Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, Herr Präsident, meine
Damen und Herren! Die Weichen für den Aufbruch
Deutschlands in die Informationsgesellschaft des
21. Jahrhunderts richtig und vorausschauend zu stellen
war für diese Bundesregierung von Anfang an eines der
wichtigen politischen Ziele.
({0})
Ich begrüße daher ausdrücklich den Koalitionsantrag
„Deutschlands Wirtschaft in der Informationsgesellschaft“, der wichtige Handlungsfelder für die Politik aufzeigt und die Internetpolitik der Bundesregierung unterstützt.
Trotz fallender Aktienkurse hat die Internetwirtschaft
im letzten Jahr eine eindrucksvolle Dynamik entwickelt.
Der gesamte Markt für Informations- und Kommunikationstechnologien in Deutschland wuchs im Jahr 2000 um
über 10 Prozent auf 238 Milliarden DM und hat sich damit zu einem der größten Wirtschaftszweige in Deutschland entwickelt. Die Zahl der Erwerbstätigen in diesem
Sektor nahm im gleichen Zeitraum um 4 Prozent zu und
liegt nun bei knapp 800 000 Beschäftigten. Nach einer Studie des RWI können wir bis zum Jahre 2010 750 000 neue
Arbeitsplätze netto hinzugewinnen, wenn wir die Weichen richtig stellen.
Die Zahl der an das Internet angeschlossenen Haushalte hat sich verdoppelt. Sie liegt jetzt bei über 30 Prozent. Das Internet nutzen bereits fast 40 Prozent der Bevölkerung zwischen 14 und 69 Jahren. Anfang des Jahres
2000 waren es nur 25 Prozent. Die Preise für den Zugang
zum Internet sind in Deutschland um bis zu 60 Prozent gesunken. Bei den Preisen für Breitband-Flatrates ist
Deutschland weltweit am wettbewerbsfähigsten.
In der Zukunftstechnologie des mobilen Geschäftsverkehrs hat sich Deutschland mit einem Umsatz von
483 Millionen DM im letzten Jahr europaweit an die
Spitze gesetzt. Das ist besonders wichtig, da hier in den
nächsten Jahren Wachstumsraten von etwa 200 Prozent zu
erwarten sind.
Die positive Einschätzung der Situation wird von den
Spitzen der deutschen Wirtschaft bestätigt. Vor einer Woche hat der Präsident des Branchenverbandes Bitkom,
Volker Jung, festgestellt, dass sich unsere Volkswirtschaft
in diesem wichtigen Zukunftsbereich derzeit mit einer
nicht gekannten Dynamik entwickelt. Deutschland ist
dank der Politik dieser Bundesregierung inzwischen vom
internationalen Mittelfeld in die Spitzengruppe vorgestoßen.
({1})
Unsere besondere Stärke, die gut ausgebaute Netzinfrastruktur, bietet beste Voraussetzungen, um den Rückstand zu den USA noch weiter zu verringern. Der Trend in
die Netzwerkökonomie kann auch durch fallende Kurse
am Neuen Markt nicht aufgehalten werden. Der Einsatz
der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien war ein entscheidender Faktor für den lang anhaltenden Wirtschaftsaufschwung in den USA.
Auch unsere Wirtschaft hat die Zeichen der Zeit erkannt und setzt in beträchtlichem Umfang auf die neuen
elektronischen Technologien, wie zum Beispiel die stark
wachsende Zahl von Internethandelsplattformen in
Deutschland zeigt. Die Bundesregierung wird diesen Prozess weiterhin durch eine konsequente Politik begleiten,
die im Wesentlichen auf drei strategischen Politikprogrammen beruht: erstens auf dem nationalen „Aktionsprogramm für Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ vom Herbst
1999 und dem 10-Punkte-Programm des Bundeskanzlers,
zweitens auf der D-21-Initiative von Wirtschaft und Bundesregierung - damit haben wir eine erfolgreiche Innovationspartnerschaft zwischen Wirtschaft und öffentlicher
Hand eingeleitet ({2})
und drittens international auf dem europäischen Aktionsplan „E-Europe 2002: Eine Informationsgesellschaft für
alle“ vom Sommer 2000.
Es ist das Ziel dieser Programme, Deutschland und Europa weltweit einen Spitzenplatz in der Informationsgesellschaft zu sichern. Die neuen Zahlen zeigen, dass wir
hier durchschlagende Erfolge haben. Ich will drei
Schwerpunkte unserer Politik herausstellen, die mir für
eine Anpassung unseres Landes an die wissensbasierte
Gesellschaft und Wirtschaft besonders wichtig erscheinen:
Erstens. Wir schaffen einen modernen Ordnungsrahmen durch Selbstregulierung und - wo nötig - durch Gesetze. Gerade in dieser Woche stellen wir wichtige Weichen. Gestern hat das Bundeskabinett den Gesetzentwurf
über rechtliche Rahmenbedingungen für den elektronischen Geschäftsverkehr beschlossen. Wir gehören damit
zu den ersten, die die E-Commerce-Richtlinie vom Sommer 2000 auf den parlamentarischen Weg bringen.
In der Zukunft gelten EU-weit einheitliche Regelungen
zur uneingeschränkten Zugangsfreiheit, zur Verantwortlichkeit und zur Werbung von Dienstanbietern. Hervorheben möchte ich noch das Herkunftslandprinzip. Es schafft
mehr Rechtsklarheit für Anbieter. Sie unterliegen in Zukunft grundsätzlich den Anforderungen des Landes, in
dem sie niedergelassen sind, auch wenn sie Dienste anderswo in Europa anbieten.
Zum Gesetzgebungsvorhaben zum elektronischen Geschäftsverkehr gehört auch die Modernisierung des Onlinedatenschutzes durch Anpassung des Teledienstdatenschutzgesetzes. Hierdurch soll das notwendige Vertrauen
des Verbrauchers in die neuen Dienste gestärkt werden.
E-Commerce erzeugt im Markt Anpassungsdruck. Um
deutschen Unternehmen die gleichen Bedingungen am
Markt zu ermöglichen, haben wir die Abschaffung des
Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung beschlossen.
({3})
Heute geht es hier auch um die Verabschiedung des
neuen Gesetzes über elektronische Signaturen. Dieses
Gesetz schafft die Grundlagen für einen sicheren europaweiten elektronischen Geschäftsverkehr. Wir setzen damit die EU-Signaturrichtlinie vom Dezember 1999 als einer der ersten Staaten um. Damit sichern wir unsere
Vorreiterrolle in Europa auf diesem Gebiet. Die EU-Signaturrichtlinie ist aber erst dann vollständig umgesetzt,
wenn das Gesetz über die Anpassung der Formvorschriften des Privatrechtes verabschiedet worden ist. Es liegt
dem Bundestag zur Beratung vor. Ich bitte Sie, auch dieses Gesetz zügig zu beraten, damit wir die notwendigen
Anwendungen für die elektronischen Signaturen rasch
bekommen.
Um die Anwendung von elektronischen Signaturen
auch für die Praxis zu erproben, fördert das Bundeswirtschaftsministerium diese auch im Rahmen des weltweit
einmaligen Projektes Media@Komm. Virtuelle Rathäuser und virtuelle Marktplätze werden aufgebaut, um auf
diese Weise die Beziehungen zwischen Verwaltung und
Bürgern sowie der lokalen Geschäftswelt transparenter,
effizienter und kostengünstiger zu gestalten.
Zweitens. Die Bundesregierung unterstützt besonders
kleine und mittlere Unternehmen auf ihrem Weg in die Informationsgesellschaft. Wir haben dafür eine Reihe von
Initiativen eingeleitet. In den bundesweit 24 Kompetenzzentren „Elektronischer Geschäftsverkehr“, die noch in
diesem Jahr durch branchenspezifische Zentren ergänzt
werden, beispielsweise durch ein besonderes Zentrum für
die Tourismuswirtschaft, können sich kleine und mittlere
Unternehmen fachkundigen Rat zu allen Fragen des
E-Commerce holen.
Innovative Unternehmen werden mit dem Internetpreis
der Bundesregierung ausgezeichnet. Er wird im März auf
der CeBIT zum zweiten Mal verliehen. In diesem Jahr
werden die Unternehmen mit der größten Logistikkompetenz für den Onlinehandel ausgezeichnet. Der Vorschlag des Koalitionsantrages, die netzbasierte Weiterbildung in den Betrieben zu fördern, findet sich in dem vom
Bundeswirtschaftsministerium durchgeführten Wettbewerb „LERNET“ wieder. Die besten Teilnehmer dieses
Wettbewerbs wurden letzte Woche prämiert.
Drittens. Ein wesentliches Instrument bei der Umsetzung unserer Ziele auf dem Weg in die Informationsgesellschaft ist die Innovationspartnerschaft mit der Wirtschaft im Rahmen der Initiative D 21. Dadurch haben wir
wichtige Initiativen wie die Aktion „Schulen ans Netz“
oder „Gütesiegel für den Online-Verbraucherschutz“ auf
den Weg gebracht. Diese Initiative und das Bündnis für
Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit sind wesentliche Säulen dieser Partnerschaft.
Zusammen mit unseren Partnern wird es der Bundesregierung auch in Zukunft gelingen, die positive Entwicklung der Informationsgesellschaft in Deutschland
aktiv und effektiv zu begleiten. Ich setze weiter auf die
parlamentarische Unterstützung dieser Politik. Ich bin
überzeugt, dass wir damit Deutschland und auch Europa
einen Spitzenplatz in der globalen Informationsgesellschaft sichern werden.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Heinz Riesenhuber, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten wieder die große Freude, eine von Leidenschaft und Prägekraft getragene Rede unseres Wirtschaftsministers hören
zu dürfen.
({0})
Dies geschah mit der gleichen vitalen Präpotenz - wir haben sie immer bewundert -, mit der er gestern die Wirtschaft vor der Übermacht der Gewerkschaften gerettet
hat. Nur, der Applaus vonseiten der Wirtschaft ist weitgehend ausgeblieben. Die Freude des Mittelstands, dass der
Wirtschaftsminister für ihn eingetreten ist, war reichlich
gedämpft.
({1})
- Das ist jetzt eine besonders komische Bemerkung.
Die Ziele der Bundesregierung hat der Herr Wirtschaftsminister zutreffend dargestellt. Die große Leistung
der Bundesregierung besteht darin, eine Politik ungebrochen fortgeführt zu haben, die die alte Bundesregierung
überzeugend, langfristig und kraftvoll angelegt hat.
({2})
Dahinter stand eine Strategie von einer gewissen Komplexität. Das fing bei der Einführung der Informationstechnik in mittelständischen Unternehmen an. Ich erinnere an die Programme des Forschungsministers zur
Mikroelektronik - der damalige Forschungsminister war
vorzüglich -,
({3})
zur Mikroperipherik, zu CAD und CAM. Es handelte sich
um Programme zur Einführung von neuen Techniken in
mittelständischen Unternehmen. Wir hatten die Deutsche
Forschungsgemeinschaft mit 100 Millionen DM gefördert, wobei die einzige Auflage war, Informationstechnik
an den Hochschulen heimisch zu machen. Ziel dieser
Strategie war es, die Neugründung von Unternehmen in
einer langfristig und schrittweise aufgebauten Sequenz zu
ermöglichen. Es waren die Programme zu technikorientierten Unternehmensgründungen, zu BTU und BJTU,
der Deutschen Ausgleichsbank und der Kreditanstalt für
Wiederaufbau, die insgesamt dazu geführt haben, dass
eine Landschaft starker junger Unternehmen entstanden
ist, die im Neuen Markt ihre Heimat und ihre Möglichkeiten zur Kapitalisierung gefunden haben. Wir haben
zwölf Multimediaberufe neu definiert. Das hat früher sieben Jahre gedauert, Jürgen Rüttgers hat es in zwei Jahren
hinbekommen.
({4})
Wir haben also die große Vielfalt aufgebaut, die wir heute
vorfinden.
Die Begeisterung von Herrn Eichel über die UMTSMilliarden bewegt uns immer wieder neu. Auf dem Weg
zur Liberalisierung der Märkte im Bereich der Telekommunikation
({5})
haben Sie, meine Damen und Herren zur Linken, uns mit
Herzlichkeit begleitet. Sie haben uns ständig und beharrlich Schwierigkeiten gemacht und sind jetzt glücklich und
stolz auf das, was wir durchgesetzt haben. Jetzt begreifen
Sie, dass es richtig gewesen ist. Eine solche Einstellung
macht uns glücklich.
({6})
Entstanden sind freie Märkte, auf denen sich auch die
Telekom als Unternehmen zu bewähren hat. Auf diesen
Märkten herrscht Konkurrenz, deshalb entstehen neue
Dienste und neue Infrastrukturen wie zum Beispiel Glasfasernetze. Von daher rühren die Dynamik des Mobilfunkmarktes und die wachsende Zahl der Internetanschlüsse.
({7})
Eine alte Infrastruktur hatten wir schon immer: Die Zahl
von 40 Millionen Fernsehern ist ganz beachtlich; dabei
zähle ich dazu nur die angemeldeten.
({8})
Wenn man aber dazunimmt, dass 26 Länder in Europa die
gleichen ISDN-Standards haben und welche Infrastrukturen wir jetzt haben, muss man zu der Feststellung kommen: Hier blüht eine lebendige dynamische Informationsgesellschaft auf.
({9})
Diese Informationsgesellschaft beruht nicht nur auf
dem Zusammenwachsen von Telekommunikation, Computer und Fernsehen; diese Informationsgesellschaft ist
eine Gesellschaft, in der Wissen wächst, eine Gesellschaft, die aus Wissen wächst, eine Gesellschaft, in der
Wissen für jeden und zu allen Zeiten und immer wieder
verfügbar ist, eine Gesellschaft, die ihren Wohlstand aus
Wissen entwickelt, eine Gesellschaft, die nicht RessourBundesminister Dr. Werner Müller
cen verbraucht, sondern aus Wissen ein nachhaltiges und
dauerhaftes Wachstum schafft.
Der Kernbestandteil der Informationstechnologie ist
der Chip. Der Chip besteht aus Silizium - Sand - und etwas Intelligenz. Darin liegt der Grund für unbegrenzte
Möglichkeiten des Wachstums. Wir haben nämlich genügend Sand. Intelligenz ist angeblich unbegrenzt vorhanden, in der Praxis wird sie manchmal knapp; das muss
man respektieren.
({10})
Zum Glück wächst sie nach. Insofern kann man dem positiv und voller Hoffnung entgegensehen.
Bei diesem Bereich handelt es sich um eine offene
Welt; Deutschland steht im weltweiten Wettbewerb.
Globalisierung und Informationsgesellschaft sind nämlich das Gleiche: Globalisierung wird erst durch die
Informationsgesellschaft ermöglicht, die Informationsgesellschaft ist nicht anders denkbar als global. In dieser
Welt bewegt sich Deutschland; ein Deutschland, wo die
Arbeitskosten am höchsten liegen, 30 Prozent über denen
von Japan und 60 Prozent über denen der USA, doppelt so
hoch wie in Großbritannien.
({11})
Wir können in dieser Welt nur überleben, wenn wir
schneller und besser sind als andere. Dagegen können Sie
eigentlich nicht sein, denn das ist das Zitat eines Forschungsministers aus alten Zeiten, der der SPD angehörte.
({12})
Wir haben hier eine Dynamik erreicht, die sich in immer mehr Bereiche ausdehnt. Wir haben die Telekommunikation liberalisiert und den Neuen Markt aufgebaut. Der
Neue Markt als Quelle für Eigenkapital ist das wesentliche Element für den dynamischsten Bereich dieser neuen
Informationsgesellschaft, für die Start-ups und die jungen
Unternehmen. Diese können nur durch Eigenkapital finanziert werden; es entsteht eine neue Kultur des Eigenkapitals, nicht der Fremdfinanzierung. Sie brauchen Eigenkapital, weil sie Verluste machen müssen, bis sie
Know-how aufgebaut, Märkte erschlossen und Marktanteile errungen haben. Diesen Neuen Markt hat nicht der
Staat geschaffen, sondern er hat nur die Voraussetzungen
geschaffen: Wir haben die Börsenumsatzsteuer und die
Gesellschaftsteuer abgeschafft. Dadurch wurde der Neue
Markt möglich. Heute ist er der größte Markt in Europa:
Auf ihn entfallen 60 Prozent der gesamten Marktkapitalisierung aller Neuen Märkte, 80 Prozent allen Handelsvolumens. Hier entsteht die Quelle für einen dynamischen
neuen Mittelstand,
({13})
getragen von Venture-Capital-Firmen - zu Deutsch: Wagniskapitalfirmen -, getragen von Business Angels - was
das auf Deutsch heißt, wissen wir noch nicht; das kommt
noch -,
({14})
getragen von einer Vielzahl von Investoren, die sich um
das Neue, das entsteht, kümmern.
Da stehen wir heute mit einer starken Infrastruktur, mit
einer neuen Gruppe von Unternehmen mit jungen Leuten,
auch älteren Leuten und ganz alten Leuten - manche sind
auch in der Regierung -,
({15})
mit einer lebendigen Mannschaft von Investmentbankern,
von Anwälten, von Beratern, vernetzt über alle Bereiche
der Wirtschaft.
Die Frage ist: Was erwarten sie von uns, die wir den politischen Rahmen zu setzen haben? Zuerst und vor allem
verrichten die Männer und Frauen dort ihre Arbeit mit
Vergnügen. Der alte Adorno würde sich freuen. Er sprach
von der Unmenschlichkeit des Wortes „Work, while you
work, and play, while you play“.
({16})
Es sei die einzig menschliche Verhaltensweise, dass man
Arbeit mit Freude verrichte. Aufgabe des Staates ist vor
allem, den Leuten den Spaß an der Arbeit durch eine Vielzahl von Gesetzen nicht zu verderben.
({17})
Die Leute erwarten gar nicht, dass wir für sie die Arbeit tun. Sie erwarten, dass man sie nicht stört. Es war
nicht hilfreich, was wir hier zu dem wunderbaren 630Mark-Gesetz debattiert haben. Die unsägliche Debatte zur
Scheinselbstständigkeit löst keine Leidenschaft bei den
Menschen aus.
({18})
Der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit ist nichts, was
die Dynamik befördert. Die Freude der Menschen an einem neuen Betriebsverfassungsgesetz quillt noch nicht
über. Ich höre noch nicht die Begeisterungsschreie.
({19})
Was hier entsteht, ist eine Gesellschaft aus ganz eigenem Recht. Sie erwartet nicht Fürsorge, sondern Freiheit.
Sie freut sich darüber, dass sie tun darf, was sie tun
möchte. Dass die Politik nicht dazwischen steht, ist schon
eine großartige Leistung.
({20})
Sie erwarten von uns ganz einfache Dinge. Sie erwarten Wettbewerb und Offenheit der Märkte. Da haben
wir die Regulierungsbehörde und das Kartellamt. Wir
haben die Übernahmeregeln. Wir brauchen jetzt dringend
das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz, durch das einige
der Schwierigkeiten, die in den letzten Jahren erkennbar
geworden sind, ausgeräumt werden.
