt ({27}) - Drucksache 14/4672 ({28}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({29}) - Drucksache 14/5459 Berichterstattung: Abgeordneten Joachim Stünker Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Helmut Wilhelm ({30}) Rainer Funke Dr. Evelyn Kenzler Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/5459 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Seerechtsänderungsgesetzes, Drucksache 14/4672. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5459 die Annahme des Gesetzentwurfes in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Nun rufe ich Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der F.D.P. Haltung der Bundesregierung zur aktuellen Haushaltssituation und offensichtlichen Unterfinanzierung der Bundeswehr ({31}) Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man das Drama um die Finanzierung der Bundeswehr betrachtet, so stellt man fest, dass im Zentrum ein und dieselbe Person, nämlich Bundesverteidigungsminister Scharping, steht. Mit ihm auf der Bühne befindet sich der Generalinspekteur Kujat als Kulissenschieber. ({0}) Minister Scharping hat alle Mahnungen von Betroffenen, Verbänden und Medien sowie von der Opposition in den Wind geschlagen. So geht der Haushalt 2001 an den Bedürfnissen einer soliden Finanzierung der Bundeswehr vorbei. ({1}) Minister Scharping hat es sogar abgelehnt, die Ratschläge der Kommissionen, die er selber berufen hat, zu befolgen. So hat zum Beispiel die Weizsäcker-Kommission richtigerweise eine Anschubfinanzierung der Bundeswehrreform angemahnt. Minister Scharping hat dies nicht übernommen. Minister Scharping ist die haushaltspolitische Realität seines Verantwortungsbereiches entglitten. Stattdessen übt er sich in Beschwichtigungsrhetorik. Er schönt, er trickst und beschimpft all diejenigen, die auf die realen Probleme der Bundeswehr hinweisen, ({2}) nämlich auf die schlechte Motivation, die miserable Nachwuchslage, die unzureichende Materiallage, die Streckungen und Aussetzungen bei den Beschaffungen usw. Trotzdem schwadroniert der Haushaltspolitiker Metzger von den Grünen, die Bundeswehr könne mit keinem Pfennig mehr Geld rechnen. Er will weiter kürzen. Die zukünftige Vorsitzende der Grünen spricht sogar von einer guten Nachricht, wenn nicht noch mehr Geld in das Militär gesteckt wird. Dazu sage ich für die F.D.P.: Die Bundeswehr ist kein Selbstzweck. Die Bundeswehr erhält den Auftrag von der Politik. Dann hat die Politik auch dafür zu sorgen, dass die Finanzen stimmen. ({3}) Da muss sich auch der Außenminister der Grünen die Frage gefallen lassen, wie er mit dieser unterfinanzierten Bundeswehr die neue Rolle Deutschlands mit immer mehr Verantwortung glaubhaft zu vertreten gedenkt. Die internationale Glaubwürdigkeit und die Verlässlichkeit Deutschlands als Bündnispartner in der Allianz sind ein zu hohes Gut, als dass man sie den Grünen mit ihren Zielen überlassen darf. Aber in dieser Angelegenheit reicht die Kraft von Minister Scharping nicht aus. Deshalb erwarte ich von Bundeskanzler Schröder höchstpersönlich ein Machtwort. ({4}) Tönte der Bundeskanzler noch Ende letzten Jahres ich zitiere - „Von Rudi lernen heißt siegen lernen“ und versprach er diesem bei Amtsantritt noch, es werde Vizepräsidentin Anke Fuchs keinesfalls zu Kürzungen im Verteidigungsetat kommen, so ist heute von diesen vollmundigen Versprechungen nichts, aber rein gar nichts mehr übrig geblieben. ({5}) Kanzler Schröder lässt seinen Verteidigungsminister im Regen stehen, wie wir gestern wieder einmal erlebt haben. Noch nie war die Position eines Verteidigungsministers so schwach wie zurzeit, ({6}) und das in dieser so entscheidenden Phase des Umbaus der Bundeswehr. Aber gerade jetzt braucht die Bundeswehr einen starken Minister. Denn bei der Bundeswehr handelt es sich um diejenige Institution, die für den Schutz der entscheidenden Güter unseres Staatswesens verantwortlich ist: für Frieden, für Freiheit, für Menschenwürde, auch außerhalb der Grenzen unseres eigenen Landes. ({7}) Es ist das Drama dieses Ministers, dass er diese so einfache Erkenntnis noch nicht einmal in der eigenen Fraktion, bei den eigenen Genossen herüberbringen konnte. Wie sonst sind die Ausführungen der SPD-Haushaltspolitiker Kröning und Wagner zu verstehen, die ebenfalls weitere drastische Kürzungen fordern? ({8}) Für die F.D.P. fordere ich daher den Verteidigungsminister und fordere ich die Regierung auf: Erhöhen Sie den Verteidigungshaushalt auf 50 Milliarden DM und sorgen Sie für Verstetigung! Bringen Sie endlich das lange angekündigte Attraktivitätsprogramm auf den Weg! Die Menschen in der Bundeswehr warten darauf. Sorgen Sie dafür, dass die Investitionsquote erhöht wird! ({9}) Legen Sie ein Konversionsprogramm auf, das die von der Reduzierung der Bundeswehr betroffenen Kommunen nicht auf einem finanziellen Scherbenhaufen zurücklässt. Ein entsprechender Antrag der F.D.P.-Fraktion liegt vor. Zeigen Sie den Angehörigen der Bundeswehr endlich klare Perspektiven auf! Auch als Oppositionspartei fühlen wir uns verantwortlich für die Parlamentsarmee Bundeswehr. ({10}) Deshalb bieten wir Ihnen auch weiterhin unsere Zusammenarbeit an. Dazu gehört allerdings, dass diese Regierung auch auf uns als Opposition zukommt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Peter Zumkley, SPD-Fraktion.

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zur Finanzsituation der Bundeswehr wird ohne jeden Nachweis behauptet und teilweise völlig unkritisch weiterverbreitet: Das Haushaltsdefizit für 2001 belaufe sich auf 2 Milliarden DM; ({0}) wegen der Finanzprobleme erwäge das Verteidigungsministerium, auf den Kampfhubschrauber Tiger zu verzichten; darüber hinaus sollten in 2001 25 000 Wehrpflichtige aus Sparzwängen nicht einberufen werden; ({1}) die Stationierungsentscheidungen müssten erneut auf den Prüfstand, um Geld zu sparen. All diese Behauptungen sind falsch. Sie entbehren jeder Grundlage. ({2}) Man merkt die Absicht, die dahinter steckt: durch Verbreitung von Gerüchten und durch Dramatisierung die Situation der Bundeswehr schlechter zu schildern, als sie in Wahrheit ist. ({3}) Der Haushalt 2001 wird, meine Damen und Herren von der Opposition, wie vom Parlament beschlossen ungekürzt und ohne Auflagen vollzogen. Die dringend notwendige Reform der Bundeswehr kann wie geplant begonnen werden. ({4}) Dazu gehören auch die Personalmaßnahmen zur Attraktivitätssteigerung. Es gibt allerdings einen Mehrbedarf bei der Materialerhaltung in Höhe von 372 Millionen DM, ({5}) insbesondere bei Heer und Luftwaffe. Da gibt es auch keinerlei Geheimnisse. Durch Umschichtungen im Verteidigungshaushalt wird dies, wie in der Vergangenheit auch bei Ihnen häufig geschehen, im Rahmen des jährlichen Haushaltsvollzuges aus dem Einzelplan 14 gedeckt werden. ({6}) Im Übrigen: Die Bugwelle bei der Materialerhaltung, Kollege Rossmanith, gibt es schon seit 1994. ({7}) So wurden zu Zeiten der Vorgängerregierung die Depotbestände in großem Stil abgebaut, Waffensysteme kanniGünther Friedrich Nolting balisiert und die Ersatzteilbestände nicht aufgefüllt. Es ist auch nichts Neues, dass die Bundeswehr zurzeit noch nicht voll bündnis- und europafähig ist. Das ist überhaupt nichts Neues. Wir haben leider in den Streitkräften noch die alten Strukturen und die Ausrüstung aus der Vergangenheit. Zugleich hat die Umstrukturierung auf die neuen Aufgaben begonnen. Dies ist eine schwierige Phase für die Streitkräfte, wie sie bei Umstrukturierungen häufig nicht zu vermeiden ist. Am Ende des Reformprozesses aber wird die Bundeswehr die neu gestellten Aufgaben und Erwartungen besser und vollständiger erfüllen können, als dies jetzt der Fall ist. ({8}) So werden die Einsatzkräfte beträchtlich erhöht. Ich lasse die Zahlen weg. ({9}) Das Material wird von Grund auf modernisiert. Alle Vorhaben für 2001, meine Damen und Herren der Opposition, werden auch umgesetzt. Die Bundeswehr wird so strukturiert, dass sie ihre geänderten internationalen Verpflichtungen besser erfüllen kann. ({10}) Im Übrigen vermissen wir ein Alternativkonzept der CDU/CSU. Sie müssen sich endlich einigen, wie Sie sich die zukünftige Bundeswehr vorstellen, sowohl vom Umfang als auch vom Inhalt her. Wo bleiben eigentlich Ihre Alternativen? ({11}) Keine Sachpolitik, keine Fachpolitik, keine Konzepte, stattdessen Pauschalkritik gegenüber jedem Regierungshandeln! ({12}) Dabei könnte man über Reformkonzepte durchaus unterschiedlicher Meinung sein, wenn sie denn bei Ihnen vorhanden wären. Man könnte dann endlich in den Wettbewerb um die besseren Ideen eintreten. Auf jeden Fall sollte aber die Auseinandersetzung so geführt werden, dass die Bundeswehr keinen Schaden nimmt. Sie von der Union, aber auch andere haben das Thema leider häufig parteipolitisch instrumentalisiert. ({13}) Auch das heutige Thema gehört dazu. ({14}) Wir werden unseren Reformweg, der sicherheits- und verteidigungspolitisch vernünftig und notwendig ist, im Interesse unseres Landes, der eingegangenen Bündnisverpflichtungen und der Bundeswehr selbst fortsetzen. Hierzu reichen die Haushaltsmittel für 2001, wenn auch nur äußerst knapp, insgesamt aus. - Vielen Dank. ({15})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Thomas Kossendey, CDU/CSUFraktion. ({0})

Thomas Kossendey (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001188, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit - nicht mehr, aber auch nicht weniger fordern wir heute von Ihnen und von der Bundesregierung. ({0}) Der Haushalt, den Sie für 2002 vorgelegt haben, erfüllt beide Bedingungen nicht. Weder besteht auf der Einnahmenseite Klarheit und Sicherheit, noch ist auf der Ausgabenseite eine Übersicht vorhanden, auf die man sich wirklich verlassen kann. ({1}) Bei den Einnahmen setzt der Minister eindeutig auf das Prinzip Hoffnung, wenn er über 1 Milliarde DM als Erlös aus der Veräußerung von Grundstücken, militärischem Material und aus Rationalisierungsgewinnen erwartet. Weder sind bis heute die Grundstücke identifiziert, die er verkaufen will, ({2}) noch ist das Material aufgelistet, das er eventuell verkaufen möchte, noch ist bekannt, an wen und mit wessen Zustimmung, liebe Frau Beer. ({3}) Noch besteht völlige Unklarheit darüber, was im Bereich der Rationalisierung wirklich eingespart werden kann. Wer auf diese erhoffte Einnahme seine Ausgabenplanung stützt, der erinnert mich an eine Hausfrau, die auf den für Samstag erwarteten Lottogewinn hin schon am Montag ihr gesamtes Haushaltsgeld ausgibt. Im Bereich der Ausgaben herrscht ein ebensolches Chaos. Wenn schon sechs Wochen nach Beginn des Haushaltsjahres die ersten Probleme im Bereich der Materialerhaltung auftauchen, ist dieser Haushalt entweder nachlässig erarbeitet worden oder ganz einfach zu knapp gestrickt. Heute rächt sich offensichtlich, dass alle Warnungen der Opposition überheblich in den Wind geschlagen worden sind. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, mit dieser Operation Sparschwein verprellt der Minister so ziemlich alle diejenigen, die in der Bundeswehr ihren Dienst tun. Sie verprellen darüber hinaus auch alle diejenigen, auf die die Bundeswehr als Partner dringend angewiesen ist. Investitionslücken, die man identifiziert hat, kann man eben nicht durch radikales Sparen schließen, sondern nur durch Investieren. Wer auf der einen Seite beklagt, dass Deutschland nicht auf Dauer weniger als die Hälfte dessen für Verteidigung ausgeben kann, was Großbritannien, Frankreich oder Italien dafür aufwenden, kann auf der anderen Seite nicht den Verteidigungshaushalt für die nächsten Jahre um 20 Milliarden DM kürzen. Haushaltspolitik kann man nicht gegen Adam Riese planen und durchsetzen. Wer so fahrlässig mit der Bundeswehr umgeht, muss sich fragen lassen, wie ernst er es eigentlich mit der Rolle Deutschlands in Europa und im Bündnis meint. ({5}) Das ist nicht nur eine Frage an den Verteidigungsminister, sondern auch eine Frage an den Kanzler. Er hat gesagt: „Von Rudi lernen heißt siegen lernen.“ Ich glaube, manche haben ihn falsch zitiert. Von Rudi lernen heißt siechen lernen - das scheint mir viel richtiger zu sein. ({6}) Der Kanzler ist nämlich derjenige, der als Erster das Parlament an der Nase herumgeführt hat. Wer war es denn, der auf den Europagipfeln größere Verteidigungsanstrengungen angekündigt hat? Wer war es denn, der den Amerikanern eine Beteiligung an NMD angekündigt hat, ohne dafür auch nur einen Groschen im Haushalt bereitgestellt zu haben? ({7}) Nein, wir brauchen eine radikale Bestandsaufnahme. Mein Vorschlag dazu ist: Wenn am Monatsende die vom Minister angekündigte Planung für Material und Ausrüstung vorliegt, sollten wir uns zusammensetzen, um gemeinsam zu überlegen, welche großen Rüstungsvorhaben in welcher Reihenfolge und mit welchem Zeitablauf in den nächsten Jahren wirklich in Angriff genommen werden sollen. Wir sollten gemeinsam eine Vereinbarung treffen - nennen Sie es Programmgesetz, wie Richard von Weizsäcker das getan hat -, nach der eine für die Bundeswehr verlässliche Planung über die nächsten Jahre, auch über das Ende der Legislaturperiode hinaus, vorgenommen werden kann. Ich habe dies vor eineinhalb Jahren von diesem Pult aus gefordert und dieser Vorschlag ist heute aktueller denn je. ({8}) - Liebe Frau Kollegin Beer, gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung zu Ihnen. Wenn ich der Patient Bundeswehr wäre und sich dann Schwester Angelika meinem Patientenzimmer nähern würde, liefe mir angesichts der Methoden, mit der die eine oder andere Helferin in der Vergangenheit ihren Patienten von seinen Leiden erlöst hat, ein eiskalter Schauer über den Rücken. ({9}) Ich wiederhole meinen Vorschlag: Wir sollten gemeinsam versuchen, die Rüstungsplanung für die nächsten Jahre, auch über die Legislaturperiode hinaus, zu beschließen. Nur das wird letztendlich dem Anspruch gerecht, den die Soldaten und die Bediensteten der Bundeswehr haben. Das erwartet auch die Bevölkerung von uns. Ich kann nur an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, appellieren: Werden Sie diesem Anspruch bitte endlich gerecht! Schönen Dank. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich der Kollegin Angelika Beer das Wort.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da ich tatsächlich Arzthelferin war, fasse ich das jetzt als Lob auf. ({0}) Nun zum Ernst der Debatte. Ich frage mich wirklich, warum wir heute die von der F.D.P. beantragte Aktuelle Stunde haben. Ich kann mich noch gut an die Wechselspiele zwischen dem ehemaligen Verteidigungsminister Rühe und dem Finanzminister Waigel erinnern, in denen der Bundeswehr zunächst immer zu viel Geld versprochen wurde und die Mittel im Laufe des Haushaltsjahres de facto wieder gekürzt wurden. ({1}) Es ist interessant zu beobachten, wie aufgeregt Sie von der Opposition, also auch von der F.D.P., nun weiter diskutieren und spekulieren, als wenn es den gestrigen Tag gar nicht gegeben hätte. ({2}) Sowohl der Bundeskanzler als auch der Finanzminister und der Verteidigungsminister haben eine einheitliche Position formuliert, die dem Gesamtkurs der rot-grünen Koalition entspricht. ({3}) Ich will hier noch einmal ganz klar sagen: Ich begrüße ausdrücklich die klare Aussage vom Verteidigungsminister gegenüber Parlament und Öffentlichkeit, dass die derzeitigen Defizite, über deren Ursachen wir noch einmal gesondert zu sprechen haben, aus dem laufenden Haushaltsansatz 2001 gedeckt werden und alle Spekulationen über einen Nachtragshaushalt ohne jede Grundlage sind. Ich gehe davon aus, dass dieser Konsolidierungskurs unserer Regierung auch in den nächsten Jahren eingehalten wird. Wir sind nach der Übernahme der Regierungsverantwortung darangegangen, die Versäumnisse des ehemaligen Verteidigungsministers Volker Rühe aufzuarbeiten. Wir haben es geschafft, den Reformstau in der Bundeswehr aufzubrechen und die Neuausrichtung der Bundeswehr in die Haushaltskonsolidierung einzupassen. Das ist nach nur zwei Jahren ein Ergebnis, das sich durchaus sehen lassen kann. ({4}) Der Kabinettsbeschluss vom 14. Juni 2000 hat deutlich gemacht, dass der Einstieg in den lange dauernden gesellschaftspolitischen Reformprozess - dazu gehört auch die Bundeswehr - von allen gewollt und praktiziert wird. Allen Beteiligten, den Bundeswehrangehörigen und den Politikern, war klar, dass diese Reform erstens unverzichtbar ist und zweitens schwierig sein würde. Aber ein komplexer Prozess wie diese Reform lebt davon, dass sich etwas bewegt. Reform heißt Bewegung und nicht Stillstand. Nichts anderes als das - Stillstand haben Sie, Herr Kollege Kossendey, heute wieder aufgezeigt. ({5}) Wir Grünen - das ist bekannt - hätten uns die Reformen weitgehender gewünscht, weil wir glauben, dass wir zur Erfüllung der internationalen Anforderungen klare Schnitte brauchen, um die Planungssicherheit für die Zukunft zu gewährleisten. ({6}) Ich bin überzeugt, dass die Weizsäcker-Kommission hierzu wichtige Eckpunkte, die weiterhin unsere Linie bestimmen werden, aufgezeigt hat. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU und insbesondere von der CSU, ich finde, Sie betreiben heute ein leicht durchschaubares Spiel, ({7}) das vor dem Hintergrund der Versäumnisse Ihrer Regierungszeit in den 90er-Jahren bei Leuten, die ein gutes Gedächtnis haben, so etwas wie Komik erzeugt. ({8}) Zumindest eine komische Komponente kann man dieser Aktuellen Stunde nicht abstreiten. Ihre Komik allerdings verliert an Unterhaltungswert, weil Sie weiterhin vollkommen konzeptionslos in den Schützengräben des Kalten Krieges agieren wollen und nicht begreifen, dass die Herausforderungen der Zukunft andere sind und der Kalte Krieg aber tatsächlich ad acta gelegt worden ist. Deswegen sind wir in die Regierung gewählt worden. ({9}) Ihr Kollege Volker Rühe bemühte sich in den letzten Tagen auf der internationalen Ebene, unsere Regierung in Misskredit zu bringen, weil er sich nicht traut, im eigenen Land die Verantwortung für den eigenen Schaden zu übernehmen; denn wenn die Bundeswehr teilweise ein Ersatzteillager ist, dann aufgrund seiner Versäumnisse. ({10}) Dieses Auftreten ist nichts anderes als peinlich und die Inkaufnahme eines außen- und innenpolitischen Schadens für die Bundesrepublik Deutschland. Das ist an dieser Stelle eindeutig zurückzuweisen. Ihr strategieloses Agieren - da beziehe ich mich auch auf den gestrigen und den heutigen Tag - kann ich nur wie folgt zusammenfassen: Sie sind in der Realität des 21. Jahrhunderts nicht bündnisfähig. ({11}) Die Bundeswehr der Zukunft wird in eine Politik der präventiven Außen- und Sicherheitspolitik eingebettet sein. Die Konzepte der Prävention werden neu formuliert. ({12}) Die Struktur der Bundeswehr wird grundlegend geändert und modernisiert. Dies ist ein gesamtgesellschaftliches Interesse, das wir wahrzunehmen haben. Ich stelle heute fest, dass sich die so genannte Volkspartei CDU offensichtlich bewusst aus dieser gesamtgesellschaftlichen und politischen Aufgabe verabschiedet hat. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel, PDS-Fraktion.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich zu dem Thema der Aktuellen Stunde spreche, möchte ich an dieser Stelle Ihnen, sehr geehrte Frau Präsidentin, und allen Frauen zum heutigen 8. März, dem Internationalen Frauentag, herzlich gratulieren. ({0}) Nach diesem Glückwunsch komme ich zu dem sehr ernsten Thema der Aktuellen Stunde. Minister Scharping hat offensichtlich selbst Meldungen lanciert, ({1}) wonach die Bundeswehr in eine Finanzkrise geschlittert sei. Das hört man aus Koalitionskreisen. Er tut dies wohl mit der Absicht, vom Kanzler und von dessen Finanzminister rasch Zusagen über mehr Gelder für den Etat 2002 und die Etats der Folgejahre zu erheischen. Schon jetzt aber ist der Verteidigungsetat mit 46,8 Milliarden DM etwa 40-mal höher als der Bundesumwelthaushalt. Da stimmt wohl bei Rot-Grün etwas nicht. Ich wende mich damit auch an Sie, liebe Kollegin Beer. ({2}) - Sie haben doch vor einigen Jahren ganz anders argumentiert. So schnell können Veränderungen geschehen. ({3}) Wofür braucht Herr Scharping nun mehr Geld? Er will es doch offenbar nicht dafür einsetzen - dabei würden wir ihn unterstützen -, um endlich die Angleichung der Besoldung der Zeit- und Berufssoldaten in Ost- und Westdeutschland zu vollziehen. ({4}) Dafür hat sich die PDS eingesetzt und sie wird sich weiter dafür einsetzen. ({5}) Für einen solchen Schritt, liebe Kollegin Beer, der vergleichsweise wenig kostet, ist Herr Scharping einfach zu feige. ({6}) Nicht einmal den Bundesrat oder die kommunalen Spitzenverbände müsste er dazu befragen. Der Soldatenminister ist in dieser Entscheidung frei. Nur der Bund ist dafür zuständig. Ausflüchte werden nicht mehr akzeptiert. ({7}) Kollege Scharping will mehr Geld, aber nicht im Millionenpack, sondern im Milliardenpack. Er braucht diesen Geldsack, um den Umbau der Bundeswehr zu einer hoch mobilen und international agierenden Interventionsarmee zu finanzieren. Das lehnt die PDS ganz entschieden ab. Die Beteiligung an Kriegen wird in dieser Konzeption ausdrücklich eingeplant. Das ist ein sehr ernstes Thema, wie der Einsatz der deutschen Bundeswehr im unsäglichen Krieg gegen Jugoslawien zeigt. Ich halte das für ein sehr ernstes Thema. ({8}) Es war ein Krieg, der Tausende Tote und Schwerstverletzte gebracht hat. Daneben hat er immense materielle und Umweltschäden angerichtet. Sein erklärtes Ziel aber, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, hat dieser Krieg verfehlt. Das ist fürwahr eine schlimme Bilanz. ({9}) Die qualitative Aufrüstung der Bundeswehr soll nach Scharpings Willen bis zum Jahr 2015 gigantische 180 Milliarden DM verschlingen. Es kann, wenn es nach dem Willen des Ministers geht, wohl auch noch etwas mehr kosten. Allein die mit der Rüstungsindustrie ausgehandelten so genannten Preisgleitklauseln werden dafür sorgen. Der Bundesrechnungshof hat nachgewiesen, dass das Preisdiktat der Rüstungsindustrie gegenüber der Hardthöhe gerade beim Eurofighter die unvorstellbare Summe von 6 Milliarden DM zusätzlicher Kosten verursacht. Damit wird der Eurofighter für die nächsten Jahre die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland mit fast 40 Milliarden DM - eine unvorstellbare Größenordnung belasten. Wie viel nützlicher könnte dieses Geld für die Familienförderung oder die Anhebung der Renten eingesetzt werden - aber weit gefehlt. ({10}) Die Kollegen Opel von der Sozialdemokratischen Partei und Kossendey von der CDU fordern sogar ein 50-Milliarden-DM-Sonderprogramm für die Finanzierung der Hochrüstung der Bundeswehr in den nächsten Jahren. Die PDS sagt ausdrücklich Nein zu diesen Begehrlichkeiten, der Kanzler auch - aber wie lange noch? ({11}) Nach der Methode „Hoppla, hier bin ich“ hat sich der Verteidigungsminister schon so manches Finanzprivileg vom Kanzler bzw. von Finanzminister Eichel genehmigen lassen. So ist er das einzige Kabinettsmitglied, das den Verkaufserlös aus Liegenschaften und Gerätschaften in die eigene Tasche, also die des Ministeriums, stecken kann. ({12}) In diesem Jahr ging es dabei immerhin um 1 Milliarde DM. ({13}) Der Zwang aber, möglichst hohe Erlöse für das Ministerium zu erzielen, wird die Kommunen, die als Käufer beispielsweise von Grundstücken auftreten, immens belasten. ({14}) An dieser Stelle muss auch das gesagt werden, da viele Kommunalpolitiker an den Bildschirmen sitzen. ({15}) Dem Kollegen Scharping wurde im August 2000 das Recht eingeräumt, verehrter Kollege Poß, eine privatwirtschaftlich organisierte Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb, kurz GEBB, zu errichten, die die Bundeswehr von Aufgaben entlasten und Kosten einsparen soll. Aber wo bleibt diese GEBB bei der Einsparung? Wo sind deren Ergebnisse?

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Rössel, wir müssen jetzt leider auch bei Ihrer Redezeit einsparen.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Ein Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik ist dringend geboten. Schneiden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die Bundeswehr auf eine Größenordnung zu, die sicherheitspolitisch angemessen ist und sich auf die tatsächliche Aufgabe der Bundeswehr, die im Grundgesetz festgelegt ist - es handelt sich um den Verteidigungsauftrag - reduziert. Dann haben Sie auch keine Haushaltsprobleme bei der Bundeswehr; denn dadurch lassen sich sogar zig Milliarden DM einsparen, die man für andere Aufgaben einsetzen kann. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0}) - Die soll ja abgeschafft sein; aber der Hinweis war nett.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium Walter Kolbow. ({0})

Walter Kolbow (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001175

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die öffentliche Diskussion über die aktuelle Haushaltssituation der Bundeswehr in diesen Tagen ist zumeist geprägt von Schlagworten, Effekthascherei und falschen Behauptungen. ({0}) Leider haben sich die Reden der Opposition, die bisher gehalten wurden, in dieses Bild eingereiht. ({1}) Nicht wenigen - auch bei Ihnen auf der rechten Seite des Hauses ({2}) - von mir aus gesehen immer rechts, und das sind Sie ja auch, das wissen Sie doch, Herr Kollege Kossendey geht es nicht um die Sache und erst recht nicht darum, wie wir gemeinsam die Streitkräfte modernisieren und auf die künftigen Aufgaben ausrichten können. Mit ihrem Verhalten und auch mit dieser Aktuellen Stunde versucht die Opposition, von ihrem eigenen geschichtlichen Versagen während der Zeit ihrer Regierungsverantwortung abzulenken. ({3}) Damals, in Ihrer Regierungszeit, nach den sicherheitspolitischen Umbrüchen, haben Sie es versäumt, die Bundeswehr neu zu positionieren und die Reform, die wir jetzt eingeleitet haben, selbst zu machen. Das ist Ihr Problem. ({4}) Lassen Sie es mich gleich zu Beginn meiner Rede deutlich ansprechen: Es zeugt von Verantwortungsbewusstsein - Sie haben das im Übrigen auch immer erwartet und wir haben es als damalige Opposition begrüßt -, dass militärisch Verantwortliche im Ministerium, in den Einheiten, in den Verbänden die Politik rechtzeitig auf Probleme, wie zum Beispiel auf dem Feld der Materialerhaltung, aufmerksam machen. Es ist ein völlig normales Verfahren, dass die militärische Führung auf zusätzliche Erfordernisse hinweist, wenn sie solche erkennt. Deswegen sind die Interviewaussagen des Generalinspekteurs Normalität. ({5}) Im Übrigen tun diese Äußerungen auch Ihnen weh, denn seine Feststellungen betreffen auch Ihre Regierungszeit und damit Ihre Versäumnisse und Ihre Verantwortung. ({6}) Wir kommen schon darauf, Herr Kollege Nolting. Seien Sie doch nicht immer so ungeduldig; Sorgfalt vor Eile, auch in der Oppositionsarbeit. Dann machen Sie weniger Fehler. ({7}) Der Bundesminister, der Generalinspekteur und auch andere haben keinen Zweifel daran gelassen - ich sage das vorsorglich, weil man bei Ihnen nie so recht weiß, was als Nächstes kommt -, dass diese Äußerungen zur Einsatzbereitschaft selbstverständlich nicht die Einsatzfähigkeit unserer tüchtigen und erfolgreichen Soldatinnen und Soldaten im ehemaligen Jugoslawien betreffen. Beim Schutz dieser Soldatinnen und Soldaten und bei dem, was sie im Einsatz brauchen, lassen wir uns - ich weiß auch: gemeinsam - nicht übertreffen. ({8}) Nun zum Etat; nun kommen Sie als Initiator dieser Aktuellen Stunde dran, verehrter Herr Kollege. In Bayern sagt man: überflüssig wie ein Kropf, aber: wat mutt, dat mutt, sagt man im Norden. Also: Machen wir hier unseren Job. Zum Verteidigungsetat des laufenden Jahres ist vorab an die Adresse des Kollegen Austermann und anderer zu sagen: Wir brauchen keinen Nachtragshaushalt, da wir mit dem vom Bundestag beschlossenen Haushaltsrahmen auskommen werden. ({9}) Diejenigen von der Opposition, die das Gespenst der Zahlungsunfähigkeit heraufbeschwören, verkennen und verdrehen die Fakten. Die Bundesregierung hat die Reform der Streitkräfte und der Wehrverwaltung entschlossen angepackt. Wir investieren in die Menschen und ihre Fähigkeiten. Wir investieren in die Ausrüstung der Streitkräfte, damit diese Fähigkeiten rasch sowie für die Zukunft zuverlässig und dauerhaft zur Verfügung stehen. Wir investieren in mehr Wirtschaftlichkeit und Effizienz innerhalb der Bundeswehr. Entgegen dem Trend in der Zeit der Vorgängerregierung ist seit dem Regierungswechsel der Anteil der verteidigungsinvestiven Ausgaben im Verteidigungshaushalt gestiegen. ({10}) Beginnend mit diesem Jahr können wir im Verteidigungshaushalt Erlöse aus der Verwertung nicht mehr benötigten Materials und Liegenschaften zum größten Teil behalten. Erstmals kommen finanzielle Freiräume, die sich aus Effizienzgewinnen und sinkenden Betriebskosten ergeben, dem Verteidigungsetat in vollem Umfang zugute. Dies ist integraler Bestandteil und Ergebnis des umfassendsten Reformprozesses seit Bestehen der Bundeswehr. ({11}) Dennoch stehen wir erst am Anfang. Veränderungen in Betriebsabläufen und Strukturen erfordern bei aller Schnelligkeit der Entscheidungen Zeit zur Umsetzung, bis sich die erwartete Wirkung voll entfaltet. Die Opposition hat offensichtlich hellseherische Fähigkeiten, wenn sie bereits zu Beginn des Haushaltsjahres behauptet, die gerade erst anlaufende Verwertung von Gerät und Liegenschaften sowie die jüngst eingeleiteten Maßnahmen zu Einsparungen und Effizienzgewinnen würden im Laufe des vor uns liegenden Haushaltsjahres keine Erfolge zeigen. Ich rate Ihnen: Setzen Sie nicht auf Hellseherei! ({12}) Warten Sie lieber die Fakten und die Ergebnisse ab! Dann sprechen wir uns wieder und dann wird sich - dessen bin ich mir sicher - die heutige von Ihnen beantragte Aktuelle Stunde als ein weiterer erfolgloser Versuch erweisen, Oppositionsarbeit zu leisten. ({13}) Natürlich ergeben sich für den Verteidigungshaushalt - wie fast immer; der aktuelle ist der 21., über den ich mit Ihnen debattieren darf - besondere Herausforderungen: Einerseits sind die Mittel für den unverzüglichen Aufbau der neuen Struktur bereitzustellen. Andererseits kann der Aufwand für die noch bestehenden, dem künftigen Bedarf nicht mehr Rechnung tragenden Strukturen mit Rücksicht auf die Einsatzbereitschaft nur behutsam zurückgeführt werden. Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz. Einsatzausgaben lassen sich nun einmal nicht hundertprozentig veranschlagen. Dies gilt auch für die Ausgaben zur Materialerhaltung. Das wissen Sie alle hier, zumindest diejenigen, die im Verteidigungs- und im Haushaltsausschuss tätig sind. Das gilt auch für die zusätzlichen Ausgaben, die durch die Anhebung der Löhne entstehen und die im Rahmen eines Gesetzes erst heute Abend beschlossen werden. Wie sollten wir denn dies schon im November oder im Dezember letzten Jahres etatisieren? Gerade in diesem Bereich zeigt sich übrigens in ganz besonderer Weise, wie durch den durch die Vorgängerregierung verursachten Reform- und Investitionsstau gerade in den Jahren 1994 bis 1998 der Bundeswehr allein durch Haushaltssperren erhebliche Mittel - „same procedure as every year“, Herr Kollege Breuer - entzogen wurden. Das ergab sich aus den Vereinbarungen zwischen Waigel und Rühe. Allerdings haben diese Herrschaften - das nehme ich doch an - in sehr nüchternem Zustand an den Diskussionen ihrer Fraktion teilgenommen und sind nicht über den berühmten Tigerkopf gestolpert. Aber weil der Bundeswehr zwischen 1994 und 1998 3 Milliarden DM entzogen wurden, mussten wir ab 1999 zusätzlich fast 300 Millionen DM im Durchschnitt pro Jahr in die Materialerhaltung und fast 1,5 Milliarden DM in die Ausrüstung investieren. Sie haben auch Anspruch auf Antworten. ({14}) Natürlich bekommen Sie Antworten. Das ist doch selbstverständlich. Wenn Sie sich selbst aufgrund Ihrer Erfahrungen in Ihrer Regierungszeit keine Antworten geben können, dann bekommen Sie sie von uns. Sie können dann über sie beraten und mit uns gemeinsam feststellen: Jawohl, so wird es gemacht, so ist es auch richtig, weil man es so machen muss und weil es keine anderen Wege gibt. ({15}) Zum einen werden wir uns im Zuge der Einnahme der Zielstruktur so rasch wie möglich in erheblichem Umfang von Material trennen. Zum anderen wird der Instandsetzungsbedarf konsequent priorisiert. Damit sind die drängendsten Probleme beim Heer gelöst. Auch bei der Luftwaffe wird es gelingen, den zwingenden Bedarf zu decken. Im Übrigen wird der zu erwirtschaftende Mehrbedarf im Haushalt 2001 durch die Einbeziehung aller Ausgabenbereiche in die Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung und den höheren Ausschöpfungsgrad bezüglich der Haushaltsmittel kompensiert. So sind die Risiken im Vollzug des Haushalts 2001 beherrschbar und wir kommen ohne zusätzliche Mittel aus. Noch einmal: Die Forderung nach einem Nachtragshaushalt entbehrt jeder Grundlage. In diesem Zusammenhang ist es nicht nur schlichtweg falsch, sondern auch politisch völlig abwegig und außenpolitisch schädlich, zu behaupten, Deutschland werde sein Engagement auf dem Balkan einseitig aufgeben müssen, es würden aus Haushaltsgründen weitere Standorte geschlossen, im Jahr 2001 - das alles steht in der Zeitung - würden weniger Wehrpflichtige als geplant eingezogen oder - Herr Kollege Raidel, nehmen Sie es mit auf den Weg - der Hubschrauber Tiger könne nicht beschafft werden. Das ist alles falsch; das Gegenteil ist richtig. Bei diesen und anderen Falschmeldungen und Behauptungen geht es um alles andere als um die Bundeswehr. Denen, die so argumentieren und sich auf die Basis solcher falschen Informationen stellen, geht es vornehmlich um Parteipolitik oder um Desavouierung einer solide arbeitenden Bundesregierung. ({16}) Deswegen werden wir den eingeschlagenen Reformweg fortsetzen. Das gilt auch für den Verteidigungshaushalt 2001. Wir bleiben zuversichtlich und werden uns auch durch politische Störfeuer, wie die durch die Opposition geforderte Diskussion um den Verteidigungshaushalt, nicht aus der Bahn bringen lassen. ({17}) Wir werden die Probleme lösen. Dies ist im Übrigen das Markenzeichen dieser Regierung. Die zivilen und militärischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Bundeswehr können sich auch weiterhin auf uns verlassen. Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sollten dies konstruktiver als bisher begleiten, anstatt auf dem Rücken der bei der Bundeswehr tätigen Menschen parteipolitisch punkten zu wollen. ({18}) Hierzu fordere ich Sie namens der Bundesregierung für unsere Soldatinnen und Soldaten und zivilen Mitbeschäftigten nachdrücklich auf. ({19})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile dem Kollegen Dietrich Austermann für die Fraktion der CDU/CSU das Wort. ({0})

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den „Kieler Nachrichten“ vom 28. Februar 2001 war ein Zitat der Ministerpräsidentin Frau Simonis zu lesen: Scharpings Ressort ist eine echte Plage. ({0}) Nach der Rede von Herrn Kolbow weiß ich, was sie gemeint hat. Sie sagt weiter: Die rechte Hand weiß nicht, was die linke tut. Man geht mit fünf Meinungen nach Hause. Ich verteidige im Moment vom Verteidigungsministerium gar nichts mehr. So Frau Simonis Ende Februar in den „Kieler Nachrichten“! Ich glaube, sie hat die Situation und das, was Aussagen insbesondere der Verteidigungspolitiker der SPD betrifft, korrekt beschrieben. ({1}) Herr Kolbow hat gesagt, es habe zu unserer Zeit keine Reform gegeben. Es sei daran erinnert, dass wir die Armee der Einheit geschaffen haben. Wir haben unter den Verteidigungsministern Stoltenberg und Scharping 1992 und 1995 ({2}) Reform- und Strukturveränderungen erlebt. ({3}) Im Übrigen gab es bei der Bundeswehr einen Haushalt mit steigenden Ansätzen. Wenn man die letzten vier Jahre unter unserer Regierung mit den ersten Jahren unter der neuen Regierung vergleicht, dann stellt man fest, dass wir an dieser Stelle einige Milliarden Mark mehr ausgegeben haben, als zurzeit zur Verfügung stehen. Das heißt, die Bundeswehr war in einer vergleichbaren Situation besser ausgestattet, als sie es zurzeit ist. Wenn gesagt wird, es sei alles in Ordnung, dann stellt sich die Frage, weshalb es dann gestern das Gespräch zwischen Scharping, Eichel und dem Bundeskanzler gegeben hat. Worüber haben sie sich eigentlich unterhalten, wenn es keine Probleme gibt? ({4}) Man muss sich die Situation tatsächlich angucken. Es ist überhaupt nicht mit dem vergleichbar, was vorher da war. Schauen Sie sich die Situation an. Ich will Ihnen, Herr Kolbow, jetzt genau vorrechnen, wie sich die fehlenden 2 Milliarden DM zusammensetzen: 800 Millionen DM Überkipper, also Rechnungen, die aus dem Jahre 2000 in dieses Jahr geschoben werden. ({5}) - Sicherlich hat es auch in der Vergangenheit, Herr Opel, Überkipper gegeben. ({6}) Es war dann nur so, dass der Verteidigungsetat angestiegen ist. Unter diesen Umständen kriege ich diese Dinge weg. Wenn er sinkt, wird die Zahl der Überkipper bzw. der Umfang der nicht erledigten Ausgaben immer größer. Wir haben ein zweites Problem, nämlich dass Sie die Mittel für steigende Personalkosten nicht in den Haushalt eingestellt haben. Des Weiteren sind - wie jeder weiß die 1,2 Milliarden DM, die aus der Privatisierung für Beschaffungen vorgesehen sind, weit entfernt von jeder Realität. Wenn Sie allein das addieren, kommen Sie auf eine Größenordnung von 2 Milliarden DM, die in diesem Etat fehlen. ({7}) Das macht deutlich, dass wir einen Nachtragshaushalt brauchen. Ein Nachtragshaushalt ist immer dann fällig, wenn Entwicklungen, die absehbar, also nicht unvorhersehbar waren, dazu zwingen, Haushaltskorrekturen vorzunehmen. Nun wollen wir trotz Ihrer Bemühungen, das alles zu verniedlichen, einmal schauen, was denn die Planungsabteilung des BMVg tatsächlich festgestellt hat. Sie hat bereits Mitte Februar in einer Vorlage - das war nicht die böse Opposition, sondern das eigene Haus - darauf hingewiesen, dass der unabdingbare Materialerhaltungsbedarf zur Aufrechterhaltung des Ausbildungs-, Übungsund Einsatzbetriebes sowie zur Erfüllung der internationalen Verpflichtungen zusätzliches Geld erfordert. Unabdingbar heißt, ohne zusätzliche Mittel können Materialerhaltungsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung des Ausbildungs-, Übungs- und Einsatzbetriebes sowie zur Erfüllung der internationalen Verpflichtungen nicht vorgenommen werden. Deutlicher kann man die Situation nicht beschreiben. Das heißt, Sie haben die Bundeswehr in kurzer Zeit heruntergewirtschaftet. ({8}) Dass dies in der Bevölkerung genauso gesehen wird, machen ja das abnehmende Ansehen und die sinkende Zahl von Bewerbern, die sogar bei besonders attraktiven Diensten zu verzeichnen ist, besonders deutlich. ({9}) Heute besteht die Gefahr, dass zwar die Gehälter der Soldaten und der zivilen Mitarbeiter noch aufgebracht werden können, aber Gelder für all das, was vertraglich nicht gebunden ist, nicht mehr. Das heißt, Aufwendungen für wehrtechnische Forschung, Beschaffung - wir haben überhaupt keine gültige Investitionsplanung mehr -, Infrastruktur, Informationstechnologie und Instandsetzung sowie eine mögliche Steigerung der Personalkosten können nicht bezahlt werden, wenn nicht zusätzliche Mittel bereitgestellt werden. Auf die Frage, woher die Gelder kommen sollen, sage ich ganz deutlich: Der Herr Bundesfinanzminister hat uns heute vorgeworfen, wir würden auf der einen Seite behaupten, es sprudle das Geld und er schwimme darin, und auf der anderen Seite, er brauche einen Nachtragshaushalt. Natürlich schwimmt er im Geld; er kassiert in diesem Jahr voraussichtlich 43 Milliarden DM mehr Steuern als 1998. Herr Kollege Metzger, wenn Ihre Rechnung stimmt und es 3 Milliarden DM weniger wären, so würde er immer noch 40 Milliarden DM mehr an Steuern einnehmen als im Jahre 1998. Dabei sind die Ausgaben gegenüber 1998 nur um 20 Milliarden DM gestiegen. Da sage noch einmal einer, er schwimme nicht im Geld. Auch die Privatisierungserlöse haben eine Rekordhöhe erreicht. Angesichts dieser Situation sagen wir, das Geld muss anders verteilt werden. Deshalb brauchen wir einen Nachtragshaushalt; deshalb muss die Plage der schlechten Politik beseitigt werden, die in diesem Ministerium offensichtlich von der Führung ausgeht. Bisher hat es das noch nicht gegeben, dass leitende Leute an der Spitze des Ministeriums die Öffentlichkeit suchen, um auf die dramatische Situation hinzuweisen, in der sich die Bundeswehr tatsächlich befindet. ({10}) Sie können in der Geschichte so weit zurückgehen, wie Sie wollen; dies hat es bisher nicht gegeben, weder bei Rühe noch bei Stoltenberg. Das macht deutlich: Es besteht Handlungsbedarf; die Bundeswehr braucht mehr Geld, wenn sie ihrem Auftrag entsprechen will. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat der Kollege Oswald Metzger für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Hierbei handelt es sich wiederum um eine Rede gemäß § 33 der Geschäftsordnung.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Genau, Herr Präsident, wenn man damit einmal angefangen hat, muss man es auch fortführen. Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition! Kollege Austermann, ich kann die Märchen, die Sie als haushaltspolitischer Sprecher erzählen, nicht mehr hören. Wenn Sie hier als Vertreter der größten Oppositionsfraktion den Eindruck erwecken, der Staat schwimme im Geld, und so tun, als ob die 43 Milliarden DM, die wir dieses Jahr an Mehreinnahmen erzielen, „on top“ dem Haushalt zugute kämen, aber dabei nicht erwähnen, dass wir noch neue Kredite in Höhe von 43 Milliarden DM aufnehmen, um diesen Etat auszugleichen, dann muss ich Ihnen leider vorhalten, dass das nicht zusammenpasst, sondern Volksverdummung und sonst gar nichts ist. ({0}) Nächster Punkt. Ich bin jetzt sechs Jahre im Haushaltsausschuss für Verteidigung zuständig ({1}) und habe die Oppositionszeit mitgemacht. Dabei habe ich erlebt - darauf hätte ich gerne einmal eine Antwort, Kollege Austermann -, welche Überkipper es während Ihrer Regierungszeit gegeben hat. Das heißt, man hat Investitionsrechnungen und Betriebskosten nicht bezahlt, damit man überhaupt die Personalausgaben bezahlen konnte; man hat also mit Investitionsmitteln alimentiert. Sie hatten nämlich bei den Personalkosten immer unteretatisiert. Und Sie reden heute von Haushaltsklarheit und -wahrheit! Wissen Sie, was wir machen? - Wir führen wie in anderen gesellschaftspolitischen Bereichen Aufräumarbeiten und eine Strukturreform durch, die sich bemüht, tatsächlich militärische und sicherheitspolitische Anforderungen der Verteidigung sowie bündnispolitische Verpflichtungen mit der Bereitschaft unserer Gesellschaft, Geld für das Militär aufzuwenden, in Einklang zu bringen. ({2}) Dies ist der Zusammenhang. Jeder von Ihnen aus der Opposition, auch Sie, Herr Nolting, weiß doch, dass weder F.D.P. noch Union in Wahlkämpfen der Bevölkerung klarmachen können, dass die Bundeswehr künftig deutlich mehr als 10 Prozent der Gesamtausgaben des Bundeshaushaltes bekommen wird. Woher denn bitte? Die im Bundeshaushalt für das Jahr 2001 vorgesehenen Ausgaben für Verteidigung liegen bei 9,3 Prozent. Auch in den letzten Jahren lagen sie bei unter 10 Prozent. Das entspricht der Linie, wie sie im Hinblick auf das Ziel der Konsolidierung verabredet wurde. Es geht hier um die Ausgaben in Bezug auf den Gesamtetat. Wenn wir die Reform ernst nehmen, dann muss nun die Investitionsplanung der Feinausplanung der Personalstruktur folgen. Eine Reihe von Personen aus dem verteidigungspolitischen Bereich hat ein paar Lieblingsfirmen und Lieblings-Teilstreitkräfte, weswegen sie sich für bestimmte Rüstungsprojekte einsetzen. Das funktioniert natürlich nicht, wenn man so tut, als ob man künftig alles, was sozusagen in der Pipeline ist, beschafft. Wir werden uns vielmehr von bestimmten Beschaffungsvorhaben und Rüstungsprojekten verabschieden müssen. ({3}) Das wird eine Entscheidung im Zusammenhang mit der Fortschreibung der Bundeswehrplanung sein, mit der die Investitionen auf die neue Streitkräftestruktur abgestimmt werden. Das ist keine Frage. ({4}) - Wollen Sie von mir ein paar Beispiele hören? ({5}) Warum muss das Wehrforschungs- und Erprobungsschiff sein? Warum muss die K 130 sein? Wir können auch über Stückzahlen diskutieren. Dort, wo es vertraglich möglich ist und zum sicherheitspolitischen Profil passt, müssen auch Stückzahlreduzierungen erfolgen. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. ({6}) Das, was die Koalitionsfraktionen im Haushaltsausschuss beschlossen haben, ist doch kein Geheimnis: Der Einnahmetitel von 1 Milliarde DM braucht in diesem Jahr natürlich Monate, um wirksam zu werden. Man kann doch nicht Liegenschaften, die nicht baureif sind, zu Schleuderpreisen veräußern, weil man sie damit - das wollen wir nicht - unter Wert verkauft. Wir wollen werthaltige Grundstücke tatsächlich baureif machen. Mit dem Geld, das durch ihren Verkauf eingenommen wird, sollen seriöse Investitionen finanziert werden. Um dem Verteidigungsministerium diesen Anschub deutlich zu machen, haben wir gesagt: Scharping kann aus dem Einnahmetitel auf jeden Fall 300 Millionen DM als Vorgriffsermächtigung verwenden, egal ob das Geld eingenommen wird oder nicht. Das ist doch seriös. Wir können doch nicht so tun, als ob wir von Januar bis Juni Einnahmen aus Veräußerungen in Höhe von 1 Milliarde DM erzielen könnten. Ein weiteres Stichwort lautet: Rationalisierungspotenziale bzw. Outsourcingpotenziale bei der Bundeswehr; das ist bei der GEBB angesiedelt. Der konzeptionelle Ansatz, bestimmte Bereiche, die bisher in der Bundeswehr angesiedelt waren, in die Wirtschaft zu verlagern und damit Kosten zu sparen, ist richtig. Diesen Ansatz hat übrigens auch Ihre Regierung in anderen Politikfeldern verfolgt. Es geht um Outsourcing in den Bereich der Wirtschaft, um Kosten zu sparen. Aber wir müssen den Verantwortlichen bei der Bundeswehr Zeit geben, damit sie seriös vorgehen können. Ich bin sicher: Die Ressourcen und die Effizienzreserven in den Streitkräften reichen aus, um die Strukturreform im Rahmen der Finanzplanung zustande zu bringen. Wenn man der Bundeswehr heute mehr Geld zukommen ließe - zum Beispiel weil bestimmte Besitzstandswahrer, auch solche in Uniform, auf der Hardthöhe oder in der Fläche, aus den Reihen der Opposition oder vielleicht auch im Koalitionslager, meinen, man könne Reformen nur mit mehr Geld durchführen und man müsse dieses Geld bereits investieren, bevor die Reformschritte konkret eingeleitet sind -, ({7}) dann machte man die Reform unmöglich. Man müsste dann in der nächsten Legislaturperiode eine Bundeswehr finanzieren, die jährlich zwischen 3 und 5 Milliarden DM mehr kostet. ({8}) Deshalb heißt es jetzt: Im Rahmen der Verabredungen Linie halten! ({9}) - Herr Nolting, ich kenne die Vorschläge der WeizsäckerKommission. Aber Weizsäcker denkt an eine andere Personalstruktur. ({10}) - Er spricht von einer Anschubfinanzierung, stellt dann aber die Ausgaben in einen Zusammenhang mit der Finanzplanung. Wir brechen die Strukturplanung von der Ebene der politischen Leitung auf die Teilstreitkräfte herab. Jetzt brauchen wir die Investitionsseite. Ich weiß, dass wir in der Aktuellen Stunde, in der man fünf Minuten Redezeit hat, darüber keine Fachdiskussion führen können.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Metzger, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen. ({0})

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, darum geht es mir nicht. Ich will eines deutlich machen: Das Geschrei, dass zu wenig Geld da ist, verhindert Reformen. Das ist meine Erfahrung aus der Vergangenheit. Nur unter Berücksichtigung der Knappheit der Ansätze lässt sich die Chance einer Umstrukturierung wahrnehmen, sicherheitspolitische Erfordernisse der Republik und die Finanzierbarkeit des Haushalts langfristig in Einklang zu bringen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nun das Wort dem Kollegen Jürgen Koppelin für die Fraktion der F.D.P.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Generalinspekteur der Bundeswehr hat das getan, was nach meiner Meinung seine Pflicht und seine Aufgabe ist: Er hat dem verantwortlichen Bundesminister, aber auch der Politik insgesamt aufgezeigt, wie bedenklich der Zustand der Bundeswehr ist. Wir sollten ihm dankbar sein, dass er das in dieser Deutlichkeit gesagt hat. ({0}) Wir müssen nur die Konsequenzen daraus ziehen. Ich finde es nicht in Ordnung, dass der Kollege Zumkley von einer Gerüchteküche spricht, wenn wir diese Probleme ansprechen. ({1}) Gehört denn das, was der Generalinspekteur sagt, zur Gerüchteküche? Das darf ja wohl nicht wahr sein. Vorhin hat die Kollegin Beer gefragt, was diese Aktuelle Stunde soll. Sie sagte, das sei doch völlig überflüssig. ({2}) Allein der Beitrag des Kollegen Metzger hat gezeigt, wie notwendig diese Aktuelle Stunde ist. Jeder in der Bundeswehr kann nämlich jetzt erkennen, was in der Koalition los ist und wie die Koalition zur Bundeswehr und zu ihrer Finanzierung steht. ({3}) Ich bin für diese Aktuelle Stunde ausdrücklich dankbar; denn der Kollege Metzger hat hier deutlich gemacht, dass er Verteidigungspolitik nach Kassenlage machen will. Es ist ihm völlig egal, ob, wie der Generalinspekteur sagt, das Material veraltet ist und wie der Zustand der Gebäude ist. Die Hauptsache ist, dass Metzgers Kasse stimmt. Da der Kollege davon spricht, dass angesichts der Lage des Bundeshaushaltes nicht mehr drin sei - ich stimme ihm zu, dass die Haushaltslage schlecht ist -, würde ich hier eigentlich gerne auflisten - die Zeit habe ich aber leider nicht -, welche rot-grünen, aber vor allem grünen Spielereien sich im Haushalt wiederfinden, für die also Geld in der Kasse ist und über die das Füllhorn ausgeschüttet wird. Auch das gehört zur Wahrheit. ({4}) Man muss doch erkennen, dass die Bundeswehr in einem katastrophalen Zustand ist, ({5}) dass die Motivation in der Bundeswehr völlig unten ist und dass das Material überwiegend in einem schlechten Zustand ist, weil es zum Teil älter ist als die Wehrpflichtigen. Das ist doch das Problem, das wir heute bei der Bundeswehr haben. ({6}) - Ich komme noch darauf zurück, Frau Kollegin Beer. Im Übrigen glaube ich, dass Sie am wenigsten geeignet sind, an dieser Stelle dazwischenzurufen, weil Sie früher bundeswehrfreie Zonen schaffen und den Bundeswehretat radikal herunterfahren wollten. ({7}) Ich sage Ihnen Folgendes: Keiner von uns - insofern habe ich das anerkannt, was der Generalinspekteur gesagt hat -, egal, ob er heute den Regierungsfraktionen oder den Oppositionsfraktionen angehört, kann sich von der Verantwortung freisprechen. Auch wir haben Haushalte für die Bundeswehr verabschiedet, von denen wir sagen müssen, dass sie unterfinanziert waren. Auch bei Ihnen ist das heute der Fall. Es bringt uns aber nicht sehr viel weiter, wenn wir gegenseitig mit dem Finger auf uns zeigen. Ich werde nachher noch etwas dazu sagen. ({8}) Was uns aber auch nicht weiterbringt, sind Beschönigungsreden des Verteidigungsministers. ({9}) Der Verteidigungsminister sagt, das alles seien Spekulationen. Es gebe keine großen Haushaltsprobleme; es gebe zwar ein paar kleine Schwierigkeiten, aber ansonsten sei alles bestens. Ich wundere mich allerdings darüber, dass die Medien melden, dass sich der Verteidigungsminister mit dem Bundeskanzler und mit dem Finanzminister zu einem Krisengespräch getroffen hat. ({10}) Was wurde denn da besprochen? Das müssten Sie uns einmal erzählen; das wäre sehr interessant. ({11}) Ich stelle fest: Der Verteidigungsminister war erneut erfolglos - deswegen wird die Bedeutung des Gespräches abgewertet -; er lässt sich ständig vom Kanzler und vom Finanzminister demütigen und nickt das auch noch ab. ({12}) Ich muss daher sagen, dass er inzwischen zu „Rudi Ratlos“ geworden ist. Ich weiß nicht, ob der Kollege Austermann das Zitat von Frau Simonis erwähnt hat. Frau Simonis hat gesagt - das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen -: Dieses Verteidigungsministerium ist eine echte Plage. ({13}) Da weiß die rechte Hand nicht, was die linke tut. ({14}) Wegen der Kürze der Zeit will ich Ihnen das ganze Zitat ersparen. Der Kollege Opel verzieht schon das Gesicht, wenn ich nur den Namen Simonis erwähne. ({15}) Der Verteidigungsminister sagt nun, dass wir bei den Großprojekten Zusatzentscheidungen brauchen. Was heißt das denn eigentlich? Darauf ist der Kollege Metzger überhaupt nicht eingegangen. Zusatzentscheidungen bedeuten doch, dass man mehr Geld braucht. Der Verteidigungsminister hat aber vor den Haushaltsberatungen nicht mit dem Finanzminister darüber gesprochen. Das ist sein entscheidender Fehler gewesen. Er muss sich jetzt quälen lassen, weil der Finanzminister zu Recht sagt: Wir haben den Haushalt beschlossen; dabei bleibt es. Es sind entscheidende Fehler vom Verteidigungsminister gemacht worden; darum braucht man gar nicht herumzureden. Es besteht ein heilloses Durcheinander: Der Kollege Zumkley erklärt, die Bundeswehr werde nicht mehr Geld bekommen. Der Kollege Opel fordert ein Modernisierungsprogramm in Höhe von etwa 50 Milliarden DM. ({16}) Wer hat nun Recht? Werden Sie sich doch erst einmal untereinander einig! Ihr Hauptproblem ist doch, dass Sie im Bereich Verteidigung noch nicht einmal die Unterstützung Ihrer Haushälter haben. Hinzu kommt ein weiterer Punkt, Herr Kollege Metzger. Sie sprechen von Reformen, die wir angeblich nicht durchgeführt haben. Ihr Fehler ist, dass Sie Folgendes nicht bedenken: Reformen, gerade Reformen bei der Bundeswehr, kosten erst einmal Geld, bevor man langfristig sparen kann. ({17}) Der Verteidigungsminister will aber kein Geld für die Reformen ausgeben. Er wird also langfristig auch nicht sparen können. Auch wir haben Fehler gemacht. Deshalb sage ich: Wir sollten nicht gegenseitig mit dem Finger auf uns zeigen. Ich bin dafür, dass wir uns zusammensetzen - denn es geht doch nicht um die Armee einer Regierung oder einer Partei - und uns wirklich überlegen, wie wir der Bundeswehr helfen können. ({18}) Ich erneuere das Angebot der Freien Demokraten, mit Ihnen darüber zu sprechen, wie wir die Bundeswehr vernünftig finanzieren können und wie wir eine vernünftige Reform machen können. Es ist aber leider so, dass wir einen Verteidigungsminister haben, der sich da abschottet. Sie müssen Ihren Verteidigungsminister bewegen, wieder mit dem Parlament zu sprechen. Das macht er im Moment nämlich nicht. Er spricht nur mit seinem Küchenkabinett. Er redet ja nicht einmal mit Ihren Verteidigungspolitikern; das wissen wir doch inzwischen. ({19}) Wenn wir dann zusammensitzen, nehmen wir uns einmal den Zustandsbericht des Generalinspekteurs vor. Denn wenn wir nicht zusammen versuchen, Verteidigungspolitik zu machen - ich darf daran erinnern, dass, als Sie die Regierung übernommen haben, auch wir Freien Demokraten Ihrem Verteidigungsetat zugestimmt haben, weil wir wollen, dass die Bundeswehr die Armee des ganzen Bundestages ist -, dann bleibt an dieser rotgrünen Koalition ein Etikett haften: der niedrigste Verteidigungsetat seit vielen Jahren, aber der höchste Rüstungsexport seit vielen Jahren. Vielen Dank. ({20})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Hans Georg Wagner.

