Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile dem Kollegen Gerhard Friedrich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Bulmahn, Sie haben heute entgegen Ihrer sonstigen
Gewohnheit ganz darauf verzichtet, die Opposition oder
die frühere Regierung zu kritisieren. Das erleichtert es
uns, Ihrem Gesetz zuzustimmen.
({0})
Leider ist diese friedliche Stimmung noch nicht bei allen
Mitgliedern der SPD-Fraktion und der Grünen angekommen. Deshalb will ich doch noch einmal kurz auf die Vergangenheit eingehen.
({1})
- Herr Kollege Tauss, neben Ihnen sitzt die von mir persönlich sehr geschätzte Kollegin Wimmer.
({2})
Letzte Woche hat sie wieder eine Presseerklärung abgegeben. Darin steht, wir hätten das BAföG früher heruntergewirtschaftet.
({3})
Die Frau Ministerin hat sich zu Recht vorsichtiger ausgedrückt. Das, was Sie, Frau Kollegin Wimmer, schildern,
entspricht auch nicht der Wirklichkeit.
Eines ist ja objektiv richtig - die Ministerin hat es angedeutet -: Die Ausgaben für das BAföG lagen in den
Jahren 1991, 1992 und 1993 bei 3,9 Milliarden DM und
sind bis zum Jahre 1998 - was wir gemeinsam bedauern auf 2,4 Milliarden DM abgesunken. Dabei spielt es sicherlich auch eine Rolle, dass sich die Einkommensverhältnisse in den neuen Bundesländern gebessert haben.
Bei einem Sozialgesetz ist es ja so: Wenn Einkommen
schnell steigen, dann fällt man aus den Voraussetzungen
für eine Sozialleistung heraus.
Darüber hinaus - das will ich auch gar nicht bestreiten,
sondern noch einmal ausdrücklich bestätigen - ist es uns
leider nicht gelungen, das zu tun, was § 35 BAföG eigentlich vorsieht, nämlich die Bedarfssätze und die
Freibeträge kontinuierlich der allgemeinen Entwicklung der Einkommen und der Lebenshaltungskosten
anzupassen.
Nur war es nicht so, dass die bösen Schwarzen etwas
blockiert und die
({4})
Freundinnen und Freunde von der SPD geschlossen engagiert für Studentinnen und Studenten gekämpft haben.
Ich habe Sie schon einmal daran erinnert und tue es heute
wieder: Im Jahre 1997 gab es drei Beschlüsse der
Finanzministerkonferenz, also auch der Finanzminister
der Länder, in denen diese gesagt haben: Erstens. Jede Reform muss kostenneutral sein. Zweitens. Die vorgelegten
Modelle - damals hatte die SPD ein Modell vorgelegt und
wir hatten das so genannte Bayern-Modell in die Diskussion gebracht - entsprechen nicht diesen Anforderungen.
Sie haben also früher Vorschläge gemacht, die im Bundesrat auch an Ihren eigenen Finanzministern gescheitert
wären.
({5})
Meine Damen und Herren, der Kollege Catenhusen hat
im Ausschuss, wenn ich mich recht entsinne, bezogen auf
die F.D.P., gesagt, die Opposition dürfe immer etwas mutiger sein und mehr verlangen als die jeweilige Regierung.
Sie selber haben diesen Mut vor der Bundestagswahl sehr
weit ausgelegt und Konzepte vorgelegt, die Sie inzwischen beerdigen mussten und die Ihre eigenen Finanzminister im Bundesrat abgelehnt hätten.
({6})
Frau Kollegin Wimmer ist noch etwas weiter gegangen
und hat erklärt, das, was die F.D.P. vorgeschlagen habe,
sei unseriös.
({7})
- Finanzierbar ist das nicht. Aber dass Sie, Frau Kollegin
Wimmer, ein Konzept als unseriös bezeichnen, das Ihre
eigene Ministerin nach meiner Kenntnis erst im Januar
2000 beerdigt hat, ist schon ein tolles Stück.
({8})
Bundesministerin Edelgard Bulmahn
Ihre Gedächtnislücken sind wirklich sehr, sehr groß.
({9})
Wir haben mit dem Gesetzentwurf, wie er jetzt vorgelegt wurde, und mit seiner Grundkonzeption deshalb
keine Probleme, weil wir uns schon immer für eine Reform innerhalb des Systems eingesetzt haben.
Mit dem Drei-Körbe-Modell, das durch das wesentliche Element geprägt ist, dass Kinderfreibetrag, Kindergeld und Ausbildungsfreibetrag zusammengefasst werden
und nicht den Eltern etwas gewährt wird, sondern ein
Sockelbetrag bzw. ein Bildungsgeld direkt an den erwachsenen Auszubildenden ausgezahlt wird, haben wir
uns aus drei Gründen, die ich hier noch einmal zusammenfassen möchte, nie anfreunden können.
Erstens. Sie wissen, dass es erhebliche Konflikte mit
dem Unterhaltsrecht
({10})
und mit dem Steuerrecht gibt. Die Finanzminister haben
- ich habe den Beschluss bereits erwähnt - schon im Jahre
1997 darauf hingewiesen, dass Eltern, die trotz des Bildungsgeldes ergänzenden Unterhalt leisten müssen, die
steuerlichen Begünstigungen wieder zurückrufen können.
Es gibt also erhebliche Schwierigkeiten, die die SPD bis
Ende des Jahres 1999 ignoriert hat.
Zweitens. Wir haben schon immer gesagt - das stand
schon in unzähligen Vermerken des Kollegen Rüttgers -,
dass das Bildungsgeld nicht finanzierbar ist. Jetzt hat uns
auch Herr Catenhusen im Ausschuss mitgeteilt, dass ein
Bildungsgeld von 400 DM Kosten in Höhe von 1,5 Milliarden DM und eines von 500 DM Kosten in Höhe von
3,5 bis 4 Milliarden DM verursachen würde.
In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass der
Bund im Jahre 1998 insgesamt nur 1,5 Milliarden DM
ausgegeben hat und dass außerdem der Betrag von bis zu
4 Milliarden DM gar nicht ausreicht, um die Bundesausbildungsförderung insgesamt zu sanieren. Viele sind einkommensabhängig auf ergänzende Leistungen angewiesen. Auch dafür braucht man Geld. Von vornherein war
also klar, dass kein Finanzminister bereit und in der Lage
wäre, so etwas zu finanzieren.
Der dritte Grund, aus dem wir immer Nein gesagt haben und das neue Konzept, das unserem früheren Konzept entspricht, akzeptieren, ist folgender: Das Bundesverfassungsgericht hat in einem neueren Urteil die
Familie als eine Erziehungs- und Wirtschaftsgemeinschaft bezeichnet. Nun kann man darüber reden, ob man
erwachsene Kinder unabhängig von ihren Eltern machen
will. Das ist eine Diskussion, die man vernünftig führen
kann. Allerdings ist immer übersehen worden, dass ein
Bildungsgeld in Höhe von maximal 500 DM, ausbezahlt
an die Studierenden, die meisten von denen nicht unabhängig von ihren Eltern macht. Vielmehr sind sie weiter
auf ergänzende Leistungen angewiesen. Damit kann ein
Bildungsgeld das Ziel, das angegeben worden ist, nicht
erreichen.
Konsequent war - ich sehe ihn gerade - im Grunde nur
der Kollege Berninger,
({11})
der einen Vorschlag vorgelegt hat, durch den Studierende
wirklich unabhängig von ihren Eltern würden.
({12})
Herr Kollege Berninger, ich erkenne an - das haben
auch viele andere bereits getan -, dass Sie die BaföGDiskussion um einen interessanten Vorschlag bereichert
haben.
({13})
Er hatte allerdings einen ganz gewaltigen Nachteil: Jeder
sollte entsprechend seinem Bedarf aus einem Fonds Geld
anfordern können. Allerdings sollte dieses Geld nicht als
Zuschuss gewährt werden, sondern Kollege Berninger,
der auch etwas von Finanzen versteht,
({14})
hat gesagt: Wenn die Leute im Beruf sind, dann müssen
sie das entsprechend ihrem Einkommen wieder zurückzahlen.
({15})
In diesem Zusammenhang habe ich Sie nicht verstanden,
Herr Kollege Berninger. Wenn es um die Unabhängigkeit
von den Eltern geht, spielt eine hohe Darlehensbelastung
keine Rolle. Sie ist dann Hemmnis für die Aufnahme eines Studiums. Wenn aber andere fordern - nicht ich -,
Studiengebühren einzuführen und denen, die aus einkommensschwachen Familien stammen, einen Kredit zu gewähren, der später, wenn die Betreffenden etwas verdienen, zurückgezahlt werden muss, dann ist das Darlehen,
das niedriger wäre als nach dem BAFF-Modell des Kollegen Berninger, plötzlich ein Hemmnis für die Aufnahme
eine Studiums. Wir müssen also aufpassen: Diejenigen,
die für Studiengebühren sind, können Ihre Argumente
sehr gut verwenden. Aber zugegeben, Sie waren konsequent.
Meine Damen und Herren, wir haben am 9. November
1999, einige Monate vor der Ministerin und noch mehr
Monate vor den Regierungsfraktionen, die Eckpunkte unseres BAföG-Konzepts vorgelegt. Wir haben auch mit unseren Ländern darüber gesprochen. Es gab das Angebot,
den Streit über das BAföG aus dem Parteienstreit herauszunehmen und zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.
Ich habe schon gesagt: Wir waren immer für eine Reform im System. Wir wollten wie die Koalition dafür sorgen, dass finanzielle Probleme kein Grund sind, auf den
Besuch eines Gymnasiums und die anschließende Aufnahme eines Studiums zu verzichten. Deshalb haben wir
schon immer eine kräftige Erhöhung der Freibeträge und
der Bedarfssätze vorgeschlagen. Einer Freibetragserhöhung kommt es gleich, wenn man sagt: Auf das Einkommen wird das Kindergeld nicht mehr angerechnet.
Das hat noch einen weiteren Vorteil: Bisher haben die
Dr. Gerhard Friedrich ({16})
Leute nicht verstanden, warum bei einer Kindergelderhöhung die BAföG-Leistung gekürzt wurde.
({17})
Wir freuen uns, dass sich dieser Vorschlag nun im Gesetzentwurf wiederfinden lässt.
({18})
- Auch wir freuen uns, dass Sie das langsam gelernt haben. Es hat leider sehr lange gedauert.
({19})
Wir haben gemeinsam zur Kenntnis genommen, Herr
Kollege Tauss, dass von 100 Kindern aus einkommensschwachen Familien 33 das Gymnasium besuchen, aber
nur acht einen Studienplatz einnehmen. Deshalb haben
wir schon in unseren Eckpunkten vorgeschlagen, die
Darlehensobergrenze zu kappen. Auch die Hochschulrektorenkonferenz hat uns gesagt, die hohe Darlehensbelastung könnte den einen oder anderen vom Studium abhalten. - Herr Tauss nickt, aber in Ihrem Eckpunktepapier
stand das noch nicht.
({20})
- Ja, Sie haben später nachgebessert. Das erleichtert uns
auch die Zustimmung zu diesem Gesetz.
Ich möchte an dieser Stelle anfügen: Wir sehen schon
ein gewisses Problem in der jetzt vorgesehenen Regelung;
denn Sie sagen nicht, wie wir es gemacht hätten, die Studienförderung, die zu 50 Prozent als Zuschuss und zu
50 Prozent als Darlehen gewährt wird, wird auf 800 DM
oder einen anderen Betrag begrenzt und der darüber hinausgehende Betrag wird von vornherein als Zuschuss
ausgezahlt. Das hätte nämlich bedeutet, dass diese Verbesserungen sofort haushaltswirksam geworden wären.
({21})
Jetzt sehen Sie eine Regelung vor, in der erst am Ende
des Studiums - ich weiß nicht einmal genau, wann; das
steht nämlich nicht im Gesetz -, wenn die Gesamtdarlehensbelastung feststeht, festgelegt wird, dass die
Darlehenssumme, wenn sie über 20 000 DM liegt, gekappt wird. Herr Catenhusen hat meinen Verdacht bestätigt: Diese Regelung wird erst im übernächsten Jahrzehnt wirksam, weil der Erlass vielleicht erst in 20 Jahren
ausgesprochen wird.
({22})
Finanziell solide ist das natürlich nicht.
Sie erklären, Sie sparen und begrenzen die Kreditbelastung des Bundes, gleichzeitig verschieben Sie aber die
Lasten in die Zukunft.
({23})
Hier sehen wir schon Probleme auf uns zukommen. Trotzdem werden wir diesem Gesetz zustimmen. Im Großen
und Ganzen finden wir das, was wir in unseren Eckpunkten als Kernelemente vorgelegt haben, in diesem Gesetz
wieder. Deshalb kommen wir heute nach einer sehr langen kontroversen Diskussion einerseits zwischen den Bildungspolitikern und andererseits zwischen den Bildungsund den Finanzpolitikern zu einer einvernehmlichen Lösung.
Vielen Dank.
({24})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war
schön, dem Loblied auf den Kollegen Berninger zu lauschen, Herr Friedrich.
({0})
Es war auch interessant, dass Sie zumindest in Sachen
BAföG den bildungspolitischen Frieden von Berlin ausgerufen haben. Das kann ich nur unterstützen. Ich glaube
in der Tat, dass wir hier ein Paket geschnürt haben, das
sich sehen lassen kann.
Trotzdem möchte ich gerne den Blick zurückrichten,
aber nicht im Sinne einer Abrechnung, sondern im Sinne
einer Bestandsaufnahme. Ich glaube, das ist erforderlich,
um der Öffentlichkeit, die uns hier auch lauscht, klarzumachen, an welchem Punkt wir gestartet sind.
Es ist ja nicht unerheblich - das möchte ich betonen -,
dass die Ausgaben im Rahmen des BAföG 1991 noch bei
3,9 Milliarden DM lagen und im Jahr 1998, als wir die Regierung übernommen haben, bei 2,3 Milliarden DM. Diese
Reduzierung hat mit dem, was Sie im Hinblick auf die
neuen Bundesländer gesagt haben, relativ wenig zu tun;
({1})
denn die Quote sank ja schon zwischen 1982 und 1998 erheblich.
Wenn Sie dies wenigstens durch eine familienfreundliche Sozialpolitik, die das BAföG erübrigt oder
weitestgehend erübrigt hätte, flankiert hätten, dann
könnte man sagen: Okay, es kommt nicht so auf das
BAföG an. Aber die Wahrheit ist, dass Sie sowohl steuerpolitisch, sozialpolitisch, familienpolitisch als auch bildungspolitisch zurückgefahren haben und dass deshalb
im Ergebnis die Situation für die Studentinnen und Studenten wesentlich schlechter war.
Auch das sind interessante Zahlen: 1982, also lange
vor der Wiedervereinigung, wurden noch 28 Prozent aller
Studierenden über das BAföG gefördert, im Jahre 1998
waren es noch 12 Prozent. Das ist mehr als eine Halbierung.
Ich will noch eine letzte Zahl nennen: Nach der aktuellen Erhebung des Deutschen Studentenwerkes ist der
Dr. Gerhard Friedrich ({2})
Anteil von Studenten aus - ein schreckliches Wort, das
gebe ich zu - niedrigen sozialen Herkunftsgruppen von
ehemals 23 Prozent im Jahre 1982 auf 14 Prozent im Jahre
1998 gesunken. Das heißt, nur noch 7 Prozent aller Hochschulabsolventen kommen aus einkommensschwachen
Familien.
Man könnte das, jenseits aller Zahlen, vielleicht so
formulieren: Während in den 70er-Jahren die Türen der
Universitäten für Arbeiterkinder weit aufgestoßen wurden,
sind sie in den 90er-Jahren wieder geschlossen worden,
({3})
zumindest ein Stück weit, wenn vielleicht auch nicht vorsätzlich. Das Ergebnis aber war schlecht und diese Entwicklung wollen wir umkehren.
({4})
Die Studienzeiten und die Höhe des BAföG bilden ein
System kommunizierender Röhren: Wenn das BAföG
zurückgeht, muss mehr gearbeitet werden, und so verlängern sich die Studienzeiten. Das ist etwas, was im Grunde
genommen jeder weiß. Auch in diesem Bereich wollen
wir etwas verändern. Ich glaube, dazu kann das jetzt zu
verabschiedende Gesetz einen wichtigen Beitrag leisten.
Wichtig ist allerdings - darauf hat die Ministerin bereits zu Recht hingewiesen -, dass wir es überhaupt erst
wieder schaffen müssen, dem BAföG ein positives Image
zu geben. Gerade als Hochschullehrer kann ich sagen:
Das BAföG hat bei den Studentinnen und Studenten heute
ein total negatives Image; das muss man einfach sehen.
Wir müssen den jungen Menschen erst wieder klarmachen, dass man auch als Kind aus einkommensschwacher
Familie mit dem BAföG vernünftig studieren kann.
({5})
Auch hierzu die Zahlen: Förderberechtigt waren 1998
etwas mehr als 1 Million Studentinnen und Studenten.
Dies haben aber nur etwas mehr als 200 000 Studentinnen
und Studenten in Anspruch genommen, also 20 Prozent.
Das heißt, hier besteht großes Unwissen. Ich sehe es genauso wie die Ministerin: Wir müssen mit einer Werbekampagne für das BAföG dafür sorgen, dass den Studentinnen und Studenten klar wird, dass sich hier eine
Möglichkeit auftut.
Der letzte Punkt betrifft die internationale Situation.
Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass wir uns trotz des bildungspolitischen Friedens in dieser Angelegenheit nicht
die Welt schönreden. Die hier schon oft diskutierte
OECD-Bildungsstudie zeigt leider aufgrund der gewachsenen Strukturen der letzten 20 Jahre im internationalen
Vergleich kein positives Bild Deutschlands. Im Durchschnitt treten in der OECD, also in den westlichen
Industriestaaten, 40 Prozent aller junger Menschen ein
Studium an. Bei uns sind es 28 Prozent, jetzt mit leicht
steigender Tendenz. Das ist natürlich zu wenig. Außerdem
erreichen bei uns nur 16 Prozent eines Altersjahrgangs auf
ihrem Bildungsweg einen akademischen Abschluss,
während es OECD-weit 23 Prozent sind. Das ist ebenfalls
zu wenig. Wenn wir nicht zu einer Wissensgesellschaft
mit permanentem Akademikermangel werden wollen,
dann müssen wir das schleunigst ändern.
({6})
Das Gleiche gilt für die Studienzeiten. Diese sind bei
uns mit im Schnitt 6,1 Jahren sehr lang. Hier werden wir
nur noch von Griechenland und Österreich getoppt. Hinzu
kommt noch eine hohe Abbrecherquote. Summa summarum kann man sagen: Wir sind dabei, langsam wieder
aus dem hochschulpolitischen Loch herauszukommen.
({7})
Dies wurde durch eine grundsätzliche - Geringschätzung
wäre das falsche Wort - nicht angemessene Schätzung der
Ressource Bildung in unserer Gesellschaft verursacht.
Wer in der Wissensgesellschaft bestehen will, braucht gut
ausgebildete junge Leute. Wir haben zu wenig Akademikerinnen und Akademiker. Das muss und soll sich ändern.
({8})
Fazit ist: Wir haben bei der Regierungsübernahme eine
sehr schwierige Situation vorgefunden. Man muss auch
sagen - ein bisschen Polemik muss möglich sein -: Herr
Rüttgers hat zwar viel von der Ressource Bildung gesprochen,
({9})
aber als es um die Ressource Haushaltsmittel ging, hat er
nichts erreicht.
({10})
Bei der F.D.P. - Frau Pieper wird gleich das wunderbare Modell vortragen ({11})
kann man sich schon fragen: Wo war die Bildungspartei
F.D.P., als die Mittel für Bildung immer weiter zurückgefahren worden sind? Sie waren so lange an der Regierung
und haben das alles stillschweigend hingenommen!
({12})
Ich komme zum zweiten Teil. Vom Kollegen Friedrich
ist Ehrlichkeit in dieser Diskussion gefordert worden. Wir
wollten ursprünglich eine stärkere Orientierung am Kriterium der Elternunabhängigkeit. Das Modell, das Sie
genannt haben, war unser Modell und hat auch im Koalitionsvertrag seinen Niederschlag gefunden. Wir haben es
in dieser Form nicht vollständig erreicht.
({13})
Das ist völlig richtig, das muss man hier konzedieren. Insofern ist durchaus Selbstkritik angebracht.
Gleichwohl muss man sagen: Das, was wir hier vorlegen, ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Vor
allen Dingen wird das BAföG endlich wieder als strategisches Instrument der Bildungspolitik begriffen. Die Zahlen sind von der Ministerin vorgetragen worden. Man soll
sich zwar nicht nur mit Zahlen aufhalten, aber sie sind
ganz interessant: Mehr als 1 Milliarde DM zusätzlich pro
Jahr wird für die Studentinnen- und Studentenförderung
mobilisiert. Das ist viel Geld.
({14})
Die Ausgaben werden gegenüber 1998 um 50 Prozent
erhöht. Soweit wir das heute abschätzen können - das
hängt natürlich davon ab, inwieweit dies Anklang findet -,
werden mit In-Kraft-Treten des Gesetzes zusätzlich über
80 000 junge Leute in der Ausbildung gefördert. Das kann
sich wirklich sehen lassen.
Genauso ist es - das hat die Ministerin bereits beschrieben - mit der Begrenzung der Gesamtdarlehensbelastung auf 20 000 DM. Die Belastungsobergrenze
wird also gedeckelt. Dies gewährleistet ein Höchstmaß an
Sicherheit, Transparenz und Kalkulierbarkeit. Niemand
muss in Zukunft mehr Angst vor dem Schuldenberg danach haben.
Es wird - auch das ist wichtig - eine verlässliche Studienabschlussfinanzierung geben. Wer sein Studium
nicht innerhalb der Regelstudienzeit beendet, wird unabhängig von den Gründen der Überschreitung für die
Dauer der Abschlussphase einen Anspruch auf Förderung
mit Bankdarlehen erhalten. Denn Biografien sind nicht
immer geradlinig. Es gibt gottlob immer noch Studentinnen und Studenten, die während des Studiums Spaß daran
finden, sich politisch zu engagieren, sich in Bürgerinitiativen zu engagieren, sich in Tutorenprogrammen für ausländische Studentinnen und Studenten zu engagieren. Ich
bin froh darüber, dass es so ist, auch wenn das Studium
dann etwas länger dauert. Diese Finanzierung der Abschlussphase ist ein wichtiger Beitrag, um solchen krummen Biografien entgegenzukommen.
({15})
Wichtig ist auch, dass sich die Studienbedingungen für
Studierende mit Kindern in der Form verbessern, dass
jetzt Erziehungsleistungen bis zum Alter der Kinder von
zehn Jahren angerechnet werden können.
Das Kriterium der Internationalität ist ebenfalls sehr
wichtig. Dadurch, dass das BAföG nach zwei Semestern
Studium in Deutschland in jedes andere EU-Land mitgenommen werden kann, wird die Internationalität unserer
Studentinnen und Studenten gefördert. So wird vor allen
Dingen - was bisher nicht der Regelfall ist - das internationale Studium auch für BAföG-Bezieherinnen und -Bezieher möglich. Mit diesem Beschluss nimmt Deutschland
in Europa eine Vorreiterrolle ein. Ich glaube, es ist sehr
wichtig, dass wir das Studium für unsere eigenen Studentinnen und Studenten internationaler machen, indem wir
ihnen ermöglichen, ins Ausland zu gehen. Eine aber mindestens ebenso wichtige Aufgabe ist es, dass wir unsere
Universitäten international attraktiver machen, dass wir
mehr Studentinnen und Studenten aus dem Ausland an unsere Universitäten holen. Das steht auf der Tagesordnung.
Darüber müssen wir in den nächsten Jahren reden.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Interdisziplinarität
von Studiengängen wird in Zukunft gefördert. Studierende
in Masterstudiengängen - so heißt es auf Englisch -, die
auf einem Bachelor aufbauen, erhalten künftig auch dann
BAföG, wenn der Masterstudiengang eine interdisziplinäre Ergänzung darstellt. Hier wird ganz bewusst die Interdisziplinarität gefördert.
Der letzte Punkt: Das Gefälle beim BAföG zwischen
West und Ost ist eingeebnet worden. Das BAföG in Ostdeutschland wird auf das Westniveau angehoben. Das ist
gut so.
({16})
Für uns ist es sehr wichtig, parallel zu den Beschlüssen,
die wir heute mit den Stimmen der Union verabschieden,
ergänzend zur BAföG-Novelle ein elternunabhängiges
Bildungskreditprogramm aufzulegen. Dies ist ein innovatives Element der Studienfinanzierung. Wenn Studentinnen und Studenten in einer bestimmten Lebenssituation zusätzliche Mittel für ihr Studium benötigen, ohne
eine Erwerbsarbeit aufnehmen zu wollen, dann ist dies ein
wichtiger Beitrag und kann Studienzeiten verkürzen. Wir
als Grüne glauben, dass man bei der Vergabe von Krediten unbedingt die Studentenwerke einbeziehen sollte;
denn sie haben eine Menge Erfahrung mit der Abwicklung des BAföG. Sie sind in diesem Geschäft wichtige Partner.
Was uns zusammen mit den Kolleginnen und Kollegen
der SPD im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zusätzlich gelungen ist, ist der nachweisabhängige Wohnzuschlag. Er ist erhöht worden, sodass wir insgesamt bei
1140 DM liegen. Die Ministerin hat es schon gesagt:
Wenn man das Kindergeld hinzurechnet, kommt man auf
1 400 DM. Das ist ein Budget, mit dem man ein Studium
bestreiten kann.
({17})
- Das ist uns in der Tat gemeinsam gelungen.
Wenn man zusammenfasst, was wir erreicht haben, so
kann man sagen: Die zentralen Elemente sind: weniger
Bürokratie, mehr Gerechtigkeit, mehr Internationalität,
mehr Interdisziplinarität und - das darf man ruhig sagen;
denn wie Goethe schon wusste: „Am Gelde hängt‘s, zum
Gelde drängt doch letztlich alles“ - eben mehr Geld. Das
ist ein großer Erfolg.
({18})
Ich will noch etwas zum Drei-Körbe-Modell der
F.D.P. sagen; die Kollegen von der F.D.P. werden es uns
sicher gleich noch einmal darstellen. Ich will natürlich
konzedieren, dass eine gewisse Verwandtschaft zu dem
BAFF-Modell des Kollegen Matthias Berninger besteht.
Aber wenn ich es mir mit dem unvoreingenommenen
Blick des Neulings vor Augen führe, dann muss ich schon
sagen: Sie haben es sich sehr einfach gemacht. Mir fiel,
nachdem sich die ganzen Regelungen dieses Gesetzentwurfes nur auf das BAföG beziehen, folgender Satz am
Schluss auf: „Die aus den genannten Neuregelungen folgenden Änderungen des Unterhalts-, Sozial- und Steuerrechts sollen von der Bundesregierung ebenfalls vorgelegt
werden“. Das ist keine komplette Regelung, sondern im
Grunde genommen in typisch möllemannscher Manier
ein Windei.
({19})
Abschließend möchte ich sagen: Für uns ist es wichtig,
dass verschiedene innovative Elemente in das BAföG aufgenommen worden sind. Es muss weiterentwickelt werden. Wir glauben, dass wir in der Frage der Bildungsfinanzierung weiterarbeiten müssen. Das, was uns jetzt
gelungen ist, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Aber wir haben nicht umsonst den Rat zur Zukunft der
Bildungsfinanzierung ins Leben gerufen. Er wird seine Arbeit bald aufnehmen. In diesem Rat sollen alle Komponenten und Vorschläge für neue Konzepte geprüft werden.
Vor allen Dingen sollen sie - auch das ist bei der F.D.P.
nicht geschehen - in Einklang mit den Zielen Haushaltskonsolidierung, Steuerreform und Familienförderung gebracht werden.
Dieses Thema wird uns sicherlich erhalten bleiben.
Trotzdem können wir auf das, was wir heute gemeinsam
präsentieren, stolz sein. Es ist ein guter Tag für die Studentinnen und Studenten in Deutschland.
Danke schön.
({20})
Ich erteile der Kollegin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat bemerkenswert, dass wir
heute zur Bundesausbildungsförderung zwei Gesetzentwürfe beraten: einen von der Bundesregierung und einen
von der F.D.P.-Bundestagsfraktion. Der Letzte ist eigentlich der bemerkenswertere Gesetzentwurf,
({0})
weil er eine echte Reform der Bundesausbildungsförderung vorschlägt.
({1})
Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, werden keinesfalls Ihrem Anspruch gerecht, eine
der wichtigsten Bildungsreformen - Sie selbst haben sich
vorgenommen, sie in dieser Legislaturperiode auf den
Weg zu bringen - durchzusetzen. Mit Ihrem Gesetzentwurf bleibt die Absicht einer echten BAföG-Reform auf
der Strecke.
Lassen Sie mich, bevor ich näher darauf eingehe, aus
einer der vielen Pressemitteilungen des Deutschen Studentenwerkes - da Sie unsere Argumente nicht hören
wollen, werden Sie doch wenigstens die Argumente der
Fachverbände und der Studenten interessieren - zitieren:
Mit Novellen allein lässt sich eine Studienförderung,
die den Anforderungen des nächsten Jahrtausends
- gemeint ist dieses Jahrtausend entspricht, nicht erreichen. Nur eine grundlegende
Reform der Ausbildungsförderung kann das Ruder
herumreißen ... Das Deutsche Studentenwerk fordert
erneut eine gerechte Ausbildungsförderung, die allen
Kindern aus allen Bevölkerungskreisen den Hochschulzugang ermöglicht.
({2})
Genau darin liegt der Knackpunkt, da die letzte Sozialerhebung deutlich gemacht hat, dass von 100 Kindern aus
einkommensschwächeren Schichten zurzeit noch 33 an
die gymnasiale Oberschule, aber nur acht an die Hochschule kommen. Das ist das eigentliche Problem und das
lösen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf nicht.
({3})
Ich möchte aus liberaler Sicht betonen, dass jeder
junge Mensch am Start seines Berufslebens die gleichen
Bedingungen vorfinden muss. Er muss die Chance erhalten, unabhängig davon, aus welcher sozialen Schicht er
stammt, sich durch Leistung in der Ausbildung seinen eigenen Aufstieg erarbeiten zu können. Diesen Anspruch
auf Chancengleichheit erfüllt Ihr Gesetzentwurf nicht.
Auch andere wichtige Eckpunkte, wie die Stärkung der
Eigenverantwortung des jungen Menschen, finden in
Ihrem Gesetzentwurf keine Berücksichtigung. Ebenso
wenig tragen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf zu einem
Bürokratieabbau bei.
({4})
Lassen Sie mich auf die Chancengleichheit zurückkommen: Sie erhöhen zwar über eine 21. Novelle die Freibeträge und die Bedarfssätze, dies wird aber nur wenigen
Anspruchsberechtigten zugute kommen. Ich erinnere daran: Im Berichtsjahr 1999/2000 wurden in den alten Bundesländern erneut weniger Fördermittel ausgezahlt. Wir
haben dort einen Rückgang um 1,5 Prozent zu verzeichnen. In den neuen Ländern war im gleichen Zeitraum zwar
ein Zuwachs von 9,9 Prozent festzustellen, aber die Gefördertenquote ist auch dort gesunken. Das hängt mit den
schwierigeren sozialen Verhältnissen aufgrund einer sich
verschlechternden Wirtschaftslage zusammen. So ist bundesweit die Zahl der Förderungsfälle um insgesamt
2,3 Prozent zurückgegangen.
Wir sind bei der Beratung zu diesem Gesetzentwurf
von einer Gefördertenquote in Höhe von 13,4 Prozent
ausgegangen. Nach Ihrem Gesetzentwurf würden gerade
einmal 5 bis 6 Prozent mehr Personen Anspruch auf
Bundesausbildungsförderung haben. Somit erreichten Sie
eine Gefördertenquote von circa 20 Prozent. Damit können Sie keine Chancengleichheit junger Menschen bei
ihrem Berufsstart erreichen.
({5})
Im Jahr der Einführung des BAföG hatten wir mehr als
doppelt so viele Anspruchsberechtigte, was zeigt, wie
stark die Gefördertenquote mittlerweile gesunken ist. Ich
muss zugeben, dass die F.D.P. an dieser Entwicklung nicht
ganz unschuldig war, weil sie dem damaligen Bildungsminister der Union gefolgt ist.
({6})
Es gab aber, Herr Tauss, auch andere Zeiten. Ich erinnere
daran, dass in der Amtszeit von Bundesbildungsminister
Möllemann die Bundesausbildungsförderung enorm aufgestockt worden ist.
({7})
Ich finde, wir sollten endlich aufhören, uns bei diesem
Thema gegenseitig Schuldzuweisungen zu machen.
({8})
Das bringt uns nicht weiter, da ein solcher Streit auf dem
Rücken der jungen Leute ausgetragen wird und uns in der
Sache nicht weiterhilft.
Ich will an dieser Stelle sagen: Die Reparaturnovelle,
die Sie vornehmen wollen, reicht nicht aus. Wir brauchen
endlich eine Systemumstellung. Nicht umsonst haben wir
eine Expertenanhörung im Bildungsausschuss durchgeführt. Alle Experten - Herr Loske, ich sage Ihnen das
auch im Zusammenhang mit dem Unterhaltsrecht, Herr
Friedrich - haben uns bestätigt, dass es aus unterhaltsrechtlicher oder verfassungsrechtlicher Sicht keine Vorbehalte gibt. Auch unter Berücksichtigung des neuen Urteils
des Bundesverfassungsgerichts wäre eine Systemumstellung möglich, soweit man sie politisch will.
({9})
Genau das ist der Punkt: Sie wollen es politisch nicht
oder Sie dürfen es nicht wollen, weil die Frau Ministerin
von ihrem eigenen Bundeskanzler zurückgepfiffen worden ist.
({10})
- Jawohl, von Ihrem Bundeskanzler! - Solange in
Deutschland Bildungspolitik von den Regierungschefs
bzw. von den Finanzministern gemacht wird, so lange
wird sich nichts in Richtung einer wirklichen Bildungsreform bewegen lassen.
({11})
Wir brauchen ganz neue Koalitionen - das müssen Sie
endlich erkennen -, um eine Bildungspolitik à la F.D.P.
auf den Weg zu bringen.
({12})
Lassen Sie mich nach der Chancengleichheit noch ein
Wort zur Eigenverantwortung junger Menschen sagen.
Ich halte es für unverständlich, dass junge Menschen
- immerhin handelt es sich um 20-Jährige, zum Teil auch
um 25- bis 30-Jährige - noch immer von ihrem Elternhaus
abhängig sind, weil man ihnen kein eigenes Ausbildungsgeld zahlt, auf das sie meines Erachtens eigentlich einen
Anspruch haben. Wir haben vorgeschlagen, dass jedem
Auszubildenden, egal, ob er Student oder Berufsschüler
ist, der sich über den zweiten Bildungsweg qualifizieren
möchte, ein elternunabhängiges Ausbildungsgeld in Höhe
von 500 DM gezahlt wird.
({13})
Das ist auch finanzierbar, wenn man die von mir angesprochene Systemumstellung vornimmt, wenn man Ausbildungsfreibeträge, Steuerfreibeträge und das Kindergeld zusammennimmt, diese Gelder in die BAföG-Kassen
überführt und sie direkt an die Auszubildenden zahlt. Das
wäre ein wichtiger Beitrag, damit die jungen Leute in diesem Land mehr Eigenverantwortung übernehmen können.
Genau das sieht der F.D.P.-Gesetzentwurf vor. Das so
genannte Drei-Körbe-Modell - Sie haben es schon angesprochen - setzt sich aus einem elternunabhängigen
Ausbildungsgeld, einer Ausbildungshilfe in Form eines
Zuschusses für Auszubildende, die aus besonders einkommensschwachen Familien stammen, in Höhe von
350 DM und einem Darlehen von bis zu 750 DM zusammen, das man nicht in Anspruch nehmen muss, aber
in Anspruch nehmen kann. Genau das ist der Punkt, Herr
Friedrich: Mit einem Gesamtbetrag von 1 600 DM monatlich werden die jungen Leute natürlich elternunabhängig. Dem Einzelnen stehen also nicht nur 500 DM Ausbildungsgeld monatlich zur Verfügung. 1 600 DM sind ein
Betrag, mit dem man seinen Lebensunterhalt während des
Studiums finanzieren kann und der es einem ermöglicht,
auf das Jobben neben dem Studium zu verzichten. Das
war auch ein wichtiger Punkt unseres Gesetzesvorhabens.
({14})
Wir wollten gemeinsam erreichen, dass Studenten in
diesem Land ihr Studium wieder in der Regelstudienzeit
abschließen können, dass sie sich nicht auf ihren Nebenjob konzentrieren müssen, sondern dass sie sich ihrem
Studium widmen, um möglichst schnell ihren Abschluss
zu machen.
({15})
Am 12. November 1998 hat die Bundesbildungsministerin im Deutschen Bundestag angekündigt, die große Bildungsreform komme in zwei Schritten: erstens Erhöhung
der Mittel für den Hochschulbau und zweitens eine
umfassende BAföG-Reform, durch die alle ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen in ein elternunabhängiges Ausbildungsgeld umgewandelt werden. Das waren
Ihre Worte, Frau Ministerin. So findet man es auch im
Koalitionsvertrag von Rot-Grün wieder. Aber das, was
Sie den jungen Menschen 1998 versprochen haben,
scheint für Sie Schnee von gestern zu sein.
({16})
Noch nie war ein Koalitionsvertrag so sehr Makulatur wie
zu Zeiten von Rot-Grün! Ich wiederhole: Bildungspolitik
wird in diesem Land wahrscheinlich noch immer zu sehr
von den Regierungschefs und von den Finanzministern
bestimmt. Solange das so ist, so lange verspielen wir die
Zukunft der jungen Generation.
({17})
Die Finanzierung einer echten Reform wäre möglich
gewesen, wenn man es politisch nur gewollt hätte. Die
jährlichen Darlehensrückflüsse in Höhe von rund 1,2 Milliarden DM gehören eigentlich in die Bundesausbildungsförderungskasse und nicht in die Gesamtkasse von
Finanzminister Eichel. Auch diese Mittel könnten zur Gegenfinanzierung des von uns vorgeschlagenen BAföGModells verwendet werden.
({18})
Sie hören nicht auf die F.D.P.
({19})
- Es ist Ihr Fehler, nicht auf uns zu hören. - Vielleicht
hören Sie auf die Hochschulrektorenkonferenz, aus deren
Stellungnahme ich zitieren möchte:
Die HRK ist deshalb unverändert der Auffassung,
dass ein grundlegender Systemwechsel vorgenommen werden muss, da das derzeitige BAföG-Modell
auch in novellierter Form die Anforderungen einer
breit angelegten, elternunabhängigen und effizienten
Studienfinanzierung nicht erfüllen kann. Die HRK
wird deswegen Grundlinien eines eigenen Ausbildungsförderungskonzepts entwickeln.
Wir als F.D.P.-Fraktion werden diesen Weg weiterhin unterstützen.
Vielen Dank.
({20})
Ich erteile der Kollegin Maritta Böttcher, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herr Friedrich, ich hatte
den Eindruck, Sie betreiben hier Ablasshandel. Ihre Politik wird nicht dadurch rehabilitiert werden, dass Sie dem
heutigen Gesetzentwurf zustimmen; denn die 16 Jahre Ihrer Regierung haben wirklich das Ergebnis gebracht, das
wir heute sehen.
({0})
Die Bundesregierung ist im Begriff, die Akte BAföGReform abzuschließen und in ihr gut ausgestattetes Archiv der gescheiterten Reformprojekte zu geben. Die PDS
wird dies nicht hinnehmen. Wir werden dafür kämpfen,
dass die heutige BAföG-Debatte nicht der Ausstieg aus
der Reform, sondern der Einstieg in eine strukturelle Erneuerung der Ausbildungsförderung wird.
({1})
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich will
Ihnen die BAföG-Novelle nicht kleinreden. Wir erkennen
an, dass sich erstmals seit vielen Jahren die soziale Lage
Studierender nicht weiter verschlimmert, sondern dass sie
sich gravierend verbessert.
({2})
Damit will ich es aber auch bewenden lassen, wie Sie sich
denken können.
Es war eine Lösung zum Greifen nah. Zusätzlich zu
den vorliegenden Leistungsverbesserungen ließe sich
durch eine Neuordnung des Familienlastenausgleichs ein
wirklich elternunabhängiger Sockelbetrag für alle
Auszubildenden realisieren. Sie selbst, Frau Bulmahn,
haben mit der Forderung nach einer Zusammenfassung
von Kindergeld und Steuerfreibeträgen zu einer elternunabhängigen Sockelförderung den Wahlkampf 1998 bestritten. Da lasse ich Ihnen nicht durchgehen, dass Sie sich
aus der Verantwortung stehlen, indem Sie sich auf die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berufen.
Allenfalls ergibt sich daraus - auch das ist rechtlich nicht
zwingend -, dass die Sockelförderung eine bestimmte
Mindesthöhe nicht unterschreiten darf.
Die PDS fordert daher eine elternunabhängige Sockelförderung von 500 DM monatlich für alle Auszubildenden.
({3})
Diese Sockelförderung stellt das Fundament für eine
strukturelle Erneuerung der gesamten Ausbildungsförderung dar, die eine eltern- und partnerunabhängige, wirklich bedarfsdeckende Grundsicherung für Studierende sowie Schülerinnen und Schüler gewährleistet. Studierende
aus Haushalten mit unterschiedlichen Einkommen müssen in vollem Umfang auf Zuschussbasis gefördert werden. Die Länge der Ausbildungsförderung muss den
tatsächlichen Ausbildungszeiten entsprechen. Oder sollen
es weiterhin die Studierenden ausbaden müssen, wenn
überfüllte Seminare und fehlende Laborplätze sie am Studienabschluss hindern?
Auch die Höhe des BAföG muss eine Konzentration
auf Studium und Ausbildung ermöglichen.
({4})
Frau Ministerin, mit einem lustigen Studentenleben hat es
nichts mehr zu tun, wenn sich junge Frauen und Männer
die Nächte nicht vor, sondern als Kellnerinnen und Kellner hinter dem Tresen um die Ohren schlagen müssen.
Wer nach Strafgebühren für Langzeitstudenten ruft, sollte
sich erst einmal mit der Lebensrealität von Studentinnen
und Studenten auseinander setzen.
Wir halten es daher für einen kapitalen Fehler der Bundesregierung, heute eine BAföG-Novelle zu verabschieden, ohne gleichzeitig die Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums bundesweit sicherzustellen.
({5})
Ohne Studiengebührenverbot büßt Ihre BAföG-Novelle
erheblich an Wert ein.
Auch können wir es uns nicht weiter leisten, nur
28 Prozent eines Altersjahrgangs an die Hochschulen zu
lassen, während es in anderen Industrienationen weltweit
schon 40 Prozent sind. Sehr geehrte Frau Ministerin, auch
das Argument mit den Schuldenlasten der Vorgängerregierung nutzt sich mit der Zeit ab.
({6})
Ich halte es in dieser Frage mit dem Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, Klaus Landfried, der das Gesamtvolumen der BAföG-Ausgaben als „lächerlich und
nicht akzeptabel“ kritisiert hat. Recht hat der Herr
Landfried. Schauen Sie sich doch einmal den Bundeshaushalt 2001 genauer an! Der Bund gibt im Jahr 2001
netto nicht einmal 200 Millionen DM für BAföG aus.
({7})
- Ich kann Ihnen die Zahlen dann geben oder Sie fragen
mich später; ich habe jetzt nicht so viel Zeit. - Das ist in
der Tat lächerlich und nicht akzeptabel. Mehr als drei Viertel der Ausgaben des Bundes für die Ausbildungsförderung von Studierenden wird von ehemaligen Studierenden
getragen, die ihre Schulden abstottern. Es ist ein bildungsund sozialpolitischer Skandal, dass die Haushaltslöcher
von Herrn Eichel auf Kosten ehemaliger Studentinnen und
Studenten gestopft werden.
({8})
Tragen Sie wenigstens dafür Sorge, dass die Zahlungen
zweckgebunden, für eine Verbesserung der Ausbildungsförderung, eingesetzt werden. Das ist das Mindeste, was
wir von einer rot-grünen Regierung erwarten.
Der Kanzler hat vor einem Jahr ein Machtwort gesprochen und klargestellt, dass er - Koalitionsvertrag hin oder
her - keine Strukturreform der Ausbildungsförderung
will - basta! Sie haben sich diesem Machtwort untergeordnet. Ich verstehe, dass das ein Stück weit wehtut; aber
es ist in der Tat so. Sie versuchen nun auf der Basis eines
systemimmanenten Reparaturkonzepts das BAföG zu
verbessern. Aber auch wenn ich mich auf diesen Rahmen,
den wir nie akzeptiert haben, einlasse, muss ich feststellen: Mancher gute Gedanke wurde von Ihnen nicht konsequent genug umgesetzt.