Sie erwarten die Sicherheit und Integrität von Verträgen. Über das Signaturgesetz spricht nachher Martin
Mayer. Schon in der alten Regierung ist die Regelung der
starken Kryptographie vom Innenminister - im Gegensatz zu anderen Innenministern - akzeptiert worden. Sie
erwarten den Schutz des geistigen Eigentums. Da haben
wir noch einige intellektuelle Aufgaben zu erfüllen. Man
stellt oft fest: Die eigentlichen Probleme sind nicht politische, sondern intellektuelle Probleme.
({21})
Sie wünschen sich, dass Deutschland in der Besteuerung wettbewerbsfähig ist. Dass Aktienoptionen kein
normales Einkommen sind, ist offenkundig. Es ist mit Risiko behaftet. Dass Aktienoptionen die Teilhabe von Arbeitnehmern am Unternehmensvermögen ermöglichen,
ist die andere Seite. Es ist notwendig, sie so zu besteuern,
dass die Menschen in Deutschland nicht schlechter gestellt sind als beispielsweise in Belgien. Unser Standort
darf für dynamische und junge Unternehmen nicht
schlechter sein als irgendein anderer. Dazu gehören natürlich auch die Steuergesetze.
({22})
Sie wollen, dass wir in Bezug auf die Business-Angels
eine Besteuerung einführen, die sie ermutigt. Die Rückführung der Wesentlichkeitsgrenze von 10 Prozent auf
1 Prozent in § 17 Einkommensteuergesetz war keine besonders intelligente Angelegenheit.
({23})
- Da ich das Beispiel Bayern höre, möchte ich feststellen,
dass das Münchner Finanzamt in einer Reihe von Punkten mit hoher Intelligenz elegante Modelle entwickelt hat,
die sich innerhalb der Gesetze bewegen, die es aber ermöglichen, dass dort dynamischer gearbeitet wird als an
anderen Orten der Republik.
Was sie also erreichen wollen, sind Dynamik und gleiche Verhältnisse. Sie wollen einen tüchtigen Nachwuchs.
Tüchtige Experten aus dem Ausland zu holen ist eine
außerordentlich interessante Idee. Von den 20 000 vorgesehenen Green Cards sind bis jetzt noch keine 5 000 vergeben.
Die Leute wollen vor allem gut ausgebildete junge
Menschen, die unsere Wirtschaft voranbringen können.
Das ist nicht nur eine Frage der Kulturtechniken, die man
in den Schulen lernen kann. Das ist auch eine Frage, mit
welcher Einstellung die jungen Menschen die Schule verlassen. Sie müssen nicht nur erfüllt von Wissen, sondern
auch erfüllt von der Lust am Lernen und von der Freude
an der neuen Technik die Schule verlassen. Man darf ihnen diese Freude nicht durch eine fortwährende Reglementierung in den Schulen austreiben.
({24})
Die Leute wollen junge Akademiker und junge Ingenieure, die im Durchschnitt nicht fünf Jahre älter sein sollen
als ihre Konkurrenten aus anderen Ländern. Dies bedeutet
nicht nur einen Unterschied von fünf Jahren in der Lebensarbeitszeit, sondern darin drückt sich auch eine andere Einstellung aus. Viele wollen mit 30 Jahren in den
öffentlichen Dienst, weil sie Verpflichtungen haben. Mit
25 Jahren hat man den Leuten dagegen noch nicht bewiesen, was sie nicht können. Sie probieren es einfach. Jemand, der mit 30 etwas gründen will, weiß, dass er es
eigentlich nicht kann. Der Unternehmungsgeist der jungen Menschen muss genutzt werden. Die Frage der Verkürzung der Studienzeit und der Studiengänge ist ein Teil
der Idee vom lebenslangen Lernen,
({25})
aber auch ein Teil der Dynamik der Gesellschaft, die von
den jungen Menschen geprägt wird.
({26})
Wir glauben nicht, dass wir in einer heilen Welt leben.
Es gibt keine Welt ohne Probleme. Diese Probleme können unterschiedlichster Art sein. Die eigentliche Aufgabe
ist, sie rechtzeitig zu erkennen. Jürgen Rüttgers hat versucht, das Problem von Rechtsextremismus und Kinderpornographie im Internet aufzugreifen. Wir konnten erfahren, wie unendlich schwierig dies ist. Wir wissen, dass
eine grundsätzliche Frage sein wird, wie wir das Entstehen einer so genannten Zweidrittelgesellschaft, zu der
eine Teil der Menschen gehört und von der andere ausgeschlossen sind, verhindern können. Diese Frage zu beantworten ist die Aufgabe des Staates.
Aber ich vertraue darauf, dass die Wirtschaft begreift,
dass es auch ihre Angelegenheit ist, weil die Märkte von
dieser Entwicklung betroffen sind. Wenn 70 Prozent der
Deutschen nicht imstande sind, ihren Videorekorder zu
programmieren, dann ist es kein Argument gegen die
Deutschen, sondern gegen die Videorekorder. Wir wollen
nicht, dass alle Deutschen Softwareingenieure werden,
sondern wir wollen intelligente Geräte.
({27})
Wir freuen uns - bei allem Streit, den wir um einzelne
Punkte führen werden - über diesen positiven Antrag der
SPD, der heute zur Debatte steht. Ich glaube - ich bin mir
aber nicht sicher -, es war Hubertus Schmoldt, der erkannt
hat: Die letzte Technik, die von der SPD voll akzeptiert
worden ist, war der Farbfernseher.
({28})
Diese Haltung wollen Sie jetzt überwinden, wozu ich
Ihnen gratuliere.
({29})
Ich finde es großartig, wenn wir in der Bewertung der modernen Technologie Einstimmigkeit erzielen. Sie zu akzeptieren ist eine Voraussetzung für rationales Handeln.
Ich würde mich freuen, wenn sich dieser zukunftsfähige
Geist vom Transrapid bis zur grünen Gentechnologie ausbreitet. Man sollte endlich die Chance ergreifen, die Welt
so zu gestalten, wie es unseren Möglichkeiten entspricht.
Wir sollten tun, was notwendig ist, anstatt Moratorien zu
schaffen und uns in Zurückhaltung zu üben.
({30})
Wir gratulieren der SPD zu diesem Antrag, den sie mit
ungeheurem Fleiß erarbeitet hat und an dem wir uns heute
erfreuen. Er lobt die Bundesregierung in einer Weise,
({31})
wie es für eine loyale Koalitionspartei angemessen ist.
Wir sind zuversichtlich, dass die SPD und natürlich
auch die Grünen, die bis jetzt brüderlich an der Seite der
SPD stehen, über die Informationstechnologie hinaus die
Kraft haben, eine Politik zu betreiben, die die Menschen
nicht irritiert. Die Politik muss vielmehr den Menschen
dienen. Nicht der Politiker, sondern die ganz normalen
Menschen müssen im Mittelpunkt stehen. Sie müssen
Freude daran haben, diese Welt durch ihren Unternehmungsgeist in Freiheit selbst zu gestalten.
({32})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Riesenhuber, wenn Ihre frühere Politik genauso lebendig gewesen wäre wie Ihre virtuos vorgetragene Rede,
hätten wir heute einige Probleme weniger.
({0})
Aber Sie scheinen da wie hier am Redepult etwas daneben zu stehen und in einer virtuellen Rüttgers-Vergangenheit zu leben, um das einmal gelinde auszudrücken.
Die Internetbranche befindet sich derzeit in einer
scheinbaren Krise. Die Aktienkurse von so gefeierten Unternehmen wie Intershop sind abgestürzt, die Volksaktie
Telekom geht auf Tiefstwerte, die Euphorie ist verflogen
und mit der Börsenblase scheint auch die Illusion zu platzen, dass Cybercash wie Manna vom Himmel fällt. Einerseits holt die Marktlogik eine hyperaktive Welt dieser New
Economy auf den Boden der Tatsachen zurück. Andererseits sagen uns Prognosen wie die des RWI, dass wir in
diesem Bereich in den nächsten Jahren zusätzliche
Arbeitsplätze in der Größenordnung von 750 000 zu erwarten haben.
Was also sind die Hintergründe dieser aktuellen Entwicklung? Ist der Hightechboom zu Ende, bevor er überhaupt richtig begonnen hat? Wie reagiert die Politik darauf?
Bei aller Ernüchterung: Was wir momentan erleben,
ist nicht der Anfang vom Ende, sondern eher das Ende
vom Anfang. Es beginnt eine neue Phase einer überaus
chancenreichen und interessanten Entwicklung: das Verschmelzen zweier Welten, der Old und der New Economy.
Was wir erleben, ist der Strukturwandel zur Netzwerkökonomie, eine digitale Revolution, die praktisch den gesamten Alltag durchdringt. Der Nutzen des Internets steigt
mit seiner Ausbreitung. Die Kosten der Information sind
sowohl für Unternehmen als auch für Konsumenten extrem gefallen. Der Erfolg ist: Käufer können jetzt einfacher denn je alle möglichen Güter zu attraktiven Preisen
finden.
Durch die neuen Technologien ist die Produktivität
gestiegen. Genauer gesagt: Mit der schnellen Ausbreitung
des Internets ist es selbst zum Katalysator für diese dynamische Entwicklung der Wirtschaft geworden. Nach wie
vor wird die neue Branche der Medien-, Telekommunikations-, Software- und Hardwarefirmen deutlich stärker
wachsen als alle übrigen Wirtschaftszweige, auch wenn
etliche Erwartungen übertrieben, manche Sprüche überzogen waren, es nicht mehr danach aussieht, dass die
Schnellen die Langsamen fressen, sondern jetzt die
Großen die Schnellen schlucken.
Dennoch: Pro Firma, die vom Markt verschwindet, gibt
es gleichzeitig zwei Neugründungen. Der globale Markt
wird durch das Internet greifbar. Die Unternehmen konzentrieren sich auf ihre Kernkompetenzen und bearbeiten
den Weltmarkt. Das Internet ermöglicht die schnelle, projektbezogene Kooperation von Unternehmen. Darum entstehen mit der Ausbreitung des Netzes neue Chancen für
kleine Unternehmen und Selbstständige.
Zwar hat E-Commerce mit einem geschätzten Umsatz
von etwa 3 bis 5 Milliarden DM pro Jahr noch eine relativ geringe Bedeutung. Doch werden auch dieser Anwendung hohe Wachstumsraten vorausgesagt, vor allem im
Geschäftsbereich Business to Business. Die Unternehmen
rechnen damit, ihre Kosten massiv zu senken. Zahlreiche
Läden werden in Zukunft durch Onlineshops ersetzt.
Dieser Strukturwandel stellt hohe Anforderungen an
die Unternehmen und an die Beschäftigten. Die Koalition
hat deswegen die Mittel für Fortbildung und Umschulung
der Bundesanstalt für Arbeit in diesem Bereich erhöht.
Deutschland hat sich in der Informations- und Kommunikationstechnik zu einem der weltweit führenden
Standorte entwickelt. Wir verfügen über die weltweit
besten Telekommunikationsnetze und sind auf dem Weg
ins mobile Internet zum Schrittmacher geworden. Gerade
in den neuen Ländern zeigen sich diese Vorzüge und ziehen Hightechunternehmen in den Osten. Sie siedeln sich
nicht auf der Kippe an, um das deutlich zu sagen.
Nach Einschätzung des Branchenverbandes Bitkom
liegt im Zusammenhang mit der Entwicklung und Anwendung mobiler Technologien - Stichwort: UMTS - das
neue Internet im alten Kontinent, oder anders gesagt: Die
Zukunft des Internet kommt aus Europa. In Deutschland
hat sich in den letzten Jahren ein wahrer Aufbruch im Internet ereignet. Mit innovativen Produkten und Dienstleistungen schaffen die vielen Start-ups neue, zukunftsfähige Arbeitsplätze. Für viele, vor allen Dingen junge
Menschen ist die Gründung eines Unternehmens wieder
zu einem lohnenswerten Ziel geworden. Mit diesen Unternehmen hat sich auch eine neue, beteiligungsorientierte
Unternehmenskultur herausgebildet. Vieles spricht dafür,
dass hier der Gegensatz von Kapital und Arbeit an Bedeutung verliert, Arbeitnehmer sich als Wirtschaftsbürger
emanzipieren.
Ich sage das vor dem Hintergrund des neuen Betriebsverfassungsgesetzes und der Tatsache, dass der Börsencrash ein Zähneklappern in manchen arbeitsintensiven
Start-up-Unternehmen ausgelöst hat und sich die Frage
nach einem ausgewogenen Verhältnis von Mitarbeit und
Mitbestimmung neu stellt. Denn bei allen Problemen:
Wir müssen aufpassen, dass die Übertragung von Erfahrungen aus den Industriegewerkschaften nicht die Zukunft und die neuen Organisationsformen der Informations- und Wissensgesellschaft einengt.
Gründer, welche die Chancen des Internets nutzen,
werden über Beteiligungskapital finanziert. Der Zugang
zu Risiko- oder - besser gesagt - Chancenkapital ist deswegen zu einem zentralen Erfolgsfaktor geworden. Die
rot-grüne Bundesregierung hat diesbezüglich große Anstrengungen unternommen. In Deutschland haben die öffentlichen Banken einen sehr großen Anteil an der Entwicklung dieses Marktes übernommen.
Ein akutes Problem unserer Wirtschaft sind die fehlenden IT-Fachkräfte - und dies bei hoher Arbeitslosigkeit.
Das Problem verweist auf zwei Notwendigkeiten: die Verstärkung der Aus- und Weiterbildung und die Öffnung unseres Landes für ausländische Fachkräfte.
({1})
Bei der Ausbildung wurde ein erster wichtiger Schritt getan: Im Rahmen der Initiative D-21 wurde vereinbart, bis
zum Jahr 2001, also bis Ende dieses Jahres, 60 000 Arbeitsplätze in den neuen Multimediaberufen zusätzlich zu schaffen. 40 000 sind bereits realisiert, in Berufen, die es 1997
überwiegend noch nicht gab.
Die Green-Card-Initiative hat mittlerweile 2 000 Spezialisten nach Deutschland gebracht. Sie sichern rund
8 000 Arbeitsplätze im entsprechenden Umland; um einmal darauf hinzuweisen, welche Auswirkungen diese Initiative im Einzelnen hat.
({2})
Dieser erste Schritt reicht allerdings nicht aus. Eine befriedigende Antwort kann nur ein weltoffenes Einwanderungsgesetz geben. Gerade im IT-Bereich zeigen sich die
immensen Chancen einer offenen multikulturellen Gesellschaft. Die Unternehmen der Netzwerkökonomie
agieren auf dem globalen Markt und sind deshalb auf Mitarbeiter aus verschiedenen Kulturen angewiesen. Ihre
kreative Kooperation wird zur Voraussetzung der
Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Zum Beispiel im
Institut für Halbleiterphysik, das es erreicht hat, dass in
Frankfurt/Oder in großem Ausmaß in eine neue Chipproduktion investiert wird, arbeiten 200 Experten aus
16 Ländern. Intershop - in der DDR nur ein Name, der
den Duft der großen weiten Welt ahnen ließ, heute ein Unternehmen, das Softwarelösungen für den E-Commerce
entwickelt - holt ganz bewusst ausländische Spezialisten
nach Jena.
Schaffen wir also überall in Deutschland attraktive
Standortbedingungen für solche Unternehmen und ihre
Mitarbeiter! In diesem Sinne haben die Fraktionen der
Regierungskoalition einen Antrag vorgelegt, der in
18 Punkten benennt, wie wir dieses Ziel erreichen wollen.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rainer Brüderle, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Titel Ihrer Jubelarie „Deutschlands
Wirtschaft in der Informationsgesellschaft“ zeigt nur eines: Die Koalition lebt im virtuellen Traumland ihrer Anträge.
({0})
New Economy hat zwar viel mit Virtualität zu tun. Die
Rahmenbedingungen aber, die darüber entscheiden, ob
die deutsche Wirtschaft im Zeitalter der New Economy in
guter Verfassung ist, sind stark verbesserungsfähig. Hier
wird allzu deutlich: Das Denken in Ordnungen, das Setzen von Rahmenbedingungen ist nun wirklich nicht Ihre
Stärke.
({1})
Im Gegenteil: Grün-Rot versagt bei der Schaffung vernünftiger gesamtwirtschaftlicher Rahmenbedingungen
und verhindert somit die Entwicklung der New Economy
in Deutschland.
({2})
Erst gestern haben Sie der gesamten Wirtschaft mit einer
verheerenden Kabinettsentscheidung zur Verschärfung
der Mitbestimmung weitere Fesseln angelegt.
({3})
Ihre Mitbestimmungspläne atmen den Geist von vorgestern. Das ist der krasse Gegensatz zu dem, was die Wirtschaft im Informationszeitalter braucht. Darauf, dass Sie
die Mitbestimmung verschärfen, hat gerade die New Economy gewartet, Herr Müller. Das ist das Gegenteil vom
Setzen vernünftiger Rahmenbedingungen.
({4})
Eines ist sicher: Das Geld, das jetzt in den Unternehmen für die Erfüllung Ihrer Funktionärsträume draufgeht,
fehlt für Innovationen und Investitionen, für E-Commerce
und neue Produkte - und damit letztlich für Arbeitsplätze.
Versagt hat hier wieder einmal Bundeswirtschaftsminister
Müller: Mit der Leichtigkeit eines Mausklicks hat er die
Werner Schulz ({5})
deutsche Wirtschaft einer verstärkten Fremdbestimmung
durch die Gewerkschaften ausgeliefert.
({6})
Der Letzte macht das Licht aus. Bei dieser Bundesregierung dürfte das der Betriebsrat sein.
({7})
Die F.D.P. fordert mehr Mitarbeiterbeteiligung statt gewerkschaftlicher Fremdbestimmung.
({8})
Würden die Rahmenbedingungen in diesem Land
stimmen, dann müsste sich in Deutschland ein deutlich
besserer Wachstumspfad ergeben. Davon sehe ich wenig.
Im Gegenteil. Die Wachstumsprognosen verdüstern
sich. Erst vorgestern hat das Ifo-Institut seine Wachstumsprognose für dieses Jahr auf nur 2,4 Prozent heruntergeschraubt.
({9})
So viel Wachstum wird es in den USA selbst im beginnenden Abschwung noch geben. In den letzten Jahren waren es jeweils zwischen 4 und 5 Prozent.
({10})
Das Entscheidende: Die technologischen Innovationen der
New Economy haben dort das jährliche Potenzialwachstum um 0,5 bis 1 Prozent vergrößert. In Deutschland hingegen tut Grün-Rot nichts, um das Potenzialwachstum zu
erhöhen. Dabei hat der Sachverständigenrat der Bundesregierung ins Stammbuch geschrieben - ich zitiere -:
Damit die neue Ökonomie und der damit einhergehende Strukturwandel in Deutschland nicht behindert werden, muss die Wirtschaftspolitik ein innovationsfreundliches Umfeld schaffen, das der Dynamik
dieses Bereichs genügend Raum zur flexiblen Entlastung gibt.
({11})
Flexible Faktormärkte, freier Wettbewerb, klare
Leistungsanreize bleiben unverzichtbar.