Hans Georg Wagner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002406, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was wir heute hier erleben, ist der Höhepunkt der Panikmache der letzten Wochen. Ziel der Opposition auf der rechten Seite ist, ({0}) die Bevölkerung, die Bundeswehr, die Bewohner und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Donauwörth, wo der „Tiger“ hergestellt werden soll, zu verunsichern und sie im Unklaren darüber zu lassen, dass die Politik dieser Bundesregierung auch in diesen Bereichen richtig und vernünftig und für die Konsolidierung der Bundesfinanzen notwendig ist. Sie haben nun einmal diese Misere zu verantworten. Sie haben 1,5 Billionen DM Schulden gemacht. Sie haben verursacht, dass jährlich 82 Milliarden DM an Zinsen gezahlt werden müssen. Das ist ein „Erfolg“ Ihrer Politik. Wir sind sozusagen beim Ausmisten dessen, was Sie uns hinterlassen haben. Das gilt auch für den Bereich der Bundeswehr. ({1}) Wenn Sie sich an die Haushaltsdebatte im November erinnern, wissen Sie, dass ich Ihnen damals in Bezug auf zwei Bereiche ganz konkret gesagt habe, was Sie uns hinterlassen haben, nämlich im Bereich der Bahn und im Bereich der Bundeswehr. Was der Generalinspekteur gesagt hat, ist eine Bestätigung dessen, was ich schon damals hier vorgetragen habe. Nun zum Haushalt selber. Sie wissen ganz genau, dass von den 46,96 Milliarden DM, die der Haushalt des Verteidigungsministers, der Einzelplan 14, ausmacht, jetzt 372 Millionen DM unsicher sind. Das sind genau 0,6 Prozent. Nun frage ich einen Haushälter, Herrn Austermann beispielsweise: Erklären Sie mir bitte einmal, warum es bei fast 47 Milliarden DM nicht möglich sein soll, innerhalb eines Jahres 372 Millionen DM an irgendeiner Stelle umzuschichten und einzusparen! Das ist machbar und so wird es auch gemacht. Da lassen wir uns von Ihnen überhaupt nicht beirren. ({2}) Sie wissen ganz genau, Herr Kollege Rossmanith, dass der Einzelplan 14, den Sie aus der Vergangenheit - zumindest dem Namen nach - kennen, nun einmal anders zusammengestellt ist als bei allen NATO-Partnern. Die Versorgungslasten beispielsweise, also die Pensionen, die bei der Bundeswehr anfallen, sind bei uns im Einzelplan 33. Wenn ich alles, was bei uns aus dem Verteidigungshaushalt ausgeklammert, bei den anderen Ländern aber eingeschlossen ist, zusammenrechne, dann müssten wir den Verteidigungshaushalt nominell um 12,5 Milliarden DM erhöhen. ({3}) Das bringt ja nichts, da es nur ein Durchlaufposten ist, aber so ist das nun einmal. 0,6 Prozent des Verteidigungshaushaltes aufzubringen müsste in diesem Einzelplan eigentlich möglich sein. Hinsichtlich der Beschaffung - das hat der Kollege Metzger gesagt - müssen wir jeden Einzelfall betrachten. Auch mich hat es irritiert, dass es plötzlich hieß, wir bräuchten den „Tiger“ nicht mehr. Vor ein paar Monaten hat man uns noch eingetrichtert, man bräuchte ihn unbedingt, und nun heißt es, das sei eine Fehlmeldung gewesen. Frage: Wer setzt solche Fehlmeldungen eigentlich in die Welt? Um das Bild einmal abzurunden: Gestern ist zum Beispiel im Haushaltsausschuss das Besoldungsanpassungsgesetz beschlossen worden. Darin war eine Regelung enthalten, dass für die Soldaten der Bundeswehr der Besoldungsstufen A 1 bis A 9 viermal 100 DM zusätzlich aufgebracht werden sollen. Das hat die CDU/CSU abgelehnt. ({4}) Ich frage Sie: Wie können Sie auf der einen Seite die Bundesregierung beschimpfen, wenn Sie auf der anderen Seite dann, wenn die Koalition konkret etwas für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundeswehr, für die Soldatinnen und Soldaten tun will, dieses ablehnen? ({5}) Das ist nicht verständlich und nicht mehr nachvollziehbar. ({6}) Zum Thema „Überkipper“ müssen Sie ganz ruhig sein. Sie gehen doch genauso wie ich in die Betriebe. Dann müssen Sie sich in den Betrieben auch einmal erkundigen. Dass die Betriebe vorfinanzieren, liegt nur daran, dass wir zurzeit günstige Zinsen haben. Wenn die Rüstungskonzerne also in der Hoffnung auf weitere Aufträge zunächst einmal darauf verzichten, dass die Rechnungen bezahlt werden, dann entstehen diese „Überkipper“. Das ist gar nichts Neues, sondern eine von Ihnen übernommene unrühmliche Geschichte. Das bezeichne ich deshalb so, weil ich meine, dass das irgendwann beseitigt werden muss und die Rechnungen so bezahlt werden müssen, wie es dem Haushaltsjahr entspricht. Allerdings kommt hinzu, dass die Firmen oftmals - das wissen Sie auch - nicht in der Lage sind, Rechnungen rechtzeitig zu stellen, sodass die Rechnungen erst im Januar oder Februar kommen. Nun noch wenige Sätze zu der 1 Milliarde DM. Welcher Makler dieser Welt wäre in der Lage, innerhalb eines Sechstels eines Jahres, also nach zwei Monaten, bereits die volle Summe, die zum Jahresende veranschlagt ist, zu erzielen? Nicht ein einziger Makler! Auch die CDU/CSU wäre nicht in der Lage, die Grundstücke in den ersten beiden Monaten zu verkaufen. ({7}) Sie müssen bewertet und angeboten werden, sie müssen in die kommunalen Planungen hineinpassen und dann muss man sehen, wie das Geld eingeht. Ich bin mir absolut sicher, dass wir diese 1 Milliarde DM erreichen und, wenn der Verkauf ohne Störungen abgeht, sogar übertreffen werden. Dann werden auch alle Probleme, die Sie in den letzten Wochen panikartig verbreitet haben, vom Tisch sein. Ich sage an dieser Stelle noch einmal, was ich schon in der Haushaltsdebatte gesagt habe: Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping kann sich auf die Solidarität der Haushälter der Koalition verlassen. ({8}) Wir werden mit ihm gemeinsam die Probleme lösen, die Sie verursacht haben. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Paul Breuer.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bundesverteidigungsminister Scharping ist gestern in die Vereinigten Staaten geflogen. Ich frage mich, was er unserem Hauptverbündeten in den Vereinigten Staaten eigentlich im Hinblick auf die deutsche Leistungsfähigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik erzählen kann. ({0}) Er müsste, wenn er ehrlich wäre, sagen, dass Deutschland in der Zukunft nicht dazu in der Lage sein wird, den Beitrag zu erbringen, der notwendig ist, um den euro-atlantischen Raum sicher zu halten. Das ist die traurige Wahrheit. ({1}) Die außen- und sicherheitspolitische Konsequenz dessen, ({2}) was hier stattfindet, ist genau das, was wir unseren Mitbürgern vermitteln müssen. Der Kollege Klose, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, hat vor wenigen Wochen von dieser Stelle aus gesagt: Wir müssen unseren Mitbürgern erklären, dass die Zeit, in der man Friedensdividenden verteilen konnte, vorbei ist und die Verteidigungshaushalte in Europa und speziell in Deutschland in Zukunft steigen müssen, damit wir unserer Verantwortung gerecht werden können. Herr Klose hat Recht, aber die Sozialdemokraten haben nicht verstanden - und die Grünen schon gar nicht -, was er damit meinte. ({3}) Meine Damen und Herren, wir leben nicht auf der Insel der Glückseligen. Die Spannungen, die Instabilitäten, die Kriege rund um unseren Kontinent sind jeden Tag für jeden Bürger auf dem Bildschirm sichtbar. Wer hier in Deutschland nicht fähig ist, zur Kenntnis zu nehmen, dass es unerlässlich ist, in der Untermauerung einer Sicherheits- und Außenpolitik auch militärisch eigene Beiträge zu Stabilität und Stabilisierung zu erbringen, versagt in der Politik. Ich mache der Koalition den Vorwurf, dass sie absolut versagt, was Vorsorgepolitik angeht. ({4}) Herr Kollege Wagner, Sie sagten, Herr Scharping könne sich auf die Solidarität der Haushälter der Koalition verlassen. ({5}) Dazu sage ich Ihnen: Lesen Sie den Kommentar in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ von heute, der mit „Lippenbekenntnisse“ überschrieben ist. Dort heißt es: Der Verteidigungsminister weiß schon länger, was es heißt, wenn der Bundeskanzler und der Finanzminister ihm „kurz und kollegial“ ihre Unterstützung für den Umbau der Bundeswehr zusichern: Er bekommt kein Geld. Das ist die Solidarität, die Sie hier versichern. Diese Solidarität ist keinen Schuss Pulver wert. Das sage ich Ihnen ganz deutlich. ({6}) Ich bin davon überzeugt, dass die eigentliche Problematik in Folgendem besteht: Der Verlust des außen- und sicherheitspolitischen Renommees Deutschlands, die Gefahr für die Sicherheit unserer Soldaten im Einsatz ist der Mehrheit der Kollegen in der SPD-Bundestagsfraktion eigentlich Wurscht. Da liegt das Problem in der deutschen Verteidigungspolitik. ({7}) Was die Grünen angeht, so bin ich davon überzeugt, Herr Kollege Metzger, dass es in Ihren Reihen eine große Mehrheit gibt, die sich darüber freut, dass die Bundeswehr gegen die Wand gefahren wird. ({8}) - Das ist so. Die Wurschtigkeit in der SPD und das politische Wollen bei den Grünen, die Bundeswehr an die Wand zu fahren, sind das eigentliche Problem. ({9}) Die scharpingsche Reform ist vor diesem Hintergrund nicht mehr als ein potemkinsches Dorf. Es ist nicht möglich, die Bundeswehr mit einer fallenden Finanzlinie zu reformieren und zu modernisieren. ({10}) Wenn Sie nicht verstehen, dass das nicht geht, dann wird Herr Scharping natürlich scheitern. ({11}) Ich bin aber davon überzeugt, dass Ihnen auch das Wurscht ist. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Kurt Palis.

Kurt Palis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001673, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Vordergrund der öffentlichen Diskussion um den Verteidigungshaushalt dieses Jahres steht naturgemäß die Frage, ob der im Einsatz sowie bei der Ausbildung und bei den Übungen erforderliche Material- und Ausrüstungsaufwand ausreichend finanziert werden kann. Davon hängt viel ab. Mein Kollege Zumkley und der Staatssekretär haben das Erforderliche dazu gesagt, ebenso unser haushaltspolitischer Sprecher. Wir sollten aber auf gar keinen Fall übersehen, dass das größte Gut der Streitkräfte Menschen sind, wie wir sie haben, Menschen, die zuverlässig ihren Dienst erfüllen. Die Bundeswehr benötigt für eine erfolgreiche Auftragserfüllung motivierte und leistungsbereite Soldatinnen und Soldaten ebenso wie qualifiziertes und engagiertes Zivilpersonal. Noch haben wir diese Menschen und wir haben Anlass, ihnen für ihren täglichen Einsatz zu danken, insbesondere den Soldatinnen und Soldaten, die heimatfern ihre Pflicht erfüllen müssen. ({0}) Wir wollen den Leistungswillen und die Einsatzbereitschaft der Menschen bei der Bundeswehr erhalten und fördern. Deshalb halte ich es für geboten, Ihnen, meine Damen und Herren, noch einmal in Erinnerung zu rufen, welche Maßnahmen zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes von der Bundesregierung beschlossen wurden und von den Koalitionsfraktionen mitgetragen werden. Wenn ich diese Stichworte hier noch einmal nenne, so spiegelt das gleichzeitig wider, was in der Regierungszeit von CDU/CSU und F.D.P. versäumt wurde und liegen geblieben ist. Ich nenne als erstes Stichwort die Qualifizierungsoffensive: In Zusammenarbeit mit der Wirtschaft wird das Angebot an beruflicher Qualifizierung erweitert. Insbesondere ausscheidenden Soldaten wird eine breite Palette beruflicher Qualifizierungsmöglichkeiten angeboten. Als Weiteres nenne ich die Planstellenanhebung für Unteroffiziere und Offiziere des militärfachlichen Dienstes, die Besoldung der Einheitsführer mindestens nach A 12, die Neuordnung der Unteroffizierslaufbahn ({1}) - ich verstehe Ihre Unruhe, weil das alles ein Sündenregister dessen ist, was in der Vergangenheit liegen geblieben ist -, ({2}) die Schaffung eines gestaffelten Wehrsolds für freiwillig länger Dienst Leistende, die Anhebung der Eingangsbesoldung für Mannschaften auf A 3 ({3}) und den Abbau personeller Überhänge. Nun wird natürlich von den für diese Aktuelle Stunde Verantwortlichen die Frage gestellt: Wie wird das alles finanziert? ({4}) Bereits im vergangenen Jahr haben wir 1 500 zusätzliche Beförderungsmöglichkeiten für Mannschaften, Unteroffiziere und Offiziere geschaffen. ({5}) In diesem Jahr profitieren die Mannschaftssoldaten im Balkaneinsatz von 1 500 neuen Möglichkeiten der Beförderung zum Hauptgefreiten. Zusätzlich können 1 500 hochwertige Offizier- und Unteroffizierdienstposten für die Förderung qualifizierter Soldaten genutzt werden. Zivile Mitarbeiter können durch Stellenanhebungen im mittleren und gehobenen Dienst aufgabengerecht entlohnt werden. Die Vorbereitung der gesetzlichen Regelung für weitere Besoldungsverbesserungen, wie zum Beispiel die Besoldung der Kompaniechefs nach A 12 und die Anhebung der Eingangsbesoldung auf A 3 sowie die Auflösung des Beförderungs- und Verwendungsstaus, den wir von Ihnen übernommen haben, ist abgeschlossen. Diese Verbesserungen setzen die Kabinettsbeschlüsse zur Bundeswehrreform konsequent um. Die Abstimmung innerhalb der Bundesregierung ist eingeleitet. Es sind Vorkehrungen getroffen worden, um strukturelle Personalüberhänge abzubauen und den damit einhergehenden Verwendungs- und Beförderungsstau aufzulösen. Nach Einführung der erforderlichen gesetzlichen Regelung können wir die für 2001 vorgesehenen Besoldungsverbesserungen für Kompaniechefs und Spitzendienstgrade der Unteroffiziere erreichen. Die Rückführung der Zahl ziviler Mitarbeiter soll und wird in einem mittel- bis langfristigen Prozess geschehen, indem im Wesentlichen die normale Fluktuation genutzt wird. Dass es in diesem Abschmelzungsprozess betriebsbedingte Kündigungen nicht geben wird, haben der Verteidigungsminister und der Bundeskanzler ausdrücklich zugesagt, wie Sie wissen. Die Verhandlungen zur Vereinbarung eines Tarifvertrages zur sozialverträglichen Ausgestaltung des Reduktionsprozesses haben begonnen. Wir erwarten im Interesse der zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine zügige Verhandlungsführung und einen baldigen Abschluss. Meine Damen und Herren, Sie sehen, dass wir uns um die berechtigten Interessen kümmern. Die Menschen der Bundeswehr verdienen dies, und zwar umso mehr, als sie in den nächsten Monaten und Jahren nicht nur ihren normalen Dienst werden verrichten müssen, sondern gleichzeitig die erforderlichen Reformschritte vollziehen müssen. Wir werden sie dabei verantwortlich unterstützen. Helfen auch Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, dabei mit! Beenden Sie vor allem die taktischen Aufgeregtheiten, die sich ja auch in der Beantragung dieser Aktuellen Stunde ausdrücken! Sie erzeugen bei den Bundeswehrangehörigen und ihren Familien mutwillig, aber grundlos Verunsicherung. Das haben diese nicht verdient. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Hans Raidel für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die bisherige Debatte zusammenfassend betrachtet, muss man feststellen: Man kommt sich vor wie in einer Märchenstunde, wenn man all das hört, was seitens der Regierungskoalition gesagt worden ist. Bezieht man das Gesagte nur auf den Haushalt bzw. auf die Haushaltsgrundsätze, ist zu betonen: Wahrheit und Klarheit kommen in diesem Haushalt absolut zu kurz. Sonst müssten diese Risiken gar nicht so beschrieben werden, wie sie von der Führung des Hauses beschrieben worden sind. Denn dann wäre ja das notwendige Geld vorhanden. Da ständig bestritten wird, dass das so ist, möchte ich mit der Erlaubnis des Präsidenten aus dem Schriftverkehr des Verteidigungsministeriums zitieren. Hier heißt es ganz einfach, die Situation sei außerordentlich angespannt, insbesondere angesichts des frühen Zeitpunktes im Jahr und der Gesamtentwicklung. Hier habe sich über einen längeren Zeitraum ein zusätzlicher Bedarf aufgebaut, der mit den normalen Steuerungsmaßnahmen des Haushaltsvollzuges nicht mehr bewältigt werden könne. ({0}) Herr Wagner beschreibt hier eine völlig andere Situation und Herr Metzger spricht in seiner bekannten Lyrik über diese Themen. Eigentlich muss man ihm dankbar dafür sein, dass er endlich einmal das grüne Herz ausgeschüttet hat und wir endlich wissen, wo Rot-Grün, insbesondere Grün, tatsächlich in Sachen Verteidigung steht. Die Wahrheit ist: Sie haben für diese Dinge nichts übrig. ({1}) Ich sage Ihnen eines: Sicherheit nach Kassenlage gibt es nicht. Erst muss das stehen, was wir zur Sicherheit insgesamt brauchen, national und international, und dafür muss das notwendige Geld gegeben werden - und nicht umgekehrt. Lassen Sie mich das am Beispiel der Luftwaffe erläutern. In diesem Bereich fehlen, wie von den Fachleuten im Hause erarbeitet wurde, rund 218 Millionen DM. Dazu heißt es: Bei Nichtverfügung dieser Mittel können Ersatzteile nicht beschafft werden, können logistische Betreuungsleistungen nicht beauftragt werden, können Instandsetzungen, Inspektionen etc. nicht verfügt werden, können Materialerhaltungsmaßnahmen nicht mehr durchgeführt werden. Im Grunde genommen ist dies eine Bankrotterklärung. Deswegen musste die Luftwaffenführung eine Reduzierung des der NATO zugesagten Assignierungsumfanges vorschlagen, mit der Folge, dass Luftfahrzeuge stillgelegt und Einsatzbesatzungen zeitweilig in einen Übungshaltestatus versetzt werden - nur, um Geld zu sparen! Damit wird es nicht möglich sein, unsere Verpflichtungen gegenüber der NATO - möglicherweise auch gegenüber der EU, der UN und der OSZE - zu erfüllen. Und was ist die Folge? Schauen Sie es sich doch an: Viele Piloten der Luftwaffe verlängern ihre Verträge nicht, sondern gehen in die zivile Luftfahrt, einfach weil ein Verbleiben in der Bundeswehr unattraktiv geworden ist; Lehrgänge können nicht besetzt werden, weil die qualifizierten jungen Leute nicht mehr bei der Luftwaffe Pilot werden wollen. Das zeigt, dass der Zustand der Luftwaffe besorgniserregend ist. ({2}) Aber bei den anderen Truppenteilen ist es nicht anders. ({3}) Wir haben deshalb gefordert: Der Minister muss mit dem Bundeskanzler und mit dem Finanzminister sprechen, damit er das notwendige Geld bekommt. Weil uns immer unterstellt wird, wir würden dieses Thema nur polemisch abhandeln, will ich Ihnen aus einem Kommentar zitieren, der heute in der „Augsburger Allgemeinen“ - eine sicherlich unverdächtige Quelle - erschienen ist: Scharping hat die Chance ungenutzt verstreichen lassen. Nach dem Gipfeltreffen mit Schröder und Eichel blieb ihm nur der geordnete Rückzug. ... Scharping wird so mehr und mehr zur tragischen Figur. Er kann aus der Haut des braven Parteisoldaten nicht heraus. Das aber ist zu wenig und falsch. Die Bundeswehr braucht einen Fürsprecher im Kabinett, einen Kämpfer, der notfalls für die Interessen der Soldaten einen Konflikt mit dem Finanzminister riskiert. Scharping dagegen redet die Probleme klein, beschönigt und wiegelt ab. Ihm persönlich nützt das nichts und der Bundeswehr schadet es. Auf dem Spiel stehen der Ruf der Bundesrepublik und ihre Glaubwürdigkeit auf dem internationalen Parkett. Das ist eine kurz zusammengefasste Beschreibung der tatsächlichen Situation. Sie aber kommen daher und wollen uns ein Märchen erzählen über den Zustand unserer Armee und über die Sicherheitslage. Ich fordere Sie von hier aus auf, sich mit dem Kanzler und dem Finanzminister zusammenzusetzen und gemeinsam das notwendige Geld zu erstreiten. Es kann nicht sein, dass sich der Bundeskanzler hinstellt und in seiner bekannten Art sagt: ({4}) „Ich lassen keinen im Regen stehen!“, aber er jeden im Regen sitzen lässt. So kann man nicht Politik betreiben. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde spricht nun für die SPD-Fraktion der Kollege Gerd Höfer.

Gerd Höfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002679, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das einzig Positive - wenn man es überhaupt positiv nennen kann -, was der Opposition gelungen ist, ({0}) ist, die Presse von einer Suppe zu überzeugen, zusammengerührt aus einer Tatsache, aus vielen Spekulationen, Unterstellungen, Verleumdungen und aus Fragen, die von Altlasten herrühren. Zukunftsfragen sind damit ebenfalls verbunden worden. ({1}) - Ich werde das gleich durchdeklinieren; aber vorher möchte ich den Kollegen Breuer bitten, sich bei der SPDFraktion in diesem Hause zu entschuldigen. Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass Sie, Herr Breuer, sich hier hinstellen und sagen, die Sicherheit unserer Soldaten sei uns Wurscht. Wer hat denn, beginnend in der letzten Legislaturperiode, gepredigt, es müsse ein Schutzkonzept her, die Beschaffungsmaßnahmen der Bundeswehr müssten sich am Schutz der Soldaten orientieren? Wer hat denn den M 113 angeschafft, der noch nicht einmal richtig schwimmen kann, der wie Zunder brennt und durch den man mit dem Gewehr hindurchschießen kann? Wer hat denn für das Allzweckfahrzeug gesorgt? ({2}) Wie ist es denn gekommen, dass diese Dinge so verändert worden sind? Warum wurde mit Splittersicherheit nachgerüstet usw.? Alle diese Dinge haben doch etwas mit dem Schutz unserer Soldaten zu tun. Glücklicherweise haben wir das meiste praktisch gemeinsam gemacht. Ich finde es unerhört und erbärmlich, dass man zu solchen Mitteln greift, um eine Partei auf dem Rücken der Soldaten zu diskreditieren. Wie wollen Sie das überhaupt verantworten? ({3}) Die einzige Tatsache, die Sie hier angeführt haben, ist, dass die Inspekteure in Zusammenarbeit mit dem Generalinspekteur festgestellt haben, dass 380 Millionen DM für den Unterhalt der Fahrzeuge fehlen. Die Haushaltsexperten unserer Partei haben gesagt, dass diese Mittel aus dem Kapitel 14 03 erwirtschaftet werden können und 0,6 Prozent des Gesamthaushalts ausmachen. ({4}) Die Frage, wie das gemacht werden soll, wurde also beantwortet. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. ({5}) Dann haben Sie, um weitere Verunsicherung in die Truppe zu bringen, locker verbreitet, der „Tiger“ werde nicht gebaut, es könnten 25 000 Wehrpflichtige nicht eingezogen werden. Das alles haben Sie durch die Zeitungen verbreiten lassen. In der Regel macht man das so - das ist nichts Neues -, dass man das mit einer Frage verbindet, die man gleich selber beantwortet, indem man sagt: Wenn das so kommt, ist das für die Bundeswehr nicht gut; die Sozialdemokraten gehen mit der Bundeswehr nicht gut um. ({6}) Das sind Dinge, die Herr Scharping schon seit zwei Jahren sagt - nur hat das damals nicht für Aufregung gesorgt -: dass die Bundeswehr zurzeit nicht zu 100 Prozent einsatzfähig ist, gemessen an den Aufgaben und Verpflichtungen, die Sie nicht eingegangen sind, zu denen Sie praktisch nicht die Vision und auch nicht die Courage hatten. Es ging zum Beispiel darum, der EU zu helfen und eine Einsatztruppe zu schaffen. Der Generalinspekteur hat gesagt, das habe man erst in dem Prozess der Vorbereitung auf Nizza entwickelt. Diese Truppe müsse aufgestellt, umorganisiert, angeboten werden. Da diese Truppe noch nicht stehe, hat der Generalinspekteur gesagt, sei die Bundeswehr nur in diesem Bereich noch nicht zu 100 Prozent einsatzfähig. Aber Herr Breuer neigt ja zum kognitiven Umstrukturieren und macht daraus: Die gesamte Truppe ist in allen Aufgabenspektren nicht einsatzfähig. Er stellt das einfach in der Öffentlichkeit so fest, wider besseres Wissen. Das ist das, was aus den Äußerungen des Generalinspekteurs bewusst herausgelesen und kognitiv umstrukturiert worden ist. Den anderen - unparlamentarischen - Ausdruck möchte ich nicht benutzen. Weiterhin beschönigen Sie das, was Altlasten waren. Hat es schon einmal jemand fertig gebracht, ein neues Flugzeug zu bestellen, das Jägeraufgaben wahrnehmen soll, aber keine Bewaffnung hat? Hat es schon einmal jemand fertig gebracht, ein solches Flugzeug zu bestellen, das noch nicht einmal über einen Eigenschutz verfügt, sodass es hinterher nachgerüstet werden muss? ({7}) Wir waren aus völlig anderen Gründen dagegen. ({8}) Wir hatten doch Recht gehabt, Hans Raidel, als wir gesagt haben: Der Eurofighter wird wesentlich mehr kosten, als im Haushalt jemals vorgesehen war. Den Betrag, um den es wegen fehlender Bewaffnung und fehlenden Eigenschutzes sowie anderer zusätzlicher Dinge teurer geworden ist, müssen wir jetzt abarbeiten. Nun kommen Sie mir ja nicht wieder mit dem Spruch von Frau Matthäus-Maier, wie viele Kindergärten man für einen Eurofighter bauen könnte. Das kennen wir schon. ({9}) Zu dem Punkt Altgerät und Kannibalisierung sagen Sie mir doch bitte einmal, was Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit für das Heer an modernem neuen Gerät - außer der Panzerhaubitze 2000 und möglicherweise Dienstwagen, die 20 Jahre laufen müssen - für die Kommandeure angeschafft haben! Sagen Sie es uns einmal! Und dann wundern Sie sich, dass hinterher kannibalisiert werden muss, weil Ersatzteilserien ausgelaufen sind? ({10}) Wir dürfen hier jetzt aufräumen und Sie werfen uns vor, dass wir solch altes Gerät übernommen haben. Das Einzige, was Sie uns vorwerfen können, ist, dass wir so doof sind und uns darum kümmern, diese Missstände abzubauen. Das ist teuer genug. Zusätzlich vermengen Sie das mit der Zukunft, zum Beispiel mit dem Aufklärer. Aber lieber Gott, wer hat es denn erfunden? Dazu, dass die Bundesrepublik zusammen mit anderen Nationen Aufklärung betreiben will, ist immer gesagt worden: Das nützt auch den anderen. 50 Prozent kommen aus dem Verteidigungshaushalt und 50 Prozent aus anderen Haushalten. Das ist alles nichts Neues. Sie vermischen also allein aus parteipolitischem Kalkül Dinge, die nicht zusammengehören. Dies hilft niemandem und schadet der Bundeswehr sowie den Soldaten. Durch diese Verunsicherung werden Sie nicht zu mehr Stimmen kommen. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b so- wie Zusatzpunkt 6 auf. 5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des zivilgerichtlichen Schutzes bei Gewalttaten und Nachstellungen sowie zur Erleichterung der Überlassung der Ehewohnung bei Trennung - Drucksache 14/5429 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Maria Eichhorn, Ilse Falk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ankündigungen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen umsetzen - Drucksache 14/5093 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Kultur und Medien ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Bläss, Monika Balt, Maritta Böttcher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Frauenrechte sind Menschenrechte - Gewalt gegen Frauen effektiver bekämpfen - Drucksache 14/5455 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Das Haus ist einverstanden; dann ist dies so beschlossen. Bevor wir in die Debatte eintreten, darf ich die Kolleginnen und Kollegen, die an der jetzt folgenden Debatte nicht teilnehmen möchten, bitten, ihre Gespräche in der Lobby fortzusetzen. Ich eröffne die Aussprache und gebe der Bundesjustizministerin, Frau Dr. Herta Däubler-Gmelin, das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute ist der 90. Internationale Frauentag. Ich finde es sehr gut, dass wir ausgerechnet heute mit den parlamentarischen Beratungen über das Gewaltschutzgesetz beginnen, das wir Ihnen vorgelegt haben. Sie wissen, Gewalt gegen Frauen ist in unserer Gesellschaft leider immer noch ein großes Problem. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben sich vorgenommen, die Bekämpfung der Gewalt in unserer Gesellschaft zu einem Schwerpunkt ihrer Politik zu machen. Wir tun das - wie ich glaube - auch mit bereits durchaus feststellbarem großen Erfolg. Wir sind der Auffassung, dass auch die Bekämpfung der häuslichen Gewalt zu diesem Bereich gehört. Deswegen haben wir - übrigens auch mit Unterstützung jedenfalls eines Teils der Opposition - das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung verabschiedet, das im November 2000 in Kraft treten konnte. Leider Gottes hat die größte Oppositionsfraktion dem nicht zugestimmt, was wir sehr bedauern, weil wir nach wie vor davon ausgehen, dass die Gewaltbekämpfung und gerade auch die Bekämpfung der häuslichen Gewalt ein gemeinsames Anliegen des Deutschen Bundestages sein sollte. ({0}) Deswegen drängen wir so darauf, dass der Bund und auch die Länder ihre Verantwortung erkennen und in der BundLänder-Arbeitsgruppe zusammenarbeiten, wenn es um die Bekämpfung häuslicher Gewalt geht. Was bringt nun dieses neue Gewaltschutzgesetz? Es bringt eine ganze Reihe zusätzlicher Schritte in Richtung Schutz und Hilfe für Frauen, die geschlagen wurden, das heißt, Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind. Diese geprügelten und geschlagenen Frauen sollen erfahren, dass sie gegen häusliche Gewalt nicht nur den Schutz des Rechts auf ihrer Seite haben, sondern dass ihnen gerade auch Polizei und Gerichte in solch schwierigen Lagen helfen. Wir alle wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass genau das erforderlich ist; denn jedes Jahr - man höre und staune - müssen in unserem Land, das sich so viel darauf einbildet, etwas für Frauen zu tun, etwa 45 000 Frauen mit ihren Kindern Zuflucht im Frauenhaus suchen. Wir wissen auch, dass dies nicht das gesamte Ausmaß aufzeigt. Die Grauzone in diesem Bereich reicht sehr viel weiter, weil eine große Zahl geprügelter und geschlagener Frauen nicht ins Frauenhaus gehen kann, da sie dort keine Unterkunft und Zufluchtsmöglichkeit findet. Diese Frauen müssen bei ihren Verwandten oder Freunden zumindest vorübergehend Schutz suchen. Sie muss man ebenfalls berücksichtigen. Wie groß die Grauzone wirklich ist, wissen wir nicht genau. Ich bin meiner Kollegin Bergmann sehr dankbar, dass sie mithilfe eines Gutachtens versuchen will, diese Dunkelziffer deutlich zu machen und die Grauzone weiter aufzuhellen. Wir alle sind uns einig: Es ist gut, dass es Frauenhäuser gibt. Wir müssen diese Einrichtungen unterstützen, soweit wir das persönlich noch nicht tun. Wir müssen all denen, die dort arbeiten, gerade heute unseren herzlichen Dank aussprechen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es eigentlich richtig und vernünftig, so fortzufahren wie bisher? In einer Familie wird eine Frau geschlagen und trotzdem muten wir es der Frau, die Opfer häuslicher Gewalt geworden ist, zusätzlich zu dieser Schmach und den Schmerzen zu, dass sie diejenige ist, die die Wohnung verlassen und Schutz suchen muss, egal, ob bei Bekannten oder in einem Frauenhaus. Ich sage: Das ist weder richtig noch gerecht und vernünftig ist es schon gar nicht. ({2}) Deswegen legen wir diesen Gesetzentwurf vor, der nach dem Motto verfährt: Der Schläger geht und die Geschlagene bleibt. Wir handeln hier nach dem österreichischen Vorbild. Dessen Maßnahmen haben uns deutlich gemacht, dass es Änderungsmöglichkeiten gibt, dass man helfen kann und dass sich das Verhalten prügelnder Männer beeinflussen lässt. Genau das haben wir vor. Deshalb legen wir diesen Gesetzentwurf heute in die Hände des Deutschen Bundestages und bitten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, gemeinsam mit uns die Beratungen sehr zügig und schnell zu einem guten Ende zu bringen. Wir möchten gern, dass die fünf wesentlichen Verbesserungen sehr bald den Opfern häuslicher Gewalt zugute kommen können: Wir wollen erreichen, dass die Opfer einer häuslichen Gewalttat den Anspruch auf die alleinige Nutzung der bislang mit dem prügelnden Täter gemeinsam genutzten Wohnung bekommen. Dieses Nutzungsrecht soll auch dann gelten, wenn bisher der Täter derjenige war, der den Mietvertrag unterschrieben hat, oder wenn er alleiniger Eigentümer ist. Wir möchten gern, dass auch in solchen Fällen die Wohnung - jedenfalls für eine gewisse Zeit der Frau und, falls vorhanden, den Kindern überlassen wird. Diese Frist kann sechs Monate betragen. In Ausnahmefällen kann sie bis zu einem Jahr dauern. Während dieser Zeit muss die Frau die Möglichkeit haben, eine andere Unterkunft zu suchen. Maßnahmen müssen getroffen werden, mit denen erreicht werden kann, dass die prügelnden Männer verstehen, dass sie Unrecht getan haben. Ihnen soll dabei geholfen werden, ihre Verhaltensmaßstäbe und ihr Verhalten zu verändern. Auch in diesem Punkt war uns Österreich ein gutes Vorbild. Man kann es schaffen. Wir können solche Maßnahmen nicht alle in unser Bundesgesetz aufnehmen, weil die Zuständigkeit zum Teil bei den Ländern liegt. Ich appelliere an die Länder, gemeinsam mit uns dieses Projekt insgesamt zum Erfolg zu bringen. ({3}) Das neue Gesetz soll außerdem die Möglichkeit schaffen, weitere Schutzanordnungen zu treffen. Das ist wichtig, und zwar deshalb, weil uns die Frauen häufig sagen, sie haben Angst, dass der prügelnde Mann in die Wohnung zurückkommt, sie an ihrem Arbeitsplatz aufsucht, auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz bedrängt, auf irgendeine Weise einen persönlichen Kontakt herbeiführt und sie weiter belästigt, bedroht oder sogar schlägt oder auf andere Art Kontakt aufnimmt, sei es auch durch Telefonterror. In all diesen Fällen soll das Gericht eine so genannte Schutzanordnung erlassen können, die wir, wie auch die Wegweisungsanordnung aus der Wohnung, mit Strafe bewehren. Das heißt auf Deutsch: Wenn sich der Schläger nicht daran hält, obwohl ein Richter gesprochen hat, kann er bestraft werden. Wir setzen hier eine Geld- oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr als Strafrahmen fest. Wir tun mit diesem Gesetz aber noch mehr. Wir sagen: Es darf nicht gewartet werden, bis es zu Prügeln und Verletzungen kommt. Wir möchten, dass Richter auch dann mit einer Schutzanordnung eingreifen können, wenn „erst“ Drohungen vorliegen, das heißt, wenn noch keine Schläge, noch keine Prügel, aber schon Drohungen erfolgt sind. Für solche Fälle schaffen wir die Grundlage für Schutzanordnungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir gehen noch einen Schritt weiter - bisher haben wir über Gewalt und Prügel innerhalb einer Partnerschaft, ob nun Ehe oder Lebensgemeinschaft, gesprochen - und erfassen auch jene Fälle, von denen wir unter dem Begriff „stalking“ immer häufiger in der Presse lesen. Hier liegt keine Beziehung, keine Partnerschaft vor. Entweder gibt es eine eingebildete Beziehung oder den so genannten Liebeswahn, das heißt, jemand bildet sich ein, er hätte irgendein Recht auf irgendeinen Menschen - das kann ein Mann oder eine Frau sein - und damit aus enttäuschter oder eingebildeter Liebe auch das Recht, ihn zu terrorisieren und zu belästigen. Das kann sogar noch weiter gehen und seinen Niederschlag in Dauerbelagerungen am Telefon finden oder auch dazu führen, dass jemand die Haustür seines armen Opfers eintritt. Die Polizei, die dann dazukommt, kann in solch schweren Fällen etwas machen. Aber sie kann nichts unternehmen, wenn die ständigen Belästigungen und Belastungen auf eine Art erfolgen, von der wir heute sagen müssen: Es ist noch nichts passiert, es hat noch keine Prügel gegeben. Auch mit dieser Form von Belästigungen muss Schluss sein. Wir wollen hier den Richterinnen und Richtern die Möglichkeit geben, durch eine Anordnung solche Belästigungen zu unterbinden, damit das Opfer solche Formen von Belästigungen und Vorstufen körperlicher Gewalt oder Bedrohung nicht mehr dulden muss. Das werden wir nicht mehr zulassen und dafür setzen wir Strafen fest. ({4}) Nun wissen wir, dass der Bund nur die zivilgerichtliche Seite regeln kann. Ich habe schon erwähnt, dass auch als Ergänzung das polizeiliche Einschreiten gewährleistet sein muss, was nur die Länder regeln können. Ich bin dafür dankbar, dass es in einigen Städten schon den einen oder anderen sehr erfolgreichen Modellversuch gibt. Es ist gut, dass die Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die wir angeregt haben, derzeit ihren Abschlussbericht vorlegt, in dem vorgeschlagen wird, das Musterpolizeigesetz zu ergänzen, um die Klarheit zu schaffen, dass die Polizei helfen will. Mein Appell geht heute, am Internationalen Frauentag, nicht nur an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beratungen schnell zu einem guten Ende zu bringen, sondern auch an die Länder, gemeinsam mit uns dazu beizutragen, dass sich Frauen in diesem Lande sicherer fühlen und erfahren können, dass sie den Schutz des Rechts auf ihrer Seite haben. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich bitte nun um besondere Aufmerksamkeit für den einzigen männlichen Redner in dieser Debatte. ({0}) Es spricht der Kollege Ronald Pofalla für die CDU/CSUFraktion.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will den Appell der Bundesjustizministerin an die Mitglieder des Deutschen Bundestages aufgreifen. Frau Ministerin, ich kann Ihnen zusichern: Wir sind genauso wie Sie an einer schnellen Beratung und nach Möglichkeit auch an einer gemeinsamen Verabschiedung interessiert. Ich glaube allerdings - ich werde auf einzelne Punkte gleich eingehen -, dass wir im Rahmen einer Anhörung zu diesem Gesetzentwurf zu der einen oder anderen Stelle Vertreter der Praxis hören sollten, um vielleicht eine noch feinere Ausjustierung bestimmter Regelungen vornehmen zu können. Ich versichere Ihnen aber, dass wir Ihr Anliegen, häusliche Gewalt als etwas, was nicht geht, darzustellen, für richtig halten und dass auch die Rechtsfolgen, die der Gesetzentwurf vorsieht, unsere Unterstützung finden. ({0}) Ich glaube, es bedarf keiner besonderen Anmerkung, dass jede Form von Gewalt vom Deutschen Bundestag und seinen Fraktionen abgelehnt wird und wir das in der Vergangenheit durch eine Reihe von Gesetzesinitiativen deutlich gemacht haben. Der private Bereich - das wird fälschlicherweise von vielen so verstanden - ist keine Zone einer reuelosen Gewaltanwendung. Insoweit ist grundsätzlich jeder Versuch, eine solche Art der Gewaltanwendung zu verhindern, unterstützenswert. Jedoch muss gerade in einem solch empfindlichen Bereich wie in dem von zwischenmenschlichen Bindungen geprägten Ehe-, Verwandtschafts- und Partnerschaftsbereich behutsam vorgegangen werden. Die Zielsetzung des hier in Rede stehenden Gesetzentwurfes der Bundesregierung - ich habe das eingangs deutlich gemacht - wird von uns grundsätzlich befürwortet und unterstützt. Sowohl die Gewalt in der Ehe und in der Partnerschaft als auch Belästigungen wie Nachstellungen oder ständiges Verfolgen müssen deutlich bekämpft werden. Die Ehe oder Partnerschaft ist kein rechtsfreier Raum. Doch bleiben nach Lektüre des Gesetzentwurfs Bedenken, was die Umsetzung des mit dem Gesetz Bezweckten angeht. So ist zwar der Maßnahmenkatalog, der dem Gericht als Rechtsfolge bei Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen des § 1 des Entwurfs des Gewaltschutzgesetzes zur Verfügung steht, durchaus ausreichend und gibt dem Gericht eine Fülle von Handlungsmöglichkeiten an die Hand; doch bestehen beispielsweise hinsichtlich der im Entwurf vorgesehenen erleichterten Beweisführung und der unter Umständen gebotenen - das will ich deutlich sagen -, jedoch im Entwurf rigoros geregelten Wohnungsüberlassung Bedenken. Bedenken bestehen auch hinsichtlich der Regelungen des neuen § 64 b des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Hier soll, was im Einzelfall durchaus geboten erscheinen kann, in bestimmten Fällen die Vollstreckung vor Zustellung der Entscheidung des Familiengerichts ermöglicht werden. Das Kernproblem liegt dabei - dies ist nach unserer Auffassung durch den Gesetzentwurf nicht befriedigend geregelt - im Missbrauchspotenzial der beabsichtigten Regelungen. Durch die drastischen Maßnahmen kann zwar im tatsächlichen Misshandlungsfall schnell und effektiv geholfen werden, doch kann genauso schnell und effektiv derjenige abgefertigt werden, der Opfer eines abgekarteten Spiels geworden ist. ({1}) - Ich kann auf eine zehnjährige anwaltliche Praxis bei familiengerichtlichen Auseinandersetzungen zurückblicken. Ich will nur darüber berichten, welche Schwierigkeiten bei der Umsetzung einer an sich vernünftigen Regelung bestehen können. Meine zehnjährige anwaltliche Praxis zeigt mir Folgendes: Es wird in familienrechtlichen Auseinandersetzungen - seien sie scheidungsrechtlicher, unterhaltsrechtlicher oder sorgerechtlicher Art - in einer nicht zu unterschätzenden Anzahl von Fällen von beiden Partnern, um es deutlich zu sagen, gelogen und die Tatsachen entstellend argumentiert, sodass es in der Sache für das erkennende Gericht manchmal schwierig ist, den tatsächlichen Sachverhalt zu erforschen und dann die richtigen Entscheidungen zu treffen. Bei der Frage der Güterabwägung bin ich - übrigens in Übereinstimmung mit dem Gesetzentwurf - der Auffassung, dass jemand, der mit dem Vorwurf belastet wird, er habe gegenüber dem Lebenspartner oder der Lebenspartnerin Gewalt angewandt oder mit Gewaltanwendung gedroht, diese Behauptung zunächst unter dem Gesichtspunkt der Wohnraumzuweisung gegen sich gelten lassen muss. Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen - über die Feinjustierung müssen wir uns im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens noch verständigen -: Wir werden Fälle erleben - egal, wie wir das Gesetz im Detail ausgestalten -, in denen eine gerichtliche Entscheidung ergangen ist und sich im Nachhinein herausstellt, dass das, was behauptet worden ist, so oder gar nicht stattgefunden hat. Ich weise darauf nur hin, weil das als Gefahr gesehen werden muss. Ich sage Ihnen auch aufgrund meiner anwaltlichen Erfahrung: Ich habe eine Reihe von Mandantinnen und Mandanten vertreten, bei denen sich die Wirklichkeit - das hätte ich mir vor der Gerichtsverhandlung nicht vorstellen können - hinterher völlig anders dargestellt hat, als es die zwischen den Parteien ausgetauschten Schriftsätze und Sachvorträge erwarten ließen. Ich weise auf diesen Umstand hin, um deutlich zu machen, dass wir meiner Ansicht nach die Erfahrung der Personen, die in der Praxis stehen, im Rahmen einer Anhörung nutzen sollten, um vielleicht an der einen oder anderen Stelle eine feinere Ausjustierung bei den jetzt vorgesehenen Maßnahmen vornehmen zu können. Ich möchte dafür Beispiele nennen. Zum einen sind im Gesetzentwurf strenge Regelungen hinsichtlich einer Widerlegungsverpflichtung für den Gewalttäter und - damit korrespondierend - Beweiserleichterungen für die verletzte Person, wie in der Begründung des Gesetzentwurfs dargestellt, vorgesehen. Zum anderen gibt es die Regelung des § 64 b Abs. 2 FGG hinsichtlich der Vollstreckung ohne Notwendigkeit der vorherigen Zustellung der familiengerichtlichen Entscheidung. Aufgrund der Kombination dieser beabsichtigten rechtlichen Regelungen können gerichtliche Entscheidungen ergehen, die sich im Nachhinein - ich wiederhole mich - als falsch herausstellen. Daher muss auch über die Fristen, die Sie, Frau Ministerin, vorgeschlagen haben, noch einmal diskutiert werden. Ich denke dabei an ein gekoppeltes Verfahren. Die Sechsmonatsfrist und die Möglichkeit, diese Frist um weitere sechs Monate zu verlängern - das haben Sie, Frau Ministerin, vorgeschlagen -, sind eventuell unter dem Gesichtspunkt, dass sich im Nachhinein etwas anderes herausstellen kann, als bei der Entscheidung des Gerichts angenommen wurde, zu verkürzen. Vielleicht sind auch drei Monate ausreichend, weil sich auch angesichts der Praxis der Familiengerichte relativ schnell Klarheit verschaffen lässt, ob das, was behauptet wurde, tatsächlich richtig ist. Die Gerichte sollten die Möglichkeit bekommen, statt einer Frist von sechs Monaten eine Frist von drei Monaten zu verhängen, in denen ihnen aber durchaus abverlangt werden kann, den Tatsachenvortrag, soweit das in dieser Zeitspanne möglich ist, zu überprüfen. Das sind beispielsweise Fragen, über die wir diskutieren sollten, um eine feinere Ausjustierung vornehmen zu können. Ich möchte zusammenfassend deutlich sagen, damit keine Missverständnisse entstehen: Wir begrüßen den Gesetzentwurf der Bundesregierung. Wir wollen uns an der Beratung beteiligen und den Gesetzentwurf gemeinsam verabschieden. Auch wir wollen eine schnelle Beratung. Daher rege ich an, dass wir uns gleich in einer der nächsten Sitzungen des Rechtsausschusses auf ein enges zeitliches Verfahren verständigen, damit der Gesetzentwurf zeitnah verabschiedet werden kann. Ich bitte allerdings auch darum, im Rahmen der Diskussion über die Ausjustierung noch einmal über die eine oder andere Bestimmung nachzudenken und mit Vertretern der Praxis zu reden; denn meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass sich der anfänglich als richtig angenommene Tatsachenvortrag in einer nicht zu unterschätzenden Anzahl von Fällen - ich möchte nicht sagen: in einer großen Anzahl von Fällen; eine solche Behauptung würde ich nicht aufstellen; aber es ist eben auch nicht die totale Ausnahme - später, relativ schnell, als völlig falsch herausstellt. Daraus dürfen nicht gerichtliche Entscheidungen zulasten einer Person entstehen, sondern es muss auch hier die Möglichkeit der kurzfristigen Überprüfung geben. Daher bieten wir eine gemeinsame Verabschiedung in der Sache an, wenn man zu gemeinsamen Lösungen kommt. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Margot von Renesse das Wort.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich finde es immer gut, Herr Kollege Pofalla, wenn wir uns über weite Strecken einig sein können. Ihre Rede hat angedeutet, dass dies der Fall ist. Wir sind uns zunächst einmal darin einig, dass in diesen Fällen mit hoch emotionalisierten Auseinandersetzungen - ich will nicht sagen: gelogen wird - Wahrnehmungsverzerrungen auf beiden Seiten stattfinden. Auch das ist eine Erfahrung, die jeder gemacht hat, der mit diesen Dingen zu tun hat. Auf der anderen Seite hoffe ich, dass wir uns auch darin einig sind, dass die Gefahr größer ist, wenn jemand weiter geprügelt wird, und sie nicht so groß ist, wenn jemand ohne Kinder kurzfristig vor einer Tür steht, durch die er bei Richtigstellung aller Vorwürfe wieder gehen kann. Wenn wir uns auch darüber einig sind, dass wir verhindern müssen, dass Schlimmes weitergeht, werden wir eine Lösung finden. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir setzen heute eine gute, wenn auch junge, rotgrüne Tradition fort. Statt am Internationalen Frauentag schöne Reden voller Absichtserklärungen zu halten, bringt die rot-grüne Bundesregierung Gesetze ein, die die Rechte von Frauen stärken. Wir tun also etwas. ({0}) - Ja, das kommt gleich. Im letzten Jahr war es das eigenständige Aufenthaltsrecht für ausländische Frauen. ({1}) In diesem Jahr ist es das so genannte Gewaltschutzgesetz. Ich erspare mir, den vollen Titel zu nennen; denn er ist sehr kompliziert. Wir diskutieren heute einen Gesetzentwurf, der einen Perspektivwechsel im Umgang mit der Gewalt gegen Frauen vornimmt. Es handelt sich um einen Gesetzentwurf, der die Verantwortlichkeit festgelegt und daraus Konsequenzen zieht. Nicht mehr die misshandelte Frau und ihre Kinder müssen die Ehewohnung verlassen, sondern der gewalttätige Mann. Auf eine kurze Formel gebracht, bedeutet dies: Der Täter geht, das Opfer bleibt. ({2}) Gewalt gegen Frauen im häuslichen Umfeld ist ein wesentliches Fundament, auf dem die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen begründet ist. Frauen, die in ihrem engsten Umfeld in einer Machtbeziehung leben, erfahren eine systematische Zerstörung ihres Selbstwertgefühls. Durch Misshandlungen und Demütigungen, die sie oft über Jahre hinweg erleben müssen, beschränken sich ihre Handlungs- und Abwehrmöglichkeiten deutlich. Eine misshandelte Frau kann in ihrem Beruf eben nicht erfolgreich sein. Je länger die Misshandlungen andauern, desto schwerer ist es für die Geschlagene, der Beziehung zu entfliehen. Wir dramatisch die Gewalt ist, die Frauen weltweit zu ertragen haben, zeigt uns der zum Internationalen Frauentag vorgelegte Bericht von Amnesty International. Seit Jahren werden in Afghanistan die Menschenrechte von Frauen mit Füßen getreten. Obwohl das in aller Welt bekannt ist, wurde es von den meisten ignoriert. Jetzt jedoch, da die Buddha-Statuen in Gefahr sind - so schrecklich ich das auch finde -, geht ein Aufschrei durch die Welt. Wo war dieser Aufschrei, als die Menschenrechte der afghanischen Frauen zerstört wurden? Wo war er? ({3}) Ich komme zurück zur Situation in Deutschland. Es war die Frauenbewegung, die mit ihrem Slogan „Das Private ist politisch“ die Gewalt in der Familie öffentlich machte. Das ist ein Verdienst der 68erinnen; denn bis dahin war dies ein Tabuthema. - Die Staatssekretärin lächelt; auch sie gehört dazu. Das ganze Ausmaß, die Hintergründe und die Folgen der Gewalt, die Frauen im Privatbereich erlebten, waren unbekannt. Das erste autonome Frauenhaus entstand in Berlin im Jahre 1976. Frauen fanden dort nicht nur Schutz vor weiteren Misshandlungen durch ihre Ehemänner, sondern auch kompetente Unterstützung und Ermutigung. Geschlagene Frauen erhielten Hilfe auch bei der Überwindung ihrer Misshandlungserfahrungen; denn nicht selten gibt sich die Frau eine Mitschuld dafür, dass der Mann sie schlägt. Was hat sie wohl falsch gemacht, was hat ihn so in Rage gebracht? Herr Pofalla, Ihre Diskussion über den Missbrauch mag richtig sein. Aber in jedem anderen Rechtsgebiet ist es möglich, dass Leute eine andere Wahrnehmung haben und in einem Verfahren lügen. Sind Sie da auch so engagiert und fragen nach, ob nicht auch Missbrauch betrieben wird? Ich finde es etwas verwunderlich, wie ausführlich Sie das an dieser Stelle dargelegt haben. ({4}) Auch in der Gesellschaft gibt es derartige Urteile bzw. Vorurteile. Ich erinnere mich noch gut an eine Frauenhauseröffnung in Nordrhein-Westfalen vor circa 15 Jahren. Eine konservative Politikerin brachte da ein Bügeleisen mit und überreichte es mit den Worten, dass dies doch ein notwendiges Utensil für Frauen sei und so mancher Frauenhausaufenthalt vielleicht hätte verhindert werden können, wenn die Frauen den Männern die Hemden ordentlich gebügelt hätten. ({5}) Ich empfinde dies als eine ziemlich zynische Entgleisung. Frauenhäuser sind heute nicht mehr wegzudenken. Ihre Zahl in Deutschland beläuft sich mittlerweile auf 400. Annähernd 45 000 Frauen suchen hier jährlich Zuflucht, teilweise auch mit ihren Kindern. Ohne die hervorragende Arbeit der Mitarbeiterinnen der Frauenhäuser abzuwerten, wünsche ich mir aber eine Gesellschaft, die keine Frauenhäuser braucht. ({6}) Mit dem heute vorgelegten Gewaltschutzgesetz gehen wir den Weg, den die Frauenbewegung vor über 25 Jahren initiiert hat, weiter. Das vorliegende Gesetz ist nicht nur ein Erfolg für die betroffenen Frauen. Damit werden auch die Leistungen der Frauen in den Frauenhäusern, Beratungsstellen und an den Notruftelefonen unterstützt. Durch die Vorschriften des Gewaltschutzgesetzes werden Frauen, die Gewalt im familiären Umfeld erfahren haben, in ihren Rechten gestärkt. Viel zu lang waren Justiz und Polizei auf einem Auge blind und haben Gewalt im sozialen Nahraum als Familienstreitigkeit angesehen, in die sich der Staat nicht einzumischen habe. Ein Blick in die Statistik macht deutlich: Nicht der dunkle U-BahnSchacht oder ein unbeleuchteter Park sind für Frauen die gefährlichsten Orte. Nein, es sind die eigenen vier Wände. Jede dritte Frau zwischen 20 und 59 Jahren - so eine Untersuchung - erlebt mindestens einmal in ihrem Leben Gewalt im persönlichen Umfeld. Wir wollen, dass diese Frauen nicht zum zweiten Mal Opfer werden, indem sie auch noch ihr vertrautes Lebensumfeld verlassen müssen, während der gewalttätige Ehemann in der Wohnung bleibt. Genau hier setzt das Gesetz an. Die betroffene Frau wird in der akuten Gefährdungssituation geschützt. Durch das zuständige Familiengericht ist per Eilanordnung eine vereinfachte Zuweisung der gemeinsamen Wohnung möglich. Die Überlassung der Wohnung können künftig aber nicht nur Ehefrauen, sondern auch Partnerinnen oder Partner - nach dem neuen Gesetz für die eingetragenen Partnerschaften natürlich auch Partner - in Anspruch nehmen, die in häuslichen Partnerschaften leben. Zur Wegweisung kommt ein ausdrückliches Kontakt-, Belästigungs- und Näherungsverbot hinzu. Auch telefonischer Kontakt oder Kontakt per E-Mail kann untersagt werden. Verstößt der Gewalttäter gegen diese Schutzanordnungen, macht er sich automatisch strafbar. Die Frau kann die Polizei rufen, die für ihren Schutz zu sorgen hat. Jeglicher Kontakt zu einem gewalttätigen Partner kann so unterbunden werden. In Zukunft nutzt es den Männern auch nichts mehr, sich darauf hinauszureden, dass sie ja betrunken waren und sonst immer lammfromm sind. Das Gesetz stellt ausdrücklich klar, dass die Schutzanordnungen auch dann möglich sind, wenn der Täter betrunken war oder unter Drogen stand. Das Gesetz geht noch weiter - die Justizministerin hat es vorhin schon gesagt -: Es muss nicht erst etwas passieren, bis sich eine belästigte Person rechtlich zur Wehr setzen kann. Das wird mit den Schutzregelungen zum so genannten Stalking sichergestellt. Es sind ja nicht nur Prominente - aber sie insbesondere -, die von solchen Nachstellungen oder von Telefonterror betroffen sind. Damit machen wir der häufigen Verharmlosung derartiger Nachstellungen endlich ein Ende. ({7}) In Zukunft kann niemand mehr sagen: Es ist ja noch nichts passiert, da kann man leider nichts machen. - Ein Verstoß gegen diese Schutzanordnungen hat automatisch entsprechende strafrechtliche Konsequenzen. Damit beschreiten wir juristisches Neuland. Ich finde es entgegen der Position der PDS in ihrem Antrag angemessen, nicht auch schon das Stalking strafrechtlich zu verfolgen, sondern erst den Verstoß gegen die Schutzanordnung. Lassen Sie uns das aber in einer Anhörung genauer beleuchten. Dies ist ein neues Phänomen und man muss es sicherlich auch genau untersuchen. Die Vorschriften des Gesetzentwurfes wurden in Anlehnung an das österreichische so genannte Wegweisungsrecht formuliert, das es dort seit 1997 gibt. In den vergangenen vier Jahren wurden dort gute Erfahrungen gemacht. Herr Pofalla, die Sorgen, die Sie vorhin geäußert haben, können durch das, was in Österreich statistisch belegt wurde, überhaupt nicht begründet werden. Dort werden jährlich über 3 000 Wegweisungen an gewalttätige Männer ausgesprochen. Hochgerechnet auf Deutschland wären das 30 000. Das ist eine hohe Zahl. Häufig wird die Frage gestellt, was denn diese 30 000 Männer machen: Brauchen sie ein Männerhaus? Brauchen wir für diese Männer Unterkünfte? ({8}) Ein Blick nach Österreich zeigt, dass sich die Obdachlosenquote nicht erhöht hat; die Männer gehen zurück zu ihren Müttern oder zu ihren Freundinnen. Wir brauchen uns also so große Sorgen nicht zu machen. ({9}) In Österreich hat die Polizei das Recht, den Gewalttäter sofort, zunächst für zehn Tage, der Wohnung zu verweisen und ihm den Hausschlüssel abzunehmen. Die Polizei muss also entscheiden, ob ein gefährlicher Angriff stattgefunden hat oder ob dies befürchtet werden muss. Sie benachrichtigt Beratungsstellen, die die gefährdete Frau unterstützen. Auch das ist sicherlich ein wichtiger Aspekt. Dieses österreichische Verfahren ist effektiv, da es bereits in der Situation einer akuten Gefährdung ansetzen kann. Ich wünsche mir, dass das auch bei uns so ist. Allerdings gibt es eine kleine Hürde. Da Polizeiangelegenheiten bei uns in die Länderzuständigkeit fallen, sind nun die Länder - ein Land hat es schon umgesetzt an der Reihe; denn nun müssen endlich auch die polizeilichen Möglichkeiten zum Schutz der Frauen verbessert werden. Dazu gehören klare Regelungen, die den Polizisten und Polizistinnen die nötige Rechtssicherheit geben, um einen Schläger unverzüglich aus der Wohnung zu entfernen und ihm die Rückkehr für eine konkrete Frist zu untersagen. Es gibt zwar Annahmen, dass die gesetzlichen Möglichkeiten schon heute ausreichen; ein Beispiel dafür ist der Platzverweis. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass ein Polizist oder eine Polizistin einen Mann auf einer derart vagen Rechtsgrundlage tatsächlich der Wohnung verweist. In diesem Punkt brauchen wir ganz klare gesetzliche Regelungen. ({10}) Unabdingbar ist aber auch eine feste Verankerung des Themas häusliche Gewalt in der polizeilichen wie in der juristischen Aus- und Fortbildung. Nur so kann auch gewährleistet werden, dass Klischeevorstellungen hinterfragt und Frauen vor weiterer Gewalt effektiver geschützt werden können. Es wäre doch schön, wenn das Plakat des Frauenhauses Reutlingen mit dem Ausspruch „Und wie heißt die Treppe, auf der Sie angeblich mal wieder ausgerutscht sind?“ bald nicht mehr zum Einsatz kommen müsste. Gewalt gegen Frauen beinhaltet aber auch einen großen volkswirtschaftlichen Schaden. Den Staat kostet Männergewalt jährlich rund 29 Milliarden DM, die Frauen ihre persönliche Integrität, ihre Gesundheit und manchmal sogar ihr Leben. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, die meisten der von Ihnen in Ihrem Antrag gestellten Forderungen sind bereits überholt; wir waren da einfach schneller. Das Gewaltschutzgesetz liegt heute vor. Eine Kooperation von staatlichen Institutionen und nicht staatlichen Hilfsangeboten wird bereits umgesetzt. Ich nenne nur die Finanzierung der Vernetzungsstellen der Frauenhäuser, der Notrufe und der Beratungsstellen wie auch deren Vernetzungstreffen. Damit wird die Zusammenarbeit der Antigewaltprojekte unterstützt. Ihrer Forderung nach einer Untersuchung zur Lebenssituation ausländischer Mädchen und Frauen wurde bereits im 6. Familienbericht nachgekommen. Damit komme ich zum Antrag der PDS. Sie haben einige Punkte angesprochen, deren Umsetzung tatsächlich noch offen ist. Als Beispiel nenne ich § 179 StGB. Wir haben im Koalitionsvertrag vereinbart, die Diskriminierungen von widerstandsunfähigen Opfern zu beheben. Derzeit wird geprüft, ob § 179 StGB nur als Auffangtatbestand genutzt wird und daher erhalten bleiben sollte. Das würde bedeuten, dass das Urteil im Falle einer nachgewiesenen Vergewaltigung nicht nach § 179 StGB gesprochen wird. Der § 179 StGB würde nur gewählt, wenn keine andere Möglichkeit bleibt, einen Täter zu bestrafen. Wir müssen sehr genau schauen, ob wir nicht etwas streichen, was wir eigentlich brauchen. Es gibt eine Untersuchung derjenigen Urteile, die dazu bisher gesprochen worden sind. Um geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen als Asylgrund anzuerkennen - wie auch Sie es in Ihren Forderungen formuliert haben -, hat die rot-grüne Koalition die entsprechenden Verwaltungsvorschriften bereits geändert. Es gibt zudem eine Weisung des Innenministers an das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Wir hatten heute ein erneutes Gespräch mit Vertretern von Initiativen. Es sieht so aus, als sei unterhalb der rechtlichen Änderung all das getan, was zu tun ist: Die Verwaltungsvorschriften sind geändert. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hat einen großen Wandel erfahren. Die Entscheiderinnen sind geschult worden. Es wird nicht mehr automatisch davon ausgegangen, dass eine Frau, die nachträglich Gründe vorbringt, sich diese nur ausgedacht hat. Ich habe schon den Eindruck, dass es große Veränderungen gibt. Wir können natürlich noch nicht zufrieden sein. In einer rot-grünen Arbeitsgruppe überlegen wir derzeit, ob nicht auch eine Überprüfung des Ausländerrechts notwendig ist, damit endgültig klargestellt wird, dass Menschenrechtsverletzungen nicht geduldet werden und dass wir den betroffenen Frauen in Deutschland Schutz geben. ({11}) Dass bei einer Bedrohung aufgrund des Geschlechtes Abschiebeschutz gewährt werden muss, betonen wir übrigens auch in unserem Antrag „Flüchtlingsschutz ist Menschenschutz“, den wir heute Abend beraten und über den wir abstimmen. Wir machen also einen großen Schritt nach vorne. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zu dem Gesetzentwurf zurück. Es ist ein großer Unterschied, ob die Polizei zur Beruhigung der Situation der Frau nahe legt, sich in Sicherheit zu bringen und das Haus zu verlassen, oder ob klargemacht wird: Der Mann ist nicht der uneingeschränkte Herrscher des Hauses. Er muss das Haus verlassen, wenn er gewalttätig geworden ist. Das vorliegende Gesetz leistet dies und stellt die Zuständigkeiten klar heraus. ({12}) Die körperliche Unversehrtheit von Frauen ist ein hohes Gut, das wir mit diesem Gesetz schützen. Ich erwarte davon nicht nur einen Bewusstseinswandel, sondern auch eine Veränderung der Beziehungsstruktur zwischen den Geschlechtern. Denn - gibt es ein besseres Fazit für den heutigen Tag? -: Frauenrechte sind Menschenrechte. Vielen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht die Kollegin Ina Lenke.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Heute ist Weltfrauentag und heute findet die erste Beratung des Gewaltschutzgesetzes statt. Zu beiden Themen will ich Stellung nehmen. Der Internationale Frauentag bietet immer Gelegenheit, über den Tellerrand zu blicken und die Situation von Frauen weltweit zu betrachten. Besonders Frauen leben in vielen Ländern unter sehr schlechten Bedingungen. Sie werden ausgegrenzt, unterdrückt und misshandelt. Meine Kollegin sagte vorhin: Frauenrechte sind Menschenrechte. Aber der Ruf der Weltfrauenkonferenz von Peking ist in vielen Staaten ungehört geblieben. Die Bundesrepublik Deutschland sollte international eine Vorreiterrolle spielen und versuchen, auf diese Länder einzuwirken. ({0}) Frau Schewe-Gerigk, ich möchte das, was Sie gesagt haben, nicht nur einfach wiederholen, sondern noch verstärken: Es kann nicht sein, dass es zwar einen weltweiten Protest gibt, wenn in Afghanistan Buddha-Statuen und Kulturgüter - Kulturgüter müssen wie auch andere Güter natürlich geschützt werden - zerstört werden, aber dass nur wenig darüber berichtet und dagegen protestiert wird - in dieser Kritik bin ich mit Ihnen einig -, wenn Frauen in Afghanistan in unerträglicher Weise unterdrückt werden. Ich denke, dies sollten wir im Bundestag an diesem besonderen Tag tun. ({1}) Wir konnten letzte Woche in der Zeitung lesen, dass es in Indien immer noch Mitgiftmorde an jungen Frauen gibt. Hier ist nach meiner Meinung die deutsche Außenpolitik und natürlich auch der deutsche Außenminister gefordert. Heute hat der Außenminister Joschka Fischer eine Pressemitteilung zum Internationalen Frauentag herausgegeben. Ich habe sie mir sehr genau angeschaut. Darin fehlen die Erfolge seiner Politik zum Thema „Menschenrechte und Frauenrechte“. ({2}) Was hat der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland bei seinen vielen Auslandsreisen eigentlich konkret erreicht? ({3}) Wenn Sie sich die Pressemitteilung durchlesen, dann werden Sie kaum Punkte finden, die auf entsprechende Erfolge seiner Außenpolitik hinweisen, und das trotz des großen rhetorischen Theaters, das Fischer während seiner Oppositionszeit im Bundestag vom Stapel ließ. ({4}) Morgen ist auch noch ein Tag. Vielleicht erfahren wir dann von Außenminister Fischer auf einer Pressekonferenz, was er im Ausland in Bezug auf Menschen- und Frauenrechte ganz konkret unternommen hat. ({5}) - Das ist kein Wahlkampf. Wenn ich mich mit diesem Thema beschäftige, dann lese ich auch Pressemitteilungen Ihres Außenministers. ({6}) Da habe ich das Recht, hier deutlich Kritik zu äußern. Herr Fischer kann mich ja eines Besseren belehren. ({7}) Ich warte auf die persönliche Bilanz von Herrn Fischer. Morgen ist auch noch ein Tag. ({8}) Dass der Frauenhandel blüht, ist oftmals in der schlechten sozialen und wirtschaftlichen Situation der Frauen begründet. Frauen sind zunehmend Opfer des international organisierten Menschenhandels. Das ist, wie wir alle wissen, die moderne Form der Sklaverei. Wir haben uns bereits im Bundestag und im Frauen- und Familienausschuss sehr um dieses Thema gekümmert und wir kümmern uns noch darum. Wir werden zu diesem Thema egal, von welcher Fraktion oder auch gemeinsam - in dieser Legislaturperiode noch Initiativen verabschieden. Ich denke, das ist genauso wichtig wie alles andere. Bei der Ausweisung von Frauen - darauf möchte ich noch einmal hinweisen -, die sich nicht rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhalten, ist sicherzustellen, dass sie in ihrer Heimat nicht Gefahren und Repressalien durch die Täter ausgesetzt sind. Ich denke, wir sollten hier noch einmal genau überlegen und auch parlamentarisch beraten, was im Hinblick auf das Zeugenschutzprogramm geschehen kann. Da sollten wir vielleicht einiges machen. Da die gehandelten Frauen in Deutschland häufig zur Prostitution gezwungen werden, ist - was wir alle wollen, was aber bisher, glaube ich, niemand parlamentarisch initiiert hat - eine gesetzliche Regelung zur Prostitution dringend notwendig. Die Möglichkeit, zwischen legaler und illegaler Prostitution zu unterscheiden, würde uns helfen, gegen den Frauenhandel besser vorgehen zu können. Dazu gehört in erster Linie, dass die Prostitution in Deutschland nicht mehr unter dem Verdikt der Sittenwidrigkeit stehen soll. Ich weiß nicht, wie das bei der CDU/CSU ist, aber ich bin der Meinung, dass wir dazu im Deutschen Bundestag, wenn eine Initiative vorgelegt wird, die Mehrheit bekommen. Denn wenn es jeden Tag millionenfach in Deutschland passiert, dann weiß ich nicht, ob man als Gesetzgeber die per Gesetz verankerte Sittenwidrigkeit aufrechterhalten kann. ({9}) Nicht nur für Frauenrechte auf internationaler Ebene ist hier im Bundestag Position zu beziehen, sondern auch auf der nationalen Ebene liegt einiges im Argen. Wir haben die Justizministerin gehört. Das Gewaltschutzgesetz der Bundesregierung weist hier eine Schwachstelle auf, die jetzt behoben werden soll. Endlich hat die Bundesregierung ihre Vorarbeit erledigt. Mit dem Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt, sollen besonders Frauen in ihrem häuslichen Umfeld vor roher Gewalt geschützt werden. Der Täter soll aus der Wohnung gewiesen werden. Aber es wäre eine Wiederholung, wenn ich diese ganzen Punkte jetzt aufzählen würde. Ich will jedoch sagen, dass Bund und Länder Regelungen finden müssen, die aufeinander abgestimmt sind. In diesem Zusammenhang möchte ich hier gerne das Bundesland nennen, das in dieser Angelegenheit schon tätig geworden ist: das Bundesland ({10}) Baden-Württemberg. ({11}) Darauf bin ich sehr stolz, weil wir einen liberalen Justizminister, Herrn Goll, haben, der schon im letzten Jahr sehr aktiv tätig geworden ist. ({12}) Die Justizministerin mahnt die Länder und sagt, ein Land sei erst tätig geworden. Jetzt lachen Sie über das Land, das die Justizministerin ohne Namensnennung gelobt hat. ({13}) - Ich lasse keine Zwischenfrage zu. In Baden-Württemberg wurden keine Gesetze verabschiedet, sondern das Landespolizeigesetz wurde geändert. In Baden-Württemberg wurde das Thema Gewalt in der Familie aus der Tabuzone genommen und in die öffentliche Diskussion getragen. ({14}) Über 70 Städte und Gemeinden haben sich an diesem Modellversuch beteiligt. Ich glaube, das hat mit Parteipolitik überhaupt nichts zu tun, ({15}) sondern das deutet auf die Notwendigkeit hin, hier etwas zu tun. Wenn das Land Bremen, das auch SPD-regiert ist, oder andere Bundesländer das machen, wäre ich als F.D.P.-Bundestagsabgeordnete genauso froh. Ich sehe das jedenfalls nicht parteipolitisch. Auf der Grundlage des Landespolizeigesetzes sind in den letzten Monaten - falls die Herren auf der linken Seite das nicht wissen, kann ich sie etwas aufklären - mehr als 100 Platzverweise gegen prügelnde Ehemänner ausgesprochen worden. Wenn das kein Erfolg der Modellversuche ist! Ich war vor kurzem in Baden-Württemberg und habe mich vor Ort darüber informiert, was da los ist und wie es läuft. Die Zusammenarbeit zwischen Polizei, Gemeinde und Justiz hat sehr gut geklappt. Das Infomaterial liegt dort auch in verschiedenen Sprachen aus. Das bedeutet, dass wir nicht nur die deutschsprachigen Frauen erreichen. Wir erreichen mit dem Infomaterial natürlich auch die Männer; sie wissen jetzt, welche Rechte Frauen haben. Ich denke, das stärkt das Selbstbewusstsein der Frauen und das Bewusstsein der Männer. Das ist sicherlich auch eine präventive Maßnahme. Ich möchte noch deutlich auf etwas hinweisen, was mir aufgefallen ist: Dieses Konzept stärkt auch Kinder. Kinder lernen, dass Gewalt nicht siegt, sondern der schwache Partner Rechte hat und Rechte erhält. Kinder erfahren, dass der Schwächere dem Starken nicht schutzlos ausgeliefert ist und dass der Staat sichtlich Schutz gewährt. Ich meine, hier hat das Land Baden-Württemberg gute Arbeit geleistet. Ich würde mir wünschen, dass viele andere Länder diesem Beispiel folgen. Die Initiativen zwischen Ländern und dem Bund - darüber sind wir uns sicher einig - müssen Hand in Hand gehen. Der Bund kann nicht in Ländergesetze, in die Länderhoheit eingreifen. Daher brauchen wir die Länder, wenn wir in diesem Bereich etwas ändern wollen. Ich möchte noch etwas zu den Frauenhäusern sagen: Ich bin der Meinung, dass wir die Frauenhäuser natürlich brauchen. Es wird immer Frauen geben, die sich unterschiedlich entscheiden. Wenn wir jetzt zwei Optionen haben, ist das umso besser. Ich denke, dass es gerade für Kinder besser ist, im häuslichen Umfeld - in der Schule und in der Wohnung - verbleiben zu können, wenn der Täter aus diesem verwiesen wird. Meine Damen und Herren, die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird in den Ausschussberatungen Vorschläge zur Verbesserung des Gesetzestextes vorlegen. Ich wollte eigentlich auf einige Dinge exemplarisch eingehen, die Zeit reicht aber nicht. Wir werden das in den Ausschussberatungen, vor allem im Rechtsausschuss, regeln. Ich möchte wirklich darum bitten, dass auch wir als Opposition in den fachlichen Beratungen in den Bundestagsausschüssen gehört werden und dass es dann nicht einfach heißt: Hier ist die Koalition, da ist die Opposition. Letzteres ist ab und an vorgekommen; es hat aber auch Erfolge gegeben, die wir durch Zusammenarbeit erzielt haben. Ich denke, an diesem Thema sollten wir wirklich gemeinsam arbeiten. Ich werde jedenfalls, wenn es um Kleinigkeiten geht, meine Fraktion davon zu überzeugen versuchen, dass wir den großen Weg gemeinsam gehen sollten. Trotz der Probleme, die wir Frauen manchmal haben, sollten wir positiv in die Zukunft sehen. Wir sollten die Probleme, die die Frauen betreffen, anpacken. Das machen wir hier auch; ich glaube, daran sind federführend Frauen beteiligt. Wenn wir hier im Bundestag gemeinsam etwas machen, sind die Frauen gemeinsam stark. Wenn wir den konstruktiven Streit zwischen den Fraktionen fortführen, dann freue ich mich darauf, dass das Gewaltschutzgesetz in die parlamentarischen Beratungen kommt. Auf ein Neues, auf ein Gutes! Vielen Dank. ({16})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Angemeldet sind nunmehr zwei Kurzinterventionen, einmal von der Kollegin Dr. Edith Niehuis und dann vom Kollegen Alfred Hartenbach. Anschließend, Frau Kollegin Lenke, können Sie darauf, wenn Sie wünschen, antworten. Bitte, Frau Kollegin Niehuis.