Beispiel Darlehensdeckelung: Wir begrüßen es, dass
für künftige Studierende die Darlehenslast auf maximal
20 000 DM beschränkt werden soll. Aber warum gilt dies
nicht für Studierende, deren BAföG als verzinsliches
Bankdarlehen geführt wird? Wir halten es generell für
falsch, dass Studierende, die die Abschlussförderung in
Anspruch nehmen oder ihr Studium um ein Jahr verlängern müssen, weil sie ihr Examen nicht bestanden haben,
nur noch ein Bankdarlehen erhalten. Das verzinsliche
Bankdarlehen ist ein systemwidriger Fremdkörper in einem Sozialleistungsgesetz wie dem BAföG und hat dort
nichts verloren.
({9})
Dass diese Studierenden nun auch noch Schulden von
weit über 20 000 DM anhäufen müssen, verstärkt diese
Ungerechtigkeit noch.
Beispiel Altersgrenze: Warum halten Sie an der starren Altersgrenze von 30 Jahren fest? Die F.D.P. möchte
die Altersgrenze sogar auf 27 Jahre senken. Was ist mit
Menschen, die auf Umwegen zum Hochschulstudium
kommen? Wie ernst nehmen Sie das in Sonntagsreden beschworene Prinzip des lebenslangen Lernens? Wie verträgt es sich mit diesem Prinzip, dass Aufbau- und Vertiefungsstudiengänge weiterhin nicht gefördert werden?
Beispiel Behinderte: Warum sollen Studierende mit
Behinderungen weiterhin systematisch benachteiligt werden?
({10})
Diese Studierenden müssen ihre Ansprüche und ihren zusätzlichen Bedarf nach dem Sozialgesetzbuch gegenüber
verschiedenen Trägern geltend machen. Die Bewilligung
dieser Leistungen ist an strengere Voraussetzungen als
beim regulären BAföG gebunden.
({11})
Ich halte das für einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes.
({12})
Die PDS unterstützt daher die Forderung des Deutschen
Studentenwerkes nach einer Integration der Vorschriften
zur Förderung von Studierenden mit Behinderungen
und/oder chronischen Krankheiten in das BAföG.
({13})
Beispiel Schüler-BAföG: Warum lässt die Bundesregierung die Schülerinnen und Schüler an weiterführenden
allgemeinbildenden Schulen und an Berufsfachschulen
im Regen stehen? Diese Schülerinnen und Schüler bekommen weiterhin nur dann BAföG, wenn sie nicht bei
ihren Eltern wohnen und notwendigerweise, etwa weil
keine Schule in der Nähe liegt, auswärtig untergebracht
sind. Nur eine kleine Minderheit von Schülerinnen und
Schülern wird gefördert und dabei soll es nach dem Willen der Bundesregierung auch bleiben.
({14})
Denken Sie auch an die jungen Menschen, die darauf
angewiesen sind, ihre berufliche Ausbildung außerhalb
des dualen Systems zu absolvieren, weil es, wie in Ostdeutschland, einen strukturellen Lehrstellenmangel gibt.
Diese jungen Leute werden doppelt bestraft: Sie müssen
Ausbildungen durchlaufen, die aufgrund der fehlenden
betrieblichen Praxis als zweitklassig gelten, und sie bekommen weder Ausbildungsvergütung noch Ausbildungsförderung.
Das Ausbildungsförderungsreformgesetz ist kein Reformgesetz, sondern eine weitere Reparaturnovelle.
({15})
Es wäre daher ehrlicher, das Gesetz „21. BAföG-Novelle“
zu nennen. Gleichwohl stimmt die PDS-Fraktion dieser
Reparaturnovelle zu, weil die Situation vieler Studierender, Auszubildender bzw. Schülerinnen und Schüler nach
dem 1. April 2001 besser als vor dem 1. April sein wird.
Diesem ersten Schritt müssen nun aber weitere folgen.
Stimmen Sie daher unserem Entschließungsantrag zu, mit
dem wir die Bundesregierung auffordern, diesen Weg zu
gehen. Denken Sie daran: Bildung ist Zukunft!
({16})
Bevor ich die nächste
Rednerin aufrufe, habe ich das Vergnügen, auf der
Tribüne parlamentarische Kollegen begrüßen zu können.
Auf der Ehrentribüne hat fast die gesamte Hamburgische
Bürgerschaft mit ihrer Präsidentin Dr. Stapelfeldt Platz
genommen. Ich begrüße Sie herzlich.
({0})
Ihr Besuch ist für uns im wahrsten Sinne des Wortes beispiellos. Es ist in der Geschichte des Deutschen Bundestages offenkundig das erste Mal, dass uns das Parlament
eines Bundeslandes in toto seine Aufwartung macht.
({1})
Wir sind nicht so vermessen, zu glauben, dass Sie gekommen sind, um sich bei uns Anregungen für Ihre parlamentarische Arbeit zu holen.
({2})
Umso mehr freut es uns, dass Sie den für echte Hanseaten
doch beschwerlichen Weg von der Waterkant ins Binnenland auf sich genommen haben,
({3})
um einmal nachzusehen, wie es uns in Berlin so geht.
Ich wünsche Ihnen für Ihre parlamentarische Arbeit alles Gute. Seien Sie herzlich willkommen!
({4})
Nun erteile ich Kollegin Brigitte Wimmer, SPD-Fraktion, das Wort.
Vielen Dank,
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschließen heute das BAföG-Reformgesetz. Das ist ein
guter Tag für die jungen Menschen in unserem Land,
({0})
nicht nur, aber vor allem für diejenigen, deren Eltern
niedrige oder mittlere Einkommen haben. Wir setzen mit
dieser BAföG-Reform ein klares Signal für Chancengleichheit. Wir beenden endgültig den Niedergang des
BAföG, den CDU/CSU und F.D.P. zu verantworten haben. Wir bauen die Ausbildungsförderung neu auf und wir
geben das klare Signal: Es soll nicht mehr vom Einkommen der Eltern abhängen, ob junge Menschen studieren
können oder nicht.
({1})
Wir wollen und wir brauchen mehr junge Menschen,
die studieren können. Wir brauchen aber auch insgesamt
mehr junge Menschen, die qualifiziert ausgebildet werden. Deswegen verbessern wir nicht nur das BAföG für
die Studierenden, sondern auch die Berufsausbildungsbeihilfe, zu der nachher mein Kollege Walter Hoffmann
reden wird.
({2})
Wir haben inzwischen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, in der Bildungs- und Forschungspolitik Zeichen gesetzt und Dinge erreicht, von
denen Sie noch nicht einmal zu träumen wagten, lieber
Herr Kollege Friedrich.
({3})
Wir begrüßen es, dass die CDU/CSU diesem Gesetz zustimmen wird, und wir ertragen es mit großer Gelassenheit, Frau Kollegin Pieper, dass sich die F.D.P. kraftvoll
der Stimme enthalten wird.
({4})
Nicht durchgehen lassen wir Ihnen allerdings Ihren
Versuch, sich als Retter oder Retterin des BAföG aufzuschwingen. Deshalb auch an einem bildungspolitischen
Freudentag: Ihre Politik und Ihre Parteien bleiben im Gedächtnis der Menschen mit dem Abbau von Ausgaben für
Bildungs- und Forschungspolitik verbunden;
({5})
sie bleiben mit dem Niedergang des BAföG verbunden,
lieber Herr Kollege Friedrich. Das kann ich Ihnen nicht
ersparen.
({6})
Schauen Sie sich die Talsohle an, die Sie hinterlassen
haben. Das ist das Ergebnis 16-jähriger Regierungspolitik
von CDU/CSU und F.D.P.
({7})
Dazu noch einmal die Zahlen: 1982 waren es 37 Prozent der Studierenden, 1997 noch 17 Prozent der Studierenden, die BAföG erhalten haben.
({8})
Die Bundesausgaben sind von 2,5 Milliarden DM 1992
auf 1,5 Milliarden DM 1998 gefallen.
Frau Kollegin Böttcher, es ist absurd, hier von
200 Millionen DM Ausgaben des Bundes zu reden.
Wir sind inzwischen wieder bei etwa 1,6 Milliarden DM angelangt. Ihre Zahlen sind nun wirklich Fantasiezahlen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der CDU und
der CSU, zu Ihrem Verweis auf die bösen Finanzminister
der Länder,
({9})
die alles verhindert haben - ich freue mich, dass sich
heute Landespolitiker unter uns befinden -: Der Bund
trägt zunächst einmal die Verantwortung. Mir ist kein einziger heldenhafter Kampf Ihres früheren Ministers
Rüttgers für das BAföG bekannt,
({10})
der an den bösen sozialdemokratischen Ländern gescheitert wäre. Sie haben nicht gekämpft und deswegen haben
Sie auch nichts erreicht.
({11})
Wir sind froh, dass wir einen Regierungschef und einen
Finanzminister haben, die begriffen haben, dass Bildungspolitik und Investition in die Bildung die Zukunftsinvestition überhaupt sind.
({12})
Wir haben viel mehr erreicht, als Sie sich jemals zu fordern getraut haben.
({13})
Frau Kollegin Pieper, die Rede, die Sie hier halten werden, kann ich mir schon vorher ausmalen. Deshalb habe
ich überhaupt kein Problem, Ihnen zu sagen: Ja, wir wollten die elternunabhängige Förderung, wir wollten das
Drei-Körbe-Modell und wir haben sogar lange nach dem
Urteil des Verfassungsgerichts zu prüfen versucht, ob wir
es bekommen können. Das Urteil des Verfassungsgerichts
war auch eine schallende Ohrfeige für die Politik, die Sie
uns hinterlassen haben. Wir mussten einfach feststellen:
Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts war es nicht
mehr möglich - davon waren wir früher alle miteinander
ausgegangen -, die Zahlung dieses Ausbildungsgeldes auf
Studierende zu begrenzen. Wir müssen jetzt das Ausbildungsgeld für alle Auszubildenden finanzieren.
({14})
- Ich kenne doch die Diskussionen. Kein Mensch hat in
den Diskussionen früher davon geredet. Wir alle sind davon ausgegangen, dass es zunächst einmal für die Studierenden gezahlt wird. Machen Sie sich doch jetzt nicht klüger, als Sie damals waren. Wir haben ja alle dazugelernt.
Dieses Ausbildungsgeld verursacht Kosten in der
Größenordnung von 3 bis 4 Milliarden DM. Das wissen
Sie. Deswegen, Frau Kollegin Pieper, habe ich Ihren
Gesetzentwurf unseriös genannt. Nicht das Drei-KörbeModell ist unseriös. Ich würde nie auf die Idee kommen,
so etwas zu formulieren. Ihr Gesetzentwurf ist unseriös,
({15})
weil er überhaupt keine Antwort auf die Frage gibt, wie
das finanziert werden soll. Wir wollten nicht endlose Debatten um Geld, das wir dann doch nicht bekommen, und
wollen dabei die Studierenden im Regen stehen lassen.
Das war Ihre Politik, das ist nicht unsere Politik.
({16})
Kollegin Wimmer,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper? Bitte.
Verehrte Kollegin Wimmer,
stimmen Sie mir zu, dass die Bundesbildungsministerin
bei Regierungsantritt gesagt hat, dass sie die Zukunftsinvestitionen verdoppeln möchte? Und stimmen Sie mir zu,
dass der Bundeskanzler gesagt hat, er möchte das DreiKörbe-Modell nicht, weil er nicht verantworten könne,
dass die Eltern der Studierenden oder Auszubildenden
dann die Steuerfreibeträge nicht mehr zur Rückzahlung
der Raten für das Haus zur Verfügung hätten?
Verehrte Kollegin Pieper, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bewirkte ja, dass wir bestimmte Dinge, die wir ursprünglich
machen wollten, nicht mehr machen konnten. Wir müssen
doch das Urteil des Verfassungsgerichts respektieren.
Dass wir die Ausgaben für Bildung und Forschung massiv erhöht haben, das können doch nicht einmal Sie bestreiten.
({0})
Noch eine Nachfrage
der Kollegin Pieper.
Bitte schön.
Herr Präsident, davon abgesehen, dass meine Frage nicht beantwortet wurde, habe
ich eine Nachfrage.
Frau Kollegin Wimmer, wenn ich mich richtig erinnere, sind auch Sie dabei gewesen, als nach dem BVG-Urteil die Expertenanhörung mit Steuerrechtlern und Verfassungsrechtlern stattfand. Ich kann mich an keine
Aussage erinnern - man hat uns, im Gegenteil, in der Idee
dieses elternunabhängigen Ausbildungsgeldes bestärkt -,
dass es verfassungsrechtlich nicht umsetzbar oder steuerrechtlich nicht machbar sei. Würden Sie mir bitte einmal
Ihre Erinnerung schildern, um zu verdeutlichen, was Sie
meinen?
Frau Kollegin
Pieper, Sie fragen mich nach etwas, was ich gar nicht behauptet habe. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir,
wollten wir das verfassungskonform umsetzen, 3 bis
4 Milliarden DM benötigen würden und dass Sie mit
Ihrem Gesetzentwurf nicht die Antwort darauf geben, wo
wir diese 3 bis 4 Milliarden DM herbekommen.
({0})
Deswegen ist Ihr Gesetzentwurf unseriös.
Wir wollten nicht fruchtlos streiten. Wir wollten für die
Studierenden die Situation sehr schnell verbessern. Wir
haben das gemacht. Wir haben gehandelt. Sie stehen mosernd und meckernd in der Ecke; wir verbessern die Situation.
({1})
Deswegen noch einmal die zentralen Punkte, die wir
verbessern werden: Es gibt keine Anrechnung des Kindergeldes beim BaföG mehr. Das Freibetragssystem wird
Brigitte Wimmer ({2})
vereinfacht, die Freibeträge werden deutlich angehoben.
Ab 1. April werden alle Bedarfssätze deutlich angehoben.
Diese Steigerung ist beträchtlich und kommt fast in die
Nähe dessen, was Sie beschreiben. Wir erreichen eine
Vereinheitlichung der Förderung in den neuen und den alten Bundesländern.
({3})
Ich bin sehr froh, dass wir das jetzt haben. Ich hätte es
gern schon früher gemacht.
({4})
- Nein, Sie sind nicht gescholten worden. Ihnen wurde
nur gesagt, dass wir es im Moment nicht können.
Wir haben eine dauerhafte Regelung hinsichtlich des
Studienabschlusses - das ist eine verlässliche Hilfe -, unabhängig von den Gründen, warum die Förderungsdauer
überschritten wird.
Ich bin besonders stolz darauf - deshalb möchte ich ein
wenig näher auf diesen Punkt eingehen -, dass wir die
Kindererziehungszeiten bei der Studienzeitverlängerung besser berücksichtigen. Die Ausweitung der Förderungsdauer, die bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes
möglich ist, ist ein ganz wichtiger Punkt, bei dem Sie völlig versagt haben. Sie wollten lediglich eine Verlängerung
um ein Semester. Wir haben jetzt eine Regelung geschaffen, die bis zur Vollendung des fünften Lebensjahres des
Kindes eine Verlängerung von einem Semester je Lebensjahr vorsieht.
({5})
Für das sechste und siebte Lebensjahr gibt es eine Verlängerung um insgesamt ein Semester.
({6})
Für das achte bis zehnte Lebensjahr gibt es noch einmal
eine Verlängerung um ein Semester. Insgesamt ist also
eine Verlängerung um sieben Semester möglich. Das ist
eine große familienpolitische Leistung.
({7})
Wir halten keine Sonntagsreden.
({8})
Wir verbessern den Alltag von studierenden Eltern mit
Kindern. Das ist eine reife Leistung. Sie haben sich niemals getraut, solche Forderungen aufzustellen. Wir haben
es aber geschafft.
({9})
Ich habe nichts dagegen, dass Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen. Ich will nur begründen, warum es richtig ist, dass Sie zustimmen. Es ist richtig, weil unser Gesetz so gut ist.
({10})
Ich nenne beispielsweise die Internationalisierung
und die EU-weite Mitnahme der Förderung. Frau Kollegin Volquartz, ich will auf diesen Punkt genauer eingehen,
weil Sie nachher bestimmt darauf zu sprechen kommen.
Wir haben lange darüber diskutiert, ob das Studium
zunächst für zwei Semester im Inland durchgeführt werden sollte. Wir haben Ihnen schon im Ausschuss gesagt
- ich unterstreiche diesen Punkt noch einmal -: Dies ist
die beste Regelung in ganz Europa. Aber wir sind offen
dafür, nach einer bestimmten Zeit zu überprüfen, ob es
vernünftig ist, diese zwei Semester im Inland vorzuschalten. Wir sind in diesem Punkt nicht stur. Aber wir sind im
Moment der Meinung, dass diese Regelung vernünftig ist.
({11})
Als weitere Punkte nenne ich die Stärkung der Interdisziplinarität und die Begrenzung der Gesamtdarlehensbelastung auf 20 000 DM. Auch in diesem Punkt haben
wir Ihnen bei der Diskussion im Ausschuss nachgewiesen, dass unsere Regelung für die meisten Studierenden
vorteilhafter und besser ist als das, was Sie fordern.
Wir haben den Menschen vor der Wahl 1998 versprochen, dass wir für Innovation und für Gerechtigkeit sorgen. Das vorliegende BAföG-Reformgesetz bringt Erneuerung, stellt das Prinzip Chancengleichheit wieder in
den Mittelpunkt des politischen Handelns und sorgt für
Gerechtigkeit.
Ich war heute zahmer, als ich es sonst bin. Ich hätte
noch sehr viel mehr sagen können. Ich will zum Schluss
nur noch unterstreichen, was unsere Ministerin gesagt hat,
weil mir das außerordentlich wichtig ist: Wir alle sind aufgerufen, bei den jungen Menschen wieder um Vertrauen
für das BAföG zu werben. Die Ausbildungsförderung hat
wieder eine Grundlage, die dieses Vertrauen verdient. Es
liegt im Interesse von uns allen, dass die jungen Menschen ihr Recht und ihre Chancen wahrnehmen.
Deswegen sage ich noch einmal: Prima, dass die
CDU/CSU zustimmt; prima, dass die PDS zustimmt. Frau
Pieper, Ihr Problem ist, dass sich die F.D.P. mit ihrem unseriösen Gesetzentwurf in die Ecke stellt. Ich denke, es ist
ein guter Tag für die jungen Menschen und für die Chancengleichheit in unserem Land.
({12})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angelika Volquartz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst
ein Wort an Sie, Frau Böttcher, richten. Sie haben gesagt,
dass in den 16 Jahren unter der Kohl-Regierung alles den
Bach hinuntergegangen sei. Sie würden doch heute gar
nicht hier sitzen und in Freiheit reden können,
({0})
Brigitte Wimmer ({1})
wenn es die Kohl-Regierung nicht gegeben hätte. Das ist
doch der Punkt.
({2})
Frau Kollegin Wimmer, Sie haben sich heute in der Tat
sehr zahm gegeben, obwohl Sie es in Ihrem Herzen gar
nicht wollten. Wenn Sie von Innovation und Gerechtigkeit
sprechen - das waren Ihre Versprechen vor der Wahl -,
dann müssen Sie auch hinzufügen, dass Sie diese Wahlversprechen gebrochen haben. Sie haben nämlich die elternunabhängige Förderung versprochen und haben dieses Versprechen gebrochen. Die F.D.P. hat sich an das,
was sie gesagt hat, gehalten, Sie nicht.
({3})
Wir sind doch darin einig, dass wir eine Reform brauchen. Unsere Fraktion hat von Anfang an realistische Zahlen und realistische Vorschläge auf den Tisch gelegt. Sie
sind weiterhin bei Ihren Traumtänzereien aus dem Wahlkampf geblieben, obwohl Sie ganz genau wussten, dass
das nicht zu finanzieren ist.
Frau Wimmer, wenn Sie heute erklären, dass das nicht
zu finanzieren sei, weil es mehr als 4 Milliarden DM koste, so muss ich Ihnen sagen: Sie haben doch vorher gewusst, was eine solche elternunabhängige Förderung kosten würde. Die Erklärung, die Sie abgegeben haben, ist
doch sehr mäßig.
({4})
Es ist richtig, Frau Ministerin, worauf Sie hingewiesen
haben - Frau Wimmer hat das wiederholt - , dass das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler und der Studierenden nachhaltig zerstört worden ist. Ursache dafür ist vor
allem das nicht gehaltene Wahlversprechen, das Sie abgegeben haben.
({5})
Wir haben heute einen Gesetzentwurf zu verabschieden, den wir schon vor einem Jahr hätten verabschieden
können; denn die Reform innerhalb des bestehenden Systems, also praktisch eine Fortführung der Politik von
CDU/CSU und F.D.P., die in den letzten 16 Jahren sehr erfolgreich war, hätten wir längst haben können. Damit hätten wir den Schülerinnen und Schülern und den Studierenden einen großen Dienst erwiesen.
({6})
Ich muss noch einmal auf die Chronologie zu sprechen
kommen. Herr Catenhusen, am 2. Dezember 1999 haben
Sie in einer Debatte hier gesagt:
Wir stehen mit dieser BAföG-Reform - gemeint ist
die strukturelle Reform - im Wort gegenüber den
Studierenden. Ich glaube, dass wir dieses Versprechen auch einlösen werden.
Der Glaube reicht nicht. Es hat nicht funktioniert. Sie
haben es nicht eingelöst.
({7})
- Richtig.
Den hohen Erwartungen, die Sie im Wahlkampf geweckt haben, mit denen Sie die Studierenden und die
Schüler zu ködern versucht haben als Sie versprachen,
eine BAföG-Strukturreform durchzuführen, sind Sie
nicht gerecht geworden. Deshalb sage ich noch einmal auf
Ihre Anmerkung hin, Frau Ministerin: Es ist wahrlich notwendig, dass Vertrauen zurückgewonnen wird, und zwar
in vielerlei Hinsicht.
Hier ist sehr viel von Finanzen gesprochen worden.
Wie hat Herr Loske gesagt? Die Ressource Finanzen hat
Jürgen Rüttgers nicht beherrscht. Dazu sage ich einmal
ganz deutlich: Ihre Unabhängigkeit von den Finanzen,
Frau Bulmahn, ist doch überhaupt nicht gegeben. Da
würde ich nicht Jürgen Rüttgers angreifen. Da müssen Sie
sich selber anschauen.
({8})
Der Kanzler hat gesagt: CDU/CSU-Eckpunkte sind in
Ordnung. Basta, die werden genommen.
({9})
Wenn Sie und die Koalitionsfraktionen sich darauf berufen - Frau Wimmer hat das eben noch einmal getan -,
dass Ihnen das Bundesverfassungsgericht mit seinen Beschlüssen zum Familienlastenausgleich einen Strich
durch die Rechnung gemacht hat, dann kann ich mich nur
wundern. Haben Sie je ernsthaft damit gerechnet, dass die
Länder und Ihr Bundesfinanzminister ein solches Modell
finanzieren können? Nein, aus der Erfahrung heraus
konnten Sie damit gar nicht rechnen.
Frau Ministerin, lassen Sie sich gesagt sein:
Klugheit ist Erkennen der Grenzen. Höchste Klugheit ist das Erkennen der eigenen Grenzen.
Das hat der Schriftsteller Carl Endres gesagt.
({10})
Frau Ministerin, auch wenn Sie sich heute sehr moderat gegeben haben, in der Vergangenheit haben Sie gemeinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen von RotGrün keine Gelegenheit ausgelassen, die Grenzen der
alten Bundesregierung beim Thema BAföG aufzuzeigen.
Sie haben dabei bewusst eines verschwiegen - mein Kollege Gerhard Friedrich hat schon darauf hingewiesen -:
Den Verlauf der Grenzen gestalteten sozialdemokratische
Länderfinanzminister ganz wesentlich mit. Das ist doch
ein wichtiger Punkt gewesen.
({11})
Mit dem Festhalten an der Utopie „Strukturreform“ haben Sie in jedem Fall - ich habe das schon deutlich gemacht - Zeit verschenkt. Zeit ist bekanntlich Geld, in diesem Falle verloren gegangenes Geld für Schülerinnen und
Schüler sowie für Studierende, aber ein Gewinn für den
Finanzminister, der der eigentliche Bildungsminister ist;
Kollegin Pieper hat schon darauf hingewiesen.
({12})
Frau Ministerin, ich kann es Ihnen nicht ersparen, Sie
mit der Chronologie dieser Debatte zu konfrontieren.
Noch am 26. Februar 1999 war Ihre wörtliche Aussage im
Parlament zur BAföG-Novelle:
Wir werden hierzu bis Ende dieses Jahres ein
entscheidungsreifes Konzept vorlegen ... und Freibeträge zu einer elternunabhängigen Förderung zusammenfassen.
Ich frage Sie: Können Sie eigentlich gut damit leben,
dass Sie das damals gesagt haben und dass das Ende des
Jahres von Ihrem Staatssekretär wiederholt wurde? Ihnen
waren doch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts längst bekannt. Sie hätten an dieser Stelle zur
Wahrheit neigen sollen. Das wäre Ihnen besser bekommen.
({13})
Es kommt noch besser - Herr Catenhusen, ich möchte
Sie mit einer Aussage, die Sie Ende des Jahres 1999, und
zwar am 2. Dezember 1999, gemacht haben, konfrontieren -:
Sie
- die Debatte gibt uns aber keinen Anlass, von dem eingeschlagenen Weg der gründlichen Vorbereitung einer strukturellen BAföG-Reform abzugehen ... Wir haben den
Ehrgeiz, unter schwierigen Umständen eine strukturelle Reform auf den Weg zu bringen.
Das war anderthalb Monate, bevor das „Basta!“ kam,
das intern längst auf dem Tisch lag. Obwohl klar war, dass
der jetzige Kanzler das heute berühmte „Basta“ sagen wird
und darauf dringen wird, dass die CDU/CSU-Eckpunkte
umgesetzt werden, haben Sie es weiter bei Ankündigungen
belassen und immer noch keinen Gesetzentwurf vorgelegt.
Es kommt noch besser: Im 13. BAföG-Bericht der
Bundesregierung, der am 4. Januar 2000 auf den Tisch gekommen ist, sprechen Sie noch davon, dass Ende 1999 die
berühmten Eckpunkte vorliegen. Diesen Bericht hätten
Sie - in Kenntnis dessen, dass diese Eckpunkte nicht vorhanden waren - doch gar nicht mehr herausgeben dürfen.
({14})
Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Ministerin, haben wir als
Opposition das Ziel nicht aus den Augen verloren. Wir
sind im November 1999 bei dieser Reform der Taktgeber
gewesen.
({15})
Nun findet sie endlich statt.
({16})
- Herr Tauss, hören Sie gut zu! - Wenn sie heute verabschiedet wird, dann sagen wir: Das ist ein vernünftiges
Reformprojekt,
({17})
so wie wir es von Anfang an gewollt haben.
({18})
Es fällt mir gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen leicht, das positiv zu sehen. Denn das Reformkonzept basiert auf unseren Eckpunkten.
({19})
So hat die Bundesregierung zum Beispiel unsere Forderung aufgegriffen, die Darlehenslast für Förderungsempfänger zu begrenzen. Das ist umso erfreulicher, als
der Antrag der Koalitionsfraktionen vom 14. März 2000
eine entsprechende Regelung noch nicht enthielt. Diese
Neuerung war notwendig, um die berechtigte Furcht einkommensschwacher Familien vor Überschuldung abzubauen. Denn - das einigt uns wieder - Bildung darf nicht
vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
Die von der Bundesregierung gewählte Umsetzung der
Darlehensbegrenzung ist aus unserer Sicht jedoch fragwürdig.Am Ende der Förderung - mein Kollege Gerhard
Friedrich hat vorhin schon kurz darauf hingewiesen wird die Darlehenshöhe bei 20 000 DM gekappt. Das
hört sich gut an, hat aber einen entscheidenden Haken
für überdurchschnittlich gut und schnell Studierende:
Die als Belohnung für herausragende Studienleistungen
eingeräumten Erlassbeträge kommen vielfach nicht zur
Geltung. Ein möglichst schnelles und erfolgreiches Studium ist die beste Voraussetzung, um in einen guten Beruf hineinzukommen.
Herr Kollege Loske, es ist ja richtig: Die Studiendauer
ist zu lang und die Zahl der Studienabbrecher ist zu
hoch. Aber woran liegt denn das? Zum einen besteht in
früher sozialdemokratisch regierten Ländern bis heute
nicht der Wille, die zwölfjährige Schulzeit flächendeckend einzuführen. Statt dessen gibt es unverständliche
Abwehrübungen, obwohl auch diese Maßnahme zu einer
Verkürzung der Ausbildungszeit insgesamt bei-trägt.
({20})
Zum anderen, Herr Loske, sind in den Schulen gerade
sozialdemokratisch regierter Länder schwere Versäumnisse, was die Lehrinhalte und Leistungen betrifft,
zu verzeichnen. Dort wurde nach dem Motto: „Kinder,
singt und spielt“ gehandelt, anstatt Kinder mit Freude zur
Leistung zu motivieren. Aber genau das muss in den
Schulen getan werden.
({21})
Wir können uns im Ziel wieder treffen, Herr Loske: Die
Gesamtausbildungszeit muss verkürzt werden.
Unser Vorschlag, eine monatliche Darlehensbegrenzung von 400 DM festzulegen, hätte die gewünschten
Leistungsanreize bewirkt. Dazu gab es aber leider ein
Nein von den Regierenden.
Auch hier spricht natürlich wieder der Finanzminister.
Der Deckelungsansatz der Regierung wird erst im
übernächsten Jahrzehnt für den Haushalt relevant. Das bedeutet im Klartext: Jetzt muss die Bundesregierung dafür
nicht zahlen. Soll doch eine spätere Regierung damit klarkommen. - Gut, wir nehmen die Herausforderung an. Wir
werden als Regierung damit klarkommen.
({22})
Bedauerlicherweise haben Sie in dem Entwurf eine
wichtige Gruppe vernachlässigt - das, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Koalitionsfraktionen, bedauere ich
wirklich - nämlich die Gruppe der Waisenkinder. Der Gesetzentwurf erhöht die Freibeträge für Waisenrente und
Waisengelder um 6 Prozent. Im Vergleich zu den Erhöhungen der Freibeträge für Einkommen der Eltern ist
dies gering. Das ist insofern ungerecht, als Waisenbezüge
Unterhaltsersatzleistungen sind und daher entsprechend
dem Elterneinkommen behandelt werden sollten. Man
kommt zu dem traurigen Ergebnis, dass der oder die
Waise von den Verbesserungen beim BAföG deutlich
stärker profitieren würde, wenn der verstorbene Elternteil
noch lebte. Das kann doch nicht sein. Ich bitte, an dieser
Stelle noch einmal nachzudenken.
({23})
So bedauerlich die mangelnde Einsicht von Rot-Grün
in diesem Punkt ist, so sehr begrüßen wir die neuen Regelungen zur Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten. Auch das war einer unserer wesentlichen
Eckpunkte und ist ein wichtiger Schritt pro Familie. Vor
allem die Frauen werden hiervon stark profitieren.
Ebenso erfreulich ist es, dass die Forderung von
CDU/CSU, das Kindergeld künftig bei der Einkommensermittlung nicht mehr anzurechnen, in den Gesetzentwurf eingeflossen ist. Kindergelderhöhungen
wirken sich damit nicht mehr förderungsmindernd aus.
Das ist uns ein zentrales Anliegen.
Ein Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Änderungsvorschlägen der rot-grünen Fraktion. Wir begrüßen zum Beispiel die Internationalisierung der Förderung, die bereits mehrfach angesprochen wurde. Die
Förderung eines Studiums im EU-Ausland auch bis zum
Abschluss zu Inlandssätzen ist ein richtiger Schritt in die
richtige Richtung. Dieser Schritt hätte aber noch größer
ausfallen müssen. Denn, Frau Wimmer, große Schritte
hätten hier auch große Erfolge bedeutet. Man hätte auf das
Erfordernis verzichten können, zunächst zumindest zwei
Semester in Deutschland zu studieren.
Wir müssen uns doch der Herausforderung stellen,
dass Studierende mehr und mehr auch die Bildungsangebote ausländischer Hochschulen wahrnehmen wollen und
müssen. Im Zuge des Zusammenwachsens Europas müssen solche Bestrebungen gefördert werden. Das heißt vor
allem: Schaffung unkomplizierter und unbürokratischer
Auslandsförderung. Ich hoffe, dass wir schneller als geplant zu einer Änderung an diesem Punkt kommen. Mit
etwas mehr Mut hätte hier ein deutlicheres Signal für das
Zusammenwachsen Europas gesetzt werden können.
({24})
Frau Ministerin, im Rahmen der ersten Lesung des Gesetzentwurfs haben Sie gesagt, die Oppositionsfraktionen
mögen mithelfen, dass, wie Sie dies ausgedrückt haben,
aus dem zukunftsweisenden Gesetzentwurf ein zukunftsweisendes Gesetz werde. Wir haben das als Bitte verstanden, konstruktiv etwas zur Verbesserung des ursprünglichen Entwurfs beizutragen bzw. daran mitzuwirken. Dass
unsere Änderungsvorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen, gänzlich unberücksichtigt geblieben sind, ist besonders engherzig von der Koalition.
Wir sind allerdings großzügig.
({25})
Wir stimmen dem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
({26})
Ich erteile das Wort
dem Kollege Walter Hoffmann, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man
könnte eigentlich sagen: Die Argumente sind ausgetauscht.
({0})
Es wiederholt sich jetzt einiges. Allerdings gibt es einen
Bereich, von dem ich meine, dass er bis jetzt eine untergeordnete Rolle gespielt hat.
Wenn man über BAföG redet, denkt man unwillkürlich
an Studentinnen und Studenten an den Hochschulen und
Fachhochschulen. In diesem Zusammenhang wird vergessen, dass das BAföG auch für andere gilt,
({1})
beispielsweise für Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen, wie Abendschulen, Berufsaufbauschulen, Berufsfachschulen sowie Fach- und Fachoberschulen.
Das BAföG hat aber auch Auswirkungen auf Auszubildende, die eine berufliche Ausbildung zum Beispiel im
Handwerk oder in der Industrie absolvieren, und auf Teilnehmer an einer berufsvorbereitenden Maßnahme der
Bundesanstalt für Arbeit.
Diese Gruppen haben nach dem Sozialgesetzbuch III
Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe. Diese Berufsausbildungsbeihilfe orientiert sich an den Regeln
des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Voraussetzung ist, dass sie ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten und mit der Ausbildung verbundene Kosten
nicht selbst tragen können.
Ausbildungsgeld erhalten auch Behinderte, die einer
besonderen Förderung bedürfen und deshalb in einer speziellen Einrichtung für Behinderte, zum Beispiel in einem
Berufsbildungswerk, ausgebildet werden. Auch dieses
Ausbildungsgeld für Behinderte orientiert sich an den
Regelungen im BAföG.
({2})
Es war, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe
Kolleginnen und Kollegen, immer Konsens in diesem
Haus, dass der Bund alle Formen der weiterführenden beruflichen Bildung in den BAföG-Regelungen in analoger
Weise unterstützt hat. Eine Studentin soll und darf einer
Auszubildenden gegenüber nicht bevorzugt werden.
({3})
Beiden muss es ermöglicht werden, unabhängig vom eigenen Einkommen oder dem der Eltern eine berufsqualifizierende Ausbildung zu absolvieren.
({4})
Ich meine daher, dass es konsequent, bildungspolitisch
sinnvoll und gerecht ist, die mit diesem Ausbildungsförderungsreformgesetz erreichten Verbesserungen in der
Schüler- und Studentenförderung in gleichem Umfang
auf die Auszubildenden und die Teilnehmer an berufsvorbereitenden Maßnahmen auszudehnen. Das machen wir
hiermit.
({5})
Unsere BAföG-Reform wird diesem Anspruch gerecht. Vom 1. August dieses Jahres an werden auch Lehrlinge und sich auf den Beruf vorbereitende Jugendliche,
ob behindert oder nicht, von der Erhöhung der Einkommensfreibeträge - im Durchschnitt 6 Prozent, wie wir
gehört haben -, von der Nichtanrechnung des Kindergeldes, der Anhebung der Bedarfssätze und der Erhöhung der
Mietkostenpauschale profitieren. Das ist gut so.
({6})
Diese Erhöhung war überfällig, wie wir alle wissen,
weil mit ihr die jahrelangen Versäumnisse der alten Koalition endlich ausgeglichen werden. Ein Auszubildender
muss sich jetzt weniger Sorgen darüber machen, ob er
sich eine Ausbildung leisten kann oder nicht. Wir haben
erreicht, dass der Geldbeutel der Eltern nicht mehr über
die Lebenschancen in unserer Gesellschaft bestimmt, wie
es Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung am 10. November 1998 formuliert hat.
Damit haben wir ein weiteres unserer Wahlversprechen
eingelöst.
({7})
Die Zeiten sind vorbei, in denen die Ausgaben für die
Ausbildungsförderung real gekürzt wurden und immer
weniger Studierende und Auszubildende Unterstützung
erhielten. Sie gehören Gott sei Dank endlich der Vergangenheit an. Heute werden wir entscheidende Verbesserungen nicht nur in der Leistungshöhe, sondern auch in
der Struktur der Förderung von Auszubildenden und
Teilnehmern an berufsvorbereitenden Maßnahmen durchsetzen.
Wir entschlacken das SGB III von überflüssigen bürokratischen Regelungen, schneiden alte Zöpfe ab und gleichen die Regelungen in BAföG und SGB III stärker einander an.
({8})
Bestes Beispiel ist die Abschaffung der unterschiedlichen
Förderung von Auszubildenden nach Alter und Familienstand. Wir meinen, dass diese Kriterien sich längst überlebt haben und in der Praxis teilweise kontraproduktiv
wirken.
Statt etlicher unterschiedlicher Förderungsgruppen je
nach Alter, Familienstand und Ort der Ausbildungsstätte
- Ost oder West - schaffen wir nun eine bundeseinheitliche und übersichtliche Förderstruktur,
({9})
die sachgerecht die Höhe der Berufsausbildungsbeihilfe
nur noch nach zwei Kriterien festlegt: Erstens. Wohnt der
Auszubildende bei den Eltern oder ist er auswärts untergebracht? Zweitens. Absolviert er eine berufliche Ausbildung oder nimmt er an einer berufsvorbereitenden Maßnahme teil?
In Zukunft ist es relativ einfach: Ein Auszubildender
in einer normalen beruflichen Ausbildung wird künftig
Studierenden an Fachschulen gleichgestellt und kann bis
zu 865 DM bekommen. Teilnehmer an berufsvorbereitenden Maßnahmen hingegen werden Berufsfachschülern gleichgestellt und erhalten künftig je nach Unterbringung zwischen 375 und 680 DM. Diese einfache
und klare Regelung wird es in Zukunft vielen Auszubildenden erleichtern, ihren Anspruch auf Förderung wahrzunehmen.
({10})
Meine Damen und Herren, für die verheirateten oder
über 21 Jahre alten Teilnehmer an einer berufsvorbereitenden Maßnahme werden die Bedarfssätze allerdings
gekürzt. Dies ist aber aus unserer Sicht sachgerecht und
stellt eine strukturelle Veränderung der Berufsausbildungsbeihilfe dar. Die Erfahrungen aus dem Jugendsofortprogramm JUMP haben gezeigt, dass die relativ hohen Sätze in der Berufsvorbereitung den Übergang in eine
betriebliche oder außerbetriebliche Ausbildung in vielen
Fällen blockieren und ganz besonders heimatferne
Ausbildungsangebote unattraktiv machen. Es kann nicht
richtig sein, dass Jugendliche in der Berufsvorbereitung
mehr Geld erhalten als später in der anschließenden Berufsausbildung. Das korrigieren wir jetzt.
Auch die Teilnahme an der JUMP-Maßnahme „Arbeit
und Qualifizierung für noch nicht ausbildungsgeeignete
Walter Hoffmann ({11})
Jugendliche“ wurde sehr oft mit dem Hinweis auf die
höhere Entlohnung in der berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme abgelehnt. Das ändern wir durch dieses Gesetz.
({12})
Tatsache ist auch: Es wird in Zukunft mehr Teilnehmer
an berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen geben, die
Förderbeträge erhalten. In Zukunft wird vor allem das
Einkommen der Eltern und Ehegatten nicht angerechnet.
Mit dieser Reform werden wir weitere wichtige Verbesserungen umsetzen: Wir haben den Freibetrag für
Auszubildende bezüglich der Anrechnung der Ausbildungsvergütung weiter erhöht. Mit diesem Gesetz werden wir zur weiteren Entschlackung den Bewilligungszeitraum für die Berufsausbildungsbeihilfe und das
Ausbildungsgeld auf 18 Monate erhöhen, sodass der Auszubildende in Zukunft nur noch zweimal während einer
regulären Ausbildung einen Antrag auf Förderung zu stellen braucht. Das entlastet die Betroffenen und bedeutet
eine erhebliche Erleichterung für die zuständigen Ämter
und Behörden.
({13})
Die Berufsausbildungsbeihilfe kann in Zukunft wieder
durch Dritte aufgestockt werden. Besonders Bundesländer, in denen heute schon ein Mangel an Auszubildenden
in vielen Berufen besteht, werden diese Möglichkeit zur
besseren Ausschöpfung des Ausbildungsstellenangebotes
und zur besonderen Förderung der regionalen Mobilität
nutzen.
Und: Zum Zwecke der Vereinfachung und der engeren
Anbindung der Förderleistungen nach dem SGB III fügen
wir Verweise ein, die künftige Erhöhungen beim BAföG
automatisch auf das SGB III ausdehnen.
({14})
Lassen Sie mich zusammenfassend noch einmal eine
Bewertung vornehmen: Diese Reform bedeutet Entbürokratisierung und Verwaltungsvereinfachung. Sie stellt die
Betroffenen finanziell besser und macht sie unabhängiger.
({15})
Sie realisiert mehr Gleichberechtigung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung
({16})
und leistet einen entschiedenen Beitrag zur Verbesserung
der Qualifikation der jungen Menschen.
({17})
Uns allen ist klar, dass wir die Herausforderungen der
Zukunft nur durch ein höheres Ausbildungsniveau erfolgreich bewältigen können, und deswegen ist es gut, dass
das Haus diesem Gesetzentwurf überwiegend zustimmt.
Vielen Dank.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform
und Verbesserung der Ausbildungsförderung, Drucksachen 14/4731 und 14/5276.
Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Gesetzentwurfes in
der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.
({0})
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion der PDS auf Drucksache 14/5279. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? -
Stimmenthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion
der PDS abgelehnt worden.
Abstimmung über den Entwurf eines Bundesausbil-
dungsförderungsgesetzes der Fraktion der F.D.P. auf
Drucksache 14/2253. Der Ausschuss für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt unter
Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
14/5276, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf auf Drucksache 14/2253 zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt da-
gegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die
Stimmen der F.D.P.-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehr die
Tagesordnungspunkte 15 a und b auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Kurt-Dieter Grill, Dr. Klaus W. Lippold ({1}), Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der friedlichen Nutzung der Kern-
energie - Zukunft der Entsorgung
- Drucksachen 14/1365, 14/5162 -
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter Grill, Dr. Peter
Walter Hoffmann ({3})
Paziorek, Dr. Klaus W. Lippold ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Die Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie
für den Standort Deutschland
- Drucksachen 14/3667, 14/4569 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Kubatschka
Kurt-Dieter Grill
Birgit Homburger
Zur Großen Anfrage liegt je ein Entschließungsantrag
der Fraktion der CDU/CSU und der Fraktion der F.D.P.
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Horst Kubatschka, SPD-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen
uns heute mit der Großen Anfrage der CDU/CSU „Zukunft der friedlichen Nutzung der Kernenergie - Zukunft
der Entsorgung“. Die CDU/CSU-Fraktion hat sich wahrlich Mühe gegeben und 139 Fragen zu Papier gebracht.
Sie hat sich viel Mühe gegeben für eine Technik des vergangenen Jahrhunderts. Sie hat viel Zeit investiert in die
Vergangenheit. Sie macht sich immer noch die Hoffnungen der 50er- und 60er-Jahre. Damals versprach uns die
Wissenschaft das Ende aller Energiesorgen. Kritische
Stimmen wurden nicht wahrgenommen. Ein Zeitalter des
Energieüberflusses wurde versprochen, sogar das Perpetuum mobile schien in Form des Schnellen Brüters in
greifbare Nähe zu rücken.