({12})
Im Klartext: Die beste Politik für die Wirtschaft im Informationszeitalter ist eine klare liberale Ordnungspolitik.
({13})
Denn die New Economy ist das Lösungsmittel für den
Klebstoff unserer verkrusteten Strukturen.
({14})
Die Bundesregierung will dies nicht begreifen - im Gegenteil, diese Regierung rührt ständig neuen Kleister an.
Auch für flexible Faktormärkte tut die Bundesregierung nichts. Statt Flexibilität erleben wir überall - wie bei
der Betriebsverfassung - Stillstand und rückwärts gewandtes Denken. Selbst bei einem so kleinen Thema wie
dem Ladenschluss kommen Sie nicht voran, und das im
Zeitalter des zeitlich unbegrenzten Onlinehandels.
({15})
Rabattgesetz und Zugabeverordnung wurden erst in letzter Minute abgeschafft.
({16})
Doch das ist alles Kleinkram gegen die wirklich wichtigen Defizite in unserem Land. In großen, blumigen Sätzen beschreiben Sie in Ihrem Antrag die Veränderungen
auf dem Arbeitsmarkt und Ihre Perspektiven für mehr Beschäftigung durch die New Economy. Doch: Für die New
Economy braucht Deutschland mehr Flexibilität auf dem
Arbeitsmarkt; Grün-Rot dagegen „verriestert“ und „verregelt“ den Arbeitsmarkt.
({17})
Kündigungsschutz, Verschärfung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Scheinselbstständigkeit, Einschränkung der 630-DM-Jobs, Recht auf Teilzeitarbeit
machen den Arbeitsmarkt noch starrer, als er ohnehin
schon ist.
({18})
Glauben Sie denn wirklich, dass Sie mit diesem Horrorkatalog den Start-ups, der mittelständischen Wirtschaft in
unserem Land einen Gefallen tun? Glauben Sie denn
wirklich, dass der Wirtschaft im Zeitalter der New Economy mit Ihrem Gewerkschaftsdenken des 19. Jahrhunderts noch gedient ist?
({19})
Dann kommt einmal ein halbwegs vernünftiger Vorschlag, und zwar ausnahmsweise von Frau Wolf. Sie wollen über Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen betriebliche Bündnisse für Arbeit schließen.
({20})
- Herr Tauss, Sie können es einmal nachlesen: Ich zitiere
aus dem Papier von Frau Wolf mit dem Titel „Chancen des
IT-Gründerbooms nutzen“. Sie schreibt darin:
Unser Vorschlag ist, dass der Arbeitsplatzerhalt bei
der Günstigkeitsabwägung berücksichtigt wird.
({21})
Genau das wollen wir im Tarifvertragsrecht. Aber das
einzige, was Sie schließlich zustande bekommen, ist ein
Entschuldigungsbrief an die Gewerkschaften. Frau Wolf
als Staatssekretärin ist neben dem Feigenblatt Müller
noch so ein Feigenblättchen. Das ist die grün-rote Innovation: ein Pärchen mit Feigenblatt, quasi eine politische
Romanze im Feigenblatt, die Sie damit schaffen.
({22})
Auf dem Gebiet der modernen Lohn- und Gehaltspolitik bieten Sie jedenfalls ein Jammerbild. Wir alle wissen:
Für die Firmen der Netzwerkwirtschaft, für die jungen
Start-ups, ist das Thema der Besteuerung von Aktienoptionen von existenzieller Bedeutung. Aktienoptionen werden, allen aktuellen Börsenkursen zum Trotz, ein wichtiger Bestandteil eines modernen Lohnmixes bleiben. Denn
der beste Anreiz für Arbeitnehmer ist die Beteiligung am
Produktivvermögen. Herr Mosdorf hat dazu sehr diskussionswürdige Vorschläge unterbreitet, doch Herr Müller
wollte ihm diesen Erfolg offensichtlich nicht gönnen. Statt
diese für die Start-ups und die gesamte Netzwirtschaft so
wichtige Frage endlich zu klären, herrscht grün-rote
Selbstblockade.
Meine Damen und Herren, für die New Economy
braucht Deutschland Flexibilität bei der Zuwanderung,
({23})
sonst werden wir den globalen Wettbewerb um die besten
Köpfe nicht gewinnen. Die Green Card ist nur eine Heftpflasterstrategie ohne Zukunftsperspektive.
({24})
Das wissen auch Sie! Wir müssen die Zuwanderung umfassend und liberal regeln. Die F.D.P. hat dazu längst einen Gesetzentwurf vorgelegt,
({25})
einen Gesetzentwurf, den übrigens Ihre rheinland-pfälzischen Genossen voll mittragen. Reden Sie einmal mit
Rheinland-Pfälzern, vielleicht werden Sie dann schlauer!
Stimmen Sie zu, statt weiter zu vertagen.
({26})
- Sie haben die Grünen! Da haben Sie halt Pech gehabt.
Klare Ordnungspolitik für die Wirtschaft im Zeitalter
der New Economy bedeutet ein eindeutiges Bekenntnis
zum funktionsfähigen Wettbewerb - ein Fremdwort für
diese Bundesregierung, die das Wirtschaftsministerium
zu einem Monopolministerium hat verkommen lassen.
({27})
Gerade der wirksame Wettbewerb auf den Zukunftsmärkten Telekommunikation und Logistik ist Grundvoraussetzung für die Wirtschaft in der Informationsgesellschaft.
In Ihrem Antrag loben Sie die weltweit vorbildliche
Liberalisierung der Telekommunikationsmärkte.Aber
natürlich verschweigen Sie zweierlei: Erstens. Diese Erfolge können Sie nur feiern, weil wir die Liberalisierung
seinerzeit gegen Ihren erbitterten Widerstand durchgesetzt haben.
({28})
Zweitens. Ihre Fraktion wird, nachdem Herr Scheuerle erfolgreich weggemobbt wurde, einen Kurswechsel in der
Regulierungspolitik einleiten wollen. Das Papier von
Herrn Kollegen Barthel, einem Ihrer vielen Gewerkschaftssekretäre, spricht Bände, entlarvt Ihren Antrag als
rosarote Politlyrik.
({29})
Gleiches gilt für den Zukunftsmarkt Logistik. New
Economy ist auch Logistik, weil die Warenströme individueller und schneller fließen müssen. Diese Zukunftsbranche wird durch ein Teilmonopol der Post und unzureichenden Wettbewerb auf der Schiene behindert. Zu all
dem schweigt Ihr Antrag. Wenn Sie denn doch gerade die
mittelständischen Firmen fit machen wollen für die Herausforderungen der New Economy, dann ist ihnen mit
Deregulierung, mit Liberalisierung, mit staatlicher
Entlastung mehr gedient als mit den in Ihrem Antrag so
gepriesenen Kompetenzzentren. Das ist Schwafellyrik,
aber keine konkrete Hilfe.
({30})
Solche Industriepolitik passt nicht mehr in das 21. Jahrhundert. Aber sie ist kennzeichnend für die politische Fantasielosigkeit, wie sie die New Economy von Grün-Rot
zum Leidwesen der Wirtschaft schon längst gewohnt ist.
Bestes Beispiel ist Ihr Schlingerkurs in der Frage der
Urheberrechtsabgabe. So langsam dämmert es auch
Frau Däubler-Gmelin, dass ihre ursprünglichen Pläne
kontraproduktiv sind. Den Herausforderungen der New
Economy werden wir mit einem „Weiter so!“ nicht gerecht.
({31})
Bei allen Schlüsselfragen erleben wir einen grün-roten
Schlingerkurs.
Die deutsche Wirtschaft braucht im Informationszeitalter eine mutige Politik und entschlossenes Handeln,
aber kein grün-rotes Denkmikado. Sie braucht dringender
denn je eine Renaissance der Ordnungspolitik, klare Prinzipien und Berechenbarkeit - damit diejenigen, die den
Mut zu Selbstständigkeit haben, dies auch tun können. Sie
behindern doch die, die diesen Schritt gehen wollen. Statt
ihnen tausend Handschellen anzulegen, sollten Sie endlich einen Weg einschlagen, um in diesem Land die tausend Handschellen abzulegen, damit wir vorankommen
bei der Schaffung von Arbeitsplätzen.
({32})
Stattdessen tragen Sie die Fahnen von vorgestern als
Monstranz vor sich her. Mit diesen Regeln des Klassenkampfes, mit denen Sie einmal Ihre Geschichte begonnen
haben, werden Sie heute nichts erreichen.
({33})
- Ich verstehe ja, dass die geschulten Gewerkschaftssekretäre wie Frau Lotz schreien. Das haben Sie ja im Schulungskurs I gelernt: Wenn jemand die Wahrheit sagt,
schreien, damit man ihn nicht hört. - Aber noch kann man
in diesem Land frei reden.
({34})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ulla Lötzer, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Kolleginnen
und Kollegen! Die Faszination der Arbeit in der IuKBranche liegt darin, komplexe Abläufe organisatorisch
und technisch neu zu gestalten und zu beherrschen. Die
Faszination, die soziale Dimension dieser Entwicklung
zu beherrschen, könnte auch für Politiker und Politikerinnen gelten. Ihrem Lob des Antrags, Kollege Riesenhuber,
kann ich mich in diesem Sinne leider nicht anschließen.
Würde man diese Maßnahmen in eine IuK-Anwendung
für den sozialen Umbau umsetzen, käme das Programm
leider auch in vielen Nächten nicht zum Laufen. Die
Steuerung, immer entscheidend für den funktionierenden
Ablauf, stimmt in vielen Fällen nicht.
Sie setzen im Wesentlichen auf die Selbstregulierungskräfte, Sie sehen nur die Chancen und verschließen die
Augen vor den Risiken. Dies gilt insbesondere für die Beschäftigungswirksamkeit. Immer wieder - wie auch
heute - beschwören Sie die Aussicht auf mögliche zusätzliche 750 000 Arbeitsplätze, errechnet vom RWI. Das
Gutachten geht dabei allerdings von der Voraussetzung
aus, dass zum Beispiel die Börsenkurse den zukünftigen
Strukturwandel zutreffend widerspiegeln. Wohlgemerkt:
Das Gutachten stammt aus der Zeit vor dem jetzigen
Crash. Das sagen Sie nicht, geschweige denn, dass Sie
jetzt Konsequenzen daraus ziehen.
Auch eine zweite Modellrechnung in diesem Gutachten nennen Sie nicht. Danach kommt das RWI zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung zu keinem spürbaren Abbau
der Arbeitslosigkeit beiträgt, denn Beschäftigungszuwächse würden durch Beschäftigungsrückgänge in anderen Bereichen neutralisiert. Auch diese Prognose scheint
heute fast zu optimistisch, und zwar nicht, weil der Crash
den Niedergang des elektronischen Handels bedeutet, im
Gegenteil: Hier beginnt einerseits eine Konsolidierung,
andererseits haben die etablierten Industrie- und Handelskonzerne inzwischen die Initiative an sich gezogen.
Bei der Konsolidierung werden nicht die Schwergewichte der Old Economy, sondern Start-ups auf der
Strecke bleiben. Die Bedeutung des E-Commerce wächst,
doch die Beschäftigungswirksamkeit bleibt unter den Erwartungen. Dies gilt insbesondere für die kleinen und
mittleren Unternehmen.
Natürlich haben Sie Recht, den Mittelstand aufzufordern, die Möglichkeiten des E-Commerce zu nutzen. Vor
allem im Bereich der Zulieferer kann man sagen: Wer es
nicht tut, wird in Zukunft nicht mehr dabei sein. Die
Realität - auch dies ist in einem Gutachten wiedergegeben - erschreckt: Deutsche Klein- und Mittelbetriebe rangieren allenfalls am unteren europäischen Level.
Insbesondere gilt das für Betriebe in ländlichen Gegenden
und in den neuen Ländern. Die Bundesregierung will dem
mit Kompetenzzentren entgegenwirken. Das begrüßen
wir, im Gegensatz zur F.D.P.
({0})
Das Gutachten stellt aber auch fest: Der Wettbewerb
auf bisher geschützten Märkten wird zunehmend an Härte
gewinnen. Der davon ausgelöste Wettbewerbs- und Kostendruck wird sich zum Nachteil der dortigen Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen auswirken. Es droht ein
erneuter Wettlauf im Niederkonkurrieren der sozialen
Standards. Die Stellung der Global Players gegenüber den
KMU wird gestärkt. Dies gilt insbesondere beim Einsatz
der elektronischen Marktplätze für die Beschaffung.
Wann es sich dabei um Einkaufskartelle handelt und
wie der Schutz des fairen Wettbewerbs gestaltet werden
soll, ist völlig ungeklärt. Sie erfassen nicht einmal das
Problem, wie ein Kartellrecht, das ein Jahrhundert alt ist,
auf die Welt des Internets überprüft und zeitgemäß fortgeschrieben werden kann.
Neben den schon genannten Problemen ergeben sich
weitere gravierende Änderungen der Arbeitsverhältnisse: Der Betrieb als räumliche und soziale Einheit verliert zunehmend seine Bedeutung, der Anteil der Tele- und
Projektarbeitsverhältnisse nimmt zu. Es wird vermehrt
unstete Lebensläufe, verbunden mit dem Wechsel von abhängiger und selbstständiger Beschäftigung, geben. Die
Bedingungen für die betrieblichen und gewerkschaftlichen Mitbestimmungsrechte verschlechtern sich.
Sie sagen in Ihrem Antrag, dies dürfe nicht zur
Schwächung des sozialen und rechtlichen Status führen;
doch wo bleiben Ihre Maßnahmen? Sie reformieren die
sozialen Sicherungssysteme, aber eine Sozialversicherungspflicht für alle gibt es nicht. Sie reformieren das Betriebsverfassungsgesetz, doch dringend notwendige Antworten auf diese Entwicklungen fehlen im Entwurf
weitgehend.
({1})
Die vom DGB geforderte Erweiterung des Arbeitnehmerbegriffs, der alle abhängig Beschäftigten einbezieht, fehlt
ebenso wie eine Ausweitung der Mitbestimmungsrechte
in wesentlichen Bereichen, zum Beispiel in den Fragen
der Arbeitsabläufe und -verfahren oder bei der Einführung von Telearbeit. Ich fordere Sie auf, den Entwurf
in diesem Sinne nachzubessern.
Auch die digitale Signatur ist ein Schlüsselelement
für die Entwicklung. Mit dem heute vorliegenden Antrag
werden in Anpassung an die europäische Richtlinie alle
Arten von Signaturen zugelassen, auch solche ohne
Sicherheitsüberprüfung.
Auch wenn die Forderung der Verbraucherverbände
aufgenommen wurde, den Sicherheitsstandard von geprüften Signaturen mit Qualitätssiegeln zu kennzeichnen,
bedeutet das Gesetz eine Verschlechterung gegenüber der
bisherigen Regelung, nur sicherheitsgeprüfte Siegel zuzulassen. Die Bundesregierung versucht über verschiedene Projekte, die gesellschaftliche Akzeptanz zu erhöhen. Im Kommunikationsportal „Media@Komm“ wird
unter anderem untersucht, in welchen Formen sich die
Anwendung durchsetzt. In einem Begleitbericht wird davon ausgegangen, dass große Anbieter mit Signaturen
ohne Qualitätssiegel auf den Markt kommen werden.
Im Preiswettbewerb und über mögliche Anwendungen
mit Zusatznutzen oder sogar Zwangsnutzen werde sich
der Standard entscheiden. Die Sicherheits- und Qualitätsinteressen der Verbraucher werden damit dem Markt
überlassen. In Bezug auf die Möglichkeiten des Zwangsnutzens fordern die Verbraucherverbände zu Recht, dass
auch künftig allen Verbrauchern die Möglichkeit offen
stehen müsse, rechtlich relevante Geschäfte auf herkömmliche Art zu tätigen.
Auch in der so wichtigen Frage hinsichtlich der Überwindung der sozialen und digitalen Spaltung setzt die
Bundesregierung auf die Eigeninitiative der Unternehmen. „Die PC-Ausstattung der Schulen kommt nicht
voran“, wiederholte der Vorsitzende der D-21-Initiative,
Herr Staudt, erst kürzlich. Jetzt fordert er von der Bundesregierung, dass sie sich um die Ausstattung der Hauptund Sonderschulen kümmern müsse; die Unternehmen
übernähmen die Ausstattung der Gymnasien.
({2})
Damit wird die soziale und digitale Spaltung zementiert.
({3})
Auch dazu kein Wort von Ihnen!
Wir fordern Sie auf - das können Sie ja dann gleich tun -,
ein Konzept vorzulegen,
({4})
das die Ausstattung aller Schulen gewährleistet.
Kolleginnen und Kollegen, wir fordern Sie dringend
auf, in wesentlichen Fragen der sozialen Gestaltung umzusteuern, damit Ihr Programm zum Laufen kommt. In
unserem Antrag, der heute auch zur Debatte steht, haben
Sie dazu vielfach Hinweise genannt bekommen. Wir wollen, dass die Chancen realisiert werden, sind aber der Meinung, dass dazu Antworten auf die Risiken dringend erforderlich sind.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Hubertus Heil, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor kurzem war zu lesen, dass
der heilige Isidor von Sevilla vom Papst zum Schutzpatron der Internetbenutzer und Programmierer ernannt
werden soll. Man kann also offenbar feststellen, dass auch
im Vatikan der Weg in die Informations- und Kommunikationsgesellschaft mittlerweile Chefsache ist. Ich muss
nur sehr deutlich sagen, Herr Riesenhuber: Von Deutschland konnte man das bis zum Regierungswechsel 1998
nicht gerade behaupten.
({0})
Ich freue mich ja ganz besonders, dass der Kollege
Dr. Helmut Kohl heute endlich wieder einmal im Parlament ist. In dem Zusammenhang fällt mir ein, wie das
1994 war, Herr Dr. Kohl: Da wollten Sie als Bundeskanzler, wie in den Archiven nachzulesen ist, die Datenautobahn noch dem Verkehrsministerium zuordnen.
({1})
Die Modernisierung unserer Volkswirtschaft hat den damaligen Regierungschef - um es ganz vorsichtig zu sagen nur am Rande interessiert. - Dieses vernichtende Urteil
stammt übrigens nicht von einem Sozialdemokraten, sondern vom früheren BDI-Chef Hans-Olaf Henkel. Auch der
Kollege Rüttgers räumt das ja inzwischen ein: Sie haben
jahrelang die Modernisierung unserer Volkswirtschaft eben
nicht vorangetrieben, meine Damen und Herren von der
CDU.
({2})
Es war die SPD-geführte Bundesregierung, die seit
dem Regierungswechsel durch mutige Reformen die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass Deutschland
heute wirtschaftlich auf der Überholspur ist.
({3})
Die Zahlen, Herr Brüderle, sprechen für uns: mit über
3 Prozent Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr, mit
über 500 000 neuen Arbeitsplätzen und hervorragenden
Wachstums- und Beschäftigungsprognosen auch für dieses Jahr.
Ein wesentlicher Grund ist, dass Deutschland mit
Gerhard Schröder nach 16 Jahren wirtschaftspolitischer
Bräsigkeit wieder einen Bundeskanzler hat, der sich für
zentrale ökonomische Fragen unserer Zeit interessiert und
auch handelt.