Dr. Edith Niehuis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001609, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Lenke, Sie haben vollkommen Recht: Frauenrechte sind Menschenrechte. Sie haben über die auswärtige Politik geredet und gemeint, dass Außenminister Fischer in dieser Hinsicht nichts für Frauenrechte tut. Das wichtigste Dokument für Frauenrechte auf UN-Ebene ist das 20 Jahre alte Antidiskriminierungsabkommen. Als wir noch einen liberalen Außenminister hatten, war es nicht möglich, das seit langem geforderte Zusatzprotokoll zu verabschieden, weil insbesondere Deutschland - ganz einsam unter den europäischen Partnern - sich immer geweigert hat, dieses Zusatzprotokoll zu unterzeichnen. ({0}) Anfang 1999, unter deutscher Präsidentschaft in Europa - das wissen Sie -, mit einem grünen Außenminister und mit unserer Frauenministerin ist dieses Zusatzprotokoll endlich vorangebracht und dann auch verabschiedet worden. Das heißt, nun können Frauen überall in der Welt auch individuell klagen, wenn ihre Menschenrechte verletzt sind. Das ist mit dem Außenminister Fischer möglich gewesen, nicht mit einem liberalen Außenminister. ({1}) Des Weiteren - ich glaube, auch Sie waren anlässlich des Empfangs hier - hat dann das Auswärtige Amt zusammen mit unserem Ministerium den Frauenausschuss der Vereinten Nationen für CEDAW eingeladen, um hier in Deutschland die Arbeit machen zu können, zu der sie aus Zeitgründen und aus finanziellen Gründen sonst nicht kommen. Hier in Deutschland hat der UN-Frauenausschuss auf Einladung des Auswärtigen Amtes daran arbeiten können, dass dieses Zusatzprotokoll auch praktisch mit Leben gefüllt wird. Fragen Sie einmal bei der UN an, wie dankbar die Frauen dieser Welt sind, dass die Bundesregierung diese Initiativen ergriffen hat! Sie sollten sich nicht nur auf Pressemitteilungen verlassen, sondern vielleicht auch sehen, was wirklich gemacht wird. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Alfred Hartenbach das Wort.

Alfred Hartenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002669, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Kollegin, als Sie eben das Land Baden-Württemberg so lobten, musste ich zunächst einmal im „Kürschner“ nachschauen, um zu sehen, ob Sie dort Ihre Heimat haben. Ich konnte eigentlich keine solche Bindung außer Ihrer möglichen Motivation, dort Wahlkampfhilfe leisten zu wollen, erkennen. Ansonsten, Frau Lenke, hat das Land Baden-Württemberg das von Ihnen erteilte Lob nicht verdient. Wir wissen, dass sich das Land Baden-Württemberg sehr lange gegen das selbstständige Aufenthaltsrecht von Frauen gesträubt und sehr lange blockiert hat, bis es sich dazu durchgerungen hat. Dann loben Sie Herrn Goll, den ich bis vor wenigen Tagen auch noch sehr geschätzt habe. Wenn man heute, am Weltfrauentag, diesen Namen in den Mund nimmt, dann muss man sich schon fragen, ob man damit nicht einem das Wort redet, der sich in übelster Weise des Mobbings einer Richterin aus seinem eigenen Geschäftsbereich schuldig gemacht hat. ({0}) Wie kann es denn angehen, verehrte Frau Kollegin Lenke, dass dieser Mann eine Kollegin von mir - ich war früher einmal Richter -, die vom Richterwahlausschuss gewählt worden ist, in einer so üblen Art und Weise öffentlich abqualifiziert? Ich hätte mich als Justizminister dafür geschämt. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erwiderung erhält Frau Lenke das Wort.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Erstens. Frau Staatssekretärin Niehuis, wenn ich mich auf eine Pressemitteilung des Außenministers stütze, dann hätte der Außenminister sehr wohl, wie Sie sagen, seine Erfolge deutlich machen können. Das hat er aber nicht getan. ({0}) Es sind richtige Nickeligkeiten und Nichtigkeiten in dieser Erklärung, und wenn darin nichts anderes als Nickeligkeiten und Nichtigkeiten enthalten ist, dann scheint es wohl auch nicht nur an ihm gelegen zu haben, wenn Dinge wie beispielsweise dieses Zusatzprotokoll verabschiedet worden sind. Zweitens. Herr Kollege, ich habe jetzt leider die Unterlagen betreffend diese Richterin nicht, aber nach meiner Kenntnis ist die Sachlage ganz anders, als Sie sie dargestellt haben. Ich werde mich darum kümmern und werde Ihnen persönlich die richtige Antwort dazu geben, die mir heute Nachmittag leider nicht möglich ist. Die Sachlage ist aber eine ganz andere als die, die Sie hier so polemisch darstellten. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat Kollegin Petra Bläss von der PDSFraktion das Wort.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vielen Aktionen, die heute im gesamten Bundesgebiet stattfinden, verdeutlichen eines: Auch am 90. Internationalen Frauentag hat der Kampf um die Durchsetzung von Frauenrechten nicht an Aktualität verloren, ebenso wenig die Forderungen aus der alten Frauenbewegung, zu denen auch immer wieder die Bekämpfung jeder Form der Gewalt gegen Frauen gehört hat. Gewalt gegen Frauen - das ist hier in der Debatte schon mehrfach angesprochen worden - ist die häufigste Menschenrechtsverletzung weltweit und eben auch hierzulande, in der Bundesrepublik. Es gibt keine oder kaum gesicherte Zahlen. Aber die verschiedensten Studien gehen davon aus, dass hierzulande mindestens jede fünfte, möglicherweise sogar jede dritte Frau in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erfahren hat. Der größte Teil der Gewalttaten - auch das ist schon gesagt worden - findet im sozialen Nahbereich statt: in der Familie, im Verwandten- und Bekanntenkreis. Gewalt gegen Frauen und Kinder darf nicht länger ein Tabuthema sein und als privates Schicksal verstanden werden. Wenn ich die frauenpolitischen Debatten der letzten zehn Jahre Revue passieren lasse, dann ist festzustellen: Wir alle hier im Hohen Hause haben eine neue Qualität der Debatte erreicht. Es besteht nämlich durchaus ein Konsens: ({0}) Wir müssen Gewalt als Problem öffentlich machen, sie zum gesellschaftlichen Problem erheben und ächten. Die Initiativen der Bundesregierung - ich spreche hier explizit den nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, aber auch den heute vorgelegten Entwurf eines Gewaltschutzgesetzes an - begrüßt die PDS im Grundsatz. Wir sehen aber in Details Verbesserungs- und Ergänzungsbedarf, vor allem was die konkrete Umsetzung betrifft. Worin der besteht, haben wir in unserem Antrag „Frauenrechte sind Menschenrechte Gewalt gegen Frauen effektiver bekämpfen“ aufgezeigt. Erstens. Notrufeinrichtungen, Frauenberatungsstellen und Frauenhäuser müssen besser und vor allem mit langfristiger Perspektive gefördert werden. ({1}) Die Finanzierung solcher Einrichtungen gilt in der Regel als so genannte freiwillige soziale Leistung, die in Zeiten knapper Kassen zurückgefahren wird. Deshalb sehen bereits etliche Projektgruppen - ich fürchte, zu Recht - ihre Arbeit bedroht. Zweitens. Wir begrüßen, dass die Täter zukünftig aus der gemeinsamen Wohnung weggewiesen werden können. Aber diese Regelung darf nicht durch die Hintertür zulasten von Frauen gehen. Die betroffenen Frauen sollten immer die Wahl haben, wie sie für sich selbst größtmöglichen Schutz vor erneuten Gewalttaten suchen. Von der Bundesjustizministerin sind hierzu schon einige Zahlen genannt worden; ich möchte eine ergänzen: Im vergangenen Jahr haben allein in Berlin, in der Hauptstadt, 2 000 Frauen die hier bestehenden 5 Frauenhäuser und 43 Zufluchtswohnungen aufgesucht - und das in Not. Die Einführung des Gewaltschutzgesetzes darf weder Ländern noch Kommunen als Vorwand dienen, die finanziellen Mittel für Frauenhäuser, Beratungsstellen und Notrufe zu kürzen. ({2}) Drittens. Wir wollen, dass Beraterinnen in Notrufen, Beratungsstellen und Frauenhäusern ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Opfern von Gewalttaten aufbauen können. Dazu brauchen wir ein Zeugnisverweigerungsrecht für Beraterinnen analog dem für Ärztinnen und Ärzte. Viertens. Gewalt gegen Frauen ist und bleibt ein Problem der inneren Sicherheit. Wir fordern deshalb, dass Gewalt auch im privaten häuslichen Bereich als Offizialdelikt behandelt und von Polizei und Justiz geahndet wird. Frühzeitige Intervention vermag manches Leid - ich füge ganz bewusst hinzu: auch manches Geld - zu sparen. Die Arbeitsgruppe Männer- und Geschlechterforschung in Berlin hat ermittelt - die diesbezügliche Zahl ist schon genannt worden -, dass Gewalt von Männern gegen Frauen und Kinder hierzulande jährlich 29 Milliarden DM kostet. Fünftens. Wir fordern, dass die Ungleichbehandlung behinderter Frauen im Sexualstrafrecht abgeschafft wird. Gewalt gegenüber so genannten widerstandsunfähigen, also behinderten Frauen muss genauso geahndet und mit dem gleichen Strafmaß belegt werden wie sexualisierte Gewalt gegen nicht behinderte. Frau Schewe-Gerigk hat dazu bereits Ausführungen gemacht. Ich denke, dass wir darüber in den Ausschüssen ganz konkret beraten werden. Sechstens. Auch ältere und insbesondere pflegebedürftige Frauen, die in Familien und Heimen Gewalt ausgesetzt sind, benötigen mehr Schutz. Dieses Thema hat erst vor kurzem das Licht der Öffentlichkeit erblickt; hier bestand lange ein Tabubereich. Im familiären Bereich müssen die im Entwurf des Gewaltschutzgesetzes vorgesehenen Maßnahmen volle Anwendung auch zugunsten pflegebedürftiger Menschen finden. Um so genannte Freiheitsentziehungen und Ruhigstellungen im Heimbereich zu verhindern, bedarf es unseres Erachtens eines angemessenen Fachkräfteeinsatzes und entsprechender Fortbildungsmaßnahmen für das Pflegepersonal. Alte Menschen haben ein Recht auf Leben in Würde und Selbstbestimmung. ({3}) Siebtens. Die von Amnesty International am Montag vorgestellte Studie über Folter und Misshandlung von Frauen hat einmal mehr auf das weltweite Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen an Frauen aufmerksam gemacht. Amnesty International verlangt, Gewalt gegen Frauen überall in der Welt öffentlich zu verurteilen, Berichten über Folter an Frauen konkret nachzugehen und Frauen, die vor frauenspezifischer Verfolgung fliehen, Asyl zu gewähren. Die von der Bundesregierung vorgenommene und in der Debatte schon zitierte Veränderung der Verwaltungsverordnung zum Ausländergesetz reicht meines Erachtens noch nicht aus. Frau Kollegin Schewe-Gerigk, wir sehen sehr wohl die gravierenden Verbesserungen, die seit den Änderungen im Verwaltungsbereich in Kraft sind. Aber wir brauchen die gesetzliche Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung als Asylgrund, um den betroffenen Frauen verlässlich Schutz und Aufnahme gewähren zu können. ({4}) Der diesbezügliche PDS-Antrag liegt bekanntlich nach wie vor zur parlamentarischen Beratung vor. Asylbewerberinnen, die Opfer von Gewalt werden, müssen in den Schutzbereich des Gewaltschutzgesetzes gelangen. Es ist, so denke ich, wichtig, auch hier noch einmal alle Rechtsvorschriften durchzuforsten. Achtens. Wir brauchen eine Änderung des § 19 des Ausländergesetzes im Sinne eines eigenständigen Aufenthaltsrechtes ausländischer Ehefrauen. Nun weiß ich sehr wohl, was in diesem Bereich in diesem Hause schon geleistet worden ist. Aber unsere Forderung geht noch ein Stückchen weiter: Die Mindestbestandsfrist für die Ehe von zwei Jahren muss unseres Erachtens gestrichen werden. Denn nur so haben ausländische Frauen die Chance, das Gewaltschutzgesetz in Anspruch zu nehmen, ohne ihre spätere Ausweisung fürchten zu müssen. Die jetzige Regelung bedeutet, so denke ich, für die Frauen in den ersten zwei Ehejahren ein Stück Rechtsunsicherheit. Neuntens und letztens müssen internationale Vereinbarungen zum Schutz von Frauen vor Gewalt schnell in nationales Recht umgesetzt werden. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, das von der Staatssekretärin Edith Niehuis zitierte Zusatzprotokoll zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frauen, genannt CEDAW-Zusatzprotokoll, dem Bundestag schnell zur Abstimmung vorzulegen, um eine Ratifizierung zu erreichen. Darüber ist lange geredet worden; jetzt sollten diesen Worten auch endlich Taten folgen. Erst dann nämlich haben Frauen die Möglichkeit, sich gegen Verstöße gegen das Abkommen tatsächlich zur Wehr zu setzen und ihr Recht auf Gleichberechtigung gerichtlich einzuklagen. Ich danke. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Christine Bergmann.

Christine Bergmann (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor eines der bedrückendsten Themen in unserem Land. Gewalt verletzt die Integrität von Frauen und ihr Recht auf Selbstbestimmung auf eklatante Weise. Deshalb ist es so wichtig, dass wir heute, am Internationalen Frauentag, den Entwurf des Gewaltschutzgesetzes, den die Bundesjustizministerin vorgelegt hat, hier im Deutschen Bundestag diskutieren. ({0}) Dieses Gesetz macht ganz unmissverständlich klar, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder im häuslichen Bereich eben keine Privatsache ist, sondern eine Angelegenheit, um die sich unser Rechtsstaat mehr als bisher kümmern muss. Auch ich will eine Zahl nennen: Wenn wir uns vor Augen halten, dass schätzungsweise jede dritte Frau in Deutschland - man will das immer nicht glauben, aber so sind die Zahlen - von häuslicher Gewalt betroffen ist, dann müssen wir alles dafür tun, dass Täter künftig konsequenter zur Rechenschaft gezogen werden und dass Opfer besser geschützt werden. ({1}) Die Bundesregierung hat gehandelt und den nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung von Gewalt vorgelegt. Ein ganz wichtiger Teil dieses Planes ist dieses Gewaltschutzgesetz. Aber darin enthalten sind natürlich noch eine ganze Menge anderer Dinge: Mit dem Aktionsplan liegt erstmals ein umfassendes Gesamtkonzept vor, mit dem wir das Ziel verfolgen, strukturelle Veränderungen in allen Bereichen der Gewaltbekämpfung zu erreichen. Das geht von der Prävention über die bessere Vernetzung und die Täterarbeit bis hin zu rechtlichen Maßnahmen. Ich kann hier sagen - weil dies auch in dem Antrag gefordert wurde -: Alle Maßnahmen, die in der Zuständigkeit der Bundesregierung liegen, sind in Umsetzung oder bereits abgeschlossen. Wir haben zwar noch etwas zu tun, aber alles ist bereits auf dem Tisch. Zu einigen dieser Punkte möchte ich etwas sagen. Ein wichtiger Bereich in diesem Plan ist die Kooperation zwischen staatlichen Stellen und den verschiedenen Institutionen und Projekten, die auf dem Gebiet der Prävention und Bekämpfung von Gewalt arbeiten. Wir haben sehr wichtige Erfahrungen mit dem Berliner Interventionsprojekt gemacht. Es ist nötig, Maßnahmen im polizeilichen, straf- und zivilrechtlichen sowie im sozialen Bereich aufeinander abzustimmen und zu vernetzen, um effektiv gegen häusliche Gewalt vorgehen zu können. So kann den betroffenen Frauen am besten geholfen werden. Wir haben die Erfahrungen aus dem Berliner Interventionsprojekt, das jetzt noch ein Stück weiter entwickelt wird, allen Akteurinnen und Akteuren zugänglich gemacht. Diese Erfahrungen sind vielfach aufgegriffen worden. In vielen Kommunen gibt es jetzt entsprechende Vernetzungen, gibt es runde Tische und versucht man, mit allen gemeinsam an diesem Problem zu arbeiten. Jetzt wird ein weiteres Interventionsprojekt, das Projekt in Schleswig-Holstein, von uns unterstützt. Denn es ist wichtig, dass wir die Erfahrungen aus dem Berliner Projekt auch in einem Flächenland umsetzen, um zu sehen, wie wir dort wirksame Hilfe für Frauen schaffen können. Es ist auch wichtig, dass wir alle diese Interventionsprojekte wissenschaftlich begleiten, damit diese Erfahrungen nicht verloren gehen, sondern all das, was wir an Erfahrungen sammeln, genutzt wird. Es ist wichtig, dass sich die Länder und Kommunen vor Ort engagieren und all diese Maßnahmen mit umsetzen. Ich bin sehr froh, dass es schon einige Bundesländer gibt, die eigene Landesaktionspläne beschlossen haben, die die Ziele des Bundesaktionsplanes länderspezifisch umsetzen. Wir haben in der Frage der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern eine Menge auf den Weg gebracht. Hier sind enge Kooperationen notwendig. Wir haben auch eine andere, eine intensive Form der Zusammenarbeit gefunden, bei der wir uns gegenseitig unterstützen. Ich nenne hier die Arbeitsgruppe Frauenhandel, die es schon länger gibt. Ich möchte nur einen Punkt erwähnen, an dem gegenwärtig gearbeitet wird. Dabei geht es um konkrete Maßnahmen zum Schutz von Opfern des Menschenhandels, zum Beispiel eine HärtePetra Bläss fallregelung zur Erlangung einer Arbeitserlaubnis für Opferzeuginnen. ({2}) Aber auch hier haben wir noch Handlungsbedarf. Ich möchte die Bund-Länder-Arbeitsgruppe nennen, in der auch Nichtregierungsorganisationen und Frauenhäuser vertreten sind, um alles Wissen, das wir haben, einzubeziehen und miteinander zu vernetzen. Diese Arbeitsgruppe erarbeitet derzeit Fortbildungskonzepte für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugendämtern, für Familienrichter, Staatsanwaltschaften und die Polizei. All das, was wir brauchen, um unseren Aktionsplan wirkungsvoll umzusetzen, wird also in diesen Gremien bearbeitet. Ebenfalls bereits angesprochen wurde das Thema der Vernetzung. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass wir die Vernetzung der Frauenhäuser, der Notrufe und der Beratungsstellen gegen Frauenhandel finanzieren. Das ist ganz wichtig, damit sie wirksam zusammenarbeiten können. Fortbildung ist in diesem Bereich das A und O, insbesondere auch Fortbildung der Polizei. Es entspricht den Erfahrungen, die in Berlin gemacht wurden, dass die Polizei in der Ausbildung dieses Thema behandeln muss, dass Fortbildungsveranstaltungen stattfinden, damit es keinen Polizisten und keine Polizistin mehr gibt, die in einer Situation, zu der sie gerufen werden, nicht wissen, wie sie sich zu verhalten haben, sondern wirklich agieren können. Vor Ort müssen entsprechende polizeiliche Richtlinien vorhanden sein. ({3}) In Zusammenarbeit mit den Ländern werden wir im April oder Mai ein Projekt zur Entwicklung, Erprobung und Verbreitung eines Gewaltpräventions- und Fortbildungskonzepts für allgemein bildende und berufsbildende Schulen starten. Ich halte es für ganz wichtig, bereits in diesem Bereich mit der präventiven Arbeit, mit der Information darüber, welche Rechte Frauen in dieser Situation haben, anzusetzen. Ich möchte noch auf den Schutz ausländischer Frauen eingehen, der hier schon eine Rolle spielte. Wir haben es sehr schnell geschafft, das eigenständige Aufenthaltsrecht von Frauen zu verbessern, sodass wir mit den Verwaltungsvorschriften, die im Bereich der geschlechtsspezifischen Verfolgung und zum Schutz der Opfer von Menschenhandel gelten, jetzt etwas in der Hand haben - Sie haben es angesprochen, Frau Schewe-Gerigk, ich habe mich auch informiert -, was zu ganz eklatanten Verbesserungen in diesem Bereich geführt hat. Ich habe seitdem keine Klagen mehr auf den Tisch bekommen. In diesem Bereich hat sich auch qualitativ etwas verändert. Das war enorm wichtig. Das wollten wir auch. ({4}) Wir haben im letzten Jahr eine Untersuchung in Auftrag gegeben, die uns ein umfassendes Bild der Lebenssituation und der sozialen Integration der in Deutschland lebenden ausländischen Mädchen und Frauen geben wird. Die Daten, die im Familienbericht stehen, sind wichtig, reichen uns aber nicht. Wir brauchen weiter gehende Informationen über die Lebenssituation ausländischer Frauen. Diese werden wir damit bekommen. In diesem Zusammenhang wären noch eine ganze Menge anderer Maßnahmen zu nennen, die wir im Rahmen der Umsetzung des Aktionsplans bereits durchgeführt haben. Ich will nur an die Unterstützung der Beratungsstelle für Frauen mit Behinderung sowie an die wissenschaftliche Untersuchung zum Ausmaß und zu Erscheinungsformen von Gewalt gegen Frauen erinnern. Zu mehr reicht die Zeit nicht. Es war ein weiter Weg vom ersten Frauenhaus 1976 in Berlin bis zum heutigen Tag, an dem wir den Entwurf des Gewaltschutzgesetzes auf dem Tisch liegen haben. Dies war nur möglich, weil sich immer wieder sehr engagierte Frauen für Frauen eingesetzt und Frauen Schutz gegeben haben, immer wieder das dicke Brett gebohrt haben und das Thema immer wieder aus dem Tabubereich herausgeholt haben. Dies ist ein Erfolg der Arbeit all dieser Frauen. Dafür möchte ich an dieser Stelle einmal ganz herzlich danken. ({5}) Natürlich dürfen wir nicht vor unserer Haustür Halt machen. Das Thema Gewalt gegen Frauen ist eines, das wir auch im Rahmen internationaler Kooperation bearbeiten müssen. Es ist wichtig, dies heute, am Internationalen Frauentag, noch einmal zu sagen. Ich bin froh, dass es uns in den letzten Tagen offensichtlich allen ähnlich ergangen ist, als der Aufschrei durch die Medien ging, was mit den Kulturgütern in Afghanistan passiert. Wir sind alle dafür, dass sie erhalten bleiben. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Aber wo ist der Aufschrei, wenn wir von den eklatanten Menschenrechtsverletzungen gegen Frauen hören, die dort passieren? Schlimmere als die, die wir dort erleben, sind nicht vorstellbar. Wo bleibt da der Aufschrei? Solange dieser nicht erfolgt, haben wir noch eine ganze Menge zu tun. Und das tun wir auch. Frau Lenke, Sie waren mit in New York und wissen, wie wir dort um entsprechende Regelungen gerade für die Frauen in anderen Ländern, gerade zur Bekämpfung von Gewalt in Ländern, in denen genitale Verstümmelungen und Diskriminierung in ihrer schlimmsten Form an der Tagesordnung sind, gekämpft haben. Frau Bläss, ich brauche zu CEDAW nichts mehr zu sagen. Das kriegen wir so schnell hin, wie es geht. Sie wissen, die Verfahren sind etwas langwierig. Aber wir werden es bald im Ausschuss behandeln können. Ich möchte noch auf einen positiven Punkt hinweisen, und zwar, dass es jetzt endlich beim Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu einer Verurteilung von Tätern gekommen ist, die Massenvergewaltigungen begangen haben. Es ist endlich gelungen, diese Form der Menschenrechtsverletzung als Kriegsverbrechen zu ahnden. Das ist auch etwas, was Frauen für Frauen errungen haben. Hier sind viele Frauen, die von diesen Menschenrechtsverletzungen betroffen waren, über ihren Schatten gesprungen und haben etwas getan, damit es anderen Frauen vielleicht besser geht. ({6}) Ich denke, dass wir in diesem Bereich der konsequenten Verfolgung von Gewaltverbrechen gemeinsam handeln müssen. Die Debatte verlief bislang in diesem Sinne, auch wenn Frau Lenke einen etwas anderen Ton hineingebracht hat. ({7}) Vergessen wir das einmal. Am Ende machen Sie mit. Es ist wichtig, dass wir uns hier nicht auseinander dividieren lassen, sondern versuchen, gemeinsam weiterzumachen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Ingrid Fischbach von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Häusliche Gewalt hat gegenüber dem allgemeinen Gewaltphänomen seit jeher ihre eigene Dimension. Ging es früher darum - das dürfen wir uns ruhig noch einmal in Erinnerung rufen -, die Zuchtgewalt des Hausherrn gegenüber Frau und Kind zu begründen, aber auch zu begrenzen, sehen sich heute die Familienmitglieder als Träger der Menschenrechte mit gleichem Recht auf physische und psychische Unversehrtheit. Die Wahrung und Achtung der körperlichen und seelischen Integrität eines jeden Menschen sind durch die Grund- und Menschenrechte verfassungsrechtlich verbrieft. Trotzdem nimmt die Zahl an Gewalttaten auch im häuslichen Umfeld leider zu. Besonders betroffen sind Kinder und Frauen. Natürlich sind ebenfalls Männer betroffen. Auch Männer werden geschlagen und misshandelt. Die Erfahrungen in Österreich, auf die wir heute schon mehrfach zurückgegriffen haben, gehen von circa 10 Prozent aus. Wenn wir von jährlich circa 45 000 Frauen sprechen, die in Frauenhäusern Zuflucht vor der Gewalt ihres Partners suchen, dann erkennen wir, dass hauptsächlich Frauen und mit ihnen die Kinder die Leidtragenden sind. Gemessen an der Wirklichkeit genügt die derzeitige Rechtslage und Praxis in Deutschland, besonders in extremen Fällen, leider nicht, obwohl das Zivilrecht bereits in seiner geltenden Fassung Möglichkeiten bietet, auf häusliche Gewalttaten zu reagieren. Um Frauen ausreichend vor häuslicher Gewalt zu schützen, muss die bisherige Rechtslage ergänzt und präzisiert werden. Das neue Gesetz verbessert die Situation des Opfers. Durch die erweiterten Möglichkeiten, den Kontakt des Täters mit dem Opfer zu unterbinden, erfährt das Opfer eine deutliche psychische Entlastung und eine erhöhte Sicherheit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU/CSU-Fraktion begrüßt das Bemühen der Bundesregierung, die bereits von uns in unserer Regierungszeit begonnenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen weiter auszubauen. Unsere damalige Familienministerin Claudia Nolte hat mit ihrer groß angelegten mehrjährigen Kampagne „Gewalt gegen Frauen“ ein wichtiges Ziel erreicht: die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema. Sie sehen es heute: Wir sprechen darüber. ({0}) Auch das mehrfach gelobte - die Frau Ministerin hat gerade darauf hingewiesen - Berliner Interventionsmodell ist eine Sache, die von der alten Regierung initiiert worden ist. Sie haben zwar mitgemischt, aber wir hatten die Regierungsverantwortung. Sie sehen, Frau Ministerin, wie wichtig es ist, in bestimmten Punkten zusammenzuarbeiten. Das wollen wir auch heute. ({1}) Für Gewalt gegen Frauen und Kinder gibt es keine Entschuldigung. Diejenigen, die ihren Frauen und/oder Kindern Gewalt antun, müssen dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Es gilt, misshandelte Frauen und Kinder effektiv und schnell zu schützen und die Täter in die Verantwortung zu nehmen. Dazu gehört meiner Meinung nach auch die polizeirechtliche Möglichkeit eines Platzverweises des Täters bei Gewaltanwendung gegen Frauen und deren Kinder in häuslichem Bereich. Bisher waren die betroffenen Frauen gezwungen, die Wohnung zu verlassen, um sich und ihre Kinder zu schützen. Der Gewalttäter blieb weiterhin in der Wohnung. Die Erfolge, die in Österreich mit dem so genannten Wegweiserecht gemacht wurden, sind für uns ein Ansporn, auch in Deutschland Wege und Möglichkeiten zu schaffen, damit Kinder und Frauen - die Opfer - in ihren Wohnungen bleiben können. ({2}) Österreich hat aber auch gezeigt, dass die dort praktizierte Wegweisung nicht in allen Fällen die Sicherheit von Kindern und Frauen garantieren kann. Frauen- und Kinderschutzhäuser bleiben weiterhin ein notwendiger Bestandteil des Hilfesystems. Sie sind unverzichtbar; denn, wie gesagt, nicht jede Gewaltsituation lässt sich durch die befristete Entfernung des Täters lösen. Daher muss die Zukunft der Frauenhäuser und Zufluchtswohnungen gesichert bleiben. Allerdings - auch hier gibt es eine Einschränkung -: Schutzwohnungen und Frauenhäuser dürfen nicht zu Langzeitaufenthaltsräumen für Frauen werden. Die Wegweisung ist und bleibt ein klares Signal an den Täter, dass auch im häuslichen Bereich keine Gewalt geduldet und zugelassen wird. Die räumliche Trennung des gewalttätigen Mannes von der bedrohten Frau ist zu Recht das zentrale Element eines jeden präventiven Konzepts und unverzichtbare Vorbedingung eines jeden Verständigungsprozesses. Wenn betroffene Frauen draußen um Hilfe nachsuchen, sind sie meist Opfer langjähriger Misshandlungen. Viele Opfer scheuen aus Scham die Öffentlichkeit. Wir haben die Beispiele gehört: Ich bin die Treppe heruntergefallen; ich bin gestürzt oder was auch immer. Haben sich diese Frauen doch dazu durchgerungen, sich zu wehren, stehen sie unter erheblichem Druck. Eine sofortige und effektive Reaktion ist nötig, damit Frauen nicht in einen Zustand der zunehmenden Hilflosigkeit verfallen, in dem sie sich selbst keine Veränderung zutrauen und sich auch keine wirksame Hilfe von außen versprechen. In einer akuten Gefährdungssituation müssen sozusagen rechtliche Erste-Hilfe-Maßnahmen greifen, und zwar unabhängig von der Frage der Trennung oder Trennungsabsicht, um zunächst einen Schutzraum vor Gewalt und Bedrohung herzustellen. Der staatliche Schutz von Frauen muss auf die realen Lebensverhältnisse einwirken und die Entwicklung der Maßnahmen auf einer sorgfältigen Tatsachenermittlung zu häuslicher Gewalt beruhen. Es ist allerdings nicht allein damit getan, Täter lediglich aus den Wohnungen zu weisen. Gewalt beginnt in den Köpfen; daher können auch nur psychologische Begleitmaßnahmen in den Köpfen der gewaltbereiten Männer etwas ändern. Das Unrechtsbewusstsein der Täter muss geweckt werden. Ein Verhaltenstrainingskonzept für gewalttätige Männer gehört für mich in ein solches Gesamtkonzept. Eine begleitende Täterarbeit muss sichergestellt sein. Ziel muss es sein, den Gewalttäter zur subjektiven Übernahme der Verantwortung zu führen. Dabei stellt sich nicht nur die Motivation der Männer zur Teilnahme an der Beratung als schwierig dar, sondern auch, sie in der Beratung zu halten. Deshalb könnte eine genaue Abstimmung der Dauer einer Bewährungsauflage auf die Dauer des Programms eine sinnvolle Forderung sein. Meine Damen und Herren, besondere Hilfen benötigen vor allem die Opfer. Die wenigsten Frauen wissen von ihren rechtlichen Möglichkeiten. Die Bundesregierung ist aufgefordert, mittels einer breiten Informationskampagne für Aufklärung bzw. Information zu sorgen. Hinzu kommen vor allem begleitende Hilfen. Über den physischen Schutz hinaus muss Hilfe bei der Bewältigung des Erlebten, aber auch bei der Neugestaltung des nächsten Lebensabschnitts gewährleistet sein. ({3}) Wir dürfen die Opfer nach der Wegweisung nicht allein lassen. Sie brauchen soziale und psychische Unterstützung. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der vorliegende Gesetzentwurf ist ein Schritt in die richtige Richtung. Isoliert und allein ist er allerdings unwirksam. Es muss ein Gesamtkonzept erstellt werden, das alle Bereiche umfasst und von allen mitgetragen wird. Absichtserklärungen und Unterstützungszusagen müssen konkretisiert werden. Länder und Kommunen müssen mit eingebunden werden. Ich weise noch einmal auf das Land Baden-Württemberg hin; denn wir haben seit dem letzten Jahr ein Modell laufen und können schon von positiven Erfahrungen berichten. Da können Sie sagen, was Sie wollen, es ist nun einmal ein Bundesland, das CDU-geführt ist. Sie sehen: Auch wir arbeiten daran. ({4}) - Dafür werden wir sorgen, Frau Niehuis, aber Sie dürfen noch ein bisschen hoffen. Ich möchte hier noch einmal deutlich machen, wie wichtig der gesamte Bereich der Prävention ist, zum Beispiel schulische Präventionsmaßnahmen gegen Gewalt. Aber auch Gewaltpräventions- und Fortbildungskonzepte in den weiterführenden Schulen, in der beruflichen Schule dürfen nicht fehlen. Meine Damen und Herren, wir stehen am Anfang der Beratungen und ich kann Ihnen versichern, dass wir, die CDU/CSU-Fraktion, an einem Gesamtkonzept mitarbeiten werden. Projekte und Strategien gegen häusliche Gewalt müssen sich als Gebot der Vernunft und als Gebot der Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft etablieren. Es ist höchste Zeit, hier zu handeln. Lassen Sie uns dies gemeinsam tun! ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Ministerin der Justiz des Landes Sachsen-Anhalt, Karin Schubert. Karin Schubert, Ministerin ({0}) ({1}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie viele meiner Kolleginnen heute bereits angemerkt haben, ist heute der richtige Tag für dieses Gesetz. Ich hoffe, dass der 90. Internationale Frauentag es auch den Kritikern des Gewaltschutzgesetzes ermöglicht oder vielleicht erleichtert, hier zuzustimmen. Ich hoffe, dass die Abwesenheit fast aller Männer hier in diesem Parlament ({2}) ihre Ursache darin hat, dass Sie vielleicht ausgeschwärmt sind, um uns Rosen zu kaufen. ({3}) Meine Herren, ich denke, Rosen sind gut, aber schenken Sie uns nicht nur Rosen, schenken Sie uns auch ein gewaltfreies Frauenleben. ({4}) Meine Damen und Herren, die Ausübung von Gewalt, insbesondere gegenüber Frauen und Kindern, stellt ein allgegenwärtiges gesellschaftliches Phänomen dar, ein Problem, das konsequent angegangen werden muss und das nicht verschwiegen werden darf. Das von der Bundesregierung auf den Weg gebrachte Gesetz ist ein wichtiger Schritt zur Umsetzung des „Bundesaktionsplans zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“ vom Dezember 1999. Der Bundesrat hat diesen Aktionsplan begrüßt, insbesondere die darin angekündigte Vereinfachung einer befristeten Wohnungszuweisung zulasten gewalttätiger Angehöriger einer häuslichen Gemeinschaft - auch eines gewalttätigen Ehepartners - sowie die Grundlage für die Schutzanordnungen bei Kontakt-, Belästigungs- und Näherungsverboten. Dies hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu dem vorliegenden Gesetzentwurf nochmals deutlich zum Ausdruck gebracht. Dieser Gesetzentwurf setzt endlich die im Aktionsplan aufgezeigten Ziele im zivilrechtlichen Bereich um. Die physische Gewalt zwischen Partnern kommt leider in allen sozialen Schichten vor. Es ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen; sie liegt bei fast 90 Prozent. Familiäre Gewalt wird noch heute häufig als Privatsache zwischen Eheleuten bzw. Partnern angesehen, sodass misshandelte Frauen oft auf eine Strafanzeige verzichten. Die Angst vor einem Auseinanderbrechen der Familie, die Schuldgefühle, die Scham, der Imageverlust oder die Druckausübung durch den Täter, aber auch Zweifel am Erfolg der Strafverfolgung führen oft zum Verzicht auf eine Anzeige. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass Gewalthandlungen in der Familie nur selten Einzelfälle sind. Meist werden die Opfer wiederholt misshandelt. Statistisch gesehen ist nicht nur jede dritte Frau Opfer einer Gewalthandlung im häuslichen Bereich; auch jede siebte Frau ist mindestens einmal in ihrem Leben Opfer einer Vergewaltigung oder Nötigung geworden. In der Bundesrepublik suchen jährlich circa 45 000 Frauen mit ihren Kindern Zuflucht in einem der vielen Frauenhäuser, die meisten auf der Flucht vor Gewalttätigkeiten. Durch den heute vorliegenden Entwurf eines Gewaltschutzgesetzes soll die Öffentlichkeit dafür sensibilisiert werden, dass Gewalt in jeder Form zu ächten ist. Misshandelte Frauen, die sich zur Trennung von ihrem Partner entschließen, bekunden häufig, dass an erster Stelle für sie der Wunsch nach Schutz vor weiterer Gewalt steht, der Wunsch nach Bestrafung des Täters zweitrangig ist. Herr Pofalla, ich denke, Sie haben zwar Recht, dass es möglicherweise Lücken gibt. - Wo ist er denn überhaupt? ({5}) - Er schwächelt, gut. - Aber angesichts der 45 000 Frauen, die in der Unwägbarkeit leben, ob sie außerhalb ihrer Wohnung, untergebracht in Frauenhäusern, Gerechtigkeit erfahren, stehen Ihre Bedenken im Hinblick auf die wenigen Männer, die vor Gericht darlegen können, zu Unrecht ihrer Wohnung verwiesen worden zu sein, in keinem Verhältnis. Ich denke, das Gewaltschutzgesetz sollte in der Form, wie es von der Bundesregierung vorgelegt worden ist, verabschiedet werden. ({6}) Wichtig ist zunächst, dass eine räumliche Trennung vollzogen werden kann. Zudem muss gewährleistet sein, dass die Frau und die Kinder nicht zu Hause oder andernorts aufgesucht und weiterhin bedroht oder misshandelt werden. Wichtigster Baustein des Gewaltschutzgesetzes ist daher das angestrebte Eilverfahren, mit dem betroffene Frauen den gewalttätigen Ehemann oder Partner aus der gemeinsam bewohnten Wohnung weisen können. Mit der Zuweisung der Ehewohnung kann zunächst einmal eine räumliche Distanz zwischen dem Täter und seinem Opfer hergestellt werden. Die Regelung, Partner einzubeziehen, ist unverzichtbar und gegenüber dem bisherigen Zustand neu. Bislang hat die Polizei immer Schwierigkeiten, den Täter aus der Wohnung zu weisen. Die Wegweisung ist möglich, soweit eine weitere Straftat unmittelbar bevorsteht oder erhebliche Gefahr für Leib oder Leben des Opfers besteht. Wer aber ist in der Lage, in dem Augenblick, in dem er bedroht oder geschlagen wird, nachzuweisen, dass eine unmittelbar bevorstehende erhebliche Gefahr droht? Wer kann so etwas in einer solchen Situation? Es darf nicht sein, dass das Opfer - wie heute vielfach üblich - mit den Kindern aus der Wohnung ausziehen muss und der Täter in den eigenen vier Wänden bleibt. Ich denke, hier besteht die Notwendigkeit, einen entsprechenden Schutz zu bieten. Es kommt noch eines hinzu: Gewalt im familiären Bereich bezieht sich nicht nur auf Frauen. Eine gewalttätige Atmosphäre in der Familie hat auch erhebliche Auswirkungen auf die Kinder. Gewalt gegen Kinder gehört leider noch in vielen Familien zum Erziehungsalltag. Etwa 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland erfahren in unterschiedlichem Ausmaß Gewalt in der Erziehung. Rund 1,3 Millionen Kinder werden körperlich misshandelt, darunter 420 000 zum wiederholten Mal. Sachsen-Anhalt hatte deswegen den Vorschlag unterbreitet, den minderjährigen Kindern ein eigenes Antragsrecht einzuräumen. Diese Anregung ist in den Gesetzentwurf bedauerlicherweise nicht aufgenommen worden. Von dem Anwendungsbereich des Gewaltschutzgesetzes sind minderjährige Kinder im Verhältnis zu ihren Eltern und anderen sorgeberechtigten Personen noch immer ausgenommen. Für diese gilt daher nur das Vormundschaftsrecht. Aber dieses ist als Anspruchsgrundlage für den Schutz der Kinder nicht ausreichend. Es ist nicht auf Situationen von häuslicher Gewalt ausgerichtet, in denen Gewalt von nur einem Elternteil ausgeht. Aber das muss auf längere Sicht nicht das letzte Wort sein. Ich halte ein eigenständiges Recht des Kindes auf Schutz weiterhin für erforderlich. Mit dem heutigen Gesetzentwurf wird letztlich - deshalb ist der gewählte Lösungsweg auch zu unterstützen Gewalt gesellschaftlich geächtet. Das macht den Frauen Mut und gibt ihnen Hoffnung auf ein gewaltfreies Leben. Ich bin froh und begrüße es - insoweit ist es mir egal, ob es ein CDU-geführtes oder ein von einer anderen Partei geführtes Land ist -, dass Baden-Württemberg, indem es die zügige Umsetzung in das Polizeigesetz des Landes vorgenommen hat, einen ersten Schritt gemacht hat. Nur, Ministerin Karin Schubert ({7}) die anderen Länder müssen nachziehen. Es kann nicht sein, dass hier nur ein Land aktiv wird. Ich hoffe, dass hier alle Fraktionen parteiübergreifend ein Gesetz verabschieden werden. Es ist wirklich die Kraft aller Fraktionen erforderlich, um das Gesetz zu verabschieden, ein Gesetz, das den Frauen und Kindern endlich Schutz vor Gewalt bietet. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ilse Falk von der CDU/CSU-Fraktion.