Nur, die Hoffnungen der 50er- und 60er-Jahre haben
sich nicht erfüllt. Auf die Blütenträume der „Atome für
den Frieden“ fiel Raureif. Dieser Raureif hieß Harrisburg
in den USA, Tschernobyl in der ehemaligen Sowjetunion
und Tokaimura in Japan. Statt „Atome für den Frieden“
blieben uns ungelöste Probleme. Ich möchte nur zwei
schwerpunktmäßig aufgreifen: erstens das Restrisiko und
zweitens die Entsorgung.
Es gibt nach wie vor ein Restrisiko, das sich nicht vernachlässigen lässt. Dem sehr geringen Risiko eines größten anzunehmenden Unfalls steht die Gefahr des maximalen Schadens gegenüber. Man muss auch immer
wieder darauf hinweisen: Wir hinterlassen unseren Enkelinnen und Enkeln eine strahlende Hypothek, eine wirkliche Belastung. Auch in Frankreich, Japan oder den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es keine Lösung für die
Endlagerung. Die Wissenschaft hat keine endgültige Lösung gefunden. Nicht einmal in der Theorie ist sich die
Wissenschaft einig. Von einem genehmigten Endlager
sind wir noch weit entfernt.
Eine Technik, die solche Zukunftsprobleme schafft, ist
eine Technik der Vergangenheit. Die Aufgabe lautet:
Mehr als 100 000 Jahre muss der Atommüll sicher verwahrt werden. Nur um die Dimension darzustellen: In
Deutschland wird in diesem Jahr der 300. Geburtstag
Preußens gefeiert.
Wie Goethes Zauberlehrling haben wir in den 50erund 60er-Jahren den Besen aus der Ecke geholt. Der Zauberlehrling schöpft immer noch Atommüll und wir haben
noch keinen Meister, der diesen Besen in die Ecke verbannt.
Mit den Antworten der Bundesregierung wird die
CDU/CSU - ich nehme an, auch die F.D.P. - nicht zufrieden sein. Die rot-grüne Regierung kann Ihnen auch keine
Antworten geben, die in Ihrem Sinne sind. Die richtige
Antwort lautet: Die rot-grüne Regierung und die sie tragenden Fraktionen wollen kontrolliert aus der Kernenergie aussteigen; nicht in einem Jahr, wie manche Umweltverbände fordern. Wir werden den Ausstieg kurz- und
mittelfristig angehen. Damit geben wir ein Beispiel, wie
eine Hightech-Nation aus einer überholten Technik der
Vergangenheit, der die CDU/CSU und die F.D.P. anhängen, aussteigt. Die Kernenergie in ihrer jetzigen Konzeption ist überholt.
Wir haben vereinbart, im Konsens mit den EVUs auszusteigen. Es wird aber auch Zeit, dass wir im Konsens
ein Stück vorankommen. Die EVUs sind aufgefordert, die
Konsensvereinbarungen zu unterschreiben und damit
den entscheidenden nächsten Schritt zu machen.
Von den Kernkraftbefürwortern wird auch immer wieder behauptet, dass Deutschland allein aus der Kernenergie aussteigen will. Deutschland ist auf diesem schwierigen Weg des Ausstiegs nicht allein. Es wird immer wieder
vergessen, dass die Mehrheit der EU-Staaten gar nicht in
die Kernenergie eingestiegen ist oder sich ebenfalls auf
dem Ausstiegspfad befindet.
({0})
- Ich habe von der EU gesprochen und Russland gehört
nicht dazu. Die gehen denselben Irrweg wie Sie, Herr
Kollege. Mich freut es weniger, dass Sie den gemeinsamen Weg mit Russland für den richtigen Weg halten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Ihre Große Anfrage ist in manchen Teilen irreführend,
denn eine Zukunft der friedlichen Nutzung der Kernenergie wird es in Deutschland nicht geben.
Nun möchte ich mich dem CDU/CSU-Antrag „Die
Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie für den Standort Deutschland“ zuwenden. Schon einige Feststellungen
des Antrages sind fragwürdig. Einige Beispiele möchte
ich aufführen. Die Wettbewerbsfähigkeit der Atomkraftwerke muss angezweifelt werden. Niemand würde heute
aus Gründen der Wirtschaftlichkeit ein Kernkraftwerk
bauen. Sie sind einfach zu teuer. Es gibt auch keine positive Entwicklung zu neuen, inhärent sicheren Kernkraftwerken. Die jetzigen Konzeptionen bedeuten keine in sich
sicheren Kernkraftwerke. Gäbe es diese, hätten wir noch
immer ein Problem, nämlich das der Entsorgung.
Präsident Wolfgang Thierse
Wir wollen die Kernkraftwerke auch nicht durch
Kohlekraftwerke ersetzen, wie Sie behaupten.
({2})
- Der Dreiklang heißt - damit beantworte ich Ihr „Sondern?“ -: Energie sparen, Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Diese drei Möglichkeiten sind die Fixpunkte der zukünftigen Energiepolitik.
Einiges haben wir schon auf den Weg gebracht - ich
möchte drei Beispiele aufzählen -:
({3})
Das 100 000-Dächer-Programm für die Photovoltaik hat
einen enormen Schub für diese Technik gebracht. Damit
wollen wir die Kosten für den Strom aus Photovoltaikanlagen senken und für die Anlagenhersteller eine Langzeitperspektive entwickeln. Die notwendigen Produktionskapazitäten werden aufgebaut. Dies ist eine Technik der
Zukunft.
Manche Kernkraftwerksfreaks unterstellen uns, dass
wir Kernkraftwerke durch die Photovoltaik ersetzen wollten. Das ist nicht der Fall und in absehbarer Zeit sicherlich auch nicht möglich. Dass aber Photovoltaik bei Inselversorgung bereits heute wirtschaftlich ist, wird
niemand ernsthaft bestreiten. Diesen Weg werden wir
weitergehen.
({4})
Auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein Teil
dieses Konzeptes. Dieses Gesetz ist ein voller Erfolg.
Ohne dieses Gesetz wären in Deutschland 20 000 Arbeitsplätze vernichtet worden. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat in Deutschland die Windkraft gerettet, nachdem
das Stromeinspeisungsgesetz nicht mehr wirksam war.
Durch dieses Gesetz stieg die Stromproduktion aus Windkraft von 5,5 Milliarden Kilowattstunden in einem Jahr
auf 9,2 Milliarden Kilowattstunden. Das sind fast 2 Prozent der Stromerzeugung in Deutschland. Vor zehn Jahren
wäre das noch völlig unvorstellbar gewesen und als Utopie bezeichnet worden.
Ähnliche Entwicklungen werden wir auch bei der Biomasse erleben. Hier eröffnet sich für die Landwirtschaft
eine neue Zukunftschance. In die Zukunft schauende
Landwirte haben diese Chance bereits erkannt, haben sie
genutzt und werden sie verstärkt nutzen. Ich möchte allen
Bürgerinnen und Bürgern danken, die auf diesem Weg
Fantasie und Unternehmungsgeist bewiesen haben.
({5})
Mit ihnen werden wir es schaffen, in zehn Jahren den Anteil der erneuerbaren Energien in Deutschland zu verdoppeln. Damit haben wir eine einheimische Energiequelle
gesichert und Zehntausende von Arbeitsplätzen für die
Zukunft geschaffen.
Ich habe nur wenige Beispiele von unserem Konzept
ausgeführt. Wir haben die ersten Schritte gemacht, weitere werden folgen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Atomenergieanhänger werden behaupten, diese Maßnahmen würden nur
durch Subventionen ermöglicht. Um es klar zu sagen:
Ohne Subventionen lassen sich erneuerbare Energien
nicht auf dem Markt durchsetzen. Damit verhält es sich
genauso wie mit der Kernenergie in der Vergangenheit.
Auch sie musste hoch subventioniert gegen die Braunund Steinkohle durchgesetzt werden. Wären wir nicht in
die Sackgasse der Kernenergie gelaufen, wären wir auf
dem Gebiet der erneuerbaren Energien, der Energieeffizienz und der Energieeinsparung bedeutend weiter.
In Ihren Antragsforderungen schreiben Sie auch vom
Entsorgungsnachweis; die Entsorgung solle gewährleistet
werden. Dazu möchte ich Folgendes anmerken: Seit Beginn der kommerziellen Nutzung der Kernenergie haben
wir uns etwas vorgemacht. Für uns war ein Kernkraftwerk
entsorgt, wenn der Abtransport in eine Wiederaufbereitungsanlage erfolgte. Die Wiederaufbereitungsanlage war
also der Entsorgungsnachweis. Tatsache ist: Die Wiederaufbereitungsanlage hat die Entsorgung eher erschwert
und verteuert. Deswegen werden wir die Wiederaufbereitung beenden.
Kein Kernkraftwerk in Deutschland ist wirklich entsorgt. Es gibt keine Endlager. Allein aus diesem Grund
müssen wir aus der Kernenergie aussteigen. Die Kernenergie ist eine Technik der Vergangenheit, der die
CDU/CSU und die F.D.P. anhängen.
Im Rahmen dieser Debatte möchte ich einige kurze
Ausführungen zum Kernkraftwerk Temelin in der Tschechischen Republik machen. Seit Jahren beschäftige ich
mich mit diesem Thema. Das Kraftwerk liegt nicht weit
- circa 60 Kilometer - von der deutschen Grenze entfernt.
Ich möchte der tschechischen Regierung nicht in ihren
Verantwortungsbereich hineinreden, möchte aber betonen: Als Nachbar wären wir bei einem GAU betroffen.
Dies ist die Lehre von Tschernobyl.
({6})
Die radioaktiven Belastungen, die freigesetzt werden, halten sich bekanntlich nicht an Grenzen, höchstens an französische Grenzen.
Unsere tschechischen Nachbarn müssten sich wegen
des Kernkraftwerkes Temelin große Sorgen machen.
({7})
Dies hat der Probebetrieb bewiesen. Bei einer Belastung
von circa 35 Prozent kam es unter anderem zu Schwierigkeiten an der Turbine, also im konventionellen Teil. Nur
zur Erinnerung: Der GAU in Tschernobyl wurde ebenfalls
durch einen Schaden im konventionellen Bereich der Anlage ausgelöst. Die tschechische Regierung wäre also gut
beraten, im Interesse ihrer Bevölkerung Temelin nicht an
das Netz zu nehmen.
({8})
Doch auch hier zeigt sich, dass es besser ist, gar nicht erst
in die Kernenergie einzusteigen.
({9})
Zum Schluss möchte ich zusammenfassend sagen: Die
CDU/CSU-Fraktion hat fleißig Fragen im Zusammenhang mit einer Technik der Vergangenheit gesammelt. Es
wäre zukunftsweisender gewesen, wenn sie sich in einer
Großen Anfrage mit den erneuerbaren Energien auseinander gesetzt hätte. Aber bei diesen Fragen sitzt sie bekanntlich im Bremserhäuschen.
({10})
Ich gebe
dem Kollegen Dr. Peter Paziorek für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die im Januar endlich vorgelegte Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage
zur friedlichen Nutzung der Kernenergie, insbesondere
zur Entsorgung, ist in höchstem Maße unbefriedigend. Sie
lässt kein konkretes Konzept der Bundesregierung hinsichtlich der Entsorgung radioaktiver Abfälle erkennen. Die Tatsache, dass die Anfrage, die der Bundesregierung im Juni 1999 - also vor mehr als eineinhalb Jahren vorgelegt wurde, erst jetzt beantwortet wird, zeigt, wie
schwer sich die Bundesregierung tut, Antworten auf drängende Fragen zu finden.
({0})
Bei dem Eiertanz, den Umweltminister Trittin in den
letzten beiden Tagen im Zusammenhang mit den Transporten von Hanau nach Frankreich veranstaltet hat, wird
deutlich: Die ideologische Verblendung früherer Jahre
fällt heute auf die Verantwortlichen in der Regierung
zurück.
({1})
Es ist wohl unbestritten: Auch derjenige, der gegen den
Weiterbetrieb deutscher Atomkraftwerke ist, muss heute
verbindlich sagen können, wo er den atomaren Abfall lagern will. Die rot-grüne Bundesregierung hat ohne Not
den seit 1979 geltenden Entsorgungskonsens zwischen
Bund und Ländern aufgekündigt. Trotz der Beantwortung
der Großen Anfrage bleibt die Bundesregierung den Beweis dafür schuldig, warum sie das bisherige Entsorgungskonzept für gescheitert erklärt hat. Die Bundesregierung hat in der Beantwortung unserer Anfrage kein
schlüssiges Entsorgungskonzept vorgelegt.
Man muss sich einmal vorstellen: Sie hat das alte Entsorgungskonzept aufgehoben und spricht heute nur davon, dass sie zurzeit einen Entsorgungsplan vorbereitet,
der die Untersuchung weiterer Standorte vorsieht. Für
Gorleben spricht sie ein Moratorium aus, obwohl sie zugestehen muss, dass keine Erkenntnisse vorliegen, die die
Realisierung eines Endlagers am Standort Gorleben ausschließen würden. Wie unglaubwürdig Umweltminister
Trittin bei seinem Entsorgungskurs geworden ist, wird dadurch deutlich, dass er gestern im Bundestag unterstellte,
Gorleben sei von der Vorgängerregierung nur deshalb
ausgesucht worden, weil die Lage an der innerdeutschen
Grenze politisch gut gewesen sei. Aber er hat im gleichen
Atemzug verschwiegen, dass er als Umweltminister noch
vor Kurzem eine Erklärung paraphiert hat, aus der hervorgeht, dass Gorleben unter sachlichen Gesichtspunkten
als Endlager geeignet ist. Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung möchte ich aus der Anlage 4 zu der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den EVUs
zum Salzstock in Gorleben zitieren:
Die analytisch bestimmten Hebungsraten des Salzstockes lassen erwarten, dass im Hinblick auf mögliche Hebungen auch in sehr langen Zeithorizonten
({2}) nicht mit
hierdurch verursachten Gefährdungen zu rechnen
ist. Es wurden keine nennenswerten Lösungs-, Gasund Kondensateinschlüsse im Älteren Steinsalz gefunden. Die bisherigen Erkenntnisse über ein dichtes
Gebirge und damit die Barrierefunktion des Salzes
wurden positiv bestätigt.
Diese Vereinbarung mit den EVUs hat die Bundesregierung paraphiert. Trotzdem tut man im Deutschen Bundestag so, als ob die Bundesregierung nicht zugegeben
hätte, dass der Salzstock Gorleben - wie sagen die Bergleute? - höffig und geeignet ist. Das ist unredlich. Damit
beschädigen Sie in großem Maße Ihre sachliche Autorität,
Herr Bundesumweltminister.
({3})
- Herr Kollege Hirche, das ist der eine Grund. Man stoppt
das auch, damit man aus den Begründungsschwierigkeiten, in denen man bezüglich der eigenen rot-grünen Basis
steckt, herauskommt. Das ist der tatsächliche Grund.
Obwohl also Endlagerstätten existieren, deren Eignung
und Sicherheit außer Frage stehen, und Milliardenbeträge
in die Endlagerprojekte Konrad und Gorleben investiert
wurden, erzwingt nun diese Bundesregierung die Erkundung alternativer Standorte. Hier wird Kapital vernichtet,
was für eine ideologiegeprägte Politik leider kennzeichnend ist.
In der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU
erklärt die Bundesregierung - das muss man sich einmal
vor Augen führen -, dass ein Endlager erst im Jahre 2030
zur Verfügung stehen soll. Man muss die Bundesregierung fragen, wie sie darauf kommt. Man könnte genauso
gut am bisherigen Ziel festhalten, demgemäß ein Endlager schon im Jahr 2010 zur Verfügung stehen sollte. Die
Antwort auf die Frage, warum man daran nicht festhält,
kann doch nur in der Ideologie liegen. Man kann nur dann
den Ausstiegskurs begründen, wenn man, wie es Herr
Kubatschka vorhin getan hat, sagt: Es steht im Augenblick
noch kein Endlager zur Verfügung.
Die Politik wird unredlich, wenn man gleichzeitig sagt:
Wir unternehmen auch nichts, damit bis zum Jahre 2010
oder 2015 ein Endlager zur Verfügung steht. Wir sagen
schon heute definitiv: Uns reicht es, wenn ein Endlager
erst im Jahre 2030 zur Verfügung steht. - Was soll das?
Will man bis dahin mit Zwischenlagern und Übergangsgenehmigungen arbeiten? Herr Kubatschka, Ihr Kurs ist
in höchstem Maße unverantwortlich und muss deshalb in
diesem Hause gerügt werden.
({4})
- Herr Kubatschka, es scheint doch so zu sein, dass man
sich auf das Datum 2030 deshalb festgelegt hat, weil
({5})
diese Bundesregierung und diese rot-grüne Koalition die
große Hoffnung haben, dass dann all die Protestierer und
Blockierer alt und gebrechlich sind und nicht mehr in der
Lage sein werden, sich irgendwo auf die Schienen zu setzen. Das ist der Grund, warum Sie sich auf das Datum
2030 geeinigt haben. Sie haben keine Konzepte und verschieben deshalb die Entscheidung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag.
({6})
- Ich bin 2030 sicherlich nicht mehr Mitglied dieses Hauses. Den Ehrgeiz habe ich nicht.
Ich halte das Verhalten der Bundesregierung nicht nur
unter aktuellen Gesichtspunkten für unverantwortlich. Ich
halte dieses Verhalten - das muss ich klar und deutlich sagen - auch gegenüber den kommenden Generationen für
in höchstem Maße unverantwortlich.
({7})
Ich verstehe überhaupt nicht, woher Sie, die jetzige Generation, die moralische Berechtigung nehmen, die notwendigen Entscheidungen zu blockieren, sie auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag und damit auf die zukünftigen
Generationen zu verschieben. Genau das tun Sie, wenn
Sie beschließen, dass ein Endlager erst im Jahre 2030 zur
Verfügung stehen muss.
({8})
Dieses Verhalten deckt sich überhaupt nicht mit der ewig
moralisch angesäuerten Politik, die Sie betreiben. Ich
halte Ihr Verhalten in höchstem Maße für unverantwortlich.
({9})
Man muss deutlich sagen, dass Deutschland seine internationale Vorreiterrolle im Bereich der Entsorgung
und der Sicherheitsvorsorge durch Ihre Politik verlieren
wird. Deutschland wird - das ist ganz klar - seine Rolle
als international anerkannter, kompetenter Gesprächspartner und Impulsgeber im Bereich der Weiterentwicklung der Kernenergie einbüßen. Deutschland wird - diesen Anspruch hat es bisher erhoben - bei der sicheren
Ausgestaltung der Kernkraftwerke in unseren europäischen Nachbarländern nicht mehr mitreden können.
Auch das halte ich moralisch für nicht tragbar.
Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung im
Rahmen der Entsorgung radioaktiver Abfälle stellen somit keinen Zugewinn an Sicherheit dar. Die Übergangsgenehmigungen für die so genannten beweglichen Zwischenlager, jetzt zum Beispiel in Baden-Württemberg
ausgesprochen, sind in höchstem Maße rechtlich bedenklich. Man muss sich einmal vorstellen, unter der Bundesumweltministerin Frau Merkel wäre vom zuständigen
Bundesamt für Strahlenschutz die Genehmigung erteilt
worden, dass außerhalb der genehmigten Zwischenlager
auf dem Gelände der Kraftwerke bewegliche Zwischenlager in Eisenbahnwaggons eingerichtet werden
könnten; dann wäre ein Aufstand durch diese Republik
gegangen.
Sie versuchen jetzt mit allen juristischen Klimmzügen,
auf diese unverantwortliche Position nicht hinweisen zu
müssen, weil Sie genau wissen, dass das überhaupt nicht
mit den Positionen übereinstimmt, die Sie über Jahre hinweg eingenommen haben. Aber Sie stehen jetzt in der Verantwortung und erkennen, dass Sie mit all dem, was Sie
über Jahre als rot-grüne Position verteidigt haben, nicht
klarkommen. Aus diesem Grunde sind Sie sogar bereit,
aus meiner Sicht in höchstem Maße rechtlich bedenkliche
Übergangsgenehmigungen für bewegliche Zwischenlager auszusprechen. Dies kann unter keinem Gesichtspunkt toleriert werden, meine Damen und Herren.
({10})
Mit der Nichtinbetriebnahme des genehmigungsfähigen Endlagers Konrad ergeben sich absehbar schwer
wiegende Engpässe für die Entsorgung, insbesondere für
Abfälle aus der Medizin, dem Gewerbe und der Industrie.
Die Bundesregierung steht somit eigentlich vor der politisch wichtigen Aufgabe, nach den Vereinbarungen mit
der Atomindustrie die Entsorgung des Atomabfalls zu gewährleisten und damit gegen die eigene Anhängerschaft
durchzusetzen. Aber die Diskussion bei den Grünen zeigt
Folgendes: Die Geister, die Sie in den vergangenen Jahren gerufen haben, werden Sie nicht mehr los. Sie haben
im Kampf um die politische Macht bürgerkriegsähnliche
Zustände angezettelt. Heute richtet sich Ihr falsches Verhalten gegen Sie. In Ihrer Hilflosigkeit im Umgang mit Ihrer eigenen Basis greifen Sie nun zum nackten Opportunismus.
({11})
Sie stellen für 2030 ein neues Endlager in Aussicht,
müssen bis dahin auf jeden Fall mit Provisorien arbeiten
und tun dies ohne Rücksicht auf Langfristfolgen. Um die
aus Ihrer Sicht politisch missliebigen Transporte zu vermeiden, gehen Sie so weit, die Abklingbecken der betroffenen kerntechnischen Anlagen vorübergehend auch als
Zwischenlager anzuerkennen. Ihre Auslegung des Atomrechts ist äußerst fragwürdig. Sie ist aber eindeutig konzeptlos und von purem Opportunismus geprägt.
({12})
- Sie verstopfen ganz gewaltig. Ich kann Ihnen nur eines
deutlich sagen, Herr Kubatschka: Ihr früherer Castorkampf entwickelt sich jetzt eindeutig zu einem Entsorgungskrampf. Genau so muss man im Augenblick die
rechtliche Situation beschreiben. Ihre eigene Basis rebelliert gegen Sie. Das gilt auch für die Transporte, die uns
noch im März beschäftigen werden. Dazu gibt es interessante Positionen: Der Bundesvorsitzende der Grünen,
Herr Kuhn, zeigt Sympathie für Demonstrationen.
Dann stellt sich natürlich die große Frage, ob die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung in der Entsorgungsfrage ihre Fortsetzung in der Frage der Transporte
von Hanau nach Frankreich findet. Dabei, meine Damen
und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen sich
nach der Diskussion des gestrigen Tages heute zumindest
zwei Fragen: Erstens. Herr Minister, gibt es für alle Brennelemente aus Hanau eine Genehmigung zur Wiederaufbereitung in Frankreich? Zweitens. Wenn nein, wann wurde
der Bundesregierung bekannt, dass eventuell gar keine
Wiederaufbereitungsgenehmigung vorliegt, und gibt es
auch Überlegungen in der Bundesregierung für einen solchen Fall, diesen rechtlichen Zustand durch Zurückholen
zu heilen?
Man muss sich einmal vorstellen, dass es einen Transport von radioaktiven Stoffen durch Deutschland mit dem
Ziel gibt, dass sie zur Wiederaufbereitung ins Ausland gebracht werden. Dafür sind auch Genehmigungen des zuständigen Bundesamtes erteilt worden. Auch ist unbestritten, dass zum Beispiel von der Cogema Erklärungen
vorliegen, dass die Stoffe von ihr übernommen und
tatsächlich zur Wiederaufbereitung in Frankreich benutzt
würden. Pressemeldungen des gestrigen Tages zeigen
aber eindeutig, dass diese Wiederaufbereitungsgenehmigung bisher gar nicht vorliegt. Selbst der zuständige Mitarbeiter Ihres Hauses sagt der „Berliner Zeitung“, das sei
völlig neu. Wenn das Material nicht aufgearbeitet werde,
was nicht beabsichtigt sei, dann sei das überhaupt kein
Reststoff mehr, sondern nur noch Abfall.
Stellen Sie sich einmal vor, in Deutschland hätte in der
Zeit, als Frau Merkel Umweltministerin war, ein Transport zum Zwecke der Wiederaufbereitung stattgefunden,
ohne dass eine Wiederaufbereitungsgenehmigung vorgelegen hätte! Durch die grüne Basis und die rote Formation
wäre ein Aufschrei gegangen.
({13})
Wir sind immer der Ansicht gewesen, Herr Kubatschka,
dass das alles ganz klar an die atomrechtlichen Voraussetzungen gebunden ist, was bedeutet, dass die rechtlichen
Voraussetzungen eingehalten werden müssen.
({14})
Diese Feststellungen müssen Sie sich gefallen lassen. Auch
heute stellt sich ganz klar die Frage, ob Transporte stattgefunden haben, für die es keine ausreichende rechtliche Genehmigungsgrundlage gegeben hat. Diesbezüglich muss
die Bundesregierung in der Öffentlichkeit für Klarheit sorgen. Das ist notwendig, damit das Vertrauen in einer solch
wichtigen Angelegenheit wieder hergestellt wird.
({15})
Bei dieser Anfrage geht es aber nicht nur um die Entsorgung, sondern auch um den Klimaschutz. Aufgrund von
Erklärungen der Bundesregierung der letzten Tage muss
man ganz deutlich sagen: Der Klimaschutz stagniert in
Deutschland, er ist sogar rückläufig; alles, was die Bundesregierung Ende des vergangenen Jahres zur Klimaschutzpolitik in Deutschland erklärt hat, hat sich in Schall und
Rauch aufgelöst; die Entwicklung ist leider äußerst negativ.
Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich die Bundesregierung immer nur auf irgendwelche Klimaschutzkonferenzen kurzfristig und hektisch vorbereitet und dass ihr
die tatsächlichen Entwicklungen gar nicht bekannt sind.
Der Bundesumweltminister stocherte am vorvergangenen
Wochenende hilflos herum, nachdem bekannt geworden
war, dass der CO2-Ausstoß - unter einer rot-grünen Bundesregierung! - zum ersten Mal seit Jahren wieder zugenommen hat. Der CO2-Ausstoß ist in der Regierungszeit
von CDU/CSU und F.D.P. seit 1990, also über Jahre hinweg, reduziert worden. Im vergangenen Jahr ist es in
Deutschland zum ersten Mal wieder zu einem CO2-Anstieg gekommen.
Was war vom Bundesumweltminister zu hören? - Ein
hilfloses Stochern im Nebel seiner eigenen Klimaschutzversprechen und dann ein sehr schwaches Protestieren gegenüber der heimischen Wirtschaft, indem er sagte, es
dränge sich nun der Verdacht auf, dass die deutsche Wirtschaft die Selbstverpflichtungserklärung nicht mehr einhalte. Was war der wahre Grund für den CO2-Anstieg? In den neuen Bundesländern sind zwei moderne Braunkohlekraftwerke ans Netz gegangen; aufgrund einer guten
wirtschaftlichen Konjunktur im vergangenen Jahr ist der
Stromverbrauch angestiegen und damit ist die Menge der
in den beiden modernen Kraftwerken in den neuen Bundesländern verwendeten Braunkohle größer geworden.
({16})
Anstatt jetzt deutlich zu sagen, Frau Hustedt, welches
sinnvolle Konzept man hat, um die Klimaschutzpolitik
mit einer sinnvollen Strukturpolitik für die Weiterentwicklung der neuen Länder zu verbinden, praktiziert der
Bundesumweltminister ein pauschales Abwatschen und
Abstrafen, weil er gar nicht in der Lage ist, darzulegen,
wie eine saubere, neue Strukturpolitik für die östlichen
Bundesländer mit einer sinnvollen Klimaschutzpolitik in
Einklang gebracht werden kann. Ein solcher Weg wäre
gut und zukunftsweisend gewesen.
({17})
Man kann ganz klar und deutlich sagen: Herr Minister
Trittin, wenn Sie so weitermachen, dann werden Sie - das
ist traurig - eine Belastung für die deutsche Klimaschutzpolitik.
({18})
- Auf diesen Zuruf habe ich fast schon gewartet.
({19})
Ich habe selbst erlebt, wie Herr Trittin es genossen hat,
von den Vertretern der deutschen Wirtschaft für seine
Äußerungen vor der Klimaschutzkonferenz in Den Haag
zur Selbstverpflichtungserklärung der deutschen Wirtschaft gelobt zu werden. Er hat mit den Erfolgen der deutschen Wirtschaft in Sachen Selbstverpflichtungserklärung geglänzt und gesagt: Dieser Weg ist richtig, den
wir weiterhin gehen müssen; die deutsche Wirtschaft ist
in dieser Hinsicht vorbildlich. Jetzt, ein paar Wochen nach
Den Haag, passiert es, dass die CO2-Daten aufgrund der
wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern anders aussehen. Daraufhin hat dieser Bundesumweltminister am Sonntagabend im deutschen Fernsehen erklärt: Jetzt kann man wieder sehen, dass die deutsche
Wirtschaft von ihrer Selbstverpflichtungserklärung abrückt; darüber muss man einmal nachdenken. - Wie will
man mit einem solchen Bundesumweltminister eine wirklich sinnvolle, langfristige und gute Klimaschutzpolitik
machen? Ich kann Ihnen sagen: Nach den Äußerungen der
letzten Tage sehen wir dafür überhaupt keine Chance.
Vielen Dank.
({20})
Für die
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht nun die
Kollegin Michaele Hustedt.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Herr Paziorek fordert uns auf, endlich zu sagen, wohin mit
dem Atommüll. Ich finde das ziemlich unverschämt.
({0})
Sie sollten einmal darüber nachdenken, wie Ihr Konzept
zur Entsorgung des Atommülls jahrzehntelang ausgesehen hat. Sie haben jahrzehntelang Atomkraftwerke betrieben, ohne jemals ein solides Entsorgungskonzept vorzulegen.
({1})
Die Grünen sind nicht dafür verantwortlich, dass wir in
diesem Land Atomkraftwerke betreiben, Sie sehr wohl.
Wir stehen jetzt in Regierungsverantwortung und übernehmen die Aufgabe, mit Ihrer Altlast umzugehen.
({2})
Das tun wir sehr ernsthaft. Diese Bundesregierung muss
die Folgen Ihrer verfehlten Energiepolitik aufarbeiten.
Nicht nur diese Bundesregierung, sondern auch viele weitere Generationen werden damit zu tun haben. Auch deswegen ist es eine Unverschämtheit, wenn Sie hier die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen ins
Spiel bringen.
Mit den atomaren Altlasten geht diese Regierung so
vernünftig um, wie es sich schon früher gehört hätte. Dazu
gehört erstens, dass wir die Menge des noch zu behandelnden Atommülls durch den Atomkompromiss begrenzt
haben,
({3})
ein sehr wichtiger Punkt und die Voraussetzung für alles
Weitere. Deswegen fordere ich die Stromkonzerne sehr
deutlich auf, diesen Kompromiss endlich zu unterschreiben und nicht weiter hinauszuzögern. Es gab lange Gespräche und es ist wirklich Zeit, dass wir die Sache endgültig rund machen.
({4})
Der zweite Punkt ist: Wir werden die Wiederaufbereitung beenden. Die Wiederaufbereitung war und ist
nach wie vor eine illegale Zwischenlagerung, weil nämlich die Brennelemente nicht wieder eingesetzt werden
können. Es ist keine Wiederaufbereitung, sondern nur
eine Umwandlung von Müll, durch die mehr Müll entsteht, als vorher vorhanden war.
Dieser Weg wurde von Ihnen nur deshalb eingeschlagen, weil die Atomkraftwerke sonst keinen Entsorgungsnachweis gehabt hätten und dann sofort vom Netz hätten
gehen müssen.
({5})
Drittens minimieren wir die Zahl der Transporte, indem wir Zwischenlager vor Ort schaffen, sodass der Müll
nicht unsinnigerweise transportiert werden muss; denn
bei jedem Transport gibt es im Endeffekt ein Restrisiko.
Der Müll soll, solange wir kein Endlager haben, an den
Atomkraftwerken verbleiben können.
({6})
Dies ist im Übrigen auch wirtschaftlicher. Von daher haben wir dabei auch die Unterstützung der Stromkonzerne.
Zu den wenigen, die noch dagegen sind, gehört zum Beispiel die bayerische Staatsregierung, die sich mit ihrer Politik zunehmend isoliert.
({7})
Viertens suchen wir jetzt in der Form ein Endlager,
wie es sich auch schon zu Ihrer Regierungszeit gehört
hätte. Sie haben die Erkundung des Endlagers Gorleben
ohne solide gesellschaftliche Diskussion begonnen. Wir
haben seit dem 1. Oktober 2000 ein Moratorium für Gorleben. Wir haben einen Arbeitskreis gegründet, der erst
einmal in einer gesellschaftlich breiten Diskussion Kriterien für die Suche nach einem sinnvollen Endlager entwickelt. Später wird auch Gorleben wieder mit in die Diskussion kommen. Von daher wird hier nichts vernichtet.
({8})
- Weil es richtig ist, erst einmal die Kriterien gesellschaftlich zu diskutieren. Warum haben Sie denn vor Ort
keine Akzeptanz für das Endlager?
({9})
Weil es keine gesellschaftlich breite Diskussion über die
ausreichenden Kriterien für ein Endlager mit großer Akzeptanz gegeben hat.
Das müssen wir jetzt nachholen und das holen wir
nach. Wir haben in der Tat noch etwas Zeit, weil - Herr
Paziorek, das müssten Sie wissen - die Brennstäbe erst
abklingen müssen. Man kann sie zurzeit noch gar nicht
endlagern.
({10})
Deswegen können wir jetzt die gesellschaftliche Debatte
über sinnvolle Kriterien nachholen. Dann werden wir
auch über die Frage entscheiden, was ein mögliches Endlager in Deutschland sein könnte.
({11})
Kurz und gut: Die Bundesregierung geht sehr verantwortlich mit den Altlasten, die Sie uns überlassen haben,
mit dem radioaktiven Müll um und ich hoffe, dass wir in
Zukunft ein solides Entsorgungskonzept für den Atommüll bekommen werden.
Meine Damen und Herren, der potenzielle Kanzlerkandidat Herr Schäuble hat in einem Interview der „Woche“ angekündigt, er wolle mit Substanz in den Wahlkampf gehen. Was die Energiepolitik betrifft, müssen Sie
aber noch einiges nacharbeiten; denn Ihrerseits gibt es
kaum Konzepte. Vielleicht hilft Ihnen die Enquete-Kommission ein Stückchen weiter. Im Grunde verdecken Sie
mit Ihren ewigen, langweiligen Atomdebatten, dass Sie
kein Klimaschutzkonzept haben, um den Treibhauseffekt
zu begrenzen.
Es ist in der Tat richtig, Herr Paziorek, dass die CO2Emissionen im letzten Jahr erstmals wieder gestiegen
sind. Mir ist aber entgangen, dass das damit zusammenhängt, dass ein Atomkraftwerk vom Netz gegangen ist. Es
ist nur Ihre Behauptung, dass wir, wenn wir nicht aus der
Atomkraft aussteigen würden, das Klima bewahren könnten. Es ist kein Atomkraftwerk vom Netz gegangen und
trotzdem gibt es wieder steigende CO2-Emissionen. Das
heißt, diese Entwicklung muss wohl noch mit anderen
Dingen zusammenhängen. In Ihrer Zeit haben wir die
CO2-Emissionen reduzieren können, weil vor allen Dingen in Ostdeutschland die Wirtschaft zusammengebrochen ist.
({12})
In Westdeutschland sind die CO2-Emissionen nicht gesunken, sondern während Ihrer Regierungszeit sogar geringfügig angestiegen. Es gab zwar eine Entkoppelung,
aber es gab keine Reduktion. Das bedeutet, dass Sie in Ihrer Regierungszeit keine aktive Klimaschutzpolitik verfolgt haben,
({13})
die für die Reduktion der CO2-Emissionen ursächlich ist,
sondern dass lediglich das Abschalten von energieintensiven Industrieanlagen die Ursache für die sinkenden CO2Emissionen in Deutschland gewesen ist.
Der Atomausstieg trägt, im Gegenteil, aus meiner
Sicht zu einer zügigen Klimaschutzpolitik bei, und zwar
weil die Atomenergie einer der Hauptgründe dafür ist,
dass wir im Klimaschutz nicht vorankommen. Man sieht
aus der Diskussion um die Kraft-Wärme-Koppelung, dass
wir aus der Monopolzeit große Überkapazitäten haben.
Wenn man große Überkapazitäten hat, ist die Bereitschaft
zu investieren außerordentlich gering. Dann ist auch die
Bereitschaft, in die neue Generation der Kraftwerkstechnologien zu investieren, außerordentlich gering; dann
steht alles still. Man wird beim Klimaschutz nur außerordentlich schwer weiterkommen - das ist jetzt die Debatte um die Kraft-Wärme-Koppelung -, weil man gegen
bestehende Kapazitäten moderne Klimaschutztechnologien in den Markt bringen muss. Deswegen macht der
Atomausstieg den Weg frei,
({14})
um tatsächlich moderne Klimaschutztechnik in der Gemeinschaft auch mit den Stromkonzernen und mit der
Energiewirtschaft insgesamt voranzubringen.
({15})
Deswegen sind Atomausstieg und Klimaschutz kein Widerspruch, sondern, im Gegenteil, der Atomausstieg ist
eine Voraussetzung für den Klimaschutz.
Wie wäre es denn, statt die leidige Atomdebatte oder
Ökosteuerdebatte zum hunderttausendsten Mal zu führen,
ohne dass wir einen Deut weiterkommen, einmal mit einer qualifizierten Debatte über Zukunftsenergien,
({16})
über die Frage von Brennstoffzellen, über die Frage von
virtuellen Kraftwerken und über die Frage von intelligenten Netzen, die die dezentrale Stromerzeugung miteinander verknüpfen, zu beginnen, sodass auch durch eine
dezentrale Energieerzeugung auf der Grundlage von erneuerbaren Energien, beispielsweise Brennstoffzellen,
Grundlast und Spitzenlast gefahren werden könnten?
({17})
Ich warte auf Ihre Konzepte.
({18})
Wir steigen in eine moderne Energiewirtschaft ein. Wir
haben ein Gesetz für erneuerbare Energien auf den Weg
gebracht, das einen ungeheuren, noch nie da gewesenen
Investitionsboom in Deutschland hervorgerufen hat.
({19})
Bei Wind, Photovoltaik und Biomasse ist die Situation so,
dass wirklich Geld in die Hand genommen wird, sodass
wir das Ziel der Verdoppelung des Anteils der erneuerbaren Energien in zehn Jahren nicht nur erreichen - ich bin
optimistisch -, sondern sogar weit übertreffen werden.
Wir haben einen Schwerpunkt im Bereich der Energieforschung bei der Brennstoffzelle und den virtuellen Netzen
gesetzt. Wir haben den Haushaltsansatz für diesen
Schwerpunkt trotz Sparhaushalt deutlich erhöht.
Wir haben ein Altbausanierungsprogramm auf den
Weg gebracht, um die Energieeinsparung voranzubringen. Das ist etwas, was Herr Kollege Lippold immer gefordert hat, aber nie durchsetzen konnte. Trotz Sparhaushalt haben wir mithilfe der UMTS-Milliarden ein solides
Altbausanierungsprogramm aufgelegt.
({20})
Wir stärken die Energieeinsparungsbemühungen durch
eine ambitionierte Verordnung.
Das sind unsere Konzepte. Ich habe aber von Ihnen
auch diesmal nicht ein einziges Wort gehört, wie sich die
ehemaligen Regierungsfraktionen CDU/CSU und F.D.P.
eine aktive Klimaschutzpolitik vorstellen.
({21})
- Das ist sehr wohl das Thema, weil Sie das Thema Klimaschutz und das Thema Atomkraft zusammen betrachten.
({22})
Man kann aber nicht einfach an der Meinung festhalten, dass die Atomkraft das Klima schütze. Man muss
vielmehr deutlich machen, wie eine aktive Klimaschutzpolitik ohne Atomkraft aussehen könnte. Das haben Sie
aber nicht getan.
({23})
Ich gebe das
Wort der Kollegin Birgit Homburger für die Fraktion der
F.D.P.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es wundert mich nicht, Frau
Hustedt, dass Sie hier sagen, wir sollten uns einmal mit
Zukunftsenergien beschäftigen.
({0})
Ich würde das an Ihrer Stelle auch sagen, um davon abzulenken, dass Sie zu den eigentlichen Fragen überhaupt
nichts sagen können.
({1})
Ohne dass ich jetzt im Einzelnen auf alle Punkte eingehe, weil meine Redezeit dafür nicht ausreicht, will ich
folgenden Punkt aufgreifen. Sie sprechen immer davon,
Sie würden Zukunftstechnologien fördern. Ich kann
dazu nur sagen: Was Sie hinsichtlich des EEG und der
Kraft-Wärme-Kopplungs-Quote unternehmen, ist nichts
anderes als eine Anmaßung der Politik, die Technik vorzugeben und darüber hinaus noch den Preis vorzuschreiben.
({2})
Damit machen Sie jegliche Kreativität in der Wissenschaft kaputt. Das ist nicht Technologieförderung, sondern Förderung von schon bekannten Techniken.
({3})
Es wundert mich nicht, dass Sie darüber reden, weil die
Bundesregierung derzeit mit den Folgen ihrer eigenen unlogischen Argumentation konfrontiert wird. Während
die Botschaft vor der Bundestagswahl noch lautete, die
Kernenergie sei unverantwortbar und deswegen müsse es
den Atomausstieg geben, lautet die Botschaft nun, dass
Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland sicher
sei und dass das hohe Sicherheitsniveau seit Beginn der
Nutzung der Kernenergie noch erhebliche Fortschritte
durch die Fortentwicklung der Sicherheitstechnik für
Kernkraftwerke erfahren habe. So die Bundesregierung in
ihrer Antwort auf die Große Anfrage. Man höre und
staune.
({4})
Frau Hustedt, Sie gehen davon aus, dass auch Atommülltransporte sicher seien, sonst hätte Herr Trittin niemals eine Vereinbarung mit Frankreich unterzeichnen
können, nach der noch in diesem Frühjahr Castortransporte wieder aufgenommen werden. Im Übrigen wurden
die ersten Transporte vom Umweltminister genehmigt.
Sie sagen jetzt, das alles sei verantwortbar, weil man aus
der Kernenergie aussteige.
({5})
Herr Kubatschka, das war Ihre Argumentation. Wo bleibt
denn da die Logik?
({6})
Entweder die Kernenergie ist sicher, dann kann man sie
auch weiterbetreiben,
({7})
oder sie ist nicht sicher, dann muss man sofort aussteigen.
Das ist die Lage der Dinge.
({8})
Vom Ausstieg wird bisher nur geredet.
({9})
Bis jetzt sind Sie über Absichtserklärungen nicht hinausgekommen. Acht Monate ist es her, seit die Vereinbarung
mit den Kernkraftwerksbetreibern geschlossen wurde.
({10})
Aber seitdem haben Sie immer noch keinen Gesetzentwurf vorgelegt.
({11})
Sie haben dieses Versäumnis selbst erkannt. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Herr
Schmidt, hat vorgestern die Bundesregierung aufgefordert, ein entsprechendes Gesetz bald vorzulegen.
Herr Trittin, die Situation ist wieder einmal folgendermaßen: Es gibt einen Konflikt zwischen dem, was
der Umweltminister und die Grünen wollen, und dem,
was der Wirtschaftsminister will. Dieser Konflikt
wurde offensichtlich nicht ausdiskutiert. Sie haben für
Ihre Klientel - dieses Problem haben Sie augenblicklich - nichts anderes als weiße Salbe. Herr Trittin, Sie
haben wieder einmal mit großen Tönen begonnen. Jetzt
aber stellt sich heraus, dass Sie nur ein zahnloser Tiger
sind.
({12})
Sie haben bis jetzt noch keine Antwort auf die Frage
gegeben, wie Sie die Reduzierung der CO2-Emissionen, die Sie für die Erreichung des Klimaschutzzieles
brauchen, mit dem Ausstieg aus der Kernenergie vereinbaren wollen.
({13})
Sie können noch so schöne Reden halten, Frau Hustedt:
Auch hier fehlt Ihr Konzept.
Die F.D.P. fordert die Bundesregierung auf, endlich ein
schlüssiges Energiekonzept vorzulegen, aus dem hervorgeht, wie das Klimaschutzziel bei gleichzeitiger Sicherung der Energieversorgung in der Bundesrepublik
Deutschland erreicht werden soll.