({4})
Das betrifft insbesondere auch die Informations- und
Kommunikationstechnologie und hat dazu beigetragen,
dass unser Land - nun hören Sie genau zu - mittlerweile
auf dem Weg zur führenden Internetnation in Europa ist
und damit auch zur Weltspitze aufschließt.
Die neuen Medien sind für uns der Turbomotor zur
Modernisierung der gesamten deutschen Volkswirtschaft.
Uns ist bewusst: Sie sind die zentralen Basistechnologien.
Viele andere Technologien und Innovationen bauen auf
ihnen auf. Deshalb hat diese Bundesregierung von Beginn
an wichtige Akzente für die beschleunigte Verbreitung
und Nutzung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien in Deutschland gesetzt.
Der deutsche Markt für diese Technologien und
Dienstleistungen ist allein in den letzten beiden Jahren um
rund 20 Prozent gewachsen. Da kann man nicht sagen,
dass das nichts ist. 1,7 Millionen Menschen haben ihren
Arbeitsplatz in der deutschen IT-Branche gefunden. Auch
unser Anteil am Weltmarkt hat sich deutlich verbessert.
Bereits in wenigen Jahren werden in der deutschen ITBranche mehr als 300 Milliarden DM Umsatz gemacht
werden. Sie wird damit - das muss uns allen, auch uns
Wirtschaftspolitikern, bewusst sein - zum größten Wirtschaftszweig in unserem Land überhaupt.
Eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung der Informationswirtschaft spielen mittelständische Unternehmen und
junge Existenzgründer. Zahlreiche neue Firmen konnten
in den letzten beiden Jahren durch die Bereitstellung von
Wagniskapital aufgebaut werden. Unsere Koalition hat
mit der Steuerfreistellung der Beteiligungsveräußerungen
Impulse für die weitere Belebung des Risikokapitalmarktes gegeben. Damit schaffen wir ein wichtiges Sprungbrett in eine unternehmerische Zukunft. Insofern, Herr
Brüderle: So viele Sprechblasen wie bei Ihnen eben habe
ich lange nicht mehr gehört. Das muss man deutlich sagen.
({5})
Wir können konkret nachweisen, was wir getan haben.
Was Sie getan haben, hat sich mir noch nicht erschlossen,
obwohl die freien Demokraten 30 Jahre lang den Wirtschaftsminister gestellt haben.
Inzwischen haben mehr als 40 Prozent der Deutschen
zwischen 14 und 70 Jahren einen Internetzugang.
Deutschland befindet sich hier also auf dem richtigen
Weg, auch wenn uns dies noch nicht ausreicht. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat im letzten Jahr ein ZehnPunkte-Programm unter dem Titel „Internet für alle“
vorgelegt. Frau Lötzer, das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
({6})
Dieses Programm bündelt zentrale Maßnahmen des Aktionsprogramms der Bundesregierung. Es dient auch der
Umsetzung des E-Europe-Aktionsplans der Europäischen
Union und anderer internationaler Vereinbarungen. Damit
machen wir deutlich: Es ist unsere Aufgabe, beim Übergang unseres Landes von der Industrie- zur Wissensgesellschaft neue soziale Spaltungen zu verhindern. Wir Sozialdemokraten setzen alles daran, eine digitale Kluft in
dieser Gesellschaft zu vermeiden.
({7})
Es ist unsere Aufgabe, allen Bürgerinnen und Bürger den
Zugang zum Internet zu ermöglichen. Es darf eben keine
Teilung geben.
({8})
- Das ist kein Klassenkampf. Das ist Unsinn, Herr von
Klaeden. Sie kennen die Realitäten in diesem Bereich offenbar nicht.
({9})
Angesichts der vorherrschenden Dynamik besteht im
Moment die Gefahr, dass es zu einer Kluft zwischen Angeschlossenen und Ausgeschlossenen, zwischen Losern
und Usern kommt. Dies hat nichts Klassenkämpferisches.
So etwas zu behaupten ist Unsinn. Schauen Sie sich die
Debatte in den USA an. Sie läuft genau in diese Richtung.
({10})
Die gleichberechtigte Teilhabe in diesem Bereich ist
nicht nur aus Gründen des sozialen Zusammenhalts notwendig, sondern auch aus Gründen, die etwas damit zu
tun haben, diese Wirtschaft zu entwickeln und die Informations- und Kommunikationstechnologien stärker in unserer Gesellschaft zu verankern.
({11})
Dazu müssen die gleichberechtigte Teilhabe der Menschen an den Möglichkeiten der I-und-K-Techniken und
der freie Zugang - das gehört auch dazu - zu qualitativ
hochwertigen Informationen gesichert werden. Wenn es
uns gelingt, den Einstieg ins Internet für alle zu schaffen,
können Produktivitätsfortschritte im besten Sinne unserer
sozialen Marktwirtschaft genutzt werden. Ich kann nur sagen: Unser Ziel in diesem Bereich - ich weiß nicht, wo es
bei Ihnen liegt - ist, Ludwig Erhard mit seinem Postulat
„Wohlstand für alle“ zu folgen. Dies hat in diesem Bereich zentral mit dem Internetzugang zu tun. Dies ist der
Grund für die Aktivitäten des Bundeskanzlers im Aktionsprogramm der Bundesregierung.
Damit sich der elektronische Handel, der E-Commerce,
voll entfalten kann, brauchen wir einen angemessenen und
modernen gesetzlichen Rahmen. Mit dem neuen Gesetz
über elektronische Signatur, das wir heute abschließend
beraten und verabschieden werden, kommen wir hier einen bedeutenden Schritt voran.
Die Bundesregierung hat schon im Zuge der Steuerreform die rechtlichen Rahmenbedingungen in Sachen digitaler Unterschrift deutlich verbessert. Ich möchte darauf
hinweisen, dass wir durch eine juristische Grundlage für
Rechnungsstellungen in diesem Bereich schon einen
Schritt vorangekommen sind.
Mit dem Gesetz, das wir heute beschließen, schaffen
wir aber noch mehr: Wir stellen das deutsche Signaturrecht auf eine europäische Basis und schaffen für den
Rechts- und Geschäftsverkehr ganz neue Möglichkeiten.
Die qualifizierte elektronische Signatur machen wir damit
zum vollwertigen Ersatz für die handschriftliche Unterschrift.
Durch dieses Gesetz sowie durch die Anpassung der
Formvorschriften schaffen wir Rechtssicherheit und
bauen eine starke Sicherheitsinfrastruktur auf, damit Geschäftsabschlüsse und rechtliche Übereinkommen künftig
nicht nur mit dem Füllfederhalter oder dem KugelschreiHubertus Heil
ber, sondern auch per Mausklick möglich sind. Ab Juli
dieses Jahres kann bei allen Geschäften, für die bisher die
Schriftform vorgeschrieben war, eine elektronische Signatur verwendet werden. Damit werden für papierlose
Verträge, Bankgeschäfte oder Bestellungen über das Internet bestehende Rechtsunsicherheiten beseitigt.
Durch die Regelungen unseres Gesetzentwurfes haben
wir einen fairen Interessenausgleich - das sage ich an die
Adresse von Frau Lötzer und auch an den BDI, der sich
gestern noch einmal zu Wort gemeldet hat - zwischen den
Bedürfnissen der Verbraucherinnen und Verbraucher nach
Schutz und dem Wunsch der Wirtschaft nach Flexibilität
und Rechtssicherheit geschaffen.
Eines möchte ich aber deutlich sagen, bevor etwas
Falsches behauptet wird: Auch hier ist Deutschland in Europa in Bezug auf die rechtliche Umsetzung an der Spitze.
Anderweitige Behauptungen seitens der Opposition und
eine entsprechende Meldung der „Financial Times
Deutschland“ sind schlicht und ergreifend falsch. Das
Gegenteil ist der Fall. Weil wir so schnell und so weit sind,
haben wir eine wichtige Vorreiterrolle und Vorbildfunktion für andere europäische Länder und damit die Möglichkeit, die Umsetzung dieser elektronischen Signatur in
anderen Ländern anzumahnen.
Wir betreiben die Förderung des elektronischen Handels im europäischen Geleitzug. Die EG-Richtlinie über
elektronischen Geschäftsverkehr, die bewährte Grundsätze
des deutschen Informations- und KommunikationsdiensteGesetzes aufnimmt, schafft europaweit die wesentlichen
wirtschafts- und zivilrechtlichen Rahmenbedingungen für
den elektronischen Geschäftsverkehr. Wir sind hier auf einem guten Weg. Die Richtlinie wird im deutschen Recht
zügig verankert.
Gleichzeitig haben wir Benachteiligungen deutscher
Anbieter gegenüber den europäischen Wettbewerbern
durch die Abschaffung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung beseitigt. Auch das bitte ich zur Kenntnis
zu nehmen, Herr Brüderle, weil Sie immer so tun, als
seien wir untätig oder strangulierten alle mit Vorschriften.
Im Gegenteil: Wir haben im Gegensatz zu dem, was Sie
in den letzten Jahren gemacht haben, viel erreicht.
({12})
- Wenn Sie mir „Zu wenig“ zurufen, Herr Ex-Weinbauminister, dann frage ich mich wirklich, was die F.D.P. bis
1998 geschaffen hat.
({13})
Sie reden immer von Ladenschluss und weiß der
Kuckuck was. Sie hatten doch genügend Zeit, dies alles
umzusetzen.
({14})
Unser Land - darin gebe ich Ihnen Recht, Herr Kollege
Riesenhuber - hat eine vorbildliche technische Voraussetzung für Telekommunikation.Auf einen Nenner gebracht:
Im Interesse von Wachstum und Beschäftigung ist eine
stärkere Verbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechniken geboten.
({15})
- Regen Sie sich ab.
Diese ist heute nicht so sehr durch das mangelnde technische Angebot, sondern eher durch die Höhe der Anschaffungs- und laufenden Kommunikationskosten gebremst. Auch hier haben wir, glaube ich, eine ähnliche
Einschätzung der Lage. Wir wollen und werden das gemeinsam ändern.
({16})
Mit der Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes - das erkennen wir durchaus an - wurden die
Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich die Telekommunikationsinfrastruktur durch Wettbewerb weiterentwickeln kann.
({17})
- Ich war damals nicht im Parlament. Ich kann gar nicht
dagegen gestimmt haben.
({18})
Alle Anbieter stehen unter einem permanenten Modernisierungsdruck. Sie sind einem produktiven Kosten- und
Kreativitätswettbewerb ausgesetzt. In den Bereichen, in
denen nach wie vor Monopole bestehen, schafft die
Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation
die notwendigen Voraussetzungen.
Unser Ziel ist es, möglichst auf allen Märkten faire
Wettbewerbsbedingungen sicherzustellen. Ich möchte im
Namen der gesamten SPD-Fraktion - lassen Sie sich das
sagen - Folgendes feststellen: Wir bejahen und fördern
den Wettbewerb. Aber jetzt kommt der Unterschied. Im
Gegensatz zur F.D.P. und zu Teilen der CDU/CSU-Fraktion - das muss ich so sagen - wollen wir diesen nicht aus
ideologischen Gründen und mit der Brechstange durchsetzen, weil Wettbewerb für uns kein Selbstzweck ist. Wir
sind für den Wettbewerb, weil er in diesem Bereich der
vernünftigste Mechanismus ist, um die wirtschaftlichen
Potenziale im Bereich der Telekommunikation im Interesse aller zu entfalten. Wettbewerb ist hier nicht Selbstzweck, sondern ein vernünftiger wirtschaftspolitischer
Mechanismus.
({19})
Es gäbe an dieser Stelle noch eine Fülle von Initiativen
und rechtlichen Voraussetzungen zu nennen, die wir bereits geschaffen haben oder die kurz vor der Umsetzung
stehen. Sie alle zu nennen würde meine Redezeit sprengen und die anderer Kollegen verkürzen.
Lassen Sie mich aber deutlich sagen, was das Ziel all
dieser Initiativen ist, weil wir kein „Muddling through“
wollen, also uns nicht durchwursteln wollen, wie wir es in
den letzten Jahren erlebt haben, sondern weil wir ein klares Leitbild haben, das wir erreichen wollen. Alle Schritte,
die wir auf dem Weg der Modernisierung unserer
Volkswirtschaft gehen, und alles, was wir im Bereich der
Informations- und Kommunikationstechnologien unternehmen, dienen einer Modernisierung der Wirtschaft
zum Wohle der Menschen in Deutschland.
({20})
Das bedeutet in diesem Zusammenhang, dass wir Beschäftigungspotenziale erschließen wollen, und zwar Potenziale einer anständigen Beschäftigung.
Um es ganz deutlich zu sagen: Nicht alles ist von der Politik zu schultern und nicht in jedem Bereich besteht staatlicher Regulierungsbedarf. Im Gegenteil: Ein zunehmend
wichtiges Kennzeichen der Internetwirtschaft sind Selbstregulierungsmechanismen der Marktteilnehmer. Wichtige
Meilensteine in dem Bereich der Selbstregulierung wurden
in der von der Bundesregierung unterstützten branchenübergreifenden Unternehmensinitiative D 21 realisiert.
Gemeinsam mit den Unternehmen der Initiative D 21 und
Verbraucherschutzorganisationen wurde beispielsweise
ein Katalog von Qualitätskriterien für Onlineangebote an
private Verbraucher entwickelt. Die Kooperation von
Bundesregierung und der Initiative D 21 ist eine moderne
Politik, weil sie vernetzt denkt und operiert. Hier ergänzen sich private Initiative und praktischer unternehmerischer Sachverstand sowie praktische Politik und aktives
staatliches Handeln. Die Initiative D 21 unter der Schirmherrschaft des Bundeskanzlers zeigt, dass die genannten
Begriffe keine Gegensatzpaare sein müssen.
({21})
Unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft befinden
sich - darin stimmt mir jeder hier im Haus zu - in einem
rasanten Modernisierungsprozess. Technische Innovationen lösen Veränderungen nicht nur in der Wertschöpfung
und der Arbeitswelt, sondern in vielen anderen Bereichen
des öffentlichen und privaten Lebens aus. Wir Sozialdemokraten sagen deutlich, dass Politik keine Sicherheit vor
diesem Wandel geben kann und auch nicht geben sollte.
Aber sie kann und muss den Menschen Sicherheit vor
existenzieller Not im Wandel geben und sie kann und
muss dafür sorgen, dass die bestehenden Chancen genutzt
und die Teilhabemöglichkeiten für alle gestärkt werden.
Wir wollen die neuen Technologien so nutzbar machen, dass es nicht weniger, sondern mehr Freiheit, mehr
Gerechtigkeit und einen größeren gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt. Nicht der Mensch soll sich nach der
Technik richten, sondern die Technik nach den menschlichen Bedürfnissen.
({22})
Juan Somavia, der Direktor der ILO - der International
Labour Organisation - hat in der „FAZ“ vom 4. Januar
dieses Jahres einen wichtigen Maßstab dafür genannt. Er
schrieb in der „FAZ“:
Trotz all dieser erstaunlichen bisherigen Leistungen
der Wissensökonomie müssen ihre Versprechungen
aber doch letztlich daran gemessen werden, ob
menschliche Bedürfnisse wirklich befriedigt werden.
Er sieht eine strategische Möglichkeit darin, die globale
Wirtschaft auch sozial zu legitimieren, indem die Entstehung anständiger Arbeitsplätze beschleunigt wird.
Genau nach diesem Maßstab handeln wir und bringen
die wirtschaftliche Modernisierung unseres Landes
voran. Egal, wie viel Reden von Herrn Brüderle wir über
uns ergehen lassen müssen: Wir gehen auf diesem Weg
weiter.
Herzlichen Dank.
({23})
Ich erteile der Kollegin Martina Krogmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Sehr verehrter Kollege
Riesenhuber,
({0})
ich wünschte, wir hätten jemanden in der Bundesregierung, der so engagiert und dynamisch wie Sie an die Sache herangeht.
({1})
Stattdessen geht die Bundesregierung weiter im
Schneckentempo voran und bremst durch immer neue
und weitere Regulierungen die Wirtschaft aus. Dabei ist
es gerade ein bestimmendes Kennzeichen der Wirtschaft
in der Informationsgesellschaft, dass ein ungeheures,
atemberaubendes Tempo vorgelegt wird. Die Innovationszyklen werden immer kürzer und die Entwicklungen
gehen immer schneller voran.
Wenn Sie heute mit den Jungunternehmern der Dotcoms sprechen, sagen die Ihnen, dass Schnelligkeit, Time
to Market , immer wichtiger wird, um auf dem Weltmarkt
bestehen zu können.
({2})
Deshalb muss die Politik schneller handeln und deshalb müssen Sie, Herr Kollege, Ihr Tempo erhöhen. Entscheidungen müssen schneller fallen, damit die Lücke
zwischen Wirtschaft und Politik nicht weiter auseinander
geht.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie bitte eine kurze Unterbrechung.
Liebe Gäste auf der Zuschauertribüne, Sie sollen aufmerksam zuhören, aber klatschen ist nicht erlaubt. Ich
muss Sie leider darauf hinweisen.
({0})
Ich freue mich
allerdings sehr über die Zustimmung von der Tribüne.
({0})
Tatsache ist aber, Herr Kollege Staffelt: Die Bundesregierung kriecht wie eine Schnecke in das digitale Zeitalter. Ich möchte Ihnen dafür einige Beispiele nennen. In
Ihrem Antrag verweisen Sie auf das Projekt „E-Government - Bund-Online 2005“. Bis zum Jahr 2005 wollen Sie
dieses Programm umsetzen. Das ist in der Internetwirtschaft ein viel zu langer Zeitraum. Im Internet gilt die
Faustregel: Internetjahre sind wie Hundejahre, also mal
sieben.
({1})
Im Internet geht die Entwicklung siebenmal so schnell
wie die in anderen Branchen in einem Jahr voran. Wenn
Sie also heute sagen, Sie wollen 2005 online gehen, dann
ist das so, als ob Sie in der Wirtschaft heute Ihren Urlaub
für das Jahr 2030 einreichen würden.
({2})
Eines muss ich Ihnen allerdings zugestehen: Bei der
Anzahl der geschassten Minister, nämlich sieben in zwei
Jahren, erreicht die Bundesregierung absolut Internetgeschwindigkeit.
({3})
Ich möchte noch ein anderes Beispiel ansprechen. Eine
ganz wichtige Frage vor allem auf der europäischen
Ebene ist die Steuerpolitik. Sie haben auf dem EU-Gipfel
in Nizza die große Chance gehabt, im Bereich der Steuern
endlich das Mehrheitsprinzip durchzusetzen. Sie haben
diese Chance nicht genutzt. In sämtlichen Bereichen der
Steuerpolitik gilt auch nach Nizza noch immer das Einstimmigkeitsprinzip. Was das heißt, ist, glaube ich, jedem
klar: Bei Steuerfragen müssen auch in Zukunft immer alle
15 bzw. alle 20 oder noch mehr EU-Mitgliedstaaten zustimmen. Es wird also nach wie vor ewig lange Einigungs- und Verhandlungsprozesse geben, bis man Entscheidungen treffen kann. In Zeiten, in denen sich die
Wirtschaft immer schneller bewegt und bewegen muss,
um im Wettbewerb zu bestehen, leisten Sie sich in der Politik Verhandlungsmethoden wie zu Zeiten des Wiener
Kongresses. Dies sind Entscheidungsstrukturen, in denen
das notwendige Tempo einfach nicht zustande kommen
kann. Sie haben in Nizza versagt, weil Sie sich nicht für
Strukturen, die ein schnelleres Tempo ermöglichen, eingesetzt haben.