Ilse Falk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000513, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Internationaler Frauentag auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages - mehr als nur eine Pflichtübung? Gewaltschutzgesetz und Aktionsplan gegen Gewalt gegen Frauen - hatten wir so etwas nicht schon tausendmal? Die einen - das ist, wie wir unschwer erkennen können, die große Mehrzahl - gehen erst gar nicht hin, weil sie wesentlich Wichtigeres zu erledigen haben. Die anderen fühlen sich verpflichtet, freundlich-aufmerksam zuzuhören, während ihre Gedanken eingedenk ihrer vielen unerledigten Aufgaben wehmütig abschweifen. Das ist das eine Handicap unserer Debatte. Das andere können sicherlich alle schildern, die die Reaktionen auf unser heutiges Thema im Vorfeld erlebt haben: „Haha, Gewalt gegen Frauen! Da hab ich doch neulich gehört ...“, und dann folgen einschlägige Stammtischparolen, begleitet von einem breiten Grinsen, oder - heftig und böse -: „Hier werden wir Männer kriminalisiert und niemand sieht, wie vielen Männern ebenfalls Gewalt angetan wird.“ Dann gibt es vielleicht noch diejenigen, die sich die Mühe gemacht haben, eine Internetsuchmaschine anzuwerfen, und dann im SeniorInnen-Net auf eine Adelheid aus Grafenau gestoßen sind, die anlässlich des „Weltmarsches der Frauen 2000 - gegen Armut und Gewalt“ eine Mitfahrgelegenheit sucht. Gleich anschließend verspricht eine „RBH-Online. Anarchistische Buchhandlung“ weiterführenden Lesestoff zum Thema. „Ach ja, die natürlich“, sind Sie versucht zu sagen, „die haben Probleme!“ Solange aber psychische, körperliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder ein bedrückendes Phänomen unserer Gesellschaft ist, so lange dürfen wir dieses Thema weder ins Lächerliche ziehen noch es herabspielen und auch nicht davon ablenken. ({0}) Im Gegenteil: Solange es sie gibt, sind wir aufgefordert, dagegen anzugehen, auch, indem wir sie immer wieder thematisieren. Gewalt gegen Frauen ist noch immer die am weitesten verbreitete Menschenrechtsverletzung in unserer Welt, die auf ebenso subtile wie infame Weise oft unausgesprochen als sozial adäquat toleriert wird. Heute befassen wir uns vor allem mit der Bekämpfung der häuslichen Gewalt. Wer nach den oben genannten Beispielen nicht gleich im Internet aufgegeben hat, kann hier - das ist das Gute am Internet - Dokumentationen von Fachtagungen über Gewalterfahrungen von Frauen und Kindern nachlesen, die einen das Gruseln lehren. Gewalt in den eigenen vier Wänden, dem Zuhause, ist oft erschreckender Alltag. Die Familie als Ort und Hort der Liebe und Fürsorge lernen manche nur noch als sozialromantisch verklärtes Märchenideal kennen. Daher halte ich es für gerechtfertigt, wenn wir uns heute vor allem mit Gewalt gegen Frauen und Kinder beschäftigen, ohne zu verkennen, dass es auch Gewalt gegen Männer gibt. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich die Hoffnung, sich zu Hause am sichersten fühlen zu können, nicht in immer mehr Fällen als trügerisch erweist. Daher haben wir, die Opposition, es in der ersten Debatte über den Aktionsplan gegen Gewalt gegen Frauen im März des vergangenen Jahres ausdrücklich begrüßt, dass die Bundesregierung die bereits eingeleiteten guten Maßnahmen der Vorgängerregierung aufgegriffen hat und fortschreibt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den Vorbemerkungen zum Aktionsplan kritisiert die Bundesregierung allerdings - ich zitiere -: Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung betrafen damit in der Regel Einzelbereiche ({1}) und führten dort auch zu punktuellen Verbesserungen. Das gestehen Sie großzügig zu. Themen wie auch Projekte wurden oftmals durch die jeweilige öffentliche Diskussion bestimmt und folgten keiner langfristig angelegten Strategie. Dies mag mit ein Grund dafür sein, dass sich an der Tatsache der Gewalt gegen Frauen bis heute wenig geändert hat. Sie werden inzwischen die Erfahrung gemacht haben, aus wie vielen Einzelpunkten sich ein solches Gesamtkonzept zusammensetzt und wie mühsam es sein kann, bis jeder Einzelpunkt durchgekämpft ist. Das Gewaltschutzgesetz ist dafür ein nachdrückliches Beispiel, war es doch vor einem Jahr schon als eigentlich fertig angekündigt. In unserem Antrag vom Januar 2001, der heute auch zur Debatte steht, haben wir deshalb erneut unterstrichen, dass wir die tatsächliche Umsetzung des Gesamtkonzeptes kritisch verfolgen, vor allem da im Aktionsplan wenig konkrete Aussagen, unter anderem auch in Bezug auf die mögliche Finanzierung der angekündigten Projekte, gemacht wurden. Besonders wichtig waren und sind für uns die schulischen Präventionsmaßnahmen wie das von Ihnen geplante Projekt zur Entwicklung, Erprobung und Verbreitung eines an Schülerinnen orientierten Gewaltpräventions- und Fortbildungskonzepts. Nach Aussagen von Ihnen, Frau Dr. Niehuis, soll dieses Projekt in diesem Jahr starten. Über die Finanzierung wollten Sie uns Anfang dieses Jahres informieren. Wir warten gespannt darauf. Ministerin Karin Schubert ({2}) Prävention ist für uns das zentrale Handlungsgebot, um die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Kinder lernen Gewalt von Eltern, erfahren Gewalt und üben dann oft selbst Gewalt aus. Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer müssen hier zusammenwirken. Besonders wichtig ist dabei die Stärkung der Erziehungsfähigkeit der Eltern und die Wertevermittlung in Familie und Schule. ({3}) Familienbildung und Familienberatung, die zielgenau bei den Problemen ansetzt, müssen ein besonderes Gewicht erhalten. Erziehen heißt übrigens auch, Grenzen aufzuzeigen und deutlich zu machen, was man nicht darf. Es sollte uns sehr nachdenklich machen, wenn Jugendliche zur Rechtfertigung von Gewaltspielen erklären, es sei doch wohl besser, Aggressionen in solchen Spielen auszuleben, als sie gegen Menschen zu richten. Aber ich denke, da gibt es eine weitere Alternative, nämlich Aggressionen beherrschen zu lernen. ({4}) Der Aktionsplan befasst sich richtigerweise auch mit der Rechtsetzung des Bundes. Dies ist ein wichtiger Punkt in der Vorgehensweise gegen Gewalt. So sagte der amerikanische Jurist Neil Lawsen einmal treffend: Das Gesetz kann niemanden zwingen, seinen Nächsten zu lieben. Aber es kann es schwieriger für ihn machen, seinem Hass Ausdruck zu geben. Daher begrüßen wir es, dass nun das Gewaltschutzgesetz vorliegt. Im Einzelnen haben sich die Kollegin Fischbach und der Kollege Pofalla dazu geäußert. Deswegen nur noch eine Anmerkung zum Aktionsplan. Ich habe einen deutlichen Nachfragebedarf in Bezug auf Tätertherapien. Ohne diesen Aspekt scheint mir auch dieses Gesetz nur unzureichend und kein gutes Beispiel für ein schlüssiges Gesamtkonzept zu sein; denn auch für die Täter, die ja nur allzu oft selbst Opfer sozialer Umstände sind, brauchen wir Beratungsangebote und sozialtherapeutische Trainingsprogramme. Die Justizministerin hat eben selbst darauf hingewiesen. Sie nehmen in dem Aktionsplan auch Bezug auf die speziellen Lern- und Trainingsprogramme für gewalttätige Partner, die in dem Berliner Interventionsprogramm gegen häusliche Gewalt entwickelt werden. Dazu heißt es wörtlich: Das BMFSFJ wird die Berliner Erfahrungen mit den speziellen Täterkursen Anfang 2001 veröffentlichen und zur Diskussion stellen. Dazu habe ich heute nichts gehört. Es interessiert mich natürlich auch, wie es mit der Finanzierung sozialer Trainingskurse aussieht. Ich will den Blick nicht auf den Täter lenken, etwa um ihn zu entschuldigen oder zu verharmlosen; denn damit würde das Opfer ein zweites Mal gedemütigt und verhöhnt, wie die Leiterin eines Frauenhauses zu Recht sagt. Aber erstens frage ich Sie: Birgt nicht jede Gewalt ein Element von Verzweiflung, wie schon Thomas Mann bemerkte, der wir nachgehen müssen? Zweitens. Machen wir uns doch nichts vor: Irgendwann muss auch an dieser Stelle die Spirale der Gewalt durchbrochen werden. Sonst wird neben aller Angst über einen viel zu langen Zeitraum Schutz nötig sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute ist Internationaler Frauentag und da müssen wir uns einmal mehr klarmachen, dass Gewalt gegen Frauen und Kinder weltweit zunimmt und Frauen die Realität von Gewalt in der Intimität einer Beziehung ebenso erleben wie in Kriegen, in denen Vergewaltigungen als ein Mittel des Krieges eingesetzt werden. Es ist ein gutes Signal - Frau Ministerin Bergmann hat gerade darauf hingewiesen -, dass das Kriegsverbrechertribunal der UNO vor zwei Wochen drei bosnische Soldaten wegen Folter und Vergewaltigung moslemischer Mädchen und Frauen zu langjährigen Haftstrafen zwischen 12 und 28 Jahren verurteilt hat. Dieser Prozess war der erste Kriegsverbrecherprozess, in dem sexuelle Gewalt gegen Frauen als alleiniger Anklagepunkt zur Verhandlung anstand. Dies ist eine Genugtuung für die betroffenen Frauen. Aber wer von uns kann sich vorstellen, was es heißt, nicht nur mit den dauerhaften Gesundheitsschäden zu leben, sondern wohl auch die seelischen Verletzungen niemals wieder loszuwerden? Lassen Sie uns alle Kraft darauf verwenden, wenigstens da, wo wir selber Einfluss nehmen können, alles zu tun, um Kindern und Frauen solche Verletzungen zu ersparen. Lassen Sie uns über Fraktions- und Ausschussgrenzen hinweg dieses wichtige Thema beraten. Der Rechtsausschuss ist zwar der federführende Ausschuss, ich denke aber, auch die Mitglieder des Familienausschusses sollten bei diesem Thema die Stimme sehr deutlich erheben; so werden wir gemeinsam ein gutes Ergebnis erzielen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Renate Gradistanac von der SPD-Fraktion das Wort.

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute auf den Tag genau vor 90 Jahren forderte Clara Zetkin anlässlich des Internationalen Frauentages für ihre Zeitgenossinnen das Wahlrecht als Grundlage politischer Teilhabe und damit gesellschaftlicher Gestaltungsmacht. Seitdem kämpfen Frauen und intelligente, emanzipierte Männer und haben einiges erreicht. ({0}) 1958 tritt zum Beispiel das Gleichberechtigungsgesetz in Kraft. Das Letztentscheidungsrecht des Ehemanns in allen Eheangelegenheiten wird ersatzlos gestrichen und das Recht des Ehemanns, ein Dienstverhältnis seiner Frau fristlos zu kündigen, wird aufgehoben. Das war auch eine Form von Gewalt. Wenn das vorliegende Gewaltschutzgesetz verabschiedet sein wird, haben Frauen, die von häuslicher GeIlse Falk walt durch ihre Partner betroffen sind, die Möglichkeit, zu wählen: Sie können mit ihren Kindern in eines von über 400 Frauenhäusern gehen oder zu Hause bleiben, denn der Gewalttäter wird der Wohnung verwiesen. In BadenWürttemberg wird in verschiedenen Modellstädten die Wegweisung erfolgreich praktiziert. In konservativen Kreisen staunt man, dass der „Herr des Hauses“ gehen muss und Frau und Kinder, die so genannte Restfamilie - ein Unwort -, in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können. Wieso diese Empörung, jedenfalls höre ich sie immer wieder, wenn der Täter gehen muss? Seit mehr als 25 Jahren thematisiert, hat sich an der alltäglichen Gewalt gegen Frauen kaum etwas geändert. Mit dem Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen liegt erstmals ein umfassendes und ressortübergreifendes, nachhaltiges und effektives Gesamtkonzept vor. ({1}) Dabei geht es nicht nur um punktuelle Maßnahmen und individuelle Hilfestellungen wie in der Vergangenheit. Es sind strukturelle Veränderungen auf allen Ebenen notwendig. Seit der Einbringung des Aktionsplans in den Deutschen Bundestag ist nicht nur für mich Entscheidendes passiert. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, es ist die Aufgabe der Opposition, also auch Ihre Aufgabe, gute Ideen einzubringen, gegebenenfalls Druck zu machen und, wie im vorliegenden Fall, einen Antrag zu stellen. ({2}) Ich zitiere aus Ihrem Antrag: Der Deutsche Bundestag begrüßt ein solches Aktionsprogramm ... Das freut mich sehr. Wenn es allerdings an die Verabschiedung und an die Umsetzung von Gesetzen gegen die Gewalt an Frauen und Kindern ging, dann haben Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, dagegen gestimmt. ({3}) Ich höre, dass Sie sich für die Zukunft etwas anderes vorgenommen haben. Erstes Beispiel. Der Aktionsplan legt großen Wert auf präventive Maßnahmen. Mit dem Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung wird unmissverständlich festgehalten: Gewalt ist kein Mittel der Erziehung; körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. ({4}) Es geht darum, Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu stärken. Leider haben Sie, Frau Fischbach von der CDU, als ehemalige Vorsitzende der Kinderkommission mit Ihren Kolleginnen und Kollegen diesem wichtigen Gesetz, das zu einer friedfertigeren Gesellschaft hinführen soll, nicht zugestimmt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, danke. Zweites Beispiel. Die Neuregelung des § 19 Ausländergesetz unterstützt Frauen ausländischer Herkunft, die mit einem deutschen oder ausländischen Mann verheiratet und von Gewalt bedroht sind. Für misshandelte Frauen ist die Mindestdauer der für die Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts erforderlichen Ehejahre von vier auf zwei Jahre verkürzt worden. Auch diese Verbesserung für die ausländischen Frauen haben Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, abgelehnt. Lassen Sie mich am heutigen Frauentag abschließend zusammenfassen: Mein Dank richtet sich an die beiden Ministerinnen Herta Däubler-Gmelin und Christine Bergmann. Das Programm „Frau und Beruf“ mit seinem neuen Elternzeitgesetz und das Aktionsprogramm zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen sind unverzichtbare Bausteine, um Clara Zetkins Forderung „Frauenrechte sind Menschenrechte“ weiter umzusetzen. Gewalt ist ein Zeichen von Schwäche, nicht von Stärke. ({0}) Das gilt übrigens auch für verbale Gewalt. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Ingrid Fischbach das Wort.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Gradistanac - ich hoffe, ich habe Ihren Namen richtig ausgesprochen; ich habe es geübt -, Sie waren bei der Verabschiedung des Gesetzes zu gewaltfreier Erziehung dabei. In Ihrer Darstellung haben Sie so getan, als hätten die CDU/CSU-Fraktion und auch meine Person gegen die gewaltfreie Erziehung gestimmt, das heißt, wir hätten eigentlich dafür gestimmt, dass Kinder mit Gewalt erzogen werden. Erste Klarstellung. Sie haben dieses Gesetz mit Unterhaltungsregelungen verknüpft. Unsere Kollegen im Rechtsausschuss haben deutlich gemacht, wo unsere Fraktion diesbezüglich Probleme sieht. Wenn Ihnen der Rechtsanspruch so wichtig gewesen wäre, dann hätten Sie dazu ein Einzelgesetz vorlegen können. Zweite Klarstellung. Wir haben Ihnen den Vorschlag gemacht, die Formulierung des Bundesrates „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen“ zu übernehmen. Ich habe Ihnen in meiner Funktion als Vorsitzende der Kinderkommission bewusst gesagt: Ich kann es für meine Person nicht verantworten, Kindern und Jugendlichen einen Rechtsanspruch vorzugaukeln, der überhaupt nicht justiziabel ist. Sie haben praktisch kein Recht. Deshalb habe ich gesagt: Lasst uns ehrlich sein und festschreiben, dass Kinder gewaltfrei zu erziehen sind. - Das möchte ich zur Klarstellung in Bezug auf die damalige Entscheidung sagen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Möchten Sie erwidern, Frau Gradistanac?

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Fischbach, nach meiner Meinung ging es bei dem Gesetz in erster Linie darum, den Wert einer gewaltfreien Erziehung zu dokumentieren. Ich wiederhole: Das Gesetz sollte den Eltern, die Hilfe brauchen, einen Rechtsanspruch auf Hilfe gewähren und sie in ihrer Erziehungskompetenz unterstützen. Ich denke, in diesem Punkt hätten wir gut gemeinsam etwas tun können. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Anni Brandt-Elsweier von der SPDFraktion.

Anni Brandt-Elsweier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ Wer kennt es nicht, das gern benutzte Nietzsche-Zitat aus dem Jahre 1884? Wer es heutzutage verwendet, wird Ihnen im gleichen Atemzug sagen, dass es nur ironisch und nicht frauenfeindlich gemeint sei. Ich frage: Wirklich nicht? Die Realität spricht leider eine andere Sprache. Gewalt an Frauen ist ein uraltes Problem. Gewalt galt in früheren Zeiten ganz allgemein als ein anerkanntes legitimes Mittel, sowohl in der Erziehung als auch in der Ehe. Noch im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1774 war das „Recht der mäßigen Züchtigung“ des Ehemannes gegenüber seiner Ehefrau festgeschrieben. Wenn dieses Recht auch 1812 per Edikt gestrichen wurde, so nahm man auf juristischer Ebene diese rechtliche Veränderung kaum zur Kenntnis, sodass das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber seiner Ehefrau erst mit der Einführung des BGB im Jahre 1900 als abgeschafft gelten kann. Bis vor etwa 100 Jahren war es dem Ehemann also durchaus erlaubt, seine Frau zu schlagen. Ich würde gerne sagen, das ist Schnee von gestern. Doch leider ist das nicht so. Die gesellschaftliche Realität sieht nämlich anders aus. Gerade die Ehe und die Familie, die der Hort der Geborgenheit und des Schutzes sein sollten, stellen sich immer häufiger als Ort des Schreckens und der Gewalt dar. Die häusliche Gewalt ist in der Tat eines der größten Probleme der Gewaltkriminalität überhaupt. Die überwiegende Zahl der Opfer sind Frauen. Die entsprechenden Zahlen sind mehrfach genannt worden; ich brauche sie nicht zu wiederholen. Über das tatsächliche Ausmaß der Gewalt in all ihren Erscheinungsformen lassen sich keine gesicherten Aussagen machen, unter anderem deshalb - auch das ist bereits gesagt worden -, weil viele Frauen Gewalttaten innerhalb der Partnerschaft nicht anzeigen. Häufig dominieren Schamgefühl und die Auffassung, dass es sich um eine Privatsache handelt, und auch das Gefühl, die Polizei und der Staat können ohnehin nichts bewirken. All diese Gewaltformen haben letzten Endes die gleiche Ursache. Sie beruhen auf dem Abhängigkeitsverhältnis, das in unserer Gesellschaft großenteils immer noch die Beziehung zwischen Mann und Frau beherrscht. Die männliche Vormachtstellung ist über Jahrhunderte für viele, auch für Frauen, zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, dass wir sie in ihren subtilen Formen manchmal fast nicht mehr bemerken. Oft wird sie verschleiert und tabuisiert. Hin und wieder kommen diese uralten Rollenvorstellungen ganz unverblümt ans Tageslicht. So sagte mir vorige Woche ein Besucher einer Veranstaltung, als er von dem Gewaltschutzgesetz hörte: „Wenn mich meine Frau provoziert, rutscht mir schon mal die Hand aus. Und dann soll ich auf die Straße? Undenkbar!“ Hinzu kommt auch, dass die Privatsphäre innerhalb der modernen Familie deutlich Vorrang hat, sodass nahezu jede öffentliche Kontrolle entfällt. Familienmitglieder und Nachbarn fühlen sich nicht mehr zuständig nach dem Motto „Da mischen wir uns nicht ein“. Aber die hinter Wohnungstüren verübte Gewalt ist kein Unglück, sondern ein Unrecht und somit ein Problem des öffentlichen Interesses, dessen sich der Staat anzunehmen hat. ({0}) Wo private Schutzmechanismen nicht mehr funktionieren, ist der Gesetzgeber gefordert. Ich bin froh, dass wir mit dem vorliegenden Gewaltschutzgesetz endlich einen verbesserten Schutz für die Opfer häuslicher Gewalt gewährleisten und damit ein Anliegen umsetzen können, das wir bereits in der letzten Legislaturperiode verfolgt haben. Die bereits erwähnte Kampagne der letzten Regierung „Gewalt gegen Frauen“ mag ja zu einem Bewusstseinswandel geführt haben; sie hat aber nicht zu konkreten Maßnahmen und Gesetzen geführt. Das von der SPD bereits 1995 in den Bundestag eingebrachte Gesetz über die erleichterte Zuweisung der Ehewohnung wurde von der Mehrheit nicht akzeptiert. ({1}) Kampagne ja, konkrete Hilfe nein. ({2}) Der uns vorliegende Gesetzentwurf bietet konkrete Hilfen an. Ich weise, meine Damen und vor allen Dingen meine Herren, ausdrücklich darauf hin, dass der GesetzIngrid Fischbach entwurf nicht geschlechtsspezifisch formuliert ist. Er schützt nicht nur Frauen, sondern gegebenenfalls auch geschlagene Männer, die in ihren Familien Opfer von Gewalttaten geworden sind. Aber leider spricht die Statistik eine andere, klare Sprache. Es sind eben in der Mehrzahl Frauen, die Opfer dieser Gewalt werden. Darum ist es heute, am 8. März, dem Internationalen Frauentag, nicht nur ein symbolischer Akt, diesen Gesetzentwurf in den Bundestag einzubringen. Der 8. März ist traditionell ein Tag, am dem für die Rechte der Frauen nicht nur in Deutschland, sondern weltweit gestritten wird. Wir haben in den letzten Jahrzehnten manches, auch gemeinsam, erreicht, aber wir haben noch vieles vor uns. ({3}) Es ist genau der richtige Tag, um auf dem langen Weg zum selbstbestimmten und gleichberechtigten Miteinander einen weiteren Schritt vorwärts zu gehen. Was könnte es heute also Besseres geben als die Einbringung des Entwurfs eines Gewaltschutzgesetzes? Ich hätte gerne Herrn Pofalla noch persönlich angesprochen. Denn ich denke, die Gefahr des Missbrauchs kann kein Gesetz völlig ausschließen. Das ist meine Erfahrung. Ich habe aber auch das notwendige Vertrauen in die Gerichte, dass sie grundsätzlich Recht sprechen. Dass sie belogen werden, lässt sich nicht ausschließen, auch nicht durch das beste Gesetz. ({4}) Wenn zukünftig eine Frau durch den Partner regelrecht grün und blau geschlagen wird, so kann sie nach der neuen Regelung im Eilverfahren vor den Zivilgerichten wirksame Schutzmaßnahmen erwirken. Dem Gewalttätigen wird bei Strafe verboten, sich der Wohnung oder der Betroffenen selbst zu nähern. Auch kann die misshandelte Frau leichter durchsetzen, dass ihr die gemeinsame Wohnung zeitlich befristet oder dauerhaft zur alleinigen Nutzung zugewiesen wird. Besonders wichtig war und ist auch, dass bei Nachstellungen und erheblichen Belästigungen außerhalb einer Partnerschaft gerichtliche Schutzanordnungen auf klarer gesetzlicher Grundlage ermöglicht werden. So können die Zivilgerichte künftig zum Schutz des Opfers wirksam reagieren, wenn jemand von einer anderen Person, etwa aus unerwiderter Liebe oder aus Rachegefühlen, durch nächtliche Telefonanrufe oder eine Flut von E-Mails mit obszönem Inhalt terrorisiert oder sogar Tag und Nacht verfolgt wird. Es gibt dafür genügend Beispiele. Es wäre also schön, wenn als Folge des vorliegenden Gesetzentwurfes - ich habe heute gehört, dass wir gemeinsam daran arbeiten wollen - Frauenhäuser demnächst überflüssig würden und eventuell die Männer in Männerhäusern zum Nachdenken über ihre „schlagkräftigen“ Argumente gezwungen würden. Danke schön. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5429, 14/5093 und 14/5455 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Norbert Barthle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Wiederherstellung des umfassenden Rechts auf Vorsteuerabzug - Drucksache 14/5223 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Jochen-Konrad Fromme von der CDU/CSUFraktion das Wort.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir fordern die Wiederherstellung des umfassenden Rechtes auf Vorsteuerabzug, insbesondere bei den Reisekosten und bei den Personenkraftwagen. Sie hatten es als Koalition im Rahmen des Steuerentlastungsgesetzes 1999 - man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen - abgeschafft. Wir haben Sie von Anfang an vor dieser Regelung gewarnt und aufgrund der Rechtsprechung der Finanzgerichte immer wieder aufgefordert, endlich zu handeln. Lassen Sie mich einmal aus einer Antwort von Ihnen zitieren: Die Frage der Vereinbarkeit der Einschränkung des Vorsteuerabzugs mit Art. 17 Abs. 6 der 6. Umsatzsteuer-Richtlinie ... stellt sich somit nicht. So waren Ihre arroganten Antworten, bis dann der Bundesfinanzhof Ihnen ganz deutlich gesagt hat: Der Vorsteuerabzug ist ein tragendes Element des Mehrwertsteuerrechtes und deshalb kann es grundsätzlich keine Einschränkungen geben. Entsprechende Ausnahmen - es gibt hinsichtlich der Einhaltung der Richtlinie ja keine Wahlfreiheit - gibt es auch für die Bundesrepublik Deutschland nicht. Die Rechtslage ist so eindeutig, dass es im Urteil des Bundesfinanzhofes heißt: Eine Vorlage an den EuGH ... ist nicht geboten, weil keine Zweifel an der Auslegung des ... Gemeinschaftsrechts bestehen. Sie aber haben in Ihrer arroganten Art und Weise all das in den Wind geschlagen und haben versucht, sich nachträglich - ich betone: nachträglich - eine Ermächtigung dazu geben zu lassen. Die Begründungen waren sehr unterschiedlich. Zunächst haben Sie im Gesetzentwurf gesagt, es handele sich um eine Vermischung von privaten und betrieblichen Interessen. Außerdem haben Sie natürlich eine Finanzierungsmaßnahme für Steuersenkungen gesucht. In dem Antrag, den Sie dann an die EU gestellt haben, haben Sie gesagt, Sie möchten eine Einschränkung des Vorsteuerabzugs, um dessen Missbrauch zu bekämpfen. Der EU-Rat hat dann in seiner Antwort gesagt, es gehe um eine Vereinfachung. Was wollen Sie denn nun eigentlich? Das ist widersprüchlich hoch drei. Ich kann Ihnen sagen, was Sie wollen: Abzocken, nichts weiter als abzocken. ({0}) Der Bundesfinanzhof hat immer eindeutig gesagt: Wenn ein Arbeitnehmer auswärtig tätig werden muss, dann ist der Arbeitgeber für die Unterbringung zuständig. Ein persönlicher Vorteil, wenn er denn überhaupt gegeben ist, ist so nebensächlich, dass es überhaupt keine Frage ist, dass das zur Arbeitgebersphäre gehört und beim Vorsteuerabzug auch so behandelt werden muss. Die lapidare Begründung, die Sie gegeben haben - Essen und Schlafen seien stets Privatsache -, kann doch hier nicht ziehen. Sie verkennen schlicht und einfach die Realitäten: Das Essen zu Hause ist billiger als das Essen unterwegs. Können Sie denn das Schlafzimmer zu Hause in der Zeit, in der Sie nicht zu Hause sind, vermieten? Ich möchte mal sehen, was Ihre Ehefrauen bzw. Ehemänner dann sagen. Sie tun doch so, als wäre eine Dienstreise eine vergnügungssteuerpflichtige Angelegenheit. Ich warte jedenfalls nur darauf, dass Sie eine Vergnügungsteuer für Dienstreisen einführen. ({1}) Die Realität sieht doch ganz anders aus. Ich jedenfalls empfinde eine Dienstreise und die Trennung von der Familie als Belastung. Ich muss natürlich zugeben: Manch einer, der schon drei- oder viermal gewechselt hat, mag das anders empfinden und flüchten wollen. Aber für den Normalfall gilt das nicht. ({2}) Ihre Regelung hat zu erheblichen Gewinneinbrüchen im Gastgewerbe geführt. Insbesondere in Kombination mit der 630-Mark-Regelung hat dies Arbeitsplätze vernichtet und nicht geschaffen. Das Gleiche gilt für das Kraftfahrzeuggewerbe. Wir haben immer wieder von den Händlern gehört, dass aufgrund Ihrer Maßnahmen der Absatz zurückgegangen ist. ({3}) Das Steuerrecht kann keine Arbeitsplätze schaffen; es kann aber Arbeitsplätze in erheblichem Maße vernichten, nämlich wenn man Regelungen schafft, die schädlich sind. Diese Regelung hat eher dazu beigetragen, dass Arbeitsplätze vernichtet worden sind, als dazu, dass Arbeitsplätze geschaffen worden sind. ({4}) Steuerpolitik hat immer zwei Elemente: ein fiskalisches und ein wirtschaftspolitisches. ({5}) Unter dem Deckmantel des Steuerentlastungsgesetzes haben Sie aber keine Entlastung, sondern eine Belastung geschaffen. Bei Ihnen hat nichts weiter gezählt als das fiskalische Interesse; denn wenn man einmal in das Finanztableau hineinschaut, sieht man dort 1,5 Milliarden DM an Steuermehreinnahmen. Ihr Ziel war also nicht wirtschaftspolitischer Art, sondern Ihr Ziel war Abzocken. Sie sagen, Sie wollen die Steuerquote senken, und machen eine Riesensteuerreform. Dann frage ich mich, wie es in den letzten Tagen zu der Meldung kommen konnte: Steuerquote um 0,1 Prozent gestiegen. ({6}) Ich denke, Sie haben gerade die größte Steuerreform des Jahrhunderts auf den Weg gebracht. Das hätte doch bedeuten müssen, dass die Leute weniger Steuern zahlen statt mehr. Aber das ist bei Ihnen eben nicht so. Meine Damen und Herren, Sie lassen den Steuerzahler wieder einmal alleine. Es ist doch völlig klar, dass bei der PKW-Nutzung Privatanteile versteuert werden müssen. Dafür gibt es ganz eindeutige und klare Regelungen. Was passiert denn jetzt? - Sie lassen die Steuerpflichtigen im Hinblick auf die PKWs mit dem formalen Argument alleine, der EuGH habe ja auf den Vorlagebeschluss des Bundesfinanzhofes noch nicht entschieden. Ist Ihnen denn entgangen, dass der EuGH schon einmal zu einer entsprechenden französischen Regelung ganz klar Nein gesagt hat? Damit ist doch völlig klar, was hier kommen wird. Es wird genauso kommen wie bei den Reisekosten. ({7}) Was geschieht in der Zwischenzeit? Jeder Steuerpflichtige muss sich doch jetzt sagen, dass er, wenn die Bundesregierung und die Koalition nicht bereit sind, die Gesetzeslage dem materiellen Recht anzupassen, gegen seinen Steuerbescheid Einspruch einlegen muss. Das heißt, es müssen alle Steuerbescheide, die die Mehrwertsteuer in puncto Reisekosten und in puncto PKW-Anschaffung betreffen, offen gehalten werden. Die Angehörigen der steuerberatenden Berufe beraten doch auch in diese Richtung. Sie sagen: Bitte legt Einspruch ein, damit ihr euch später eure Rechte sichern könnt. ({8}) Nach den Erfahrungen, die wir bei der Abwicklung des Kindergeldes gemacht haben, ({9}) als Sie zunächst sagten, jeder bekomme es, und es dann nicht jeder bekam, weil es Schwierigkeiten bei der AbJochen-Konrad Fromme wicklung gab, ist doch zu erwarten, dass jeder Einspruch einlegt. Meine Damen und Herren, Millionen von Steuerbescheiden werden nicht rechtskräftig! Wer will eigentlich am Ende - bei den AfAs haben wir ja genau dieselbe Situation - noch durchsteigen, wenn in der Finanzverwaltung keine Bescheide rechtskräftig abgeschlossen werden? ({10}) Hier wird doch wieder einmal deutlich, wie Sie auch die einzelnen am Wirtschaftsleben Teilnehmenden unterschiedlich behandeln. Für die Großbetriebe ist das kein Problem. Sie haben große Steuerabteilungen und können das durchstehen. Aber was ist mit dem kleinen Selbstständigen, mit dem Mittelständler? Er verzweifelt und muss sich fügen. Er kann am Ende die Rechte nicht wahrnehmen, die ihm eigentlich zustehen; denn Sie enthalten sie ihm vor, obwohl Sie dies mit einem einzigen Federstrich im Gesetzblatt - das ist überhaupt kein großes Problem - mit breiter Mehrheit sofort ändern könnten. ({11}) Sie halten es in all diesen Fragen so wie mit den Arbeitnehmern. Da ist Wahlkampf in Baden-Württemberg. Da lassen Sie Ihren Herrn Spiller mal eben schnell verkünden, die Arbeitnehmerabfindungen und die Handelsvertreterabfindungen sollen geregelt werden. Der Bundesfinanzminister hat gestern im Finanzausschuss gesagt, überhaupt nichts tut sich; das komme überhaupt nicht in Frage. Nach vorn wollen Sie populistisch Wahlkampf machen und hinterher tun Sie das Versprochene nicht. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({12}) In all diesen Fragen verhalten Sie sich arbeitnehmerund insbesondere mittelstandsfeindlich. Das bedeutet, Ihre einzige steuerpolitische Linie ist abzocken, abzocken und nochmals abzocken. ({13}) - Ach, Herr Grotthaus, ich wusste ja, dass Sie es nicht verstehen und dass Sie nicht zuhören. ({14}) Es ist doch ganz einfach. Die Entscheidungen liegen klar auf der Hand. Und weil sie klar auf der Hand liegen, muss es auch geändert werden. Wir werden uns hier, wenn der EuGH entschieden hat, noch über die Gesetzesänderung unterhalten. Der große Unterschied ist nur, dass Sie viel Verwaltungsaufwand sparen würden, wenn Sie es gleich machten, Verwaltungsaufwand, der niemandem etwas nützt, aber viel Frust verursacht. Meine Damen und Herren, auch das Steuerrecht muss doch Menschen zur Leistung motivieren. Das bedeutet: Wenn Sie unnötigen Druck bei der Reisekostenregelung machen, dann wird die Qualität der Unterbringung durch die Betriebe abgesenkt. Das ist doch nicht gerade arbeitnehmerfreundlich. ({15}) Das gerade für die Leistungsträger in der Wirtschaft wirklich motivierende Mittel der privaten PKW-Nutzung wird von Ihnen auf diese Art und Weise kaputtgemacht. Sie wollen mit Ihrer Steuerpolitik doch gar nicht wirklich die Wirtschaft positiv beeinflussen; denn sonst würden Sie sich in solchen relativen Kleinigkeiten, die aber psychologisch von ganz großer Wichtigkeit sind, nicht so hartnäckig und so unbelehrbar zeigen, wie Sie das in dieser Frage tun. Meine Damen und Herren, wir werden es ja erleben, wenn dann Millionen von Steuerbescheiden in der Finanzverwaltung nachbearbeitet werden müssen. Dazu kommt die Abwicklung der Ökosteuer. ({16}) - Natürlich. Sie bekommen das Wort Ökosteuer so oft zu hören, bis Sie es nicht mehr hören wollen. ({17}) Denn es ist klar: Auch das wendet sich gegen den kleinen Mann und nicht gegen den großen. Mit der Ökosteuer haben Sie doch die Preise angetrieben. Warum haben wir denn plötzlich im Monatsvergleich eine Inflationsrate zwischen 2,5 und 3 Prozent? Das tun gerade Sie als Sozialdemokraten. Das ist die unsozialste Tat, die es gibt. ({18}) Wie blank die Nerven in der Koalition sind, sieht man daran, dass Sie sich inzwischen offensichtlich in Ihren Fraktionssitzungen, wie man der „Bild“-Zeitung entnehmen konnte, mit dem „Autofahrergruß“ begrüßen. Das ist keine vorbildliche Politik. Seien Sie vernünftig! Beseitigen Sie eine Bestimmung, die nur hinderlich ist und von der jeder weiß, dass sie fallen muss! Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Simone Violka von der SPD-Fraktion.