({14})
Im Übrigen haben Sie bis heute trotz vollmundiger
Ankündigungen vor der Wahl überhaupt kein Entsorgungskonzept vorgelegt. Das hat sich hier in den Reden
auch wieder herausgestellt. Dies kritisieren nicht nur wir,
sondern dies kritisiert auch der Sprecher der niedersächsischen Grünenfraktion. Auch Frau Backhaus vom BUNDLandesverband Niedersachsen kritisiert, dass die Bundesregierung den versprochenen nationalen Entsorgungsplan
schuldig geblieben ist. Der fehlende Entsorgungsplan sei
schuld an einem Abenteuerwanderzirkus namens Castortransport. Statt einer geordneten Endlagerung werde Flickschusterei betrieben und bei der Zwischenlagerung greife
die Bundesregierung immer mehr zu Notlösungen, so die
BUND-Landesvorsitzende in Niedersachsen. Ich kann
mich dieser Kritik nur anschließen.
({15})
In der Antwort auf die Große Anfrage, Herr Trittin - Ihnen wird das Lachen noch vergehen -,
({16})
haben Sie wieder einmal erklärt, dass das Entsorgungskonzept der alten Bundesregierung gescheitert sei. Die
Begründung hierfür aber bleiben Sie in der Antwort wiederum schuldig. In der Antwort sagen Sie lediglich,
dass wesentliche Elemente des bisherigen Entsorgungskonzepts nach Auffassung der Bundesregierung der Revision bedürfen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Im Gegensatz zur jetzigen
Bundesregierung hat die alte Bundesregierung ein Konzept gehabt, das wir konsequent verfolgt haben.
({17})
Gorleben ist als Zwischenlager genehmigt. Es wäre
als Endlager für hochradioaktive Abfälle wahrscheinlich
geeignet. Wir standen kurz davor, wirklich die Erkenntnisse zusammen zu haben.
({18})
Dann haben Sie die Sache gestoppt. Das, was Sie da machen, ist unverantwortlich.
({19})
Sie berufen sich auf die Entwicklung des Standes von
Wissenschaft und Technik.
({20})
Diese habe dazu geführt, dass die bisherigen Kriterien
hinsichtlich der Erfüllung der erforderlichen Schadensvorsorge überprüft werden müssten. Die bisher an Endlager für wärmeentwickelnde radioaktive Abfälle gestellten
Anforderungen, wie sie in den 1983 veröffentlichten Kriterien des BMI/RSK-Katalogs festgelegt worden sind,
müssten im Lichte neuer Entwicklungen und Bewertungen von wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie neuer
konzeptioneller Überlegungen überprüft werden. Deswegen haben Sie einen Arbeitskreis eingesetzt, der die Sicherheitskriterien überarbeiten soll.
Frau Hustedt, Sie haben das hier auch gesagt. Ich kann
Ihnen nur sagen: Es hat gerade wieder eine internationale
Expertengruppe deutlich festgestellt, dass die Zweifel, die
die Bundesregierung an der Eignung hat, nicht neu sind,
sondern schon seit Jahren kontrovers diskutiert werden.
Genauso ist es. Sie haben keine neuen Erkenntnisse.
({21})
Sie bewerten nur die Dinge anders.
Im Übrigen schließe - so die internationale Expertenkommission weiter - keiner der Punkte, die die Bundesregierung anführe, eine sichere Endlagerung im Gorlebener Salzstock aus.
Frau Hustedt, das, was Sie hier vorgetragen haben, und
das, was der Minister die ganze Zeit macht, deutet darauf
hin, dass es langsam auf Ostern zugeht: Es ist eine einzige
Eierei.
({22})
Sie wollen also die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe
abwarten und meinen, dann könne man darüber diskutieren, ob Gorleben geeignet sei. Wenn man jüngste Stellungnahmen aus der grünen Partei betrachtet, scheinen
das die eigenen Leute auch nicht besonders überzeugend
zu finden. So sagt zum Beispiel Fritz Kuhn, dass der Salzstock in Gorleben seines Wissens nicht als Endlager geeignet sei. Frau Harms, Vorsitzende der niedersächsischen
Grünen,
({23})
sagt, dass der Salzstock in Gorleben im Vergleich zu anderen möglichen Standorten allenfalls dritte Wahl sei.
Woher diese Erkenntnis stammt, ist mir schleierhaft. Sie
kann auch überhaupt keine Experten dafür anführen. Das
Einzige, was hierdurch wieder belegt wird, ist, dass es
hierbei überhaupt nicht um sachliche Erwägungen oder
Kriterien geht, sondern schlichtweg um ideologisch motivierte Maßnahmen.
({24})
Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.
Statt Atommüll unterirdisch und sicher an den sorgfältig dafür ausgesuchten Standorten zu lagern, erzwingt die
Bundesregierung jetzt auch noch oberirdische Provisorien
ohne Rücksicht auf riskante Langfristfolgen. Um politisch
missliebige Transporte hinauszuzögern, hat der Umweltminister darüber hinaus auch noch verfügt, dass Abklingbecken betroffener kerntechnischer Anlagen vorübergehend als Zwischenlager anerkannt werden.
({25})
Eine solche Auslegung atomrechtlicher Vorgaben, Herr
Trittin, ist nicht nur fragwürdig und unverantwortlich.
Das hätte nach der bisher bestehenden Gesetzeslage eigentlich zum Erlöschen der betreffenden Betriebserlaubnis geführt.
({26})
Hätten wir so gehandelt, hätte das in Deutschland zu einem Aufschrei geführt.
Sie sind der Meinung, das alles könne man tun. Sie
vollführen nichts anderes als Klimmzüge, und dies mit einem Ziel: Transporte von Atommüll sollen verhindert
werden. Die Bundesregierung leistet sich in diesem Zusammenhang eine gigantische Verschleuderung von Geld,
das im Übrigen von den Stromkunden gezahlt wird. Einziger Zweck dessen ist, Herrn Trittin möglichst Ärger
vom Hals zu halten.
({27})
Die Absicht ist klar: Missliebige Transporte und die
Entscheidung über einen Endlagerstandort sollen so lange
hinausgezögert werden, bis eine neue Bundesregierung
diese Entscheidung treffen muss. Dann könnte man sich
- so denken Sie wahrscheinlich - wieder entspannt
zurücklehnen und zu den Demonstranten zurückkehren.
Ich sage Ihnen eines: Diese Art einer zynischen Politik ist
ein unverantwortlicher Wechsel auf die Zukunft.
({28})
Damit wird das ganze Chaos deutlich: Während sich
die designierte Vorsitzende der Grünen, Frau Roth, für die
Teilnahme an Protestveranstaltungen und für friedliche
Blockaden der Transporte ausspricht, billigt der Parteirat
der Grünen Demonstrationen, bittet aber zugleich, auf
Transportblockaden zu verzichten.
({29})
Der Umweltminister dagegen erklärt weder sein Einverständnis für Kundgebungen noch sein Einverständnis für
Blockaden. Proteste seien sinnlos, weil die Transporte
Bestandteil des so genannten Atomkonsenses und insoweit erforderlich seien. Unterdessen äußert der Bundesgeschäftsführer der Grünen seine ganze Sympathie für
Demonstrationen gegen ein Endlager in Gorleben. - Das
ist ein einziges Tohuwabohu!
Trotz dieser Diskussion bei den Grünen lässt Herr
Trittin heimlich, still und leise Atommüll transportieren
und hat im Übrigen Castortransporte genehmigt. Die
Folge ist - Herr Trittin, darauf weise ich Sie jetzt auch
hin -: Polizisten werden den Transport schützen müssen.
Sie sind mit schuld daran, dass das so ist. Denn die Grünen haben die Stimmung aufgepeitscht und die Öffentlichkeit desinformiert. Zudem haben Sie selber einmal auf
den Schienen gesessen. Das ist das Problem.
({30})
Die rot-grüne Genehmigung von Transporten ist nichts
anderes als die Genehmigungen, die früher erteilt wurden.
Es gilt das gleiche Recht und Gesetz. Sie haben ein verqueres Verständnis von Recht und Gesetz.
({31})
Die Menschen haben ein gutes Gespür für Ihre unterschiedlichen Vorgehensweisen. Sie sind jetzt bei Ihrer eigenen Klientel unglaubwürdig. Ich rate Ihnen: Wenn Sie
bei Ihrer Klientel, aber auch bei den Polizisten das Vertrauen wieder herstellen wollen, sollten Sie beim ersten
Atommülltransport vom Anfang bis Ende vorneweg laufen, um zu beweisen, dass von diesem Transport keinerlei
Schaden ausgeht.
({32})
Die derzeitige Politik bringt nichts anderes als finanzielle Belastungen, die zu keinem ökologischen Nutzen
führen. Sie nimmt in Kauf, dass wir bei der Sicherheitstechnik zurückfallen. Die F.D.P. fordert die Bundesregierung auf, das derzeitige Chaos endlich zu beenden.
({33})
Ich gebe der
Kollegin Eva Bulling-Schröter für die Fraktion der PDS
das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Jede Woche findet die gleiche
Debatte mit den gleichen Fragen und den gleichen Antworten zum Atomausstieg statt.
({0})
Langsam wird es langweilig.
(Beifall der Abg. Michaele Hustedt ({1})
Die Fernsehzuschauer und die Zuhörer hier warten auf etwas, und zwar auf das, wofür Sie gewählt wurden, nämlich dafür, den Atomausstieg durchzusetzen.
({2})
Ich frage Sie jetzt noch einmal: Wann wird endlich das
erste Atomkraftwerk geschlossen?
({3})
- Auch wenn ich es noch 30-mal bis zum Ende der Legislaturperiode anmahne, wird nichts passieren.
Die Union beklagt in ihren Anträgen die Aufgabe des Beschlusses der Regierungschefs des Bundes und der Länder
zur Entsorgung radioaktiver Abfälle vom September 1979
und die daraufhin gefassten Grundsätze zur Entsorgung von
Kernkraftwerken vom März 1980. Der unter Führung des
damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt erarbeitete
Beschluss sah im Wesentlichen die Errichtung von zwei atomaren Zwischenlagern im nordrhein-westfälischen Ahaus
und im niedersächsischen Gorleben vor. Die Landesregierung in Hannover erklärte sich zudem bereit, in Gorleben
den Bau eines atomaren Endlagers zuzulassen.
Die damaligen Beschlüsse haben die Probleme noch
nicht näher reflektiert und die gewachsenen Sicherheitsbedenken gegen die Nutzung der Atomkraft noch nicht
richtig gesehen, obgleich der Unfall von Harrisburg bereits geschehen war. Mittlerweile wissen wir um die
schrecklichen Folgen der Katastrophe von Tschernobyl.
Die Front der Gegnerinnen und Gegner dieser Technik ist
seitdem immer weiter angewachsen. Ich hoffe, Ende März
wird sich diese Front in Gorleben wirklich stark zeigen.
Nach bundesweiten Protesten wurden die Pläne zum
Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischen
Wackersdorf aufgegeben. Nachdem sich die Gewinnung
von Plutonium aus abgebrannten Brennstäben als eine
technologische und wirtschaftliche Sackgasse herausgestellt hatte, wurde die Möglichkeit der direkten Endlagerung als Alternative ins Atomgesetz aufgenommen.
Die deutsche Einheit führte zur Stilllegung und zur
Aufgabe von Bauprojekten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, was Ostdeutschland zwar noch nicht gänzlich
von allen Sorgen befreit hat, die mit den strahlenden
Hinterlassenschaften einhergehen, aber grundsätzlich ist
hier der Weg für eine soziale und ökologische Energieversorgung von einer schweren Hypothek befreit.
({4})
Im Westen hingegen verschärft sich die Atommüllproblematik weiter. Mit den geplanten Atomkraftverstromungsmengen werden sich die hoch radioaktiven Abfälle
noch einmal um die Menge verdoppeln, die seit Beginn
der Nutzung angefallen sind. Die Wiederaufarbeitung von
Brennelementen aus deutschen Kernkraftwerken im Ausland soll auch dann noch fortgesetzt werden, wenn nach
dem Jahr 2005 keine weiteren Transporte mehr ins Ausland gehen sollten. Kollegin Hustedt, Sie haben heute zu
Recht erklärt, die Wiederaufarbeitung sei zu beenden,
denn dies sei illegale Zwischenlagerung. Nur, ich frage
Sie: Warum nicht jetzt, sondern erst in fünf oder noch
mehr Jahren?
({5})
Seit SPD und Grüne an der Regierung sind, haben sie
nichts mehr gegen den gesundheits- und umweltschädigenden Prozess der Wiederaufarbeitung als solchen einzuwenden, solange er nur nicht im eigenen Land stattfindet.
({6})
Auch die Plutonium-Uran-Mischoxid-Fabrik - MOX wurde nur so lange als Sicherheitsrisiko attackiert, bis
sich russische Käufer für die Hanauer Anlage fanden.
({7})
Die Geschichte der vergangenen zwanzig Jahre hat gezeigt, dass die Entsorgungspläne der späten 70er-Jahre nie
etwas anderes waren als eine Mauschelei zwischen Bundesregierung und Regierungschefs der Länder.
({8})
Insofern waren sie nicht tragfähig.
Mittlerweile hat sich die breite Front der Atomkraftgegnerinnen und -gegner formiert und hat eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung, vor allem in den betroffenen Gebieten.
({9})
Als Reaktion werden nunmehr zahlreiche Zwischen- und
Zwischenzwischenlager an den AKW-Standorten genehmigt, errichtet und betrieben. Trotzdem kommen die Proteste nicht zur Ruhe, da die Lager für einen langfristigen
Weiterbetrieb ausgelegt sind.
Ich sage es noch einmal: Kapazitäten Gundremmingen.
Die Genehmigung: Bis 2046 reicht die Kapazität - so eine
Aussage der AKW-Bewegung Gundremmingen, Kollege
Kubatschka.
({10})
- Die Genehmigung lautet auf solch große Kapazitäten.
({11})
Ein langfristiger Weiterbetrieb ist aber keine Option.
Schließlich räumt auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der Union ein, dass die „Möglichkeit von Unfällen mit großen Freisetzungen ... nicht
lediglich theoretisch“ besteht. Das heißt im Klartext: Sie
nimmt das Risiko von schweren Reaktorkatastrophen in
Kauf. Ich denke, das ist wirklich ein Skandal.
Das ist aber auf Dauer keine durchhaltbare Position.
Noch einmal: Dieser Konsens ist Nonsens; denn er ist
kein Konsens. Es gibt keine Übereinstimmung zwischen
Atomkonzernen und der Bundesregierung. Die Atomkonzerne wollen nicht abschalten
({12})
und diese rechte Opposition hier wird alles dafür tun, damit es nicht zu einem solchen Konsens kommt.
Nun noch kurz zu den vorgestern bekannt gewordenen
Transporten. Sie lassen sehr viele Fragen offen. Was soll
mit unbestrahltem Uran und Plutonium in einer Wiederaufarbeitungsanlage geschehen? Kann die Bundesregierung ausschließen, dass das Material in Kürze als MOXBrennelement zurückkommt?
({13})
- Der Kollege bejaht es. Ich hätte aber die Antwort gerne
von unserem Umweltminister gehört. Das wäre besser.
({14})
Schauen wir uns einmal die Reaktionen der Vertreter
der Koalition an. Kollege Müller und die Sprecherin des
Bundesvorstandes der Grünen, Claudia Roth, mahnen öffentlich Informationen und Offenheit in diesen Fragen an.
Wenn man dies schon nicht von den anderen erwarten
kann, so kann man meines Erachtens zumindest von einer
rot-grünen Regierung Offenheit erwarten. Daran fehlt es
jedoch ganz, ganz grob.
Die Demonstrationen in Gorleben formieren sich. Die
Scheinheiligkeit auch der Regierungsparteien ist angesichts der Aussagen vor allem seitens der Grünen bewiesen.
({15})
- Ich gehe davon aus, dass die CDU nicht in Gorleben
demonstrieren wird, denn sie hetzt ja. Wie wir gestern in
der Aktuellen Stunde gehört haben, haben einige Mitglieder dieser Partei die Demonstranten in die Ecke der
Buback-Mörder gestellt.
({16})
Ich halte dies für fatal und habe gestern dazu schon etwas
gesagt.
Demonstrantinnen und Demonstranten dürfen nicht
kriminalisiert werden,
({17})
denn es geht hier um Zukunftsfähigkeit, um Nachhaltigkeit
({18})
und um die Zukunftschancen für unsere Kinder und Kindeskinder. Deswegen sollten wir nicht immer nur über einen Atomkonsens reden, sondern es muss endlich etwas
getan werden.
({19})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Christoph Matschie.
Herr Präsident! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Das ist nicht die erste Debatte,
die wir hier über Atomenergie führen. Leider ist sie, wie
viele andere Debatten auch, die wir geführt haben, von Ihrer Seite, von der Union und der F.D.P., mit dem Vorwurf
begonnen worden, hier sei ideologische Verblendung im
Spiel. So etwas macht mich immer misstrauisch. Denn
diejenigen, die anderen Ideologie oder ideologische Verblendung vorwerfen, versuchen meistens, damit sachlichen Debatten auszuweichen. Werden solche Vorwürfe
erhoben, kommt man nämlich gar nicht mehr zu einer
sachlichen Auseinandersetzung.
({0})
Genauso waren Ihre Reden angelegt.
({1})
Ich sage Ihnen noch einmal, worum es in all diesen Debatten hier geht und ging. Es geht um einen Grundkonflikt. Sie von der Union und Sie von der F.D.P. halten die
Atomenergie, was das Risiko angeht, für vertretbar, Sie
halten sie für gesellschaftlich akzeptiert, Sie halten sie für
zukunftsträchtig, aus europäischer Sicht für notwendig
und klimapolitisch für notwendig.
({2})
Wir hingegen halten sie aus einer Risikobewertung heraus
nicht mehr für vertretbar, wir halten sie aber auch deshalb
nicht mehr für vertretbar, weil es eine klare gesellschaftliche
Mehrheit gegen die weitere Nutzung der Atomenergie gibt.
({3})
Frau Homburger, Sie treiben die Argumentation so weit,
dass Sie sagen: Wir standen mit Gorleben sozusagen kurz
vor der richtigen Erkenntnis. Dann kam aber der böse
Wähler, hat Sie abgewählt und Sie nicht mehr weitermachen lassen.
({4})
Wir müssen in dieser Auseinandersetzung um die Atomenergie den gesellschaftlichen Hintergrund sehr ernst
nehmen. Wir müssen ernst nehmen, dass es in Deutschland eine deutliche Mehrheit gegen die weitere Nutzung
der Atomenergie gibt. Sie sagen, das sei nicht richtig. Umfragen belegen dies aber. Ich habe mir hierzu einmal Zahlen herausgesucht. Im letzten Jahr hat Forsa Umfragen
durchgeführt. Danach waren 58 Prozent der Bevölkerung
für einen Ausstieg und nur 33 Prozent haben den Ausstieg
abgelehnt. Übrigens waren die Anhänger Ihrer Partei, der
F.D.P., zumindest zu 44 Prozent und die Anhänger der
Union zu etwas über 40 Prozent für einen Ausstieg.
({5})
Das ist also keine Debatte, die zwischen den Parteien verläuft, sondern auch innerhalb von Parteien. Deshalb sollten wir uns bemühen, sachlich miteinander umzugehen,
und uns nicht gegenseitig ideologische Verblendung vorwerfen.
({6})
Ich will nun auf einige der von Ihnen aufgeworfenen
Bedenken eingehen. Sie sagen, das Risiko sei vertretbar.
Ich möchte, da ich das nicht mit eigenen Worten beschreiben will, da ich nicht meine eigene Risikoeinschätzung zum Besten geben will, nur einmal aus dem
letzten Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen zitieren:
Der Umweltrat hält aufgrund der Charakteristiken
bestrahlter Brennelemente und der darin begründeten, in weiten Teilen ungelösten Entsorgungsprobleme eine weitere Nutzung der Atomenergie für
nicht verantwortbar.
Die Menetekel der Risiken, die in der Nutzung der
Atomenergie liegen, haben wir alle gesehen. Sie heißen
Harrisburg, Tschernobyl und Tokaimura. Solche Zeichen
müssen wir ernst nehmen. Sie sagen uns: Es gibt kein ausschließbares Risiko bei der Nutzung der Kernerenergie.
({7})
Frau Homburger, Sie haben gesagt, in der Anfrage stehe,
dass die deutschen Kernkraftwerke über eine hohe Sicherheit verfügen und die Transporte nach den Kriterien, die wir
haben, sicher sind, weil sie sonst gar nicht stattfinden könnten. Das widerspricht nicht der Logik des Ausstiegs,
({8})
sondern der Ausstieg erfolgt, weil man die noch verbleibenden Risiken trotz der hohen Sicherheit abwägen muss
und weil wir politisch zu der Überzeugung gekommen
sind - auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen
Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland -, dass
wir das verbleibende Risiko und die ungelöste Entsorgungsfrage nicht weiter verantworten können und deshalb
kontrolliert aus der Nutzung der Atomenergie aussteigen.
({9})
Herr Kollege Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Gehb?
Selbstverständlich.
Herr Kollege
Matschie, Sie haben gerade Sachlichkeit in der Diskussion angemahnt. Deshalb möchte ich Sie fragen: Kennen Sie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1978 im so genannten Kalkarbeschluss, in der ausgeführt wurde, dass die friedliche
Nutzung der Kernenergie zu den sozial-adäquat hinnehmbaren Restrisiken gehört? Ist Ihnen klar, dass die
Änderung der Sicherheitsphilosophie, die Sie gerade
genannt haben, weniger eine Änderung ist, die auf
Technik, Tatsachen und rechtlichen Erwägungen, sondern mehr auf dem Austausch der Sicherheitsphilosophien beruht?
({0})
Sie haben gesagt, die weitere Nutzung von Kernkraftwerken sei unverantwortbar - übrigens ist in dem Konsens und im Atomgesetz eine ganz diametrale Aussage
enthalten -; teilen Sie daher meine Auffassung, dass man
den Betrieb sofort einstellen muss, wenn er nicht mehr
verantwortbar ist? Ich will dazu ein Beispiel nennen:
Wenn ein Haus baufällig ist, dann gibt es eine Abbruchverfügung mit Sofortvollzug. Können Sie mir, dem
Haus und den Bürgern erklären, wie eine Technik, die unverantwortbar ist, überhaupt noch eine Sekunde weitergeführt werden soll
({1})
und inwiefern Ihre Auffassung mit der höchstrichterlichen
Rechtsprechung in Einklang steht?
({2})
Herr Kollege, lassen Sie
mich zunächst auf die höchstrichterliche Rechtsprechung
eingehen, die, wie Sie sagen, aus dem Jahr 1978 stammt.
Ich hätte eigentlich erwartet, dass Sie sich bei unserer Diskussion auf der Höhe der Zeit bewegen und nicht mit den
Argumenten von vor über 20 Jahren die Debatte zu bestreiten versuchen.
({0})
In der Wissenschaft entwickeln sich die Dinge nämlich immer weiter. Wer sich einmal mit der Sicherheitsliteratur im Zusammenhang mit der Kernenergienutzung
befasst, stellt fest, dass wir dauernd auf neue Risiken, die
wir bisher nicht gekannt haben, stoßen, weil sich die Sicherheitsphilosophie und die Technologie weiterentwickeln und weil wir mehr über die Nutzung und die Risiken der Nutzung lernen. Deshalb müssen wir auf der Höhe
der Zeit argumentieren.
Auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen hat
in seinem letzten Gutachten gesagt: Es gibt dauernd
neue Erkenntnisse über Sicherheitsrisiken beim Betrieb
von Kernkraftanlagen. Deshalb steht im Gesetz auch die
Verpflichtung, bei den Sicherheitsmaßnahmen der Kernkraftwerke ständig auf der Höhe der Zeit zu sein. Deswegen gibt es auch notwendige Nachrüstungen bei den
Kernkraftwerken. Wir können uns nicht damit begnügen, dass vor über 20 Jahren in einer Risikoabwägung
festgestellt worden ist: Wir halten das Risiko für vertretbar. Wir halten es heute nicht mehr für vertretbar, Herr
Kollege.
({1})
Herr Kollege Matschie, möchten Sie die Chance nutzen, Ihre Redezeit weiter zu verlängern, indem Sie eine zweite Frage
zulassen?
({0})
Ich lasse noch eine
zweite Frage zu.
Es ist mir klar, dass
Ihnen ein Rekurrieren auf die 70er-Jahre vor dem Hintergrund dessen, was man heute so darüber hört, was in den
70er-Jahren passiert sein soll, nicht besonders recht ist.
({0})
Sie hinterfragten, ob ich auf der Höhe der Zeit bin. Wissen Sie, dass Urteile, insbesondere Urteile des Bundesverfassungsgerichts, natürlich so lange Gültigkeit und Bestand haben, bis es eine irgendwie geartete Abänderung
dieser Urteile gibt?
({1})
Können Sie mir - insofern bin ich natürlich für jede Nachhilfe sehr dankbar; auch Juristen freuen sich, wenn ihnen
von so jungen Leuten wie Ihnen ein bisschen auf die
Sprünge geholfen wird - ein Urteil nennen, in dem von
der bisherigen Sicherheitsphilosophie abgewichen worden ist?
({2})
Vor allen Dingen: Können Sie mir - ({3})
- Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie, dass ich
mit der Mitte meiner Ausführungen den Beginn Ihres ersten Zwischenrufs unterbrochen habe.
Vielleicht können Sie mir erstens den Teil der Frage,
die ich eben gestellt habe, noch beantworten, wie es zu
verantworten ist, etwas weiterzuführen, was unverantwortbar ist.
Vielleicht können Sie mir zweitens sagen, ob es neuere
Erkenntnisse und insbesondere eine neue Rechtssprechung gibt.
Herr Kollege Gehb, Sie sollten es bitte nicht übertreiben. Herr Kollege Matschie hat jetzt das Recht, ausführlich darauf zu
antworten, ohne dass ihm das auf die Redezeit angerechnet wird.
({0})
Zunächst noch einmal zu
der Frage nach den neuen Erkenntnissen. Ich bin davon
überzeugt, dass es diese neuen Erkenntnisse gibt. Ich
glaube auch, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn
die Ereignisse von Tschernobyl zum Zeitpunkt dieses Urteilsspruchs schon eingetreten gewesen wären, möglicherweise zu einem anderen Urteil gelangt wäre.
Die Tatsache, dass wir inzwischen keinen Fall in diesem Zusammenhang vor dem Bundesverfassungsgericht
hatten, wodurch eine neue Rechtsprechung möglich geworden wäre, heißt doch nicht, dass heute eine neue Sicherheitsbewertung ausgeschlossen ist und dass man
nicht zu einer neuen Sicherheitsbewertung kommen
muss, Herr Kollege.
({0})
Jetzt zu der Frage - ich drücke mich nicht vor der Beantwortung dieser Frage -, warum nicht sofort ausgestiegen wird, wenn man das Risiko in der Güterabwägung
nicht mehr für verantwortbar hält. Das hat etwas damit zu
tun, dass wir uns in einem rechtsstaatlichen Rahmen bewegen und dass es für diese Anlagen unbefristete
Betriebsgenehmigungen gibt. Das dürfte Ihnen ja auch
nicht verborgen geblieben sein.
({1})
Wenn man diese Nutzung beenden will, muss man sich im
Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten bewegen.
({2})
Übrigens hat uns auch der Sachverständigenrat für
Umweltfragen in seinem Gutachten bestätigt. Er empfahl
nämlich, gemeinsam mit den Atomkraftwerksbetreibern
einen Ausstieg zu vereinbaren, ein Szenario des Ausstiegs
zu entwickeln und dann rechtlich umzusetzen.
({3})
Das hat der Sachverständigenrat für Umweltfragen so bestätigt.
Herr Kollege Matschie, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage
des - ({0})
- Herr Kollege, die Beantwortung dieser Frage überlassen
Sie bitte dem Redner.
Herr Kollege Dr. Seifert hat darum gebeten, eine Zwischenfrage stellen zu können. Herr Kollege Matschie lässt
sie zu. Bitte schön!
Vielen Dank, Herr Kollege
Matschie.
Sie haben gerade gesagt, dass die Atomkraftwerke eine
unbefristete Betriebsgenehmigung haben. Wenn ich mich
recht entsinne, werden Häusern auch keine befristeten
Standerlaubnisse erteilt, wenn sie gebaut sind. Wie vorhin
schon einmal eingeworfen wurde, müssen sie, wenn ihre
Baufälligkeit festgestellt worden ist, sofort abgerissen
werden.
Sie haben gerade zitiert, dass der Weiterbetrieb von
Atomkraftwerken unverantwortlich ist. Wäre dann nicht
diese gleiche Folgerung analog anzuwenden, indem man
die sofortige Abschaltung verfügt? Ich verstehe Ihre Argumentation nicht.
({0})
Christoph Matschie [SPD]: Herr Kollege, das hat etwas mit der konkreten Gefährdungs- oder Sicherheitsbewertung zu tun.
({1})
- Nein, hören Sie doch einmal einen Moment zu!
Der Umweltrat sagt in diesem Zusammenhang zum
Beispiel - ich folge ihm in dieser Auffassung -, dass bei
der Bewertung der Risiken der Atomenergie die ungelöste Entsorgungsfrage im Vordergrund steht
({2})
und dass wir deshalb versuchen müssen,
({3})
über einen Ausstiegspfad im Rahmen der rechtlichen
Möglichkeiten die Müllmenge zu begrenzen, was wir tun,
und dann einen Endlagerstandort zu suchen, um die Entsorgung zu ermöglichen.
Jetzt zitiere ich noch einmal den Umweltrat. Er ist davon überzeugt, dass es keinen idealen Standort für Endlager für hochradioaktive Abfälle gibt. Er sagt weiter:
Es ist davon auszugehen, dass mit der Endlagerung
frühestens in 20 bis 30 Jahren begonnen werden kann.
Das heißt, unsere Risikobewertung und unser Ausstiegsszenario passen zueinander. Sie bewegen sich in dem
rechtsstaatlich möglichen Rahmen. Es gibt Leute, die
trotzdem sagen: Wir wollen diese Kraftwerke alle sofort
abstellen. Das ist nicht meine Position. Meine Position
ist, dass wir innerhalb eines rechtlichen Rahmens einen
Ausstiegspfad definieren, ihn rechtlich absichern und damit die Risiken in verantwortbaren Grenzen halten müssen.
({4})
Die Frage, wie zukunftsträchtig die Atomenergie überhaupt ist, haben weder die Kollegen von der Union noch
die von der F.D.P. beantwortet. Auch wenn in einigen
Staaten der Erde noch Kernkraftwerke gebaut werden, hat
es in der Bundesrepublik in den letzten zwei Jahrzehnten
keinen Antrag auf einen Neubau mehr gegeben.
({5})
In den USA ist das letzte Kraftwerk 1979 ans Netz gegangen. In einer ganzen Reihe von Staaten der Europäischen Union erfolgt der Ausstieg aus der Atomenergie.
({6})
Zur Wahrheit gehört auch, dass mehr als die Hälfte der
Staaten der Europäischen Union entweder von vornherein
auf die Nutzung der Atomenergie verzichtet hat oder ist
wie Italien und Österreich bereits ausgestiegen
({7})
oder ist dabei, auszusteigen, wie beispielsweise Belgien
und Schweden.
({8})
Deshalb glaube ich, dass wir uns nicht isoliert auf dem
Weg des Ausstiegs, des kontrollierten Beendens der Nutzung der Atomenergie befinden.
Es gibt auch jede Menge wirtschaftliche Gründe für
den Ausstieg. Dazu gibt es Untersuchungen, die zu dem
Ergebnis kommen, dass sich Kernkraftanlagen in liberalisierten Energiemärkten überhaupt nicht mehr rechnen. Es
wird empfohlen, die Nutzung der Kernenergie - unabhängig von unserem Konzept des beschleunigten Ausstiegs - in etwas längeren Zeiträumen zu beenden. Das ist
die Wahrheit.
({9})
- Ob die Franzosen ihre Kernkraftwerke schließen, ist deren Sache und deren politische Entscheidung.
({10})
- Es gibt aber auch in Frankreich - um Ihnen das auch ganz
deutlich zu sagen, Herr Kollege, und das wissen Sie so gut
wie ich - noch lange keinen liberalisierten Energiemarkt.
Insofern sind dort die Bedingungen etwas anders.
({11})
Aber selbst wenn das alles funktionieren würde: Soweit wir im Moment absehen können, ist bei derzeitigem
Verbrauch Uran noch etwa 60 Jahre verfügbar.
({12})
Die Frage, wie lange wir mit diesen verfügbaren Reserven
Atomenergie nutzen können - vor allem, wenn Sie dies
noch ausbauen wollen - müssen Sie erst einmal beantworten, bevor Sie sagen: Das ist die Zukunft der Energieversorgung, alles andere ist Ideologie und vom Teufel.
Dann bleibt - abgesehen von der ungelösten Entsorgungsfrage - noch die wichtige Frage, wie dies umweltpolitisch zu werten ist. Sie sagen immer, wir brauchen den
Ausbau der Kernenergienutzung aus Gründen des Klimaschutzes. Auch hierzu kann ich Ihnen nur noch einmal
den Sachverständigenrat für Umweltfragen aus seinem
2000er Gutachten zitieren. Er sagt:
Klimapolitischer Handlungsbedarf kann allerdings
kein Argument gegen eine Beendigung der Nutzung
der Atomenergie sein.
({13})
Vielmehr müssen parallel zur Festlegung von Restlaufzeiten der Atomkraftwerke Rahmenbedingungen
getroffen werden,
({14})
die die Stromversorgung durch Steigerung der Energieeffizienz, durch Energieeinsparstrategien und
durch eine verstärkte Nutzung erneuerbarer Energieträger ... gewährleisten.
Soweit die wissenschaftliche Einschätzung des Sachverständigenrates für Umweltfragen.
Wenn man sich ansieht, welchen Beitrag die Kernenergie im Moment weltweit zur Verringerung des CO2Ausstoßes leisten kann, stellt man fest: Wir haben weltweit etwa 440 Kernkraftwerke am Netz. Das sind
7 Prozent der Primärenergieerzeugung.
({15})
Wenn die Primärenergieerzeugung über Kernkraftwerke
einen nennenswerten Anteil ausmachen sollte, welches
Ausbauszenarium muss man sich denn da vorstellen? Wie
viele hundert Kernkraftwerke sollen denn weltweit gebaut werden,
({16})
damit überhaupt ein nennenswerter Beitrag zum Klimaschutz geleistet werden kann? Diese Frage haben Sie,
werte Kolleginnen und Kollegen, auch Sie, Herr Hirche,
noch nie beantwortet.
({17})
Herr Kollege Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Vaatz?
Ich möchte meinen
Gedanken noch ausführen, dann gestatte ich die Zwischenfrage.
Sie haben gesagt, dass die CO2-Emissionen trotz aller
großartigen Ankündigungen der Bundesregierung zum
Klimaschutz im letzten Jahr wieder angestiegen sind.
({0})
Das ist leider so. Aber ich würde hier nicht so hämisch
sein; denn wenn man sich einmal die Kurve zum Ausstoß
der letzten zehn Jahre anschaut, Herr Paziorek und Frau
Homburger, dann stellt man fest, dass Ihnen etwas ganz
Ähnliches passiert ist. Trotz all der großen Ankündigungen zur Berliner Klimakonferenz 1995 mussten wir Anfang 1996 feststellen, dass genau im Jahr 1995 die Kurve
nach oben geklettert ist. Das ist auch unter Ihrer Regierung passiert.
({1})
Ich hoffe, dass diese Entwicklung im Jahr 2000 ähnlichen Entwicklungen wie damals geschuldet ist, nämlich
dem Zuschalten bestimmter Kraftwerkstypen, und dass es
keine langfristige Tendenz ist. Langfristig wird die Kurve
der CO2-Emissionen nach unten gehen. Wir werden dafür
sorgen, dass wir unserem Ziel, den CO2-Ausstoß, wie versprochen, zu reduzieren, näher kommen.
({2})
Herr Kollege Vaatz.
Herr Kollege Matschie,
Sie haben ausgeführt, wie die Franzosen mit ihren Kernkraftwerken umgingen, sei deren Sache. Im Übrigen weisen Sie darauf hin, dass dort noch kein liberalisierter
Strommarkt vorhanden sei.
({0})
Meine Frage ist: Wenn Sie Ihre Risikobetrachtung ernst
nehmen, meinen Sie dann in der Tat, dass wir von einem
eventuellen Risiko der französischen Kernkraftwerke als
Deutsche nicht betroffen sind? Das ist meine erste Frage.
({1})
Meine zweite Frage ist: Mir ist nicht klar, welchen Einfluss die Liberalisierung des Strommarktes auf die SiChristoph Matschie
cherheit von Kernkraftwerken hat. Könnten Sie das bitte
einmal ausführen.
({2})
Ihre letzte Frage kann
ich nicht beantworten. Ich habe nie behauptet, dass die Liberalisierung des Strommarktes Einfluss auf die Sicherheit von Kernkraftwerken hat.
Energiepolitik ist eine nationale Entscheidung. Auch
wenn unsere Einschätzung des Risikos so ist, dass wir die
Nutzung der Kernenergie beenden wollen, können wir unseren Nachbarn die Kernenergie nicht verbieten. Unsere
Nachbarn müssen selbst über ihre Energienutzung entscheiden. Dass damit auch für uns Risiken verbunden
sind, ist unbestreitbar. Aber wir können nichts daran ändern. Wir können nur national anders entscheiden. Dies ist
eine souveräne Entscheidung der Nachbarstaaten.
Einige haben sich entschieden, aus der Nutzung der
Kernenergie auszusteigen, zum Beispiel Belgien und Österreich. In der Schweiz gibt es ein Moratorium. Vielleicht
wird es eines fernen Tages so sein, dass auch Frankreich
die Nutzung der Atomenergie beendet. Bis dahin werden
wir hierüber im Parlament noch eine ganze Menge Debatten führen.
({0})
Ich gebe für
die CDU/CSU-Fraktion der Kollegin Dagmar Wöhrl das
Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Im Grünbuch zur Sicherung
der Energieversorgung - von der Europäischen Kommission im November letzten Jahres angenommen - wird
festgestellt: Die EU deckt ihren Energiebedarf derzeit zu
50 Prozent aus Importen. Weiterhin wird festgestellt, dass
in den nächsten 20 bis 30 Jahren die Importabhängigkeit
in Europa auf 70 Prozent steigen wird.
Das ist eine Entwicklung, die nicht nur die Kommission besorgniserregend findet, sondern mit dem Thema
Versorgungssicherheit hat die Kommissarin de Palacio
auch bei Ihnen einen wunden Punkt getroffen. Warum?
Weil das Thema Versorgungssicherheit in der Energiepolitik von Rot-Grün überhaupt keine Rolle spielt.
({0})
Ihre Ausstiegspolitik - Sie bezeichnen sie immer als
Herzstück Ihrer Energiepolitik - wird unsere Abhängigkeit von Energieimporten massiv erhöhen und - das ist
noch viel schlimmer - unsere Energieversorgung wird
sehr viel unsicherer werden.
({1})
Wir haben es geschafft, unsere Importabhängigkeit von
1973 bis 1998 von ursprünglich 25 Prozent auf 17 Prozent
zu reduzieren.
({2})
Seitdem Sie an der Regierung sind, konterkarieren Sie
diesen Erfolg und drehen das Rad zurück. Sie wissen
auch, dass ein Drittel der Stromerzeugung in Deutschland
und zwei Drittel der Stromerzeugung in der Grundlast
durch erneuerbare Energien und Energieeinsparung nicht
kompensiert werden können. Das wissen Sie genauso gut
wie wir.
({3})
Realistischerweise gibt es nur zwei Möglichkeiten, den
Fortfall der Energieerzeugung durch Atomstrom auszugleichen: entweder Import von Elektrizität oder Import
von Gas, mit dem dann in neuen Gaskraftwerken Strom
erzeugt wird. Eine andere Möglichkeit wäre, die bestehenden Kohlekraftwerke nach oben zu fahren. Sie wissen
aber, dass dann eine Erhöhung des CO2-Ausstoßes die
Folge wäre, was die Klimaschutzpolitik beeinflusste.
({4})
- Fragen Sie doch einmal, wo das Gas herkommt, lieber
Kollege. 40 Prozent aller Gasimporte in der EU kommen
aus Russland, und zwar mit steigender Tendenz.
({5})
Sie wissen ganz genau, dass die Lage in Russland nicht
immer stabil ist, und Sie wissen auch ganz genau, dass
Russland sehr oft - auch in der Vergangenheit - seine Stellung als Energielieferant dazu verwendet hat, politische
Abhängigkeiten zu schaffen. Fragen Sie in diesem Zusammenhang Kollegen aus mittel- und osteuropäischen Ländern! Die können Ihnen ein Lied davon singen. Wollen Sie
denn, dass wir zukünftig in eine solche Abhängigkeit kommen? Wollen Sie, dass wir unsere zukünftige Außenpolitik
unseren Energieinteressen unterordnen müssen? Sie müssen sich das genau überlegen, wenn Sie den eingeschlagenen Weg Ihrer Energiepolitik weitergehen wollen.
({6})
Im Interesse unserer Versorgungssicherheit - ich spreche von der Versorgungssicherheit in Deutschland - müssen wir in Sachen Energieerzeugung ein starker Standort
bleiben. Das wissen auch Sie.
({7})
- Wir sind doch einer Meinung, wenn es um das Ziel geht,
den Anteil der Energieerzeugung aus erneuerbaren
Energien zu verdoppeln.
({8})
Wir widersprechen Ihnen doch in diesem Punkt gar nicht
und dieser Konsens bestand auch in der letzten Legislaturperiode. Wir wissen aber ganz genau, dass erneuerbare
Energien - selbst wenn wir es schaffen, den Anteil zu verdoppeln - niemals die Energieerzeugung aus Kernkraft
als quasi einheimischem Energieträger ersetzen können.
({9})
- Er ist ein quasi einheimischer Energieträger. So ist es.
Oder widersprechen Sie mir, Herr Kollege?
Ich würde Ihnen wirklich raten, das angesprochene
Grünbuch einmal zur Hand zu nehmen und durchzulesen.
Sie können dort die Meinungen von Sachverständigen
nachlesen; im Sachverständigenrat für Umweltfragen in
Deutschland wurden die bisherigen Mitglieder größtenteils von Ihnen ausgetauscht.
({10})
Die Kommission warnt in dem Grünbuch, dass die CO2Emissionen - in Deutschland steigen sie inzwischen wieder - auch in Europa wieder ansteigen könnten. Herr
Minister Trittin, die These, der Atomausstieg könne einen
Beitrag zum Klimaschutz leisten, ist völlig abwegig.
({11})
Auch Kommissarin de Palacio folgt dieser Meinung
nicht; sie hat vielmehr sehr starke Bedenken, ob es gelingt, zu einer Verringerung der Treibhausgase zu kommen, wenn man aus der Kernkraft aussteigt. Sie weiß ganz
genau - und hat dies auch öffentlich geäußert -, dass Europa dieses Ziel ohne Festhalten an der Kernenergie nicht
erreichen wird.
({12})
Nehmen wir die deutschen Kernkraftwerke. Die deutschen Kernkraftwerke helfen uns, einen sonst notwendigen CO2-Ausstoß im Umfang von 160 Millionen Tonnen
zu vermeiden. Was heißt das? Eine solche Zahl kann man
sich sehr schwer vorstellen. Diese Menge umfasst den
CO2-Ausstoß des gesamten Straßenverkehrs bei uns in
Deutschland, liebe Kollegen von Rot-Grün.
({13})
Und dann kommen Sie daher und erzählen uns, im Zusammenhang mit KWK bis zum Jahre 2010 23 Millionen Tonnen CO2 einzusparen,
({14})
und zwar mit einem milliardenschweren Subventionsprogramm, das von den Verbrauchern finanziert werden soll.
Es passt doch nicht zusammen: Auf der einen Seite 23 Millionen Tonnen Einsparung mit einem Aufwand von mehreren Milliarden, finanziert durch die Verbraucher, und auf
der anderen Seite eine tatsächliche Einsparung durch die
Kernenergie von 160 Millionen Tonnen. Das passt doch
nicht zusammen. Was ist das denn für eine Politik?
({15})
Kein Mensch sieht ein, welchen Sinn es machen soll,
die sichersten und neuesten Kernkraftwerke in Deutschland abzuschalten und gleichzeitig im Ausland erzeugten Atomstrom in das deutsche Netz einzuspeisen.
({16})
Man weiß ganz genau, dass der importierte Strom von
Kernkraftwerken stammen wird, die bei weitem nicht so
sicher wie diejenigen sein werden,
({17})
die dann in Deutschland abgeschaltet worden sind.
({18})
- Hören Sie zu, lieber Kollege. - Sie haben das ja inzwischen - es hat allerdings ein bisschen gedauert - auch gemerkt; denn Sie sprechen von schmutzigem Strom. Sie
wollen - das ist ganz toll - den Import dieses Stroms verbieten, indem Sie eine entsprechende Verordnungsermächtigung in das Energiewirtschaftsgesetz hineinschreiben.