({4})
Ein anderes Kennzeichen der modernen Informationstechnologien ist, dass sie einen enormen Wandel - manche sprechen von einer Revolution - auslösen, der nicht
nur die Wirtschaft, sondern auch die Gesellschaft, unser
Arbeitsleben und unser Zusammenleben betrifft. Wissen
und Bildung werden zur entscheidenden Ressource. Das
Internet ist gewissermaßen die Dampfmaschine des Informationszeitalters.
({5})
Für die Politik heißt das, dass wir eine Gesamtstrategie
und ein Gesamtkonzept brauchen, auf dessen Grundlage
wir entscheiden können, wie mit diesen Prozessen umgegangen und wie sie positiv gestaltet werden sollen.
Natürlich enthält Ihr Antrag auch positive Punkte, denen wir zustimmen können. Natürlich ist die Datensicherheit wichtig. Wichtig ist auch ein stärkerer Wettbewerb auf dem Softwaremarkt. Wichtig sind die Förderung
von Open-Source-Produkten und natürlich auch der gesamte Bereich der Bildungspolitik.
({6})
Aber mir fehlt bei Ihnen, Herr Kollege, ein Gesamtkonzept. In den entscheidenden Fragen sehe ich gerade bei Ihnen, Herr Kollege, nur punktuellen Aktionismus.
({7})
Dieser Aktionismus spiegelt sich in Ihrem Antrag wider.
Es gibt eine Fülle von kleinen, mittelmäßig ausgestatteten
Projekten anstatt eines wirklich großen Wurfs. Die Bildungsministerin fordert einen Laptop für jeden Schüler,
streicht aber gleichzeitig die Mittel für die Forschung.
({8})
- Das ist die Wahrheit, Herr Kollege. - Der Wirtschaftsminister redet davon, die PC-Dichte zu erhöhen, aber
gleichzeitig fordert die Justizministerin eine neue Abgabe
auf Computer. Der Finanzminister denkt über eine zusätzliche Surfsteuer für das Internet nach. Die Belastungen für die Wirtschaft werden immer größer.
({9})
Auch in einem anderen Bereich gibt es noch Handlungsbedarf. Sie müssen - das muss ich Ihnen leider sagen - noch einmal an das Ladenschlussgesetz herangehen. Es darf doch wirklich nicht wahr sein - das ist
symptomatisch für Ihre Politik -, dass Sie im Zeitalter von
E-Commerce, in dem jeder von uns 24 Stunden, rund um
die Uhr, auf der ganzen Welt einkaufen kann, beim Ladenschluss nichts ändern wollen.
({10})
Ich könnte wetten: Wenn die Bundesregierung das Internet erfunden hätte, dann gäbe es sicher ein Gesetz, das
E-Commerce nach 20 Uhr verbieten würde.
({11})
Deshalb fordere ich Sie auf: Betreiben Sie endlich eine
moderne Wirtschaftspolitik, die die Dynamik der Wirtschaft befördert! Betreiben Sie eine moderne und dynamische Politik für mehr Beschäftigung auch im Informationszeitalter in Deutschland!
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile der Kollegin Grietje Bettin, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag,
der heute Gegenstand der Debatte ist, unterstreicht die
zentrale Bedeutung, die die Informations- und Kommunikationstechnologie als Wirtschaftsfaktor in Deutschland
inzwischen einnimmt.
({0})
Wir treten darin für die beschleunigte Einführung moderner Kommunikations- und Informationstechnologien ein.
Die Politik muss die notwendigen Voraussetzungen für
eine freie und gerechte Entwicklung der Informationsgesellschaft schaffen.
Für Tätigkeiten, bei denen der Arbeitsort eine nur noch
geringe Rolle spielt, verlieren nationale Grenzen, Regelungen und Institutionen an Einfluss. Ausschlaggebend
für die Qualität eines Wirtschaftsstandortes sind nicht länger die natürlichen Ressourcen oder die Verkehrsanbindungen, sondern die Informationsinfrastruktur, die Qualifikation der Arbeitskräfte sowie das Niveau der Forschungsund Bildungslandschaft. Die Standortqualität wird also
durch die Beschaffenheit und die Leistungen der Gesellschaft bestimmt. In diesem Zusammenhang ist die Medienkompetenz der Gesellschaft eine ganz entscheidende
Schlüsselqualifikation.
Die Bundesregierung hat die Zeichen der Zeit erkannt
und hat die entscheidenden Weichen gestellt, um den
Wirtschaftsstandort Deutschland in der globalen Ökonomie zu sichern und auszubauen. Durch Bereitstellung
von Risikokapital und die Schaffung von Kompetenzzentren zur Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen wird der Mittelstand, der ein entscheidendes
Standbein in der Internetwirtschaft ist, massiv gefördert.
Die Unternehmen der Informations- und Kommunikationstechnologie sehen sich in schwierige Märkte eingebettet. Sich immer schneller entwickelnde Innovationen
lassen das Arbeitsumfeld ständig fluktuieren. Der so genannte Neue Markt erlebt einen harten Konkurrenzkampf, in dessen Unternehmen das traditionelle Tarifsystem nur schwer aufrechtzuerhalten sein wird. Gerade
deshalb ist es wichtig, auch hier Mitbestimmungsinstrumente und neue Formen der Mitarbeiterbeteiligung - ich
nenne nur das Stichwort „Aktienoptionen“ - zu etablieren. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang auch, dass
durch die sich schnell wandelnden Märkte von den Arbeitnehmern eine hohe Bereitschaft zur Flexibilität vorausgesetzt wird. Lebenslanges Lernen wird untrennbar
mit der Beschäftigung im Bereich der Neuen Märkte verbunden sein.
({1})
Vor diesem Hintergrund weist unser Antrag darauf hin,
dass die Aktivitäten der Bundesregierung im Rahmen der
Unternehmensinitiative D 21 und im Forum Informationsgesellschaft weiter intensiviert werden müssen.
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich die Aktivitäten der Bundesregierung in Bezug auf den elektronischen
Geschäftsverkehr begrüßen. Die Einführung der digitalen Signatur wird weiter forciert. Sie wird zukünftig ein
wichtiger Baustein für die Modernisierung der Verwaltung sein.
Ebenso wichtig aber ist, dass die Bundesregierung die
Entwicklung kryptographischer Programme fördert
und sich strikt gegen einschränkende Maßnahmen ausspricht; denn es war noch nie so einfach wie heute, an persönliche Daten zu kommen. Das Internet ist eine riesige
globale Datenbank, in der eine Vielzahl personenbezogener Daten zur Verfügung steht. Informationen, die im Internet übertragen werden, sind alles andere als vertraulich. Unverschlüsselte Datenpakete, die über das Netz
geschickt werden, können theoretisch an jeder Übertragungsstelle gelesen, gespeichert, manipuliert oder unterdrückt werden.
({2})
Eine Verbreitung von Verschlüsselungsprogrammen auch
und gerade im privaten Bereich leistet einen wichtigen
Beitrag zum Schutz der Privatsphäre.
Das Post- und Fernmeldegeheimnis wird durch
Art. 10 GG geschützt. Dieser Artikel muss nach Meinung
von Bündnis 90/Die Grünen dringend zu einem allgemeinen Kommunikations- und Mediennutzungsgeheimnis
weiterentwickelt werden. Das Recht der Bürger auf informationelle Selbstbestimmung muss ebenso wie das
Grundrecht auf unbeobachtete Kommunikation auch im
Cyberspace gelten.
({3})
Rechtssicherheit und Anonymität im Netz dürfen sich
nicht widersprechen.
({4})
Erfreulich ist aus unserer Sicht besonders, dass auf
Initiative von Bündnis 90/Die Grünen in diesem Antrag
das Thema „Open Source“ ausführlich behandelt wird.
Insbesondere für den Wettbewerb auf dem Softwaremarkt
und bei der Etablierung verschiedener Betriebssysteme
haben Open-Source-Produkte eine ganz besondere Bedeutung. Der Quellcode - quasi die Sprache, in der das
Programm geschrieben wird - ist hierbei frei zugänglich.
Somit können Betriebssystem und Software den jeweiligen Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer besser
angepasst werden, auch und gerade in sicherheitsrelevanten Bereichen. Wir fordern die Bundesregierung daher
auf, Open-Source-Programme in der Bundesverwaltung
verstärkt einzusetzen.
Mit diesem Antrag leisten wir einen wichtigen Beitrag
zur Durchsetzung von Open Source insgesamt. Nun gilt
es, den bisherigen Pilotprojekten weitere hinzuzufügen
und eine breitere Öffentlichkeit mit dem Thema „Open
Source“ vertraut zu machen.
({5})
Nach dem „I love you“-Schreck hat nun viele der unschöne Wurm mit dem schönen Namen einer Tennisspielerin erwischt. Wieder einmal wird uns vor Augen geführt,
wie anfällig unsere Computer sind. Die fast ausschließliche Verwendung eines Betriebssystems verstärkt diese
Anfälligkeit. Aus dem Bereich der Ökologie wissen wir:
Monokulturen können große Schäden anrichten.
({6})
Das gilt leider auch für den Computersektor. Auf diesem
Gebiet sind Konkurrenz und Vielfalt gefragt, um Wettbewerb und Sicherheit zu gewährleisten.
Abschließend möchte ich noch auf die gesellschaftlichen Auswirkungen des digitalen Strukturwandels eingehen. Die rasante Entwicklung des Internets und die zunehmende Anzahl von Userinnen und Usern beeinflusst
die Ausrichtung unserer Gesellschaft nachhaltig. Dieser
Strukturwandel birgt aber nicht nur Chancen, sondern
auch Risiken. Die Bundesregierung schafft mit dem Aktionsprogramm „Internet für alle“ und mit dem Projekt
„Schulen ans Netz“ den Rahmen für mehr Informationsgerechtigkeit und Medienkompetenz.
({7})
Die Regierung darf sich jedoch nicht auf diesen Programmen ausruhen. Sie muss vorhandene Defizite, insbesondere
in der technischen Betreuung und in den notwendigen Ausbildungsmaßnahmen, schnellstmöglich beseitigen. Die Informationsgesellschaft muss für alle da sein, nicht nur für
Computerfreaks, Besserverdienende und Akademiker.
({8})
Lesen, Rechnen und Schreiben werden im globalen
Dorf des 21. Jahrhunderts nicht mehr ausreichen, um sich
in dieser Welt zu orientieren. Wer die Sprache des Computers nicht versteht und beherrscht, wird künftig zu den
digitalen Analphabeten gehören. Die Politik hat die Aufgabe, die Basis zu schaffen, die einen Internetzugang für
alle und die damit verbundene Vermittlung von Medienkompetenz ermöglicht.
Wir haben viele Versäumnisse der Vorgängerregierung
beseitigen können und den Anschluss an die digitale Welt
wieder hergestellt.
({9})
Nun gilt es, diese Welt so zu gestalten, dass alle, egal ob
Jung oder Alt, in ihr einen gemeinsamen Platz finden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Jörg Tauss, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich habe so eine schöne Rede vorbereitet; aber jetzt muss ich auf die Opposition eingehen.
({0})
Herr Brüderle, zu Ihnen möchte ich nur wenige Sätze
sagen: Wer wie Sie den Ausdruck „virtuell“ in unsere
Richtung als Schimpfwort gebraucht, der zeigt, wie fern
ihm das Virtuelle und das Internet eigentlich sind.
({1})
Vielleicht hilft ein Blick in das Lexikon. Herr Kollege
Brüderle, man bezeichnet es als „virtuelle Realität“, wenn
mittels Computern in eine simulierte Wirklichkeit, also in
eine künstliche Welt, interaktiv eingedrungen wird. Dass
Sie das alles nicht wissen, werfe ich Ihnen nicht vor. Allerdings: Nur wenn man Bescheid weiß, kann man sich in
der virtuellen Welt situationsbezogen bewegen. Dass Sie
sich nicht bewegen können, haben Sie heute bewiesen.
({2})
Entlarvend war auch der Zwischenruf „Klassenkampf“
von Herrn von Klaeden.
Dabei geht es um ein ernstes Thema - das hat Herr
Riesenhuber ja berechtigterweise angesprochen -, nämlich um die Frage, wie in dieser Wissens- und Informationsgesellschaft, in der, wie wir annehmen, der Zugang zu
Wissen und Information, die Generierung von Wissen und
letztlich deren Anwendung ein entscheidendes Zukunftsfeld ist, viele Menschen, die - aus welchen Gründen auch
immer - heute noch keinen Zugang haben,
({3})
einen solchen Zugang bekommen können. Wenn Sie dieses zentrale Thema, das weltweit unter dem Begriff „Digital Divide“ diskutiert wird - die Diskussion nahm ihren
Ausgang in den USA -, als Klassenkampf abtun, zeigt
das, wie weit Sie von den eigentlichen Kernfragen entfernt sind.
({4})
Herr von Klaeden, wenn der Zugang zu Informationen
den Reichen, Schönen und Adligen vorbehalten werden
soll, dann werden wir die Zukunft eben nicht gewinnen,
sondern verlieren. Unsere Aufgabe ist es, allen Zukunftschancen zu ermöglichen.
({5})
- Ihr Zuruf „Also doch wieder Klassenkampf!“ belegt:
Sie begreifen es nicht. Aber das ist egal, machen Sie weiter so.
Frau Kollegin Krogmann, ich habe mir Ihre Homepage
angeschaut. Ich dachte, von der neuen Internetbeauftragten - ich gratuliere zu Ihrem Amt - würde ich wenigstens einen einzigen Beitrag zum Internet finden. Auf
Ihrer Homepage ist nichts dazu zu lesen. Ich empfehle Ihnen an dieser Stelle: etwas weniger kesse Sprüche, etwas
weniger beifallsheischende Sprüche in Richtung Ihrer eigenen Fraktion, stattdessen konstruktive Beiträge. Diskutieren Sie in zentralen Fragen, die das Internet angehen,
mit, dann nehmen wir Sie ernst. Aber wenn Sie hier nur
auswendig gelernte Textbausteine bringen, nehmen wir
Sie nicht ernst. Das tut mir Leid.
({6})
Im Übrigen sollten Sie bitte bei der Wahrheit bleiben: Die
Unterstellung, die Bundesregierung wolle eine Surfsteuer erheben, ist schlicht unwahr. Dieser Unfug wurde
von Finanzbeamten erdacht, Finanzminister Eichel hat
diesen Unfug gestoppt. Das ist der eigentliche Sachverhalt, über den hier geredet werden müsste. Bringen Sie
bitte nichts Falsches unter die Leute.
({7})
Lieber Kollege Riesenhuber, ich schätze Sie sehr; Ihre
Rede war interessant, auch wenn Sie vor Begeisterung
immer wieder nach rechts und links entwichen sind. Ihre
Rede kam aber zehn Jahre zu spät. Es ist doch die jetzige
Forschungsministerin, die in die USA geht und sich
bemüht, die besten Köpfe, die während Ihrer Regierungszeit in die USA gegangen sind, zurückzuholen.
({8})
Es ist doch nicht so, dass wir sie jetzt vertreiben würden,
nein, wir bemühen uns, diejenigen, die während Ihrer Regierungszeit in die USA gegangen sind, zurückzuholen.
Auch Ihre Aussagen zu Stock Options - jetzt ist der
große Steuerexperte Merz nicht da, er hat vorhin so begeistert geklatscht - und Business Angels fallen unter die
Rubrik Textbausteine; wenigstens gehen Ihnen diese Begriffe heute flüssig über die Lippen. Ich hätte mir gewünscht, dass Ihre zuständigen Finanzpolitiker, die vom
Thema etwas verstehen, vielleicht auch einmal das Thema
Gestaltungsspielräume - hier sind wir ja nicht weiter gekommen - mit den Ländern etwas anders diskutiert hätten. Ich hätte mir gewünscht, dass Herr Merz nicht nur
über das Halbeinkünfteverfahren gesprochen hätte. Aber
offensichtlich ist das das Einzige, wovon er etwas verstanden hat.
({9})
Vielleicht meinte er auch nur, etwas davon zu verstehen,
weil das Wort „halb“ in diesem Begriff vorkommt und er
einen Bezug zu Halbleiter herstellt. Nein, nicht ein einziger Beitrag ist von Ihnen bei der Steuerreformdebatte zu
diesem Thema gekommen. Aus diesem Grunde bitte ich
Sie aufzuhören, uns hier irgendetwas zu erzählen.
Man könnte fragen, wie es mit Ihren Entwürfen zur
Dienstrechtsreform usw. aussah, aber ich will die verbleibende Zeit jetzt nutzen, um ein wenig zu dem überzugehen, was wir tatsächlich tun. Kollege Heil hat vieles angesprochen - Rabatte und Zugaben sind nur ein ganz kleines
Beispiel. Wir hatten kürzlich auf einer Tagung, die unter
der Regie von Herrn Wissmann organisiert wurde, eine
Riesendebatte zu diesem Thema. Die jungen Unternehmen haben dort tatsächlich gesagt, man müsse etwas tun.
Was ist passiert? Heute Abend findet das zweite Treffen
dieses Kreises statt und tatsächlich, es ist etwas getan worden. Ich werde dort mit großer Begeisterung hingehen; ich
denke, Herr Wissmann wird uns sehr loben.
({10})
Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir tun
etwas, Sie haben nur geredet. Beispielhaft nenne ich den
Bereich Bildung. Ganz aktuell haben wir ein Berufsschulprogramm auf den Weg gebracht, um endlich ITFachklassen einrichten zu können. Natürlich haben Sie
durch die Einführung neuer Berufsbilder etwas auf der
Ebene der Sozialpartner getan, das bestreiten wir doch
überhaupt nicht. Aber das hat sich in den Berufsschulen
nicht widergespiegelt. Wir investieren jetzt eine viertel
Milliarde DM, um die Berufsschulen mit IT-Technik auszustatten, damit die Auszubildenden in der Berufsschule
überhaupt die entsprechenden Kenntnisse vermittelt bekommen können.
({11})
Sie stehen da staunend daneben, genauso wie gegenüber
der Tatsache, dass 60 000 neue Arbeitsplätze in diesem
Bereich geschaffen worden sind.
Mit der heute zu beschließenden Novellierung des Gesetzes zur digitalen Signatur, das wir gemeinsam mit Ihnen auf den Weg gebracht haben und das jetzt verbessert
werden muss, weil es - das werfe ich Ihnen nicht vor; damals waren wir alle Suchende - noch nicht den Durchbruch gebracht hat, den wir eigentlich damit ermöglichen
wollten, schaffen wir weitere Voraussetzungen. Ich
glaube, es wäre sinnvoll, wenn Sie sich bei der Umsetzung dieser Bausteine wenigstens ein wenig als Bauhelfer
betätigen. Stimmen Sie diesem Gesetz heute zu und stehen Sie nicht abseits. Das gilt auch für die Umsetzung der
EU-Richtlinien zum Datenschutz, zum E-Commerce
und zu all den anderen Punkten, die wir hier in den nächsten Wochen diskutieren werden.