Simone Violka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Als ich den Antrag der CDU/CSU-Fraktion zum ersten Mal gelesen habe, fiel mir sofort auf, dass die Opposition wohl doch beginnt, lernfähig zu werden. ({0}) Denn immerhin geben Sie in Ihrem Antrag zu, dass die Menschen in diesem Land durch das Steuerentlastungsgesetz auch tatsächlich entlastet werden. ({1}) Bisher ließen Sie doch keine mögliche und auch unmögliche Gelegenheit verstreichen, genau das zu bestreiten. Ich kann nur hoffen, dass sich da bei Ihnen so langsam die rechte Einsicht durchsetzt - außer vielleicht bei Herrn Fromme, der das soeben wieder angesprochen hat. ({2}) Herr Fromme, ich kann Ihnen eines sagen: Steuermehreinnahmen haben auch etwas damit zu tun, dass wir zu Beginn der Legislaturperiode über 70 Sondertatbestände abgeschafft haben und dass Menschen mit einem sehr hohen Einkommen, die bis zu diesem Zeitpunkt ihre Steuerschuld sehr stark herunterrechnen konnten, plötzlich Steuern zahlen müssen. Ich verstehe schon, dass derjenige, der ein hohes Einkommen hat und dieses bisher netto wie brutto einstreichen konnte, nicht begeistert darüber ist, nun plötzlich dafür Steuern zahlen zu müssen. ({3}) Ich habe damit kein Problem. Denn ein Verdiener in der unteren und mittleren Gehaltsklasse konnte das nicht. Warum sollen sich eigentlich die Großen aus dem Steuergeschehen herauslösen dürfen? ({4}) Ihr Antrag richtet sich gegen die im Rahmen des Steuerentlastungsgesetzes beschlossene Gesetzesänderung zum Vorsteuerabzug. Sie beziehen sich dabei in Punkt 3 auf das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 23. November 2000. ({5}) In diesem Urteil bestätigt der Bundesfinanzhof die Entscheidung des Landgerichts Hamburg. Dieser Richterspruch bezieht sich auf den Vorsteueranspruch aus Aufwendungen des Unternehmers, soweit er im eigenen Namen Übernachtungsleistungen seiner Arbeitnehmer bestellt hat und ihm darüber hinaus eine Rechnung gestellt wird. So weit, so gut. Allerdings umfasst dieses Urteil eben nicht ausdrücklich die kompletten Reisekosten, wie Sie es in Punkt 3 Ihres Antrages fordern. ({6}) Während die Übernachtungen, wie eben beschrieben, vom Unternehmer ausgelöst und beglichen werden können, ist das im Bereich der Verpflegungskosten anders. Die Verpflegung dient vorrangig der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse, die ebenso anfallen, wenn sich der Mitarbeiter nicht auf Dienstreise befindet. Herr Fromme, eines kann ich Ihnen sagen: Es gibt auch Menschen, die sich auf Dienstreisen nicht in teuren Lokalen sehen lassen, sondern sich von Schokoriegeln oder Milchschnitten ernähren. ({7}) - Ja, Frau Ehlert, gesund ist das natürlich nicht. Aber es bleibt Entscheidung des Mitarbeiters. Es ist seine Sache, ob er sich an der Ecke eine Roster oder etwas anderes kauft oder ob er essen geht. Dies wird nicht vom Chef angeordnet. Insoweit ist dies Privatsache. Da geben Sie mir mit Sicherheit Recht. ({8}) Soweit es den Vorsteueranspruch aus Übernachtungsleistungen betrifft, beabsichtigt die Finanzverwaltung, dieses Urteil zu akzeptieren. Dies wurde auch schon gemeinsam mit den zuständigen Finanzbehörden der Länder erörtert. Allerdings lässt sich daraus nicht automatisch ableiten, dass darunter auch der Vorsteueranspruch aus Verpflegungskosten fällt. Dieses Thema ist zwar weiterhin auch in den Finanzbehörden der Länder Beratungsgegenstand; aber es ist eben nur ein Beratungsgegenstand. Dazu schon jetzt eine verbindliche Aussage zu treffen wäre völlig verfrüht. Natürlich wird in den jeweils zuständigen Stellen auch dieser Punkt erörtert. Aber ohne eine genaue Untersuchung sowie Prüfung der Sachlage und der juristischen Gegebenheiten wird es keine rechtsgültige Aussage geben. Das ist ein völlig legitimes Verfahren und es kann in niemandes Interesse sein, solche Entscheidungen übers Knie zu brechen. ({9}) - Es ist aus meiner Sicht durchaus legitim, etwas abzulesen. Denn ich habe es vorher selber geschrieben. ({10}) Auch wenn Sie vielleicht der Meinung sind: Dieses Gesetz ist nicht verfrüht und unausgegoren in Kraft gesetzt worden. Es kommt aufgrund der Gewaltenteilung durchaus vor, dass Gerichte zu anderen Auffassungen kommen als der Gesetzgeber. Ich muss Sie, meine Damen und Herren der CDU/CSU-Fraktion, doch sicher nicht erst wieder daran erinnern, dass die beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Familienbesteuerung das Versagen der Familienpolitik der alten Koalition seit 1982 offen gelegt haben. ({11}) Dass es erst eines Bundesverfassungsgerichtsurteils bedurfte, kennzeichnet Ihre arrogante Art, Herr Fromme aber den Familien gegenüber! Und das haben Sie jahrelang so gemacht. ({12}) Meiner Meinung nach wurden hinsichtlich der Auswirkungen des BFH-Urteils bereits die richtigen Schritte eingeleitet. Allerdings müssen wir jetzt auch die Geduld haben, das Ergebnis abzuwarten. Sie sprechen sich in Ihrem Antrag auch gegen die Beschränkung des Vorsteuerabzugs aus Anschaffung und Betrieb von gemischt genutzten Fahrzeugen aus. Die Europäische Kommission hat sich ja mehrmals mit dem gesamten Themenkomplex beschäftigt. Allerdings hat die Kommission gegen die Beschränkung des Vorsteuerabzugs auf 50 Prozent bisher von sich aus keine Einwände erhoben. Sie ist der Auffassung - und hat dies am Beispiel der Vorsteuereinschränkung für die Verwendung eines Mietwagens sowohl für unternehmerisch bedingte als auch für privat bedingte Fahrten eines Unternehmers aufgezeigt -, dass die Vorsteuereinschränkung von der deutschen Regelung über die Beschränkung des Vorsteuerabzuges für Fahrzeuge im Allgemeinen abgedeckt ist, die der Rat auf der Grundlage von Art. 27 der 6. Mehrwertsteuer-Richtlinie genehmigt hat. Man muss in diesem Zusammenhang wissen, dass der Ausschluss der hundertprozentigen Abzugsfähigkeit ja nicht in jedem Fall gilt. Eine geringe private Nutzung schließt diese nämlich nicht automatisch aus. Es geht im Abzugsfall um eindeutig gemischt genutzte Fahrzeuge. Es betrifft also nicht den Taxifahrer mit eigenem Fahrzeug, der jeden Morgen und Abend von und zu seiner Wohnung und von und zu seinem Taxiplatz fährt. ({13}) Obwohl diese Fahrten als privat angesehen werden, sind sie so geringfügig, dass einem hundertprozentigen Abzug nichts im Wege steht. Anders schaut es aus, wenn derselbe Taxifahrer außerdem noch regelmäßig mit dem Fahrzeug in den Urlaub fährt oder das Auto regelmäßig in seiner Freizeit privat nutzt. ({14}) Wenn das der Fall ist, muss es zu einem verminderten Abzug der Vorsteuer kommen. Es ist selbstverständlich auch im Sinne der SPD, dass der Unternehmer, welcher einen solchen Fuhrpark aus betrieblichen Gründen betreibt, auch voll in den Genuss des Vorsteuerabzuges kommt - aber eben nur, wenn es sich um eine tatsächliche betriebliche Nutzung handelt. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, in dieser Frage anderer Meinung sind, dann bitte ich Sie, den vielen Menschen draußen, die nicht selbstständig sind, zu erklären, warum ihr Chef für sein Auto keine Mehrwertsteuer zu bezahlen braucht, obwohl er es genauso privat nutzt. ({15}) Ich glaube nicht, dass Sie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finden werden, die da mit Ihnen einer Meinung sind. Natürlich bleibt abzuwarten, wie sich der Bundesfinanzhof bzw. der Europäische Gerichtshof zu dieser Frage äußern werden. Im Übrigen ist auch das nichts Neues. Von Ihnen wurde dieses Thema schon ziemlich oft auf die Tagesordnung gebracht, unter anderem auch in Fragestunden; das letzte Mal am 7. Februar dieses Jahres. ({16}) Obwohl die Staatssekretärin Frau Barbara Hendricks Ihrem Fragesteller, Herrn Michelbach, ausführlich erklärt hat, dass der Bundesfinanzhof gegenüber dem Europäischen Gerichtshof lediglich Zweifel an der Vereinbarkeit der Ratsentscheidung mit dem Gemeinschaftsrecht geäußert hat, weil dem deutschen Gesetzgeber durch die Ratsentscheidung eine rückwirkende Genehmigung gegeben worden ist, stellen Sie in Ihrem Antrag die Gesetzlichkeit der Beschränkung des Vorsteuerabzuges an sich wieder infrage. Der Bundesfinanzhof hat aber überhaupt nicht von Unverhältnismäßigkeit gesprochen. Es ging lediglich um den Zeitpunkt der Ratsentscheidung. Aber auch das ist Ihnen bekannt, weil Sie es in der angesprochenen Fragestunde genau erläutert bekommen haben. Da frage ich mich schon, wieso Sie Ihr parlamentarisches Recht auf Fragen wahrnehmen, wenn Sie überhaupt nicht gewillt sind, die Antworten zu akzeptieren. ({17}) Aber auch diesbezüglich scheint Ihre Arbeitsweise recht konfus zu sein. Denn als das Thema am 24. Januar dieses Jahres als Punkt 14 der Tagesordnung im Finanzausschuss behandelt wurde, hat nicht einer aus Ihren Reihen dazu etwas gesagt. ({18}) Diese EU-Vorlage wurde von Ihnen lediglich zur Kenntnis genommen. Ich habe mir extra das Protokoll zu diesem Tagesordnungspunkt angeschaut, um mich zu vergewissern, dass Sie tatsächlich nichts dazu gesagt haben. ({19}) Wenn Sie noch nicht einmal im Ausschuss darüber diskutieren wollen, frage ich mich, wie wichtig Ihnen dieses Thema tatsächlich ist. Im Hinblick auf eine noch ausstehende endgültige Entscheidung in dieser Frage halte ich es für derzeit überhaupt nicht nötig, weiter über dieses Thema zu diskutieren. Um in der Sache vernünftig weiter voranzukommen, müssen wir abwarten und uns danach Gedanken machen, wie wir im Sinne der Entscheidung verfahren. ({20}) Sollte es ein Urteil gegen das bestehende Gesetz geben, werden wir selbstverständlich aktiv werden. ({21}) Aber bis dahin bleibt die richterliche Entscheidung abzuwarten. Allerdings bin ich zuversichtlich, dass unser gültiges Gesetz keinen Verstoß beinhaltet. ({22})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Gerhard Schüßler von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der heute von der Union vorgelegte Antrag ist die logische Konsequenz aus einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs - damit das einmal klar ist. ({0}) Nicht zum ersten Mal hat ein Gericht rechtliche Bedenken gegenüber der hektischen und unsystematischen Steuerpolitik der Koalition angemeldet. Diesmal hält der Bundesfinanzhof die im letzten Jahr vorgenommenen Einschränkungen beim Vorsteuerabzug aus Reisekosten für EG-rechtswidrig. Herr Minister Eichel wurde gestern im Finanzausschuss gebeten, dazu Stellung zu nehmen. Er hat sich geweigert und gesagt, das werde Frau Hendricks machen. ({1}) - Ja, er hatte gestern einen schwachen Tag. ({2}) Frau Hendricks hat das aber auch mit einer Handbewegung vom Tisch gewischt. Einschränkungen beim Vorsteuerabzug gehen zulasten der Unternehmer. Für den Vorsteuerabzug gibt es klare Regeln, gerade im EG-Recht. Das müssten Sie auch mitbekommen haben. Aber die rot-grüne Koalition ist mit dem Ausschluss des Vorsteuerabzugs aus Reisekosten wieder einmal klar über das Ziel hinausgeschossen. Die damals geäußerte massive Kritik der Betroffenen hat Sie nicht interessiert, und sie war Ihnen, wenn sie Sie interessiert hat, völlig egal, weil Sie einzig und allein Gegenfinanzierungspotenzial für Steuersenkungen erschließen wollten. Grundsätzlich ist die Verbreiterung einer Bemessungsgrundlage zu begrüßen, wenn im Gegenzug Steuern gesenkt werden. Das darf aber nicht dazu führen, dass in die Systematik des Steuerrechts eingegriffen wird. ({3}) Die Koalition hat zwar eine Steuerreform in Gang gesetzt. Das ist auch im Grundsatz richtig, weil nach jahrelanger Blockierung durch Rot-Grün ({4}) endlich mit Steuersenkungen begonnen worden ist. Es ist aber auch eine Binsenweisheit, dass es an vielen Stellen ganz erheblichen Nachbesserungsbedarf gibt. Das gilt in besonderer Weise für den Mittelstand, ({5}) den die Koalition mit dem Abzugsverbot für Vorsteuern aus Reisekosten erneut getroffen hat. ({6}) Es bedarf dringend erheblicher Korrekturen der bisherigen rot-grünen Steuerpolitik. Da hilft auch die Aussage von Herrn Eichel, dass das bis zum Jahr 2006 nicht notwendig sei, überhaupt nicht. Es bedarf erheblicher Korrekturen. Ein ganzer Katalog könnte jetzt vorgetragen werden, aber ich tue das nicht. Es geht ganz wesentlich auch um die Gleichbehandlung bei der Besteuerung. Die deutsche Wirtschaft ist mittelständisch geprägt. Personengesellschaften und Einzelunternehmen im Handwerk sowie im gewerblichen und industriellen Mittelstand bilden das Rückgrat unserer Volkswirtschaft und stellen die meisten Arbeitsplätze. Dem widerspricht die starke Spreizung der Steuersätze. Sie muss wesentlich schneller abgebaut werden, um die rechtsformneutrale Besteuerung zu erreichen. Ich könnte diese Aufzählung beliebig erweitern. Rot-Grün sollte endlich die ideologische Brille abnehmen und endlich eine Steuerpolitik für alle machen. ({7}) Die Entlastung des Unternehmens bei Beibehaltung hoher Steuerlast für die Unternehmer ist der Hauptkritikpunkt der F.D.P. Es nützt dem Mittelstand gar nichts, wenn Herr Eichel weitere Steuersenkungen auf Jahre hin ausschließt. Wenn die Politik nicht handelt, werden wieder einmal die Gerichte korrigieren müssen. Der heute vorliegende Antrag ist nur ein Beispiel dafür. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Rede der Kollegin Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grünen, nehmen wir zu Protokoll.*) ({0}) Damit kommen wir zur Rede der Kollegin Heidemarie Ehlert von der PDS-Fraktion.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich muss mich schon sehr wundern, dass Sie für diesen Antrag zwei Jahre gebraucht haben. Wir haben vor genau zwei Jahren die Gesetzesänderung beschlossen. ({0}) *) Anlage 2 Ich freue mich trotz alledem, dass auch Sie noch lernfähig sind. Die Begründung, das Gastgewerbe werde erheblich benachteiligt, finde ich aber schon bemerkenswert. Erst gestern wurde in diesem Hohen Hause nachgewiesen, dass die Umsätze für Übernachtungen usw. im letzten Jahr erheblich angestiegen sind. Irgendwelche Aussagen stimmen da nicht. Sie sprechen von einer mittelstandsfeindlichen Regelung. Da frage ich Sie: Von welchen Größenordnungen reden wir hier überhaupt? Welchen Anteil an den Betriebsausgaben haben Übernachtungs- und Reisekosten? Ich komme noch auf Ihren Antrag zurück. Schlimm finde ich, Frau Violka, wenn Sie jetzt den Dienstreisenden vorschreiben wollen, sich nur noch von Schokoriegeln und Rostern zu ernähren. ({1}) Dass das familienfreundlich ist, möchte ich bezweifeln. ({2}) Jetzt aber zu dem Antrag.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Ehlert, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Violka?

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Aber sicher doch. Sie hat das ja empfohlen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Violka.

Simone Violka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Ehlert, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich nicht den Leuten empfohlen haben, das zu tun, sondern lediglich festgestellt habe, dass das Sache eines jeden Einzelnen ist und dass es Menschen gibt, die abends in Gaststätten gehen und sich dort ernähren, und andere, die es vorziehen, sich von Schokoriegeln und anderen Dingen zu ernähren, dass es also in der Entscheidung des Mitarbeiters liegt, was er tut? Ich habe das nicht empfohlen. Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen? ({0})

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich denke, essen ist ein Menschenrecht. Das müssen wir den Menschen lassen, auch den Arbeitnehmern. ({0}) Ich zitiere aus dem dritten Bericht des Finanzausschusses vom 3. März 1999: Nach der Philosophie der meisten EU-Mitgliedstaaten dienen Verpflegung und Übernachtung in erster Linie der Befriedigung persönlicher Bedürfnisse - das haben wir eben noch einmal gehört und sind erst in zweiter Linie unternehmerisch veranlasst. Aus diesem Grund gewähren die meisten EU-Mitgliedstaaten keinen Vorsteuerabzug aus Verpflegungs- und Übernachtungskosten. Dieser Philosophie schließt sich der deutsche Gesetzgeber durch die Streichung des Vorsteuerabzugs aus bestimmten Reisekosten nunmehr an. Philosophie ist aber nicht gleich Richtlinie. Insofern lohnt es sich schon, einmal über bestimmte Entscheidungen im Steuerentlastungsgesetz nachzudenken. Fehler sind ja dazu da, dass man sie korrigiert. Nachdenken kann man zum Beispiel darüber, ob eine Wiederherstellung des Vorsteuerabzuges für Hotelrechnungen oder Fahrscheine doch ermöglicht wird. Allerdings kann ich einen Vorsteuerabzug aus Pauschbeträgen, wie er früher möglich war, nicht befürworten. Das wäre einfach ein Systembruch. Denn in § 15 des Umsatzsteuergesetzes steht ausdrücklich, dass nur die offen auf Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer als Vorsteuer abzugsfähig ist. ({1}) Zur Kappung des Vorsteuerabzugs bei PKW hat Frau Violka zugegeben, dass es unterschiedliche Nutzungen gibt. Ich möchte hier ein Beispiel bringen: Zum Teil haben wir betriebliche Nutzungen bis zu 90 Prozent; dennoch ist nur ein Vorsteuerabzug von 50 Prozent zulässig. Darüber sollten wir meines Erachtens nachdenken. Es gibt Möglichkeiten, die tatsächliche betriebliche Nutzung nachzuweisen. Der Vorsteuerabzug für tatsächliche betriebliche Nutzungen sollte von uns allen ermöglicht werden. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5223 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr ({0}) - Drucksache 14/5446 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Mertens, Angelika Graf ({3}), Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Kerstin Müller ({4}), Albert Schmidt ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bekämpfung der illegalen Kabotage und des Sozialdumpings im Transportgewerbe - Drucksachen 14/3702, 14/4669 Berichterstattung: Abgeordneter Wilhelm-Josef Sebastian Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Angelika Graf von der SPD-Fraktion das Wort.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Problem ist den Fachleuten - ich sehe hier nur Fachleute - bekannt und hat uns im letzten Jahr schon mehrfach beschäftigt. Dennoch, so meine ich, sollte man eine kurze Beschreibung des Problems geben: Das deutsche mittelständische Fuhrgewerbe leidet unter einem starken, teilweise ruinösen Wettbewerbsdruck. ({0}) Dies hat eine Reihe von Gründen. Neben Harmonisierungsdefiziten in der EU, insbesondere in steuerlicher Hinsicht, aber auch in anderen Bereichen, ist eine ganz wichtige Ursache in der Tatsache zu sehen, dass eine Reihe der großen, international agierenden Fuhrunternehmen auf Fahrzeugen, die im EU-Ausland zugelassen sind, illegales Fahrpersonal aus den MOE-Staaten einsetzen. Immerhin werden laut Schätzungen des Bundesverbandes für Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung, BGL, 15 Prozent aller Straßengütertransporte in der Bundesrepublik zurzeit von EU-ausländischen Fahrzeugen und von Fahrzeugen aus Drittländern durchgeführt. In der Bundesrepublik schlagen die Löhne für die Fahrer normalerweise mit über 30 Prozent der Gesamttransportkosten zu Buche. Durch den Einsatz von illegalen Billigfahrern kommt es zu erheblichen Preisunterbietungen, welche nach einem Bericht des Europäischen Parlaments vom 12. Februar 2001 - er ist also ganz frisch und neu bis zu 30 Prozent des üblichen Marktpreises für die entsprechende Transportleistung ausmachen können. Das ist kein Wunder, weil diese Fahrer einen Stundenlohn von etwa 5 Mark bekommen. ({1}) Regelungen der EU - inzwischen sind sich übrigens die EU-Länder Österreich, Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Belgien und Dänemark des Problems durchaus bewusst - werden nicht in allernächster Zeit erwartet. Dass dieser Missstand deshalb, soweit möglich, national bekämpft werden muss, darüber waren wir uns bei den Beratungen in dieser Angelegenheit bei den letzten Debatten in diesem Haus ziemlich einig. ({2}) Die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben nun den vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der einerseits die Pflicht jedes Fuhrunternehmers, der auf deutschen Straßen unterwegs ist, festschreibt, nur Fahrer mit den entsprechenden Arbeitsgenehmigungen einzusetzen. Andererseits wird nach dem neuen § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes die Verpflichtung auch auf die Verlader ausgedehnt. ({3}) Die Kontrolle des Fahrpersonals obliegt dem Bundesamt für Güterverkehr. Bei Verstößen sollen die Bußgelder deutlich erhöht werden. ({4}) In den letzten Tagen und Wochen ist nun von der Industrie, aber auch von einzelnen Bundesländern die so genannte Verladerhaftung strittig diskutiert worden. Lassen Sie mich deshalb dazu noch einige Sätze sagen. Bei einem Preisvorteil von 30 Prozent durch illegale Beschäftigung gehört auch die verladende Wirtschaft, die die Dienste des Fuhrunternehmers in Anspruch nimmt, zu den Nutznießern und damit zu den Förderern dieser Praxis. ({5}) Deshalb halten wir diesen neuen § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes für sehr sinnvoll und richtig. ({6}) Deshalb sind wir guten Mutes, dass sich die A-Länder trotz einiger Bedenken unserer Argumentation anschließen werden. Die Philosophie, die hinter dieser vorgeschlagenen Regelung steht, ist übrigens dieselbe, die zum § 404 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgesetzbuches III geführt hat. Der Auftraggeber von Leistungen soll nicht von den Leistungen profitieren, die durch den Einsatz illegaler Arbeitnehmer billig angeboten werden. Das fahrlässige Nichtwissen - auch das schreibt der Gesetzentwurf fest - kann keine Entschuldigung sein. ({7}) Denn von einem Betrieb, der Transportleistungen bestellt, kann man verlangen, dass er sich einen Überblick über die Preise und auch über die Preisgrundlagen verschafft. Die Preisgrundlagen sind leicht zu durchschauen, wenn man weiß, was für einen Fahrer usw. gezahlt wird. ({8}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Das SGB III benennt bei den Bußgeldvorschriften den Unternehmer, der einen anderen Unternehmer mit illegalen Arbeitskräften für sich arbeiten lässt, übrigens an erster Stelle, also in Absatz 1, und erst danach - in Absatz 2 den ausführenden Unternehmer. Ich glaube, dass das eine ganz wichtige Wertung ist, auch um darzustellen, welche Zusammenhänge in diesen Bereichen bestehen. ({9}) In Anbetracht der durch illegale Beschäftigung im Fuhrbereich erwirtschafteten Gewinne und des gesellschaftlichen Schadens, den ich in meiner letzten Rede zum selben Thema durch ein Beispiel aus den Ermittlungsakten des Hauptzollamtes Rosenheim belegt habe, ist es sehr zu begrüßen, dass die Bußgeldandrohung für beide Fälle - in Anlehnung an die Regelungen im SGB III übrigens, die dieselbe Höhe vorschreiben - auf bis zu 500 000 DM festgelegt wurde. Ich hoffe, dass das eine Möglichkeit ist, die Herrschaften, die solche Praktiken betreiben, davon zu überzeugen, dies vielleicht doch nicht zu tun. ({10}) Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben mit diesem Gesetzentwurf einen wichtigen Schritt gegen die Wettbewerbsverzerrungen, die in dieser Branche herrschen, getan. Wir würden uns freuen, wenn Sie dem Antrag heute zustimmen könnten und auch den vorgelegten Gesetzentwurf entsprechend unterstützen würden. ({11}))

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Renate Blank von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Wettbewerbssituation im deutschen Transportgewerbe, das mittelständisch geprägt ist, hat sich dramatisch verschärft. Gründe sind zum Beispiel die seit Öffnung des Binnenmarktes fehlende bzw. nicht abgeschlossene Harmonisierung im Verkehrsbereich, der verstärkte Druck ausländischer Konkurrenz und der zunehmende Einsatz von Fahrern aus Billiglohnländern. Ein deutscher Fahrer kostet circa 8 000 bis 9 000 DM im Monat, ein Fahrer aus Billiglohnländern höchstens 1 500 DM. Aber es gibt auch hausgemachte Belastungen, zum Beispiel die Ökosteuer. ({0}) Die Probleme der illegalen Kabotage und Beschäftigung haben in der letzten Zeit zugenommen. Wenn inund ausländische Transportunternehmer bei der Beschäftigung von ausländischem Fahrpersonal Regelungen des Arbeits-, Sozialversicherungs- und Aufenthaltsrechts umgehen, ergeben sich daraus ein ruinöser Lohn-PreisDruck für Fahrer und Transportgewerbe sowie Ausfälle bei Steuern und Sozialbeiträgen. Das ist Fakt. Illegale Beschäftigung von Fahrpersonal aus MOEDrittländern zu deren Heimat-Lohnbedingungen und die unberechtigte Teilnahme am deutschen und am EU-Binnenmarkt führen zu einer völligen Zerrüttung des Marktes und zu Wettbewerbsverzerrungen. Wir wissen alle, dass die Rechtslage zwar den unerlaubten Einsatz von Fahrpersonal aus Nicht-EU-Staaten im binnenländischen Kabotageverkehr verbietet, dass jedoch die unterschiedlichen Bedingungen und rechtlichen Spielräume sowie Handhabungen in den EU-Mitgliedstaaten dazu führen, dass es bisher sehr schwer oder kaum möglich ist, unerlaubte Praktiken zu erkennen bzw. zu verhindern oder gar wirksam zu ahnden. Deshalb müssen verschärft Kontrollen in ausreichender Dichte, verbunden mit entsprechenden Sanktionen, durchgeführt und die Kontrollbefugnis des Bundesamtes entsprechend erweitert werden. ({1}) Gerade der grenzüberschreitende Güterverkehr mit den mittel- und osteuropäischen Staaten hat stark zugenommen und wird in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Bezüglich meiner bisherigen Ausführungen besteht wahrscheinlich allgemeiner Konsens - bis auf die Ökosteuer natürlich. Das nun vorliegende Gesetz ist aus unserer Sicht aber nur ein erster Schritt, um das deutsche Gewerbe wettbewerbsfähig zu erhalten und zu sichern. BDI und DIHT kritisieren den Gesetzentwurf. ({2}) Die Beratungen in den Ausschüssen werden ergeben, welcher Weg richtig, rechtlich haltbar und zielführend sein wird. ({3}) Wie gesagt: Der Gesetzentwurf ist nur ein erster Schritt, aber nicht der entscheidende, so wie es der Verkehrsminister behauptet hat, um den ruinösen Wettbewerb im Transportgewerbe zu bekämpfen. Es gibt noch mehr zu tun. Genauso wichtig wären die Abschaffung der Ökosteuer und die Gewährung fiskalischer Hilfen, wie das in anderen europäischen Ländern praktiziert wird. Die durchschnittlichen Belastungen für einen LKW liegen in Deutschland bei 43 000 DM, in Frankreich bei 30 000 DM und in den Niederlanden bei 28 000 DM. ({4}) Ich sage es immer wieder: Wenn Firmen ausflaggen, wird kein einziger LKW weniger auf unseren Straßen fahren. Es ändern sich nur die Kennzeichen und unserem Angelika Graf ({5}) Fiskus gehen circa 120 000 DM pro LKW an Einnahmen verloren. ({6}) Auch das ist Tatsache. ({7}) Die EU-Kommission beabsichtigt die Einführung einer so genannten Fahrerlizenz zum Nachweis eines legalen Beschäftigungsverhältnisses im Mitgliedstaat des Unternehmenssitzes. Mit der Ausstellung eines solchen Ausweises an den Fahrer soll bescheinigt werden, dass dieser legal arbeitet. ({8}) In Ihrem Gesetzentwurf führen Sie aus, dass mit der EUweiten Einführung einer solchen Fahrerbescheinigung in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Wir fordern die Bundesregierung mit Nachdruck auf, darauf hinzuwirken, dass eine EU-Fahrerlizenz schnellstens eingeführt wird. Sie wollten doch alles besser machen. Das können Sie dadurch beweisen, dass Sie in diesem Punkt etwas schneller reagieren. Wenn ich in Ihrem Entwurf lese, dass die Einführung „in absehbarer Zeit“ geschehen soll, kann das auch auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben sein. ({9}) - Sie haben durchaus Einfluss, Entscheidungen der Europäischen Union zu beschleunigen. Sie haben ja groß getönt. Der nun vorliegende Gesetzentwurf berührt einen Bereich unseres Antrags vom 26. September 2000, der darauf abzielt, die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes zu erhalten und zu sichern, der sechs konkrete Forderungen hat und wesentlich umfangreichere Maßnahmen für das Gewerbe beinhaltet. Wir hoffen, dass Sie nach dem Gesetzentwurf, der das allgemeine Anliegen aller in diesem Hause ist, im Interesse des deutschen Transportgewerbes mit seinen rund 380 000 Beschäftigten schnell handeln und nicht die Hände in den Schoß legen. Solange wir Joghurt nicht per E-Mail versenden können, müssen wir uns um das deutsche Transportgewerbe kümmern. Wir fordern Sie auf, noch mehr für dieses Gewerbe zu tun. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich erteile jetzt dem Kollegen Albert Schmidt vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stimme im Wesentlichen den Ausführungen meiner beiden Vorrednerinnen ausdrücklich zu. Es ist in der Tat so, dass wir im Bereich des Güterkraftverkehrs, über den wir heute reden, einen hohen Regelungsbedarf haben. Ich füge aber auch hinzu: nicht erst seit heute oder gestern, sondern im Grunde schon seit Jahren. Ich bin froh, dass die jetzige Bundesregierung den Handlungsbedarf sieht, das Thema aufgreift und entsprechende Maßnahmen umsetzt. ({0}) Die illegale Kabotage im LKW-Gewerbe auf den deutschen Straßen ist ein Musterbeispiel dafür, dass Liberalisierung ohne gleichzeitige Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen schief gehen muss. Deswegen begrüßt es unsere Fraktion ausdrücklich, dass das Bundesverkehrsministerium - natürlich im Benehmen mit den Sozialpolitikern der Ministerien und der Fraktionen - einen nach meiner Meinung guten und notwendigen Gesetzesvorschlag vorgelegt hat. Wir haben es mit Harmonisierungsdefiziten im Steuerbereich zu tun. Die Kollegin Blank hat das zu Recht ausgeführt. Ich möchte allerdings, Frau Kollegin Blank, darauf hinweisen: Wenn man die Situationen der LKW in den verschiedenen Ländern miteinander vergleicht, darf man nicht unterschlagen - was in bestimmten Vergleichsrechnungen, die Sie heute auch zitiert haben, immer wieder geschieht -, dass es in vielen Ländern, zum Beispiel in Frankreich, aber nicht in Deutschland, eine Zulassungssteuer für LKW gibt, um das Fahrzeug überhaupt kaufen und auf die Straße bringen zu dürfen. Man darf auch die Autobahnmaut nicht unterschlagen, die es in vielen Ländern, gerade in Westeuropa, in einer Größenordnung von 25 oder 30 oder mehr Pfennig gibt. Bei uns gibt es sie im Augenblick noch nicht; wir sind dabei, sie einzuführen. Wenn man Vergleiche anstellt, muss man die gesamte Kostensituation vergleichen. Das Problem, mit dem wir uns heute beschäftigen, ist aber nicht das Steuerrecht, sondern in der Tat der zunehmende Einsatz von Fahrern aus so genannten Billiglohnländern, vor allem aus dem mittleren und östlichen Europa. Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass ein Fuhrunternehmer, der seinem Fahrer 8 000 bis 9 000 DM an Lohn pro Monat zahlen muss, niemals mit einem Fuhrunternehmer konkurrieren kann, der seinem Fahrer gerade einmal 1 500 DM zahlt. Ein solcher Wettbewerb ist ruinös. Er kann nicht funktionieren. ({1}) Es ist auch zu Recht darauf hingewiesen worden, dass die Europäische Kommission dieses Problem wohl erkannt hat und dass sie inzwischen einen Verordnungsentwurf vorgelegt hat, der die EU-weite Einführung einer einheitlichen Lizenz für Fahrer aus Drittstaaten vorsieht. Mit dieser Lizenz soll in erster Linie sichergestellt werden, dass den Unternehmen, die ihren Sitz in der Europäischen Gemeinschaft haben, die Möglichkeit genommen wird, Fahrer aus Drittstaaten, aus so genannten Billiglohnländern, ohne Arbeitsgenehmigung in der Gemeinschaft einzusetzen. Wir wissen auch, dass der EU-Verkehrsministerrat in seiner am 20./21. DezemRenate Blank ber beschlossenen Absichtserklärung entsprechende Schlussfolgerungen gezogen hat. Nur, zurzeit ist leider nicht absehbar, ab wann mit einer EU-weiten Einführung einer einheitlichen Fahrerlizenz gerechnet werden kann. ({2}) Es hängt leider, Frau Kollegin Blank, eben nicht nur von der deutschen Seite ab, wie schnell das möglich ist. Das wissen wir alle. Aber wir können und wollen nicht so lange warten, bis sich alle einig geworden sind. Deshalb ist hier die Vorreiterrolle Deutschlands gefragt. Im Vorgriff auf eine europäische Regelung werden wir für das deutsche Transportgewerbe eine entsprechende Regelung umsetzen. Das ist gut so. ({3}) Die Regelungen im Gesetzentwurf sehen vor, dass der Unternehmer künftig verpflichtet ist, nur noch Fahrer einzusetzen, die ihre Arbeitsgenehmigung im Original und eine amtlich beglaubigte Übersetzung dieser Genehmigung mit sich führen. Diese Verpflichtung wird - das ist § 7 c des Güterkraftverkehrsgesetzes, den schon die Kollegin Blank angesprochen hat - auch auf die Verlader ausgedehnt. Sie dürfen künftig nur noch Unternehmer einsetzen, die Inhaber einer Einzelerlaubnis oder einer Gemeinschaftslizenz sind. Damit ist die gesamte Logistikkette in die Verpflichtung einbezogen. Dies halten wir ausdrücklich für richtig. ({4}) Ich begrüße es auch, dass die Kontrollzuständigkeit beim Bundesamt für Güterverkehr angesiedelt wird und dass dort Stellen dafür geschaffen werden. Es wird 13 zusätzliche Stellen geben und es werden so genannte Bürokraftfahrzeuge angeschafft werden, mit denen die Umsetzung der Kontrollen sichergestellt werden soll. Das kostet nochmals etwa 1,7 bis 1,8 Millionen DM. Ich meine, dass das Geld des Steuerzahlers hier gut angelegt ist, weil durch die Kontrollen sozialer Missbrauch verhindert wird und letztlich die ordnungsgemäße Abführung von Sozialabgaben und Steuern gewährleistet wird. Das hier investierte Geld wird sich mit Sicherheit doppelt und dreifach refinanzieren. ({5}) Ich möchte abschließend darum bitten, dass wir alle im anstehenden Beratungsverfahren, in den Ausschüssen und irgendwann auch im Bundesrat, möglichst an einem Strang ziehen und dafür sorgen, dass die Vorgriffsregelung der deutschen Bundesregierung für das deutsche Speditionsgewerbe auch möglichst astrein umgesetzt wird und nicht durch Einflüsse Dritter, die schon jetzt wieder Alarm rufen, verwässert und wirkungslos gemacht wird. In diesem Sinne bitte ich herzlich um Ihre Unterstützung. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, die sich bei dem heute vorliegenden Gesetzentwurf stellt, ist: Hilft das tatsächlich kurzfristig dem deutschen Transportgewerbe oder ist das bis zum Ende Ihrer Regierungszeit 2002 das Einzige, was Sie zu bieten haben, um das deutsche Transportgewerbe zu beruhigen? Denn Fakt ist, dass sich die Kostenbelastung des deutschen Transportgewerbes im Bereich des Fernverkehrs seit Januar 1999, also in Ihrer Regierungszeit, um sage und schreibe 18,5 Prozent erhöht hat, und zwar trotz Ihrer angeblich sozial ausgewogenen Kostenreduzierung. ({0}) Einer der Hauptgründe dafür ist und bleibt die Ökosteuer. ({1}) - Ich habe die offizielle Statistik des BGL vorliegen. ({2}) Bevor Sie dazwischenrufen, sollten Sie diese einmal lesen. Dort steht alles drin. Sie werden mit diesem Gesetz zu kurz springen, weil Sie wiederum nur die Auswirkungen kurieren wollen und nicht an die Ursachen gehen. Die konkrete Tatsache ist - das ist schon dargestellt worden - die Differenz, was die Kostensituation angeht. Darauf haben Sie noch einmal draufgepackt, indem Sie den nationalen Alleingängen Frankreichs, Belgiens, Italiens und der Niederlande nicht widersprochen haben. Sie haben sie jetzt im Ecofin-Rat sogar noch bis Ende 2002 bestätigt. Bis zu diesem Zeitpunkt wird das deutsche Gewerbe Kostennachteile haben. ({3}) Jetzt setzen Sie den Vorschlag zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung obendrauf. Der Grundansatz ist richtig. Womit ich Probleme habe, ist zunächst einmal die Behauptung, es seien 10 bis 15 Prozent. Es gibt keine einzige Institution in Deutschland, die diese Zahl seriöserweise belastbar nachprüfen kann. ({4}) - Auch der BGL hat keine belastbaren Zahlen. Er rechnet sie hoch bzw. schätzt sie. ({5}) Das Bundesamt für Güterverkehr bestätigt dies. Der nächste Punkt: In § 7 c Ihres Gesetzentwurfs geht es darum, Kontrolltätigkeiten, die eigentlich im Albert Schmidt ({6}) Interesse der Polizei oder des Bundesamtes für Güterverkehr liegen, auf einen Privaten zu übertragen, nämlich auf den Verlader. Der Verlader ist nach Ihrem Gesetzentwurf verpflichtet, sich zu vergewissern, dass der Transporteur, den er vielleicht gar nicht kennt, mit dem er überhaupt keine Rechtsbeziehung hat, ({7}) über eine entsprechende Erlaubnis verfügt. Ich erinnere mich daran, was die Länder für einen Aufstand gemacht haben, als wir bei der letzten Änderung des GüKG dem Bundesamt für Güterverkehr mehr Kontrollrechte einräumen wollten. Nun aber erhebt die Länderseite überhaupt keinen Einspruch dagegen, dass bestimmte Kontrolltätigkeiten auf Private übertragen werden sollen. Angesichts dessen muss man sich schon fragen, wohin wir eigentlich gekommen sind. ({8}) Es stellt sich auch die Frage, ob das überhaupt greift. ({9}) Wie kann es in diesem Bereich zu einer Vereinheitlichung innerhalb Europas kommen, Herr Kollege Schmidt? In Frankreich zum Beispiel sind algerische Fahrer, die von französischen Unternehmern eingesetzt werden, überhaupt nicht verpflichtet, einen Beleg bei sich zu führen. ({10}) Glauben Sie denn ernsthaft, dass ein französisches Unternehmen, das seinen Zug mit einem algerischen Fahrer nach Deutschland schickt, diesem, obwohl es dazu überhaupt nicht verpflichtet ist, eine Bescheinigung über die Nichtfreistellung oder Freistellung - noch dazu in Deutsch - mitgibt? ({11}) Ich habe den Eindruck, der Gesetzentwurf ist noch nicht in letzter Konsequenz durchdacht, schon gar nicht in europäischer Hinsicht. Deswegen wird es Zeit, dass wir im Ausschuss über dieses Thema nachdenken. ({12}) Die Firma Betz, die Sie immer anführen, werden Sie mit dieser Regelung nicht erfassen. Betz hat nämlich durch die bulgarische Flotte, die er aufgekauft hat, alle CEMT-Lizenzen aufgekauft. Die Fahrer aus dem Bereich - das ist die eigentliche Konkurrenz - fahren berechtigt in Deutschland. Das ist das eigentliche Problem. Ich sage Ihnen voraus: Dieses Gesetz ist zum Teil notwendig. Aber Sie springen zu kurz, wenn Sie es nicht ergänzen. Das werden wir in den Ausschussberatungen miteinander zu diskutieren haben. Was wir dann im Endeffekt machen, wird letztendlich die Abstimmung hier im Bundestag zeigen. Danke sehr. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolf.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Überschriften der Vorlagen zu dieser Debatte zum Gesetz zur illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr klingen sehr gut. Tatsächlich - das ist hier deutlich geworden - geht es nur um einen kleinen Ausschnitt des Problems, nämlich darum, dass Fahrer aus Drittstaaten auf LKW, die in der Europäischen Union zugelassen sind, daraufhin kontrolliert werden sollen, ob sie über arbeitsrechtliche Genehmigungen verfügen. Damit ist schon klar: Es geht nicht um schwarze Schafe irgendwo in Osteuropa, sondern darum, dass Unternehmen in der Europäischen Union, zu einem erheblichen Teil auch deutsche Unternehmen, Fahrer ohne arbeitsrechtliche Genehmigungen beschäftigen. ({0}) Der Vorschlag ist an sich sinnvoll. Ähnlich wie bei einem Flächentarifvertrag, beim Mindestlohn, kann es sinnvoll sein, EU-Lizenzen und die Pflicht einzuführen, eine Arbeitserlaubnis mit deutscher Übersetzung mitzuführen. Ich glaube aber - ausnahmsweise gebe ich dem Kollegen Friedrich teilweise Recht -, dass der Teufel im Detail steckt. ({1}) Egal, wie das Gesetz umgesetzt wird: Hierbei handelt es sich auf alle Fälle um einen nationalen Alleingang. Erstens glaube ich schon, Frau Graf, dass die Europäische Union sehr schnell auf Ihre Initiative reagiert hat, indem sie schon im März vergangenen Jahres eine Anhörung durchgeführt hat. Zweitens sehe ich als Nichtjurist ein juristisches Problem darin, wenn man sagt, der Verlader sei mitverantwortlich, sogar dann, wenn er „fahrlässig handelt“, also nicht weiß, dass ein Fahrer beschäftigt wird, der diese Arbeitserlaubnis nicht mit sich führt. Drittens und letztens sagt ja sogar der BGL als Ratgeber bei diesem Gesetzesantrag, dass eine Regelung aus seiner Sicht materiell nichts bringen würde, solange weiterhin zum Beispiel Luxemburg, Österreich, Frankreich und die Niederlande großzügig Arbeitserlaubnisse ausgeben, egal, in welcher Form. Hier stellt sich die Frage, warum sie sie ausgeben. Zur Beantwortung dieser Frage muss man ein wenig weitergehen und tiefer schürfen. Dann kommt man zu dem Ergebnis: Sie verteilen sie auch deswegen so großzügig, weil die Bedingungen im gesamten Gewerbe ruinös geHorst Friedrich ({2}) worden sind und nicht nur in einzelnen Fällen, sondern massenhaft Sozialdumping betrieben wird. So hat zum Beispiel bei einer Umfrage der Internationalen Transportarbeiterföderation ein Drittel der befragten LKW-Fahrer zugegeben, in den letzten 30 Tagen einmal am Steuer eingeschlafen zu sein. Bei diesem Drittel der Fahrer handelt es sich wohlgemerkt nicht um MOE-Fahrer, sondern um in den einzelnen Ländern ansässige Fahrer. ({3}) Wir glauben also, dass das Problem flächendeckend angegangen werden muss. Wir stimmen mit dem Kollegen Schmidt darin überein, dass Liberalisierung ohne Harmonisierung im Grunde nur in die Hose gehen kann. Dieses geschieht hier ganz eindeutig seit mindestens 20 Jahren. Außerdem glauben wir, dass solch eine enorme Zunahme des Güterverkehrs nicht sein müsste. ({4}) Ich habe in die Statistik geschaut und festgestellt, dass sich zum Beispiel die Zahl der finnischen LKW, die in den letzten 10 Jahren die Grenze überfahren haben, verfünffacht hat. Das ist nicht darauf zurückzuführen, dass wir fünfmal so viel Handel mit Finnland betreiben würden, sondern darauf, dass es irgendwelche Rahmenbedingungen gibt, die es sinnvoll erscheinen lassen, Wagen in Finnland anzumelden und damit über die Grenze zu fahren. ({5}) Letztendlich dürfte klar sein - hoffentlich sehen das alle so -, dass die Art und Weise, wie die Schiene im Güterverkehr aufs Abstellgleis geschoben wurde, einen wichtigen Grund mit dafür darstellt, dass immer mehr Verkehr zu diesen ruinösen Bedingungen auf die Straßen gelenkt wird. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Angelika Mertens.

Angelika Mertens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002734

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Blank hatte die große Sorge, dass wir die Hände in den Schoß legen werden. Frau Blank, Sie können beruhigt sein, wir sind da ein wenig anders gestrickt als Sie früher. ({0}) Horst Friedrich sorgte sich sehr darum, dass die Ausnahmeregelungen auf EU-Ebene weiter zunehmen werden. Ich denke, dass Sie während Ihrer Regierungszeit - Sie haben ja viele Jahrzehnte mitregiert - eine Menge Ausnahmeregelungen mitgetragen haben. Insofern könnten Sie fast unter die Kronzeugenregelung fallen. ({1}) Wir beraten heute in erster Lesung unseren Gesetzentwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftverkehr. Die Dringlichkeit dieser Frage verdeutlicht auch der Bericht des federführenden Ausschusses vom November letzten Jahres. ({2}) - Genau, aber vielleicht wollen die sich untereinander unterhalten. - Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, sich für die Einführung einer EU-Fahrerlizenz für Fahrer aus Drittstaaten einzusetzen, die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass durch Sozialdumping eingesparte Gelder bei Kontrollen wieder einzufordern sind, und die Wirkungsmöglichkeiten der Kontrollen zu steigern. Der Ausschuss hat auch gefordert, weitere flankierende Maßnahmen zu ergreifen. In allen Ausschüssen, in denen dieser Antrag beraten wurde, bestand großer Konsens darüber, dass die Verhältnisse im Transportgewerbe verbessert und europaweit faire Wettbewerbsbedingungen hergestellt werden müssen. Wenn die CDU/CSU und die F.D.P. nicht in jedem mitberatenden Ausschuss eine grundsätzliche Abstimmungslinie verfolgt haben, mag das vielleicht ein wenig an den in der Vergangenheit vertretenen Positionen zur Liberalisierung und Harmonisierung gelegen haben. ({3}) Ich erinnere auch an die Rede des Kollegen Sebastian vor zwei Jahren ({4}) - ich weiß - zur Reform des Güterkraftverkehrsrechts. Er hat damals die Reform als weiteren bedeutenden Liberalisierungsschritt im europäischen Straßenverkehr begrüßt. Dem Thema Harmonisierung hat er jedoch keine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Sie wissen aber nur zu gut, dass seit der Liberalisierung im Jahre 1998 die Probleme durch illegale oder missbräuchliche Beschäftigung von Arbeitnehmern aus Nicht-EU-Staaten in Deutschland größer geworden sind. Neben den bereits genannten Punkten ist es eine immer häufiger anzutreffende Praxis - das ist hier schon mehrmals betont worden -, dass Unternehmen mit Sitz in anderen EU- oder EWR-Staaten für ihre dort zugelassenen Fahrzeuge Fahrer aus Osteuropa beschäftigen. Diese Fahrer werden zu extrem niedrigen Löhnen eingesetzt. Die Folgen sind ein ruinöser Preisdruck für das gesamte Transportgewerbe. Darüber hinaus gibt es einen gemeinwirtschaftlichen Schaden durch Wettbewerbsverzerrungen und Ausfälle bei Steuern bzw. Sozialbeiträgen sowie negative Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Dieses Problem ist eine weitere Altlast unserer Vorgängerregierung. Mir ist keine Initiative und vor allem kein Ergebnis in dieser Sache bekannt, obwohl das Gewerbe schon sehr lange auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Regelung hingewiesen hat. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir dieses Thema angehen und lange bestehende Defizite beseitigen. Die EU-Kommission hat Ende des Jahres 2000 einen Vorschlag für die Einführung einer Fahrerlizenz vorgelegt. Die Bundesregierung unterstützt die Kommission bei ihren Arbeiten. Die Probleme erfordern aus Sicht der Bundesregierung - darin sind wir uns letztlich alle einig aber bereits jetzt eine nationale deutsche Lösung. ({5}) Deshalb haben wir im Vorgriff auf die beabsichtigte Einführung der EU-Fahrerlizenz den vorliegenden Gesetzentwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im gewerblichen Güterverkehr erarbeitet und den parlamentarischen Gremien zur Bearbeitung zugeleitet. Mit diesem Gesetz soll der ruinöse Preis- und Wettbewerbsdruck, der zulasten der Spediteure, aber auch zulasten der Fahrer aus dem In- und Ausland praktiziert wird, zurückgedrängt und die illegale Beschäftigung verhindert werden. Unser Gesetzentwurf sieht vor, dass Fahrpersonal aus Nicht-EU-Staaten eine Arbeitsgenehmigung mitführen und den Kontrollbeamten vorzeigen muss. Diese Arbeitsgenehmigung muss von dem Land ausgestellt sein, in dem das Unternehmen, bei dem der Fahrer beschäftigt ist, niedergelassen ist. Der Gesetzentwurf sieht zugleich vor, die Kontrolltätigkeit zu verbessern. Herr Schmidt hat eben schon darüber berichtet, dass es neue Stellen gibt. Neben den an sich zuständigen Behörden wird jetzt das Bundesamt für Güterverkehr zuständig sein, um die Einhaltung von Vorschriften zur Arbeitsgenehmigung zu kontrollieren. Werden nach In-Kraft-Treten des Gesetzes Verstöße gegen die Einhaltung der Arbeitserlaubnisvorschriften festgestellt, kann den Unternehmern nach den schon jetzt bestehenden Vorschriften die Erlaubnis zur Ausübung des Gewerbes entzogen werden. Mit den Regelungen des Gesetzentwurfes kann der Auftrag aus dem Beschluss des Deutschen Bundestages bereits als in Angriff genommen betrachtet werden. Wir begrüßen sowohl die Aktivitäten der EU wie auch den Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen; denn beides unterstützt unsere bisherige Arbeit und die Zielrichtung des Gesetzentwurfes in vollem Umfang. Wir werden dem Transportgewerbe dort helfen, wo die wirkliche Wurzel des Übels liegt. Es ist in unser aller Interesse, dass im Straßengüterverkehr mittelständische Unternehmen eine echte Überlebenschance haben. Dafür werden die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen, und zwar völlig unabhängig von unserem Ziel, möglichst hohe Straßengüterverkehrsanteile auf die Schiene zu verlagern. Dieser Gesetzentwurf dokumentiert jedenfalls eines sehr deutlich: Eine Verdrängung von deutschen Transporteuren durch Transporteure aus europäischen Partnerstaaten oder aus Drittländern durch illegale Beschäftigung wird von uns nicht mehr hingenommen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wilhelm Sebastian.