({19})
Mit Ihrer Politik führen Sie die Öffentlichkeit bewusst
hinters Licht; denn ein solches Importverbot ist weder
rechtlich noch praktisch möglich. Strom hat nun einmal
keine Farbe. Strom ist weder grün noch „yello“.
({20})
- Solche Debatten, wie wir sie jetzt führen, sind gut für
Sie, weil sie jedes Mal Ihren Kenntnisstand ein bisschen
erweitern. ({21})
Sie werden die Herkunft des ausländischen Stroms an der
Grenze nicht identifizieren können.
({22})
Wie sieht es denn rechtlich aus? Ich habe angesichts Ihrer Politik manchmal das Gefühl, dass Recht und Gesetz
überhaupt keine Rolle mehr spielen.
({23})
Was ist denn mit dem freien Welthandel und der Energiecharta von 1994? Was ist mit dem kürzlich mit den EUBeitrittskandidaten getroffenen Abkommen?
({24})
In diesem Abkommen verlangen die Beitrittskandidaten
- das ist ein ganz wichtiger Punkt - Erleichterungen beim
Energietransit. Das scheint jetzt auf einmal keine Rolle
mehr zu spielen. Offenbar kann man alles verbieten.
Den Ausstieg aus der Kernenergie schaffen Sie nur,
wenn Sie den Import von ausländischer Energie erlauben.
Es ist Augenwischerei, wenn man verkündet, dass das
Ende des Atomstroms in Deutschland bevorstehe.
({25})
Das von Ihnen angestrebte Importverbot kann ganz
einfach umgangen werden. Ein theoretisches Beispiel:
Österreich verkauft sauberen Wasserkraftstrom nach
Deutschland, am besten mit einem Ökoaufschlag. Die in
Österreich entstehende Stromlücke wird dann mit günstigen Strom-Importen aus der Ukraine geschlossen. Was
soll das? Damit verkaufen Sie unsere Bevölkerung doch
für dumm.
In der letzten Woche haben die europäischen Wettbewerbshüter der französischen EdF die Genehmigung erteilt, sich an Energie Baden-Württemberg zu beteiligen.
Es ist sehr positiv, dass die Franzosen endlich gezwungen
werden, ihren Markt ein bisschen mehr zu öffnen. Der
Energiemarkt - darauf haben Sie vorhin zu Recht hingewiesen - ist zwar leider noch immer nicht vollständig
liberalisiert. Aber mit dem Einstieg von EdF bei EnBW ist
eines klar geworden: In Frankreich erzeugter Atomstrom
kann und wird zukünftig im deutschen Stromnetz fließen.
Diese Tatsache - es gibt noch viele andere - führt den
deutschen Atomausstieg, den Sie ja im nationalen Alleingang vereinbart haben, völlig ad absurdum.
({26})
- Aber Sie können klatschen. Ich würde mich freuen.
({27})
Ich möchte auch noch auf das Thema Endlager zu sprechen kommen. Der Stopp der Erkundungen des Endlagers Gorleben ohne neue wissenschaftliche Erkenntnisse
ist der fragwürdigste und unverantwortlichste Teil Ihrer
Kernenergiepolitik, die Sie in letzter Zeit betrieben haben.
({28})
Die Erkundungsarbeiten in Gorleben - ich möchte gar
nicht darauf eingehen, dass schon Milliarden DM investiert wurden - standen kurz vor dem Abschluss. Sie haben
ein Endlagerkonzept zerschlagen, ohne eine einzige Alternative anzubieten.
Frau Hustedt hat gesagt, jetzt werde ein Arbeitskreis
gegründet. Toll! Sie kennen den Spruch genauso gut wie
wir: Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann gründe einen
Arbeitskreis. Hier wünsche ich Ihnen dann viel Erfolg,
Frau Hustedt.
({29})
Die Erkundungsarbeiten für das Endlager in Gorleben
werden gestoppt. Aber warum steht dann in den Vereinbarungen mit den Energieversorgungsunternehmen, dass
einer möglichen Nutzung als Endlager nach vorliegenden
Erkenntnissen nichts im Wege steht?
({30})
Können Sie mir erklären, warum das in einer Vereinbarung steht, die Sie mit paraphiert haben?
({31})
- Es heißt: „nach vorliegenden Erkenntnissen nichts im
Wege“. Wissen Sie, was Sie machen? Sie verschieben die
Entsorgungsaufgabe auf künftige Generationen. Wir haben erkundet, Sie haben gestoppt.
({32})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie beunruhigen doch
mit Ihrer Politik die Menschen.
({33})
Sie wissen ganz genau, für wie viele Menschen die Endlagerfrage wichtig ist.
({34})
Aber Sie wollen nicht an sie herangehen, weil dann, wenn
diese Frage gelöst ist, Ihrer Antiatombewegung der Boden
entzogen ist. Es haben Sie also politische Gründe und
nicht sachliche Gründe zu Ihrer Haltung bewogen.
({35})
Die Stromerzeugung aus Kernenergie war in
Deutschland ein Standortfaktor; das wissen Sie. Sie
wissen auch, dass mit dem Ausstieg eine Strompreiserhöhung verbunden ist, was künftig eine Wettbewerbsbenachteiligung im Bereich stromintensiver Produktion
darstellen wird.
({36})
- Zementindustrie, Chemieindustrie, Aluminiumindustrie, lieber Kollege.
Sie kennen auch die Prognosen, dass mit diesem Ausstieg deutschlandweit 150 000 Arbeitsplätze in Gefahr
gebracht werden. Zu dem Thema habe ich von Ihnen überhaupt nichts gehört.
({37})
Sie verabschieden sich hier aus einer Hochtechnologiebranche. Das bedeutet das Quasiverbot einer ganzen
Spitzentechnologie.
({38})
- Das ist keine Spitzentechnologie?
({39})
- Lieber Herr Kollege, können Sie mir dann einmal sagen,
warum unsere Facharbeiter aus diesem Bereich die gefragtesten in der ganzen Welt sind?
({40})
Wenn wir in dieser Technologie nicht Spitze sind, wer
dann? Darauf können Sie mir keine Antwort geben.
({41})
Wissen Sie, was Sie machen? Sie werden junge Leute
künftig nicht mehr motivieren können, hier ein Studium
zu ergreifen.
({42})
Wissen Sie, was dann kommen wird? Dann müssen Sie
für diesen Bereich eine Green Card erfinden. Auf die Diskussion darüber freue ich mich heute schon.
({43})
Meine Damen und Herren, die Grünen haben im letzten Jahr von der Kernspaltung gern als Steinzeittechnologie gesprochen. Neuerdings sprechen sie von der Übergangstechnologie. Aber das ist falsch. Weltweit befinden
sich über 400 Kernkraftwerke in Betrieb. Knapp 40 sind
im Bau; davon haben Sie nichts gesagt. In den USA werden bereits stillgelegte Reaktoren reaktiviert und die gesetzlichen Laufzeiten verlängert. Da Sie vorhin von Europa gesprochen haben, füge ich hinzu: In Frankreich sind
für die Zeit nach 2010 neue Anlagen in Planung. Das finnische Parlament berät derzeit über den Bau des fünften
Kernkraftwerks. In der Schweiz hat der Bundesrat jetzt
beschlossen, dass die Laufzeiten der bestehenden Kraftwerke nicht mehr auf 40 Jahre begrenzt werden. In Tschechien und in der Slowakei, aber auch außerhalb Europas,
nämlich in Indien, Südkorea und Brasilien gehen derzeit
neue Reaktoren ans Netz. Sogar Russland setzt auf den
Ausbau der Kernenergie.
Das alles zeigt, dass die Kernenergie keine Übergangstechnologie ist. Sie ist aber eine Technologie, die ständig
weiterentwickelt werden muss.
({44})
Hier klinken wir uns aus; das ist das Gefährliche. Denken
Sie nur an Reaktortypen wie den EPR und an die Kernfusion!
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, im liberalisierten Weltmarkt für Strom verbieten
sich nationale Alleingänge.
({45})
Hier hat Rot-Grün ökonomisch, ökologisch, sicherheitstechnisch und technologiepolitisch einen schweren Fehler
begangen und es wird für uns sehr schwer sein, das irgendwann einmal wieder zu korrigieren.
({46})
Ich gebe
dem Bundesminister Jürgen Trittin das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Wöhrl, es wird für Sie in der Tat ein
bisschen schwierig; denn um das rückgängig zu machen,
bedarf es der Erfüllung einer Voraussetzung: Sie müssten
wieder an die Regierung kommen.
({0})
- Das sehe ich: Daran arbeiten Sie nicht nur miteinander,
sondern manchmal auch gegeneinander; insofern wünsche ich gute Verrichtung!
({1})
Ich kann die Geschehnisse bei Ihnen durchaus sportiv verfolgen.
({2})
Ich weiß gar nicht, wovon uns die rechte Seite dieses
Hauses zu überzeugen versucht: wie klasse Atomkraft ist?
Was für eine Zukunftsherausforderung damit verbunden
ist? Ich rate Ihnen einfach Folgendes: Halten Sie diese Reden nicht hier! Versuchen Sie diejenigen zu überzeugen,
die mit der Produktion von Strom Geld verdienen. Die
Stromproduzenten haben - übrigens nicht nur in Deutschland, sondern überall dort, wo Wettbewerb und Marktwirtschaft stattfindet, das heißt, wo nicht mehr subventioniert wird, wo also das getan wird, was viele von Ihnen in
Sonntagsreden immer wieder fordern - eine klare Entscheidung getroffen: Atomkraft - nein, danke; die Atomenergie hat für uns aus Gründen der Wirtschaftlichkeit
überhaupt keine Perspektive.
({3})
Deswegen können wir diese Debatte eigentlich beenden.
Aber damit hier nichts Falsches im Raum stehen bleibt,
erlaube ich mir noch folgende Bemerkung: Zu den Äußerungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen,
die der Kollege Matschie zitiert hat, kam von der rechten
Seite des Hauses gleich der Hinweis: Die sind doch alle
ausgewechselt worden. - Der Sachverständigenrat für
Umweltfragen, der dieses Gutachten erstellt hat, ist von
der Umweltministerin Dr. Angela Merkel berufen worden.
({4})
Ihm sagen Sie fälschlicherweise nach, er habe dem jetzigen Umweltministerium schlechte Noten erteilt. Sie sollten hinsichtlich der Quellen, auf die Sie sich berufen, vielleicht ein bisschen vorsichtiger sein.
({5})
Die Rede, die der Kollege Claus gestern gehalten hat,
fand ich gut. Es war ein wenig schade, dass Sie, Frau
Bulling-Schröter, sich gerade bei diesem Thema wieder in
die Gemeinsamkeit der Opposition eingereiht haben. Sie
wissen sehr wohl, wann das erste Atomkraftwerk stillgelegt wird: Das Atomkraftwerk Stade wird im Jahre 2003
vom Netz gehen. Das ist ein Ergebnis des Atomkonsenses.
Also war Ihre Frage nur rhetorisch.
Mich verwundert die Gemeinsamkeit zwischen der
PDS, der F.D.P. und der CDU in der Auffassung, dass man
sowohl gegen Zwischenlager als auch gegen Atomtransporte ist. Ich rate, einmal darüber nachzudenken, ob
es nicht in Ihrem Denken ein kleines Entweder-oder geben müsste. Die Koalitionen, die sich jetzt gebildet haben,
finde ich teilweise sehr verwunderlich. Die Position der
CDU lautet: Wir sind gegen ein dezentrales Zwischenlager, das nach dem Sicherheitsstandard des heutigen Standes der Technik funktioniert, weil man Atommüll nach
Ahaus transportieren kann.
({6})
Die Position der PDS lautet: Wir sind zwar vor Ort gegen
das Zwischenlager; aber wir sind auch dagegen, dass der
Atommüll in ein anderes zentrales Zwischenlager transportiert wird. Das heißt, Sie beide, CDU und PDS, sind
gegen alles.
Nun speziell zu Ihnen von der PDS: Was würde eigentlich passieren, wenn die Forderung nach einem Sofortausstieg gemeinsam durchgesetzt wäre? Dann hätten
Sie das gleiche Problem: Sie müssten den Atommüll, der
von der rechten Seite des Hauses in der Zeit, als sie die politische Verantwortung trug, ins Ausland befördert worden ist, zurücknehmen. Bis zu der Zeit, wo der Atommüll
endlagerfähig ist - hierfür gilt das Datum 2030; es geht
dabei nicht um politischen Opportunismus, sondern
schlicht und ergreifend um Physik -,
({7})
müssen Sie über Zwischenlagermöglichkeiten verfügen.
Auch Sie müssten die Frage beantworten, ob man eine
zentrale Zwischenlagerung - das würde bedeuten, dass
man mindestens zwei Transporte durchführt - oder eine
dezentrale Zwischenlagerung vornimmt, das heißt, dass
man den Atommüll dort lagert, wo er jetzt ist, um ihn dann
später in ein entsprechendes Endlager zu bringen.
({8})
Realpolitisch stehen wir vor genau dieser Alternative.
Beide Seiten des Hauses versuchen leider, sich um diese
Entscheidung herumzudrücken.
Frau Homburger, gelegentlich hat man es da mit dem
baden-württembergischen Landrecht zu tun. Ich denke an
die Frage, ob auch der Behälter, der zum Abtransport bereitgestellt wurde, eigentlich Bestandteil des radioaktiven
Inventars einer Atomkraftanlage ist. Da gibt es eine solitäre Rechtsauffassung der Landes-regierung BadenWürttemberg. Die hat sie nicht schon immer, sondern erst
seit Mai 2000. Bis dahin war Baden-Württemberg wie
Bayern, wie Nordrhein-Westfalen, wie Schleswig-Holstein der Auffassung, dass das, was zum Abtransport bereitsteht, nicht zum radioaktiven Inventar des Atomkraftwerks gehört.
Weil die Landesregierung von Baden-Württemberg
diese Rechtsauffassung aus durchsichtigen politischen
Gründen geändert hat, hat der Bundesumweltminister sie
im Interesse eines einheitlichen Vollzuges des Atomgesetzes entsprechend angewiesen. Wir sind dafür, dass
das Atomrecht nicht gebogen und nicht politisch ausgelegt, sondern bundeseinheitlich praktiziert wird.
({9})
Das ist die Lage und ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei,
dies gerichtlich anzugreifen.
({10})
- Ja, werde ich auch. Ich habe zum Beispiel gerade gehört,
Herr Paziorek - das fand ich ganz interessant -, wie Sie
ein vehementes Plädoyer für unsere Änderung des Atomgesetzes gehalten haben.
({11})
- Nein, ich freute mich darüber. Ich kann ja zwischen den
einzelnen Abgeordneten der Opposition unterscheiden
und Sie wissen, dass ich Sie schätze. Deswegen hat es
mich gefreut, dass Sie so auf uns zugegangen sind.
Sie haben gesagt, Sie wollten, dass künftig vor der
Durchführung eines Transportes geprüft werde, ob der
Atommüll schadlos verwertet werde. Ich sage Ihnen
eines: Es bedurfte sehr harter Verhandlungen mit der Industrie, diesen Rechtstatbestand - der vom Bundesamt für
Strahlenschutz bei der Beförderungsgenehmigung heute
nicht berücksichtigt werden darf - einzuführen,
({12})
sodass künftig vor dem Transport zusammen mit der Beförderungsgenehmigung die Bestätigung von der jeweiligen Behörde vorzulegen ist.
Aber damit Sie sich keine Sorgen machen, weil Sie nun
sagen könnten, möglicherweise habe eine Landesregierung,
beispielsweise die hessische Landesregierung, rechtswidrig
gehandelt, will ich Sie nur darauf verweisen, dass die
französische Atomaufsicht uns nachdrücklich schriftlich
bestätigt hat, dass es für die Wiederaufarbeitung dieser
Stoffe in der Anlage UP 2/400 selbstverständlich eine
Genehmigung gebe. Das heißt, auch die hessische Behörde hat sich nicht rechtswidrig verhalten.
({13})
Eine letzte Bemerkung zum Komplex Atom und Endlager. Ich verstehe ja, Frau Wöhrl, dass Sie den Atommüll
auf jeden Fall nach Norddeutschland transportiert haben
wollen.
({14})
Aber wenn Sie den Konsens zitieren, zitieren Sie ihn bitte
richtig. An dem Punkt, an dem Herr Paziorek aufgehört
hat, geht es nämlich weiter:
Somit stehen die bisher gewonnenen geologischen
Befunde
- jetzt zuhören einer Eignungshöffigkeit des Salzstockes Gorleben
zwar nicht entgegen.
Was würde passieren, wenn da etwas anderes stünde? Was
wäre, wenn die Eignungshöffigkeit widerlegt würde? Wir
müssten kein Moratorium schaffen, sondern wir müssten
die Bude sofort zumachen.
({15})
Hier steht nichts anderes, als dass die Eignungshöffigkeit
noch nicht widerlegt ist.
({16})
Dann geht es weiter:
Vor allem folgende Fragestellungen begründen
Zweifel:
- Die Beherrschbarkeit von Gasbildung in dichtem
Salzgestein ...
Außerdem sei die Frage der Rückholbarkeit international
nicht geklärt.
Auch dies ist keine solitäre Position der Bundesregierung, sondern eine mit den Unternehmen, die diese
ganzen Erkundungsarbeiten zu bezahlen haben, abgestimmte Position. Sie laufen sich die Birne ein, wenn Sie
versuchen, uns zu erklären, dass sich die Unternehmen
gegen das Unternehmensinteresse verhalten,
({17})
wenn sie den fachlichen Einwänden gegen Gorleben
nachgeben!
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zum Klimaschutz machen. Die Bundesrepublik Deutschland ist
das einzige Land, das Aussichten hat, das Klimaschutzziel
in Europa zu erreichen. Es ist nicht so, dass der CO2Ausstoß in anderen Ländern steigen könnte: Er steigt in
anderen Ländern, um plus 10 Prozent in den Niederlanden
usw.; ich könnte sie alle durchgehen.
({18})
Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein Ist
von minus 15 Prozent. Wir sind heute auf dem Wege, die
Reduzierung um 25 Prozent tatsächlich zu erreichen, und
zwar gegen den massiven Widerstand von Leuten wie
Herrn Ronsöhr und anderen. Sie haben versucht, das
Erneuerbare-Energien-Gesetz mit einem Potenzial von
10 Millionen Tonnen CO2 zu verhindern. So war es hier
in diesem Bundestag!
({19})
Sie sind es zum Beispiel, die bei jeder Gelegenheit mit
Ihren Mitgliedern Straßenblockaden gegen die Ökosteuer organisieren.
({20})
- Es ist doch so. Ihre Mitglieder beteiligen sich daran.
(Ernst Hinsken ({21})
Ich bin ja tolerant für so etwas, aber Sie scheinen das
nicht zu sein.
({22})
Eine Bemerkung kann ich mir allerdings nicht
verkneifen: Wenn Sie sich die jüngste Entwicklung beim
Klima anschauen, stellen Sie fest: Wir haben festgehalten
an der Entkoppelung von Primärenergieeinsatz und
Wirtschaftswachstum, also weniger Primärenergieeinsatz bei beachtlichem Wirtschaftswachstum. Dennoch ist
der CO2-Ausstoß gestiegen. Warum? Weil eine Verlagerung von hocheffizientem Gas auf Kohle eingetreten
ist; man kann das auch noch anders ausdrücken: weil wir
eine Verlagerung von besteuerten Energieträgern wie
Gas auf unbesteuerte zu verzeichnen haben, weil wir
nach wie vor einen Wettbewerbsnachteil für klimafreundliche Energie-träger wie Gas haben. Das ist die Situation. Daraus bleibt der simple Schluss zu ziehen: Mit
dieser Klimabilanz hat etwas tatsächlich seine Wirksamkeit bewiesen, nämlich Preissignale, und das ist die
Rechtfertigung für die ökolo-gische Steuerreform.
({23})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich nun der Kollegin Eva BullingSchröter das Wort.
Herr Minister Trittin,
Sie haben die PDS mit der rechten Opposition gleichgestellt und behauptet, wir seien gegen alles.
({0})
- Die CDU fühlt sich beleidigt, aber die können es ja
auch selbst darlegen.
Diese Argumentation habe ich schon einmal gehört,
und zwar vor einigen Jahren, als diese rechte Opposition
hier die Grünen beschimpft hat, sie seien gegen alles.
Und Sie übernehmen jetzt diese Argumente.
({1})
Fakt ist: Wir, die PDS, stehen für den sofortigen
Ausstieg aus der Atomenergie. Wir lehnen Zwischenlager
deswegen ab, weil wir wissen, dass damit die Laufzeiten
verlängert werden. Das wird bestätigt.
({2})
Ich habe schon einige Male von dem Antrag zum AKW
Gundremmingen berichtet, in dem eine Kapazität
genehmigt werden soll, die bis 2046 läuft. Solche Dinge
lehnen wir ab. Wir wollen den sofortigen Ausstieg. Wir
wollen natürlich dann ein Endlager, das ist ganz klar.
({3})
Uns ist auch bewusst, dass das sehr schwer in der
Bevölkerung durchzusetzen ist, aber es ist eine Notwendigkeit. Ich meine, wir haben eine Verantwortung.
Hier wurde das Gutachten des Wissenschaftsrates
bezüglich der Problematik der Entsorgung angesprochen.
Diese Problematik wird noch sehr lange weiter bestehen.
Das heißt, wir brauchen jetzt dringend ein Handeln. Wir
meinen, dass es nicht mit Zwischenlagern getan ist, sondern wir wollen in Übereinstimmung mit allen
Umweltverbänden den Sofortausstieg.
({4})
Zur Erwiderung der Bundesminister Trittin.
({0})
Liebe Frau Bulling-Schröter,
ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, indem ich Sie ungerechtfertigt in die Nähe der Union rückte.
({0})
Um die Frage allerdings haben Sie sich herumgedrückt. Unterstellt, Sie würden sich mit Ihrer politischen
Auffassung durchsetzen und es wäre möglich, jetzt sofort
auszusteigen, dann bleibt ein Zeitfenster von 25 bis
30 Jahren. In dieser Zeit werden Sie zwischenlagern
müssen und irgendwann Transporte in ein Endlager
durchführen müssen. Wenn Sie mit uns dazu bereit sind,
sind wir in einem rationalen Diskurs ein ganzes Stück
näher zueinander gekommen, auch wenn wir die Positionen nicht teilen.
Ich möchte eine zweite Bemerkung anfügen; sie
bezieht sich auf die Menge des Mülls. Wir haben mit dem
Atomkonsens nicht 1:1 das durchgesetzt, was wir wollten.
Es war ein Kompromiss, und in diesem Kompromiss
haben verschiedene Seiten Zugeständnisse machen
müssen. Aber eines können Sie doch nicht leugnen: Wenn
wir den Stopp der Zulieferungen an die Wiederaufarbeitung im Jahr 2005 umsetzen, was heißt das? Das heißt,
dass die Wiederaufarbeitung von europäischem Atommüll in La Hague faktisch beendet wird. Es heißt ganz
konkret: Ausstieg aus der Wiederaufarbeitung nicht nur in
Deutschland, sondern faktisch in Gesamteuropa, weil nur
noch die Deutschen die Anlagen in La Hague und Sellafield finanziell am Laufen halten.
Mit dem Übergang zu einem Konzept der direkten
Endlagerung können Sie uns eines nicht absprechen, nämlich dass wir auf diese Weise aus bisher drei Transporten
- nämlich in die Wiederaufarbeitung, aus der Wiederaufarbeitung nach Gorleben und aus Gorleben zu einem
Endlager - nur noch einen Transport gemacht haben. Wir
haben also ganz in Ihrem Sinne dafür gesorgt, dass das
Aufkommen der Transporte auf ein Drittel gesunken ist.
({1})
Als letztem
Redner in dieser Debatte gebe ich nunmehr für die SPDFraktion dem Kollegen Michael Müller das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Es ist richtig, dass in der Vergangenheit große Teile dieses Hauses gemeinsam an dem
Ausbau der Atomenergie beteiligt waren. Diese Position
stand im Zusammenhang mit bestimmten Wachstumsprognosen und Fortschrittsideen. Ich war daran nicht
beteiligt. Trotzdem sage ich, dass wir eine gemeinsame
Verantwortung haben, diese Altlast zu beseitigen.
Man kann uns deshalb nicht vorwerfen - auch denen
nicht, die diese Position damals nicht bezogen haben -,
dass wir uns heute verantwortungsbewusst um die Lösung
der Probleme, die sich aus der Nutzung der Atomenergie
ergeben, kümmern wollen. Eine derartige Debatte weist
eine große Schieflage auf.
({0})
Natürlich wäre vielen von uns der ganz schnelle
Ausstieg lieber. Aber wir können doch nicht leugnen, dass
es unterschiedliche Risiken gibt, auf die mit unterschiedlichen Strategien reagiert werden kann. Man muss
also eine Abwägung treffen. Die entscheidende Frage ist,
ob unter den Rahmenbedingungen, die wir für diese
rechtlich und ökonomisch privilegierte Energietechnik
geschaffen haben, ein Weg gegangen werden kann, der
möglichst risikofrei ist. Man kann uns nicht zum Vorwurf
machen, dass wir das versuchen. Man muss vielmehr fragen, wieso die Atomenergie in der Vergangenheit überhaupt derartig privilegiert werden konnte.
({1})
Dass ist die eigentliche Frage!
({2})
Wir bekennen uns zu der Verantwortung, die sich aus
der Politik ergibt, die damals im Bundestag von vielen getragen wurde. Man muss jedoch in diesem Zusammenhang
die Unglücksfälle erwähnen: Es gab beispielsweise den
Störfall in Harrisburg. Nur wenige Minuten haben gefehlt,
um dort einen Super-GAU auszulösen. Es gab die Katastrophe von Tschernobyl und die kontaminierten Transportbehälter. Die Entsorgungsfrage ist ungeklärt. In der Politik
ist die Schlüsselfrage, ob man lernfähig ist. Die Politik
wird immer Fehler machen. Entscheidend ist aber, dass
wir aus diesen Fehlern lernen. Darin unterscheiden sich in
der Tat die beiden Seiten dieses Hauses.
({3})
Es gibt einen weiteren zentralen Unterschied. Wir wissen heute, dass Alternativen nicht nur realisierbar, sondern auch vorteilhaft sind. In den Alternativen liegt die
Chance für eine bessere Zukunft und für das Wiedererlangen eines Konsenses in der Bevölkerung. Es besteht
nämlich schon lange kein Konsens über die Atomenergie
mehr. Konsens besteht nur unter denjenigen, in deren Interesse die Nutzung der Atomenergie liegt. Aber in der
Bevölkerung gibt es diesen Konsens nicht mehr. Das zeigt
jede Umfrage seit den 80er-Jahren. Insofern vollzieht die
Politik einen Teil der demokratischen Willensbildung in
unserem Volk, was richtig ist.
Der Ausstieg aus der Atomenergie ist für uns eine
Richtungsentscheidung, auch für den Klimaschutz.
({4})
- Wenn Sie sich tiefer gehend mit dieser Frage befassen
würden, dann wüssten Sie, dass die von Ihnen immer
wieder in die Diskussion gebrachte Alternative, nämlich
die Atomenergie durch aus Gas oder Kohle gewonnene
Energie zu ersetzen, nicht die wahre Alternative ist. Sie
entspricht vielmehr einem antiquierten Denken. Daraus
ergibt sich der Streit, den wir führen.
({5})
Es geht im Hinblick auf eine moderne Energiepolitik
um eine ganz andere Kernfrage: Unter welchen Bedingungen kann man optimal Energie sparen und optimal die
Energieeffizienz erhöhen? Wenn Sie nicht wie Frau
Homburger völlig verblendet sind, dann werden Sie zu
der Antwort kommen, dass die entscheidende Frage ist,
wie man in Zukunft möglichst hohe Wirkungsgrade erzielen kann. Hohe Wirkungsgrade sind aber mit der Atomenergie nicht zu erreichen. Die Formel „Atomenergie und
Energieeinsparung“ geht im Strombereich nicht auf. Das
ist der entscheidende Punkt, den Sie immer noch nicht begriffen haben.
({6})
Gucken Sie sich die Energiekonferenzen, die in den
letzten Jahrzehnten in der Welt stattgefunden haben, an:
Ob Cannes, ob Montreal, ob Tokio, ob Madrid, überall
wurden Szenarien mit dem Ausbau der Atomenergie
vorgelegt. Aber nicht ein einziges dieser Szenarien hat das
Klimaproblem lösen können, und zwar ganz einfach deshalb nicht, weil man an einer ineffizienten Großstruktur
festgehalten hat, die nur auf der Basis hohen Stromabsatzes und hoher Reservemargen funktioniert.
({7})
Das heißt, das ist ein System, das aus sich heraus einen hohen
Stromabsatz produziert. Genau dies ist nicht zukunftsverträglich.
({8})
Übrigens waren da die Vertreter Ihrer Partei einmal
wesentlich weiter. Ich erinnere nur daran, dass wir einmal
gemeinsam in der Enquete-Kommission festgestellt haben,
dass genau dieser Pfad das Klimaproblem nicht lösen kann,
sondern dass Energiedienstleistungen, das heißt Veränderungen der Nachfrage, die entscheidende Antwort sind,
um das Klimaproblem zu lösen. Das ist in der Tat der
Ansatz, und da ist eben die Grenze der Atomenergie.
({9})
- Energiedienstleistung ist ein feststehender Begriff.
Wenn Sie die Debatte kennten, würden Sie das nicht
sagen.
Hinzu kommt die ungelöste Entsorgungsfrage. Wir
können in dieser Frage nicht die Position vertreten: aus
den Augen, aus dem Sinn. Es wird so getan, als würde die
Bundesregierung die Frage der Entsorgung ganz leichtfertig behandeln. Nein, meine Damen und Herren, von
Anfang an war die Atomenergie wie ein Flugzeug, das
gestartet ist, ohne eine Landebahn zu haben. Das ist die
eigentliche Wahrheit bei der Atomenergie. Bis heute gibt
es kein gesichertes, verantwortbares Entsorgungskonzept.
Das ist das eigentliche Problem.
({10})
Jetzt sind wir dabei, eine Lösung zu finden, und zwar
erstens, indem wir auf die direkte Endlagerung umsteuern, und zweitens, indem wir unter klaren Kriterien
eine Endlagerstätte suchen. Es gibt auch keinen anderen
Weg. Dieser Weg ist vernünftig, zumal wir jetzt durch die
Ausstiegsszenarien wissen, wie viel Atommüll anfällt.
Auch das ist ein wichtiger Punkt, um Planungssicherheit
in dieser Frage zu erreichen. Das heißt, wir machen einen
deutlichen Schritt in Richtung auf eine verantwortbare
Lösung für das Entsorgungsproblem. Das ist gut so.
Zu sagen - dies ist in der Vergangenheit oft geschehen,
beispielsweise seitens der Bundesländer Bayern und
Baden-Württemberg -: „Wir wollen die Atomenergie,
aber mit der Entsorgungsproblematik haben wir nichts zu
tun“, ist keine verantwortbare Position. Deshalb sagen wir
auch: Den Atommüll, den wir in Deutschland produziert
haben, werden wir auch in Deutschland sichern. Deshalb
sind wir auf diesem Weg hin zu einem Endlagerkonzept.
Wir werden dafür entsprechende Lösungen finden.
({11})
Wir werden den Konsens, der in der Bevölkerung
schon lange da ist, in der Energiepolitik durchsetzen.
({12})
Der Ausstieg ist ein wesentlicher Bestandteil, aber nicht
nur er. Es geht auch um die Frage, welche Antwort wir auf
die Entwicklung auf den europäischen Strommärkten geMichael Müller ({13})
ben. Wir müssen auch eine Antwort auf die Frage finden,
wie wir in Zukunft Stromerzeugung, Beschäftigung und
Umweltschutz in der Bundesrepublik Deutschland sichern. Das heißt, wir stehen vor weitreichenden Strukturänderungen. Der Ausstieg aus der Atomenergie ist eine
Chance, diesen Prozess zu beschleunigen und ihm jetzt
eine klare Richtung zu geben. Das tun wir.
Ich beobachte mit großem Interesse, dass das M-Team
der CDU, also Frau Merkel, Herr Merz und Herr Meyer,
immer darüber redet, dass endlich die Zukunftsdebatte geführt werden muss, sich dann aber heftig über die Rolle
der CDU und über Kanzlerkandidaten streitet. Das ist
scheinbar die Zukunftsdebatte. So etwas machen wir
nicht. Wir führen eine wirkliche Zukunftsdebatte. Es wird
noch lange dauern, bis Sie dazu kommen.
({14})
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zu Tagesordnungspunkt 15 a. Hierzu
liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/5320 vor. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Stimmenthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
Weiterhin liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der F.D.P. auf Drucksache 14/5267 vor. Wer stimmt für
diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? Stimmenthaltungen? - Auch dieser Entschließungsantrag
ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen
und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P.
abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 15 b, Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zu
den Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie für den
Standort Deutschland auf Drucksache 14/4569. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3667 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 16 a und
16 b auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Organisationsreform in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ({0})
- Drucksache 14/5314 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Landwirtschaftliche Sozialversicherung zukunftsorientiert gestalten
- Drucksache 14/3774 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind die Fraktionen damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Kollegen Peter
Dreßen für die Fraktion der SPD das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Volksmund sagt: Wer bezahlt, bestimmt. - Dass diese Regel nicht immer zutrifft, beweisen
die landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger. Insgesamt finanziert der Bund in der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung über 50 Prozent aller Ausgaben.
({0})
- Herr Ronsöhr, bevor Sie schimpfen, sollten Sie erst einmal zuhören.
({1})
Im Einzelnen sind dies in der Altersversicherung
4,3 Milliarden DM bzw. 72 Prozent der Gesamtausgaben.
In der Krankenversicherung trug der Bund 1999
2,18 Milliarden DM bzw. 55 Prozent der Gesamtausgaben. In der landwirtschaftlichen Unfallversicherung gab
der Bund im Jahr 1999 550 Millionen DM bzw. 32 Prozent der Bruttoumlage aus. Auch unter Berücksichtigung
des Haushaltssanierungsgesetzes wurden im Jahre 2000
annähernd 7 Milliarden DM für die landwirtschaftliche
Sozialversicherung ausgegeben.
Angesichts dieser Situation muss ich mich schon fragen, was der Vorwurf eigentlich soll, wir würden für die
Bauern in diesem Land nichts tun. Kein anderer Berufsstand in diesem Land erhält so viele Zuschüsse zur Sozialversicherung wie die Bauern.
({2})
- Kein anderer Berufsstand erhält so viel wie die Landwirtschaft. Wenn Sie das mit der Knappschaft vergleichen
und alles, auch die Krankenversicherung und die Berufsgenossenschaft, berücksichtigen, dann kommen Sie nicht
auf diese Prozentzahl.
({3})
Michael Müller ({4})
Die Bundesregierung hat im Bundestag Rechenschaft
darüber abzulegen, dass die bewilligten Bundesmittel
zweckentsprechend, wirtschaftlich und sparsam eingesetzt werden. Zur Sparsamkeit gehört, dass die Bauernverbände über diese Kassen nicht noch zusätzlich finanziert werden, wie das in Baden-Württemberg der Fall
war. Dazu muss man feststellen: Das grenzte wirklich an
kriminelle Machenschaften. Das konnten wir so nicht
akzeptieren. Die Staatsanwaltschaft war ja damit beschäftigt. Mich hat nur gewundert, dass die Ministerin, die
eine Überprüfung dieser Vorgänge veranlasst hat, dann
auch noch entsprechend Ärger mit den Bauernverbänden
und der CDU-Fraktion bekommen hat. Ich finde, es war
notwendig, dass einmal geklärt worden ist, was da abgegangen ist.
Dennoch hat der Bund keine Möglichkeit, unwirtschaftliches Verhalten der überwiegend landesunmittelbaren LSV-Träger zu verhindern.
Ich hoffe, ich habe Ihnen hiermit deutlich gemacht,
dass mein Eingangssatz „Wer bezahlt, bestimmt“ in
diesem Fall eben nicht zutrifft. Ich stimme dem Bundesrechnungshof und dem Rechnungsprüfungsausschuss
voll zu: Eine bundesweite Kammer wäre betriebswirtschaftlich, aber auch volkswirtschaftlich gesehen am
sparsamsten und am effektivsten. Dies lässt jedoch leider - ich sage bewusst: leider - unser Föderalismus nicht
zu.
So kommen wir heute zu einer Minimallösung. Auch
wenn man schon hört, dass in der Anhörung noch Änderungswünsche von Verbänden vorgebracht werden
sollen, so hoffe ich doch, dass diese Minimallösung im
Bundesrat eine Mehrheit finden wird. Immerhin wird
nach der Reform der Bund im Jahre 2001 23 Millionen DM, im Jahre 2002 55 Millionen DM und im Jahre
2004 56 Millionen DM einsparen. Hinzu kommt, dass die
Sozialversicherungsträger im Jahre 2004 nochmals rund
59 Millionen DM einsparen werden. Gemessen an dem
Gesamtvolumen, das wir ausgeben, ist es nicht einmal
1 Prozent, was wir hier einsparen.
Aus ursprünglich 20, heute 17, werden 8 plus 1 Landessozialversicherungsträger. Hinzu kommt, dass Querschnittsaufgaben wie Beitragseinzug, EDV, Rentenauszahlung und -anpassung zentral erledigt werden sollen. Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen, fällt mir dazu nur
ein.
Diese Minimallösung wird, so hoffen wir alle, zur Verschlankung der Strukturen und zu mehr, aber nicht optimaler Wirtschaftlichkeit im Interesse der Steuerzahler
führen.
({5})
Im § 119 a SGB VII haben wir als spätesten Zeitpunkt,
zu dem die durchzuführenden Vereinigungen vorgenommen werden sollen, den 1. Januar 2003 festgelegt. Hier ist
auch ein Appell an die Selbstverwaltung formuliert, die
entsprechenden Beschlüsse zu fassen. Falls dies nicht
passiert, sind die entsprechenden Aufsichtsbehörden der
Länder gefordert. Dabei wurde Rücksicht auf die Landessozialversicherungsträger genommen, die schon jetzt
Beschlüsse gefasst haben.
Dass eine rot-grüne Bundesregierung dabei die Belange der Beschäftigten berücksichtigt, ist wohl selbstverständlich und muss eigentlich nicht erwähnt werden.
Ob allerdings die angestrebte Stärkung der Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes erreicht wird, wird
uns die Zukunft zeigen. An diesem Gesetzesvorhaben, das
ja auch noch eine Anhörung erfahren wird, wird deutlich,
dass wir uns hier in diesem Hause einmal intensiv über
den Föderalismus - darüber, wo er wirklich nachteilig
wirkt - unterhalten sollten.
({6})
Als nächster Redner hat der Kollege Max Straubinger von der
CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktionen SPD
und Bündnis 90/Die Grünen bringen heute einen Gesetzentwurf zur Reform der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger ein. Sie kommen damit einer Forderung
der CDU/CSU nach
({0})
- selbstverständlich, Frau Lemke -, welche bereits mit
Antrag vom 4. Juli 2000 Eckpunkte vorgegeben hat.
Zielsetzung dieses Gesetzentwurfes muss sein, die Kosten
in den Verwaltungen zu reduzieren und die Effizienz zu
steigern.
({1})
Wir stimmen darin überein, dass die Reduzierung
der Anzahl der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger von derzeit 20 auf nunmehr neun ein
richtiger Ansatz ist. Dies werden wir sicherlich mittragen.
Die Selbstverwaltungen haben diese Entwicklung aber
bereits aus eigenem Antrieb weit vorangetrieben. Insofern
ist die gesetzliche Grundlage vielleicht nur noch im
Nachhinein zu betrachten.
Ich hoffe auch, dass die Festlegung auf die jetzt im
Gesetzentwurf vorgesehenen Träger eine endgültige Absage der SPD an zentralistische Lösungen sein wird. Ihre
Ausführungen, Herr Kollege Dreßen, haben eigentlich
wieder gezeigt, dass die SPD nur für Zentralismus steht.
({2})
- Doch. - Diese Zentralisierung hätte aber hinsichtlich der
Versichertennähe bzw. bei der Verteilung der regionalen
Arbeitsplätze enorme Nachteile gebracht. Vor allen Dingen, Herr Kollege Dreßen: Eine zentrale Einrichtung
muss nicht unbedingt effizienter und billiger arbeiten als
eine dezentrale.
({3})
Mit dem Gesetz wird eine Verschlankung der Organisationsstrukturen, das Ausschöpfen von Wirtschaftlichkeitsreserven und - das ist meines Erachtens sehr bedeutsam - der sparsame Umgang mit den eingesetzten
Bundesmitteln angestrebt. Dies kann auch erreicht werden.
Dem hohen Anteil von Bundesmitteln soll durch eine
stärkere Einflussmöglichkeit des Bundes Rechnung getragen werden.
Die im Gesetzentwurf vorgesehene Regeldichte und
die Übertragung von Kompetenzen auf die Spitzenverbände schießen aber weit über das Ziel hinaus.
({4})
Es macht doch keinen Sinn, Herr Dreßen, durch Fusionen
größere und leistungsfähigere Einheiten zu schaffen, denen man dann aber nur noch einen Bruchteil an Kompetenzen zutraut.
({5})
Ich glaube, dass dies mit kleineren Einheiten genauso erreicht werden kann.
Zum Beispiel ist nicht einzusehen, dass, wenn sich
sämtliche LSV-Träger bereits auf ein Rechenzentrum
mit zwei Betriebszentren geeinigt haben und dies als Arbeitsgemeinschaft unter Einbeziehung der Spitzenverbände betreiben wollen, per Gesetz im letzten Moment
dem Gesamtverband der landwirtschaftlichen Alterskassen die Befugnis über die gesamte Organisation und sogar
über die Festlegung des Sitzes eines Rechenzentrums zugewiesen werden soll. Hier wird der Grundsatz, dass freiwillige Einigungen Vorrang vor gesetzgeberischen
Zwangsmaßnahmen haben sollen, schlichtweg auf den
Kopf gestellt.
({6})
Ebenso wenig ist einzusehen, warum die Spitzenverbände die erforderlichen EDV-Verfahren und -Programme für ihre Mitglieder ausschließlich selbst entwickeln sollen. Der bestehende IT-Kooperationsvertrag
der LSV-Träger würde damit vollends unterlaufen, und
zwar mit einer unnütz scharfen Bestimmung, die noch
dazu zur Erreichung des angestrebten Ziels völlig ungeeignet ist. Aus gutem Grund werden die EDV-Entwicklungsaufgaben - man höre und staune - auch bei den anderen gesetzlichen Rentenversicherungen dezentral
erledigt. Ich sehe also keinen Grund, warum der Gesetzgeber eine Zentralisierung vorschreiben sollte.
({7})
- Das machen die ja auf freiwilliger Basis. Das muss aber
nicht vom Gesetzgeber vorgeschrieben werden.
Bei der Durchführung von Rückforderungen bringt
eine Konzentration dieser Aufgaben auf die Spitzenverbände ebenfalls keine Verbesserungen, sondern eine massive Verschlechterung. Vor Ort, bei den einzelnen Trägern, ist nämlich das Detailwissen für den Einzelfall
vorhanden, aus dem sich Ansatzpunkte für eine erfolgreiche Rückforderung ergeben. Vom weit entfernten „grünen
Tisch“ dagegen ist nichts zu erreichen.
({8})
Nachdem ursprünglich vorgesehen war, die Verteilung
auf die einzelnen Reha-Einrichtungen in ganz Deutschland zentral zu steuern, wodurch die sozialistische Planwirtschaft fröhliche Urständ gefeiert hätte
({9})
- ja, so ist es -, soll nun eine gemeinsame Einrichtung betrieben werden, um die Verteilung auf die Reha-Einrichtungen zu koordinieren. Unseres Erachtens reicht es jedoch aus, wenn in einem Informationspool, für alle Träger
zugänglich, alle Daten angeboten werden und die Träger
durch die Belegung von Teilen dieses Angebotes dies für
die erforderliche Zeit für sich reservieren können.
Folgendes wäre modellhaft für das gesamte Gesetz:
Mit dem gesetzlichen Rahmen werden nur die zu erreichenden Ziele festgelegt. Durch zentrale Bereitstellung
von Information wird der Weg dorthin erleichtert. Ansonsten entscheiden die Selbstverwaltungen nach ihren
speziellen Gegebenheiten, wie sie die Arbeit optimieren
und das Ziel möglichst günstig erreichen können.
Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen bis
ins letzte Detail reduzieren dagegen nicht nur die Effektivität, sondern auch die Gültigkeitsdauer des Gesetzes, das
wegen vieler Details sicherlich bald wieder nachgebessert
werden müsste. Dies ist aber auch im Sinne einer von SPD
und Grünen getragenen Bundesregierung.