Lieber Kollege Riesenhuber, wenn ein 66-Jähriger das soll kein Vorwurf sein; ich hoffe auch, dieses verdiente Alter zu erreichen - im Zusammenhang mit uns
von alten Männern redet, ist das schon ein wenig merkwürdig.
({12})
Wenn Sie uns jetzt als neuer Nachwuchspolitiker zeigen
wollen, wo es langgeht, dann erinnere ich jetzt doch einmal ein bisschen an den Altkanzler, der vorhin hier saß.
Wissen Sie, was war, als wir nach dem Regierungswechsel in das Kanzleramt gekommen sind? Da waren nicht
nur die Akten geklaut. Wir haben keine Computer vorgefunden. Wir haben gedacht, auch die hätte Kohl mitgenommen. Aber nein: Es gab überhaupt keine. Im Kanzleramt gab es Rohrpost statt Computer. Das war Ihr Weg
in die Informationsgesellschaft.
({13})
Angesichts Ihrer Rohrpostmentalität sage ich Ihnen:
({14})
Lassen Sie uns in Ruhe arbeiten. Stimmen Sie zu. Lernen
Sie etwas zum Thema Internet. Mit der Arroganz, mit der
Sie heute aufgetreten sind, und zwar ohne jeden neuen Bezug, werden Sie nicht die Zukunft gewinnen. Wir jedoch
werden es tun. Das wird das Richtige für dieses Land sein.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Martin Mayer, CDU/CSU-Fraktion.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Tauss
hat vorhin vom Digital Divide gesprochen. Ich muss fragen: Wo ist denn eigentlich der Einsatz der SPD für mehr
Wettbewerb im Internet, damit die Preise sinken und
wir eine günstige Flat Rate bekommen, sodass auch diejenigen Bürger in diesem Land, die weniger Geld haben,
am Internet teilhaben können?
({0})
Ich will zunächst einige Sätze zum Signaturgesetz sagen, dem wir zustimmen werden,
({1})
weil es auf dem Signaturgesetz von 1997 aufbaut, das von
der vorigen Regierung vorgelegt und von der Koalition
verabschiedet worden ist
({2})
- vom Bundestag verabschiedet worden ist - und damals
weltweit Beachtung gefunden hat. Durch die Neufassung
bleibt das alte Gesetz in seinen wesentlichen Grundlagen
erhalten.
Beim Vergleich mit dem alten Gesetz fällt allerdings
zweierlei auf. Erstens. Seit der Verabschiedung des ersten
Gesetzes sind fast vier Jahre vergangen. Das heißt, vier
Jahre Unsicherheit für Betroffene; wertvolle Zeit ging
verloren. Das hat natürlich auch mit Europa zu tun. Aber
die Informations- und Kommunikationsbranche ist eine
Branche, bei der Zeit eine große Rolle spielt und bei der
ein vollständiger internationaler Wettbewerb herrscht.
Angesichts dessen halte ich es schon für eine große Säumigkeit, dass das nicht schneller ging. Wertvolle Zeit
ging verloren.
({3})
Diese schädliche Säumigkeit der Bundesregierung darf
sich nicht wiederholen. Vor allem die Verordnung muss
jetzt rasch vorgelegt werden.
Ein Zweites fällt auf. Das Gesetz ist gegenüber der ursprünglichen Fassung deutlich komplizierter geworden.
Es gibt jetzt vier Qualitätsstufen für Signaturen. Das
neue Gesetz enthält eine zusätzliche Regelung für die
Haftung. Das Bürgerliche Gesetzbuch hätte auch in diesem Fall gereicht.
({4})
Ich sage an die Adresse der Koalition und der Regierungsbank: Die jungen Unternehmen der Netzwirtschaft
wünschen sich einfache Regeln und nicht dicke neue Gesetzbücher.
({5})
Dann noch etwas Wichtiges. Was nutzt das Signaturgesetz, wenn es kaum passende Anwendungen gibt?
({6})
Im Zivilrecht hat die Bundesregierung jetzt einen Gesetzentwurf vorgelegt. Aber warum hat sie ihn nicht ein viertel oder ein halbes Jahr früher vorgelegt, sodass wir ihn
jetzt gleichzeitig mit dem Signaturgesetz verabschieden
können?
({7})
In den USA ist bereits im Oktober des vergangenen
Jahres ein entsprechendes Gesetz in Kraft getreten.
({8})
Davon könnte sich die Bundesregierung eine Scheibe abschneiden.
Noch schlimmer aber ist, dass Signaturen im öffentlichen Bereich noch nicht angewendet werden können, weil
die Bundesregierung den Gesetzentwurf mit den entsprechenden Formvorschriften erst im Frühjahr dieses Jahres vorlegen wird. Wie wir die Bundesregierung kennen,
heißt Frühjahr Ende des Frühjahrs. Das heißt, erst nach
der Sommerpause wird der Gesetzentwurf vorgelegt werden.
({9})
Ich finde, es ist eine ganz schlimme Sache, dass die Bundesregierung hier nicht handelt.
({10})
In einem Land, in dem die Steuererklärungen seit
Jahren millionenfach als Computerausdruck ohne Unterschrift versandt werden, müsste es doch möglich sein, in
der Kommunikation von Staat und Kommunen mit
Unternehmen und Bürgern ein paar Massenanwendungen
für elektronische Signaturen zu finden.
({11})
Wenn das der Fall wäre, könnte man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Man würde erstens für den Bürger
und für den Staat eine wesentliche Erleichterung schaffen.
Zweitens würden diese Anwendungen der elektronischen
Signatur zum Durchbruch verhelfen. Die Amerikaner sagen dazu - ich gebe zu, ich mag diesen Ausdruck nicht „killer application“. Die Bundesregierung muss endlich
handeln, damit die Signatur in der Kommunikation von
Bürgern und staatlichen Einrichtungen angewendet werden kann.
({12})
Herr Kollege Tauss, Sie haben sich in Ihrer Rede mit
überheblicher Kritik hervorgetan.
({13})
Ich will Ihnen zum Antrag der Koalition einiges ins
Stammbuch schreiben.
({14})
Der Antrag enthält im Wesentlichen bekannte Papiere
der Regierung, die aufgewärmt und beweihräuchert werden. Der Antrag rühmt die Wirkungen der vorbildlichen
Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes in
Deutschland. Er verschweigt allerdings, dass diese Liberalisierung von der früheren Regierung durchgesetzt
wurde und dass im Bundesrat zwei Ministerpräsidenten
gegen die Liberalisierung gestimmt haben. Der eine heißt
Schröder und der andere Eichel.
({15})
Diese Tatsache muss auch erwähnt werden.
({16})
Bemerkenswert ist eigentlich nicht, was in dem Antrag
enthalten ist, sondern was in ihm nicht enthalten ist. Wo
findet sich denn in Ihrem Antrag die Forderung nach Anpassung des öffentlichen Rechts an die Erfordernisse
der elektronischen Kommunikation? Sie haben hinsichtlich Open Source zwar gesagt, dass der Staat die OpenSource-Software fördern solle - in diesem Punkt stimmen wir Ihnen zu -,
({17})
aber trotzdem muss ich fragen: Was haben Sie denn hinsichtlich des Schutzes der Open-Source-Bewegung vor
Patenten aus den USA gesagt? Es gibt große Befürchtungen, dass durch eine extensive Erweiterung des Patentschutzes die Open-Source-Bewegung sozusagen abgewürgt wird.
Kollege Mayer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?
({0})
Ja.
Kollege Mayer,
({0})
ist Ihnen bekannt, dass die vom Europäischen Patentamt
vorgelegten Regelungen hinsichtlich der Patentierung
von Software, die bereits von der Konferenz in München
hätten verabschiedet werden sollen, von der Bundesregierung in Person der Bundesjustizministerin gestoppt wurden und dass wir uns jetzt in einem umfangreichen
Beratungsprozess mit der Softwarebranche befinden, um
dieses Problem angemessen lösen zu können?
({1})
Dieser Vorgang ist mir bekannt. Aber ich weiß, dass die Streichungen, die im europäischen Patentübereinkommen vorgesehen waren, im Grunde keine rechtlichen Wirkungen,
sondern allenfalls symbolische politische Wirkungen gehabt hätten. Ich weiß auch, dass die Bundesregierung im
Deutschen Bundestag zu diesem Thema noch nie Stellung
genommen hat.
({0})
Über dieses wichtige Thema sollte man schon reden.
({1})
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch die
folgende Frage stellen: Wo ist denn eigentlich die Strategie der Bundesregierung, um das Ungleichgewicht in
Deutschland - Amerikaner und Japaner können in Deutschland softwarebezogene Patente anmelden, aber Deutsche
geraten ins Hintertreffen - zu überwinden?
({2})
Dr. Martin Mayer ({3})
- Nein, das dürfen Sie nicht. Sie dürfen nur eine Zwischenfrage stellen.
Wo ist ein Konzept der Bundesregierung bezüglich des
Urheberrechts? Das Urheberrecht gehört doch zu den
tragenden Säulen der Informationsgesellschaft. Zu diesem Recht haben Sie in Ihrem Antrag überhaupt nichts gesagt. Es gibt ein Professorengutachten, das aber keinen
Hinweis darauf gibt, dass Sie die Informationsgesellschaft fördern wollen.
Wo sind denn eigentlich die Ansätze für eine Strategie,
um Unternehmen zu veranlassen, die Fernsehkabel auf
digitale Übertragung und den Internetzugang umzurüsten?
({4})
Seit diese Bundesregierung an der Macht ist, ist hier fast
Stagnation eingetreten.
({5})
Es bewegt sich nichts. Da Sie die Länder ansprechen:
Natürlich sind die Länder in gewisser Weise dafür zuständig. Aber wie die Rahmenbedingungen geschaffen
werden können, dass es für Unternehmen Anreize gibt, zu
investieren, ist wohl eine Frage, die die Bundesregierung
angeht.
Ich habe jedenfalls von der Regierungsbank zu diesem
Thema nichts gehört. Ich meine, es ist eine Frage von nationaler Bedeutung, ob wir die Kabel auch für den Internetzugang öffnen.
({6})
Wo ist die Forderung nach einer vernünftigen steuerlichen Regelung für Stock Options, also für die Mitarbeiterbeteiligung in diesen jungen Unternehmen? Auch das
ist eine ganz zentrale Frage.
Ich meine, mit diesen Themen sollten Sie sich auseinander setzen.
({7})
Dann können wir in der Internetwirtschaft in Deutschland
wirklich eine Spitzenstellung einnehmen, die notwendig
ist, damit in Deutschland alle am Internet teilnehmen können.
({8})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christian Lange, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie
mich zunächst ein Wort des Dankes an Sie, Herr Kollege
Riesenhuber, dafür loswerden, dass Sie unseren Antrag so
wunderbar gelobt haben. Ich will Ihnen allerdings sagen:
Sie verdanken diesen Innovationsschub nicht Hubertus
Schmoldt, sondern den Kollegen Hubertus Heil und Jörg
Tauss, die selber das Internet anwenden; der Kollege
Tauss gehört sogar zu den Motoren und den Pionieren in
der Politik, was das Internet anbelangt. Auch das gehört
zur Wahrheit.
({0})
Gestatten Sie mir auch noch eine Bemerkung an die
F.D.P. Herr Brüderle, ich war schon erschrocken darüber,
wie Sie Deutschland und eine wachsende Ökonomie in
Deutschland heruntergeredet haben. Ihre Rede hat die
New Economy in Deutschland wirklich nicht verdient.
({1})
Die Tatsachen sehen auch völlig anders aus. Wachstum: plus rund 3 Prozent, Anteil am Bruttoinlandsprodukt: 5,5 Prozent. Das sind die Fakten, Herr Brüderle.
({2})
Nehmen Sie sie zur Kenntnis. Das ist Real Economy. Das
zeigt deutlich, wie weit Sie nicht nur von der New Economy, sondern auch von der tatsächlichen Wirtschaft in
Deutschland entfernt sind.
({3})
Mit der D-21-Initiative wurde ein einmaliges Forum
der Zusammenarbeit ins Leben gerufen, an dem Unternehmer, Institutionen und Politiker teilnehmen, um gemeinsam den Wandel von der Industrie- zur Informationsgesellschaft zu moderieren und zu beschleunigen. Die
Bundesrepublik Deutschland verfügt über eine gute, in
Teilbereichen sogar vorbildliche technische Telekommunikationsinfrastruktur. Der deutsche Markt für Informations- und Telekommunikationstechnik ist 1999 von
195 Milliarden DM um 9,6 Prozent auf 214 Milliarden DM gewachsen. Das sind die genannten 5,5 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts. In den nächsten Jahren wird
sogar mit einem zusätzlichen Wachstum gerechnet.
Bereits in fünf Jahren soll die IT-Branche die 300-Milliarden-DM-Schwelle überspringen. Sie wird damit zum
größten deutschen Wirtschaftszweig überhaupt. Das ist
ein Grund zur Freude und nicht zum Herunterreden und
Kaputtreden.
({4})
Deshalb wollen wir allen Bürgerinnen und Bürgern
gleichermaßen die Chance geben, an diesem Wirtschaftsaufschwung teilzuhaben. Der Aufbruch in dieses digitale
Zeitalter bringt nämlich Veränderungen mit sich.
Qualifikationsanforderungen, Arbeitsinhalte und die Arbeitsorganisation müssen modifiziert und angepasst werden. Deshalb wollen wir die digitale Spaltung in unserer
Gesellschaft in „user“ und „loser“ vermeiden. Das ist
nicht nur eine soziale Frage, sondern auch eine Frage der
Zukunftsfähigkeit unserer traditionellen Wirtschaft, der
so genannten Old Economy.
({5})
Alle Menschen sollen einen gleichberechtigten und
freien Zugang zu qualitativ hochwertigen Informationen
Dr. Martin Mayer ({6})
haben. Deshalb begrüßen wir auch ausdrücklich das
10-Punkte-Programm der Bundesregierung „Internet für
alle“, das bereits am 18. September 2000 vorgelegt wurde.
Die Fortentwicklung der Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen ist dabei nur eine von vielen nationalen und internationalen Maßnahmen der Bundesregierung zur Verbesserung der Sicherheit im Internet.
Dies ist auch besonders wichtig, wenn man bedenkt, dass
die Internetnutzung in Deutschland in allen Bevölkerungsgruppen und Bevölkerungsschichten in den letzten
zwei Jahren drastisch zugenommen hat.
Wie stark sie zugenommen hat, können Sie auch daran
erkennen, dass in unserem Antrag noch die alte Zahl von
34 Prozent enthalten ist, es heute aber bereits 40 Prozent
der Deutschen sind, die das Internet nutzen. Auch das ist
ein Grund zur Freude und macht deutlich, wie dynamisch
dieser Bereich ist. Deshalb verdient er es nicht, hier kaputtgeredet zu werden.
({7})
Die Internetwirtschaft kann bis zum Jahre 2010 einen
Nettoeffekt von 750 000 Arbeitsplätzen auf dem deutschen Arbeitsmarkt bewirken. Diese Chance unterstützt
die Bundesregierung mit ihren Maßnahmen.
Ganz im Mittelpunkt stehen dabei die kleinen und mittleren Unternehmen. Das zeigt das Beispiel der Green
Card. Daran lässt sich deutlich machen, wie groß der
IT-Fachkräfte-Mangel im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen geworden ist. 64 Prozent beträgt der
Anteil der ausländischen Fachkräfte an den IT-Spezialisten in den kleinen und mittleren Unternehmen Deutschlands. Dass dieser Mangel durch ausländische Fachkräfte
ausgeglichen werden kann, wird durch die Green Card
ermöglicht. Das macht deutlich, wie überfällig die Initiative der Bundesregierung war und wie groß Ihre Versäumnisse in den letzten Jahren gewesen sind.
({8})
Bemerkenswert finde ich an dieser Stelle, dass BadenWürttemberg den dritthöchsten Anteil an ausländischen
IT-Spezialisten, die die Green Card nutzen, aufweist, obwohl sich damals ausgerechnet der baden-württembergische Ministerpräsident vehement gegen die Einführung der Green Card ausgesprochen hat.
({9})
Das macht deutlich: Wären wir Teufel bzw. der CDU gefolgt, wäre Deutschland der Verlierer gewesen. Deshalb
können wir die Initiativen der Bundesregierung nur begrüßen.
({10})
Vergessen wird auch gerne, dass die Green Card zugleich eine Ausbildungskomponente beinhaltet.
Kollege Lange, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen SchwarzSchilling?
Nein, ich
möchte zum Schluss kommen.
({0}) [SPD]: Noch einer von der New
Economy der CDU!)
Bereits bis Ende 2000 wurden in den neu geschaffenen
Multimediaberufen 40 000 Ausbildungsplätze geschaffen. In 2001 werden es dann 60 000 sein. Das heißt, wir
verbinden die Green-Card-Initiative damit, eigene Nachwuchskräfte zu qualifizieren. Die Zahl, die der Kollege
Tauss in diesem Zusammenhang genannt hat, nämlich die
Tatsache, dass wir eine viertel Milliarde DM in die Infrastruktur der Berufsschulen in Deutschland investieren,
macht deutlich, dass wir dafür sorgen, dass endlich auch
etwas im Bereich der gewerblichen und kaufmännischen
Berufe getan wird und Ihre Versäumnisse ausgeräumt
werden.
({1})
Durch die Bereitstellung von Risikokapital konnten
darüber hinaus viele junge Firmen aufgebaut werden und
konnte der sich parallel etablierende Neue Markt an Dynamik gewinnen. Mit der Steuerfreistellung von Beteiligungsveräußerungen haben wir ebenfalls der Belebung
des Risikokapitalmarktes wichtige Impulse verleihen
können. Der Bereich des E-Commerce - das ist die Abwicklung von Geschäftsprozessen über das Internet - verzeichnet ebenfalls Wachstumsraten von 100 Prozent pro
Jahr.
All dies macht deutlich, dass wir auf einem guten Weg
sind. Ich kann der Bundesregierung und dem Bundeswirtschaftsminister nur viel Erfolg dabei wünschen, wenn
sie diesen Weg weiterverfolgen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen SchwarzSchilling.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren der
Koalition! Ich bin ohne jede Voreingenommenheit zu dieser Debatte gekommen und muss nun feststellen, dass die
Koalitionsparteien tatsächlich der Meinung sind, dass sie
uns von der Dynamik der Telekommunikation überzeugen müssten.
({0})
Christian Lange ({1})
Ich möchte einmal fragen: Ist Ihnen eigentlich klar, welche Position SPD und Grüne in den letzten 20 Jahren vertreten haben, in denen wir die Telekommunikation mit
aller Macht in diese Dynamik hineingebracht haben, damit wir den Anschluss auf internationaler Ebene nicht verhindern?