Wilhelm Josef Sebastian (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002796, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Staatssekretärin, Sie haben gesagt, dass Sie nicht die Hände in den Schoß legen werden. Ich könnte Ihnen eine lange Liste mit Punkten vortragen, bei denen noch jede Menge Nachholbedarf besteht. ({0}) Ich habe das bereits im Herbst vorgetragen; vielleicht komme ich darauf noch zurück. Sie sind nur Weltmeister im Ankündigen. Man muss schon fragen: Wo bleiben die Taten? ({1}) Aber eines haben Sie getan - ich kann das an dieser Stelle nur wiederholen -: Sie haben die Ökosteuer eingeführt, die das Transportgewerbe in großem Maße belastet. ({2}) Diese Tatsache kann man nicht oft genug wiederholen. Ich fordere Sie wie so viele in diesen Tagen auf, die Ökosteuer endlich abzuschaffen. ({3}) Alle Redner haben festgestellt, dass der Gesetzentwurf der richtige Weg ist und dass damit ein wichtiger Schritt gegangen wird. Es gilt nämlich, die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Güterkraftverkehrs in Europa zu erhalten. Die Bedrohung durch illegale Praktiken nimmt zu. Es ist gut, dass hier schnell und entschlossen gehandelt wird. Seit der Öffnung des Binnenmarktes im Verkehrsbereich vor einigen Jahren macht sich das Dilemma der verschiedenen nationalstaatlichen Regelungen in Europa für das deutsche Transportgewerbe sehr unangenehm bemerkbar. Der Einsatz von Fahrern aus Billiglohnländern durch Spediteure, die ihren Sitz innerhalb der EU haben, führt zu einem Wettbewerbsnachteil der deutschen Spediteure, die diesem unerlaubt erreichten Preisvorteil der Mitbewerber aus anderen Ländern vergeblich hinterherlaufen. Angesichts dessen muss man sagen, dass in nicht akzeptabler Weise mit Menschen umgegangen wird, wenn sie für Billiglöhne Schwerstarbeit unter Missachtung jeglicher Arbeitszeitregelung leisten müssen. ({4}) Es ist auch noch festzustellen, dass dies zu einer großen Verkehrsgefährdung auf deutschen Straßen führt. ({5}) Herr Friedrich hat angezweifelt, ob die hochgerechneten Zahlen stimmen. Wie bei jeder Statistik kann man an der Richtigkeit zweifeln. Aber wenn man der Berechnung Glauben schenkt, dann gibt es eine horrende Zahl von Missständen. Wir wollen diesen Missständen begegnen und bieten unsere Mitarbeit an, dass hier geeignete Maßnahmen ergriffen werden. Weil Deutschland das Haupttransitland in Europa ist, weil wir das größte Aufkommen an Transportleistungen auf unseren Straßen haben, ist eine Regelung überfällig. Die Tatsache, dass die Bundesregierung jetzt zugunsten der deutschen Spediteure einer europäischen Maßnahme vorgreift, ist positiv hervorzuheben. Unsere Aufforderung gerade in den letzten Monaten und unser entsprechender Antrag vom letzten Herbst, in dieser Richtung tätig zu werden, wurden dankenswerterweise aufgegriffen. Endlich wird gehandelt und nicht gewartet, bis die langsamen Mühlen der Euro-Bürokratie mahlen. ({6}) Ich muss aber unterstreichen: Dies sollte Anlass sein, auch in anderen Bereichen aktiv zu werden; denn unser Transportgewerbe leidet erheblich unter den Wettbewerbsunterschieden. Von meiner Kollegin sind die entsprechenden Zahlen vorgetragen worden, die belegen, dass es erhebliche steuerliche Unterschiede in den verschiedenen Ländern gibt, auch wenn der Kollege Schmidt sagt, dass man hier alle Faktoren einbeziehen müsse. Das machen wir natürlich. Trotzdem denke ich, dass ein großer Harmonisierungsbedarf gegeben ist. In unserem im Herbst eingebrachten Antrag haben wir alle Forderungen aufgelistet. Ich könnte sie jetzt wiederholen, ich will aber aufgrund der fehlenden Zeit darauf verzichten. Ich will zum Schluss die Bundesregierung und insbesondere den Verkehrsminister auffordern, jetzt entsprechende Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Handeln Sie auch in anderen Bereichen im Interesse des deutschen gewerblichen Güterkraftverkehrs! Lassen Sie es nicht bei diesem Gesetz bewenden, das Sie uns heute vorgelegt haben! Vielen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich danke auch und schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5446 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver- standen? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Bekämpfung der illegalen Kabotage und des Sozial- dumpings im Transportgewerbe. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3702 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegen- stimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: a) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Jörg van Essen, Rainer Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Pressefreiheit - Drucksachen 14/1602, 14/5458 ({1}) Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Rupert Scholz b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung - Drucksache 14/5166 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Ausschuss für Kultur und Medien c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Zur Frage der Ausweitung des Zeugnisverweigerungsrechtes für Journalisten - Drucksachen 14/2083, 14/3864 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pressefreiheit - und vor allen Dingen die Sicherung der Pressefreiheit - ist für die Demokratie unabdingbar. Ich denke, dass wir gerade in der letzten Zeit gesehen haben, welche Bedeutung unabhängige Medien in unserem Land haben. Was auch immer an Skandalen hochgekommen ist, wäre ohne die Aufklärungsarbeit der Medien und der Presse nicht möglich gewesen. Die Presse hat uns viele Einzelheiten vermittelt. Deshalb bedarf die Presse natürlich des Schutzes. Sie bedarf deshalb des Schutzes, weil sie auf Informanten angewiesen ist, weil sie auf Recherche angewiesen ist. Es gibt immer wieder Versuche meiner staatsanwaltschaftlichen Kollegen, diesen Schutz der Presse aufzubohren. Es sind Vorfälle an die Öffentlichkeit gelangt, die einen nachdenklich machen müssen, selbst dann, wenn das Herz für die Staatsanwaltschaft und für die Strafverfolgung schlägt. Insbesondere aufgrund dieser Erfahrung, aber auch aufgrund des Drucks, den die Organisationen der Presse und der Medien gemacht haben, haben wir als F.D.P.-Bundestagsfraktion sehr früh einen Gesetzentwurf vorgelegt, der alle wesentlichen Forderungen der Interessenvertretungen der Medien berücksichtigt ({0}) und deshalb gerade bei diesen Interessenvertretungen sehr viel Zustimmung gefunden hat. Wir haben dazu eine Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages durchgeführt und Anregungen bekommen. Aber für uns als F.D.P. war insbesondere wichtig, dass die wesentlichen Weichenstellungen, die wir vorgenommen haben, dort von den Sachverständigen nachdrücklich unterstützt worden sind. ({1}) Deshalb bedaure ich sehr, dass so viel Zeit ins Land gegangen ist und dass wir zu dem Mittel eines Berichtes nach § 62 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages greifen mussten, um die Diskussion voranzubringen. ({2}) Es ist notwendig, dass wir hier endlich zu Entscheidungen kommen. ({3}) Sie haben gesagt, „selbst schuld“. Nein, wir sind nicht selbst schuld. Denn Sie haben immer wieder angekündigt, dass es auch einen Gesetzentwurf der Bundesregierung geben wird. ({4}) Leider haben wir erst heute die erste Beratung dieses Gesetzentwurfes. Uns bestätigt das: Wenn wir diesen Antrag nach § 62 der Geschäftsordnung nicht gestellt hätten, wäre es heute nicht zur ersten Lesung gekommen. Von daher ist es deutlich, dass es des Druckes bedurfte. Wir werden auch weiterhin Druck machen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist eine einzige Enttäuschung, insbesondere deshalb, weil die Beschlagnahme bereits bei einfachem Tatverdacht möglich ist. Damit sind all die Umgehungen, die von Journalisten zu Recht kritisiert werden, nach meiner Auffassung leider auch in Zukunft möglich. ({5}) Wir haben deshalb ganz bewusst die Tatverdachtsschwelle nach oben verschoben und einen dringenden Tatverdacht zur Grundlage eines solchen Beschlagnahmeversuches gemacht. Ich denke, wir müssen auch bei den Beratungen im Rechtsausschuss wieder zum dringenden Tatverdacht kommen. Wir werden dabei, wie gesagt, auch von den Interessenvertretungen der Journalisten unterstützt. Das Zweite: Wann ist das Zeugnisverweigerungsrecht ausgeschlossen? Die Bundesregierung hat vorgesehen, dass das ausschließlich bei Verbrechen der Fall sein soll. Wir halten das nicht für ausreichend. Ich erinnere daran, dass zum Beispiel Sexualdelikte gegenüber Kindern nach dem Strafgesetzbuch nicht als Verbrechen ausgestaltet sind. Deshalb wäre hier ein solcher Schutz durchaus möglich. Wir wollen das bewusst nicht. Ich denke, wir sollten über die Frage, ob ein Straftatenkatalog nicht der bessere Weg ist, deshalb noch einmal im Rechtsausschuss diskutieren.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, selbstverständlich.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, Sie sagen, es müssen zusätzliche Straftatbestände in den Katalog aufgenommen werden, und weisen mit einer gewissen Berechtigung darauf hin, dass es auch um gravierende andere Delikte geht. Wäre es dann nicht richtiger, sie allgemein im Strafgesetzbuch schwerer zu gewichten und sie zu Verbrechen zu machen? Kann man sie denn im Strafmaß weiter unten ansiedeln und gleichzeitig sagen: Diese Straftatbestände sind so bedeutend, dass sie es rechtfertigen, das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten in diesen Fällen wegfallen zu lassen?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich denke, dass man das kann. Sie sehen das an dem Katalog, den wir vorgesehen haben; wir haben nämlich bei jedem einzelnen Delikt eine solche Abwägung vorgenommen. Ich denke, dass das der vernünftige Weg ist. Sie haben die Möglichkeit angedeutet, zum Beispiel Straftaten gegenüber Kindern zum Verbrechen aufzustufen. Sie wissen, dass wir uns damit im Rechtsausschuss befassen. Wir haben aber aus guten Gründen diese Aufstufung zu einem Verbrechen nicht vorgenommen. Ich bin auch weiterhin der Auffassung, dass das richtig ist; denn es gibt eine ganze Fülle von Straftaten, die die Stufe des Verbrechens noch nicht erreicht haben. Deshalb, so denke ich, sollten wir zu einer Lösung kommen, bei der wir einzelne Tatbestände nach ihrer Gewichtung, insbesondere was das Zeugnisverweigerungsrecht der Presse angeht, in den Katalog aufnehmen oder nicht. Das wird weiterhin die Position der F.D.P. bleiben, weil wir der Auffassung sind, dass nur so eine vernünftige und sachgerechte Abwägung vorgenommen werden kann, nicht aber mit einer Pauschalisierung, wie sie im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehen ist. Das Entscheidende aber ist, dass wir jetzt schnell zu Lösungen kommen müssen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt auf dem Tisch. Die F.D.P. wird sich intensiv für einen besseren Schutz der Pressefreiheit einsetzen. Dazu bedarf es einer gesetzlichen Neuregelung, insbesondere auch des Schutzes des selbst recherchierten Materials. Ich denke und hoffe, dass wir sehr schnell zu Ergebnissen kommen werden. Wir werden den nötigen Druck machen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit ihrem heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzentwurf entspricht die Bundesregierung einer Reformforderung, die den Deutschen Bundestag seit drei Legislaturperioden beschäftigt. Damit wird nach dem Regierungswechsel von 1998 ein weiterer Beitrag zur Auflösung eines von der alten Regierung zu verantwortenden Reformstaus geleistet. ({0}) Es geht dabei um den besseren Schutz der Presse- und Rundfunkfreiheit, die bekanntlich vom Bundesverfassungsgericht in vielen Entscheidungen als schlechthin konstituierend für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eingestuft worden ist. Der Schutz dieses Grundrechtes soll nunmehr auch bei selbst recherchiertem Material, ähnlich wie bisher schon bei von dritten Personen stammenden, dem Journalisten anvertrauten Unterlagen, durch ein weit reichendes Zeugnisverweigerungsrecht und Beschlagnahmeverbot gewährleistet werden. Außerdem wird der Schutz über periodische Druckwerke und Rundfunksendungen hinaus auch auf andere Medienerzeugnisse, wie insbesondere nicht periodische Druckwerke und Filmberichte, ausgedehnt. Die erste in diese Richtung zielende Initiative stammte von der SPD-Bundestagsfraktion, die in der vorletzten, also der 12. Legislaturperiode einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt hat. Es folgten in der letzten Legislaturperiode Gesetzentwürfe des Bundesrates und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Erst in dieser Legislaturperiode - das hätte ich dem Kollegen van Essen gern auch persönlich gesagt - hat die F.D.P., nachdem sie von den Fesseln der Regierungsverantwortung und des größeren Koalitionspartners befreit war, ({1}) einen entsprechenden Entwurf vorgelegt. ({2}) Zu diesem heute noch einmal auf der Tagesordnung stehenden F.D.P.-Entwurf habe ich in der Debatte vom Oktober 1999 ausführlich Stellung genommen. Gleichzeitig habe ich angekündigt, dass der demnächst in erster Lesung auf der Tagesordnung stehende Entwurf der Bundesregierung so evident besser sein werde, dass wir ihn gemeinsam zur Beratungsgrundlage machen könnten. ({3}) Aus dem „demnächst“ sind dann leider 17 Monate geworden, vor allem deshalb, weil der Bundesrat - oder genauer: die derzeitige Mehrheit des Bundesrates - das Verfahren durch Änderungsvorschläge, von denen leider kein einziger überzeugen konnte, aufgehalten hat. Darauf werde ich noch eingehen. ({4}) Die CDU/CSU-Fraktion scheint sich ausweislich der einleitenden Bemerkungen zu ihrer Großen Anfrage, die heute ebenfalls auf der Tagesordnung steht, nach wie vor ablehnend zu dem Reformvorschlag zu verhalten. ({5}) Vielleicht ist sie aber auch durch die Antworten der Bundesregierung und durch die auf hohem Niveau stehende Sachverständigenanhörung ({6}) vom September vergangenen Jahres eines Besseren belehrt worden. ({7}) Bei dieser Anhörung, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ({8}) hat sich die weit überwiegende Zahl der Sachverständigen mit überzeugender Begründung für den stärkeren Schutz der Presse- und Rundfunkfreiheit ausgesprochen. ({9}) Zur Klarstellung der praktischen Bedeutung des Vorhabens hat beispielsweise der Justiziar des Deutschen Journalisten-Verbandes von 69 Fällen mit Durchsuchungsanordnungen in den Jahren von 1987 bis 1998 allein das ZDF betreffend berichtet, ({10}) darunter nur 19 in Verbrechenssachen, hingegen acht allein wegen Beleidigungsverfahren. In den meisten Fällen sei das angeforderte Filmmaterial nach dem Durchsuchungsbeschluss herausgegeben worden, um der mit einer Durchsuchung verbundenen massiven Beeinträchtigung der Arbeit der Rundfunkanstalt zuvorzukommen. Leichtsinnigerweise, verehrte Kollegen von der CDU/CSU, berufen Sie sich in der Begründung Ihrer ablehnenden Haltung in Ihrer Großen Anfrage auf ein für das Bundesministerium der Justiz im Jahre 1988 ({11}) beim Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht eingeholtes rechtsvergleichendes Gutachten. Dieses Gutachten ({12}) ist - das ist richtig - seinerzeit unter meiner Verantwortung entstanden. Der rechtsvergleichende Querschnitt, auf den Sie sich meinen berufen zu können, ist von mir verfasst und in der Festschrift für Tröndle veröffentlicht worden. Darin habe ich nun aber ausdrücklich festgestellt, dass die geltende gesetzliche Regelung im Einzelfall unbefriedigend sein könne ({13}) und die Lösung dieser Fälle in der unmittelbaren Anwendung von Art. 5 Grundgesetz unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu suchen sei. ({14}) Das war ein Appell und ich hatte eine Hoffnung, ({15}) die sich leider nicht erfüllt hat. Darauf habe ich bereits in der Bundestagsdebatte im Dezember 1996 hingewiesen und festgestellt: ({16}) Die Hoffnung auf eine der Pressefreiheit Rechnung tragende Kasuistik der Praxis hat sich also leider nicht erfüllt. ({17}) Offenbar geht die Praxis davon aus, dass die gebotene Abwägung zwischen Pressefreiheit und rechtsstaatlicher Effektivität der Strafrechtspflege vom Gesetzgeber, also von uns, vorzunehmen ist. Dieser schwierigen Aufgabe müssen wir uns nunmehr stellen. Also, verehrte Kollegen von der Opposition: Wenn Sie mich schon freundlicherweise zitieren, dann bitte vollständig. ({18}) Auf die Mängel des F.D.P.-Entwurfes muss ich heute nicht noch einmal eingehen. So kann ich in der verbleibenden Redezeit deutlich machen, warum die Änderungsvorschläge der Mehrheit des Bundesrates von der Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung mit Recht abgelehnt worden sind. Nach unserem Gesetzentwurf soll der Schutz von Material und Erkenntnissen, die auf eigener Recherche des Journalisten beruhen, nur dann eingeschränkt werden oder entfallen, wenn ein Verbrechen aufgeklärt werden soll. Damit soll an die Stelle überwiegend einzelfallbezogener und dem Druck von Tagesemotionen ausgesetzter Güterabwägung die Wertentscheidung des Gesetzgebers treten, wonach bestimmte Delikte eben als Verbrechen, also als schwere Straftaten mit einer angedrohten Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr, einzuordnen sind. Nur in diesen Fällen, also nicht etwa in Beleidigungsverfahren, tritt der Schutz von Art. 5 Grundgesetz zurück. Der Bundesrat will stattdessen - insoweit, wie wir eben hörten, in Übereinstimmung mit der F.D.P. - die Ausnahmen durch einen umfassenden Straftatenkatalog regeln, der auch Vergehen enthält. Insoweit kann ich auf die Sachverständigen verweisen, die sich fast alle gegen einen derartig starren, völlig unklaren Kriterien folgenden Katalog ausgesprochen haben. Dies war neben Professor Eser beispielsweise auch der von der CDU/CSU-Fraktion benannte Leitende Oberstaatsanwalt aus Augsburg. Völlig unverständlich ist aber der schon in der Bundestagsdebatte von 1996 einhellig abgelehnte Vorschlag des Bundesrates, darüber hinaus Ausnahmen für den Fall vorzusehen, dass Gegenstand der Ermittlung eine Straftat ist, wegen der eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist. Welcher Richter oder Staatsanwalt soll eigentlich eine zuverlässige Prognose über die zu erwartende Strafe abgeben können, wenn über die Beschlagnahme oder Nichtbeschlagnahme von journalistischem Material zu entscheiden ist, das Ermittlungsverfahren aber erst am Anfang steht? Die Wiederholung des alten Bundesratsvorschlages ist wohl nur durch ein relativ unreflektiertes Wiedervorlageverfahren erklärbar - und das bei einem Gesetz, das nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf und bei dem auch deshalb ein besonders sorgfältiges Eingehen auf die Argumente des Bundestages zu erwarten gewesen wäre. Ebenso wenig überzeugend ist die Kritik des Bundesrates an dem vorgesehenen Beweiserhebungsverbot zu Aussagen in anderen gerichtlichen Verfahren. Denn das Verbot ist an die doppelte Voraussetzung geknüpft, dass der Journalist zum einen im Strafverfahren von seinem beruflichen Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht und dass er zum anderen im außerstrafrechtlichen Verfahren kein Zeugnisverweigerungsrecht hatte. Die über diesen Punkt, der auch im F.D.P.-Entwurf noch klärungsbedürftig ist, im Oktober 1999 geführte Bundestagsdebatte haben die Verfasser der Stellungnahme des Bundesrates offenbar noch nicht einmal zur Kenntnis genommen. ({19}) Geradezu erstaunlich ist schließlich der dritte Vorschlag des Bundesrates, die präzisen Vorgaben für die nach § 97 StPO durchzuführende Verhältnismäßigkeitsprüfung deshalb zu streichen, weil die Justizministerkonferenz 1997 in Nr. 73 a der RiStBV ausdrücklich eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgeschrieben habe. Abgesehen von der unscharfen Fassung jener Richtlinie müsste es eigentlich inzwischen eine verfassungsrechtliche Binsenweisheit sein, dass die Festlegung der Abwägungskriterien, ob und inwieweit die Presse- und Rundfunkfreiheit im Einzelfall Vorrang gegenüber den Bedürfnissen der Dr. Jürgen Meyer ({20}) Strafrechtspflege haben kann, Sache des Gesetzgebers und nicht irgendwelcher Richtlinien ist. ({21}) Die Schwäche der Argumentation wird auch nicht durch den sonderbaren Satz behoben, wonach Art. 5 des Grundgesetzes es nicht gebiete - ich zitiere aus der Stellungnahme des Bundesrates -, „Medien quasi als Deponie für deliktsverstrickte Gegenstände fungieren zu lassen“. Da hat wohl ein Landesjustizminister oder dessen Sachbearbeiter seiner tiefen Abneigung gegenüber den Medien freien Lauf gelassen und aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. ({22}) - Ich bin ziemlich sicher, dass die Mehrheit des Bundesrates dies zu verantworten hat. ({23}) Ich hoffe, dass unsere Beratungen des Entwurfes eines Gesetzes zur Änderung der Strafprozessordnung im Rechtsausschuss und im Ausschuss für Kultur und Medien im Vergleich dazu in einem rationalen und dem Grundrecht der Presse- und Rundfunkfreiheit angemessenen Klima durchgeführt werden. Ich danke Ihnen. ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich meine, wir können diese Sitzung, die fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, in einer ruhigen Atmosphäre fortsetzen. Insofern war der eben gehörte Beitrag durchaus beachtenswert. Aber es gibt, lieber Herr Meyer, auch Gegenargumente. ({0}) - Seien Sie ruhig gespannt, Herr Ströbele! Zweifellos ist die Feststellung richtig, dass die Pressefreiheit ein ganz hohes Gut ist und dass der Staat verpflichtet ist, die Pressefreiheit zu schützen, wo immer er kann. Ohne Pressefreiheit kann eine lebendige Demokratie nicht existieren. Dies ist unbestritten. Durch die Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes - es geht hier um eine Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes! - für Journalisten soll die Pressefreiheit im Strafverfahren in einer besonderen Weise geschützt werden. Dies kann zu Konflikten mit der anderen Pflicht des Staates führen, nämlich für eine ordentliche Strafverfolgung zu sorgen. Dies ist ein ebenso hohes Gut, wie das Bundesverfassungsgericht in vielen Entscheidungen festgestellt hat. Wir wissen, welche Funktion die Strafverfolgung in unserem Staat hat: Sie hat die Funktion erstens der Bekämpfung von Kriminalität, zweitens der Wahrung unserer Rechtsordnung und drittens der Wahrung und Durchsetzung der Gerechtigkeit nicht nur gegenüber dem Opfer der Kriminalität, sondern auch gegenüber dem Betreffenden selbst, der alle Beweismittel ausschöpfen können muss, um die gegen ihn gerichteten Vorwürfe entkräften zu können. Hier sehen wir die Abwägungsschwierigkeit. Wir meinen, dass diese Abwägung weder in dem einen noch in dem anderen Gesetzentwurf richtig vorgenommen worden ist, und haben deshalb unsere Bedenken. Zweifellos ist richtig - darin werden wir alle miteinander übereinstimmen -, dass die innere Sicherheit, also die Bekämpfung der Kriminalität, eine der vordringlichsten Aufgaben des Staates ist. Das wird gerade jetzt deutlich, da dieses Kind in Brandenburg verschwunden ist und bislang noch jede Spur fehlt. Das weckt Ängste, das wirft sofort Fragen an die Polizei, an die Staatsanwaltschaft und an die Gerichte, aber auch an den Gesetzgeber auf, ob denn in der Vergangenheit alles unternommen worden ist, um die innere Sicherheit zu garantieren. Wenn wir keine Sicherheit mehr auf den Straßen, auf den Plätzen, im Zug, in der U-Bahn und vielleicht nicht einmal mehr in der eigenen Wohnung haben, dann wird das Leben zum Albtraum. Dieses hohe Gut der Strafverfolgung soll mit dazu beitragen, dass die innere Sicherheit in einem großen Maße gesichert werden kann. Deswegen haben wir unsere Bedenken. Denn jedes Zeugnisverweigerungsrecht führt dazu, dass die Strafverfolgung beeinträchtigt werden kann. Das muss man einfach so sehen. ({1}) - Nun kommt es darauf an, lieber Herr Ströbele, wie weit ich in einem solchen Fall gehe. Jedes Zeugnisverweigerungsrecht und das damit verbundene Beschlagnahmeverbot kann im konkreten Einzelfall die Strafverfolgung hindern, kann den Staat hindern, einer wichtigen Pflicht nachzukommen. Das ist die Grundüberlegung. Es besteht kein Zweifel - ich wiederhole das -, dass die Pressefreiheit einen hohen Rang in unserem Staat einnehmen muss. Aber einen ebenso hohen Rang muss die Strafverfolgung haben. Deswegen ist es dem Staat auch nicht erlaubt, das Zeugnisverweigerungsrecht beliebig auszudehnen. Ansonsten verletzt er eine wichtige verfassungsmäßige Pflicht, nämlich sicherzustellen, dass in einem Strafverfahren die Wahrheit in größtmöglichem Umfang festgestellt werden kann. Diese Feststellung der Wahrheit soll nicht nur zugunsten der Strafverfolgung erfolgen, sondern - ich habe es schon gesagt - auch zugunsten des Betroffenen selbst, letztendlich zugunsten der Gerechtigkeit. Wenn nun das Zeugnisverweigerungsrecht in einem zu starken Maße ausgeweitet wird, geht die Abwägung zulasten der Strafverfolgung. Ich glaube, dass dies nicht notwendig ist. Dr. Jürgen Meyer ({2}) Wir haben nach unserer Auffassung schon einen ausreichenden Schutz der Journalisten im Strafverfahren. Es gibt ja das Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich des nicht selbst recherchierten, sondern von Informanten erhaltenen Materials. Diesbezüglich braucht der Journalist vor dem Gericht keine Aussage zu machen. Dies hat seinen Grund darin, dass zwischen Journalisten und Informanten ein Vertrauensverhältnis bestehen muss. Wenn dieses Vertrauensverhältnis nicht besteht, fließen keine Informationen. Dann können die Presse und die anderen Medien ihre Pflicht nicht erfüllen, die Bevölkerung umfänglich zu informieren. Deswegen haben wir diesen Informantenschutz - wie ich meine, mit Recht - in das Zeugnisverweigerungsrecht hineingenommen. Insofern genießt der Journalist im Gerichtsverfahren ausreichenden Schutz. Nun wollen Sie von der Regierungskoalition und von der F.D.P. das Zeugnisverweigerungsrecht über das vom Informanten bekommene Informationsmaterial hinaus auch auf das selbst recherchierte Material ausdehnen. Wir meinen, hier gehen Sie einen Schritt zu weit. Ich möchte das begründen. Ich glaube - und das sagt das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1997 auch -, dass der Eingriff in die Pressefreiheit dann nicht rechtens ist, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt ist. Nun sagen Sie zu Recht, Herr Meyer, dass dies im konkreten Einzelfall oft nicht beachtet worden ist. Aber Sie werden immer Ausreißer haben, Sie werden immer Gerichte und immer Staatsanwaltschaften haben, die die Gesetze nicht genau beachten. ({3}) Deswegen gibt es Freisprüche und Fehlurteile. Aber der Grundsatz, dass das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu wahren ist, bleibt. Nach diesem Grundsatz ist es verboten, den Eingriff in das selbst recherchierte Material vorzunehmen, wenn dies in keinem vernünftigen Verhältnis zum Interesse an der Aufklärung der Straftat steht, weil die Straftat zu geringfügig ist. Hier ist die Pressefreiheit das höhere Gut. Dann muss dieser Eingriff unterbleiben. Deswegen meine ich, dass aufgrund unserer Verfassungsprinzipien der Verhältnismäßigkeit und der größtmöglichen Schonung im Einzelfall das selbst recherchierte Material hinreichend geschützt ist. Aber nun gehen Sie noch einen Schritt weiter. Sie wollen das Zeugnisverweigerungsrecht nicht nur auf das selbst recherchierte Material ausdehnen, sondern wollen auch die nicht periodisch erscheinenden Druckwerke und die dafür gesammelten Materialien in das Zeugnisverweigerungsrecht einbeziehen. Hier gehen Sie nach meiner Meinung wiederum einen Schritt zu weit und schaffen damit unnötige Konflikte, weil Sie jetzt nicht mehr unterscheiden können, wer Journalist ist und wer nicht. Jemand, der bei einer Zeitung arbeitet, gilt als Journalist, selbst wenn das Berufsbild des Journalisten gesetzlich nicht genau festgeschrieben ist. Aber ist jeder, der gerade ein Buch schreibt oder einen Film macht - wer mag ihm das verwehren oder wer mag das bestreiten? Journalist? Wenn sich dieser auch auf das Zeugnisverweigerungsrecht berufen kann, hat der Staat nicht mehr die Möglichkeit der Ermittlung der Wahrheit. ({4}) Diese Verpflichtung hat er aber. Dann ist der Staat gezwungen stillzuhalten und darf nicht weitergehen. Ich meine, Sie gehen in Ihrem Bestreben, die Pressefreiheit zu schützen, zu weit. Sie sagen auch, dass in den Fällen, in denen sich ein Journalist durch den Erwerb des Informationsmaterials selbst strafbar gemacht hat oder einen anderen deckt, der Zugriff des Staates nicht erlaubt ist, wenn der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt ist. ({5}) Sie schreiben dies ausdrücklich in das Gesetz hinein. ({6}) - Ja, lieber Herr Ströbele. Dadurch aber besteht die Gefahr, dass der ermittelnde Beamte seiner Verpflichtung, im konkreten Fall zu ermitteln, aus Angst, er könne gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen, nicht nachkommt. Ich glaube, Herr Meyer, ({7}) dass es ausreicht, dass dieses Prinzip in § 73 der Richtlinien für Strafverfahren und Bußgeldverfahren festgelegt ist. Es muss nicht eigens ins Gesetz hineingeschrieben werden. Aber noch aus einem weiteren Grund meine ich, dass Sie in diesen Fällen zu weit gehen. Sie sagen: Die Beschlagnahme hat zu unterbleiben, wenn nicht feststeht - das ist das Problem -, dass der konkrete Sachverhalt nicht auch auf andere Weise ermittelt werden kann. So werden Sie jeden Polizeibeamten, jeden Staatsanwalt in einen Rechtfertigungszwang bringen. Weil er vermeiden will, in einen solchen Rechtfertigungszwang zu geraten, wird er erst gar nicht ermitteln. ({8}) Das ist das Problem. Deswegen, lieber Herr Ströbele, habe ich Bedenken. Ich will ja nicht sagen, dass das alles verkehrt ist, was Sie machen. Aber ich habe hier ernsthafte Bedenken. Auch bei dem Beweiserhebungsverbot habe ich Bedenken. Ich sehe eigentlich nicht ein, warum die Aussage eines Journalisten vor einem anderen Gericht - diese Aussage ist damit objektiviert, im Protokoll festgehalten nicht in einem Strafverfahren verwendet werden kann. Das ist für mich nicht mehr einsichtig. Hier gehen Sie nach meiner Auffassung zu weit. Mir kommt das Bild von der Justitia in den Sinn, deren Augen verbunden sind, aber nicht, weil sie ohne Ansehen der Person zu richten hat, sondern ganz offensichtlich deshalb, weil sie ihre Augen vor der Erkenntnis der Wahrheit verschließen muss. Das, meine ich, sollte nicht der Fall sein. Deswegen teile ich die Bedenken des Bundesrates. Ich teile die Bedenken der Justizministerkonferenz. Ich teile auch die Bedenken des Juristentages von 1998. Ich glaube, dass wir, alles in allem gesehen, im Augenblick eine Gesetzeslage haben, die durchaus dem Anspruch der Pressefreiheit gerecht wird. Ich meine, dass es nicht notwendig ist, das Gesetz zu ändern. Sie haben das Gutachten des Max-Planck-Instituts zitiert. In ihm steht nicht, dass die Presse in einem anderen Land eine bessere Stellung hätte. Das war die eigentliche Frage, die wir gestellt hatten. In der Antwort der Bundesregierung, in der auch das Gutachten des Max-Planck-Instituts zitiert wird, wird ausgeführt, dass es keine ausreichenden rechtstatsächlichen Untersuchungen gibt, aus denen folgte, dass das bestehende Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten nicht ausreichte. Auch das Verfassungsgericht hat in seinem Urteil von 1987 erklärt: Wir haben eine ausreichende Gesetzeslage; wir brauchen sie nicht zu ändern. Meine Damen und Herren, Sie müssen sich schon die Frage stellen, ob es nicht gewichtige Argumente gegen die Gesetzgebungsvorhaben sowohl der F.D.P. als auch der Regierungskoalition gibt. Ich bitte Sie, auch diese Gegenargumente bei der Beratung hinreichend zu beachten. Danke schön. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In einem Punkt gebe ich dem lieben Kollegen Geis Recht: ({0}) Dieses Gesetz ist so gut, dass es in einer früheren Stunde in diesem Haus hätte verhandelt werden müssen und es auch verdient hätte, von mehr Abgeordneten behandelt und diskutiert zu werden. ({1}) In dem Punkte haben Sie Recht. Dies ist nämlich ein guter Tag nicht nur für Journalisten, sondern für die vierte Gewalt im Staate insgesamt, für die Rechtskultur und für die Presse und die Medien in diesem Lande. Denn es geht nicht nur um Journalisten und auch nicht nur um die Informanten, um die Gewährsleute von Journalisten, sondern auch darum, die Presse - dazu gehören natürlich die gedruckte Presse und die Journalisten, die ihr zuarbeiten, aber auch die anderen Medien wie Rundfunk und Fernsehen - in die Lage zu versetzen, ihr Wächteramt in diesem Staate wirksam auszuüben. Dazu müssen sie sicher sein, dass sie frei von jeglicher staatlicher Repression sind. Sie dürfen nicht fürchten müssen, dass sie etwa einen Informanten preisgeben müssen. Das ist heute schon geregelt. Aber auch das, was sich ein Journalist aufschreibt, notiert oder mit der Kamera aufnimmt, darf nicht nachher von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt werden können. Der Journalist darf nicht gezwungen werden können, vor Gericht darüber Zeugnis abzulegen. Die Informationen, die er zu Hause verwahrt, dürfen nicht gegen einen Angeklagten in einem Strafverfahren benutzt werden. Nur wenn sichergestellt ist - dazu hat sich das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen klar geäußert -, dass die Quellen der Information für alle Journalisten und Medien im Verborgenen sprudeln können, können die Journalisten, die Presse und die Medien ihr Wächteramt in diesem Staate wirksam ausüben. Um den unsinnigen Streit darüber zu beenden, was selbst recherchiertes Material und was von einem Informanten zur Verfügung gestelltes Material ist, und ihn obsolet zu machen, haben wir diesen Gesetzentwurf vorgelegt. Danach können in Zukunft Journalisten grundsätzlich für sich dasselbe Recht in Anspruch nehmen, das auch die Abgeordneten, die Rechtsanwälte, die Ärzte und die Geistlichen für sich in Anspruch nehmen: Sie brauchen zu dem, was sie erfahren oder selbst herausgefunden haben, vor Gericht keinerlei Aussage zu machen. Herr Kollege Geis, es ist nicht so, dass die Journalisten nicht aussagen dürfen, aber sie müssen nicht. Das heißt, der Journalist muss verantwortlich abwägen, wie er sich in einem Strafverfahren verhält. Obwohl er das Recht zur Aussageverweigerung hat, kann er im Interesse des Angeklagten, im Interesse der Wahrheitsfindung oder um zu verhindern, dass das Gericht einen falschen Kurs einschlägt, trotzdem eine Aussage machen. Es geht nicht darum, die Quelle völlig zu verschließen, sondern dem Journalisten soll die Sicherheit gegeben werden, dass es allein von ihm abhängt, ob er Informationen, die er bei sich zu Hause gesammelt hat - sei es von einem Informanten, sei es von ihm selbst -, preisgibt. Ein Geistlicher darf über das, was er im Rahmen des Beichtgeheimnisses, im Rahmen von Gesprächen oder als Geistlicher sonst erfahren hat, vollständig die Aussage verweigern. ({2}) - Ich bin dafür, dass dies erhalten bleibt. ({3}) Auch die freie Ausübung der Religion soll gesichert sein. Das ist der Hintergrund, warum der Staat dem Geistlichen dieses Recht zugesteht. ({4}) Genauso wichtig ist für uns aber auch ein Funktionieren der Presse und des Journalismus in diesem Staate. Deshalb wollen wir dieses umfassende Zeugnisverweigerungsrecht auch für Journalisten einführen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, natürlich.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ströbele, würden Sie mir zustimmen, dass der Geistliche, der etwas ihm im Beichtstuhl Anvertrautes nicht weitergeben kann, genau dasselbe Recht wie der Journalist hat, der von einem Informanten eine Information bekommen hat? Auch ihn schützen wir. Deshalb genießt der Geistliche genau denselben Schutz. Mehr beanspruchen wir für den Geistlichen gar nicht.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist nicht zutreffend, Herr Kollege Geis, ({0}) weil auch beim Geistlichen nicht nur das geschützt ist, was er im Beichtstuhl erfährt oder was ihm von einem Gläubigen zugetragen wird, sondern auch das, was er selber in diesem Zusammenhang in Erfahrung bringt. All das, was er in seiner Tätigkeit als Geistlicher erfährt, ist geschützt. ({1}) Deshalb ist es richtig, hier eine Gleichsetzung vorzunehmen. Herr Kollege Geis, es geht bei dem umfassenden Zeugnisverweigerungsrecht - ich wende mich auch an den abwesenden Kollegen van Essen ({2}) vor allen Dingen um die „kleineren“ Fälle, nicht um schwere oder schwerste Straftaten oder Verbrechen, sondern nur um Vergehen oder Übertretungen. Dabei ist es von ganz entscheidender Bedeutung, dass wir die Strafmaßstäbe, die das Strafgesetzbuch heute vorsieht, für das Zeugnisverweigerungsrecht übernehmen. Wir wollen nicht, dass der jeweilige Gesetzgeber immer wieder neu überlegen muss, warum die eine oder andere Straftat zwar kein Verbrechen, aber doch so schwerwiegend ist, dass ein Zeugnisverweigerungsrecht dabei nicht in Betracht kommt. Außerdem wollen wir - und das aus gutem Grunde das Zeugnisverweigerungsrecht auch dann zubilligen, wenn der Journalist für nicht periodische Druckwerke arbeitet. Das betrifft gerade jene, die an einem Film oder einem Buch mitarbeiten. Wir wollen keinen Unterschied machen zwischen dem einen und dem anderen, wollen hier nicht die Abwägung vornehmen müssen, ob nun das periodische Druckerzeugnis wichtiger und wertvoller ist als das einmalig erscheinende. Wenn ein Journalist ({3}) ein Buch über Fakten, Tatsachen, beispielsweise jetzt über bestimmte Affären, die das Land beschäftigen, schreibt, dann soll er genauso geschützt sein, als wenn er einen Artikel in einer Zeitung, einer Zeitschrift oder im Rundfunk veröffentlichen würde. Deshalb ist es richtig und wichtig, das Zeugnisverweigerungsrecht darüber hinaus auszudehnen. Es soll jetzt für alle berufsmäßig als Journalisten arbeitende Personen gelten. Das ist die Einschränkung, Herr Kollege Geis. Insofern stimmt Ihr Argument nicht, dass wir jedem dieses Zeugnisverweigerungsrecht zubilligen. Vielmehr kommt es auf das berufsmäßige Ausüben an. Ich verhehle nicht, dass ich in der Anhörung zusätzliche Argumente von Sachverständigen vernommen habe, die wir in die Diskussion im Rechtsausschuss einfließen lassen sollten, etwa jenes, dass ein Verwertungsverbot dann nicht gelten sollte, wenn Gegenstände beschlagnahmt worden sind, weil ein Journalist im Verdacht stand, an einer Straftat beteiligt gewesen zu sein. Anders ist es, wenn aber der Tatverdacht später entfällt, wenn er beispielsweise freigesprochen oder das Verfahren eingestellt wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege!

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir sollten uns auch überlegen, ob die Anordnung für Durchsuchungen von einem Einzelrichter vorgenommen werden kann oder ob es nicht richtiger und wichtiger ist, dass dies Strafkammern tun. Letztlich will ich den Gedanken aufnehmen, der schon im F.D.P.-Entwurf enthalten ist, ob für die Beschlagnahme nicht tatsächlich ein dringender Verdacht, der Verdacht der Teilnahme des Journalisten an einer Straftat, gegeben sein muss.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist vorbei.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Über all diese Vorschläge werden wir Überlegungen anstellen. Ich möchte einen bekannten Ausspruch des Fraktionsvorsitzenden der SPD aufnehmen und hoffe: Ein Gesetz geht in den Bundestag, kommt aber nicht so heraus, wie es hineingekommen ist. Ich wünsche uns allen gute Beratung. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Angela Marquardt.

Angela Marquardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003191, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier schon einmal über den F.D.P.-Entwurf diskutiert. Schon bei dieser Gelegenheit habe ich zum Ausdruck gebracht, dass ich die Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechtes durchaus begrüße, dass aber der umfangreiche Ausnahmekatalog, den Sie angehängt haben, Ihren Gesetzentwurf ein bisschen ad absurdum führt, weil es natürlich nur in schweren Fällen zur Hausdurchsuchung oder auch zur Beschlagnahme kommt. Es geht nicht um Schwarzfahren oder Beleidigung, sondern immer um Verbrechen, nämlich um Terrorismus, Mord, Bestechung und auch Hochverrat. Jetzt liegt der Regierungsentwurf vor. Ich hatte damals meiner Hoffnung Ausdruck gegeben, dass er besser wird. Aber ich will Ihre Freude doch ein wenig dämpfen, weil auch hierin Dinge enthalten sind, die - wie auch in der Anhörung zum Ausdruck kam - durchaus Fragen offen lassen. Ich finde nicht, dass er besser ist. Eine Synopse aus beiden Entwürfen könnte sicherlich etwas Gutes bringen. Es geht ja jetzt in die Beratung. Sie haben statt eines umfangreichen Ausnahmekataloges in Ihrem Gesetzentwurf den kleinen, unauffälligen Satz, dass Ausnahmen vom Zeugnisverweigerungsrecht dann möglich sind, wenn sich die polizeilichen Ermittlungen um ein Verbrechen drehen, das heißt um ein Delikt mit einer Strafandrohung von einem Jahr und mehr. Es stimmt, dass Kataloge - wie bei der F.D.P. - mehr Willkür bedeuten als die eindeutige Regelung in Ihrem Entwurf, aber in der Praxis wird das kaum einen Unterschied machen. Herr Ströbele, das muss ich Ihnen sicherlich nicht sagen. Ich möchte Sie zitieren: Machen Sie den Journalisten einmal klar, dass das Material, das sie in wirklich wichtigen Fällen, in denen es um Spionage, um kriminelle Vereinigungen oder um schwere Straftaten geht, erarbeitet und in ihrem Schreibtisch liegen haben, nicht frei von Beschlagnahme ist. Ich denke - so haben Sie damals gesagt -, dass sie gerade in diesen Fällen geschützt werden müssen. Das denke ich auch. Allerdings denke ich, dass sie durch Ihren Entwurf nicht geschützt sind. Spionage und schwere Straftaten gemäß § 129 Strafgesetzbuch fielen auch nach Ihrem Gesetzentwurf unter die Ausnahmeregelung, denn hier handelt es sich um Verbrechen. Deswegen erschließt sich für mich der Vorteil dieses Entwurfs nicht. In einem anderen Punkt ist der Regierungsentwurf in meinen Augen sogar schlechter als der der F.D.P. Das ist hier im Zusammenhang mit dem einfachen und dem dringenden Tatverdacht schon angeklungen, denn bekanntlich sind schon heute Beschlagnahmen bei Journalisten möglich, wenn der betroffene Journalist selbst der Tat verdächtigt wird. Nach dem Regierungsentwurf soll schon der einfache Tatverdacht ausreichen. Das scheint in meinen Augen - Sie haben selbst etwas dazu gesagt - sehr bedenklich. Die Anhörung im Rechtsausschuss hat gezeigt, dass Vertreter der Medien und Wissenschaftler in diesem Punkt allesamt dem F.D.P.-Entwurf den Vorrang geben. Ich denke, diese Meinungen sind nicht unbedeutend. Der Justitiar des Deutschen Journalisten-Verbandes bezeichnete in diesem Punkt den F.D.P.-Entwurf als erheblich besser. Auch der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger hat den Regierungsentwurf als nicht weitgehend genug kritisiert. Ich denke, man kann sich diesem Urteil der Experten durchaus anschließen. Beide Vorlagen, die wir heute beraten, gehen nicht weit genug. Gerade auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird immer wieder hingewiesen; er ist auch im Regierungsentwurf erwähnt. Es ist bereits jetzt so, dass die Verhältnismäßigkeit zu beachten ist. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass sich die Strafverfolger darum nicht unbedingt scheren. Im Grunde genommen wissen wir alle, dass der Anspruch der Verhältnismäßigkeit immer verhältnismäßig unverbindlich ist. Das ist das Problem an der Sache. Dennoch bin ich der Meinung, dass beide Gesetzentwürfe in die richtige Richtung gehen. Die Ausdehnung des Zeugnisverweigerungsrechts auf selbst recherchiertes Material, auf nicht periodische Druckwerke und auf elektronische Publikationen ist in meinen Augen überfällig und ich bin froh, dass es in dieser Frage endlich Bewegung gibt. Ich hoffe, dass in den Ausschüssen noch die eine oder andere Änderung vorgenommen wird. Wir werden das sehen. Was aber auf gar keinen Fall sein darf - das klang bei Ihnen, Herr Geis, ein bisschen an -: Journalisten sind keine Helferinnen und Helfer der Polizei. ({0}) Sie passen auf und achten auf die Exekutive und die Legislative. Es ist ihr Auftrag, etwas öffentlich zu machen, und nicht, anderen bei ihren Ermittlungen zu helfen. Wir haben in der Bundesrepublik eine Gewaltentrennung. Wenn dieser Gesetzentwurf nach ein paar Änderungen gut wird, ist das ein guter Tag für die Gewaltenteilung. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, es besteht ein hohes Maß an Übereinstimmung in der Beurteilung der Aufgabe unserer Presse und der damit verbundenen Pressefreiheit nach Art. 5 unserer Verfassung. Es ist auch richtig, dass die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Medien für unsere Demokratie schlechthin konstitutiv oder konstituierend ist, wie es Herr Meyer vorhin gesagt hat. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht so ausgedrückt, und zwar aus gutem Grund: Allein unabhängige, von staatlichem Zwang freie Medien garantieren ein breites Spektrum veröffentlichter Meinungen und davon lebt die politische Willensbildung. Nicht weniger wichtig - auch das ist angesprochen worden - ist die Wächterfunktion der Medien. Häufig ist es Journalistinnen und Journalisten zu verdanken, dass verborgenes, zum Teil rechtswidriges oder gar kriminelles Handeln an das Licht der Öffentlichkeit dringt. Insofern schützt Art. 5 des Grundgesetzes die Freiheit von Presse und Rundfunk umfassend, und zwar von der Beschaffung von Informationen bis zur Verbreitung von Nachrichten und Meinungen. ({0}) - Geschützt, lieber Herr Geis, ist somit neben dem Vertrauensverhältnis zwischen dem Journalisten und seinem Informanten auch die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit, einschließlich des Ergebnisses eigener Recherche. Das ist für die Verwirklichung dieses Grundrechts unabdingbar. Diese Freiheit darf auch aus Gründen der Strafverfolgung nicht ausgehöhlt werden. Auf der Ebene des einfachen Rechts räumt die Strafprozessordnung den Journalisten bislang ein Zeugnisverweigerungsrecht nur für die von Dritten zugetragenen Informationen ein. Dieses Recht ist darüber hinaus bisher auf die Vorbereitung, Herstellung oder Verbreitung ganz bestimmter Medienerzeugnisse beschränkt: nur auf periodisch erscheinende Druckwerke, zum Beispiel Zeitungen, und Rundfunksendungen. Das ist nach unserer Auffassung einfach zu eng. Weil die Beschlagnahmeverbote vom Umfang des Zeugnisverweigerungsrechts abhängig sind, kann deshalb grundsätzlich auch selbst recherchiertes Material beschlagnahmt werden. Informationen, die für ein Buch von Bedeutung sind oder die einer Veröffentlichung in den elektronischen Medien dienen, können sogar voll umfänglich, das heißt auch dann, wenn es sich um von einem Informationsdienst oder Informanten zugetragene Erkenntnisse handelt, sichergestellt werden. Diesen Zustand wollen wir angesichts des verfassungsrechtlichen Stellenwertes und im Sinne eines umfassenden Schutzes der Medienfreiheit ändern. Er führt heute zu Unsicherheiten bei der Rechtsanwendung durch die Staatsanwaltschaften und die Gerichte. Dazu hat übrigens auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beigetragen. Es hat festgestellt, dass sich ein Beschlagnahmeverbot im Einzelfall unmittelbar aus der Verfassung ergibt, und zwar über die Bestimmung der Strafprozessordnung hinaus. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Voraussetzungen, unter denen sich ein solches Recht ergibt, definieren, weil sie von den Strafverfolgungsbehörden nicht immer sicher bestimmt werden können. ({1}) Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung stärkt das Zeugnisverweigerungsrecht von Journalisten, ohne dass dadurch die Wirksamkeit der Kriminalitätsbekämpfung Schaden nehmen würde. Er schafft - das habe ich schon gesagt - ein Mehr an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit und legt gleichzeitig fest, wann der Journalist zur Aufklärung schwerer Straftaten trotz des verfassungsrechtlich geschützten Redaktionsgeheimnisses beitragen muss. Erstmals wird ein Recht auf Zeugnisverweigerung auch den Journalisten eingeräumt, die bei nicht periodisch erscheinenden Druckwerken mitwirken, also zum Beispiel bei Büchern, bei Filmberichten oder bei Informations- und Kommunikationsdiensten, die der Unterrichtung und der Meinungsbildung dienen, und zwar berufsmäßig, wie ich hervorheben möchte. Mit dieser Erweiterung wird endlich der Ungleichbehandlung gleichwertiger Medienerzeugnisse ein Ende gesetzt. Zugleich wird mit der Einbeziehung von Informations- und Kommunikationsdiensten neuen Formen der Informationsvermittlung und der Meinungsbildung Rechnung getragen. Presse- und Rundfunkfreiheit werden somit auch in der hoch technologisierten Mediengesellschaft der Zukunft effektiv geschützt bleiben. Ein weiterer wichtiger Punkt: In Zukunft wird das selbst recherchierte Material grundsätzlich nicht mehr dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden unterliegen. Allerdings zieht der Gesetzentwurf auch hier eine klare Grenze: Ein Journalist, der aufgrund selbst recherchierter Erkenntnisse zur Aufklärung eines Verbrechens, also einer Straftat, die mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsentzug bedroht ist, beitragen kann, muss dieses Wissen als Zeuge den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung stellen. ({2}) Ich finde, dass dies eine ebenso praxistaugliche wie nachvollziehbare Abwägung zwischen der Pressefreiheit und den Belangen einer effektiven Strafverfolgung darstellt. In der Tat ist es so, dass man diese Abwägung sehr sorgfältig vornehmen muss. Ich bin überzeugt, dass wir in den Beratungen in den zuständigen Ausschüssen auf diese Fragen noch ausführlich zu sprechen kommen werden. Ich möchte zum Schluss noch einen Blick - das ist schon vorhin kurz angedeutet worden - auf unsere europäischen Nachbarn werfen, von denen einige in letzter Zeit den Schutz des Redaktionsgeheimnisses im Interesse freier Medien gestärkt haben. Ich denke hier insbesondere an die Schweiz mit ihrem Strafverfahrensrecht aus dem Jahre 1998. Auch in den Niederlanden ist die Rechtsprechung seit kurzem dazu übergegangen, die Unterscheidung zwischen zugetragenen und selbst recherchierten Erkenntnissen grundsätzlich aufzugeben. Ich kann also sagen, dass wir uns mit dem Gesetzentwurf auf einem weithin anerkannten europäischen Standard bewegen. Die Stärkung des Zeugnisverweigerungsrechts von Journalisten ist nicht zuletzt in diesem europäischen Kontext ein wichtiges rechtspolitisches Reformvorhaben. Der Ihnen vorliegende Gesetzentwurf setzt die Freiheitsgarantien des Grundgesetzes für Rundfunk und Presse in das Strafverfahrensrecht um. Er trägt aber auch dem berechtigten Anspruch der Menschen auf wirksame Verbrechensbekämpfung Rechnung. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5166 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 sowie die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: 9. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz - Drucksachen 14/4884, 14/5462 Berichterstattung: Abgeordnete Rudolf Bindig Claudia Roth ({1}) Carsten Hübner ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Stärkeres deutsches Engagement auf der 57. Sitzung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen - Drucksache 14/5452 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({3}) Auswärtiger Ausschuss ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Sabine LeutheusserSchnarrenberger, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Deutsche Initiative zum Schutz der Binnenvertriebenen - Drucksache 14/5453 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({4}) Auswärtiger Ausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine halbe Stunde für die Aussprache vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Lilo Friedrich.