Schlichtweg unrealistisch erscheinen die im Gesetzentwurf vorgesehenen Einsparungen bei den Verwaltungskosten in den Jahren 2002 und 2003. Bereits der jetzige
Ansatz hat sich bundesweit als zu gering herausgestellt.
Wenn nun für Umorganisationen Investitionen getätigt
werden müssen, entstehen daraus erfahrungsgemäß anfangs Mehrkosten und keine Einsparungen. Es ist daher
völlig abwegig, bereits für die kommenden zwei Jahre
weitere Budgetkürzungen festzulegen, die keinesfalls einzuhalten sind. Oder will man damit die Unfähigkeit der
LSV-Träger zum Sparen beweisen, um über diese Hintertür doch noch eine zentralistische Lösung zu erreichen?
Auch dies ist hier meines Erachtens zu bedenken.
Herr Dreßen, Sie haben ausgeführt, dass hier seitens
des Bundes großartige Leistungen getätigt würden. Ich
möchte Sie aber schon darauf hinweisen, dass die rotgrüne Bundesregierung gerade im Agrarsozialetat ständig
gekürzt hat: zwischen 1999 und 2000 um über 400 Millionen DM. Dies kann nicht im Sinne unserer Landwirtschaft sein.
({10})
Insgesamt können daher im Gesetzentwurf Ansätze für
eine sinnvolle Organisationsstruktur gesehen werden,
aber bei den genannten Punkten müssen noch wesentliche
Nachbesserungen bei den Beratungen erreicht werden.
Wir werden bei den Ausschussberatungen auf diese
Punkte detailliert eingehen.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Steffi Lemke,
Bündnis 90/Die Grünen.
Werter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Straubinger, warum Sie mich zu Beginn Ihrer Rede zum
Lächeln oder Lachen gebracht haben, lag daran, dass wir
bereits in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben,
eine solche Strukturreform durchzuführen. Wir haben
also nicht auf Ihren Antrag gewartet, sondern das stand
schon in unserer Koalitionsvereinbarung.
({0})
Bis dahin waren Sie ja noch verantwortlich und das
Problem bestand darin, dass Sie 1995 eine Sachreform in
der Sozialversicherung durchgeführt, aber die Strukturreform ausgesessen haben, weil es sich zugegebenermaßen um ein hochkontroverses, strittiges Thema handelt, bei dem Standort- und Mitarbeiterbelange betroffen
sind
({1})
und bei dem sich in den letzten Jahren schlicht und einfach ein System herausgebildet hat, das nicht mehr zeitgemäß gewesen ist.
Ich möchte das noch einmal vor Augen führen: Es gab
20 regionale Versicherungsträger, die sich in die Bereiche
Unfall- und Krankenversicherung und Alterssicherung
aufgespalten haben.
({2})
Das hat in der Summe jährlich 600 Millionen DM an Verwaltungskosten verursacht.
Wenn man relativ starke Beitragssätze hat und im Berufsstand Unmut über die Beitragszahlung herrscht, dann
ist der Gesetzgeber in der Verantwortung, ein System zu
entwickeln, mit dem er erstens das eigenständige Versicherungssystem der Landwirte aufrechterhalten kann, weil
es auf die spezifischen Belange der Landwirtschaft besser
als ein anderes System eingeht, und mit dem er zweitens
alles tun kann, was zu tun ist - ich appelliere an die Länder, sich hier ebenfalls in den Verhandlungen über den Gesetzentwurf zu engagieren -, um das, was an Verwaltungsaufwand notwendig ist, so gering und so kosteneffizient
wie möglich zu halten. Das sind unsere Leitlinien für eine
solche Strukturreform gewesen.
Schauen wir uns die Zahlen an: Von 1996 bis 2007 werden wir selbst im besten Fall eine Abnahme der Anzahl
der Versicherten um 37 Prozent haben. Da kann man doch
nicht allen Ernstes behaupten, dass man bei den Versicherungsträgern auf dem gleichen Niveau wie vorher bleiben
kann.
({3})
Das heißt, wir haben diese Sache angefasst, wohlwissend,
dass das schwierige Verhandlungen mit den Ländern mit
sich bringen wird. Wir sind den Ländern mit unserem Gesetzentwurf sehr weit entgegengekommen und haben den
Gesetzentwurf an den Zielen soziale Flankierung des
Strukturwandels, Abmilderung regional unterschiedlicher
Wettbewerbsbedingungen, Stabilisierung der landwirtschaftlichen Einkommen und effiziente Kostenstruktur in
der Verwaltung ausgerichtet.
({4})
Wir werden die Funktion der landwirtschaftlichen Sozialversicherung mit unserem Gesetzentwurf stärken, damit sie zukunftsfähig ist und von den Versicherten auch
wirklich als ihre Versicherung akzeptiert wird. Dazu
gehört auch, dass die Verwaltungskosten auf einem vernünftigen Niveau sind.
Die Anzahl der Träger wird um mehr als die Hälfte reduziert werden. Zentrale Aufgaben werden bei den Bundesverbänden der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften und der landwirtschaftlichen Krankenkassen
sowie beim Gesamtverband der landwirtschaftlichen Alterskassen gebündelt. Darüber hinaus wird ein gemeinsames Rechenzentrum für alle landwirtschaftlichen Versicherungsträger geschaffen.
Das wird ein schwieriger Prozess. Mir ist dabei insbesondere wichtig, dass wir auf die Belange der Beschäftigten in diesem Umstrukturierungsprozess Rücksicht nehmen. Deshalb wird sich der Prozess auch über mehrere
Jahre hinziehen.
Heute schon werden 57 Prozent der Gesamtkosten, die
in diesem System anfallen, von der öffentlichen Hand
übernommen. Deshalb hat der Bund nicht nur das Recht,
bei der Mittelverwendung mitzureden, sondern er steht
auch in der Pflicht, das zu tun; denn Missstände hat es dort
in der Vergangenheit mit Sicherheit gegeben.
Ich glaube, dass eine halbherzige Reform nach dem in
den Diskussionen der letzten Zeit teilweise vertretenen
Motto, dies alles dem Selbstlauf und den Trägern zu überlassen, sich nicht einzumischen, sondern darauf zu setzen,
dass die Träger die Reform vollkommen uneigennützig
allein bewerkstelligen werden, nichts genützt und letztendlich den Bestand einer eigenständigen Versicherung
für die Landwirte gefährdet hätte.
Deshalb lade ich dazu ein, die Beratungen im Ausschuss konstruktiv anzugehen. Insbesondere aber, Herr
Straubinger, sollten Sie sich dafür einsetzen, dass sich
auch Bayern weiterhin sehr konstruktiv in diesen Prozess
einbringt.
({5})
Das gilt im Übrigen auch für alle anderen Bundesländer.
Denn nur dann werden wir die landwirtschaftliche Sozialversicherung gemeinsam im Interesse der Versicherten
aufrechterhalten können.
({6})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Marita Sehn von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ehrlich gestehen: Diesen
Punkt würde ich gerne mit Herrn Funke diskutieren.
Wahrscheinlich war sein mangelndes Vertrauen in die
landwirtschaftlichen Sozialversicherungen mit ein Grund
dafür, dass er doch eine Karriere als Minister vorgezogen
hat. Zumindest über seine Altersvorsorge müssen wir uns
wohl keine Sorgen mehr machen.
({0})
Aber mal abgesehen von unserem ehemaligen Landwirtschaftsminister: Die landwirtschaftlichen Sozialversicherungen sind den gleichen gesellschaftlichen Entwicklungen
unterworfen wie die allgemeinen Sozialversicherungen,
Herr Dreßen. Die Zahl der Beitragszahler sinkt, während die
Zahl der Beitragsempfänger steigt. Die Brisanz wird allerdings in der Landwirtschaft zusätzlich durch den Strukturwandel verschärft.
Berücksichtigt man die veränderten Verhältnisse, so ist
unstrittig: Reformen sind notwendig. Eine konsequente
Reform zieht die veränderten Rahmenbedingungen in Betracht und garantiert die Zukunftssicherheit des Systems.
Die F.D.P. unterstützt die Forderung nach Kostensenkungen und effizienteren Strukturen in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung.
({1})
Ebenso befürworten wir den Wunsch des Bundes nach einem verstärkten Mitspracherecht bei den Haushaltsplänen
der Sozialversicherungsträger.
({2})
Es ist erfreulich, dass sich auch die Bundesregierung
von ihrer Forderung nach einer zentralen Bundesversicherungsanstalt verabschiedet hat.
({3})
Noch vor einem Jahr haben rot-grüne Politiker gemeinsam eine zentrale Organisation der landwirtschaftlichen
Sozialversicherung gefordert. Das hilflose Agieren der
Bundesregierung um die Einführung einer einheitlichen
Bundesversicherungsanstalt war meiner Meinung nach
peinlich. Das Ganze erinnerte an einen Politiktango: Da
werden zunächst zwei Schritte nach vorne gemacht, dann
kommen ein Wechselschritt und eine leichte Drehung und
dann geht es schleunigst wieder einen Schritt zurück.
({4})
- Das wird so getanzt, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr. - Dies
alles war nicht dazu angetan, das Vertrauen der Versicherten in die Sozialversicherung zu stärken.
({5})
Meine Damen und Herren, mit der Reform der Struktur der landwirtschaftlichen Sozialversicherungen ist erst
ein kleiner Schritt getan. Über die Notwendigkeit von
Strukturanpassungen sind wir uns weitgehend einig. Ich
sehe allerdings noch erheblichen Diskussions- und Klärungsbedarf, was die Durchführung weiterer Einsparungsmaßnahmen anbetrifft. Eine willkürliche und unkoordinierte Kürzung von Leistungen wird es mit der
F.D.P. nicht geben.
({6})
- Herr Herzog, wir werden Vorschläge machen.
Ich hoffe, dass wir im Mai bei der Anhörung gemeinsam mit den Vertretern des Berufsstandes ein Modell für
eine zukunftsfähige landwirtschaftliche Sozialversicherung entwickeln können.
Die F.D.P. hat bereits konkrete Vorstellungen, wie ein
möglicher Lösungsansatz aussehen könnte. Wir möchten,
dass sich die Regierung zu ihrer Verantwortung gegenüber den Bäuerinnen und Bauern bekennt.
({7})
Deshalb muss sie den landwirtschaftlichen Sozialversicherungen einen Neuanfang ermöglichen, Herr Dreßen.
Konkret heißt dies für uns:
Die aufgelaufenen Leistungsansprüche gegenüber den
Versicherungsträgern, die manchmal auch unsensibel als
„alte Lasten“ bezeichnet werden, muss der Staat übernehmen.
Um in Zukunft der Entstehung neuer „alter Lasten“
vorzubeugen, muss das System zumindest teilweise auf
das Kapitaldeckungsverfahren umgestellt werden.
({8})
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, wie wichtig gerade eine gesicherte Altersvorsorge für die Bevölkerung im ländlichen Raum ist. Die Sozialversicherungen
hatten und haben immer auch agrarpolitische Zielsetzungen zu berücksichtigen. Ein in sich schlüssiges Konzept
für eine zukunftsfähige landwirtschaftliche Sozialversicherung wäre ein Signal an die ländliche Bevölkerung.
Die F.D.P. bekennt sich klar und eindeutig zu einer starken und selbstbewussten deutschen Landwirtschaft.
({9})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Kersten Naumann von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen
von Rot-Grün, wir stimmen mit Ihnen darin überein, dass
die landwirtschaftliche Sozialversicherung reformiert
werden muss. Aber ob der vorliegende Gesetzentwurf
tatsächlich schon das sprichwörtliche „Gelbe vom Ei“ ist,
bezweifle ich.
Worum geht es? Es geht erstens um Geldverschwendung durch unwirtschaftliche Strukturen.
({0})
Man muss handeln, wenn der Bundesrechnungshof prognostiziert, dass durch eine Organisationsreform jährlich
mindestens 100 Millionen DM eingespart werden könnten. Dies wären immerhin rund 17 Prozent der Verwaltungs- und Verfahrenskosten der landwirtschaftlichen Sozialversicherung.
Zweitens besteht Handlungsbedarf allein schon wegen des ungebremsten Strukturwandels, der dazu führt,
dass sich die Schere zwischen Leistungsempfängern und
Beitragszahlern immer weiter öffnet.
Laut jüngstem Agrarbericht ging die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe im Jahr 2000 um weitere rund
13 000 Betriebe - das sind 3 Prozent - zurück. Bis zum
Jahre 2010 soll sich die Zahl der Betriebe halbieren.
Selbst wenn es zum Beispiel durch die Ausweitung des
Ökolandbaus gelingt, neue Arbeitsplätze zu schaffen,
bleibt auf jeden Fall die Tendenz der insgesamt weniger
werdenden Beitragszahler.
Ihr Entwurf, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, gibt keine Antwort auf wesentliche Fragen wie zum Beispiel die Frage: Wie werden sich die
Einsparungen, Bundeszuschüsse und Beiträge für die
nächsten Jahre voraussichtlich gestalten? Hierzu erwarte
ich bald ein Begleitdokument.
({1})
In der Gesetzesbegründung wird ein Einsparvolumen
in Höhe von 116 Millionen DM für das Jahr 2004 ausgewiesen. Das entspricht in etwa dem vom Bundesrechnungshof genannten Betrag. Allerdings gibt es einen Unterschied: Während der Bundesrechnungshof sein
Einsparvolumen untersetzt, fehlt in der Vorlage jede
Quantifizierung. Ich möchte schon wissen, wie sich die
116 Millionen DM zusammensetzen. Immerhin waren
von den 100 Millionen DM des Bundesrechnungshofes
84 Millionen DM Personalkosten. Wie viel soll es hier
sein? Die Aussage, dass dieses Modell auch sozialverträgliche Personalmaßnahmen ermögliche, reicht mir
und denjenigen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, nicht.
({2})
Erläutern Sie mir auch die Aussage, dass „jede Nutzung von Einsparmöglichkeiten unmittelbar die Höhe der
Bundesmittel verringert“!
Mir geht es darum, dass Einsparungen in einem vernünftigen Verhältnis sowohl dem Bund als auch den Versicherungsträgern und damit letztendlich den Landwirten
zugute kommen. Sollte nur der Bund profitieren, wäre das
ein eklatanter Konstruktionsfehler.
({3})
Die Versicherungsträger müssen einen Anreiz zum Sparen
haben. Inwieweit das der Fall sein soll, ist anhand des vorliegenden Textes nicht erkennbar.
Wichtig ist auch, dass ein gesundes Verhältnis zwischen Aufgabenbündelung und Zentralisierung einerseits sowie der Nutzung der Möglichkeit einer dezentralen Aufgabenerledigung andererseits gefunden wird, zum
Beispiel beim Beitragseinzug.
Klärungsbedarf sehe ich ebenfalls bei der Frage, ob
bzw. wie sich Aufgabenbündelung und Zentralisierung
auf die rund 280 Verwaltungsstellen der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger auswirken werden. Letztendlich darf die Zentralisierung nicht dazu führen, dass
die ortsnahe Beratung wegfällt oder unzumutbar eingeschränkt wird.
({4})
Allein diese wenigen Punkte zeigen, dass es erforderlich ist, den Gesetzentwurf in den nächsten Wochen
gründlich und unter Einbeziehung der Betroffenen zu prüfen. Die PDS wird dies auf jeden Fall tun.
({5})
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich würde hier
gerne auf viele Fragen antworten, aber die Redezeit ist zu
kurz. Darum gehe ich nur auf einiges ein.
Herr Straubinger, gut aufgepasst! Wenn Sie jetzt zuhören, können Sie noch einiges nicht nur zur Kompetenzverteilung auf die Bundesverbände, sondern auch in Bezug auf das Rechenzentrum lernen.
({0})
Frau Sehn, ich glaube nicht, dass die Bemühungen für
ein Bundesmodell peinlich gewesen sind. Ich bin vor
circa einem Jahr eine der Verfechterinnen dieses Modells
gewesen und glaube, dass es genau aus diesem Grund innerhalb der Länder und Träger zu Bewegungen gekommen ist. Ich glaube, auch Sie wissen das.
Mein Fraktionsvorsitzender Peter Struck predigt immer das strucksche Gesetz. Es bedeutet: Niemals kommt
ein Gesetzentwurf so aus dem Bundestag heraus, wie er
hineingekommen ist. Das heißt, es ist eine intensive Beratung gefragt. Das sage ich auch in Richtung der PDS.
Ich habe vor einem Jahr hier vorne gestanden und gesagt: Heißes Eisen auf der einen Seite, Mauern und Blockaden auf der anderen Seite. Ich glaube, daran hat sich
nichts geändert. Damals habe ich geglaubt, wir seien
schon in der Umsetzungsphase. Doch jetzt bringen wir einen Gesetzentwurf ein, der von unserer Seite durch große
Kompromissbereitschaft gekennzeichnet ist.
In der Zwischenzeit gab es bei den Trägern, den Gewerkschaften und auch innerhalb einiger Landesregierungen viel Bewegung. Diese haben entschieden dazu beigetragen, dass es zu freiwilligen Fusionen kam.
({1})
Das ist positiv zu sehen. Dennoch will ich nicht verhehlen, dass ich glaube, dass wir immer noch zu kurz springen. Das föderale System bleibt nun erhalten. Das haben
die Länder so gewünscht. Wir sind diesen Schritt mitgegangen. Aber wir haben unserer Arbeit die Kriterien des
Bundesrechnungshofes zugrunde gelegt. Diese sind
schon mehrfach von Frau Lemke und auch von Herrn
Dreßen angesprochen worden.
Ich will deshalb nur auf drei Dinge eingehen, nämlich
auf die Notwendigkeit der Reform, auf das Einsparpotenzial und damit die Stärkung des Bundeseinflusses sowie
auf die einheitliche Rechtsanwendung.
Zum ersten Punkt: Niemand stellt diese Reform in Abrede. Es ging in den harten Kämpfen nur um die Kompetenzverteilung. Ganz Deutschland blickte lange auf Niedersachsen. Dort gab es nämlich Vorreiter, die eine
kurzfristige Fusion von Hannover, Braunschweig und Oldenburg ermöglicht hätten. Ich spreche an dieser Stelle
bewusst von „hätten“; denn als wir unseren Referentenentwurf präsentiert haben, der als endgültiges Datum den
1. Januar 2003 vorschrieb, lehnten sich die kleinen Sozialversicherungsträger wieder bequem zurück, weil sie
noch genügend Zeit sahen. Im Interesse der Versicherten
und der Steuerzahler war dies völlig unverantwortlich.
Aber dies ist kein Einzelfall. Bayern erscheint im Moment sehr fortschrittlich, Herr Straubinger.
({2})
Aber über kurz oder lang werden auch Sie nicht umhinkommen, einen gemeinsamen Träger für Bayern zu installieren. Zudem gibt es noch den kleinen Träger in Sachsen, der einmal zu Berlin gehörte. Viel Zeit für eine
freiwillige Fusion bleibt nicht mehr. Auch der Träger des
Saarlandes sollte sich dies einmal zu Herzen nehmen. Es
gab in Deutschland immer wieder Bewegung, aber stets
nur auf unseren Druck hin. Von dieser Stelle fordere ich
die Landesregierungen noch einmal auf, ihrer Verantwortung nachzukommen.
Zur Stärkung des Bundeseinflusses und zum Einsparpotenzial: Ein wichtiger Bestandteil ist der Bereich der
EDV. Zurzeit bestehen sechs Rechenzentren, die
470 000 Versicherte verwalten.
({3})
Über diese Zahlen sollte man besser nicht lange nachdenken. In anderen Systemen sieht es anders aus. Unser Ziel
ist ein Rechenzentrum für ganz Deutschland, das beim
Bundesverband beheimatet ist.
({4})
Jeder Insider weiß, dass hier große Einsparpotenziale liegen.
Warum soll das Rechenzentrum beim Bundesverband
angesiedelt werden? Die Antwort ist ganz einfach: Die
Praxis der Vergangenheit hat eine deutliche Sprache gesprochen. Der Bund muss bei der Defizithaftung in der
Alterskasse über 70 Prozent der Kosten übernehmen. Die
einzelnen Träger haben es in der Praxis oft so gemacht,
dass sie die Mittel zur Rentenauszahlung oft Tage früher
als notwendig abgerufen haben. Dadurch sind dem Bund
an dieser Stelle riesige Kosten entstanden. Selbst mit den
Richtlinien, die vom Bund daraufhin erlassen wurden,
konnte man dem nicht abhelfen.
Genauso sieht es mit dem Beitragseinzug im Bereich
der Alterskasse aus; das ist der zweite triftige Grund. Hier
haben wir aus dem Jahre 1999 noch immer Rückstände
von 102,5 Millionen DM zu verzeichnen. Man kann zwar
sagen, dass die Defizithaftung des Bundes nicht das eigene Geld kostet, aber erklären Sie das einmal dem Steuerzahler. - Mit einem einzigen Rechenzentrum sind wir
auf dem richtigen Weg.
Ich habe vorhin erklärt, dass ich Verfechterin eines
Bundesmodells war. Aber auch ich bin lernfähig. Wir haben im Laufe des Prozesses versucht, gemeinsam mit den
Ländern einen Weg zu finden, um diesen Gesetzesvorschlag heute dem Parlament zu unterbreiten.
Zur Rechtsanwendung möchte ich noch sagen, dass
ich damit ein großes Problem habe. In Art. 3 § 58 b des
Entwurfs werden die zu erlassenden Richtlinien mit geregelt. Es wird von Musterrichtlinien gesprochen, die vom
Bundesverband erarbeitet werden können. Ich glaube,
dass wir an dieser Stelle noch Hausaufgaben zu machen
haben. Denn wenn wir eine einheitliche Rechtsanwendung innerhalb aller Träger für alle Versicherten erreichen
wollen, dürfen wir - wie in anderen sozialen Sicherungssystemen auch - nicht nur von Musterrichtlinien sprechen, vielmehr muss der Bundesverband die Möglichkeit
haben, Richtlinien für die Träger zu erlassen.
({5})
- Genau das habe ich gesagt, aber wenn man dazwischenspricht, kann man natürlich nicht zuhören.
Ich möchte noch etwas zum Zeitplan sagen: Wir wollen, dass der Gesetzentwurf den Bundestag im Juni dieses
Jahres in zweiter und dritter Lesung passiert. Wir laden
Sie ein mitzumachen. Wir möchten, dass dieses Gesetz
zum 1. August 2001 in Kraft treten kann.
({6})
Der Gesetzentwurf berücksichtigt sehr viele Kompromisse und ich hoffe, dass die Länder dem Entwurf zustimmen.
Waltraud Wolff ({7})
Vielen Dank.
({8})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5314 und 14/3774 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Evelyn Kenzler, Monika Balt, Dr. Dietmar
Bartsch, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Grundgesetzes ({0})
- Drucksache 14/5127 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
sechs Minuten erhalten soll. ({2})
Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind über die fortdauernden rechtsextremistischen Umtriebe in unserem
Land schockiert. Was kann, ja, was muss der Gesetzgeber
dagegen tun?
Wir beantragen beim Bundesverfassungsgericht das
Verbot der NPD. Die Mehrheit des Bundestages wird
demnächst über einen Antrag „Gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt“
beschließen. Einverstanden. Aber reicht das aus?
Wir sind uns wohl darin einig, dass wesentlich mehr
getan werden muss - sowohl mit breit angelegten gesellschaftlichen Gegenkonzepten als auch in der politischen
Auseinandersetzung -, um die braune Gefahr zu stoppen.
Auf rechtlichem Gebiet wird der Ruf nach Strafverschärfung lauter. Manche raten auch, wir sollten das Versammlungsrecht generell einschränken. Ich halte das nicht für
einen Erfolg versprechenden Weg, sondern sehe darin
eher eine Gefährdung verfassungsrechtlich verbürgter
Grundrechte.
({0})
Wir sollten deshalb mit solchen Maßnahmen vorsichtig
sein.
Wir schlagen auf der Ebene der Verfassung einen anderen Weg vor. Der 20. Bundeskongress der Gewerkschaft der Polizei hat 1994 in einer Resolution gefordert,
dass das Grundgesetz dahin gehend ergänzt wird, dass
nicht nur wie bisher gegen das friedliche Zusammenleben
der Völker gerichtete Handlungen nach Art. 26 Grundgesetz, sondern auch Bestrebungen zur Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankengutes für verfassungswidrig erklärt werden. Diese Forderung greifen wir mit
unserem Antrag auf.
({1})
Wir schlagen vor, in Art. 26 Grundgesetz der Ächtung
des Angriffskrieges die Ächtung des Faschismus hinzuzufügen.
({2})
Der Schwur von Buchenwald lautete bekanntlich: Nie
wieder Krieg, nie wieder Faschismus! - Unser Vorschlag
würde bewirken, dass auch der zweite Teil dieses
Schwurs, ebenso wie der erste, Eingang in die Verfassung
findet.
({3})
Alfred Dietel, einer der Autoren der Resolution der Polizeigewerkschaft, hat in der Februar-Ausgabe der Zeitschrift der Polizeigewerkschaft geschrieben:
Es wäre an der Zeit, den Kongressbeschluss neu in
die parlamentarische und die öffentliche Diskussion
zu bringen, was nicht ganz leicht ist.
Lassen Sie uns gemeinsam diese Befürchtung Alfred
Dietels widerlegen und überlegen, wie auch auf der Ebene
der Verfassung die notwendigen Weichen gestellt werden
können. Wir haben einen Vorschlag unterbreitet, sind aber
auch für andere sachgerechte Vorschläge jederzeit offen.
Die Annahme unseres Vorschlags hätte zweifellos auch
einen hohen Symbolgehalt. Wir betrachten ihn natürlich
nicht als ein Allheilmittel. Aber eine antifaschistische
Klausel im Grundgesetz wäre ein Zeichen auch gegenüber dem Ausland, dass das vereinigte Deutschland seine
politisch-moralische und juristische Verpflichtung ernst
nimmt, für die Unwiederholbarkeit der Verbrechen des
deutschen Faschismus Sorge zu tragen.
({4})
Eine solche Klausel, wie wir sie vorschlagen, wäre auch
ein Signal in unsere Gesellschaft hinein und an die zuständigen Behörden, Widerstand gegen neofaschistische
Umtriebe in noch stärkerem Maße als bisher zu leisten,
weil damit die Verfassung verteidigt würde.
Die Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankenguts für verfassungswidrig zu erklären entspricht
dem antifaschistischen Impetus des Grundgesetzes. Das
gilt vor allem für die Grundrechte, insbesondere für Art. 1
des Grundgesetzes, der bekanntermaßen die Würde des
Menschen für unantastbar erklärt und alle Staatsgewalt
verpflichtet, die Menschenwürde nicht nur zu achten, sondern auch zu schützen. Mit einer antifaschistischen Klausel im Grundgesetz würde klargestellt, dass die Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankenguts eine
Waltraud Wolff ({5})
schwer wiegende Verletzung der Menschenwürde darstellt.
({6})
Sie hätte aber auch eine praktische Bedeutung. Die
Verfassungswidrigkeit von Handlungen, die darauf abzielen, nationalsozialistisches Gedankengut wiederzubeleben, wäre unmittelbar geltendes Verfassungsrecht. Damit
wäre das Dilemma beseitigt, dass sich Neonazis bei ihren
Umtrieben auf die Grundrechte berufen und die Polizei
sie auch noch schützen muss. Die zuständigen Behörden
könnten Demonstrationen mit neofaschistischer Zielstellung mit größerer Aussicht auf Erfolg untersagen.
({7})
Die Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankenguts wäre dann eindeutig keine von den Grundrechten gedeckte Betätigung mehr.
Da Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes das Gebot enthält,
solche Handlungen unter Strafe zu stellen, die geeignet
sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, wird man
natürlich auch prüfen müssen, ob die geltenden Strafbestimmungen in allen Punkten ausreichen. Gegebenenfalls
müssen dezidierte Anpassungen in diese Richtung vorgenommen werden, jedoch keine generellen Strafverschärfungen. Die PDS-Fraktion hat zum Beispiel den Vorschlag in den Bundestag eingebracht, die Verherrlichung
verbotener nationalsozialistischer Organisationen durch
Änderung des Strafgesetzbuches unter Strafe zu stellen.
({8})
Sicherlich hätte eine antifaschistische Klausel schon
früher in das Grundgesetz aufgenommen werden müssen;
denn die neonazistische Gefahr ist ja keinesfalls neu. Im
Verlauf der letzten zehn Jahre, seit der deutschen Einheit,
ist jedoch eine neue Situation entstanden. Rechtsextremistische Bestrebungen haben ein solches Ausmaß und
eine solche Intensität erreicht, dass sie eine ernsthafte Gefahr für die Verfassungsordnung unseres Landes darstellen. Es ist deshalb höchste Zeit, ein deutliches Zeichen zu
setzen, auch in unserem Grundgesetz. Jetzt haben wir die
Möglichkeit.
({9})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Erika Simm
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gesetze, zumal die Verfassung, sollte
man nur ändern, wenn dafür eine Notwendigkeit besteht.
({0})
Ich sehe keine Notwendigkeit, Art. 26 des Grundgesetzes
zu ändern, wie es im Antrag der PDS vorgeschlagen wird.
({1})
Im Gegenteil: Die ausführliche Begründung des Antrages,
in dem die geltende Verfassungs- und Rechtslage zutreffend dargestellt wird, beweist in meinen Augen, dass wir
keine Grundgesetzänderung brauchen, weil sowohl unsere Verfassung als auch die allgemeinen Gesetze ausreichen, um rechtsextremistische Tendenzen in unserer
Gesellschaft wirkungsvoll zu bekämpfen.
({2})
- Daran werden Sie auch mit einer symbolischen Gesetzgebung nichts ändern.
Zu Recht wird in der Begründung des PDS-Antrages
darauf hingewiesen, dass unser Grundgesetz von einer antifaschistischen Tendenz geprägt sei, mehr noch: Es verkörpert geradezu die Abkehr vom Nationalsozialismus.
Alle Überlegungen und Bemühungen der Verfasser des
Grundgesetzes waren darauf gerichtet, jeden Ansatz eines
Wiederauflebens totalitärer Bestrebungen im Keim zu ersticken. Deswegen wurde gleich an den Anfang des
Grundgesetzes ein umfassender Grundrechtsteil gestellt,
der weitgehend die Grundrechte des Bürgers gegenüber
dem Staat normiert, die als subjektive Rechte ausgestaltet
sind und mithilfe eines starken Verfassungsgerichtes auch
durchgesetzt werden können.
Das dahinter stehende Menschenbild unterscheidet
sich fundamental vom Menschenbild des Nationalsozialismus. Beispielhaft sei nur Art. 3, der Gleichheitsgrundsatz, genannt, der von der Gleichheit aller Menschen ausgeht und damit im Widerspruch zur nationalsozialistischen Rassenlehre steht.
Durch Art. 79 Abs. 3 werden zudem wesentliche Verfassungsnormen, so die Grundrechte, aber zum Beispiel
auch die föderale Verfassung unseres Staatswesens, für
unabänderbar erklärt. Diese sogar dem Gesetzgeber auferlegte Beschränkung ist natürlich aus den schmerzlichen
Erfahrungen zu erklären, welche die Väter und Mütter des
Grundgesetzes mit Hitlers Ermächtigungsgesetz von
1933 gemacht haben.
Darüber hinaus enthält das Grundgesetz eine Reihe
von Normen, die den unmittelbaren Zweck haben, verfassungsfeindliche Bestrebungen abzuwehren, die unsere
freiheitliche, demokratische Rechts- und Gesellschaftsordnung gefährden könnten. Ich verweise auf die Art. 9
und 21, die das Verbot verfassungsfeindlicher Vereinigungen und Parteien ermöglichen, auf Art. 18, wonach die
Grundrechte verwirkt, wer diese zum Kampf gegen die
freiheitlich-demokratische Grundordnung missbraucht,
und auf Art. 26, der die Bundesrepublik verpflichtet, mit
den anderen Völkern friedlich zusammenzuleben.
Flankiert werden diese Festlegungen in der Verfassung
durch eine Vielzahl einfachgesetzlicher Regelungen,
insbesondere auch Strafnormen, die verfassungswidriges
Verhalten sanktionieren. Nur beispielhaft seien genannt:
§ 80 StGB, wonach die Vorbereitung eines Angriffskrieges mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden kann.
Das ist die Umsetzung des Art. 26 Grundgesetz. Nach den
§§ 81 bis 83 StGB werden Taten bestraft, die sich gegen
den Bestand der Bundesrepublik und unsere verfassungsmäßige Ordnung richten. § 84 StGB stellt das Fortführen
einer verfassungswidrigen Partei, § 85 StGB den Verstoß
gegen ein Vereinigungsverbot unter Strafe. Nach § 86
StGB ist die Verbreitung von Propagandamaterial einer
verfassungswidrigen Organisation, nach § 86 a StGB die
Verwendung von Kennzeichen solcher Organisationen
mit Strafe bedroht. Nach § 130 Abs. 3 StGB sind die
Leugnung und Verharmlosung des Holocaust strafbar.
Nicht nur die zuletzt genannte Strafvorschrift, sondern
auch die anderen einschlägigen Tatbestände erfassen
ebenso Handlungen, denen eine rechtsextremistische, auf
nationalsozialistischem Gedankengut basierende Motivation zugrunde liegt.
Frau Kollegin Simm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ja, bitte.
Bitte,
Herr Seifert.
Frau Kollegin Simm, Sie zählen
gerade auf, was alles laut Grundgesetz schon verboten ist.
Unser Antrag zielt doch aber auf eine Anerkennung der
antifaschistischen Tradition dieses Deutschland ab
({0})
und will erreichen, dass wir Antifaschismus als etwas Positives sehen. Unabhängig davon, dass es kein Schaden
wäre, wenn eine solche Bestimmung zusätzlich aufgenommen würde, frage ich Sie, ob Sie es nicht als positiven Aspekt sähen, wenn das Grundgesetz eine antifaschistische Klausel enthielte und festlegte, dass es verfassungswidrig ist, sich faschistisch zu betätigen. Das ist
momentan nicht gegeben; Ihre Aufzählung enthält ja doch
etwas anderes.
Ich bin der Meinung - ich denke,
das ausgeführt zu haben -, dass das Grundgesetz als
Ganzes eindeutig antifaschistisch ist - das schreiben Sie
im Übrigen in der Begründung Ihres eigenen Antrags und dass es einer solchen Klarstellung im Detail nicht bedarf. Im Gegenteil, eine solche Klarstellung im Detail
könnte möglicherweise den Schluss nahe legen, das
Grundgesetz sei in seiner Grundposition nicht so eindeutig gegen den Faschismus gerichtet.
({0})
Ich halte auch nichts von symbolischer Gesetzgebung. Ich
vermisse beispielsweise Ihre konkreten Vorschläge, im
Bereich der einfachgesetzlichen Regelungen, weil Sie das
ja auch ausdrücklich strafbewehren wollen.
Nicht nur die zuletzt genannte Strafvorschrift, also
§ 130 Abs. 3 StGB, sondern auch die anderen einschlägigen Tatbestände erfassen Handlungen, denen eine extremistische, auf nationalsozialistischem Gedankengut basierende Motivation zugrunde liegt. Vor diesem Hintergrund
bin ich der Meinung, dass es der von der PDS beantragten
Verfassungsänderung nicht bedarf. Abgesehen davon,
dass diese Änderung bei Art. 26 Grundgesetz auch rechtssystematisch falsch angesiedelt wäre - Art. 26 Grundgesetz
hat nämlich einen ganz anderen Inhalt -, vermag ich nicht
zu erkennen, dass durch eine solche Änderung mehr Effizienz bei der Bekämpfung rechtsextremistischer Bestrebungen zu erreichen wäre. Das uns zur Verfügung stehende
Instrumentarium halte ich für ausreichend. Dass wir bereit
sind, dieses Instrumentarium auch anzuwenden, hat die
Mehrheit dieses Hauses mit dem Antrag auf Verbot der
NPD unter Beweis gestellt.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Wolfgang Götzer von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns
darin einig, dass mit allen gebotenen Mitteln gegen neonazistische Umtriebe vorgegangen werden muss. Für den
vorliegenden Gesetzentwurf der PDS-Fraktion besteht
aber - diese Ansicht teilen wir mit der SPD-Fraktion kein verfassungsrechtlicher Bedarf. Er wäre nur gegeben,
wenn wir keine ausreichenden einfachgesetzlichen Regelungen hätten, um die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts wirksam bekämpfen und bestrafen
zu können. Das ist aber nicht der Fall.
Ich möchte auf die Vorschriften hinweisen, die meine
Vorrednerin, die Kollegin Simm, bereits erwähnt hat:
§ 80 ff. StGB und insbesondere § 84 ff. StGB, wo es um
die Gefährdung des demokratischen Rechtsstaats geht.
Außerdem weise ich auf § 86 StGB hin, wo es um die Verbreitung von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen geht. In § 86 Abs. 1 Nr. 4 ist das Verbot bzw.
die Strafbarkeit der Anwendung nationalsozialistischer
Propagandamittel ausdrücklich geregelt. Ich verweise
auch auf § 130 StGB - er muss hier ebenfalls erwähnt werden -, wo es um Volksverhetzung geht. § 130 Abs. 3 StGB
behandelt das Leugnen des Holocaust.
Das Verbot der Verbreitung von nationalsozialistischem Gedankengut ist gesetzlich umfassend geregelt.
Wir sollten das Grundgesetz nicht mit weiteren, nicht notwendigen Bestimmungen überfrachten. Es gibt keine
Lücke und es gibt auch kein „Dilemma“ - in der Begründung des Gesetzentwurfs der PDS-Fraktion ist davon die
Rede -, in dem sich die „Verwaltungsbehörden, Polizei
und Verwaltungsgerichte“ angeblich befinden, „neonazistische Umtriebe im Namen der Freiheitsrechte der Verfassung schützen zu müssen“.
Sie widersprechen sich hier übrigens selber, wenn Sie
in Ihrem Gesetzentwurf - ich zitiere mit Genehmigung
des Präsidenten - an anderer Stelle schreiben:
Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht
vorgenommen werden, nationalsozialistisches Gedankengut wieder zu beleben, sind durch die GrundErika Simm
rechte nicht gedeckt, weil sie auf die Abschaffung
dieser Rechte und der freiheitlichen demokratischen
Grundordnung gerichtet sind.
Das ist in der Tat so. Nur, warum schreiben Sie dann in Ihrer Begründung kurz vorher das Gegenteil? Es genügt,
wenn ich darauf hinweise, dass Sie Ihre eigene Begründung ad absurdum führen.
({0})
Neonazistische Umtriebe sind durch unsere Verfassung
selbstverständlich nicht geschützt, da strafbare Handlungen durch die Verfassung niemals geschützt sind.
({1})
Die Juristen unter Ihnen sollten das wissen.
Frau Kollegin Simm hat schon darauf hingewiesen,
dass es nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Versammlungsrecht, im Vereinsrecht und natürlich in unserer
Verfassung - Art. 9, Art. 21, insbesondere Abs. 2,
Art. 18 und Art. 26 Grundgesetz - klare Regelungen zur
Bekämpfung neonazistischer Umtriebe gibt.
Der Verstoß gegen die einschlägigen Bestimmungen
wird von den Sicherheitsbehörden rigoros verfolgt. Das
kann ich jedenfalls für die unionsregierten Länder sagen.
Inwieweit das für die Länder zutrifft, in denen die PDS
mittelbar oder unmittelbar an der Regierung beteiligt ist,
kann ich natürlich nicht sagen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen,
dass konsequente Sicherheitspolitik gegen extremistische
Bestrebungen aus unserer Sicht vor allem drei Komponenten beinhaltet: erstens die Schaffung der notwendigen
gesetzlichen Grundlagen für unsere Sicherheitsbehörden, wo dies nötig ist; zweitens die konsequente Nutzung
dieser gesetzlichen Möglichkeiten beim Vorgehen gegen
den Extremismus; drittens eine intensive Aufklärungsund Öffentlichkeitsarbeit hinsichtlich der Ziele von verfassungsfeindlichen Bestrebungen.
Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Bekämpfung
des Extremismus ist die enge Zusammenarbeit zwischen
Verfassungsschutz und Polizei. Dazu habe ich von der
PDS bislang allerdings noch gar nichts Brauchbares
gehört.
({2})
Die Gründe sind natürlich nahe liegend; wir können sie
uns alle denken.
Da kein verfassungsrechtlicher Bedarf für die PDSForderungen nach dieser Grundgesetzergänzung besteht,
({3})
entstünde im Falle einer solchen Ergänzung des Art. 26,
wie es der PDS-Gesetzentwurf vorsieht, möglicherweise
der Eindruck, die Bundesrepublik Deutschland hätte bislang nicht genug getan, um neonazistische Umtriebe
wirksam zu bekämpfen.
({4})
Die PDS will diesen Eindruck vielleicht erwecken; ich
weiß es nicht. Manchmal kann ich mich des Eindrucks
nicht erwehren.
({5})
Der Gesetzentwurf ist im Übrigen an ideologischer
Einseitigkeit kaum noch zu überbieten. Er bezieht sich nur
auf nationalsozialistisches Gedankengut und er bezeichnet den Kampf gegen den Nationalsozialismus als Antifaschismus.
({6})
Dazu möchte ich dann doch etwas sagen. Der Antifaschismus ist ein zentraler Kampfbegriff und fester Bestandteil der kommunistischen Terminologie und Strategie.
({7})
Ich darf - mit Genehmigung des Präsidenten - noch
einmal zitieren, und zwar etwas, was Ihnen selber am besten geläufig ist. Ich habe zu Hause in meinem Archiv
nachgesehen und das „Kleine Politische Wörterbuch“ der
DDR aus dem Jahre 1985 herausgekramt
({8})
und dort unter dem Stichwort „Antifaschismus“ gelesen:
A. ist Teil des internationalen Klassenkampfes ...
Außerdem heißt es:
Konsequentester Träger des A. ist die Arbeiterklasse
mit ihrer marxistisch-leninistischen Partei an der
Spitze.
Das sind Sie.
({9})
Mehr möchte ich zum Begriff Antifaschismus nicht sagen. Die SED lässt grüßen.
Auch wenn manches bei uns in den letzten Monaten an
diesen aufgesetzten, verordneten Antifaschismus unseliger DDR-Zeiten erinnert - Ralph Giordano hat übrigens
ein lesenswertes Buch über den verordneten Antifaschismus geschrieben -, so hat er bei uns dennoch nichts
verloren, schon gar nicht im Grundgesetz.
({10})
- Ich rede von dem Antifaschismus, wie er im Sinne der
kommunistischen Terminologie zu verstehen ist, Frau
Kollegin. Wenn Sie diesen Begriff verwenden, sollten Sie
wissen, dass er eindeutig besetzt ist. Ansonsten sollten Sie
die Wissenslücke - das ist die einzige Lücke, die ich bei
der heutigen Debatte erkennen kann - möglichst schnell
schließen.
({11})
Das Grundgesetz ist eine antitotalitäre Verfassung und
darauf sind wir stolz. Unsere Verfassung ist vom Geist der
Freiheit, der Demokratie und des Rechtsstaats geprägt.
Wenn ich von Demokratie rede, dann meine ich die wehrhafte Demokratie, wie sie in unserer Verfassung zum
Ausdruck kommt, eine wehrhafte Demokratie, die entschlossen ist, die Freiheit gegen ihre Feinde zu verteidigen, gleich, woher diese Feinde kommen, von rechts
außen oder von links außen.
({12})
- Nein, das ist nicht ideologisch, sondern das ist die wehrhafte Demokratie. Sie sollten sich damit einmal näher befassen.
({13})
Wenn Sie behaupten, Sie stünden auf dem Boden dieser
Verfassung, dann müssen Sie das mittragen können.
Dass sich der Gesetzentwurf der PDS einseitig nur gegen nationalsozialistisches Gedankengut und nicht auch
gegen anderes totalitäres, insbesondere kommunistisches,
Gedankengut richtet, verwundert angesichts ihrer Vergangenheit allerdings nicht. Etwas anderes wäre wohl auch zu
viel erwartet von einer Partei, die bis heute im alljährlichen Verfassungsschutzbericht regelmäßig unter dem Kapitel „Linksextremistische Bestrebungen“ zu finden ist.
({14})
Der Gesetzentwurf ist aus den genannten Gründen abzulehnen.
({15})
Als
nächster Redner hat der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Kollege Götzer, obwohl ich zum selben Ergebnis
komme, kann ich kaum eines Ihrer Argumente in dieser
Form teilen.
({0})
Es gibt durchaus die Notwendigkeit zu sagen: Wir müssen zur Bekämpfung von Rassismus, Neonazismus
und Rechtsextremismus in Deutschland noch viel mehr
tun. - Der Bundesinnenminister hat es kürzlich noch einmal bekannt gegeben: Wir hatten im letzten Jahr einen
dramatischen Anstieg bei ausländerfeindlichen und antisemitischen Gewalttaten zu verzeichnen. Das ist ein riesiges Problem. Wir dürfen nicht zur Ruhe kommen, bevor
wir dieses Problem nicht in den Griff bekommen haben.