({2})
Wissen Sie, mit welchen Methoden, nämlich mit Angriffen unter die Gürtellinie - so muss ich fast sagen -, der
Minister für Post und Telekommunikation in den letzten
20 Jahren, beginnend 1982, an der Breitbandverkabelung
gehindert werden sollte?
({3})
Wissen Sie, dass wir damals die gesamte Technologie des
ISDN und die ersten Glasfasernetze trotz Ihrer entsprechenden Redebeiträge durchgesetzt haben?
({4})
Wissen Sie, dass wir als erstes Land dieser Welt - in einer
Zeit, in der Sie das Wort „digital“ noch nicht einmal buchstabieren konnten ({5})
den gesamten Mobilfunk in ein digitales System umgewandelt und die Monopolisierung der Bundespost aufgehoben haben? Dies alles ist gegen Ihren Widerstand geschehen.
({6})
Ich finde es ein bisschen tollkühn, wenn Sie jetzt meinen, Sie seien die Lehrmeister der Dynamik im Bereich
der Telekommunikation. Ich muss Ihnen schon sagen: Vor
dem Hintergrund des von mir Dargestellten sollten Sie etwas bescheidener sein. Sie sollten wissen, dass all die
Bahnen, auf denen Sie bzw. wir alle heute unsere Netze
betreiben können, und zwar Glasfaser, Mobilfunk, ISDN
und damit auch das Internet, gegen Ihren Widerstand von
uns ausgebaut worden sind. Seien Sie also ein wenig bescheidener bei der Erfolgsbilanz, die Sie hier ziehen wollen!
({7})
Kollege Lange, Sie
haben Gelegenheit zur Antwort.
Herr Präsident!
Herr Kollege Schwarz-Schilling, ich stelle erstens fest,
dass es in Ihrer Fraktion einen interessanten Generationenschnitt gibt: Riesenhuber und Schwarz-Schilling werfen den Blick zurück. Nur die Frage ist: Wer blickt eigentlich nach vorn?
({0})
Das ist die Frage, die ich gestellt habe. - Nichts als blanke
Polemik!
({1})
Aber ich gestehe Ihnen zu: Das Internet haben weder
wir noch Sie erfunden. Insofern will ich die Brücke gerne
bauen. Aber es gehört auch zur Wahrheit, dass für die Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes eine
Zweidrittelmehrheit im Deutschen Bundestag notwendig
war. Schauen Sie einmal nach, wer zugestimmt hat. - Dies
zum Thema, wer schuld ist und wer nicht schuld ist.
({2})
Zweite Bemerkung. Auch was die Universaldienstleister anbelangt, sind Fragen wie Breitbandigkeit und
Kupferdraht erwähnt worden. Manche haben Fehler gemacht, manche haben auch neue Erkenntnisse gewonnen.
Das wollen wir gerne eingestehen.
({3})
Für mich ist aber die Frage: Wer steht eigentlich bei Ihnen
für die Zukunft? Offensichtlich nur die Minister außer
Diensten, aber nicht die junge Generation in der CDU.
({4})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5246 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist
die Überweisung so beschlossen.
Wir stimmen nun über den von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen und zur Änderung weiterer Vorschriften - Drucksachen 14/4662 und
5324 - ab. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung der PDS und Nichtabgabe der
Stimmen bei der F.D.P. angenommen.
({0})
- Ich habe genau hingeguckt. Sie konnten sich nicht ent-
schließen. Jetzt gibt es für Sie ja noch eine Chance, näm-
lich die
dritte Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des
Hauses bei Stimmenthaltung der PDS-Fraktion angenom-
men.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion der PDS mit dem Titel „E-Europe: die europä-
ische Informationsgesellschaft sozial und demokratisch
gestalten“ auf Drucksache 14/4486. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3623 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Punkte 4 a und 4 b der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Dieter
Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard Schwaetzer, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Abschaffung der Arznei- und Heilmittelbudgets
- Drucksachen 14/3299, 14/5319 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Wolf Bauer
b) Erste Beratung des von der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung der Budgets in der gesetzlichen Krankenversicherung ({2})
- Drucksache 14/5225 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen, wobei die
F.D.P. zwölf Minuten Redezeit erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ihnen, Frau Ministerin,
wünsche ich viel Glück und viel Freude. Ich denke, Sie
können das wirklich brauchen.
({0})
Denn das deutsche Gesundheitswesen steckt in einer
Sackgasse.
Missgunst, Misstrauen, Reglementierung und Budgetierung prägen das deutsche Gesundheitswesen. Sie, Frau
Ministerin, haben selber gesagt: Wir müssen wieder Vertrauen schaffen. In der Tat: Grüne und Rote haben in der
Vergangenheit das Vertrauen der Patienten, aber auch aller
anderen in diesem System massiv zerstört.
({1})
Dies ist ein ehrliches Eingeständnis der Ministerin, denn
sie hat erkannt: Diese Gesundheitspolitik von Rot-Grün
ist gescheitert.
({2})
Wir stehen in der Tat vor einer entscheidenden Weggabelung. Wenn wir nämlich mit diesen Instrumenten so
weitermachen, wird der Dirigismus im Gesundheitswesen
weiter zunehmen.
({3})
Die ideologischen Folterwerkzeuge von Rot-Grün wie
Arznei- und Heilmittelbudget, Budgetierung der ärztlichen Leistungen und der zahnärztlichen Leistungen, die
Positivliste, das Sachleistungssystem passen nicht in dieses Gesundheitssystem, zumal unser Gesundheitswesen
ein großer Wachstumsmarkt sein könnte. Aber diese große
Chance wird mit dieser Politik nicht genutzt.
({4})
Heute sprechen wir zunächst über unseren Antrag, also
über das Thema Budgetierung, und über den Gesetzentwurf der CDU/CSU, also auch über Budgetierung im ärztlichen und zahnärztlichen Bereich. Die Ministerin hat in
der vergangenen Woche gerade zur Thematik Arzneiund Heilmittelbudget verkündet, dass die Kollektivhaftung auf jeden Fall verschwinden muss. Eine gute Entscheidung! Denn Kollektivhaftung bedeutet Sippenhaft
für alle Ärzte. Dies kann keine vernünftige Politik sein.
({5})
({6})
Die Kollektivhaftung zeigt eine verachtende Grundhaltung gegenüber allen Leistungserbringern, aber vor allem
auch gegenüber den Patienten;
({7})
denn sie sind die von dem Arznei- und Heilmittelbudget
entscheidend Betroffenen.
Es gibt mittlerweile viele Fälle, in denen chronisch
Kranke nicht mehr vernünftig therapiert werden können,
weil das Arznei- und Heilmittelbudget zu eng begrenzt ist,
es also nicht zu einer modernen Therapie passt.
Ich könnte Ihnen eine Reihe von Fällen aufzeigen, in denen Patienten massiv getroffen werden. Beispielsweise
Schlaganfallpatienten werden zwar sofort behandelt, aber
anschließend gibt es nicht die notwendige Behandlung im
Rahmen der Logopädie. Ist das sinnvoll, Frau Ministerin?
Daher ist es viel zu wenig, nur zu sagen, dass die Kollektivhaftung verschwinden muss. Übrigens würde Ihnen das
Verfassungsgericht bei einer solchen Entscheidung auch
in die Parade fahren.
({8})
Präsident Wolfgang Thierse
Nein, wir müssen das Arznei- und Heilmittelbudget abschaffen. Das muss hier auf den Weg gebracht werden.
({9})
Wir müssen nach den Vorschlägen der alten Koalition
- wir haben das schon immer gesagt - vernünftige Richtgrößen entwickeln, die die moderne Therapie und unterschiedliche Arztgruppen berücksichtigen. Meine Damen
und Herren von der Regierungskoalition, wenn Sie von
großen Leitlinien sprechen, die in der Medizin eingeführt
werden sollen, dann glauben Sie bitte nicht, dass alles viel
billiger würde. Nehmen Sie nur einmal das Beispiel des
Diabetes. Wenn man Ihre Vorstellungen über diese Leitlinien umsetzen würde, würde die Behandlung in diesem
Bereich erheblich teurer werden. Sie dürfen also nicht Sachen versprechen, die Sie letztlich nie halten können. Das
ist die Gefahr in Ihrer Gesundheitspolitik.
({10})
Meine Damen und Herren, aber nicht nur das Arzneiund Heilmittelbudget muss verschwinden, sondern die
Budgetierung in allen Bereichen.
({11})
Es ist völlig schizophren, zu glauben, dass die Budgetierung ein geeignetes Instrument sei. Schauen Sie sich die
Situation an! Budgetierung zerstört die Freiberuflichkeit
in unserem Gesundheitswesen.
({12})
Das ist der entscheidende Knackpunkt. Schauen Sie in die
Länder, in denen mit solchen Instrumenten gearbeitet
wurde! Wir kennen eine Reihe von Ländern, in denen mit
den gleichen Instrumenten gearbeitet wird, wie Sie es machen.
({13})
Dort ist die Freiberuflichkeit zerstört worden und das Gesundheitswesen ist erheblich teurer geworden, weil nämlich die Leistungen in das Krankenhaus verlagert wurden.
Meine Damen und Herren, weil die Zeit nicht reicht,
will ich gar nicht von all den Problemen reden, die die
Budgetierung für die Freiberufler und die neuen Bundesländer mit sich bringt. Sprechen Sie dort mit den Ärzten!
Sprechen Sie darüber, wie der Tagesablauf aussieht und
wie die Leistungen honoriert werden. Wir müssen zu
festen Regelleistungsvolumina mit festen Preisen kommen. Dazu gibt es keine Alternativen.
({14})
Ähnlich sehe ich die Situation in den Krankenhäusern. DRGs sind eine gute Vorstellung. Darüber kann
man reden. Aber wenn die DRGs mit einem Budget praktiziert werden sollen, können Sie den ganzen Aufwand
lassen. Es gibt nur eins: Wenn Sie das Gesundheitswesen
für wettbewerbliche Strukturen auch im Krankenhaus öffnen wollen, dann müssen Sie DRGs einführen, aber die
Budgetierung beseitigen. Andere Alternativen gibt es
nicht.
({15})
Wir haben gestern Vorabmeldungen bekommen und
heute den „Stern“ lesen können. Wir waren natürlich
überrascht, dass der Bundeskanzler in eine Richtung marschiert, die wir schon seit vielen Jahren vorgeben.
({16})
Das sind Gedanken und Ideen, die wir seit Jahren vertreten haben und die von Ihnen massiv bekämpft wurden,
({17})
und zwar von Ihnen allen.
({18})
Es gibt natürlich auch in Ihren Reihen einige Kollegen,
die die Köpfe etwas herausstrecken und neue Vorschläge
machen. Aber bisher wurden sie rasiert.
({19})
Jetzt aber stützt der Bundeskanzler diese Leute. Sie, Frau
Ministerin, haben jetzt die große Chance, eine vernünftige
Gesundheitspolitik auf den Weg zu bringen.
Diese kann nur lauten: erstens vernünftige medizinische Versorgung, zweitens Definition von Kern- und
Wahlleistungen, drittens Zusatzmöglichkeiten bei Wahlleistungen und viertens Erweiterung der Vertragsgestaltungsmöglichkeiten. Darüber hinaus müssen Sie
auch im ärztlichen Bereich mit festen Regelleistungsvolumina arbeiten, also zu einer festen Honorierung kommen.
Auch im Hinblick auf Europa gibt es keine Alternative.
Sie müssen in Deutschland das Sachleistungssystem ändern. Sie müssen zur Kostenerstattung kommen.
Es gäbe noch viele Punkte, die ich ansprechen könnte.
Leider reicht die Zeit nicht.
({20})
Die entscheidenden Punkte habe ich genannt. Frau Ministerin, Sie haben eine Chance. Nutzen Sie sie!
({21})
Ich gebe das
Wort der Bundesministerin für Gesundheit, der Kollegin
Ulla Schmidt.
Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit ({0}): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Thomae, es ist schlecht, in
eine Debatte einzusteigen, wenn man davon ausgeht, dass
es keine Alternativen gibt. Ich verstehe die heutige
Debatte so, dass wir beginnen, über Alternativen zu diskutieren und sie auszuloten. Ich will mir jetzt am Anfang
ersparen, auf die Historie der Budgets und auf die Frage
einzugehen, wann das Vertrauen in dieses Gesundheitssystem zerstört worden ist. Das ist eine Geschichte, die
weiter zurückliegt.
Ich setze mit der heutigen Debatte darauf, dass wir wieder an eine Politik anknüpfen, die über Jahre hinweg gemeinsam von allen Fraktionen dieses Bundestages davon
geprägt wurde: Wir wollen ein Gesundheitssystem in
Deutschland, das hohe Qualität bei bezahlbaren Preisen
bietet.
({1})
Das ist das, was wir gemeinsam durchsetzen müssen.
Wenn ich von Vertrauen spreche, bin ich mir darüber
klar, dass Menschen, die krank sind oder befürchten,
krank zu werden, zunächst einmal verunsichert sind und
zu einem Arzt oder zur stationären Behandlung gehen. Sie
wissen nicht, was auf sie zukommt. Manchmal ahnen sie
es nur. Sicher hat sich jeder von Ihnen schon gefragt, auch
wenn er nicht selber, sondern ein Angehöriger krank war:
Wird denn auch wirklich alles Erdenkliche getan? Weil es
eine so große Verunsicherung bei den Kranken und ihren
Angehörigen, die mit ihnen zusammenleben oder sie pflegen, gibt, brauchen die Menschen vor allem eins: Sie
brauchen die Sicherheit,
({2})
dass ihnen ein Gesundheitssystem zur Verfügung steht,
das ihre persönlichen Bedürfnisse berücksichtigt und das
auch in Zukunft leistungsfähig ist.
({3})
Wenn mich jemand fragt, wie ich mir denn ein solidarisches Gesundheitswesen in Deutschland vorstelle, dann
ist für mich eines klar: In einem solidarischen Gesundheitswesen
({4})
darf niemand auf den Gedanken kommen: Wenn ich nur
mehr Geld hätte, dann würde ich besser behandelt. Das ist
eine Maxime, von der wir ausgehen müssen.
({5})
Dabei gelten für uns in der Regierung und auch in der
rot-grünen Koalition folgende Prinzipien: Die Qualität
der Leistungen muss gesichert, ständig angepasst und,
wenn nötig, ausgebaut werden. Die solidarische Finanzierung muss auch in Zukunft genauso erhalten werden
wie die wirtschaftliche Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherungen, die die Versorgung in der Breite in
diesem Land sicherstellen.
({6})
Das schließt Gedanken oder das Nachdenken über neue
Wege nicht aus, sondern - das sage ich ausdrücklich - es
schließt diese Gedanken ein.
({7})
Wenn wir einmal von dem, was wir in Deutschland
vorfinden, ausgehen, dann haben wir im internationalen
Vergleich immer noch ein Defizit im Bereich der Prävention und der Gesundheitsförderung. Die Gesundheitspolitik der Regierungskoalition hat deshalb zu Recht seit Beginn der Legislaturperiode hier klare Akzente gesetzt und
sie hat mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 strukturelle Veränderungen zur Verbesserung der Qualität und
der Leistungen des Gesundheitswesens auf den Weg gebracht. Es wäre besser gewesen, wenn wir dies damals im
Dialog gemeinsam gemacht hätten und der Bundesrat
nicht blockiert hätte.
({8})
Wir wollen diesen Weg fortsetzen.
({9})
Wir wollen auch in Zukunft das solidarisch finanzierte
System der Krankenversicherung, in das Arbeitgeber,
aber auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Beiträge
einzahlen,
({10})
stärken und wir wollen es sichern.
({11})
Dabei ist uns klar - und müsste auch Ihnen klar sein -:
Die Bereitschaft zu finanziellem Engagement wird es auf
Dauer nur dann geben, wenn die Versicherten voll und
ganz hinter dem System stehen. Dies tun sie umso überzeugter, je genauer sie wissen, was mit ihrem Geld passiert, wenn sie wissen, dass wir verantwortungsvoll mit
ihrem Geld umgehen und dabei versuchen, hohe Leistungen zu sichern.
({12})
Mancher hat sich ja schon gewundert, warum ich nach
vier Wochen im Amt immer noch lache,
({13})
Es ist natürlich klar: Auch ich erlebe das Gesundheitswesen als ein Politikfeld, das stark oder überwiegend von
Einzelinteressen geprägt ist. Aber es liegt vielleicht in
meiner Natur.
({14})
Bundesministerin Ulla Schmidt
Wenn wir eine neue Qualität erreichen wollen, dann brauchen wir auch gegenseitiges Verständnis für die Positionen der verschiedenen Beteiligten im Gesundheitswesen
und eine gemeinsame Verpflichtung auf konkrete Projekte, die wir umsetzen wollen.
Deshalb setze ich auf die Zusammenarbeit; ich setze
auf eine neue Kultur des Dialogs aller im Gesundheitswesen Beteiligten. Aber ich setze auch auf eine gemeinsame Arbeit aller hier im Parlament vertretenen Fraktionen, weil ich glaube, dass das der einzige Weg ist, um
wirklich zu gemeinsamen Lösungen und zu einer Verbesserung im Gesundheitswesen zu kommen. Ich sage ganz
klar: Unter Dialog verstehe ich nicht den Austausch altbekannter Positionen, sondern eine ernsthafte Diskussion
um Schwerpunkte, um gemeinsame Strategien, um Ziele
und um Instrumente.
Ich bin überzeugt davon, dass sich zielkonformes Handeln eher durch positive Anreize als durch Sanktionen erreichen lässt. Vielleicht ist diese Überzeugung meiner
Tätigkeit als Sonderpädagogin geschuldet. Positive Anreize motivieren, setzen Ressourcen frei und steigern die
Qualität. Sanktionen dagegen können immer nur das allerletzte Mittel sein, wenn nichts mehr geht. In diesem
Sinne, Herr Kollege Thomae, waren und sind für diese
Bundesregierung und für die Koalitionsfraktionen sektorale Budgets nur Übergangslösungen,
({15})
die durch neue, positiv steuernde Instrumente ersetzt werden müssen. Davon bin ich überzeugt.
({16})
Allerdings - damit nicht wieder so viele Erwartungen
geweckt werden, die nicht erfüllt werden können - muss
bei der Einführung neuer Instrumente eines sichergestellt
werden: Reformen dürfen nicht nur darin bestehen, immer
mehr Geld ins System zu stecken, indem die Beiträge erhöht werden. Es muss vielmehr sichergestellt werden,
dass mit dem Geld der Versicherten verantwortungsbewusst umgegangen wird.
({17})
- Ich spreche von dem solidarisch finanzierten Gesundheitssystem.
Jetzt komme ich zu dem Punkt, den auch der Kollege
Thomae angesprochen hat. Ich bin davon überzeugt, das
vor allen Dingen bei der Kollektivhaftung bezüglich des
Arzneimittelbudgets negative Wirkungen und fehlendes
Zielerreichen auf der Hand liegen. Ich kann lebhaft nachvollziehen, dass eine drohende Mithaftung von Ärztinnen
und Ärzten, die selber entweder gar keine oder wirtschaftlich verantwortungsbewusst Arzneimittel verschreiben,
kaum zu vermitteln ist. Ich habe Verständnis für negative
psychologische Wirkungen, bei denen sich Ärztinnen und
Ärzte stets fremdbestimmt fühlen und sich fragen: Warum
eigentlich muss ich für die Kolleginnen und Kollegen geradestehen, die nicht wirtschaftlich und sparsam verordnen?