Lilo Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am heutigen Internationalen Frauentag gibt es einen besonderen Grund zu feiern. Der Internationale Frauentag wird 90 Jahre alt. Seit neun Jahrzehnten begehen Frauen in aller Welt am 8. März einen frauenpolitischen Aktionstag, um ihren Forderungen nach Gleichstellung öffentlichkeitswirksam Nachdruck zu verleihen und ihr Engagement für internationale Solidarität zu bekunden. ({0}) Der heutige Tag ist aber kein Anlass zu feiern, wenn wir unser Augenmerk auf die Situation der Flüchtlinge richten; denn in vielen Ländern der Welt bleiben Frauen die Rechte und Chancen, die wir in den Industrieländern erkämpft haben, noch immer versagt. Sie fliehen, weil Leib und Leben in Gefahr sind. Sie fliehen, weil sie politisch verfolgt werden oder weil sie Opfer von geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen sind. Sie fliehen vor nichtstaatlichen Akteuren und aus zerfallenen Staaten. Unsere Aufgabe ist es, Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Hierzu wollen wir mit unserem Antrag, den wir heute beraten, einen wichtigen Beitrag leisten. ({1}) Er resultiert nicht zuletzt aus den Folgerungen, die wir durch die Anhörung des Menschenrechtsausschusses zur nichtstaatlichen Verfolgung gewinnen konnten. Die Vorsitzende des Ausschusses wird heute zum letzten Mal in dieser Funktion im Deutschen Bundestag reden. Liebe Claudia, für dein engagiertes und mutiges Eintreten für die Belange der Menschenrechtspolitik möchte ich dir stellvertretend für den Ausschuss heute herzlich danken. ({2}) Wir alle wünschen dir für deine zukünftigen Aufgaben viel Glück. Ich bin sicher, wir werden heute nicht das letzte Mal für gemeinsame Ziele streiten. Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz, so lautet die Kernaussage unseres Antrages. Um dieser Anforderung gerecht werden zu können, sind uns mehrere Punkte wichtig. Bei der Definition des Flüchtlingsbegriffs hat sich in Deutschland eine Rechtsprechung entwickelt, nach der die Verfolgung vom Staat ausgehen oder ihm zurechenbar sein muss. Aber immer mehr Menschen auf der Welt flüchten vor nichtstaatlicher Verfolgung. In einigen Ländern haben sich zentralstaatliche Strukturen aufgelöst. An ihre Stelle sind völkerrechtlich nicht anerkannte, quasistaatliche Strukturen getreten. Ein Beispiel hierfür ist Afghanistan. Zurzeit richtet sich das Augenmerk der Weltöffentlichkeit vor allem auf die sinnlose Zerstörung der Kulturschätze dieses Landes. Wir dürfen darüber aber nicht vergessen, dass es vor allem Menschen sind, die in diesem Land leiden müssen. Menschen, die das Taliban-Regime als politisch und religiös Andersdenkende einordnet, werden verfolgt und müssen um Leib und Leben fürchten. In besonderem Maße sind hiervon Frauen betroffen. Sie haben keine Möglichkeit, arbeiten zu gehen, werden ins Haus gesperrt und sind häufig Opfer von gesellschaftlich bedingter geschlechtsspezifischer Verfolgung. Oft sehen Frauen Flucht als einzige Möglichkeit an, diesen Qualen zu entgehen. Sie fliehen dann aber vor Verfolgungen, die nicht unmittelbar vom Staat ausgehen. Um Menschen wie sie geht es, wenn wir von nichtstaatlich Verfolgten sprechen. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist der Schutz eines Flüchtlings oberstes Ziel. Sie besagt, dass kein Flüchtling in ein Land zurückgeschickt werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht sind. Nach dieser Schutztheorie ist es unerheblich, ob der Urheber der Verfolgung staatlich oder nichtstaatlich ist. Es kommt allein auf den fehlenden Schutz an. ({3}) In Deutschland erhalten nichtstaatlich Verfolgte bislang allenfalls den Status der Duldung; das heißt, sie werden nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Das heißt aber auch: Ein solcher Status bietet keine planbare Zukunftsperspektive. Aus menschenrechtlicher Sicht halten wir es deshalb für notwendig, dass auch diesen Flüchtlingen Schutz vor Abschiebung gewährt wird und dass geduldete Flüchtlinge, für die eine Rückkehr in ihr Herkunftsland eine besondere Härte darstellen würde, leichter eine Aufenthaltsbefugnis erhalten sollen. ({4}) Bei den Entscheidungen über Abschiebehindernisse nach § 53 Ausländergesetz sollte unserer Meinung nach auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stärker berücksichtigt werden. Einen entscheidenden Schritt hin zu einer verbesserten Situation der Flüchtlinge in unserem Land haben wir bereits mit der stärkeren Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Verfolgung durch die Änderung der Verwaltungsvorschriften erreicht. In der Praxis geht das hin bis zu Regelungen in Dienstvorschriften. Meine Damen und Herren, seit Amtsbeginn der rotgrünen Regierung hat sich in der Flüchtlings- und Ausländerpolitik schon vieles positiv bewegt. Das zeigt sich nicht nur auf politischer Ebene. Auch der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur politischen Verfolgung vom August letzten Jahres hat eine wichtige Fortentwicklung der deutschen Rechtsprechung eingeleitet. Erst vor wenigen Tagen ist das Bundesverwaltungsgericht dieser Auffassung gefolgt. Damit wird zukünftig für Bürgerkriegsflüchtlinge die Anerkennung von Asyl nicht mehr von vornherein - mangels staatlicher Strukturen - ausgeschlossen. Neben Afghanistan könnte diese neue Rechtsprechung auch Fälle aus Nordirak und Somalia betreffen. Allerdings bedeutet das nicht, dass generell ein Anspruch auf Asyl besteht. Die Verfolgung ist auch weiterhin im Einzelfall nachzuweisen. Es wird nun darauf ankommen, die Möglichkeiten zu prüfen, die durch den Beschluss eröffnet wurden. Ermutigend ist, dass sich insbesondere durch die neue Leitung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge unter dem neuen Präsidenten, Herrn Dr. Schmid, eine positive Entwicklung abzeichnet. ({5}) Die Tendenz zu mehr Offenheit gegenüber nichtstaatlich oder geschlechtsspezifisch verfolgten Flüchtlingen begrüßen wir ausdrücklich. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ein dringender Schutzbedarf besteht. Die Innenministerkonferenz hat den interfraktionellen Antrag zu den humanitären Grundsätzen der Flüchtlingspolitik, den wir im Juli einstimmig verabschiedet haben, im November vergangenen Jahres positiv aufgegriffen, und zwar insofern, als nun schwer traumatisierte Bosnier und Bosnierinnen weiter in Deutschland bleiben dürfen. Fortgeführt wurde diese richtungsweisende Entscheidung vor drei Wochen. Die Innenministerkonferenz hat am 15. Februar beschlossen, bosnischen Flüchtlingen unter bestimmten Voraussetzungen ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland einzuräumen. Damit wird unserem Anliegen entsprochen, eine seit langem geforderte Lösung für die bosnischen Flüchtlinge zu finden. Dies ist meiner Meinung nach eine gute Lösung, denn sie berücksichtigt humanitäre Gesichtspunkte. ({6}) Wir begrüßen ausdrücklich die Initiativen von Bundesinnenminister Otto Schily und die nun erzielte Einigung mit den Innenministern und mit den Senatoren der Länder. ({7}) Es ist sehr zu hoffen, dass auf der nächsten Innenministerkonferenz im Mai eine ähnlich gute Lösung für Flüchtlinge aus dem Kosovo beschlossen werden kann. ({8}) Lassen Sie mich abschließend den Blick noch einmal auf die konkrete Situation in unserem eigenen Land lenken: Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland treffen jene Menschen besonders schmerzlich, die als Flüchtlinge hierher gekommen sind, auf der Suche nach Schutz. Ein Leben in Angst vor Diskriminierung und gewalttätigen Attacken ist unwürdig. Ob Deutschland seinem Anspruch als ein menschliches und weltoffenes Land dauerhaft gerecht wird, hängt wesentlich auch davon ab, ob es gelingt, Flüchtlinge und Einwanderer sozial zu integrieren. Dies ist eine der großen gesellschaftspolitischen Aufgaben unserer Zukunft. ({9}) Daher kann ich als waschechte Rheinländerin ({10}) die jüngsten Äußerungen des CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden, Friedrich Merz, nur als schlechten Karnevalsscherz werten, ({11}) Lilo Friedrich ({12}) der ein Verbot der politischen Betätigung von Asylbewerbern gefordert hat. Dies bedeutet im Klartext, dass Augenzeugen von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mundtot gemacht werden sollen. ({13}) Flüchtlinge, die ihr Leben mit knapper Not retten konnten, sollen nach dem Willen von Merz schweigend zusehen, wie ihre Angehörigen und Freunde ermordet, bombardiert, vergewaltigt und vertrieben werden. Das ist unzumutbar. ({14}) Politische Beteiligung ist ein Grundrecht in der Demokratie, auch für Flüchtlinge, Herr Merz. Stellen Sie sich vor, Thomas Mann und mit ihm vielen anderen Schriftstellern, die während des Nationalsozialismus ins Exil gingen, wäre es verboten gewesen, ihre Kritik an Hitler und am Dritten Reich zu äußern. Die Erfahrungen aus der Geschichte haben uns gelehrt, dass das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl ein kostbares Gut ist, das auch in Zukunft gewährleistet werden muss. Es ist aber auch unsere Aufgabe, sämtliche Formen von Fremdenfeindlichkeit entschlossen zu bekämpfen. Wir müssen für Verständnis und Toleranz gegenüber Flüchtlingen werben und wir müssen für einen humanen Flüchtlingsschutz eintreten. Um den Weg dahin beschreiten zu können, appelliere ich an alle Fraktionen des Deutschen Bundestags, unserem Antrag zuzustimmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der heute zur Entscheidung anstehende Antrag der Regierungsfraktionen „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“ wurde aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Amtes des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, UNHCR, eingebracht. Die Arbeit des UNHCR wird in diesem Antrag dargestellt und gewürdigt; dem UNHCR wird für seine Leistung höchster Respekt bezeugt. Dieser Wertschätzung des UNHCR möchte ich mich für die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion ausdrücklich anschließen. Der stellvertretende Vorsitzende unseres Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Christian Schwarz-Schilling, hat am 7. Dezember in einer Debatte dieses Hauses die Arbeit des UNHCR, insbesondere die der früheren Hochkommissarin Ogata, mit Worten gewürdigt, die Ihrer aller Zustimmung gefunden haben. Wir wünschen auch ihrem Nachfolger, dem niederländischen Christdemokraten Ruud Lubbers, allen nur erdenklichen Erfolg bei seiner Arbeit zur Linderung der Not von Flüchtlingen in aller Welt. ({0}) In einem gemeinsamen Antrag der Regierungsfraktionen und der Oppositionsfraktionen CDU/CSU und F.D.P. „Die Vereinten Nationen an der Schwelle zum neuen Jahrtausend“ wird die Bundesregierung ausdrücklich aufgefordert, sich für eine Stärkung des UNHCR einzusetzen. Geht es um Flüchtlingspolitik - Sie, Frau Kollegin Friedrich, haben darauf hingewiesen -, besteht auch Anlass, an den hier seinerzeit einstimmig verabschiedeten Gruppenantrag „Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten“ zu erinnern und den Initiatoren zu danken. Indem die Innenminister dem damaligen Appell, gerade Traumatisierten und anderen hier ein Bleiberecht einzuräumen, gefolgt sind, hat, wie es der deutsche Vertreter des UNHCR zu Recht ausdrückte, „die beeindruckende Geschichte der Aufnahme und Rückkehr der bosnischen Flüchtlinge ihren würdigen Abschluss gefunden“. Trotz dieser von mir bewusst an den Anfang gestellten Gemeinsamkeiten besteht unseres Erachtens dennoch kein Anlass, Ihrem heute vorliegenden Antrag „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“ zuzustimmen. Dieser Antrag bleibt in wichtigen konkreten Fragen der Flüchtlingspolitik bewusst schwammig, um Gegensätze in der Koalition wie auch zwischen den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zu übertünchen. Grundlegende Meinungsverschiedenheiten zwischen der Bundesregierung und den Antragstellern gibt es schon bei der Beurteilung zentraler Sachverhalte. Dies zeigte sich auch im anlässlich der gestrigen Beratung im federführenden Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe stattfindenden Gespräch mit Ihnen, Frau Staatssekretärin Dr. Sonntag-Wolgast. Lassen Sie mich dies konkretisieren - Stichwort „nichtstaatliche Verfolgung“ -: Am 29. November 1999 fand zu diesem Thema eine öffentliche Anhörung des Menschenrechtsausschusses statt. Mehr als ein Jahr danach ziehen die Koalitionsfraktionen nun die Konsequenzen und stellen fest, dass nichtstaatlich Verfolgten allenfalls der Status der Duldung zugesprochen werde, der ihnen aber keine planbare Zukunftsperspektive biete. Dagegen stellte Presseberichten zufolge Bundesinnenminister Schily erst im Februar anlässlich eines Treffens der EU-Innen- und -Justizminister in Stockholm fest, er lehne es ab, auch nichtstaatliche Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen. Sie, Frau Staatssekretärin, bestritten aber in der gestrigen Sitzung, dass es eine Schutzlücke gibt, und wiesen darauf hin, dass auch bei Opfern nichtstaatlicher Verfolgung eine Verfestigung ihres Aufenthaltsrechts dahin gehend möglich sei, dass ihnen eine Befugnis nach § 30 des Ausländergesetzes erteilt wird. Damit erklärten Sie die zitierte Aussage des Antrags für schlicht unzutreffend. So vage im Antrag die Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes ist, so unklar bleibt die als Auffassung Lilo Friedrich ({1}) - nicht etwa als Forderung; denn dann könnte man es ja nachprüfen - vorgetragene Meinung, es solle den Opfern nichtstaatlicher Verfolgung Abschiebeschutz gewährt werden. Ein solcher Abschiebeschutz wird den Opfern nichtstaatlicher Verfolgung auch heute schon nach § 53 Abs. 6 des Ausländergesetzes gewährt, wobei die Rechtsprechung ein zwingendes Abschiebehindernis jedenfalls dann annimmt, wenn andernfalls den Betroffenen eine unmittelbar bevorstehende Gefahr für Leib oder Leben droht. Wenn Sie für die Opfer nichtstaatlicher Verfolgung eine Anwendung des § 51 des Ausländergesetzes, das so genannte kleine Asyl, wollen, dann müssen Sie dies sagen. Wenn Sie darüber hinaus für eine derartige Anwendung des § 51 des Ausländergesetzes eine Gesetzesänderung für notwendig halten, wie es gestern in einer Pressemitteilung des UNHCR in Deutschland für erforderlich erklärt wurde, dann müssen Sie auch dies klar sagen. ({2}) Beispiel: geschlechtsspezifische Verfolgung. Sie fordern, geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen - an diesem Tag besteht aller Anlass, gerade daran zu erinnern -, für die es in der Tat schreckliche Beispiele in wahrlich großer Zahl gibt, stärker zu berücksichtigen, ({3}) ohne aber zu erläutern, wo Sie nach der Veränderung der allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 53 des Ausländergesetzes heute noch einen konkreten Mangel sehen. Nach der gestern im Menschenrechtsausschuss vorgetragenen Auffassung der Bundesregierung stellen die geänderten Verwaltungsvorschriften und die sicherlich von uns allen zu begrüßenden entsprechenden und fortlaufenden Fortbildungsmaßnahmen für die Entscheiderinnen und Entscheider insgesamt ein Maßnahmebündel dar, das ausreicht. Wenn Sie darüber hinaus etwas tun wollen, dann sagen Sie, was getan werden soll. Beispiel: Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Wie Sie selbstverständlich wissen, wirkt diese Rechtsprechung nur unter den Verfahrensbeteiligten. Angesichts einer gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die eine restriktivere Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention zum Inhalt hat, müssen Sie sagen, wie Sie diese Berücksichtigung anstreben wollen; denn aus gutem Grunde geht das nicht per „Dienstanweisung“ durch Parlament und Regierung. Wenn Sie die Rechtsprechung durch eine andere Gesetzesgrundlage ändern wollen, dann sagen Sie, welche gesetzliche Grundlage Sie für diese neue Rechtsprechung ändern wollen. ({4}) - Werden Sie konkret bei dem, was Sie ändern wollen. Dann können wir uns über Ihre Vorschläge streiten. Beispiel: Vorbehalte bei der UN-Kinderrechtskonvention. Erneut tragen Sie als Auffassung vor, dass die Vorbehalte gegenüber dieser Konvention zurückgenommen werden sollen. Die Bundesregierung erklärte dagegen im Dezember, dass für sie eine derartige Rücknahme der Erklärung nicht in Betracht komme. Überrascht und quasi nebenbei erfuhren die meisten Mitglieder des Menschenrechtsausschusses gestern, dass das Bemühen, unter den Bundesländern einen Konsens für eine solche Aufhebung zu finden, im Herbst eingestellt wurde. ({5}) - Dann sagen Sie konkret, was Sie fordern. - Bedenken nicht zuletzt der Stadtstaaten, darunter das rot-grüne Hamburg, haben diesen Konsens bisher verhindert. Beispiel: Zugang von Asylsuchenden zu fairen, rechtsstaatlichen Verfahren als Kernpunkte einer Harmonisierung der Asylverfahren in der Europäischen Union. Ist dies angesichts der Rechtslage in Deutschland wie in den anderen EU-Staaten nicht eine pure Selbstverständlichkeit? Oder verbirgt sich dahinter die Forderung des UNHCR, dem Asylberechtigten Zugang zu einem fairen, rechtsstaatlichen Verfahren in einem Land seiner Wahl einzuräumen? Dies wäre Aufgabe jener Drittstaatenregelung, die auch das Bundesinnenministerium für einen unverzichtbaren Bestandteil des deutschen Asylrechts hält. Wollen Sie an dieser Regelung festhalten oder nicht? Werden Sie konkret! So viel Unklarheit wird den schwierigen und wichtigen Fragen des Flüchtlings- und Asylrechts in keiner Weise gerecht. Die mangelnde Qualität Ihres Antrages wird sich übrigens auch darin zeigen, dass der heutigen Beschlussfassung durch die Regierungsmehrheit keine konkrete Änderung in den gerichtlichen oder politischen Entscheidungen folgen wird. Im Zuge - dies ist meine Hoffnung - der zukünftigen Zuwanderungsregelung und der Harmonisierung des Asylrechts auf europäischer Ebene werden uns die in Ihrem Antrag unzureichend behandelten Themen weiter beschäftigen. Wir hoffen, dass diese Fragen dann einer sachgerechten und angemessenen Lösung zugeführt werden können. Dazu werden dann auch andere wichtige Fragen der Flüchtlingspolitik gehören, etwa der Zugang von jungen Ausländern, die lediglich den Rechtsstatus der Duldung haben, zum Ausbildungsmarkt und zu öffentlich geförderten Ausbildungsmaßnahmen. Ich denke, gerade über dieses Thema sollten wir alle erneut nachdenken und hier zu einem Fortschreiten kommen. ({6}) Die heutige Debatte - Frau Kollegin Friedrich hat es gesagt - ist zugleich die letzte Bundestagsdebatte, an der die Vorsitzende unseres Ausschusses, Claudia Roth, in dieser Funktion teilnehmen wird, wobei ich mir die nicht ganz unernst gemeinte Äußerung schon erlauben möchte, dass man einmal darüber nachdenken sollte, ob Regelungen, die zu einem solchen Mandatsverzicht zwingen, eiHermann Gröhe gentlich noch mit der Berufsfreiheit und der Freiheit des Mandats vereinbar sind. ({7}) Nun will ich aber weder das für einen Oppositionsvertreter zulässige Maß des Lobes überschreiten noch durch zu viel Lob ihr Wahlergebnis auf dem Parteitag der Grünen vermindern. ({8}) Danken will ich ihr allerdings für ein ausgesprochen faires Miteinander im Ausschuss, das bei manchem Streit in einzelnen Fragen von dem gemeinsamen Bemühen bestimmt war, für die Menschenrechtsidee, für die Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen und die Solidarität mit den Opfern einzutreten. Ihrer Freude am fröhlichen Streit in der Sache werden wir auch angesichts ihrer künftigen Funktion gerne gerecht werden, zumal wir sicher sind, dass sie uns dazu immer wieder Gelegenheit geben wird. Vielen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die vielfach Geehrte hat jetzt das Wort: Claudia Roth.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Lilo Friedrich, lieber Hermann Gröhe, herzlichen Dank für die guten Wünsche. Nur, bei uns entscheidet die Bundesdelegiertenkonferenz, ob eine Bundesvorsitzende gewählt wird oder nicht. ({0}) In circa 24 Stunden wissen Sie und weiß ich hoffentlich, ob ich heute Abend tatsächlich zum letzten Mal in der Funktion der Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses gesprochen habe. Ich danke Ihnen aber auf jeden Fall für Ihre schönen Worte. Das tut ja auch gut. Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz. Weil Menschenrechte immer zu Hause anfangen, hat es viel mit unserer Glaubwürdigkeit zu tun, zu überprüfen, wie stabil das Fundament für die Menschenrechte in unserem Land ist und ob humanitäre Grundsätze im Umgang mit Flüchtlingen bei uns eingehalten werden, sowie, wenn es tatsächlich Schutzlücken gibt, diese auch zu schließen. Es ist ein gutes und wichtiges Zeichen, dass der Antrag „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“ federführend vom Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages diskutiert und bearbeitet wurde. Dies zeigt die Bedeutung, die wir Menschenrechten bei uns und außerhalb unseres Landes beimessen. Hermann Gröhe hat gefragt, wie wir es mit den Vorbehalten gegenüber der Kinderrechtskonvention halten. Lieber Hermann: So, wie es im Antrag steht. Wir fordern die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass die Vorbehalte gegenüber der Kinderrechtskonvention zurückgenommen werden. ({1}) Ich hoffe, dass das klar genug ist, sodass auch die Opposition dieser richtigen Forderung zustimmen kann. Lilo Friedrich hat gesagt, dass diese Debatte am Internationalen Frauentag ein wichtiges Zeichen ist. Richtig, denn unter dem Deckmantel von Tradition, Kultur, Religion oder so genannter Moral werden weltweit Millionen von Frauen zwangsverheiratet, als Witwen verbrannt, wegen der Familienehre getötet, zwangssterilisiert, werden weibliche Föten abgetrieben, werden Mädchen und junge Frauen an ihren Genitalien verstümmelt, erleiden sie grausame und unmenschliche Strafen, werden Frauen in Kriegen und Bürgerkriegen Opfer sexueller Gewalt. Das Charakteristische an dieser Gewalt, an dieser geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzung ist, dass die Opfer gerade in ihrem Frausein, in ihrer persönlichen Integrität und der mit ihrem Geschlecht verbundenen gesellschaftlichen Rolle getroffen werden sollen. Wir haben in den letzten Tagen zu Recht empört auf die Zerstörungen unschätzbarer Kulturgüter in Afghanistan reagiert. Vielleicht schafft dies eine Vorstellung über die barbarische Verfolgung von Frauen in Afghanistan und über die umfassende Entrechtung, die Frauen dort erleiden. Nach der Delegationsreise des Menschenrechtsausschusses nach Afghanistan in die Hölle des TalibanRegimes ist mir klar geworden, was umfassende Entrechtung bedeutet, was die Verweigerung der Rechte auf Arbeit, auf Gesundheit, auf Erziehung und auf Bildung sowie des damit verbundenen Rechts bedeutet, überhaupt eine Zukunft zu haben. Für mich ist das politische Verfolgung. Die Nichtgewährung eines entsprechenden Asylstatus bei uns hat nichts mit der Realität dieser Frauen und ihrer umfassenden Entrechtung zu tun, sondern ist von einer innenpolitischen Flüchtlingsabwehrperspektive geprägt. Das wollen und müssen wir ändern. ({2}) Der moralische Imperativ unseres Rechtsstaats, Art. 1 unseres Grundgesetzes, lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. ... Frauen sind auch Menschen und Frauenrechte sind auch Menschenrechte. Die Würde all dieser Frauen wird angetastet. Deswegen haben sie Anspruch auf volle Schutzgewährung in unserem Land. Auch dies will dieser Antrag ausdrücken. Amnesty berichtet über Folter und Misshandlung von Frauen und belegt, was geschlechtsspezifische Verfolgung bedeutet. Es ist Zeit, dass dies in den Asylverfahren stärker berücksichtigt wird. Wie Lilo Friedrich möchte ich mich sehr positiv über die deutlichen Veränderungen im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge äußern, die ohne Zweifel die Handschrift des neuen Präsidenten Dr. Schmidt tragen. Vielen Dank, Dr. Schmidt. Die qualifizierte Schulung von Einzelentscheidern und Dolmetschern ist ein erster wichtiger Schritt in die Richtung, Flüchtlinge nicht als Bedrohung, sondern als schutzwürdige Menschen zu empfinden. ({3}) Geschlechtsspezifische Verfolgung ist sehr oft nichtstaatliche Verfolgung. Auch dazu nimmt unser Antrag Stellung. Er ist für den besseren Schutz von Menschen richtungsweisend, die Opfer von nichtsstaatlicher Verfolgung in unserem Land werden. Lieber Hermann, ich bin sehr gespannt auf eure klaren und präzisen Vorschläge, wie mit nichtstaatlicher Verfolgung zukünftig umgegangen werden soll. In diesem Zusammenhang hat das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Asylerheblichkeit der Verfolgung in Afghanistan eine Bedeutung und ist zu begrüßen, denn es macht den Weg für die Anerkennung afghanischer Flüchtlinge frei, die ihnen bisher mit dem Argument verweigert wurde, die Taliban würden über keine staatliche Autorität verfügen. Wir konnten uns - ob einem das nun gefällt oder nicht vom Gegenteil überzeugen. Es gibt de facto staatliche Strukturen, und es reicht nicht aus, eine nichtstaatliche Verfolgung aus der Tatsache abzuleiten, dass die Bundesrepublik Deutschland aus gutem Grund die Taliban völkerrechtlich nicht anerkennt. ({4}) Unser Festhalten am Grundrecht auf Asyl ist ein Bekenntnis zu unserer historischen Verantwortung. Der Art. 16 a des Grundgesetzes ist für uns keine „Verfassungsfolklore“, sondern Ausdruck einer klaren Wertorientierung deutscher Asylpolitik, denn der verfassungsrechtlich abgesicherte Flüchtlingsschutz stellt klar: Asylrecht ist Menschenrecht. Es ist Opportunitätserwägungen der Politik entzogen. Über grundsätzliche Fragen im Bereich des Asylrechts kann und soll auch zukünftig nur mit einer verfassungsändernden Mehrheit entschieden werden können. Was wir in diesem Land brauchen, ist die Umkehr der Logik der Debatte. Flüchtlinge sind keine Bedrohung, über die man redet wie über Naturkatastrophen. Niemand verlässt seine Heimat ohne Grund. Was wir brauchen - das sagen Menschen wie Dr. Schwarz-Schilling oder Heiner Geißler in unserem Ausschuss, dem Menschenrechtssausschuss, und das ist zu unterstützen -, ist das Ende der Diskreditierung und Kriminalisierung von Flüchtlingen und ein Ende des Missbrauchs der Sprache. ({5}) Wer von „Asylmissbrauch“ redet, wenn jemand ein Grundrecht in Anspruch nehmen will, der missbraucht die Sprache. Es ist viel von der Zukunftsfähigkeit, vom Standort, von der Modernisierung Deutschlands die Rede. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin felsenfest davon überzeugt, dass die Zukunftsfähigkeit dieses Landes auch und gerade davon abhängt, welcher Wert demokratischen Rechten beigemessen wird, wie stark das Fundament für die Grundrechte in unserem Land ist. In diesem Sinn brauchen wir eine Renaissance der Grundrechte, eine Renaissance der Menschenrechte, damit sich in Köpfe und Herzen vermittelt, dass das Allermodernste, was wir haben, diese Rechte sind, dass sie uns unglaublich reich machen, dass sie uns etwas nützen, dass sie unserer Demokratie nützen. Ich hoffe, das kommt auch beim bayerischen Innenminister an. Das gilt in besonderem Maße für das individuelle Grundrecht auf Asyl. Es ist unantastbar und muss in seiner Auslegung an einen modernen Begriff des Flüchtlings angepasst werden. Vielen Dank, liebe Kollegen! Jetzt werde ich doch ein bisschen wehmütig, aber wir sehen uns ganz sicher wieder. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Claudia Roth, ich glaube, der Beifall hat gezeigt - wir wollen natürlich alle nicht beschwören, was da nun in 24 Stunden passiert -, dass dir alle Mitglieder des Hohen Hauses für deine Arbeit danken und für die Zukunft alles Gute wünschen. ({0}) Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine LeutheusserSchnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich darf mit dem Dank an die Noch-Vorsitzende des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe beginnen, für die hervorragende Zusammenarbeit danken, ebenso für das Aufgreifen vieler sehr interessanter Anliegen aus der Mitte des Ausschusses und für das Anstoßen vieler Themen, auch gerade der Themen, die verdeutlichen, dass Flüchtlingsfragen und die Situation von Flüchtlingen in Deutschland auch eine Aufgabe im Rahmen des Menschenrechtsschutzes sind. Dass das zu Verwirrungen führen kann, haben wir ja in der Vorbereitung auf unsere letzte Sitzung erlebt. Auch ich wünsche Ihnen alles Gute für das, was ab morgen Abend mit großer Wahrscheinlichkeit auf Sie zukommt. Meine Damen und Herren, wir hatten einstimmig einen interfraktionellen Antrag zu den humanitären Grundsätzen in der Flüchtlingspolitik beschlossen. Der hat Auswirkungen gehabt. An die Bundesregierung wurden konkrete Aufforderungen gerichtet. Dann ist - dies war Claudia Roth ({0}) mühsam, weil immer wieder nachgefasst werden musste tatsächlich etwas passiert. Frau Friedrich, Frau Roth, genau das sehe ich in dem Antrag, der den Titel „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“ hat und den Sie uns vorgelegt haben, nicht. In diesem Antrag ist keine einzige Aufforderung an die Bundesregierung enthalten. Er ist eine Bestätigung der Auffassung des Bundestages. Natürlich ist es mit Sicherheit für die Bundesregierung sehr beeindruckend, wenn wir hier einen solchen Antrag beschließen würden. Aber dieser Antrag enthält noch nicht einmal die Aufforderung an die Bundesregierung, nach einem gewissen Zeitraum Rechenschaft darüber abzulegen, was sie in diesem Zusammenhang getan hat. Das ist meine erste große Kritik. ({1}) Er ist letztendlich mehr Schein als Sein, als das, was damit tatsächlich nach außen bezweckt werden soll. Zum Zweiten sind in ihm sehr viele Unbestimmtheiten enthalten. Wo sind zum Beispiel Forderungen nach einem besseren Zugang zum Arbeitsmarkt? Dies ist dringend notwendig, wie wir von der Ausländerbeauftragten in der letzten Sitzung des Menschenrechtsausschusses dezidiert vorgetragen bekommen haben. Wo sind denn die Verbesserungen im Flughafenverfahren, über die seit zwei Jahren beraten wird? Wo sind denn die Regelungen, mit denen die bekannt gewordenen Schwierigkeiten und die Unzulänglichkeiten in der Abschiebehaft beseitigt werden sollen? Davon ist doch in Deutschland die Situation der Flüchtlinge, um die es geht, geprägt. ({2}) - Sie räumen mit diesem Antrag - das muss ich Ihnen einmal deutlich sagen - überhaupt nichts auf. ({3}) Sie räumen noch nicht einmal mit dem Vorbehalt gegenüber der Kinderkonvention auf, was Sie in der Opposition immer gefordert haben. Sie schreiben in den vorliegenden Antrag nur das hinein, was sowieso schon einstimmige Beschlusslage des Hauses ist. Darauf ist einmal deutlich hinzuweisen. ({4}) Das ist keine Verbesserung des Flüchtlingsschutzes, auch wenn Sie versuchen, diesen Eindruck zu erwecken. Wir können sehr viel über Dinge sprechen, über die wir einer Meinung sind. Aber mit diesem Antrag, den Sie nach unseren intensiven Beratungen im Ausschuss und anlässlich von Anhörungen letztes Jahr nicht so, wie Sie dies getan haben, hätten „aus der Hüfte“ ziehen dürfen und der keine Aufforderung an die Bundesregierung enthält, bewirken Sie leider nichts. Ich darf einen Punkt zu den Anträgen erwähnen, die die F.D.P.-Fraktion eingebracht hat und über die nicht abgestimmt wird, nämlich zum Antrag auf Verbesserung der Situation der Binnenvertriebenen. Das ist eine Forderung, die auch Nichtregierungsorganisationen erheben. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen des UNHCR verbessert werden. Deshalb haben wir unsere Vorschläge in Aufforderungen an die Bundesregierung gekleidet. Es sollte in Form einer Konvention bzw. einer Vereinbarung der internationalen Staatengemeinschaft, die es bis heute, worüber der UNHCR sehr klagt, nicht gibt, eine Grundlage für den Umgang mit Binnenvertriebenen geschaffen werden. Ich wollte natürlich gerne noch sehr viel mehr ansprechen. ({5}) Aber gerade angesichts der Äußerungen von Kollegin Kerstin Müller, dass die Grünen ihre Programmatik sehr viel stärker in den Vordergrund stellen sollten, möchte ich noch einen Punkt erwähnen: Herr Fischer hat zum Beispiel in seinen Einlassungen zum Verhalten Amerikas im Rahmen der Militärschläge gegen den Irak gesagt, hier würden deutsche Interessen wahrgenommen - so ist es in der „Frankfurter Rundschau“ von gestern nachzulesen -, und hat in diesem Zusammenhang keinerlei Bewertung abgegeben. Er macht im Gegenteil nur deutlich, hier habe Deutschland nicht zu kritisieren. ({6}) - Dazu kann ich Ihnen nur sagen, dass früher ganz anders verhandelt worden ist. - Im Zusammenhang mit dem NMD-Programm möchte ich Sie fragen: Wer hat denn damals die Auseinandersetzung über SDI angeführt?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf die Zeit!

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Unterwürfigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten war früher nie Gegenstand der Außenpolitik. Wenn man einmal eine solche Position bezogen hat, dann kann man nicht die Position vertreten, die richtig und notwendig wäre. Von daher ist meiner Ansicht nach wichtig, dass die Haltungen der Grünen,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin!

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

- also die des Außenministers, die der Fraktion und die der Partei, künftig mehr übereinstimmen, als es derzeit der Fall ist. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Sie waren einerseits über der Redezeit, andererseits wollte ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen; das hätte Ihnen erlaubt weiterzureden. Möchten Sie diese Zwischenfrage auch jetzt noch zulassen?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es tut mir Leid, dass meine Frage jetzt so nachgeschoben erscheint. Ich habe mich lange genug gemeldet, aber es wurde nicht gesehen. Ich habe folgende kurze Frage, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger: Können Sie mir sagen, welche Bemühungen Sie in den Jahren, in denen Sie in der Regierungskoalition waren und zeitweise mit dem damaligen Innenminister Kanther am Kabinettstisch saßen, unternommen haben, um all die Thesen und Forderungen, die Sie heute vorbringen, durchzusetzen?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Sonntag-Wolgast, ich kann Ihnen eines ganz klar sagen: Sie sind in Regierungsverantwortung; Sie setzen die Maßstäbe an, an denen Sie gemessen werden. Genau das habe ich zum Gegenstand meiner Ausführungen gemacht. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte jetzt den nächsten Redner aufrufen. Das ist der Abgeordnete Carsten Hübner.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sonne steht im Zenit, der Saal ist brechend voll, die Besuchertribünen auch - es ist Menschenrechtszeit im Deutschen Bundestag! ({0}) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses! Die PDS-Bundestagsfraktion teilt die Auffassung, dass der UNHCR in den vergangenen 50 Jahren eine wirklich wichtige, wertvolle und zu seiner Gründungszeit noch gar nicht absehbare Arbeit geleistet hat und dass seine Bedeutung gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Konflikte weltweit eher steigen als sinken wird. Dafür bedarf es allerdings, nicht zuletzt vonseiten der Bundesrepublik Deutschland, einer entsprechenden finanziellen Ausstattung. Ich hoffe sehr, dass dieser Bewertung in den weiteren zu erwartenden Schrumpfhaushalten entsprechend Rechnung getragen wird. Die PDS-Fraktion hat zunächst besonders gefreut, dass dieser Würdigungsantrag ganz im Sinne einer verantwortlichen Menschenrechts- und Flüchtlingspolitik erweitert wurde und wichtige aktuelle Aspekte auch der deutschen Asylpolitik aufgreift, nämlich die Anerkennung geschlechtsspezifischer Fluchtgründe, die Anerkennung nicht staatlicher Verfolgung, das Spannungsfeld Entwicklungszusammenarbeit und Verpflichtung zur Rücknahme von Flüchtlingen sowie die Implementierung von Härtfallregelungen in der deutschen Asylpolitik. Das sind Aspekte, die in der Debatte heftig umstritten sind, und zwar nicht nur bei CDU und CSU, bei denen das Asylrecht von Einzelnen inzwischen sogar gänzlich infrage gestellt wird, sondern auch im sozialdemokratisch geführten Innenministerium Otto Schilys. Dort wird eher nach Restriktion denn nach Liberalisierung gerufen. Umso bedauerlicher ist es, dass der Antrag - wohl mit Rücksicht auf das Bundesinnenministerium - äußerst unkonkret geblieben ist, statt deutliche Signale zu setzen. Wenn man es genau nimmt, enthält er nicht eine einzige konkrete Forderung; darauf ist schon mehrmals hingewiesen worden. Statt dessen heißt es lediglich: „Der Bundestag ist der Auffassung ...“ Passiver ist es kaum zu formulieren. Wenn man an die gestrige Sitzung des Menschenrechtsausschusses denkt, in der SPD und Grüne, die zuvor noch frauenspezifische Fluchtgründe in diesen Antrag aufgenommen hatten, dann aber unseren Antrag zu dieser Frage abgelehnt haben, so merkt man, wie groß in dieser Frage die Furcht vor konkreten Forderungen - oder soll ich sagen: vor dem Innenminister - offenbar ist. ({1}) - Sehr gut! - Denn inhaltlich - das haben Sie in der gestrigen Sitzung bestätigt - teilen Sie die Aussagen unseres Antrags. Sie werden also verstehen, dass ich große Zweifel an der Umsetzung des Antrages „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“ habe. Das gilt umso mehr, seit ich gestern im Menschenrechtsausschuss erfahren durfte, dass sich die Bundesregierung bereits seit Herbst letzten Jahres nicht mehr bei den Ländern um die Aufhebung des Vorbehalts gegenüber der Kinderrechtskonvention bemüht, obwohl sie vom ganzen Haus, mit den Stimmen aller Fraktionen, dahin gehend aufgefordert worden war. Nicht einmal eine zeitnahe und konkrete diesbezügliche Information an die zuständigen Ausschüsse hat das Bundesinnenministerium für nötig befunden. Dennoch wird meine Fraktion dem Antrag zustimmen nicht jedoch ohne anzukündigen, dass wir in vertretbarer Zeit einen Bericht beantragen werden, um zu prüfen, inwieweit die Bundesregierung dem Antrag auch Taten hat folgen lassen. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Claudia, ich möchte zum Abschluss nicht darauf verzichten, zu betonen, wie sehr ich politisch und persönlich dein zu erwartendes Ausscheiden als Kollegin, Menschenrechtlerin und als Vorsitzende des ersten eigenständigen Menschenrechtsausschusses des Bundestages bedaure. Denn bei dir waren Menschenrechtsthemen immer Erste-Klasse-Themen, selbst wenn wir oft nur Dritte-Klasse-Debattenzeiten zur Verfügung hatten. Und als neuer Parlamentarier möchte ich sagen, dass ich von deiner Geradlinigkeit, deiner Unbändigkeit und deiner Toleranz und Offenheit eine Menge lernen konnte. Liebe Claudia, du wirst uns fehlen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache zu diesem Punkt. Wir kommen zur Abstimmung und zu den Überweisungen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz“, Drucksache 14/5462. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4884 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5452 und 14/5453 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnung 10 sowie Zusatzpunkt 9 auf: 10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({0}), Gunnar Uldall, Hansjürgen Doss, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen für die deutsche und europäische Werftenindustrie - Drucksache 14/5137 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Dietmar Bartsch, Dr. Heinrich Fink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Zukunftschancen des deutschen und europäischen Schiffbaus nachhaltig verbessern - Drucksache 14/5457 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Wolfgang Börnsen.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast alle der hundert deutschen Werften haben derzeit ausreichend Wasser unter dem Kiel. Der Neubaubestand reicht bis zu drei Jahren. Etwa 200 Neubauaufträge wurden bis Ende des Jahres 2000 geordert. Die Gesamtsumme beläuft sich auf etwa 20,7 Milliarden DM. Ein Erfolg der 220 000 Schiffbauer, Dienstleister und Zulieferer sowie ihre Betriebsleitungen von Flensburg bis Vilshofen! Sie alle leisten eine erstklassige Arbeit. ({0}) 70 Prozent der Wertschöpfung eines Bootes werden im Süden unseres Landes, nur 30 Prozent im Norden produziert. Werftenpolitik bleibt eine nationale Aufgabe, doch das Logbuch wird in Brüssel geführt. Die Förderinstrumente der Vergangenheit haben eine Stabilisierung der Werftenlandschaft in der Bundesrepublik Deutschland bewirkt. Damit ist aber seit dem 1. Januar 2001 Schluss. Die EU hat das Ende der Wettbewerbshilfe beschlossen. Die Schiffbauförderung alter Art wurde eingestellt. Die Bundesregierung hat sich mit ihrer Forderung nach Verlängerung nicht durchgesetzt. Überkapazitäten auf dem Weltschiffbaumarkt, ein rapider Preisverfall und der Grundsatz, dass Staatshilfen nicht marktgerecht sind, haben diese EU-Entscheidung beeinflusst. Europas Werften sind jetzt schutzlos der aggressiven koreanischen Schiffbaupolitik ausgesetzt. ({1}) Die Kernfrage bleibt: Welche Zukunft haben deutsche und europäische Schiffbauer nach diesem Zwischenhoch? Ein isländisches Sprichwort sagt: „Die Unwissenheit ist ein Meer, das Wissen ein Floß darauf.“ Die deutsche und die europäische Werftindustrie sowie ihre Zulieferer blicken auf dieses Meer und segeln in eine ungewisse Zukunft. Das Floß des Wissens, wie Schiffe gebaut werden, steuern sie; doch fahren ihnen die Koreaner auf einem Supertanker aus Subventionen davon. 1998 lag der Weltmarktanteil Europas im Schiffbau bei 26 Prozent, der Koreas bei 25 Prozent, aber sprunghaft steigend. Brüssel, durch Berichte über Dumpingpreise aus Fernost beunruhigt, reagierte im November 1999 mit einer ersten Dokumentation. Nachgewiesen wurde in diesem Papier: Südkorea betreibt eine eklatante Wettbewerbsverzerrung durch Staatshilfen. Der Ministerrat reagierte auf diese Meldung geradezu lustlos gelassen. Es gab keine ernsthafte politische Reaktion, weder von der Bundesregierung noch von den anderen EU-Partnern. ({2}) 1999 sank Europas Weltmarktanteil im Schiffbau auf 17 Prozent, der von Korea stieg auf 33 Prozent. Brüssel dokumentierte die anhaltenden Beschwerden über die Marktverzerrungen im Mai 2000 in einem zweiten Bericht. Weder der Missstand, dass die Koreaner ihre Schiffe bis zu 40 Prozent unter den eigenen Herstellungskosten verkaufen, noch der Tatbestand, dass der Internationale Währungsfonds durch die Stützung des koreanischen Won indirekt die Regierung vor Ort in die Lage versetzte, den Großwerften weiter zu helfen, hat zu einer kraftvollen Reaktion der Kommission geführt. Am IWF-Großkredit war Deutschland mit fast 6 Prozent beteiligt. Bundesdeutsches Geld hat zur Wiedererstarkung der koreanischen Konkurrenz beigetragen. Die IG Metall hat diesen Sachverhalt mit dem Hinweis auf Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer den Punkt gebracht: Wir mästen unsere eigenen Schlächter. - Damals war aus Gründen der internationalen Währungsstabilität die Initiative des IWF notwendig. Doch den Kredit ohne Auflagen zu geben war, gelinde gesagt, grob fahrlässig. Im vergangenen Jahr erreichten Europas Werften gerade noch einen Anteil von 15 Prozent. Deutschlands Anteil betrug 5,5 Prozent. Für beide ist das der geringste Weltmarktanteil der vergangenen 50 Jahre. Korea kam auf 40 Prozent. Die hier vorgelegten Daten und Fakten fußen auf dem Dritten Bericht, den Brüssel jetzt vorgelegt hat. Er verdeutlicht noch einmal den Sachverhalt: Die Schiffbaunation Nummer eins, Südkorea, fördert den Bootsbau mit unlauteren Mitteln. Endlich, drei Jahre nach dem ersten Beweis dieses Sachverhaltes reagierte auch der Ministerrat - doch völlig anders, als die Betroffenen es erwartet haben. Die Werftenhilfe, 30 Jahre bewährt als bestes Mittel gegen die weltweite Wettbewerbsverzerrung, wurde zum 1. Januar 2001 abgeschafft. Was die ganze Hilflosigkeit der EU kennzeichnet: Es wurde gleichzeitig keine Maßnahme gegen die einseitige koreanische Schiffbauoffensive beschlossen, keine Handelsauflage gegen koreanische Güter gefordert, keine Strategie entwickelt, um ein weltweites Preisdumping zu verhindern. Der Stier Europa hat seine Hörner eingebüßt. Deutschlands Schiffbauer und die der anderen Länder bleiben mit ihren Existenzsorgen allein. ({3}) Noch vor einem Jahr hat der Bundeskanzler auf der großen maritimen Konferenz in Emden versprochen: Wir lassen unsere Werften nicht im Stich und - das hören Gewerkschafter besonders gerne - wir werden konkret handeln. Chefsache wurde die maritime Politik. ({4}) Nur, der Chef setzte Deutschlands Interessen in Brüssel nicht durch. Er und der Wirtschaftsminister erlitten trotz der Tüchtigkeit ihrer Mitarbeiter in diesem Politikfeld eine bittere Niederlage. Eine letzte Chance, das Ruder herumzureißen, gibt es noch. Im Mai will der EU-Ministerrat noch einmal die Wettbewerbsverzerrungen im Schiffbau aufgreifen. Doch der Spielraum ist eng. Die Zeit läuft dem Rat, der drei Jahre nicht gehandelt hat, davon. Die koreanische Schiffbauoffensive schafft Tatsachen. Bei den Post-Panamax-Containerschiffen, die 1988 in Europa entwickelt wurden, gingen im vergangenen Jahr 82 Prozent der Aufträge nach Fernost, 4 Prozent nach Japan. Zum ersten Mal ging kein Auftrag mehr nach Europa. Auch bei den Kreuzfahrtschiffen, deren Hersteller bisher in Europa zu Hause waren, gingen die ersten Aufträge nach Fernost. Deutschland gibt auch in diesem Sektor Marktanteile ab. Jeder zweite Neubauauftrag geht heute nach Korea, Tendenz steigend. Im Windschatten folgt die Volksrepublik China mit 7 Prozent Marktanteil. Beide bauen ihre Kapazitäten aus. Die EU dagegen fördert mit Prämien die Stilllegung von Werften - eine Politik des Widersinns. Die Lage der kleinen und mittleren Werften ist besonders problematisch. Das Verständnis der Nichtschiffbaustaaten in der EU für neue Werftenhilfen nimmt ab. Die Beihilfen erreichten im letzten Jahr 22 Prozent der Wertschöpfung. Das bedeutet: Pro Beschäftigten im Schiffbau zahlt man 28 000 Euro. Also stützen wir einen Werftarbeiterplatz im Jahr mit 55 000 DM. Die Möglichkeiten, den Marktmissbrauch Südkoreas im Schiffbau zu beenden, nehmen rapide ab. Die Kommission ist in Korea gescheitert. Der europäische Schiffbauverband klagt zwar, hat aber wenig Chancen, sich bei der WTO durchzusetzen. Einen Gesichtspunkt sollte die Maikonferenz noch aufnehmen, und zwar den, dass das Transportmittel Schiff beispielhafte Umweltdaten aufzeigt. So liegen die CO2Emissionen im Seeverkehr bei nur zwei Gramm pro Kilometer transportierter Tonne. Bei der Schiene liegt dieser Wert 15-mal und beim LKW-Transport 95-mal so hoch. Auch beim Energieaufwand ist das Boot vor Bahn und Straße mit Abstand führend. Außerdem - auch das sollte bei der Maikonferenz beachtet werden - wäre nachhaltige Umweltpolitik auch durch bessere internationale Umweltstandards im Seeverkehr möglich. ({5}) 24 Jahre beträgt derzeit das Durchschnittsalter der Schiffe auf unseren Meeren. Tausende instabile Rostlauben sind darunter. Von 8 500 weltweit eingesetzten Tankern besitzen nur 1 400 eine Doppelhülle. Meereskatastrophen sind täglich möglich. Umwelt- wie wirtschaftspolitisch gäbe es einen Sinn, bei Alter und Sicherheit der Boote anzusetzen und zu neuen Standards zu kommen, um dem Schiffbau einen neuen Drive zu geben. Wir sind dafür. ({6}) Das Maitreffen der Wirtschaftsminister sollte auch auf den Aspekt eingehen, die Kapazitätsbeschränkungen, die es für die Werften in Mecklenburg-Vorpommern noch immer gibt, auszusetzen; ({7}) denn sie nehmen den Werften in Wismar, Rostock, Stralsund und Wolgast jede Luft und Flexibilität und beeinträchtigen ihre Wettbewerbsfähigkeit. Die EU-Kommission ist grundsätzlich gegen Subventionen. Viele Experten meinen, dass die Maikonferenz nur noch eine Alibiveranstaltung werden wird. Der mögliche Schiffbauboom unserer Werften wird eventuell auch durch die Maikonferenz behindert. Trotz dieser Skepsis ersuchen wir das Parlament, den vorliegenden Antrag zu unterstützen, und zwar in Sorge um über 100 000 Arbeitsplätze und in Verantwortung für die Zukunft einer erstklassigen, traditionsreichen Industrie. Es ist ein Gebot der Stunde, jetzt in Brüssel die Regierung zu unterstützen. Dieser Appell geht besonders an die Kollegen der Bündnisgrünen, die gegen Schiffbauhilfen sind. Aber wie wollen Sie die Werften in Europa flottmachen, wenn nicht Wolfgang Börnsen ({8}) durch Förderung, so lange sich die Konkurrenz staatlicher Mithilfe bedient? Nach unserer Auffassung wäre eine baldige Verabschiedung der OECD-Regelung der Königsweg, um endlich aus dem Wettlauf der Subventionen im Schiffbau auszusteigen. ({9}) Ziel muss der Abbau aller Staatsförderung sein. Unsere Werften können trotz hoher Produktkosten der Konkurrenz standhalten, so deren eigene Aussage. Japan und Korea sind, wie die meisten der Schiffbauländer für ein solches Abkommen. Nur die USA, die es einmal selbst angeboten haben, sperren sich. Warum greifen wir nicht - Herr Staatssekretär, Sie werden ja gleich sprechen - Japans Angebot auf, ohne Amerika zu einer Einigung zu kommen? Wir von der Union erwarten, dass der Bundeskanzler das Thema „Wegfall der Subventionen im Schiffbau“ auf die Tagesordnung des kommenden G-7/G-8-Gipfels setzen lässt. Wir erwarten, dass damit nicht weiter gezögert wird. Der augenblickliche Auftragsbestand auf deutschen Werften ist in 24 Monaten abgearbeitet. Sollen die Schiffbauer kein Waterloo erleben, ist es zum Handeln fünf Minuten vor zwölf. ({10}) Vergessen wir nicht: Südkorea will seine Marktmacht noch weiter ausbauen und China holt rasant auf. Was sagte ein Schiffbauer - damit komme ich zum Schluss bei meinem letzten Werftbesuch in Flensburg: „Wir in Deutschland benötigen keine Subventionen, aber einen fairen Wettbewerb.“ ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte erstens feststellen, dass die deutschen Schiffbauer einen erstklassigen Ruf haben und erstklassige Schiffe bauen - das muss man auch einmal hier im Parlament sagen - und sich deshalb trotz des schwierigen Wettbewerbs auf dem Weltmarkt sehr gut behaupten. ({0}) Zweitens will ich ausdrücklich sagen, dass die Schiffbauer Anwälte auch hier im Parlament haben: Margrit Wetzel, Wolfgang Börnsen und Annette Faße sind diejenigen, die immer für die Schiffbauer kämpfen. ({1}) - Alle anderen auch. Sie haben also verlässliche Anwälte im Parlament. Ich habe sehr genau zugehört, wie Herr Börnsen sich eben mit der Kommission auseinander gesetzt, sich aber sehr differenziert zur Regierung geäußert hat; denn er weiß, dass wir uns sehr engagiert haben. ({2}) - Das sage ich ja ausdrücklich. Wenn es im Mai im Ministerrat zu einem Monitoring kommt, dann ist dies ausschließlich auf unsere Initiative im letzten Ministerrat zurückzuführen, als es um die Frage ging: Was machen wir, wenn die Koreaner sich nicht bewegen? Was die Aktivitäten im Mai angeht, habe ich keine Illusionen und will auch keine in die Welt setzen; aber wir haben gekämpft. Wir wissen alle, dass dieser Punkt für uns deshalb von großer Bedeutung ist, weil die koreanischen Werften bei neuen Aufträgen für Containerschiffe inzwischen einen Weltmarktanteil von 60 Prozent, bei Großcontainerschiffen sogar von 80 Prozent haben. Betrachtet man die Entwicklung, stellt man fest - das besagen inzwischen auch alle Kommissionsberichte -, dass die koreanischen Werften mit Preisen auf dem Weltmarkt operieren, die 20 Prozent unter den Einstandspreisen liegen. ({3}) - Ich gehe von den Kommissionberichten aus; wir wollen einmal ganz vorsichtig an das Ganze herangehen. Ich will hinzufügen: Ich habe die Sorge, dass sich die Lage noch verschärft, wenn die Chinesen auf den Markt kommen. Die Koreaner befinden sich in genau dieser Erwartungshaltung, weil sie wissen, was sich dann abspielt: Die Lage wird sich weiter verschärfen. Umso wichtiger ist, dass wir das, was wir als OECD-Plattform angestrebt haben, auch durchsetzen. Leider haben wir in Europa, wie Sie wissen, dafür im Moment noch keine Mehrheit. Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland einen guten und modernen Schiffbau aufgebaut. Das gilt für die Werften, die wir alle kennen, in besonderer Weise. Die auf der Basis nicht kostendeckender Preise erreichten hohen koreanischen Marktanteile bei Aufträgen für die Jahre 2001 bis 2003 resultieren nicht etwa daraus, dass unsere Modernisierungsanstrengungen nicht erfolgreich gewesen wären, sondern nur daraus, dass die Koreaner mit Unter-Kosten-Angeboten, mit Dumping, versuchen, unsere Schiffbauer auf dem Weltmarkt auszubooten. Zwar ist es den deutschen Werften ab Ende 1999 gelungen, technisch - das gilt übrigens auch für die Mecklenburger Werften - enorm aufzuholen und im Marktsegment der Fähr- und Passagierschiffe sowie der Spezialschiffe beachtliche Erfolge zu erzielen, jedoch war dies in erster Linie aufgrund der Währungsrelation DM/Dollar und anderer günstiger Bedingungen, aber auch infolge umfangreicher Rationalisierungsmaßnahmen möglich. Allein mit Nischenprodukten kann man jedoch - noch dazu unter dem Druck der Dumpingsituation - in Zukunft nicht gegen mögliche Wechselkursänderungen ankämpfen. Wolfgang Börnsen ({4}) Meine Damen und Herren, aufgrund dieser schwierigen Situation hat die Bundesregierung - auch mit Unterstützung des Haushaltsausschusses - eine Aufstockung der Bundesmittel der bis zum 31. Dezember 2000 zulässigen Wettbewerbsbeihilfen von 240 auf 320 Millionen DM vorgenommen. Das war eine wichtige, wenn auch schwierige Entscheidung; Frau Hermenau kann sich noch daran erinnern. ({5}) - Ja, das wollte ich sagen. ({6}) Die Bundesregierung hat das initiiert und der Haushaltsausschuss hat es einstimmig beschlossen. ({7}) - Wie, umgekehrt? Die Bundesregierung ist immer einstimmig. Vorsicht, bitte! ({8}) Zusammen mit der üblichen Kofinanzierung haben die Küstenländer jetzt Mittel in Höhe von 960 Millionen DM zur Verfügung. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, weil sie damit auf Jahre vorhandene Aufträge abarbeiten und ein Auftragsvolumen von 14 bis 15 Milliarden DM akquirieren können. Das ist eine ganze Menge. Meine Damen und Herren, ein Ende der von koreanischen Werften verursachten Wettbewerbsverzerrungen ist leider nicht in Sicht. Ich habe auch keine Hoffnung, dass das sehr schnell der Fall sein wird. Wir werden an diesem Thema sehr genau weiter arbeiten müssen. Wir drängen die Kommission, das genau zu untersuchen und auch Einzelfälle darzulegen. Bei Marktanteilen von bis zu 80 Prozent in bestimmten Segmenten wird der Letzte hellhörig; das ist völlig klar. Das kann man aus eigener Kraft nicht schaffen. Auf der 98. Sitzung der OECD-Schiffsbaugruppe Mitte Dezember vorigen Jahres hat die koreanische Delegation eingestanden, dass Preisveränderungen nicht beabsichtigt sind. Auch vereinbarte Einblicke in Verträge will Korea nicht gewähren. Mit dieser Position wird ganz klar, dass man durch eine Hinhaltetaktik versucht, etwas zu verdecken, was man offensichtlich meint verdecken zu müssen, weil man sich im Wettbewerb nicht behaupten kann. Wir als Bundesregierung werden alles tun - in den letzten Tagen haben Gespräche zwischen unserem Bundeswirtschaftsminister und Kommissar Lamy zu diesem Thema stattgefunden -, um unsere Position auf diesem Sektor klar zu machen und zu verdeutlichen, dass wir drängen werden, auch Herrn Lamy drängen werden, in Seoul diese Tatbestände aufzugreifen. Auch wir selbst werden in Korea vorstellig werden. Wir werden sehr genau untersuchen, wie die Kommission den einzelnen Fällen nachgeht. Wir jedenfalls glauben, alles tun zu müssen, um auf dem Weltmarkt Wettbewerb herzustellen; denn sonst haben wir Nachteile, die wir auch dann nicht kompensieren können, wenn wir die besten und modernsten Anlagen haben. Dabei werden sicherlich bei vielen Fragen Aspekte, wie zum Beispiel die Schiffssicherheit oder die Kooperation, eine Rolle spielen. Ich kann hier vorab nur so viel sagen: Wir haben die Absicht, beim Thema Kapazitätsbeschränkungen der ostdeutschen Werften erneut initiativ zu werden. Sie wissen, dass die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern auf diesem Feld engagiert war. Wir haben dabei klare Bedingungen, wollen eine Initiative starten und haben dabei vor, die Kommission mit entsprechenden Vorschlägen anzugehen, um zusammen mit ihr nach Möglichkeit eine Regelung zu finden. Allerdings ist klar: Die Bedingungen sind hart und wir müssen versuchen, die gegenwärtig guten Auftragspolster in die Zukunft zu verlängern. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Wir sollten als Parlament gemeinsam - auch über Fraktionsgrenzen hinweg - alles tun, um die Schiffbauer zu unterstützen, und zwar nicht im Sinne eines Subventionswettlaufs. Wir bestehen vielmehr auf fairen Wettbewerbsbedingungen, und zwar in jeder Situation. Unter fairen Wettbewerbsbedingungen stellen wir uns auch den Herausforderungen anderer Wettbewerber. Voraussetzung ist aber, dass die Bedingungen fair sind und sich der Markt entsprechend fair verhält. Solange das nicht der Fall ist, werden wir weiterhin darauf drängen, dass solche Wettbewerbsbedingungen hergestellt werden. Vielen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Michael Goldmann.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, es war die maritime Allianz, die parlamentarische Gemeinsamkeit, die dafür gesorgt hat, dass Ende des letzten Jahres 98 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung gestellt wurden, damit deutsche Werften zum Ende dieses Jahres nochmals Aufträge akquirieren konnten. Insofern stellen sich deutsche Werften heute als besonders leistungsfähig dar. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die südkoreanischen Werften im Welthandelsschiffbau durch äußerst unkorrekte Methoden nach wie vor riesige Marktanteile erobern, indem sie sie den europäischen und deutschen Werften, wie man fast sagen kann, stehlen. Vor diesem Hintergrund sind die Leistungen der deutschen Schiffbauindustrie, die im letzten Jahr Aufträge in Höhe von immerhin 11,8 Milliarden DM einwerben und damit ihren Auftragsbestand zum Jahresende auf 22 Milliarden DM erhöhen konnte, außerordentlich bemerkenswert. Sie sind ein wirklich großartiger Beitrag zur SicheParl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf rung von Arbeitsplätzen in der Hochtechnologie des Schiffbaus. ({0}) Es ist erfreulich, dass nicht nur die Jade-Werft in Wilhelmshaven, die Werften des Thyssen-Krupp-Konzerns oder die Meyer-Werft in Papenburg mit vollen Auftragsbüchern in die kommenden Jahre gehen. Es ist auch erfreulich, dass die Küstenländer wenigstens zum Teil ihrer Verpflichtung nachkommen, die Beihilfeergänzung zu leisten. In diesem Zusammenhang möchte ich das Land Schleswig-Holstein loben. Diese Stärkung der Marktposition ist allerdings dringend nötig, weil die Südkoreaner im Schiffbaumarkt nach wie vor bösartig foulen. Der Dritte Bericht der EU-Kommission an den Rat zur Lage des Weltmarkts im Schiffbausektor macht deutlich, dass die Südkoreaner für Preisverfall und Wettbewerbsverzerrungen zum Nachteil der Arbeitsplätze und zum Nachteil des deutschen Schiffbaus verantwortlich sind. Koreanische Werften nehmen Verluste bis zu 40 Prozent der tatsächlichen Baukosten hin, um mit Dumpingpreisen Marktanteile zu erobern. Der Bericht der Kommission zeigt deutlich, dass koreanische Werften weiterhin Aufträge zu Preisen annehmen, die bei weitem nicht die Kosten decken. Das haben neben dem Dritten auch bereits der Erste und der Zweite Kommissionsbericht in beeindruckender Weise dargelegt. Leider - das muss man sehr kritisch anmerken - hat die EU-Kommission bis jetzt nichts erreicht. Während die Südkoreaner deutschen Schiffbauern auf der Nase herumtanzen, beobachtet die EU-Kommission den Markt. Der Schluss, den die EU-Kommission aus ihren Berichten, gerade aus dem dritten, zieht, dass Betriebsbeihilfen das koreanische Problem nicht gelöst hätten und man deshalb ruhig auf diese verzichten könne, ist geradezu abenteuerlich. Es war ein schwerer Fehler, dass die Wettbewerbshilfen gegen Ende 2000 abgeschafft wurden, ({1}) ohne vorher mit den Koreanern eine Lösung der anstehenden Probleme zu erreichen. Die Abschiebung der Verantwortung auf den europäischen Schiffbauverband CESA war falsch. Wie Frau Staatssekretärin Mertens gestern im Ausschuss ausführte, wird sich das von CESA eingeleitete Untersuchungsverfahren möglicherweise bis zu zwei Jahre hinziehen, und somit wird es überhaupt keine Grundlage für schnelle Lösungen bieten, die aber angesichts der Situation auf dem internationalen Schiffbaumarkt absolut notwendig wären. Wenn es keine Lösungen gibt, dann sind unsere Werften in ihrer Existenz massiv bedroht und dann werden wir in diesem Bereich wieder einmal Tausende von Arbeitsplätzen verlieren. Ich denke, wir alle sind hier aufgefordert, die Bundesregierung mit größtem Nachdruck darauf hinzuweisen, dass sofort effektive Maßnahmen bei der EU-Kommission in Brüssel erreicht werden müssen. In dem im Mai anstehenden Beratungsgespräch muss eine Anschlussregelung für die Ende 2000 ausgelaufene Verordnung des Rates zur Beihilfegewährung für Neu- und Umbauten von Schiffen innerhalb der EU bis zur Herstellung fairer Wettbewerbsbedingungen gefunden werden. Aber die Bundesregierung sollte sich auf der EU-Ebene nicht nur durch den Maritimen Koordinator, dessen Arbeit ich grundsätzlich sehr begrüße, vertreten lassen, sondern muss hochkarätig an das Ganze herangehen. Bei meinem Gespräch mit dem koreanischen Botschafter in Berlin konnte ich in der Sache überhaupt keine Bewegung erreichen. Als ich auf die Probleme hinwies, fragte er mich, in welchem Bereich die Meyer-Werft denn tätig sei, und als ich erklärte, dass sie im Wesentlichen im Passagierschiffbau tätig sei, meinte er: „Da konkurrieren wir doch gar nicht miteinander“, so, als ob es einen separaten Markt in diesem Bereich geben würde, als ob nicht jeder wüsste, dass das Einkassieren und Schlucken von großen Aufträgen natürlich die deutschen Werften in ihrem Bestand gefährdet. Hier ist die Bundesregierung auch vor dem Hintergrund der Aussagen, die auf maritimen Konferenzen gemacht worden sind, aufgefordert, etwas zu tun. Hier ist der Kanzler in der Pflicht. Die Bundesregierung, der Bundeskanzler, wir alle müssen uns geschlossen und schützend vor die Arbeitsplätze in der deutschen Werftindustrie stellen. Vor diesem Hintergrund unterstützen wir die Anträge, die heute hier zur Erstberatung anstehen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht die Kollegin Antje Hermenau.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir alle stimmen darin überein, dass die Dumpingpreise der Koreaner zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Aber unabhängig davon, Herr Börnsen, dass es einen erbost, auf welche Art und Weise diese Dumpingpreise erzielt werden, zum Beispiel auch mit IWF-Krediten, muss man ein bisschen Augenmaß behalten. Das ist eigentlich der Sinn und Zweck der heutigen Debatte. Wir werden das in den Ausschüssen vertiefen. Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, dass wir ständig und schicksalsergeben über Plan B diskutieren, indem wir sagen: Wir brauchen eine Anschlussregelung für die Zinssubventionierung. Das ist mir zu schwach. Ich bin der Auffassung, dass wir versuchen sollten, die anderen Instrumente, die uns zur Verfügung stehen - darauf komme ich noch zu sprechen -, stärker zu nutzen und mit ihnen unsere Interessen durchzusetzen. Auf der einen Seite kann man immer die Untätigkeit der Europäischen Kommission anprangern. Auf der anderen Seite muss man sich aber fragen, wie man die Kommission in Bewegung setzen kann. Wir werden in Deutschland zunehmend davon abhängig sein, dass die EU-Kommission in der Lage ist, Dinge in Angriff zu nehmen. Ich kann nur davor warnen, sich schon jetzt sozusagen apathisch zurückzuziehen und so zu tun, als ob es keine Chance mehr gebe, irgendetwas zu bewirken. Ich kann nur sagen: Vorsicht, schauen wir mal! ({0}) Es gibt sicherlich den einen oder anderen, der der Meinung ist: Die innenpolitische Lage in Korea ist so schwierig, dass man Verständnis für das Vorgehen der Koreaner im Bereich des Schiffbaus haben muss. Ich sage ehrlich: Ich habe nicht so viel Verständnis. Ich bin der Auffassung, dass es dann, wenn sich die Koreaner nicht an vernünftige Normen halten - eigentlich ist die WTO hier der Ansprechpartner; an sie müsste nach unserem Verständnis die Klage gerichtet werden -, nicht damit getan ist, Verständnis für die schwierige innenpolitische Lage in Korea aufzubringen. In allen Ländern gibt es manchmal mehr oder weniger schwierige innenpolitische Situationen. Wir dürfen also den Koreanern die von ihnen verursachten Wettbewerbsverzerrungen nicht einfach durchgehen lassen. Aber das hat auch niemand getan. Wir haben die Wettbewerbsverzerrungen nicht einfach hingenommen; vielmehr haben wir - das wissen Sie selber; an dieser Stelle war Ihr melodramatischer Unterton, Herr Börnsen, vielleicht nicht ganz gerechtfertigt - im Haushaltsausschuss dafür gesorgt, dass die Werften für die nächsten drei Jahre ein ordentliches Polster haben. Sie haben bis zum Jahresende 2000 noch einmal Akquise machen können. Die Auftragsbücher der deutschen Werften sind proppevoll. ({1}) Vor dem Hintergrund kann man die gesamte Diskussion meiner Ansicht nach jetzt in aller Ruhe führen. Wir können uns überlegen, wie wir das legitime Ziel erreichen, dass die Wettbewerbsbedingungen im Schiffbau weltweit fair sind. Ich bin ganz sicher, die deutschen Werften hätten es eigentlich viel lieber, sie hätten statt der Dauersubventionen eine faire Wettbewerbssituation. Dauersubventionen sind, wenn wir einmal ehrlich sind, auch kein fairer Wettbewerb. Ich glaube auch nicht, dass es sinnvoll ist, diesen unfairen Wettbewerb in Form von Dauersubventionierung auf Dauer zu zementieren, indem wir im Prinzip, weil wir bei den Dumpingpreisen nicht mithalten können, unsere Subventionierung fortführen. Für mich ist das ein ewiger Kreislauf, den wir durchbrechen müssen. Wir haben da keine andere Wahl; denn man muss sich vor Augen führen, dass die Subventionshöhe im deutschen Schiffbau pro Arbeitsplatz fast die der deutschen Steinkohle erreicht hat. ({2}) Angesichts dessen weiß ich ganz genau, was auf uns zukommt, wenn wir einfach nur apathisch sagen: Wir werden die Zinssubventionierung verlängern; wir können nichts anderes machen. ({3}) - Es sind die Zahlen, die da sprechen. Das wissen Sie genau, Herr Goldmann. ({4}) Niedersachsen kommt mit der Kofinanzierung gerade noch hin; sie haben es im Haushalt noch geschafft. Schleswig-Holstein hat haushaltspolitisch Augenmaß bewiesen und die Mittel nicht ganz ausgeschöpft; das hat seine Gründe gehabt. Mecklenburg-Vorpommern hingegen verschuldet sich schamlos über beide roten Ohren. Meiner Meinung nach besteht für Mecklenburg-Vorpommern eher das Problem, dass es eine Kapazitätsbeschränkung gibt. Jedenfalls können wir nicht weiterhin mit der Dauersubventionierung im Zinsbereich arbeiten. Aber das sind Probleme, die in den Ländern differenziert zu betrachten sind. Insgesamt stehen den deutschen Werften mit den Kofinanzierungen der Länder für die nächsten drei Jahre mehr als 700 Millionen DM zur Verfügung. Das ist eine enorme Summe. Damit lässt sich schon so manches zusammenpacken. Ich bin erstaunt darüber, dass Sie von der CDU/CSU es nicht fertig bringen, sich ordnungspolitisch zu sortieren. Ich weiß nicht, was Sie von den Reden des Herrn Merz halten. Aber Herr Merz hat hier, ohne müde zu werden, ständig davon gesprochen, wie wichtig eine wirkliche Haushaltskonsolidierung und ein wirklicher Subventionsabbau seien. Er hat dazu fast schwadroniert. Offensichtlich meint er es nicht ernst; denn die Mitnahmeeffekte bei der Dauersubventionierung in Form von Zinsverbilligungen sind allen bekannt, die sich den deutschen Schiffbau ein bisschen näher anschauen. Das wissen Sie auch. Gleichwohl setzen Sie sich für eine Fortsetzung der Dauersubventionierung ein. ({5}) Da ist es kein Wunder, dass die F.D.P. ihr Heil in der Flucht suchen muss. Wir können die Absetzbewegungen alle beobachten. ({6}) Ich bin der Auffassung, wir können den Prozess bis zum Mai in Ruhe abwarten. Bis dahin brennt nichts an. ({7}) - Nein, da brennt überhaupt nichts an. - Die Auftragsbücher sind voll. Wir können sehen, wie weit sich das dort entwickelt. ({8}) Ich greife noch einen Punkt auf, von dem Sie heute noch gar nicht gesprochen haben. Sie tun immer so, als hätte der deutsche Schiffbau allein das Problem. Inzwischen ist jedoch klar geworden, dass selbst die Japaner nicht mehr zurecht kommen, dass auch sie nicht mehr in der Lage sind, mit den Dumpingpreisen der Koreaner zu konkurrieren. Das heißt, meiner Meinung nach wird der Druck auf die WTO schon ein etwas anderer sein, wenn sich diese Länder bei ihren Bemühungen zusammentun. Auch der Druck auf den IWF wird ein anderer sein, als wenn Deutschland alleine versucht, sich da durchzukämpfen. Wenn wir es nicht schaffen, auf diese Instrumente zurückzugreifen, dann sind diese Instrumente eine Farce. Dann können wir gleich sagen: Wir machen nur noch Nationalökonomie und versuchen damit unser Glück. ({9}) Das halte ich allerdings für einen völlig verkehrten Standpunkt. Ich danke Ihnen. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Kollegen Rolf Kutzmutz für die Fraktion der PDS.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Natürlich lehnt auch die PDS-Fraktion die existenzbedrohenden Beutezüge der südkoreanischen Werften auf dem Weltschiffbaumarkt ab. Auch wir plädieren für handelspolitische Sanktionen, wenn sich Südkoreas Regierung weiterhin weigert, ihrer Unterschrift - diese haben sie ja geleistet - unter vertragliche Abmachungen tatsächlich Taten folgen zu lassen; denn nur Vertragstreue kann das Fundament einer friedlich zusammenlebenden, demokratisch und sozial organisierten Weltgemeinschaft sein, die wir als Sozialisten anstreben. Aber wir sollten uns auch nichts vormachen: Wirksame Handelssanktionen, die Südkorea tatsächlich mehr treffen als die EU selbst, werden nur schwer umsetzbar sein. ({0}) Mit einem Einlenken beim Schiffbaudumping ist demnach kaum zu rechnen. Wir sollten auch redlich bleiben in unserer Argumentation. Angesichts der derzeit laufenden Auseinandersetzungen in den südkoreanischen Autokonzernen ist festzustellen, dass es letztlich die 1997 vom IWF festgelegten Bedingungen waren, die Südkorea erst zum Freibeuter auf den Meeren machten; denn dazu gehörten die Absenkung der Löhne und die Entlassung von Arbeitern. Das ist alles gesagt worden. ({1}) - Missbraucht? Wenn man solche Beschränkungen auferlegt bekommt, muss man reagieren. Wer keine andere Chance mehr hat, Geld zu verdienen, der greift nach jedem Mittel. Wir dürfen uns darüber nicht wundern, wir müssen etwas dagegen tun. Das ist richtig. Aber wir müssen auch die Ursache dafür sehen. ({2}) Deshalb sollten wir nicht nur auf WTO- oder OECDSchiffbau-Abkommen schielen, sondern auch im eigenen Haus all das wegräumen, was einen zukunftsfähigen Schiffbau in Europa behindert. Was hindert zum Beispiel die EU daran, nur nach dem jeweiligen Stand der Technik sichere Tanker und Frachter in ihre Gewässer zu lassen? Das führte nicht nur zu einem erstklassigen Arbeitsbeschaffungsprogramm für moderne europäische Werften, sondern wäre auch vorteilhaft für die Umwelt. ({3}) Unstrittig dürfte deshalb sein, dass die Bundesrepublik im vergangenen Jahrzehnt, gemessen an anderen wichtigen Schiffbaunationen, vergleichsweise wenig in die Fortentwicklung einer zukunftsfähigen maritimen Industrie investiert hat. Das gilt für Forschungs- und Entwicklungsmittel, für die Entfaltung regionaler Netzwerke und auch für die ingenieurtechnische Aus- und Weiterbildung, auch wenn mit dem Regierungswechsel zweifellos einiges in Gang gesetzt worden ist. Wir schätzen das Engagement des Koordinators für die maritime Wirtschaft, Herrn Dr. Gerlach, und hoffen, dass er den nötigen langen Atem und auch die nötige politische Rückendeckung für seine Arbeit bekommt. Das gilt insbesondere auch für die Modifizierung der Ende 2005 auslaufenden Kapazitätsbeschränkungen für die Werften Mecklenburg-Vorpommerns. Fakt ist: Damit wird mittlerweile nicht mehr der westeuropäische Markt, sondern einzig und allein die südkoreanische Konkurrenz geschützt. ({4}) Es ist Unsinn, so etwas zu machen. Bisher wurde nämlich traditionell in Wismar und Warnemünde, jetzt zunehmend auch in Stralsund, in Marktsegmenten produziert, die Fernost derzeit allein zu bedienen versucht. In Ostdeutschland stecken wir wegen dieser Beschränkungen in einer Produktivitätsfalle. ({5}) Die erreichte Rationalisierung schlägt sich nicht in Dollar oder Euro nieder, weil die Fixkosten nicht auf mehr Aufträge zu verteilen sind. ({6}) Ich möchte noch etwas zu den Hilfen sagen: Wenn es weiterhin staatliche Wettbewerbs- und Werfthilfen geben soll, müssten sie solidarischer als bisher getragen werden. Es kann nicht länger sein, dass neben dem Bund allein die Nordlichter dafür Landesmittel aufbringen müssen, in diesem Jahr immerhin 478 Millionen DM. ({7}) Damit werden schließlich weniger die Arbeitsplätze auf den Werften als vielmehr vor allem diejenigen bei den Zulieferern subventioniert, auf die immerhin zwei Drittel der Wertschöpfung beim Schiffbau entfallen. ({8}) Ein letzter Satz hierzu: Diese Firmen befinden sich vor allem in Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen. ({9}) Wem die Aufschlüsselung zu schwierig erscheint, der sollte all dies wenigstens beim Länderfinanzausgleich berücksichtigen. Danke schön. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun gebe ich das Wort der Kollegin Dr. Margrit Wetzel für die Fraktion der SPD.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Hermenau hat eben schon zu Recht darauf hingewiesen: Die Auftragsbücher der Werften, zumindest die der großen Werften, sind prall gefüllt. Das ist völlig richtig und das verdanken wir der Tatsache, dass der Bund und die Länder die möglichen Beihilfen noch drastisch aufgestockt haben. Nichtsdestotrotz darf uns das aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir jetzt schon seit Jahren Probleme mit Korea haben. Mir macht es ganz große Sorge - ich will jetzt nichts wiederholen, was schon über Marktanteile von Korea usw. gesagt wurde -, dass Korea inzwischen über 80 Prozent beim Großcontainerschiffbau akquiriert. Diese Schiffe werden zukünftig den weltweiten Liniendienst bestimmen. Hier liegt der Schiffbaumarkt der Zukunft. ({0}) Vor diesem Problem stehen wir. Bedenken wir, dass die Schleusen des Panamakanals auf 12 000 TEU-Schiffe erweitert werden sollen, dann sehen wir, wohin die zukünftige Entwicklung geht. Ich habe einfach ganz große Sorge, ob unsere Werften hierbei noch mithalten können, wenn wir nicht dafür sorgen, dass sie alle die entsprechende Auslastung behalten. Deshalb kann man sich nicht darauf ausruhen, dass hier in den nächsten drei Jahren Sicherheit besteht. Insbesondere die kleinen und mittleren Werften haben ganz große Probleme, weil überhaupt keine Aufträge für Standardtanker und Massengutfrachter mehr nach Deutschland gehen. Solche Aufträge sichern aber die Auslastung bei den kleinen Werften. Nur so kann verhindert werden, dass das Knowhow der Mitarbeiter, das sie in langjähriger Qualifizierung gewonnen haben, verloren geht. Nur bei entsprechender Auslastung können diese gehalten werden. Diesem Problem muss unsere Sorge gelten. Bei den durchaus versöhnlichen Ausführungen zur Schiffbaupolitik der Regierung vonseiten der CDU/CSU und F.D.P. wurde, wie ich glaube, ein Punkt übersehen: Die Maritime Konferenz in Emden ist von der gesamten maritimen Verbundwirtschaft mit ganz großer Freude aufgenommen worden. Gerhard Schröder war nämlich der erste Bundeskanzler, der das Thema maritime Industrie zur Chefsache gemacht hat. ({1}) Das ist in der Öffentlichkeit gebührend gewürdigt worden. ({2}) - Bei den Taten sind wir. Nur können wir die Erfolge nicht erzwingen; denn wir sind ein Rädchen im Getriebe, sowohl im Bereich der EU wie auch des IWF. ({3}) - Auch national. Sie haben doch gerade von Herrn Mosdorf gehört: Der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie hat vor kurzem mit EU-Kommissar Lamy verhandelt. Lamy war unmittelbar zuvor in Korea, wo er zum Beispiel einen durchschnittlichen Preisanstieg von 20 Prozent angemahnt hat. Das waren völlig richtige Signale. ({4}) - Dort hatten wir mehr Themen als nur den Schiffbau. ({5}) Aber auch der Schiffbau ist in Emden thematisiert worden. Wichtig ist doch, dass Sie selber in Ihrem Antrag fordern, dass die Verhandlungen mit Korea sowohl auf EUEbene als auch bilateral weitergeführt werden. Das ist eine völlig korrekte Forderung. Man muss aber einfach anerkennen - Herr Mosdorf hat das deutlich gemacht -, dass die Regierung damit nahezu wöchentlich beschäftigt ist. Das ist überhaupt keine Kritik an Ihrem Antrag. Ich finde es absolut anerkennenswert, dass Sie mit Ihrem Antrag diese Debatte im Parlament herbeiführen; denn es ist unser aller Aufgabe, durch Debatten und durch unser deutliches Bemühen, die Regierung zu unterstützen, klarzumachen: Das gesamte deutsche Parlament und die Regierung stehen hinter dem Bemühen, die Wettbewerbsfähigkeit unserer Werften zu sichern. ({6}) - Ich denke, darin sind wir völlig einig. Das heißt, wir müssen durchsetzen, dass Korea internationale Bilanzierungsregeln und Rechnungsstellungen akzeptiert. Wir müssen durchsetzen, dass Länder, die IWF-Kredite in Anspruch nehmen, auch Kapazitätsbeschränkungen akzeptieren; sonst dürfen wir ihnen keine Kredite geben. Der IWF-Fonds hat auf diesem Gebiet Fehler gemacht. Das nächste Problem besteht darin, dass der IWF nicht einmal ein Mandat hat, die Einhaltung der Kriterien durch sektorale Untersuchungen zu überprüfen. Das ist im Grunde genommen ein Skandal. Das wird uns überhaupt erst jetzt deutlich. Nun erkennen wir unseren Handlungsbedarf auf allen Ebenen. Auch die Klage vor der WTO, die durchaus immer als etwas sehr Fragwürdiges angesehen wird, ist im Moment eines unserer Mittel, um politischen Druck auf Korea auszuüben. Deshalb muss diese Klage durchgezogen werden und deshalb muss die EU diese Klage zügig bearbeiten. Vor allen Dingen muss die EU handelspolitische Sanktionen vorschlagen. Es führt überhaupt kein Weg daran vorbei, dass wir Sanktionen brauchen. ({7}) - Aber die EU muss die Klagevoraussetzungen prüfen und die Klage an die WTO weitergeben. Unabhängig von Formalien sind wir uns in der Sache völlig einig: Der politische Druck ist nötig und die EUKommission muss sich anstrengen, etwas zu tun, damit Korea begreift, dass es uns ernst ist. Sie haben auch mit der Forderung völlig Recht, dass wir bei der nächsten Sitzung des EU-Industrieministerrates dazu kommen müssen, neue wirksame Regelungen zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Werften zu vereinbaren. Diese Regelungen müssen, unabhängig von dem, was im Mai geschieht, beschlossen werden; das ist völlig klar. Ich selber setze ganz große Hoffnungen darauf, dass über das neue Weltschiffbauabkommen wirklich zügig verhandelt wird. Mein Appell an die Regierung geht dahin, diese Angelegenheit möglichst aktiv voranzutreiben. Dass Japan und Korea im Moment erklären, sie akzeptierten das alte OECD-Abkommen, ist der reine Hohn. Wir haben gerade durch die Koreakrise erkannt, dass das alte OECD-Abkommen überhaupt nicht wirksam ist. ({8}) Dass die USA nicht zustimmen, ist etwas anderes. Aber dass Korea diesem Abkommen zustimmen will, ist der reine Hohn; denn es enthält bei Verstößen gegen das Verbot von Dumpingpreisen genau diese Sanktionen nicht und es enthält keine Vorschriften für Bilanzierungen und Rechnungsstellungen. Wir haben erkannt, wie notwendig solche Vorschriften sind. Das heißt, wir brauchen ein absolut neues Weltschiffbauabkommen, das von den entscheidenden Nationen akzeptiert wird. Dass dies zustande kommt, ist die Hoffnung, auf die sowohl wir Parlamentarier wie auch die Werften setzen. Mit einem haben sie unisono Recht gehabt: Die Werften wollen keine Dauersubventionen, sondern faire Wettbewerbsbedingungen. Unsere politische Aufgabe ist es, ihnen dazu zu verhelfen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksache 14/5137 und 14/5457 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/5137 soll zusätzlich an den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder überwiesen werden. - Das Haus ist damit einverstanden. Die Überweisungen sind somit beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Arbeitsplatzabbau bei Förderung von Produktionsverlagerungen ausschließen - Drucksache 14/5248 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Vereinbart ist eine Aussprache von einer halben Stunde. - Ich höre keinen Widerspruch. Das Haus ist also damit einverstanden. Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem Kollegen Gerhard Jüttemann für die antragstellende Fraktion der PDS.