({1})
Sie sagten vorhin in Ihrer Rede - das sagt man gern in
solchen Debatten, bevor man zur Ablehnung kommt -:
„Wir alle sind uns einig, dass man gegen Rechtsextremismus mit allen Maßnahmen vorgehen muss“ und suggerierten damit eine scheinbare Einigkeit in diesem Hause
auch in anderer Beziehung bei diesem Thema. Ich möchte
Sie daran erinnern, dass Sie von der Union alles, was wir
im Bundeshaushalt zur Bekämpfung des Rechtsextremismus, zur Hilfe für Opfer von Gewalttaten und rechtsextremistischen Anschlägen eingestellt haben, abgelehnt
haben. Wir werden in den nächsten Wochen im Bundestag einen Antrag verabschieden, wobei ich gehört habe,
dass die Unionsfraktion als einzige Fraktion dem nicht
beitritt. Also kann man in diesem Zusammenhang nicht
von „allen“ reden. Vielmehr streiten wir - das ist ja auch
legitim - über die Wahl der Mittel. Aber ich würde gern
einmal sehen, was die Union tatsächlich hierzu beitragen
will.
({2})
Herr Kollege Beck, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Bitte schön.
Herr Kollege Beck, können Sie kurz erklären, warum die Koalition, vor allem
auch Bündnis 90/Die Grünen, den Antrag der F.D.P. abgelehnt hat, im Einzelplan 60 250 Millionen DM für den
Kampf gegen den Rechtsextremismus zur Verfügung zu
stellen?
Ich erinnere mich, dass es Maßnahmen im Bereich der
Bildungspolitik waren. Wir haben Schwerpunkte im Bereich des Familienministeriums, des Justizministeriums,
im Bereich der Gewaltbekämpfung gesetzt. Ich glaube,
das, was wir hier gemacht haben, war richtig und verantwortbar. Es kann nicht sein, dass man seinen Antifaschismus beweisen muss, indem man jedem Finanzantrag der Opposition, der dieses Wort auch nur in der Begründung nennt, zustimmt.
({0})
So einfach kann man es sich nicht machen. Es gibt aber
keine Vorschläge aus der Union, mit einem anderen Konzept - darüber kann man ja reden - dem Thema näher zu
kommen und etwas zu tun. Vielmehr lehnt die Union im
Endeffekt jede Maßnahme in diesem Bereich ab und redet - das war auch die Essenz des Beitrags von Herrn
Götzer - das Problem klein. Das finde ich illegitim. Wir
dürfen über die Methoden streiten und müssen schauen,
was zum Ziel führt, und dann gemeinsam danach streben,
hier voranzukommen.
Aber nun zu dem Antrag der PDS. Die PDS schreibt in
ihrem Antrag, das Grundgesetz habe eine antifaschistiDr. Wolfgang Götzer
sche Grundtendenz. Ich glaube, es ist zu wenig, was Sie
hier sagen. Das Grundgesetz ist die Negation des
Nationalsozialismus, es ist die direkte Kehrtwende und
es ist das verfassungsrechtliche „Nie wieder Auschwitz
und nie wieder Krieg“. Es sind zu nennen: Art. 1, der
Schutz der Menschenwürde, als zentraler Ausgangspunkt,
der Schutz des demokratischen und föderalen Rechtsstaates, der auch einer Veränderung des Verfassungsgesetzgebers entzogen ist, und Art. 3, den ich als Negation der
Selektionspolitik des Nationalsozialismus sehen würde,
indem er alle Menschen gleich an Würde und Menschenrechten macht, unabhängig davon, nach welchen Kriterien wir sie klassifizieren wollten oder könnten.
Deshalb, meine Damen und Herren, muss man diesen
Charakter erst einmal zur Kenntnis nehmen, bevor man
bewertet, ob das, was Sie hier beantragen, notwendig und
nützlich ist. Ich verstehe Ihre Intention. Ich finde diese Intention auch legitim. Ich glaube lediglich, dass Sie juristisch auf diesem Weg nicht zu dem von Ihnen gewünschten Ziel kommen. Sie sagen, der Terminus „nationalsozialistisches Gedankengut“ sei genau zu definieren, und
Sie zitieren interessanterweise in Ihrer Begründung die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sozialistischen Reichspartei. Dazu hat Frau Limbach heute im
Verbotsverfahren gegen die NPD erklärt, dass die Urteile
gegen die SRP und die KPD im aktuellen Verbotsverfahren nicht mehr herangezogen werden könnten, weil die
Rechtsprechung diesbezüglich völlig veraltet sei und
heute keine Relevanz mehr habe. Wer soll denn beurteilen, ab wann Rassismus und Totalitarismus von rechts
schon nationalsozialistisches Gedankengut sind? Dies alles ist nicht justiziabel und führt daher letztendlich nicht
weiter.
Eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes
ist nicht notwendig; denn es gibt Möglichkeiten, Parteien, die die freiheitliche demokratische Grundordnung
gefährden, durch das Parteienverbot nach Art. 21 des
Grundgesetzes hinreichend zu begegnen. Bei anderen Organisationen kann man durch Anwendung von verwaltungsrechtlichen Verboten und von entsprechenden Strafnormen tätig werden.
Hinsichtlich der Verherrlichung nationalsozialistischer
Organisationen, die Sie ebenfalls angesprochen haben,
kann man mit unserer Fraktion reden, ob wir eine entsprechende Bestimmung im Strafgesetzbuch brauchen.
Diese müsste allerdings - darauf gehen Sie in Ihrem Antrag nicht ein - dem strafrechtlichen Bestimmtheitsgebot
insoweit genügen, dass klar ist, was verboten ist und was
durch die Strafrechtsnorm nicht erfasst wird. Zu dieser
Frage äußern Sie sich aber nicht.
Wir müssen über dieses Thema weiter reden. Ich teile
auch den Gedanken, den die Kollegin Kenzler vorgetragen hat: Wir dürfen es nicht zulassen, dass die Gefahr des
Nationalsozialismus und des Rechtsradikalismus dazu
führt, dass die Freiheitsrechte aller - dazu gehört auch das
Demonstrationsrecht - eingeschränkt werden. Aber ich
bin der Meinung, dass der von Ihnen vorgeschlagene Weg
juristisch nicht zum Ziel führt. Er ist auch nicht notwendig, weil unsere Verfassung, übrigens auch in Art. 139, die
notwendige Klarheit über die Zielrichtung des Grundgesetzes enthält.
Mit Ihrem Vorschlag werden wir in keiner Weise rechtlich weiterkommen. Deswegen werden wir wohl nach der
Fachberatung in den Ausschüssen diesen Gesetzentwurf
zu den Akten nehmen müssen.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Rainer Funke von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Der Vorschlag der PDS, in Art. 26 Abs. 1 des
Grundgesetzes eine so genannte antifaschistische Klausel
aufzunehmen, scheint auf den ersten Blick ganz sinnvoll
zu sein.
Diese Idee ist nicht ganz neu - Sie haben es selbst erwähnt, Frau Dr. Kenzler -; ein entsprechender Vorschlag
wurde bereits von der Polizeigewerkschaft unterbreitet.
Er ist auch durchaus verständlich angesichts der Tatsache,
dass sich die Polizei schwer tut, bei Versammlungen diejenigen zu schützen, die rechtsextremistisches Gedankengut verbreiten. Ich habe durchaus Verständnis für die Polizisten, die nichts mit diesen Rechtsextremisten zu tun
haben wollen.
({0})
Denn sie wollen natürlich nicht in die geistige Nähe dieser Rechtsextremisten gerückt werden, nur weil sie diese
aufgrund ihres polizeilichen Auftrages zu schützen haben.
Dennoch ist der vorliegende Gesetzentwurf nicht geeignet, die Probleme zu lösen.
({1})
Eine Gesetzesänderung oder gar eine Verfassungsänderung ändert nämlich an dem Problem des Rechtsextremismus überhaupt nichts. Der Rechtsextremismus muss
politisch und nicht ausschließlich durch Gesetze
bekämpft werden.
({2})
Mit solchen Verfassungsänderungen können unerwünschte Meinungsäußerungen oder Kundgebungen
nicht verhindert werden. Sie werden mich persönlich,
aber auch sicherlich meine Partei immer an Ihrer Seite finden, wenn es darum geht, den Rechtsextremismus politisch zu bekämpfen.
Die PDS liefert in ihrer Begründung für den Gesetzentwurf - darauf hat Frau Simm schon hingewiesen zahlreiche Belege dafür, dass unser Grundgesetz ausreichend Möglichkeiten bietet, den Rechtsextremismus mit
Gesetzen zu bekämpfen. Frau Simm hat zu Recht auf die
vielen strafrechtlichen und polizeilichen Bestimmungen
hingewiesen, die ausreichen, den Rechtsextremismus zu
bekämpfen. Trotzdem sind wir alle aufgerufen, die
Rechtsextremisten entschieden politisch zu bekämpfen.
Ich glaube, dass eine derartige Änderung des Grundgesetzes zu ganz erheblichen Auslegungsschwierigkeiten
Volker Beck ({3})
führen würde, die durch das Bundesverfassungsgericht
geklärt werden müssten.
Sie wollen sicherlich erreichen - das kann ich durchaus nachvollziehen -, dass durch eine Änderung von
Art. 26 Grundgesetz das Demonstrationsrecht für die
Rechtsextremisten sozusagen nach unten gezont wird.
Aber ich glaube, das Demonstrationsrecht ist eine unserer
ganz wichtigen Verfassungsbestimmungen. Deswegen
wollen wir das Demonstrationsrecht in Art. 8 nicht relativiert wissen.
Hinzu kommt, dass Sie - darauf hat die Frau Kollegin
Simm schon hingewiesen - rechtssystematisch mit Ihrem
Antrag etwas schief liegen; denn Art. 26 Grundgesetz
dient dem friedlichen Zusammenleben der Völker, beinhaltet also eine Außenwirkung, aber nicht die Binnenwirkung, die Sie erreichen wollen.
Lassen Sie uns also lieber mit den richtigen politischen, vielleicht auch noch mit polizeilichen Mitteln gegen den Rechtsextremismus vorgehen. Reine Symbolpolitik - das ist das, was Sie hier beantragen - lehnen wir als
F.D.P. ab.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir führen die heutige Diskussion über
den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, den die PDS vorgelegt hat, kurz bevor die offiziellen Zahlen zu den rechtsextremistisch motivierten Straftaten aus dem Jahre 2000 vorgelegt werden. Nach den uns
vorliegenden Zahlen für die Zeit von Januar bis November 2000 müssen wir davon ausgehen, dass sich die Zahl
der rechtsextremistisch motivierten Straftaten im Jahre
2000 gegenüber dem Vorjahr von etwa 10 000 auf 14 000
erhöht hat.
Es gibt seit Sommer 2000 öffentlich eine vermehrte
Aufmerksamkeit für das Thema Rechtsextremismus. Das
begrüße ich außerordentlich. Aber - das müssen wir uns
nicht zuletzt selbstkritisch vor Augen halten - auch in Jahren, in denen wir 10 000 Straftaten hatten, also in Jahren,
in denen Tag für Tag rund 30 rechtsextremistisch motivierte Delikte begangen worden sind, hätten wir allemal
Grund gehabt, auch parlamentarisch der Frage von geeigneten Wegen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus
mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
({0})
Deswegen ist es - jedenfalls für meine Fraktion - eine
Selbstverständlichkeit, jede parlamentarische Initiative,
gleich, von welcher Fraktion sie kommt, sorgfältig daraufhin zu prüfen, ob sie geeignet ist, einen Beitrag zur
Bekämpfung des Rechtsextremismus zu leisten.
Wir haben gerade in dieser Woche einen wesentlichen
Schritt gemacht, um in einigen Wochen hier im Plenum
gemeinsam einen Antrag beraten und verabschieden zu
können, der nicht nur von der Koalition, sondern auch
von den Fraktionen der F.D.P. und der PDS getragen
wird. Ich finde es eigentlich wichtig, dass wir bei Themen, bei denen es um Kernbestandteile der Demokratie
geht, deutlich machen, dass wir über die Partei- und
Fraktionsgrenzen hinweg an einem Konsens interessiert
sind.
({1})
Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob die von der PDS
vorgelegte Initiative, die wir in den Ausschüssen im Einzelnen zu diskutieren haben werden, geeignet sein kann,
etwas zur Bekämpfung des Rechtsextremismus zu leisten.
Ich habe da Zweifel und will diese Zweifel an dieser Stelle
auch begründen.
Das entscheidende Moment in der Begegnung des
Rechtsextremismus sehe ich in einem Bereich, in dem wir
gute Fortschritte gemacht haben, nämlich in einer Stärkung des zivilen bürgerschaftlichen Engagements. Ich
will daher, trotz des fortgeschrittenen Freitags, die Gelegenheit wahrnehmen, von dieser Stelle aus all den Menschen zu danken, die in den vergangenen Monaten auf die
Straße gegangen sind und die deutlich gemacht haben:
Wir lassen diese Demokratie nicht von Feinden der Demokratie beschädigen.
({2})
Meine Damen und Herren, ich bin der festen Überzeugung: Auch wenn die Regierung die bestdenkbaren Beschlüsse fasst, wird es entscheidend darauf ankommen,
dass eine Verfassung nicht nur auf dem Papier besteht,
sondern ihre Verwirklichung darin findet, dass die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land als Demokraten selbstbewusst sagen: Wir wollen die Demokratie nicht beschädigen lassen; wir übernehmen Verantwortung für andere;
diese Verantwortung endet nicht am Gartentor, sondern
umfasst die Nachbarschaft und die Frage, was in diesem
Land passiert.
Die Kollegin Erika Simm und einige andere Juristen
- ich selber bin kein Jurist - haben darauf hingewiesen,
dass, zumindest rechtssystematisch, Zweifel daran bestehen, ob durch eine Änderung des Art. 26 des Grundgesetzes, wie dies von der PDS vorgeschlagen wird, im Bereich
der Bekämpfung des Rechtsextremismus wirklich ein
Fortschritt zu vollziehen ist. Ich möchte, ohne der Beratung in den Ausschüssen vorzugreifen, folgende Frage
stellen: Ist es sinnvoll, dass wir hier im Parlament den
Eindruck erwecken, als ob der entscheidende Schalthebel
zur Bekämpfung des Rechtsextremismus die Änderung
von Gesetzen sei, oder sollten wir nicht vielmehr deutlich
machen, dass es darauf ankommt, das Grundgesetz mit
Leben zu erfüllen?
({3})
Wenn wir sicherstellen, dass Art. 1 des Grundgesetzes,
wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, gelebt
wird und nicht nur im Grundgesetz steht, würden wir
deutlich weiterkommen.
Wir sollten an dieser Stelle auf Folgendes hinweisen
- ich denke dabei an die kommenden Beratungen des fraktionsübergreifenden Antrages, in dem sehr viele Einzelmaßnahmen aufgeführt sind, die wir für sinnvoll halten -:
Beim Thema Rechtsextremismus geht es nicht um Aktionismus und nicht nur darum, Symbole hochzuhalten, sondern darum, deutlich zu machen, dass einem Kernbestandteil der Demokratie in diesem Land auf Dauer Schaden
droht, wenn eine zunehmende Zahl von Menschen hinzunehmen bereit wäre, dass eine kleine Minderheit die
Würde und die Rechte von Menschen mit Füßen tritt.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/5127 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Hildebrecht Braun
({1}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der F.D.P.
Für eine sachgerechte Aufteilung wirtschafts-
politischer Zuständigkeiten
- Drucksachen 14/2707, 14/3988 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt
Ihr Einverständnis vorausgesetzt, wollen alle zu die-
sem Tagesordnungspunkt vorgesehenen Redner ihre Re-
den zu Protokoll geben.1) Ich sehe keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Für eine sachgerechte Aufteilung wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten“, Drucksache 14/3988. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 14/2707 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Berichten über die Gründe zum Eintritt in den
Kosovo-Krieg
Zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Barbara Höll
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben eine Aktuelle Stunde zur Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Berichten über die
Gründe zum Eintritt in den Kosovo-Krieg beantragt. Ich
möchte hiermit namens der Fraktion der PDS die Herbeirufung des Ministers der Verteidigung, Herrn Scharping,
beantragen.
Natürlich haben wir registriert, dass die Frau Parlamentarische Staatssekretärin anwesend ist. Aber wir denken, die in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Informationen, die zum Anlass dieser Aktuellen Stunde
wurden, erfordern es, dass die Bundesregierung hier auf
höchster Ebene ihre politische Verantwortung wahrnimmt
und sich der öffentlichen Diskussion im Rahmen dieser
Aktuellen Stunde stellt.
({0})
Eine weitere Wortmeldung zur Geschäftsordnung. Herr Koppelin.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der Sendung „Es begann
mit einer Lüge“, die vor kurzem vom WDR gezeigt
wurde, sind viele Fragen gestellt, aber bisher von der Bundesregierung keine Antworten gegeben worden.
Die Freien Demokraten haben in ihrer Fraktion sehr intensiv und ernsthaft diskutiert. Jeder hat noch einmal seine
persönlichen Beweggründe dargelegt, warum er sich damals für oder gegen den NATO-Einsatz ausgesprochen
hat. Ich habe damals dagegen gestimmt. Aber ich akzeptiere die ernsthafte Entscheidung meiner Kollegen.
Da es aber jetzt eine solch ernsthafte Diskussion über
den Bericht gibt - sowohl in unserer Fraktion als auch in
anderen Fraktionen; wir haben im Übrigen den Text der
Sendung, der vorlag, an alle Fraktionsmitglieder verteilt,
damit sie sich noch einmal intensiv mit diesem Thema beschäftigen können -, ist es notwendig, dass der Bundesverteidigungsminister dazu Stellung nimmt.
({0})
Es kann nicht angehen, dass sich der Bundesverteidigungsminister in Fragen der Öffentlichkeit drückt.
({1})
Ich erlebe es in unserer Fraktion: Es kommen immer mehr
Zuschriften, es werden immer mehr Fragen von Bürgern
gestellt.
({2})
1) Anlage 2
- Beruhigen Sie sich doch! Die Sache ist einfach zu ernst,
als dass Sie dazwischenkrakeelen.
({3})
Die Bürger stellen Fragen, aber es gibt keine Antworten des Verteidigungsministers. Insofern werden wir den
Antrag der PDS unterstützen.
Zur Geschäftsordnung gebe ich jetzt der Kollegin Susanne
Kastner von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Das Ansinnen der PDS macht
es nicht erforderlich, den Bundesverteidigungsminister zu
rufen. Wie Sie ja sehen, ist die Parlamentarische Staatssekretärin Brigitte Schulte anwesend. Es war von jeher üblich,
dass bei einer Aktuellen Stunde die Parlamentarische Staatssekretärin oder der Parlamentarische Staatssekretär im Plenum anwesend ist.
({0})
Im Übrigen muss ich Ihnen, Herr Koppelin, da Sie sich
auf diese WDR-Sendung beziehen, sagen: Diese Sendung
hatte - mit Verlaub - nicht ein Niveau, das es rechtfertigen würde, deshalb den Bundesverteidigungsminister ins
Plenum zu rufen.
Wir lehnen deshalb den Geschäftsordnungsantrag ab.
({1})
Ebenfalls
zur Geschäftsordnung der Kollege Manfred Grund von
der CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Auch wir würden es
für besser halten, wenn der Bundesminister der Verteidigung heute hier wäre.
({0})
Wir sehen allerdings die Bundesregierung durch zwei
Staatssekretäre, zum einen aus dem Verteidigungsministerium und zum anderen aus dem Außenministerium, ausreichend vertreten und werden uns diesem Antrag nicht
anschließen.
({1})
Wir kommen damit zur Abstimmung über diesen Antrag. Wer
stimmt dem Antrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit klarer Mehrheit abgelehnt.
Somit hat in der Aktuellen Stunde als erster Redner für
den Antragsteller der Kollege Dr. Gregor Gysi von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich stelle fest, dass das Interesse der
Parlamentarier der Regierungsfraktionen an den Antworten ihrer Regierung immer weiter abnimmt, und finde das
in gewisser Hinsicht schon enttäuschend. Ich finde auch
nicht, dass man über den Film, der ARD-weit ausgestrahlt
wurde, derart hinweggehen kann, wie das gerade geschehen ist,
({0})
schon deshalb übrigens nicht, weil er eine beachtliche öffentliche Wirkung hat. Wenigstens müsste sich die Regierung mit ihm auseinander setzen.
Dieser Krieg - der Angriff auf Jugoslawien damals war ja, wie Sie wissen, höchst umstritten, und zwar sowohl völkerrechtlich als auch moralisch als auch politisch. Wir haben hier im Bundestag sehr heftige Debatten
hierüber geführt. Ich bin seinerzeit für meine Haltung
scharf kritisiert worden.
({1})
- Das ist im Augenblick gar nicht mein Problem. Ich will
die Debatte auch gar nicht wiederholen, sondern ich will
auf etwas anderes eingehen.
Wenn das, was wir inzwischen erfahren haben, stimmt,
dass nämlich in dieser Zeit sehr vieles, was seinerzeit als
Begründung diente, manipuliert wurde, ja sogar falsch
war,
({2})
dass auch der Bundesverteidigungsminister anderes
kannte - wobei wir uns übrigens von Anfang an alle darüber einig waren, dass es selbstverständlich schlimme
Menschenrechtsverletzungen in Jugoslawien gab -, dann
habe ich den Eindruck, dass der Bundesverteidigungsminister und übrigens auch der Bundesaußenminister damals offenkundig der Meinung waren, dass das Tatsächliche nicht genügte, um die Zustimmung des Bundestages
und der breiten Öffentlichkeit zu erreichen.
({3})
Das ist der einzig denkbare Grund dafür, dass man derart
überzogen und zum Teil auch mit falschen Fakten operiert
hat.
Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang gern eine
Situation schildern, an die ich mich noch gut erinnere.
Der Bundesverteidigungsminister hat von einem KZ - er
hat dieses Wort ja nicht zufällig gewählt - im Stadion
von Pristina gesprochen. Dazu will ich Ihnen zunächst
Folgendes sagen: Wir sollten es lassen, zu versuchen, in
einem anderen Land Zustände herbeizureden, wie sie
zwischen 1933 und 1945 in Deutschland geherrscht haben.
({4})
Wir finden keinen zweiten Hitler auf der Welt. Der
Außenminister ist noch weiter gegangen und hat die Zustände sogar mit Auschwitz verglichen, was unerträglich
war. Ich hatte gehofft, dass er sich dafür irgendwann einmal entschuldigt.
({5})
Nun habe ich gehört, dass das, was im Zusammenhang
mit den Kerzen auf den Dächern gesagt wurde, technisch
überhaupt nicht geht. Es sind also reine Enten verkauft
worden.
({6})
- Hören Sie einmal zu! Ihr Minister ist ja nicht da. Er will
nicht antworten. Das ist das Problem. Er wird schon seine
Gründe haben, warum er nicht antworten will.
({7})
Nehmen Sie das angebliche Massaker von Rugovo. In
dem Film sehe ich, wie ein deutscher Polizeioffizier erklärt, dass er seinerzeit der erste am Ort gewesen sei. Er
selbst habe sozusagen in Augenschein genommen, dass es
sich um Tote nach einem Gefecht handelte, dass das
UCK-Kämpfer waren. Seiner Darstellung nach wurden
die Toten von verschiedenen Orten zusammengetragen
und dann fotografiert. Uns wurde das als Massaker an Zivilisten präsentiert.
({8})
- Hören Sie zu! - Dieser Offizier fügte hinzu, nach der
ersten Falschmeldung habe er im Bundesverteidigungsministerium angerufen und gesagt: Das stimmt so nicht.
Die Situation war eine andere. - Niemand hat die Meldung korrigiert. Was also ist damals eigentlich passiert?
({9})
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich seinerzeit
bei „Sabine Christiansen“ eingeladen war. Dort habe ich,
der ich gegen den Krieg bin, gesessen, während die anderen dafür waren. Zum Mindestmaß an Fairness gehört
doch, dass man in einem solchen Streit mit Tatsachen gegeneinander operiert. Der Bundesverteidigungsminister
aber hat dort gesagt: Lehrer werden vor den Augen ihrer
Schüler erschossen. - Dafür hat es aber nie einen Nachweis gegeben. - Er sagte, es habe ein Massaker stattgefunden. Er sagt, an Türen sei ein „S“ angebracht worden
- was offensichtlich aber nie der Fall war -, um Serben zu
schützen. Das alles erzählt er in dieser Sendung. In einem
solchen Moment kann ich doch gar nicht wissen, ob das
stimmt oder nicht.
({10})
- Hören Sie zu! Ich habe in der Sendung auch nicht Nein
gesagt. Er konfrontiert mich damit in der Sekunde.
Warum? - Er weiß: Dort sitzt ein Gegner des Krieges.
({11})
Den bringe ich jetzt einmal in eine moralisch ganz
schlimme Ecke, aus der er nicht herauskommt. - So etwas
ist grob unfair.
({12})
Er hätte ja auch versuchen können, seinen Krieg mit Tatsachen zu verteidigen, nicht aber mit Erfindungen, mit denen Kriegsgegner in eine Ecke gedrängt werden, in der
jemand, der in einer solchen Situation gegen einen völkerrechtswidrigen Krieg auftritt, fast wie ein Schwein
wirkt. So etwas darf man übel nehmen. Das darf man auch
als Parlamentarier übel nehmen.
({13})
Deshalb frage ich: Hätte es ohne falsche Sachverhaltsdarstellungen auch hier im Bundestag eine Zustimmung
zu diesem Krieg gegeben? Das war doch nicht nur die Oktober-Entscheidung.Wir haben hier öfter darüber beraten.
Das müsste doch eigentlich auch eine Frage für CDU/
CSU und F.D.P. sein. Übrigens haben damals nicht wenige SPD-Abgeordnete gesagt, dass sie größte Bauchschmerzen damit haben, aber angesichts dieser Fakten
nicht anders könnten. Auch sie müssten sich doch, wenn
die Fakten nicht stimmen, fragen, ob sie sich vielleicht anders entschieden hätten. Wir haben das Recht, nicht belogen und betrogen zu werden.
({14})
Dieses Recht hat auch die deutsche Öffentlichkeit. Das
gilt insbesondere in einer so wichtigen Frage wie der
Frage von Frieden und Krieg.
({15})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Reinhold
Robbe von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Wenn das Thema, mit dem
wir uns heute in der Aktuellen Stunde befassen, nicht so
ernst wäre, Herr Gysi, könnte man schnell darüber hinweggehen, zumal es sich um einen Antrag der PDS handelt.
({0})
Weil die PDS aber - übrigens nicht zum ersten Mal; das
will ich hinzufügen - den Versuch unternimmt, die
NATO-Luftangriffe gegen das serbische Jugoslawien als
unbegründet und völkerrechtswidrig darzustellen, muss
diesem erneuten Versuch der ideologischen Geschichtsklitterung und nachträglichen Rechtfertigung von unmöglichen politischen Positionen energisch widersprochen
werden.
Worum geht es eigentlich in dieser Debatte? Ein
schlecht recherchierter und nach meiner Auffassung von
vornherein einseitig ausgerichteter Fernsehbericht des
WDR stellt die These auf, dass insbesondere Verteidigungsminister Rudolf Scharping - ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten ... mit bewussten Fälschungen versucht hat, NATOLuftangriffe zu begründen.
Unter der Überschrift „Es begann mit einer Lüge“ werden
wenige Ereignisse wahllos als Belege dafür aufgeführt,
dass die deutsche Bevölkerung über die wahren Geschehnisse im Kosovo bewusst getäuscht wurde.
Ich will an dieser Stelle in aller Deutlichkeit feststellen - ich glaube, dass ich hierbei auch die Auffassung der
breiten Mehrheit im Deutschen Bundestag wiedergebe -,
dass es völlig unerheblich ist, ob bei einem Massaker,
Herr Gysi, in Rugovo die hinterrücks erschossenen Kosovo-Albaner vielleicht auch einen Mitgliedsausweis der
UCK bei sich trugen. Das ist vollkommen unerheblich.
({1})
Fest steht, dass es Serben waren, die im Auftrag des
verbrecherischen Diktators Milosevic bereits ein Jahr
früher Hunderttausende von Kosovo-Albanern systematisch aus ihrer Heimat vertrieben haben. Fest steht, dass
nach Angaben des UNHCR allein zwischen Januar und
Mitte März 1999 - also unmittelbar vor Beginn der
NATO-Luftangriffe - rund 200 000 neue Flüchtlinge aus
ihren Häusern vertrieben wurden.
Fest steht, dass die Menschen im Kosovo nicht zuletzt
deshalb ihre Heimat verließen, weil sie genau wussten,
dass Milosevic und seine verbrecherischen Generäle bereits in Bosnien die dort lebenden Menschen vertrieben,
verfolgt und zum Teil bestialisch ermordet hatten. Fest
steht weiterhin, dass Milosevic nicht zu einer politischen
Lösung des Balkankonflikts bereit war und stattdessen die
gesamte zivilisierte westliche Welt an der Nase herumgeführt hat.
({2})
Fest steht auch - hören Sie gut zu -, dass die Europäische Union, die NATO und damit selbstverständlich auch
die Bundesrepublik Deutschland überhaupt keine andere
Wahl hatten, als dem verbrecherischen Treiben des Herrn
Milosevic und seinen Schergen mit militärischer Gewalt
ein Ende zu setzen. Deswegen ist der Eingriff erfolgt, deswegen begannen die Luftangriffe.
({3})
Vor diesem Hintergrund ist es schon mehr als dreist,
Herr Gysi, wenn sich die PDS heute hinstellt, um auf der
Grundlage eines - ich möchte es vorsichtig formulieren außerordentlich fragwürdigen Fernsehberichts den Versuch zu unternehmen, die Bundesregierung, den Bundesverteidigungsminister und die Mehrheit des Deutschen
Bundestages an den Pranger zu stellen.
Umgekehrt, meine Damen und Herren, wird ein Schuh
daraus: Gott sei Dank sind wir heute aufgrund gut funktionierender Archive in der Lage, auch Unangenehmes
schnell zutage zu befördern, wenn es wirklich angebracht
ist. Ich zeige Ihnen jetzt mit Erlaubnis des Präsidenten ein
Foto aus dem „Spiegel“, das am 14. April 1999, also etwa
drei Wochen nach Beginn der NATO-Luftangriffe gegen
das Milosevic-Regime, aufgenommen wurde.
({4})
Es zeigt Herrn Gysi, den wir gerade gehört haben, und
Herrn Milosevic. Ich hoffe, Sie, insbesondere Sie, Herr
Gysi, können erkennen, dass Herr Milosevic in einer offensichtlich sehr entspannten Atmosphäre dem damaligen
Vorsitzenden der PDS-Bundestagsfraktion freundschaftlich die Hand schüttelt.
({5})
Das muss man sich wirklich vor Augen führen, das
muss man sich richtig reinziehen, wie die jungen Leute
heute sagen: Während die gesamte westliche Welt den
Kriegstreiber und als Kriegsverbrecher gesuchten Diktator Milosevic verurteilt und ächtet, fährt Herr Gysi nach
Belgrad, um sich mit diesem Schlächter an einen Tisch zu
setzen.
Seit dem Treffen zwischen Gysi und Milosevic hat die
PDS jeden, aber auch wirklich jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit und Seriosität verspielt.
({6})
- Herr Gysi, wer Kriegsverbrechern die Hand reicht,
während gleichzeitig unschuldige Menschen umgebracht,
verfolgt und vertrieben werden, stellt sich auf die Seite der
Täter und beleidigt gleichzeitig die Opfer.
({7})
Für mich persönlich, meine Damen und Herren - ich
sage das in aller Offenheit und mache aus meiner Meinung dazu überhaupt keinen Hehl; so habe ich mich immer verhalten -, ist es nicht zuletzt deshalb mehr als eine
Zumutung, mit solchen Leuten wie Gregor Gysi in einem
Parlament sitzen zu müssen.
({8})
Der PDS-Antrag zur Durchführung dieser Aktuellen
Stunde belegt wieder einmal aufs Neue, dass in der PDS
die Altkommunisten das Sagen haben
({9})
und dass diese Partei im Deutschen Bundestag überhaupt
nichts zu suchen hat.
({10})
Als
nächster Redner hat Kollege Christian Schmidt von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Robbe hat eine Bemerkung zur Rolle der PDS und
derer, die sie tragen, gemacht, die Herr Kollege Adam sicherlich gern nach Mecklenburg-Vorpommern mitnehmen wird; aber das ist nicht das heutige Thema.
Wir reden über einen Punkt, bei dem ich in der Tat den
Herrn Außenminister und nicht nur den Verteidigungsminister gern gesehen hätte. Ich weiß, er hat heute anderes
zu tun, er hat andere Sorgen; aber hier geht es um eine
Frage, die notwendigerweise beantwortet werden muss.
({0})
Dieses Problem muss geklärt werden, weil Missverständnisse und Missinterpretationen auch bei denen bestehen, die nicht auf der äußerst linken Seite dieses Hauses sitzen. Das sieht man ja an dem genannten Film des
WDR. Ich persönlich gestehe ein, dass ich die Dokumentationen der BBC zu den Konflikten auf dem Balkan für
sehr viel aufschlussreicher halte als das, was uns von diesem Sender gegenwärtig präsentiert wird.
({1})
Aber es gibt Fragen. Selbst seriöse Zeitungen wie die
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ stellen in ihrem Feuilleton Fragen, überschreiben ihre Artikel mit solchen
Überschriften wie „Geleimt - Der Anlass des KosovoKrieges eine Erfindung der NATO“. Es ist schon überraschend, wie weit Verwirrung und Irritation bestehen.
Ich sage ganz klar: Wenn heute die gleiche Entscheidung anstünde, würden wir wieder zustimmen, weil es
eine völlig falsche Vorstellung ist, die mancher Journalist
haben mag, es wäre so, dass ein singuläres Ereignis eine
lang andauernde Entwicklung allein ausmache und die
schwer wiegende Entscheidung, die auch dieses Parlament getroffen hat, tragen würde.
Deswegen kommt es auf das, was der finnische Untersuchungsbericht über Racak aussagt, nicht im Detail an,
obwohl - das müssen Sie sich schon anhören, Herr Gysi dieser Untersuchungsbericht nicht als Zeuge dafür in Anspruch genommen werden kann, dass friedliebende Serben von bösen Albanern verkleidet dort hingelegt worden
wären. Wir wissen sehr genau, dass viele Dinge nicht
mehr aufgeklärt werden können. Wir wissen auch, dass
die Propagandamaschinerie des Herrn Milosevic eine
außerordentlich effiziente war.
({2})
Ich habe mich schon manchmal gewundert, mit welcher Leichtfertigkeit auch öffentlich-rechtliche deutsche
Sender das Bildmaterial, das ihnen vom serbischen Fernsehen überlassen worden ist, übernommen haben. Manchmal hatte man den Eindruck, dass dies geschehen ist, ohne
gegenzurecherchieren, ob denn das, was da gezeigt wird,
stimmt.
({3})
Der Kern des Problems, mit dem wir uns hier zu befassen haben, ist ein anderer. Der Versuch, den politischen
Farbbeuteln auszuweichen, hat dazu geführt, dass zu Begründungen für diesen Einsatz gegriffen werden musste,
die nicht akzeptabel sind. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, als Joschka Fischer Milosevic mit Hitler verglichen hat. Das war am Abend nach der G-8-Konferenz
auf dem Petersberg. Wir - die Obleute oder der Ausschuss; ich weiß es nicht mehr - saßen in Bonn und da fiel
dieses Wort.
({4})
Wer sagt, Milosevic ist wie Hitler, der muss Milosevic
wie Hitler behandeln. Hat denn jemals jemand die totale
Kapitulation, die bedingungslose Kapitulation erreichen,
den bindungslosen Krieg führen wollen? Ich hoffe doch
nicht.
Wenn man dann allerdings zu begründen versucht,
wieso man solch einen Krieg führen muss, einem Konflikt
entgegentreten muss, Menschenrechtsverletzungen entgegentreten muss, dann muss man sich davor hüten, das
in Kategorien jenseits des Diskutierbaren zu heben.
({5})
Das ist das Problem, das Herr Fischer erzeugt hat. Das
hat sehr viel nicht nur mit denjenigen zu tun, die hier, in
seiner eigenen Fraktion, sitzen, sondern vielleicht noch
mehr mit den Mitgliedern seiner eigenen Partei. Über dieses Thema müssen wir reden.
Wir müssen auch darüber reden, dass es nicht gut ist,
wenn ein Verteidigungsminister emotional an dieses Rednerpult tritt und mit Bildern dokumentieren zu müssen
glaubt, was er politisch für notwendig hält. Hier brauchen
wir jemanden, der mit kühlem Kopf sagt: In Belgrad ist
einer vom Archetypus der miesen kleinen Diktatoren am
Spiel, der ohne Rücksicht auf das Leben der Bürger seines Landes gleich welcher ethnischen Zugehörigkeit, vor
allem der Albaner, versucht, seine eigene Existenz, die
aus Korruption, Machtgier und Familienclan besteht, zu
wahren. Die Folgen für Europa sind angesichts der Gefahr
der Ausdehnung eines solchen Brandherdes nicht absehbar. Dem, der bereits den vierten Krieg angezettelt hat es war ja nicht der erste -, muss Einhalt geboten werden.
Übrigens: Die Bereitschaft, loszufliegen, wenn sich
nichts mehr tut, bestand zum ersten Mal nicht nach Rambouillet, sondern ein entsprechender Beschluss ist bereits
weit vorher erlassen worden. Das wäre die richtige Argumentation.
Dass man dann in der Not zweifelhafte Hufeisenpläne
und Vergleiche zwischen Hitler und Milosevic herbeiziehen musste, ist das Problem der rot-grünen Regierung.
Das ist nicht das Problem dieses Konflikts.
({6})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Beer vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich will
hier in Erinnerung rufen: Der politische Entschluss, eventuell militärisch im Kosovo einzugreifen, ist am 16. Oktober 1998 im Deutschen Bundestag gefasst worden.
({0})
Christian Schmidt ({1})
Denn der Krieg des Milosevic-Regimes gegen die Albaner im Kosovo war bereits im Sommer 1998 in vollem
Gange. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es mehrere Hunderttausend Vertriebene, davon mehrere Zehntausend in
Nachbarstaaten, und eine unbekannte Zahl an Toten in der
Zivilbevölkerung. Die Lage war also zu diesem Zeitpunkt
schon sehr kritisch und wird in der Resolution Nr. 1199
des UN-Sicherheitsrates vom 23. September 1998 beschrieben.
Der Vorwurf des Films „Es begann mit einer Lüge“
greift schon deshalb nicht, weil er aus meiner Sicht fahrlässig die gesamte Vorgeschichte ignoriert,
({2})
eine Vorgeschichte, die spätestens mit der Verfassungsänderung von 1989 begonnen hat, mit der der Autonomiestatus der Kosovo-Albaner aufgehoben wurde.
Wir hatten im Herbst 1998 die Hoffnung, dass erneute
Verhandlungen vor dem Hintergrund der Drohung eines
militärischen Schlages zur Entspannung führen würden.
Aus diesem Grunde wurde über Verhandlungen mit allen
Seiten versucht - wir haben alles getan -, eine internationale Lösung zu erreichen. Die jugoslawische Regierung
aber hat ungeachtet der diplomatischen Versuche ihre nationalistische Politik weitergeführt und weiter gehende
Maßnahmen gegen die albanische Bevölkerung im Kosovo vorbereitet.
Der Versuch, uns heute zu unterstellen, wir hätten die
Entscheidung zum NATO-Einsatz, eine Entscheidung in
einer so zentralen Frage, nämlich ob sich Deutschland an
einem Krieg beteiligt oder nicht, an Einzelereignissen wie
zum Beispiel Racak, festgemacht, geht absolut ins Leere.
({3})
Die Entscheidung, im Kosovo militärisch einzugreifen, stand damals in einem klaren politischen Kontext.
Diesen will ich noch einmal in Erinnerung rufen. Er hatte
zwei Ebenen: erstens die humanitäre Lage im Kosovo, die
jahrelang andauernden, zum Teil gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Kosovo von serbischer Seite,
und zweitens die Entwicklung in der Gesamtregion, die
Gefahr einer zunehmenden politischen Destabilisierung
der Region durch die kontraproduktive Wirkung der Politik des Milosevic-Regimes. Ich erinnere nur an den Bosnien-Krieg. Wir können doch nicht vergessen, dass
Milosevic für vier Kriege auf dem Balkan verantwortlich
ist!
({4})
Aus dieser europäischen Verantwortung heraus haben
wir im März in einer zugespitzten Situation den Beschluss
vom Oktober des Vorjahres umsetzen müssen. Beide
Aspekte, der humanitäre und der regionalpolitische, waren damals für uns von entscheidender Bedeutung.
Mit dem Einsatz von KFOR und UNMIK sowie dem
Stabilitätspakt für die ganze Region ist es uns unter dem
Strich gelungen, ein Fundament für die Stabilisierung der
Region und damit eine Perspektive zu schaffen.
Wer heute eine Debatte über den Kosovo beantragt, der
sollte unter Berücksichtigung der aktuellen, mehr als angespannten Situation im Kosovo auf die Frage Südserbien
und Presevo eingehen. Was können wir tun? Wo wirken
unsere präventiven Mittel, um eine neue Eskalation zu
verhindern? Wir bemühen uns, zum Beispiel um ein
Abdriften Montenegros und damit möglicherweise die
nächste Eskalation zu verhindern. Was tun wir, um zu
versuchen, die militanten UCK-Kräfte in der GSZ einzudämmen, damit sie nicht eine Frühjahrsoffensive beginnen und den, wenn auch labilen, anhaltenden Waffenstillstand destabilisieren und neue Gefechte provozieren?
Wir wissen, dass wir mit KFOR und UNMIK noch
Jahre dort sein werden, weil die Traumata der Kriegserfahrung zwischen den Ethnien nicht von heute auf morgen
in Versöhnung umschlagen werden. Das sind die Punkte,
über die wir heute reden müssen. An dieser Stelle möchte
ich ausdrücklich unseren Soldaten, unseren Polizisten und
den Hilfsorganisationen für ihren Einsatz danken.
({5})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe damals
am 25. März 1999 gesagt: Wir werden uns kritischen Fragen stellen. Das tun wir auch.
({6})
Ich habe dies gesagt, weil wir wussten, dass es keinen
„sauberen Krieg“ gibt. Wir wussten, dass es bei einem
Krieg keine Gewinner und keine Verlierer geben kann,
sondern dass er auf allen Seiten Opfer mit sich bringt.
({7})
Wer uns zugehört hat, der weiß, dass wir uns selbstkritische Fragen gestellt haben und auch heute noch stellen:
über die Kriterien der Entscheidung über einen Militäreinsatz, die deutsche Beteiligung, die europäische
Rolle und vor allem darüber, wann sich deutsche Soldaten
an einem Einsatz beteiligen sollen und wann nicht.
Zum Schluss möchte ich noch die Frage des Einsatzes
von uranhaltiger Munition ansprechen.
({8})
Selbstkritik hat nichts damit zu tun, bei verleumderischen
Unterstellungen den Kopf einzuziehen und zu sagen: Es
war alles falsch.
({9})
Nein, die Historie auf dem Balkan gilt es zu berücksichtigen.
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Herr
Präsident, der letzte Satz. - Nach unseren Erfahrungen wir haben es uns mit der Intervention in Bosnien, dem Kosovo-Krieg und vielen anderen Konflikten seit dem Ende
des Kalten Krieges nicht leicht gemacht - bilanziere ich:
Das Ziel der Gewaltfreiheit geben wir nicht auf.
({0})
Unsere Politik ist darauf gerichtet, die Anwendung von
Gewalt immer weiter zurückzudrängen. Das tut diese
Bundesregierung im nationalen wie auch im internationalen Rahmen, indem wir präventive Instrumente aufbauen und hoffentlich so zukünftig militärische Eskalationen vermeiden können.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Hildebrecht Braun von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Gysi
und Sie, meine Damen und Herren von der PDS, ich
möchte in aller Klarheit sagen: Der Deutsche Bundestag
geht Ihnen nicht auf den Leim. Was Sie hier vortragen,
knüpft an den peinlichen Besuch bei Milosevic an, für den
Sie sich vor der deutschen Öffentlichkeit nie entschuldigt
haben, obwohl Sie das längst hätten tun müssen.
({0})
Das, was Sie machen, ist, an eine miserable Praxis des
„Neuen Deutschlands“ vor und nach der Wende anzuknüpfen. Diese Zeitung hat am 8. Februar dieses Jahres
über diesen Bericht bei „Monitor“ gejubelt. Dabei werden
zwei Journalisten zu nützlichen Idioten der Propaganda
der PDS, der alten SED, gemacht.