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Geschichte zum Thema Wirtschaftsförderung: Im niedersächsischen Bad Lauterberg gibt es seit langem eine Blechwarenfabrik namens Hemeyer-Verpackungen GmbH. Der Chef, Herr Hemeyer, ist ein kühler Rechner. Er hat deshalb schon vor Jahren im Raum Bitterfeld in Sachsen-Anhalt sehr billig ein großes Gelände erworben und 1998 dort einen Teilbetrieb angesiedelt. Die Einzelheiten sahen so aus: Herr Hemeyer entließ in Bad Lauterberg 54 Beschäftigte, die bis dahin tariflich entlohnt worden waren. In Bitterfeld wurden überwiegend Langzeitarbeitslose eingestellt, deren Löhne in Höhe zwischen 9 und 15 DM bis zu 70 Prozent vom Arbeitsamt übernommen worden sind. ({0}) - Ja, den kenne ich. - Nur 20 Tage Urlaub sind die Regel; einen Betriebsrat gibt es nicht. Aus all diesen Gründen hat Herr Hemeyer einmal gesagt, er fühle sich im Osten wie auf Rosen gebettet. ({1}) Deshalb will er nun im kommenden Jahr auch den Rest seines Betriebes nach Bitterfeld bringen. Das wird in Bad Lauterberg erneut knapp 50 tarifliche Arbeitsplätze kosten. Der Fall Hemeyer ist kein Einzelfall. Wenn zum Beispiel die Zwiebackfirma Brandt ihren Standort im westfälischen Hagen verlässt, um im thüringischen Ohrdruf wie Phönix aus der Asche neu zu entstehen, dann mag das zunächst für den Aufbau Ost gut klingen. ({2}) Wenn dabei aber 330 Arbeitsplätze auf Nimmerwiedersehen verschwinden, weil 430 Kündigungen nur 100 Neueinstellungen gegenüberstehen, und wenn diese Entwicklung vom Staat mit Millionensummen gefördert wird, dann nenne ich das einen Skandal. Diese Art der Wirtschaftsförderung bezahlen die Menschen im Westen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, und die Menschen im Osten, die schlecht bezahlt werden. Die Regierung Schröder will nach eigenen Aussagen an nichts anderem gemessen werden als am Abbau der Arbeitslosigkeit. In Wirklichkeit fördert sie aber, wie diese Beispiele zeigen, nicht den Abbau der Arbeitslosigkeit, sondern deren Ausweitung. Wo ist da die Logik? Sie können es doch nicht als Aufbau Ost und als gewünschte Richtung der Entwicklung bezeichnen, wenn Firmen in den alten Bundesländern schließen und ihre Beschäftigten entlassen - Beschäftigte mit existenzsichernden Arbeitsplätzen, tarifvertraglich abgesichert und gewerkschaftlich organisiert mit funktionierenden Betriebsräten -, dann aber auf Staatskosten in den Osten ziehen, um dort auf Dauer sehr viel weniger Arbeitsplätze zweiter und dritter Klasse zu schaffen. Merken Sie denn nicht, dass hier gesellschaftliche Standards, die ja nicht vom Himmel gefallen sind, in Ost und West mit dauerhafter Wirkung abgebaut werden? ({3}) Diesen Abbau fördern wir mit Steuergeldern in Millionenhöhe. Das ist kein Aufbau Ost; das ist die schamlose Ausnutzung des Ostens für den sozialen Kahlschlag in ganz Deutschland. Gelegentlich hört man als Gegenargument: Es ist ja klar, dass ein Betrieb, der im Westen schließt und im Osten neu aufmacht, nicht mehr so viel Arbeitsplätze benötigt wie vordem; denn die neuen Anlagen sind ja in der Regel viel produktiver. Natürlich hat diese Argumentation ihren Reiz. Dazu passt nur nicht, dass die Beschäftigten im Osten dann nur 70 Prozent oder noch weniger des Lohnes ihrer Westkollegen bekommen, obwohl sie doch so viel effektiver produzieren. ({4}) Die Zeitungen sind ja voll davon, dass im Osten endlich die Lohnerhöhungen gestoppt werden müssen, wenn der wirtschaftliche Aufschwung nicht gefährdet werden soll. Ich sage Ihnen: Ohne schnellstmögliche Angleichung vor allem der Löhne - das heißt auch: unverzügliche Angleichung der sozialen Standards der Beschäftigten in Ost und West - wird es keinen wirtschaftlichen Aufschwung geben. Ohne diese Angleichung wird der Osten weiter ausbluten, sodass er dann in nicht allzu ferner Zukunft endgültig von Thierses Kippe fällt, mit den entsprechenden negativen sozialen Folgen auch im Westen. Es kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass dieser Prozess den gesamtgesellschaftlichen Interessen zuwiderläuft. Die PDS fordert die Regierung deshalb auf, die finanzielle Förderung des Abbaus von Beschäftigung und von sozialen Standards in Deutschland sofort einzustellen. ({5}) Im Osten ist schon heute nur noch jeder zweite Arbeitnehmer in einem Unternehmen beschäftigt, das an Tariflöhne gebunden ist, was noch lange nicht heißt, dass auch jeder zweite diesen Tariflohn tatsächlich erhält. Wir müssen diese Entwicklung nicht noch mit Millionensummen fördern. Im Osten fehlen 1,5 Millionen Arbeitsplätze. Aber Turnschuhjobs haben wir schon zu viele. Was wirklich fehlt, sind solide, zukunftsfähige, existenzsichernde und an Tarifverträgen orientiere Arbeitsplätze in Unternehmen, in denen Mitbestimmung, Gewerkschaftsleben und Betriebsräte keine Fremdworte sind. Geben Sie dafür das Geld aus! Im anderen Fall werden Sie den Menschen in den alten Bundesländern niemals erklären können, dass sie für weitere Hilfen für den Aufbau Ost, die noch lange nötig sein werden, ihre Zustimmung geben sollen. Da müssen wir anfangen. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der SPD spricht die Kollegin Jelena Hoffmann.

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS ist die stärkste Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen. - Das ist kein Versprechen, sondern das sind offensichtlich Ihre kühnsten Träume, liebe Kollegen von der PDS, lieber Herr Jüttemann. Auf jeden Fall spricht Ihr Antrag deutlich diese Sprache. Ich möchte mich ja nicht in Ihre strategischen Überlegungen einmischen. Aber es muss doch erlaubt sein, Zweifel anzumelden, ob Ihre Strategie aufgehen wird und ob Ihnen die Westwähler scharenweise in die Arme laufen werden, wenn Sie solche populistischen Anträge schreiben. Worum geht es hier? Es kann passieren, dass ein Unternehmen feststellt, dass sich seine Produktion mit seinen Maschinen nicht mehr lohnt. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen kann sich der Unternehmer entscheiden, seinen Betrieb zu schließen. Wenn die Produkte gefragt sind und der Markt da ist, kann er seinen Betrieb auch verlagern, ({0}) vielleicht an einen neuen Standort im Ausland oder doch irgendwo in Deutschland. ({1}) Die Entscheidung kann dabei auch für Thüringen oder für Sachsen fallen. ({2}) Wirtschaftlich gesehen ist dieser Vorgang eine ganz normale Sache. Entscheidungshilfen für die Standortwahl füllen die Bibliotheken von Wissenschaft und Managern, von Theoretikern und Praktikern. Es ist meine feste Überzeugung, dass es die Aufgabe und sogar die Pflicht jedes Unternehmens ist, seine Produktionsbedingungen so gut wie möglich zu gestalten. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist selbstverständlich die persönliche Katastrophe, die so ein Umzug für jeden einzelnen Arbeitnehmer mit sich bringen kann. „Kann“ sage ich ganz ausdrücklich, denn es gibt umfangreiche Rechte des Betriebsrates, bei eventuellen Standortverlagerungen tätig zu werden. Mancher ist sehr mobil und packt gerne seine Koffer und zieht mit der ganzen Familie um. Andere hängen an ihrer Heimat und nehmen die Arbeitslosigkeit in Kauf. Oder es sind rein wirtschaftliche Überlegungen einer Familie. Meistens sind es leider immer noch die Frauen, die den Kürzeren ziehen, weil sie noch immer weniger verdienen. Um jedes Missverständnis von Anfang an zu vermeiden, möchte ich ganz ausdrücklich sagen: Es tut mir in der Seele weh und Leid um jeden einzelnen Arbeitsplatz in Deutschland, der verloren geht. Dabei ist es völlig egal, ob diese Stelle in Hagen, in Chemnitz, in Bremen oder in Regensburg verloren geht, mit anderen Worten: ob das im Westen oder im Osten passiert. Aber warum reden wir nun im Bundestag darüber, was die Verlagerung einer Produktion bedeutet? Die Firmen, die im Antrag der PDS aufgezählt sind, ziehen in die neuen Bundesländer um. Weil viele Regionen im Osten leider noch immer eine Förderung durch die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ brauchen, können auch besagte Firmen von der Förderung profitieren. Das war politisch so gewollt und das brauchen wir im Osten noch immer. ({3}) Aber dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, nur einige Einzelfälle aufgreifen und das bewährte Förderinstrumentarium der GA infrage stellen, kann ich nun wirklich nicht verstehen. Sie benutzen die von der Arbeitslosigkeit Betroffenen für Ihre eigenen politischen Zwecke und rühren im Westen mit populistischen Mitteln die Werbetrommel. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jüttemann?

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Gerhard Jüttemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002693, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Hoffmann, haben Sie mich vielleicht falsch verstanden? ({0}) Ich will nicht verhindern, dass sich Unternehmen im Osten ansiedeln. Ich bin für jeden Arbeitsplatz dankbar. Aber wir können doch nicht zusehen, wenn Unternehmen mehr Arbeitsplätze abbauen - egal ob in Ost oder West; in unseren Referenzbeispielen ging es von West nach Ost -, ({1}) als sie an neuen schaffen, und sich das noch mit Millionen honorieren lassen. Das kann doch wohl keine Wirtschaftsförderung sein. Oder haben Sie das missverstanden? Es geht nur um solche Beispiele, nicht um die generelle Verlagerung.

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Jüttemann, ich habe Sie eindeutig verstanden und auch ganz genau Ihren Antrag gelesen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Sie vertiefen die Gräben zwischen Ost und West weiter. Das geht so nicht. ({0}) Das ist, wie Frau Hermenau eben völlig zu Recht zugerufen hat, eine wirtschaftliche Entscheidung. Wir alle müssen dafür sorgen, dass die Arbeitsplätze in Deutschland bleiben. Zum Teil werden sie auch nach Ostdeutschland verlagert. ({1}) Tatsache ist doch Folgendes - das gehört auch noch zur Antwort auf Ihre Frage, Herr Jüttemann -: Ein Betrieb denkt in der Regel dann über eine Standortverlagerung nach, wenn die Produktion am alten Standort nicht mehr rentabel ist oder aus anderen Gründen nicht mehr fortgesetzt werden kann. Das ist also eine unternehmerische Entscheidung. Man kann die neuen Kapazitäten im Ausland aufbauen. Dann gehen die Arbeitsplätze für Deutschland ganz verloren. Im Interesse von uns allen ist es aber doch, Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten, ({2}) und zwar auch dann, wenn sie in eine strukturschwache Region in einem anderen Bundesland gehen. Selbst dann, wenn wie im Falle der Firma Brandt am Ende weniger Arbeitsplätze als vorher erhalten bzw. geschaffen werden, ist eine Förderung nach Ansicht von Bund und Ländern gerechtfertigt und notwendig. Die Erfahrungen zeigen, dass die Entscheidung des Unternehmers, den Standort zu schließen oder zu verlagern, in der Regel nicht aufgrund der Fördergelder getroffen wird. Was Sie, sehr geehrte Damen und Herren von der PDS, ebenfalls nicht berücksichtigt haben, ist die Tatsache, dass nicht der Bund die letzte Entscheidung bei der GA-Förderung trifft. Die Bundesländer sind für die Durchführung, das heißt für die Prüfung der Förderanträge, für die Entscheidung über die Höhe der gewährten Zuschüsse und für die Kontrolle, allein zuständig und verantwortlich. Jelena Hoffmann ({3}) Leider gibt es bei dieser Förderung der strukturschwachen Regionen auch Mitnahmeeffekte und Fälle von Missbrauch. Die Länder sind dazu verpflichtet, die Investitionen zu prüfen. Sollte tatsächlich etwas nicht rechtmäßig sein, dann müssen die Fördergelder zurückgezahlt werden. Aber auch mithilfe intensiver Kontrollen kann man solche Fälle von Missbrauch nicht völlig ausschließen. Schwarze Schafe gibt es überall. Man darf aber nicht nur von solchen Fällen reden. Das ist also noch lange kein Grund dafür, das Instrument der Gemeinschaftsaufgabe infrage zu stellen Es ist einfach nicht korrekt, sehr geehrte Kollegen von der PDS, den Aufbau Ost gegen einzelne Fälle in Westdeutschland auszuspielen. Sie aber machen das mit Ihrem Antrag. ({4}) Wie ich bereits sagte, tut es mir um jeden einzelnen Arbeitsplatz in Ost- und Westdeutschland Leid. Aber wenn Sie jetzt hergehen und den Betroffenen einreden, der Aufbau Ost sei an ihrer Situation schuld, dann argumentieren Sie demagogisch und reißen sinnlos neue Gräben auf. Dabei sind wir ein Land, das mit voller Kraft darangehen muss, Arbeitsplätze im Land zu halten und neue zu schaffen. Das ist die politische Zielgerade, die wir erreichen müssen. Ihr Flickwerk führt dagegen, wenn es überhaupt irgendwohin führt, in die Irre. Vielen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Jochen-Konrad Fromme für die CDU/CSUFraktion das Wort.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der PDS beinhaltet in klassenkämpferischer Art und Weise Unterstellungen. Er reißt wieder Gräben auf, deshalb kann man ihm nicht zustimmen. Herr Kollege Jüttemann, Sie verkennen einfach betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten. Häufig ist es doch so, dass man vor der Frage „Weniger oder nichts?“ steht. Dann ist doch das Weniger immer noch besser als gar nichts. ({0}) Meine Damen und Herren, wir wollen keine neuen Gräben, wir wollen nicht Ost gegen West ausspielen. Wir müssen die Probleme gemeinsam lösen, und zwar emotionsfrei und ohne Klassenkampf. ({1}) Dieser Antrag gibt mir aber Gelegenheit, ein Problem aufzuzeigen, das wir auch in umgekehrter Richtung haben. Ich vertrete hier einen Wahlkreis, der im ehemaligen Zonenrandgebiet liegt. Da sagen mir die Handwerker: Wir bekommen keinen einzigen öffentlichen Auftrag mehr, weil alle diese Aufträge an die Firmen gehen, die ihren Sitz wenige Kilometer weiter in den neuen Bundesländern haben. ({2}) - Es ist nicht die Frage, wer da rübergegangen ist. Wir haben in zweifacher Hinsicht Probleme an den Schnittstellen. Ich spreche das auch deshalb so ausführlich an, weil wir darauf achten müssen, dass wir nicht an der nächsten Schnittstelle, wenn es um die Osterweiterung der EU geht, diese Probleme erneut bekommen. Deswegen müssen wir darüber nachdenken. ({3}) Beipiele Löhne: Wir haben im Westen ein durchschnittliches Lohnniveau von 24 DM, im Osten ein durchschnittliches Lohnniveau von 17 DM. ({4}) Ich habe das einmal durchgerechnet: Für einen Installationsbetrieb mit 15 Mitarbeitern bedeutet das einen Kostenunterschied von fast 250 000 DM. Wenn dieser Betrieb mit diesen Mehrkosten anbieten muss, dann hat er natürlich keine Chance im Wettbewerb. Da nützen auch die Tariftreueerklärung und das Entsendegesetz nichts, wenn das nicht scharf kontrolliert wird. Bundesanstalt für Arbeit und Zollämter, die dafür zuständig sind, dürfen die Erklärung nicht nur entgegennehmen und abheften, sondern müssen in die Betriebsunterlagen gucken und auch nachprüfen, was denn wirklich gezahlt wird. Die Tarifverträge gibt es nämlich aus guten Gründen. Dass wir das nicht allein so sehen, zeigt auch die Tatsache, dass die SPD-Landtagsfraktion in Hannover darüber nachdenkt, ein entsprechendes Gesetz einzubringen. Es geht aber noch um einen weiteren Punkt, nämlich um die Frage, wie sich Investitionsförderung eigentlich auswirkt. Natürlich wollen wir, dass die entsprechenden Betriebe auf die Beine kommen. Deswegen brauchen sie Investitionsförderung. Ich habe da ganz konkret einen Betrieb vor Augen - 200 Millionen DM Umsatz -, der bei einer Investitionssumme von 200 Millionen DM in Magdeburg 43 Prozent und im ehemaligen Zonenrandgebiet 8 Prozent Förderung bekommt. Das macht, heruntergerechnet auf den Endpreis, 2 Prozent des Angebotspreises aus, die er nicht abschreiben und verzinsen muss. Eine Differenz von 2 Prozent führt in einem scharf umkämpften Markt schlicht und einfach dazu, dass man keine Aufträge mehr bekommt. Das ist das Problem. ({5}) Wir müssen auf der einen Seite dafür sorgen, dass die Förderung gezielt dort eingesetzt wird, wo sie notwendig ist. Wir müssen aber auf der anderen Seite versuchen, Verwerfungen, die dadurch im Wettbewerb entstehen, in den Griff zu bekommen. Es geht nicht darum, ob das jemand zum Beispiel dazu missbraucht, den Lohn zu drücken. Das ist eine Frage, mit der sich die Tarifparteien, mit der sich die Gewerkschaften auseinander setzen müssen. Es geht darum, dass wir Wettbewerbsverzerrungen an den Schnittstellen verhindern müssen, um so zu verhinJelena Hoffmann ({6}) dern, dass Betriebe, die eigentlich eine gute Existenz hätten, zerstört werden oder gezwungen werden, mit zusätzlichen Kosten ihren Standort zu verlagern, um dann wieder wettbewerbsfähig zu werden. Das, meine Damen und Herren, ist die Aufgabe. Darum sollten wir uns kümmern. Schönen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich will doch bekannt machen, dass der Redner auf sieben Minuten seiner Redezeit verzichtet hat. ({0}) Kollege Werner Schulz vom Bündnis 90/Die Grünen hat erklärt, - ich gehe davon aus, dass auch dies die volle Zustimmung des Hauses findet -, dass er seine Rede zu Protokoll gibt.1) ({1}) Für die F.D.P. gebe ich dem Kollegen Hans-Michael Goldmann das Wort.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe soeben im Kürschner nachgeschaut, welchen Beruf Sie, Herr Jüttemann, haben. Denn ich konnte gar nicht glauben, dass das, was Sie von sich gegeben haben, ernst gemeint sein kann. Ich habe gelesen, dass Sie Zerspanungsfacharbeiter sind. Auf jeden Fall wissen Sie, wie ich annehme, wie richtig gearbeitet wird. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Eigentlich müsste doch einem wie Ihnen der Wert eines Arbeitsplatzes ganz besonders klar sein. Vor diesem Hintergrund bin ich sehr über das überrascht, was Sie gesagt haben. Nebenbei gesagt, ich werde Ihre Anregungen in all den Gesprächen, die ich bei mir vor Ort führe, nicht aufgreifen. Denn es gibt in meiner Region, in der die Arbeitslosigkeit in manchen Bereichen immerhin 15 Prozent beträgt, eine Menge Leute, die nicht nur jubeln, wenn es darum geht, neue bzw. zusätzliche Programme dafür aufzulegen, dass es den Menschen in den neuen Ländern ein Stück besser geht; was ich persönlich für absolut notwendig halte. Zu Herrn Kollegen Kutzmutz, der soeben anmerkte: „Aber nicht mit staatlichen Mitteln!“, kann ich nur sagen: Eine Entwicklung der Innenstädte, die Beseitigung des Wohnungsleerstandes und Schaffung von Arbeitsplätzen, ohne staatliche Mittel? Na, dann Prost! Das sollten Sie einmal Ihrer Kollegin Ostrowski sagen ({0}) - jetzt hören Sie einmal zu! -, ({1}) die in jeder Ausschusssitzung Anträge in Milliardenhöhe zur Bereitstellung öffentlicher Mittel für Ostdeutschland stellt. Wenn Sie Ihren Antrag auch nur andeutungsweise ernst gemeint haben, dann haben Sie ihm durch Ihre Ausführungen, die Sie hier vorhin gemacht haben, einen Bärendienst erwiesen. Nun möchte ich etwas zu dem ganz konkreten Fall sagen, der Sie ja gar nicht interessiert. Ich habe dem Kollegen aus Hagen gerade gesagt, dass ich hier sagen werde: Ich finde es richtig, dass die Firma Brandt Zwieback GmbH nach Thüringen wechselt. Ich will Ihnen auch sagen, warum. ({2}) - Das stimmt überhaupt nicht. Die Firma hatte am Standort Hagen keine Entwicklungsmöglichkeiten. Das wissen Sie genauso gut wie ich. ({3}) Ebenso wissen Sie genauso gut wie ich, dass das Land Nordrhein-Westfalen einen Arbeitgeber, der Arbeitsplätze vorhält, nicht ohne Weiteres gehen lässt. Nein, die Rahmenbedingungen in Hagen waren für einen zukunftsfähigen Betrieb nicht geeignet. ({4}) - Ich war schon einmal da. Ich kenne Hagen ziemlich gut, vielleicht besser als Sie. ({5}) - Geschätzter Kollege, hören Sie wenigstens zu, wenn Sie schon einen Zuruf machen! Wollen Sie etwa behaupten, dass die Kollegen von der PDS soeben richtige Ausführungen gemacht haben, oder wollen Sie vielleicht nicht doch zur Kenntnis nehmen, dass nach Auffassung der Firma Brandt der Standort, den sie jetzt im Thüringischen findet, der einzig mögliche zukunftsfähige Standort in der Bundesrepublik Deutschland ist? Wissen Sie denn nicht, dass die Firma Brandt weitreichende Angebote aus Polen und Tschechien bekommen hat? Seien Sie von der PDS doch froh darüber, dass in dem Gewerbegebiet mit seiner Infrastruktur, das mit umfangreichen öffentlichen Mitteln entstanden ist und in das die Firma Brandt ihre Produktion verlagert, und für die Menschen, die an mit öffentlichen Mitteln geförderten Programmen teilnehmen, Arbeitsplätze geschaffen und gesichert werden. ({6}) Das, was Sie hier gesagt haben, finde ich skandalös im Vergleich zu dem Anspruch, den Sie als sozialistische Partei ansonsten erheben, indem Sie sich für die Menschen bzw. für die Schaffung von Arbeitsplätzen einsetzen. Was Sie hier getan haben, ist eine echte Beleidigung der Menschen in Ihrer Region. Das können wir absolut nicht hinnehmen. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das Wort hat nun der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion. 1) Anlage 3

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 1912 gründet Carl Brandt die Märkische Zwiebackfabrik in Hagen-Haspe. Der Betrieb wächst rasch, die Zwiebacktüte mit dem Kindergesicht - Sie kennen sie wahrscheinlich; ich habe Ihnen ein Exemplar mitgebracht - wird schnell zu einem Markenzeichen auch für die Stadt Hagen. 1984 übernimmt der Sohn des Gründers, Carl-Jürgen Brandt, das traditionsreiche Unternehmen, in dem zu diesem Zeitpunkt 2 500 Menschen arbeiten. Zehn Jahre später arbeiten nur noch 1 300 Menschen in Haspe, 1999 schließlich nur noch 632. Herr Goldmann, als jemand, der mit dem Zwiebackgeruch groß geworden ist, kann ich Ihnen nur sagen, dass die Rahmenbedingungen nicht so schlecht waren, wie Sie das dargestellt haben, und dass die Stadt Hagen viel dafür getan hat, dieses Unternehmen zu halten. Aber dies hat andere Gründe. ({0}) - Weil die Subventionen lockten; aber darauf gehe ich gleich ein. Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte im Deutschen Bundestag? - Weil ich deutlich machen will, dass Hagen mit Brandt Zwieback mehr als Arbeitsplätze verliert. Ein Stück Identität und Geschichte geht in einer Stadt verloren, die in den letzten dreißig Jahren über 12 000 Stahlarbeitsplätze hat verlieren müssen. Als vor einem Jahr die Hagener Zeitungen erstmals meldeten, dass CarlJürgen Brandt das Unternehmen nach Ohrdruf in Thüringen verlagern will, ging ein Aufschrei der Empörung, aber auch der Solidarität, durch die Bevölkerung. Bei einer Investition von insgesamt etwa 80 Millionen DM zahlen Bund und Land 30 Millionen DM an Subventionen in Thüringen. 430 Arbeitsplätze in Hagen gehen verloren; etwas über 100 werden in Ohrdruf geschaffen. Statt kreditfinanziert endlich sein Unternehmen in Hagen zu modernisieren und seine Pflicht zu tun, kassiert ein Unternehmer Steuersubventionen und baut in Thüringen neu. „Wir finanzieren mit unserem Solidaritätsbeitrag den Abbau unseres eigenen Arbeitsplatzes“, sagen die Beschäftigten. Ich kann diese Reaktion verstehen, denn als Hagener kann man den Sinn dieses Subventionssystems kaum begreifen. „Aber NordrheinWestfalen hätte es umgekehrt genauso gemacht“, sagte eine Vertreterin des Wirtschaftsministeriums NRW ehrlicherweise. Das ist in der Tat das Problem. Umso mehr ärgert mich wieder einmal das Vorgehen der PDS. Durch Ihre Äußerungen haben Sie der Belegschaft im letzten Jahr Hoffnungen gemacht, die einfach nicht realistisch sind. Wir dürfen nicht mit den Nöten und Ängsten der betroffenen Arbeitnehmer und ihrer Familien spielen. Es ist unverantwortlich, auf dem Rücken der Betroffenen ein politisches Süppchen zu kochen. Damit verbrennen Sie sich auf Dauer die Finger. ({1}) Als Hagener Abgeordneter ist es meine Aufgabe, mit den Sorgen der Menschen verantwortungsvoll umzugehen und keine Versprechungen zu machen, die ich nicht halten kann. Die Forderungen in Ihrem Antrag sind an sich sympathisch, aber sie wecken falsche Hoffnungen. Das System ist nämlich komplizierter, als Sie es wahrhaben wollen. Die Kriterien in Ihrem Antrag sind kaum zu verwenden, denn das Lohnniveau in Ostdeutschland ist nun einmal niedriger als im Westen. Das bedauern wir ebenfalls; aber das Betriebsverfassungsgesetz - und das wird demnächst sogar noch besser werden - gibt es auch im Osten. ({2}) Sie fordern, der Bund möge im Einvernehmen mit den Bundesländern Kriterien festlegen. Das wollen wir versuchen. Bund und Länder diskutieren nämlich bereits, wie das Fördersystem nach 2004 aussehen kann. Aber man darf sich nicht täuschen, wie schwierig solche Verhandlungen sind. Eine Einvernehmensregelung gibt es - der Kollege von der CDU hat das bereits gesagt - bereits in vergleichbaren Verlagerungsfällen in den Gebieten der ehemaligen Zonenrandförderung, zum Beispiel, wenn ein Unternehmen von Helmstedt zwanzig Kilometer nach Osten zieht oder - oft genug der Fall - von Bayern über die Grenze nach Thüringen abwandert. Doch selbst unter Landesregierungen gleicher politischer Couleur ist die Herstellung eines Einvernehmens sehr schwierig; es herrscht ein harter Konkurrenzkampf. Es ist daher die Frage, inwieweit dieses Modell auf die Bundesebene übertragbar ist. Die schwachen Regionen, gerade die im Osten des Landes, werden verständlicherweise stets auf ihre großen Probleme und auf die Nähe zu Polen und Tschechien, die als Alternativstandorte immer wieder genannt werden, verweisen. Für die Förderpolitik gilt es, realistische Modelle zu diskutieren, die von allen Ländern getragen werden. Der Belegschaft von Brandt gilt unsere Solidarität und unser Engagement. Das können Sie glauben; und da reicht es nun einmal nicht, als PDS-Abgeordneter einzufliegen und falsche Versprechungen zu machen. ({3}) Zusammen mit dem in dieser Frage sehr engagierten nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Wolfgang Clement und der Stadt Hagen müssen wir versuchen, den Beschäftigten in Hagen eine Perspektive zu geben. Mein persönlicher Dank geht an den Betriebsrat - stellvertretend sei der Kollege Bernd Bisterfeld genannt -, an das Bürgerbündnis und an alle Hasper und Hagener Bürger für ihre Solidarität. Glück auf! Den Zwieback gebe ich Ihnen, Herr Präsident - sozusagen zu Protokoll. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Den Zwieback haben wir uns verdient. Der Kollege hat nämlich seine Redezeit deswegen überschritten, weil er mit der Zwiebackpackung das optische Signal des Präsidenten verdeckt hat. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5248 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. - Das Haus ist einverstanden. Die Überweisung ist so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis c auf: 12. a) - Zweite und dritte Beratungs des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000 ({1}) - Drucksache 14/5198 ({2}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({3}), Meinrad Belle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000/2001 ({4}) - Drucksache 14/4247 (Erste Beratung 140. Sitzung - Zweite und dritte Beratungs des von den Abgeordneten Dr. Max Stadler, Dr. Edzard SchmidtJortzig, Jörg van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000 ({5}) - Drucksache 14/4134 ({6}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({7}) - Drucksache 14/5476 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Meinhard Belle Cem Özdemir Dr. Max Stadler Petra Pau bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({8}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksachen 14/5477, 14/5478 Berichterstattung: Abgeordnete Gunter Weißgerber Oswald Metzger Dr. Werner Hoyer b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({9}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({10}), Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Gleichbehandlung im öffentlichen Dienst - Ta- rifergebnis auf Beamte übertragen - Drucksachen 14/3772, 14/5476 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Meinrad Belle Cem Özdemir Dr. Max Stadler Petra Pau c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({11}), Meinrad Belle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der beamtenrechtlichen Altersteilzeit - Drucksache 14/3777 ({12}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({13}) - Drucksache 144594 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Meinhard Belle Annelie Buntenbach Dr. Max Stadler Petra Pau Die Kollegen Hans-Peter Kemper, SPD, Meinrad Belle, CDU/CSU, Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grü- nen, Dr. Max Stadler, F.D.P., Petra Pau, PDS, und für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper geben - ich sehe Ihr Einver- ständnis - ihre Reden zu Protokoll.1) ({14}) Wir kommen unter Tagesordnungspunkt 12 a zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 14/5476. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurfs zur Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000, ({15}). Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Wie war das Abstimmungsverhalten der F.D.P.? ({16}) Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS bei Stimmenthaltung der CDU/CSU angenommen. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters 1) Anlage 4 Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Lesung angenommen. Weiter zu Tagesordnungspunkt 12 a: Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der CDU/CSU zur Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000/2001 auf Drucksache 14/4247. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der F.D.P. zur Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000 auf Drucksache 14/4134. Wer diesem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen abgelehnt. Auch hier entfällt nach der Geschäftsordnung die weitere Beratung. Tagesordnungspunkt 12 b: Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Gleichbehandlung im öffentlichen Dienst - Tarifergebnis auf Beamte übertragen“, Drucksache 14/3772. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die übrigen Stimmen des Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 12 c: Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Fortentwicklung der beamtenrechtlichen Altersteilzeit auf Drucksache 14/3777. Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4594, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der anderen Fraktionen abgelehnt. Die weitere Beratung entfällt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus Riegert, Ilse Aigner, Marie-Luise Dött, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung ehrenamtlicher Tätigkeiten in Vereinen und Organisationen - Drucksache 14/5224 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({17}) Sportausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Die Kollegen Dieter Grasediek SPD, Klaus Riegert, CDU/CSU, Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen, Gerhard Schüßler, F.D.P. und Dr. Klaus Grehn, PDS ge- ben ihre Reden zu Protokoll.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5224 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisung ist so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis c auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes - Drucksache 14/5335 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({18}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard SchmidtJortzig, Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes und des Ausländergesetzes - Drucksache 14/4537 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({19}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. „Schlussoffensive“ für erleichterte Einbürgerung von Kindern - Drucksache 14/4416 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({20}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Bürsch, SPD, Thomas Strobl, CDU/CSU, Marie-Luise Beck, Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters 1) Anlage 5 Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Max Stadler, F.D.P., Ulla Jelpke, PDS, und die Parlamentarische Staatssekretärin Sonntag-Wolgast geben ihre Reden zu Protokoll.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5335, 14/4537 und 14/4416 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir sind, liebe Kolleginnen und Kollegen, am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. März, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.