({1})
Die Botschaft war: Kriegstreiber ist die NATO.
Scharping und Co sind Lügner. Die Bundeswehr muss den
Kosovo und Bosnien-Herzegowina verlassen. - Nein, so
einfach ist das nicht. Das war wie zu schlimmsten Zeiten
der DDR. Es werden Feindbilder in einem Maße aufgebaut, wie wir es nicht akzeptieren können. Der Deutsche
Bundestag hat sich mit großer Mehrheit nach verantwortlichem Nachdenken dazu entschlossen, die Bundeswehr an dem Einsatz im Kosovo zu beteiligen.
({2})
Die Gründe, die er dafür hatte, sind nach wie vor richtig.
Darauf komme ich noch zu sprechen.
Ich will nicht ausschließen, dass Fotos falsch verwendet oder falsch interpretiert wurden. Ich weiß es nicht und
kann es von hier aus nicht überprüfen. Ich will auch nicht
ausschließen, dass bestimmte Fotos und ihre Interpretation dazu geeignet waren, schwankende Vertreter in der
SPD oder speziell bei den Grünen doch davon zu überzeugen, dass Gewaltanwendung notwendig ist, um eine
humanitäre Katastrophe im Kosovo zu verhindern oder zu
beenden.
Ich bin auch der Meinung, dass wir jede Frage, die in
dem Beitrag von „Monitor“ angesprochen wurde, sehr
präzise werden klären müssen. Es sind Fragen aufgeworfen worden, die wir vorher nicht gestellt haben und diese
Fragen werden von den zuständigen Ministerien - auch
vom Außenministerium - im Einzelnen geklärt werden
müssen. Keine Frage!
({3})
Ich traue, ehrlich gesagt, Herrn Scharping viel zu, aber
nicht, dass er mit Bildern, von denen er weiß, dass sie
falsch sind, argumentiert und damit versucht, die Mehrheit des Bundestages zu gewinnen. In dieser Form sollten
wir nicht miteinander umgehen.
({4})
Wollen wir uns bitte daran erinnern: Am 15. Januar
1999 geschahen die Vorfälle in Racak, am 29. Januar in
Rugovo, am 6. Februar begannen die Verhandlungen in
Rambouillet und erst sechs Wochen danach begann der
Angriff auf das serbische Jugoslawien. Das heißt, diese
Bilder - selbst wenn sie falsch gewesen wären - waren
nicht ursächlich dafür, dass der Deutsche Bundestag
sagte: Wir müssen aus Verantwortung für die Menschen
im Kosovo handeln.
({5})
Das Problem ist, dass Serbien, mit Milosevic an der
Spitze, seit 1988 die Situation heraufbeschworen hat, die
in der Entscheidung der NATO, mit militärischen Mitteln
einzugreifen, kulminierte. Ich muss nicht wiederholen
- andere haben es bereits angesprochen -: Es waren dieser verdammte Nationalismus und dieser Rassismus, die
die serbische Politik ausgezeichnet haben und die letztlich
dazu geführt haben, dass dieser Krieg stattfand, und in der
Folge dazu geführt haben, dass Serben im Kosovo derzeit
leider nicht angstfrei leben können.
Gerade wir Deutschen wissen, was es bedeutet, wenn
man eine Aggression gegen Nachbarn oder andere Völker
vom Zaun bricht. Ein solches Verhalten bleibt nicht ohne
Folgen. Insofern zahlen viele einzelne Serben jetzt leider
trotz unserer Bemühungen den Preis für die Politik ihres
früheren Präsidenten Milosevic.
Wir wollen nicht davor die Augen verschließen, dass es
vor der Entscheidung der NATO und vor der Entscheidung des Deutschen Bundestages Massenvertreibungen
im Kosovo gegeben hat, dass Hunderttausende im Winter
in die Wälder getrieben wurden und dort unter miserablen
Bedingungen versucht haben zu überleben. Es war sonnenklar: Das System der ethnischen Säuberung war Politik der Serben. Diese wollten, weil sie meinten, Kosovo
gehöre zu Serbien, eine ethnische Säuberung dadurch erreichen, dass sie die Kosovo-Albaner aus ihrer Heimat
vertrieben. Das war sonnenklar und zu dieser Meinung
stehe ich bis zum heutigen Tag.
Ich bin der Meinung, dass wir uns an keiner Geschichtsklitterung beteiligen wollen und dürfen.
({6})
Die damalige Entscheidung war richtig und auch das Ergebnis des Einsatzes der NATO war hilfreich. Ich stehe
bis zum heutigen Tag zu der damaligen Entscheidung.
Was ist denn heute anders als früher? Die Opfer der serbischen Aggression konnten zurückkehren. Die Völker
um Serbien herum leben nicht mehr in Angst vor Serbien.
Ein sehr wichtiges Ergebnis ist auch: Serbien ist demokratisch geworden. Auch das ist eine Folge des NATOAngriffs. Mit anderen Worten: Die gesamte Region hat
eine Zukunft und sie hat sie deshalb, weil die Weltgemeinschaft ihre Verantwortung ernst genommen und eingegriffen hat, und zwar nur deshalb. Das sollten auch Sie
erkennen.
({7})
Jetzt hat
der Kollege Eberhard Brecht von der SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Es hat in der Neuzeit wohl noch keine kriegerische Auseinandersetzung gegeben, die in den Medien nicht eine
entsprechende Resonanz gefunden hätte. Das heißt, bei
solchen kriegerischen Auseinandersetzungen geht es immer um die Meinungsführerschaft. Ich denke, vor allen
Dingen die unmittelbaren Konfliktparteien - in diesem
Fall die Serben und die Albaner - haben mit Sicherheit
versucht, die Weltöffentlichkeit zu informieren, aber auch
zu desinformieren, um ihre Gegner zu dämonisieren. Daher ist es legitim, dass man heute, mit einem gewissen
zeitlichen Abstand, die damaligen Informationen und deren Bewertung einer kritischen Revision unterzieht.
Die WDR-Journalisten Angerer und Werth haben sich
leider des gleichen Verfahrens bedient, das sie ihrerseits
der Bundesregierung fälschlicherweise unterstellt haben.
Sie sind deduktiv vorgegangen und haben versucht, ihre
These mit Informationen entsprechend zu unterfüttern.
Ihrer Meinung nach haben sich die serbischen Sicherheitskräfte im Kosovo im Rahmen des herrschenden Bürgerkrieges mit der UCK im Großen und Ganzen ordentlich benommen, während die NATO zwanghaft bemüht
war, einen Grund zur Intervention zu konstruieren. Dass
dabei die Aussagen der Kronzeugen, die der Herren
Hensch und Loquai und der Frau Brown, die sie in ihrem
Bericht zitieren, teilweise im Gegensatz zu den Darstellungen der OSZE, des UNHCR und der vielen Menschenrechtsorganisationen stehen, ficht die Autoren
offensichtlich nicht an. Die Darstellungen dieser Organisationen beruhen immerhin auf den Aussagen Tausender
von Augenzeugen.
Am 16. Oktober 1998 - vielleicht kann sich der eine
oder andere noch erinnern - konnte ich dem Beschluss
über mögliche militärische Maßnahmen gegen das
Milosevic-Regime nicht zustimmen. Ich war und bin zwar
der Auffassung, dass man im Völkerrecht humanitäre Interventionen unter definierten Bedingungen legalisieren
sollte. Aber man kann nicht neues Recht dadurch schaffen, dass man altes Recht bricht. Auch wenn ich damals
die Legalität der NATO-Intervention im Kosovo infrage
stellte, so gab es weder damals noch heute ernsthafte
Zweifel an der Legitimität dieses Einsatzes. Dafür sprechen folgende Tatsachen:
Erstens. Nach vier von ihm zu verantwortenden Kriegen auf dem Balkan, nach Vukovar 1991, nach Srebrenica
1995 und nach Denica 1998 konnte an der Skrupellosigkeit und der Brutalität eines Slobodan Milosevic kein
Zweifel mehr bestehen.
({0})
Die PDS pflegt dagegen gern das Bild eines Milosevic,
der sich erst durch die NATO-Angriffe im März 1999 von
einem Mr. Jekyll in einen Mr. Hyde verwandelte,
({1})
indem er erst zu diesem Zeitpunkt Vertreibungen und
Massaker seiner Schergen hinnahm oder anordnete.
({2})
- Entschuldigung, bitte nehmen Sie das zurück!
({3})
Zweitens. Der Krieg im Kosovo begann nicht mit einer
medialen Inszenierung der deutschen Bundesregierung
im Frühjahr 1999, sondern mit der systematischen Unterdrückung der albanischstämmigen Mehrheit nach Aufhebung des Autonomiestatus 1989. Es blieb ja nicht nur bei
Verboten von Schulbesuchen und der Berufsausübung.
Menschen wurden willkürlich verhaftet, gefoltert und
auch umgebracht.
Drittens. Später, also nach dem Entstehen eines bewaffneten albanischen Widerstandes, töteten serbische
Sicherheitskräfte nicht nur UCK-Kämpfer, sondern in
Vergeltungsaktionen auch Zivilisten. So wird in der
Sicherheitsratsresolution 1199 vom 31. März 1998 aufgrund von Recherchen des UNHCR von exzessiver und
wahlloser Gewaltanwendung seitens der serbischen Sicherheitskräfte und der jugoslawischen Armee mit zahlreichen Opfern unter der zivilen Bevölkerung und von internen und externen Vertreibungen Hunderttausender
Kosovo-Albaner berichtet.
Während der Verhandlungen in Rambouillet, also
vor den NATO-Luftschlägen, wurden vom UNHCR
210000 Binnenvertriebene und 50 000 Flüchtlinge außerhalb des Kosovo gezählt. Nach Angaben internationaler
Menschenrechtsorganisationen befanden sich unter den
im Jahr 1998 getöteten Albanern - es waren immerhin
mehr als 2 000 - 219 Frauen, 213 Kinder und 395 alte
Menschen, also insgesamt 827 Zivilisten. Ihre Namen,
Herr Gysi, sind dokumentiert. Nach serbischen Angaben
Hildebrecht Braun ({4})
kamen im gleichen Zeitraum nur 115 serbische Polizisten
und 165 Zivilisten ums Leben.
({5})
Allein beim Vergleich dieser Zahlen fällt die Behauptung der WDR-Autoren in sich zusammen, es habe sich
hier um einen gewöhnlichen Bürgerkrieg gehandelt.
({6})
Angesichts der Tatsache, dass das Schicksal von
3 000 vermissten Kosovaren nicht aufgeklärt ist, ist derzeit eine Bilanz über die Gesamtzahl an Opfern unter der
Zivilbevölkerung noch nicht möglich.
Kollege Brecht, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum
Schluss, Frau Präsidentin. - Meine sehr verehrten Damen
und Herren, die ständig perpetuierte Legende einer
kriegslüsternen NATO mit imperialen Ansprüchen auf
dem Balkan ist zu absurd, um Gegenstand ernsthafter historischer Untersuchungen zu sein.
({0})
Interessanter sind sicherlich Beurteilungen, inwieweit
durch präventive Maßnahmen die aus vier Akten bestehende Tragödie des Balkans in den 90er-Jahren zu verhindern gewesen wäre. Ich befürchte nämlich, die Kritik
der Historiker an Unterlassenem wird uns eines Tages
mehr zu schaffen machen als die abstrusen Verschwörungstheorien von Ihnen, liebe Kollegen der PDS.
({1})
Nächster Redner ist
der Kollege Wolfgang Gehrcke für die PDS-Fraktion.
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte angesichts
der erhitzten Debatte darum, dass die Auseinandersetzungen, die im Hause üblich sind, auch auf dem Niveau des
Hauses stattfinden und nicht dem Stil des Hohen Hauses
entgegenlaufen.
Frau Präsidentin, ich
werde mir Mühe geben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, eine sehr kühle und ruhige Rede zu
halten, in der ich versuche, den erhobenen Vorwürfen
nachzugehen und sie abzuwägen. Allerdings geht das
nach einigen Dingen, die hier abgelaufen sind, nicht mehr.
Ich sage auch ehrlich, dass ich sehr bitter über dieses
Thema debattiere. Ich bin überhaupt sehr bitter über diesen Krieg sowie darüber, wie Deutschland in diesen Krieg
gebracht worden ist.
Ich möchte Herrn Robbe sagen, dass ich ihn verstehen
kann, dass er nicht mit meinem Kollegen Gysi - ich hoffe,
auch nicht mit mir - zusammen im Deutschen Bundestag
sitzen möchte. Das Problem kann man ganz einfach lösen:
Gehen Sie raus! Dann hat sich das erledigt.
({0})
Ansonsten sollten Sie die Entscheidung den Wählerinnen
und Wählern überlassen; denn diese sind vom Grundgesetz dazu legitimiert.
({1})
Ich fand es schon in gewisser Weise bedrückend, wie
Sie hier wieder mit Fotos hantiert haben: Gregor Gysi und
Milosevic.
({2})
- Hören Sie jetzt zu! - Ich zeige Ihnen die Fotos von
Joschka Fischer und Milosevic,
({3})
ich zeige Ihnen die Fotos von Clinton und Milosevic, ich
zeige Ihnen die Unterschriften von Clinton und Milosevic
unter gemeinsam abgeschlossenen Verträgen. - So geht es
nicht!
({4})
Ich weiß, wie sehr wir uns mit der Frage gequält haben,
ob wir die Möglichkeit nutzen, in letzter Sekunde in diesem Krieg auf Milosevic einzuwirken, damit er sich an die
UNO wendet, weil wir wussten, dass es in einen Krieg
geht. Gregor Gysi hat entgegen dem, wie es hier interpretiert wird, Milosevic gesagt: Wer die UNO nicht will, wird
die NATO erhalten.
({5})
- Leider war die Geschichte so. Gregor Gysi war in einer
Friedensmission bei Milosevic und hat sich mit ihm auseinander gesetzt; er war nicht dort, um einen Diktator zu
bestätigen.
({6})
Warum kann man nicht anständig miteinander umgehen,
anstatt sich Falsches zu unterstellen?
({7})
Wir hatten es in Jugoslawien mit einem Bürgerkrieg
mit allen Grausamkeiten eines Bürgerkrieges zu tun.
Lesen Sie einmal nach, wie grausam der spanische Bürgerkrieg war, wie grausam andere Bürgerkriege waren.
({8})
Es war ein Bürgerkrieg mit allen Grausamkeiten. Man
musste aber die Grausamkeiten nicht ins Monströse überhöhen. Man brauchte den Vergleich Kosovo/Rampe von
Auschwitz eigentlich nicht, als es um Menschenrechtsverletzungen gegangen ist.
({9})
Man brauchte hier keine Reden von aufgeschlitzten Bäuchen und herausgeschnittenen Föten. Man brauchte nicht
die Umdeutung von Rambouillet. Was dort geschehen ist,
kann man ja mittlerweile in den Dokumenten nachlesen.
Warum eigentlich dieses Monströse, das heute Gegenstand der Debatte ist?
({10})
Dazu sagen Sie nichts.
({11})
Aus meiner Sicht gibt es nur eine Begründung: Es war
relativ klar, dass die USA, wenn sich Deutschland nicht
an der NATO-Entscheidung beteiligt hätte, allein nicht in
der Lage gewesen wären, diesen Krieg zu führen.
({12})
- Deutschland war in Europa in dieser Frage entscheidend; das kann doch niemand leugnen.
({13})
Weil es so ist und diese Regierung sich ihrer Mehrheit
nicht sicher war - nicht hier im Hause, schon gar nicht in
der Bevölkerung -, musste diese Überhöhung, dieses
Monströse als politisches Kampfmittel eingesetzt werden,
um diesen Krieg mehrheitsfähig zu machen.
({14})
Das ist der gesamte Hintergrund, der nicht mehr zu leugnen ist. Dazu brauchen Sie hier nicht Stellung zu nehmen.
Der „Stern“ schreibt in seiner Ausgabe 8/2001:
„Fischer und Scharping haben ihre Bürger beschwindelt,
belogen und betrogen.“
({15})
- Das schreibt der „Stern“.
({16})
Wenn Sie der Auffassung sind, dass das, was andere
schreiben, nicht wahr ist, dann müssen Sie es glaubwürdig dementieren.
({17})
Scharping hat deswegen noch nichts dementiert, weil er
nichts dementieren kann.
({18})
Weil er nichts dementieren kann, stelle ich mich hinter die
Behauptung vom „Stern“: Scharping hat die Bevölkerung
beschwindelt, belogen und betrogen. Damit ist der Krieg
mehrheitsfähig gemacht worden. Nichts anderes ist die
Wahrheit.
({19})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Dr. Helmut Lippelt.
Frau Präsidentin! Lieber Kollege Gehrcke, lieber Kollege
Gysi, ich will Überhöhungen in der Rhetorik von Ministern, die in einer Verantwortung gestanden haben, die sie
vielleicht etwas weitergetrieben hat, als es richtig gewesen ist, nicht verteidigen. Ich will Ihnen das Bild, das Sie
im Zusammenhang mit Milosevic gezeichnet haben, in
keiner Weise vorwerfen. Ich sage nur: Bei aller Erfahrung,
die man hatte, war man ein bisschen naiv. Daraus allerdings jetzt die Schlussfolgerung zu ziehen, dass wir aufgrund von Lügen in einen Krieg hineingetrieben worden
sind, ist großer Unsinn.
({0})
Man sollte sich die Beweismittel, die inzwischen vorliegen, etwas genauer anschauen.
Das Problem ist aber, dass wir immer noch in einer Zeit
der Halbwahrheiten, der Halbhistoriker und der Legendenbildung leben. Seit den letzten eineinhalb Jahren liegen uns sehr viel mehr Einzelfakten vor. Diese Einzelfakten werden von all denjenigen, die meinen, es schon
immer gewusst zu haben, jetzt zur Stützung ihrer Sicht selektiv sortiert.
({1})
Allerdings wird keine der Einzelfakten in einen Zusammenhang gestellt und es gibt keine Interpretation der
Einzelfakten. Man sagt, dass historische Forschung an
und für sich 30 Jahre braucht. Ich hatte gehofft, es gehe
schneller. Ich stelle aber fest: Die selektiven Untermauerungen, die darauf abzielen, das zu stützen, was man immer schon gemeint hat, sind nach zwei Jahren noch verhängnisvoller.
Nachdem ich diese Sendung gesehen hatte, habe ich mir
ihren Text besorgt, um mich mit dem, was dort geschildert
worden ist, zu beschäftigen. Eine wichtige Frage lautet:
Woran macht man etwas fest? Ich empfehle Ihnen allen und
vor allem der PDS, sich mit dem Untersuchungsbericht der
unabhängigen internationalen Kommission gründlich zu
beschäftigen. Sie wurde vor anderthalb Jahren von Göran
Persson, Schweden, und der Olof-Palme-Stiftung eingesetzt, die sich bekanntlich immer mehr für Friedensthemen
als für Kriegsthemen interessierte. In dieser Kommission
haben elf anerkannte Leute aus elf Ländern mitgearbeitet.
Unter ihnen waren Hanna Nashravi, Palästina, eine
langjährige Friedensaktivistin in der internationalen Friedensbewegung sowie ein russischer Botschafter. Die Zusammensetzung dieser Kommission war also gut.
Vergleichen Sie einmal die Fakten dieses Berichts mit
all Ihren generalisierenden Behauptungen! Wenn Sie das
getan haben, dann werden Sie beispielsweise feststellen,
dass diese „Monitor“-Sendung der Höhepunkt von unglaublichen Unverschämtheiten ist. Das gilt bereits für die
Darstellung der Erklärung des Kanzlers im Hinblick auf
die Gründe der deutschen Teilnahme an der Intervention.
In dieser Erklärung spricht er von einer drohenden humanitären Katastrophe. Wir alle hier wussten doch, was damit gemeint war. Damit gemeint war, dass im Jahre zuvor
ungefähr 200 000 Menschen in die Nachbarländer geflüchtet waren und dass dann 300 000 interne Flüchtlinge
herumirrten. Nach dem Milosevic/Holbrooke-Abkommen sank die Anzahl dieser Menschen im Winter vorübergehend und ab Januar stieg sie erneut. Diese Zahlen
können Sie hier alle nachlesen.
Zweitens. Die Zahl der Toten wird total verharmlost. In
dem Fernsehbericht heißt es an einer Stelle, die OSZE, die
doch alles beobachten konnte, zähle für März genau
39 Tote. Wissen Sie, was hier steht? Hier steht, dass sich
der Zahlen zu vergewissern wahnsinnig schwer ist, dass
es von März 1998 bis August 1998 laut UNHCR etwa
300 Tote gegeben habe, dass man in den nächsten vier
Wochen ungefähr 700 Tote nachgewiesen habe, dass dann
zu der Zeit der OSZE-Beobachter die Zahl etwas gesunken sei, dass man aber bei den Zahlen nicht ganz sicher
sei. Ich sage nur: Allein die Vorgeschichte weist schon
mehr als 1 000 Umgebrachte nach.
({2})
- Jetzt lasst mich mal reden; ich habe ja auch nicht dazwischengeredet.
Jetzt kommen wir zu einem interessanten Punkt, nämlich zum Monat März und der OSZE-Zahl 39. Warum
März? Vorher waren die Massaker. Auch die sind in der
Sendung geleugnet worden, über ein Beispiel, dem wir
jetzt im Einzelnen nicht nachgehen können. Ich habe es
versucht, aber dazu habe ich nichts gefunden.
Aber es gab zwei Massaker, die vollkommen eindeutig waren. Das war zum einen das Ausgangsmassaker im
Februar 1998 an einer ganzen Sippe Jashari, die mit
Kind und Kegel, mit Frauen und Kindern - ihr habt doch
in den Fernsehbildern gesehen, wie die Kleinen im
Straßengraben lagen - von Sondereinheiten der serbischen Militärpolizei ausgerottet worden ist. Da ging es
los.
Zum anderen gab es das Massaker von Racak. Warum
ist Racak in der Sendung nicht erwähnt worden? Wir haben über Racak so viel diskutiert und inzwischen hat die
finnische gerichtsmedizinische Kommission klargestellt,
dass dieses Massaker an 45 Zivilisten geschehen ist.
({3})
Aber es ist im Januar geschehen und geht deshalb nicht
in die Märzzahlen ein.
Ich habe eine Bitte an Herrn Gysi.
Herr Kollege Lippelt,
ich muss Sie dringend an Ihre Redezeit erinnern. Dies ist
eine Aktuelle Stunde.
Ich bin gleich am Ende. Ich möchte nur noch diese Bitte
äußern.
Herr Gysi, es gibt den Wunsch von Den Haag auf Auslieferung des Herrn Lukic. Er war der Kommandeur der
polizeilichen Sondereinheiten im Kosovo. Das ganze Material über Racak liegt - deshalb haben wir es nicht - in
Den Haag. Dieser Prozess ist sehr gut vorbereitet. Mit der
Auslieferung von Lukic würde er beginnen. Ich bitte, dass
Sie alle Kontakte, die Sie haben, dafür einsetzen, dass er
ausgeliefert wird und wir über Racak von einem internationalen Gericht, das über alle Zweifel erhaben ist, die
Wahrheit erfahren. Das wäre ein großes Verdienst. In
diese Richtung muss es gehen.
Ich glaube auch, alle Versuche -
Kollege Lippelt, ich
bitte Sie wirklich dringend, Ihre Rede jetzt zu beenden,
das Verständnis aller Kolleginnen und Kollegen vorausgesetzt.
Ich höre auf. - Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich dem nächsten Redner das Wort
erteile, möchte ich noch einmal darauf verweisen, dass es
nicht dem Stil des Hauses angemessen ist, Kollegen und
Kolleginnen des eigenen Hauses, aber auch Personen
außerhalb persönlich zu diffamieren. Deshalb weise ich
den Ausdruck „Sie Lügner“, während der Rede des Kollegen Brecht gefallen, ausdrücklich zurück.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian
Schwarz-Schilling für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wieso kam es zu dem Krieg im Kosovo? - Weil sich
Milosevic in Dayton unter Androhung, die Konferenz zu
verlassen, geweigert hat, das Thema Kosovo in Dayton
mit zu behandeln.
({0})
Das war die Ursache. Er führte nämlich bereits dort im
Schilde, die Macht über dieses Land, das er noch nicht
richtig erobert hatte, zu erlangen. Darüber durfte nicht geredet werden.
Die internationale Gemeinschaft hat den weiteren Fehler gemacht, nicht unmittelbar nach Dayton eine KosovoKonferenz im gleichen Sinne einzuberufen, um dann das
immer aktueller werdende Thema Kosovo zu behandeln,
sondern hat erst wieder auf das gewartet, was anschließend geschehen ist. Wer hat sich denn für die Berichte der
OECD und des UNHCR seit 1989 wirklich interessiert,
dafür, was sich dort abgespielt hat? Es wurde von der
steigenden Repression, vom Nichtgebrauchendürfen der
albanischen Sprache in den Schulen, von dem Untergrund, in den die Albaner gehen mussten, um ihre Kinder
noch ausbilden zu lassen, von der Vertreibung der Leute
aus den Positionen berichtet. Das alles war also bereits bekannt. Dann, meine Damen und Herren, entstand die Situation, die wir nun alle kennen und die ich hier nicht weiter nachzeichnen möchte.
Es ist nur interessant, dass die PDS immer wieder einen Grund sucht, in diesen Geschichten herumzubohren.
Am 5. April 2000 hat Herr Carsten Hübner schon einmal
die Frage gestellt: über die Verteidigungsminister und das
nach dem in dem Beitrag über die Papiere Gesagte, über
Hufeisen. Die nächste Frage betraf Racak, ebenfalls in
entsprechender Breite von Herrn Hübner dargestellt, und
wurde dann von der Regierung schlecht oder recht beantwortet.
Ich möchte dazu nur eines sagen: Sie haben überhaupt
kein Recht, sich bei solchen Fragen selbstgefällig hier
hinzustellen.
({1})
Ich hätte gern gewusst, was mit Ihnen allen passiert wäre,
wenn damals Herr Honecker, der das Massaker am Tiananmen im Jahre 1989 ausdrücklich begrüßt hatte, nicht den
Hinweis von Gorbatschow bekommen hätte, dass russische
Truppen nicht eingreifen werden. Wo stünden Sie dann
alle?
({2})
Da hätten Sie Ihren Mund aufmachen sollen; denn Sie haben ja damals auch in der DDR gelebt. Da war kein Mut
vorhanden.
Zum Zweiten. Es gab bereits am 12. Oktober 1998 - die
Sprecherin der Grünen hat darauf hingewiesen - einen Antrag aller demokratischen Parteien dieses Hauses, der am
16. Oktober hier behandelt wurde. Darin stehen schon die
Begründungen, dazu haben wir nicht auf das Massaker gewartet. Es ist interessant gewesen, dass beide Seiten, Opposition von gestern und von heute, Regierung von gestern
und von heute, gleichzeitig denselben Antrag gestellt haben. Warum? - Weil man sich vonseiten der Regierung, die
im Jahre 1998 abgewählt wurde, darüber im Klaren war,
dass man Verantwortung trug und es der nächsten Regierung nicht zu schwer machen durfte. Damals haben wir
diesen Antrag noch gestellt. Die neue Regierung war dadurch in der Lage, den Kurs fortzusetzen und nicht plötzlich in ihren eigenen Reihen den Widerstand zu erfahren,
den sie bis dahin gegenüber allen NATO-Ereignissen
hatte. Wir müssen uns einmal daran erinnern, dass wir vonseiten der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung schon im Jahre
1992 Adria-Schiffe für die Boykottmaßnahmen gegenüber
Jugoslawien eingesetzt hatten. Wir wurden von den anderen Parteien wütend vor dem Verfassungsgericht angeklagt. Wir waren ganz alleine. Die CDU/CSU-Fraktion
war die einzige, die das verteidigt hat. Es waren noch alle
dagegen. Man muss einmal sehen, wie die Dinge wirklich
gelaufen sind.
Nun zum Dritten. Hier wurde gerade erwähnt, dass die
Massaker in Srebrenica offensichtlich total vergessen
worden sind. Das war im Februar/März 1998, zunächst
mit 29 Toten, dann mit 58 Toten. Herr Rüb, der etwas von
der Gegend versteht, hat am 19. Januar 2001 in der Zeitung geschrieben, spätestens das sei der Beginn des Krieges im Kosovo gewesen. In dieser Zeit sind Hunderttausende verjagt worden. In den Zeiten der angeblichen
Friedensverhandlungen von Rambouillet sind ungefähr
40 000 bis 50 000 Polizeieinsätze mit schwerem militärischen Gerät nach Kosovo befördert worden. Damals gab
es diese Verstärkungen, um dann den entsprechenden
Schlag führen zu können.
Angesichts dieser Tatsachen müssen wir eine andere
Frage stellen, die allerdings für alle in diesem Hause betrüblich ist: Warum haben wir die Zustände nicht zur
Kenntnis genommen und haben noch bis weit in das Jahr
1998 Menschen aus dem Kosovo mit ihren Familien in
den Kosovo abgeschoben? Darüber müssten wir uns hier
unterhalten.
({3})
Wir müssten eigentlich die Frage stellen, wie es dazu
kommen konnte, dass wir trotz dieser unsäglichen Zustände, die von allen internationalen Organisationen bekannt gemacht wurden, die Beschlüsse aufrecht hielten
und sie nicht an die neue Situation angepasst haben.
Herr Kollege
Schwarz-Schilling, auch Sie muss ich leider auf Ihre abgelaufene Redezeit aufmerksam machen.
Ich
komme zum Schluss. - Ich glaube, diejenigen, die diese
Fragen nicht gestellt haben, sollten bescheidener auftreten. Sie haben überhaupt kein Recht, sich in dieser Angelegenheit zu äußern.
({0})
Wir werden uns jeder echten Frage stellen. Aber Sie haben polemische Fragen gestellt, um die haltlosen Zustände, die Sie traditionsgemäß in Ihrer Partei haben,
rechtfertigen zu können.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nächster Redner ist
der Kollege Dieter Schloten für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns in diesem Hause
daran gewöhnen müssen, dass die PDS-Fraktion jede Gelegenheit wahrnimmt, um die Außen- und Sicherheitspolitik der Regierung zu attackieren.
({0})
Das ist legitim. Aber es ist schon ein starkes Stück, dass
Sie heute die Neuauflage einer Verschwörungstheorie, die
auf jüngsten Veröffentlichungen einiger Medien beruht, in
die Debatte bringen.
Der dubiose „Monitor“-Bericht behauptet schlichtweg,
dass sämtliche demokratischen Politiker der westlichen
Welt als Brandschatzer ein friedliebendes Land überfielen
und - ich habe den Text sehr genau gelesen - dass es praktisch keine Vorgeschichte der Unterdrückung, der Vertreibung und der im Kosovo spätestens seit 1989 ausgeübten
Apartheid gab. Ferner kritisiert dieser Beitrag die angeblich westliche Propaganda. Aber er gibt sich nicht ab mit
der in Einzelfällen berechtigten Kritik an mancher Rhetorik oder auch Methode, die hier wie auch von der Parlamentarischen Versammlung der NATO, die kürzlich in
Berlin getagt hat, zu Recht schon kritisiert worden ist.
Der „Monitor“-Bericht geht noch viel weiter. Er verfällt in eine Gegenpropaganda, die gegenüber den Opfern
der serbischen Aggression menschenverachtend ist. Herr
Gehrcke, ich werfe Ihnen vor, dass Sie vorhin in Ihrem
Beitrag einfach nur von einem Bürgerkrieg gesprochen
haben.
({1})
Natürlich war es auch ein Bürgerkrieg. Aber wenn man
den Begriff Bürgerkrieg so wie Sie gebraucht, dann wird
verschleiert, wer Täter und wer Opfer ist. Das war sowohl
im Bosnien-Krieg als auch im Kosovo-Krieg so, bevor die
NATO dort eingegriffen hat.
Sie berufen sich auch auf die Berichterstattung der
„Berliner Zeitung“ von Mitte Januar zur Untersuchung
der schrecklichen Vorfälle in Racak. Was ist eigentlich das
so grundlegend Neue, das Sie dazu bewegt, der Bundesregierung Täuschung der Öffentlichkeit und des Bundestages vorzuwerfen? Es ist Unsinn, zu behaupten - Kollege
Braun hat bereits darauf hingewiesen -, Racak sei der einzige wesentliche Auslöser des NATO-Einsatzes gewesen.
Im Gegenteil: Das Blutbad von Racak hat zu verstärkten
Anstrengungen bei den Verhandlungen in Rambouillet
geführt, die leider nicht zum Ziele geführt haben.
({2})
Was Sie gegen die Annahme eines Massenmordes ins
Feld führen können, ist, dass die Ergebnisse der finnischen Untersuchungskommission eine Massenhinrichtung von Zivilisten nicht eindeutig belegen können. Aber
ebenso wenig belegen sie das Gegenteil.
({3})
- Herr Gehrcke, Tatsache ist doch, dass in Racak 45 albanische Opfer zu beklagen gewesen sind.
({4})
Ist es da so entscheidend, ob all diese Menschen aus dem
Ort selbst stammten oder auch aus anderen Dörfern, ob
einzelne UCK-Kämpfer unter ihnen waren oder nicht?
Fakten gibt es genug. Herr Lippelt hat den entsprechenden Bericht dargestellt. Ich brauche darauf nicht weiter einzugehen. Aber manchmal wird vergessen, was dort
geschehen ist, und das alles vor dem Hintergrund der grausamen Erfahrungen, die wir in Bosnien gemacht haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, Willy
Brandt hat einmal gesagt: Wer Unrecht geschehen lässt,
bahnt neuem den Weg.
({5})
Das galt und gilt, Herr Seifert, auch für die Situation im
Kosovo. Selbst wenn Racak falsch interpretiert worden ist
und manches andere Bild dazu, ein falsches Bild - das tun
auch mehrere falsche Bilder nicht ({6})
ändert nichts an der grundsätzlichen Berechtigung des
NATO-Einsatzes im Kosovo.
Wenn Sie der NATO nun die Absicht unterstellen, eine
imperialistische Interessenpolitik auf dem Balkan zu
betreiben, dann kann ich nur sagen: Das Gegenteil ist
wahr. Der Militäreinsatz hat letztlich dazu geführt, dass
Milosevic mit seiner brutalen Vertreibungs- und Expansionspolitik in die Schranken gewiesen worden ist. Heute
eröffnen sich der Region mit dem Stabilitätspakt für Südosteuropa, mit dem massiven Engagement der westlichen
Staatengemeinschaft endlich Perspektiven für eine demokratische, rechtsstaatliche, europäische Zukunft. Wollen
Sie etwa behaupten, das alles sei ohne das Eingreifen der
NATO möglich gewesen?
Jeder zweite KFOR-Soldat wird dort heute zum Schutz
von Minderheiten eingesetzt. Wir sind auf dem Wege
- viel zu langsam, aber Schritt für Schritt - in eine demokratische Zivilgesellschaft. Der Stabilitätspakt wird das
Seine dazu tun, dass wir dort weiterkommen. Verschwörungstheorien und Gespenster, wie sie hier von der PDS
herumgetragen werden, helfen uns dabei nicht weiter.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Es spricht jetzt der
Kollege Ulrich Adam für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Auch ich werde den Verdacht
nicht los, dass die Stoßrichtung des Antragstellers dieser
Aktuellen Stunde in erster Linie gegen die NATO gerichtet
ist.
({0})
Um es vorweg ganz klar und deutlich zu sagen: Die
NATO war - davon bin ich fest überzeugt - ein wesentliches Standbein bei der Wiederherstellung der deutschen
Einheit.
({1})
Gerade im Kalten Krieg konnten wir im Osten beobachten, wie die NATO jederzeit uneingeschränkt zur Bundesrepublik Deutschland gestanden hat.
({2})
Die NATO hat nicht zuletzt deshalb einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass wir 1990 die deutsche Einheit
vollziehen konnten.
({3})
Auch die gegenwärtigen Anstrengungen der Staaten Mittel- und Osteuropas, der NATO beizutreten, beweisen
doch, dass die NATO immer noch einen hohen Stellenwert hat und eine wichtige Rolle spielt. Ich halte es für
sehr wichtig, dies einmal ausdrücklich zu betonen.
Durch persönliche Erfahrungen bei mehrfachen Besuchen in Ex-Jugoslawien, zuletzt im Dezember 2000, bin
ich von der Notwendigkeit des Einsatzes der NATO und
damit auch der deutschen Soldaten in dieser Region überzeugt. Sollten wir uns zum jetzigen Zeitpunkt von dort
zurückziehen, würde es unweigerlich zum erneuten Ausbruch von Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen kommen. Dies wird sowohl durch Aussagen der
Dienst tuenden Soldaten als auch der Bevölkerung sowie
der verschiedenen Hilfsorganisationen vor Ort bestätigt.
Deshalb geht es bei der jetzigen Diskussion auch nicht
darum, dass die NATO gegenwärtig oder zukünftig keine
Rolle mehr spielen wird; denn die bestehende wichtige
Bedeutung der NATO steht völlig außer Frage.
Hier geht es aber auch um konkrete Aussagen von
Minister Scharping, die er zu Beginn und im Verlauf des
Kosovo-Krieges gemacht hat. Diese erfordern doch eine
erhebliche Aufklärung, Herr Scharping. Ich erwarte von
Ihnen, aber auch von Ihnen, Herr Minister Fischer, eine
Antwort auf die erhobenen Vorwürfe. Hierzu müssen Sie
Stellung beziehen.
So geht es mir zum Beispiel um den Beweis der Existenz des bereits mehrfach angesprochenen Hufeisenplans.
Um es deutlich zu sagen: Unsere Entscheidung zur Beteiligung an der humanitären Aktion der NATO war richtig.
Sie war notwendig. Daran ändern auch die Diskussionen
über die Existenz oder Nichtexistenz des Hufeisenplanes
nichts.
Trotzdem fordere ich Sie eindringlich auf, hier Klarheit
zu schaffen und die offenen Fragen zu beantworten. Haben Sie die Öffentlichkeit und uns falsch informiert oder
Tatsachen verfälscht?
({4})
Herr Scharping, sollten Sie den Beweis hier nicht öffentlich darlegen können, so denke ich doch, dass Sie zumindest den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses mögliche existierende Geheimpapiere vorlegen müssten.
({5})
Meine Damen und Herren, bei den gegenwärtigen Diskussionen über mögliche falsche Aussagen des Ministers
im Zusammenhang mit dem Kosovo-Einsatz sehe ich mit
großer Sorge eine Parallele zu den in den letzten Wochen
stattgefundenen Standortdiskussionen im Rahmen der
Bundeswehrreform.
({6})
- Es geht um die Aussagen. - Erst vor einem guten halben
Jahr hat der Minister im Beisein des Kanzlers zum Beispiel in Eggesin betont, dass dieser Standort erhalten
bleibt. Diese Zusage hat er vergessen; die entsprechende
Entscheidung ist ja heute gefallen. Seine damaligen
Äußerungen relativiert er damit, dass er nicht von Eggesin, sondern vom „Großstandort in dieser Region“ gesprochen hat.
({7})
Auch in diesem Bereich ist der Minister gefordert, klare
Fakten auf den Tisch zu legen, damit sich Ihr gegenwärtiges nicht sehr glaubwürdiges Erscheinungsbild nicht weiter verfestigt.
Deshalb erwarte ich - und natürlich auch die betroffenen Soldaten und die Bürger dieses Landes - von Ihnen,
dass man endlich wieder Vertrauen in Ihre Aussagen gewinnen kann, und das in zweierlei Hinsicht:
Erstens. Ich fordere Sie auf, dass Sie die Vorwürfe bezüglich der Ereignisse im Kosovo nachhaltig entkräften.
Zweitens. Hören Sie auf, den Menschen im Rahmen
der Bundeswehrreform eine Zukunft zu versprechen
({8})
und sie dann, so wie dies angesichts der heutigen Entscheidungen erfolgt ist - ich meine zum Beispiel die Standorte
Eggesin und Basepohl -, maßlos zu enttäuschen.
({9})
Letzter Redner in dieser Aktuellen Stunde ist der Kollege Gerhard Neumann
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wortwahl des Themas der heutigen Aktuellen Stunde erfüllt mich mit Betroffenheit - und noch mehr mit Sorge. Wie so oft in letzter Zeit folgt nach einer kritischen Fernsehsendung oder
Presseveröffentlichung eine große Betriebsamkeit einiger
Abgeordneter, besonders der der Fraktion der PDS.
({0})
Die tatsächlichen Zusammenhänge spielen dabei oft
eine untergeordnete Rolle.
({1})
Wichtiger ist: Die Regierung, ein Minister wird belastet,
die Unwahrheit gesagt zu haben.
({2})
Das Strickmuster ist immer das gleiche: Belastet die
Regierung oder - noch besser - ein einzelnes Regierungsmitglied mit fragwürdigen Fakten der Vergangenheit! Es wird schon etwas Negatives hängen bleiben.
({3})
Dies lenkt von eigener politischer Konzeptionslosigkeit
ab. Leider geht diese Taktik oft auf: Die Menschen werden verunsichert. Wir müssen uns in der Folge aber nicht
wundern, dass unser Ansehen als Politiker allgemein
sinkt.
Nun ein neuer ungeheuerlicher Verdacht: Die Regierung hat die öffentliche Meinung manipuliert, um deutsche Soldaten wieder in einen Krieg zu führen.
({4})
Ich sehe die Bilder aus dem Kosovo noch vor mir, als sei
es gestern gewesen: hilflose Frauen und Kinder, Opfer
von Vertreibung und Opfer von Gewalt, Todesopfer. Ich
habe so etwas als Vertriebener im Zweiten Weltkrieg
selbst erlebt. Meine Kindheit, mein Leben wurde davon
geprägt. Ich hasse Krieg; aber ich hasse auch die Vertreibung von Frauen und Kindern, die Tötung von Menschen
anderer Nationalität.
({5})
Erinnern wir uns daran, was in Bosnien passiert ist:
Wie viele Menschen wurden umgebracht? Wie viele
Frauen wurden vergewaltigt? Wir haben uns damals gefragt: Haben wir nicht zu spät eingegriffen?
({6})
Die schrecklichen Bilder aus dem Kosovo sind gerade
zwei Jahre alt. Sind diese Bilder bei einigen von uns schon
aus dem Bewusstsein gestrichen?
({7})
Hat nicht schon die erste Welle der Vertreibung im
Sommer und Herbst 1998 mit 300 000 Flüchtlingen genug
Elend gebracht? Milosevic brach seine Zusagen erneut. Er
startete im Winter 1999 eine zweite Vertreibungswelle.
Weitere 250 000 Menschen wurden heimatlos. Die Zahl
der Toten wird für immer ungeklärt bleiben. Sollen die
Leiden der Opfer nachträglich bagatellisiert werden, indem zwei Jahre danach ein Streit über Einzelvorkommnisse entfacht wird und sich einige von uns daran tatendurstig beteiligen?
Soll das Leid der Opfer, sollen die Taten der Mörder
verdrängt werden? Oder schlimmer noch - ich wage es
kaum zu denken -: Vielleicht sind die Erfolge der deutschen Außenpolitik einigen ein Dorn im Auge.
({8})
Sie ertragen es nicht, dass durch das ausgewogene Verhalten der Bundesregierung in der Kosovo-Krise das internationale Ansehen und die Achtung unseres Landes in
der Welt spürbar gestärkt wurden.
({9})
Ich war gemeinsam mit anderen Kollegen vor Ort im
Kosovo. Wir konnten den Dank und die Sympathien der
Einwohner erleben, als wir Soldaten aus unseren Wahlkreisen dort besucht haben. Wir haben allgemein gespürt,
dass das, was unsere Soldaten, aber auch die anderen Organisationen dort geleistet haben, von den Menschen anerkannt und dankbar angenommen wird.
Rudolf Scharping, Joschka Fischer und besonders die
Bundeswehr haben durch ihren Einsatz und ihre konkrete
Arbeit Außerordentliches zur Krisenbewältigung auf dem
Balkan beigetragen. Sie haben Menschen in Not geholfen.
Der Versuch, diese Leistungen aus tagespolitischem Kalkül herabzuwürdigen, ist nicht nur verwerflich, nein, er
schadet uns allen.
Ich bin sicher, der Versuch wird scheitern, weil diese
Politik den Menschen Gutes gebracht hat,
({10})
weil die Menschen eine solche Politik verstehen. Die Bürger erfüllt es mit Hoffnung, dass die demokratische Völkergemeinschaft es nicht mehr duldet, dass Verbrecher
ungestraft Mord begehen und Vertreibung an ganzen Völkern praktizieren können.
Ich danke Ihnen.
({11})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 7. März 2001, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.