({18})
- Die Kollektivhaftung war keine Erfindung dieser Regierungskoalition. Ich bin nun schon länger im Parlament
und weiß, dass es eine Erfindung meines sehr geschätzten
Kollegen Seehofer, also einer meiner Vorgänger, war.
({19})
- Er hat leider keine Mehrheit mehr.
Ich habe in den letzten Tagen den Eindruck gewonnen,
dass verantwortlich denkende Leistungserbringer im Gesundheitswesen für neue Wege offen sind. Ich treffe auf
viele, die bereit sind, neben der therapeutischen Verantwortung auch die Verantwortung für die finanzielle Seite
des Gesundheitssystems zu übernehmen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Es geht auch nicht anders, als
dass wir uns gemeinsam in die Pflicht nehmen. Bei der
Schlüsselstellung, die die Ärztinnen und Ärzte in unserem
Gesundheitssystem haben, können wir sie aus der Finanzverantwortung nicht entlassen.
Ich bin zusammen mit der Regierungskoalition bereit,
die Ärzteschaft beim Wort zu nehmen und ihnen die
Chance zu verantwortlichem Handeln zu eröffnen.
({20})
Dabei bin ich offen für jede neue Idee, für alle Vorschläge
und Konzepte, die einer Prüfung standhalten.
({21})
Herr Kollege Thomae, ich bin Gesundheitsministerin
und nicht die Chefredakteurin des „Stern“.
({22})
Deshalb muss ich an dieser Stelle einmal sagen: Nicht alle
Vorschläge, die zurzeit publiziert werden, halten einer
Überprüfung stand. Ich kann nur denjenigen in der schreibenden Zunft, die nicht müde werden, immer wieder neue
Vorschläge zur Belastung ausschließlich der Patienten zu
entwickeln, sagen:
({23})
Seien Sie vorsichtig! Auch Sie könnten in diesem Land
einmal Patient werden!
({24})
Bundesministerin Ulla Schmidt
- Nein, aus dem Kanzleramt kommt nur der Sonnenschein, von dort kommen keine Nebelkerzen. Das wissen
Sie doch.
({25})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nur wenn man bereit
ist, aus den Fehlern der vergangenen Jahre zu lernen, wird
man in der Lage sein, die großen Kapazitäten und die
überragenden Kompetenzen des deutschen Gesundheitswesens zusammenzuführen. Niemand von uns sollte
Angst davor haben, dabei klüger zu werden. Ich jedenfalls
habe diese Angst nicht. Dabei geht es nicht nur um Einzelmaßnahmen, sondern wir brauchen ein Gesamtkonzept.
Zu Ihren Initiativen muss ich sagen: Der vorliegende
Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion und der Antrag
der F.D.P. beschäftigen sich leider nur mit bestimmten
Ausschnitten der Arzneimittelversorgung
({26})
und der Honorarsituation der Ärztinnen und Ärzte. Liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wer Sanktionen - vielleicht zu Recht - aufheben will, weil ihre
Wirkungen verpufft sind, muss klare Alternativen anbieten.
({27})
Daran werden wir arbeiten. Ich lade Sie ein, das mit uns
gemeinsam zu tun.
({28})
- Ich habe ihn gelesen, im Lesen war ich immer gut.
({29})
- Hören Sie mir jetzt zu! Dann erfahren Sie, worüber wir
reden können.
Für mich muss ein tragfähiger Lösungsansatz Folgendes voraussetzen: Erstens. Wir brauchen eine differenzierte Betrachtung der einzelnen ärztlichen Fachrichtungen ebenso wie eine differenzierte Beurteilung der
Notwendigkeiten und Besonderheiten bei der Pharmakotherapie, und zwar wirklich bezogen auf die einzelnen
Morbiditätsindikatoren in jeder Praxis und orientiert an
dem, was therapeutisch notwendig ist.
({30})
Zweitens. Wir brauchen qualitätsgesicherte Systeme
für die Leistungserbringung und die Arzneimittelverordnung, wenn die Wirtschaftlichkeit sichergestellt sein soll.
({31})
- Das wird zusammen mit den Ärzten ausgearbeitet.
Darin sind diese weiter als Sie, Herr Kollege Parr.
Drittens. Nur ein Transparenz garantierendes System
für die Ärztinnen und Ärzte, die Kassenärztlichen Vereinigungen in den einzelnen Versorgungsgebieten, aber
auch für die gesetzlichen Krankenkassen gewährleistet,
dass regulierend, unterstützend und steuernd eingegriffen
werden kann.
Viertens. Wir brauchen klar definierte Verantwortungen auf der Basis der einzelnen Praxen, differenziert nach
Fachrichtungen.
Fünftens. Wir brauchen die Sicherstellung der Gesamtverantwortung der Kassenärztlichen Vereinigungen in
ihren Versorgungsregionen.
Sechstens. Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenversicherungen müssen gleichermaßen Information,
Beratung und Unterstützung der Ärztinnen und Ärzte gewährleisten.
Siebtens. Wir müssen unmissverständliche Schwellenwerte definieren, bei denen eingegriffen werden muss:
durch Beratung, durch Mahnung und durch Formen der
Intervention - das müssen wir erarbeiten -, die einen Ausgleichsmechanismus auf der Zeitachse vorsehen.
({32})
- Das haben Sie heute leider nicht eingebracht.
Achtens. Am Ende steht die Eigenverantwortung der
Ärztinnen und Ärzte, aus der wir sie nicht entlassen können. Das kann die Politik nicht gewährleisten.
({33})
In einem Punkt haben Sie Recht, Herr Kollege
Thomae: Es geht nicht um Einzelinstrumente. Bei einem
Orchester wäre es sehr schlecht, wenn man sich auf einzelne Instrumente konzentrierte. Es funktioniert nur
dann, wenn alle Einzelinstrumente verbunden werden,
um zu einer stimmigen Melodie zu gelangen.
({34})
Für das, was wir noch leisten müssen, brauchen wir
zwei Dinge: Erstens. Wir brauchen kurzfristig greifende
Maßnahmen. Zweitens. Wir brauchen eine Diskussion
über die notwendigen langfristigen Veränderungen des
Gesundheitssystems in Deutschland.
Ich nenne Ihnen jetzt meine wichtigsten Projekte für
dieses Jahr. Wir werden die Festbetragsregelung im Arzneimittelbereich auf eine rechtlich sichere Grundlage stellen.
({35})
Wir können auch in Zukunft - das sage auch ich angesichts dessen, worüber wir diskutieren - nicht auf die Ausschöpfung von Reserven bei der Arzneimittelversorgung
verzichten. Entsprechende Regelungen finden sich übrigens in allen europäischen Ländern. Wir prüfen, inwieweit Festbetragsregelungen im Einzelnen notwendig sind
oder ob sie durch Alternativen abgelöst werden
können. Wir planen zunächst eine Übergangslösung, die
Bundesministerin Ulla Schmidt
kurzfristig umgesetzt werden kann. Zur konkreten Ausgestaltung werden noch heute die ersten Gespräche mit
Mitgliedern der Fraktionen des Deutschen Bundestages,
mit den gesetzlichen Krankenkassen und den Vertretern
der pharmazeutischen Industrie geführt werden.
Mein Haus wird eine Alternative zum Kollektivregress beim Arzneimittelbudget entwickeln, da der Kollektivregress nicht wirksam geworden ist. Es ist vielleicht
meinem viel beschriebenen Pragmatismus zu schulden:
Ich bin der Meinung, von unwirksamen Instrumenten
sollte man Abschied nehmen, besonders wenn sie unproduktive Diskussionen auslösen. Außerdem gilt: Im Bereich der Arzneimittel steht auch die Positivliste unter
dem Stichwort von Transparenz und Wirtschaftlichkeit
auf der Agenda. Wir werden nach Lösungen suchen, um
hier weiterzukommen.
({36})
Ein nächster wichtiger Bereich: Die Einführung wettbewerblicher Instrumente in der Versorgung war und ist
der richtige Weg. Unser Ziel ist es, den Leistungswettbewerb der Krankenkassen zu fördern. Aber Wettbewerb
bedeutet einen Wettbewerb um die bessere Behandlung
von Kranken. Er bedeutet keine Konkurrenz der Kassen
um Gesunde.
({37})
Das stellt die Versorgungskassen langfristig infrage.
Deshalb müssen wir den Risikostrukturausgleich
reformieren. Wie Sie wissen, hat das Bundesgesundheitsministerium zu dieser Frage ein Gutachten in
Auftrag gegeben, dessen endgültiger Bericht uns in diesen Tagen vorgelegt wird. Wir werden dieses Gutachten,
aber auch andere Konzepte, die mittlerweile entwickelt
wurden, sorgfältig und umgehend auswerten. Danach
werde ich dem Parlament und den Beteiligten einen Weg
vorschlagen, wie der Risikostrukturausgleich vor dem
Hintergrund der bisher gesammelten Erfahrungen und zur
Verhinderung von Fehlanreizen weiterentwickelt werden
kann. Wir müssen - darauf kommt es mir an - einen Ausgleich für die strukturellen Faktoren schaffen, die von den
einzelnen Kassen nicht zu verantworten sind. Wir wollen
jedoch nicht den Wettbewerb zwischen den Kassen
einschränken.
Einen weiteren wichtigen Schritt hin zu mehr Verteilungsgerechtigkeit bei den Arzthonoraren in Ost und West
bildet ein Vorschlag der Koalitionsfraktionen für eine gesetzliche Regelung beim Fremdkassenausgleich, der mit
meinem Hause abgestimmt wurde. Es kann nicht sein,
dass die von Arbeitgebern und den Beschäftigten in ihren
Arbeits- und Wohnorten eingezahlten Beiträge am Sitz einer Betriebskrankenkasse verbleiben. Die Mittel müssen
dorthin fließen, wo die Menschen zu ihren Ärztinnen und
Ärzten gehen.
({38})
Das Geld hat der Leistung zu folgen und ich glaube, dass
das Wohnortprinzip hierfür ein richtiger Ansatz ist.
Herr Kollege Thomae, auch im Krankenhausbereich
stehen Veränderungen an. Wir können nicht immer so tun,
als könne man alles verändern, ohne an die Wirtschaftlichkeitsreserven in den einzelnen Bereichen des Gesundheitswesens heranzugehen. Deshalb steht die Umsetzung
eines neuen Entgeltsystems auf der Tagesordnung. Mit
der Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen
schaffen wir positive Anreize. Es darf nicht länger um die
Erstattung von Kosten, sondern es muss im Gesundheitswesen insgesamt um die Bezahlung von Leistungen gehen.
({39})
Unser Ziel dabei ist mehr Leistungsgerechtigkeit, verbunden mit höherer Qualität. Viele Krankenhäuser leisten
dies bereits und das ist nicht nur aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten erstrebenswert.
Ich weiß, dass wir einen ehrgeizigen Zeitplan haben. Er
stellt an die Selbstverwaltung hohe Anforderungen. Es
sind aber schon wichtige Entscheidungen gefallen, sodass
ich optimistisch bin, den Zeitplan einhalten zu können.
Ich kann Sie alle nur darum bitten, daran mitzuwirken, sodass wir den Zeitplan einhalten können. Alles, wodurch
uns Zeit verloren geht, verhindert, dass wir zu vernünftigen Lösungen - auch in anderen Bereichen - kommen.
({40})
Wir brauchen - auch das werden wir auf den Weg bringen - Daten, die in einer Weise erfasst und verarbeitet
werden, dass sie für Steuerungszwecke im Gesundheitswesen geeignet sind. Die Daten müssen für alle hilfreich
sein, sodass wir die Pläne, die wir eben angesprochen haben - so wie es auch von Ihnen angemahnt wird -, umsetzen können.
Ich glaube, die von mir geschilderten Maßnahmen sind
nur ein Ausschnitt von all dem, was wir im Moment machen können. Es sind aber wichtige Schritte hin zu einem
Gesundheitswesen, dem die Menschen auch in Zukunft
vertrauen können. Ich setze dabei auf einen ernsthaften
und konzentrierten Dialog aller Beteiligten am runden
Tisch. Ihre Vorschläge, meine Damen und Herren von
CDU/CSU und F.D.P., darf ich sicherlich als Beitrag zu
dieser Debatte sehen.
Ich wünsche mir, dass es uns gelingen wird, im Gesundheitswesen und der Debatte dazu wieder zu dem
zurückzukehren, was jahrelang - wenn auch im vorigen
Jahrhundert; denn wir befinden uns jetzt an der Schwelle
zu einem neuen - in diesem Hause Tradition war: dass die
wichtigen, elementaren Interessen von Menschen in einem breiten gesellschaftlichen und parlamentarischen
Konsens Berücksichtigung finden. Das ist gut für unser
Gesundheitswesen. Ich biete Ihnen diesen Dialog an und
möchte ihn gemeinsam mit Ihnen führen. Sie sollten ihn
zusammen mit uns führen, damit es uns gelingt, die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt
der Politik zu stellen. Ich setze dabei auf positive Anreize
und die überzeugende Kraft der Vernunft, die ich von Ihnen ja gewohnt bin,
({41})
Bundesministerin Ulla Schmidt
wenn es gilt, mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit zu realisieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Regierungskoalition und die Bundesregierung stehen für eine Gesundheitspolitik, in der nicht partielle Interessen Zielrichtung und Marschgeschwindigkeit angeben, sondern in der
allein das Wohl der Patientinnen und Patienten Maßstab
der Entscheidungen ist. Auch im Gesundheitswesen wird
die Solidarität erst durch die eigene Verantwortung erbracht und die eigene Leistungsfähigkeit erst durch die
Solidarität aller ermöglicht.
Ich lade Sie alle herzlich zu einem gemeinsamen Aufbruch ein. Die Menschen in unserem Lande wollen eine
Gesundheitspolitik, der sie vertrauen können und der sie
sich vor allen Dingen anvertrauen können. Machen Sie
mit! Wir sind dazu bereit und ich freue mich auf die weiteren Debatten mit Ihnen.
Vielen Dank.
({42})
Das Wort
hat nun der Kollege Horst Seehofer für die Fraktion der
CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Schmidt, auch
ich möchte Ihnen zu Ihrer Ernennung zur Bundesministerin für Gesundheit gratulieren. Ich kann Ihnen aus eigener
Erfahrung sagen, dass Ihnen ein sehr schöner, unterhaltsamer Lebensabschnitt bevorsteht.
({0})
Wir wünschen Ihnen dabei so viel Erfolg, dass wir uns als
Opposition nicht darüber ärgern müssen. Sie werden viel
Mut und Geschicklichkeit benötigen, um dieses Amt auszuüben.
Sie haben gerade viele Süßigkeiten verteilt. Gleichwohl: Als ich so manches Interview mit Ihnen aus den
letzten Tagen und Wochen nachgelesen habe, habe ich
festgestellt, dass Sie sich offensichtlich des Ernstes der
Lage durchaus bewusst sind. Allerdings können wir die
letzten zwei Jahre in der deutschen Gesundheitspolitik
nicht so ganz vergessen.
({1})
Liebe Frau Schmidt, Sie sind im Grunde genommen in
einer Zwickmühle. Ihre Vorgängerin, Frau Fischer,
musste auf Druck Ihrer Fraktion, der Fraktion der SPD,
die Budgetierung durchsetzen.
({2})
Derjenige, der diesen Druck ausgeübt hatte, ist heute Botschafter. Er wusste, was kommt, und hat sich deshalb
rechtzeitig aus dem Gesundheitswesen verabschiedet.
({3})
Der Treppenwitz der Geschichte ist - wenn man dem, was
Sie in den Interviews gesagt haben, glauben darf -, dass
Sie jetzt die Budgetierung gegen den Widerstand der Grünen wieder abschaffen wollen.
({4})
An einer Tatsache kommen Sie von der Regierungskoalition nicht vorbei, nämlich dass das deutsche Gesundheitswesen durch Ihre Regulierungswut in den letzten
zwei Jahren in eine Krise manövriert wurde.
({5})
Wer sich ein bisschen im Gesundheitswesen auskennt,
kommt an der Tatsache nicht vorbei, dass sich die Versorgung kranker Menschen zunehmend verschlechtert
hat,
({6})
kommt an der Erkenntnis nicht vorbei, dass die Finanzierung aus dem Ruder läuft - wir werden das in diesem und
im nächsten Jahr merken - und dass die Deutschen, die
mit ihrem Gesundheitswesen einstmals in der Spitzenposition waren, auf dem besten Weg hin zum Mittelmaß
sind.
({7})
Dieser Befund, den auch Sie offensichtlich gestellt haben, ist nicht so sehr und in erster Linie auf externe Faktoren zurückzuführen; vielmehr ist er zuallererst auf eine
völlig falsche Gesundheitspolitik in den letzten zwei Jahren zurückzuführen. Die Gesundheitspolitik von RotGrün hat die Probleme nicht gelöst, sondern die Probleme
im deutschen Gesundheitswesen erst geschaffen. Das ist
die Wahrheit.
({8})
Deshalb tragen Sie für diesen Befund auch die Verantwortung.
({9})
Das lässt sich besonders am Beispiel des Arzneimittelbudgets deutlich machen, obwohl das auf alle anderen
Sektoren des deutschen Gesundheitswesens spiegelbildlich übertragen werden kann. Ich bestreite ja gar nicht,
Frau Schmidt, dass ein Budget für eine begrenzte Zeit einmal Helfer in der Not sein kann. Ich bin übrigens immer
dankbar, wenn man uns das Patent für alles Mögliche zumisst. Aber zur ganzen Wahrheit gehört, dass wir die Budgetierung in Lahnstein 1992 gemeinsam vereinbart haben,
({10})
und zwar unter der Prämisse - ich habe das nachgelesen;
es steht auch in der Begründung unseres Gesetzentwurfs -, dass Budgets für begrenzte Zeit Hilfe in der Not
sind. Wir haben dann die Budgets in unserer Regierungszeit gegen Ihren erbitterten Widerstand wieder abgeschafft, Herr Kirschner.
({11})
Bundesministerin Ulla Schmidt
Jetzt müssen wir feststellen, dass Sie mit den Budgets,
deren Einführung Sie in Ihr Wahlprogramm hineingeschrieben haben und die Sie zwei Jahre lang als großen sozialen Fortschritt gefeiert haben, eine grandiose Bruchlandung gemacht haben. Das, was Sie in den letzten Tagen
gerade über die Budgets im Arzneimittelbereich gesagt
haben, gleicht einem gesundheitspolitischen Offenbarungseid.
({12})
Mit einem Budget - ich erkläre das, damit es auch jeder
versteht - werden zwei Ziele verfolgt: Auf der einen Seite
soll es Wirtschaftlichkeit garantieren und dafür sorgen,
dass nur das medizinisch Notwendige verordnet wird. Auf
der anderen Seite soll es den kranken Menschen auch eine
umfassende, qualitativ hochwertige Versorgung garantieren.
Heute muss man aber feststellen, dass bei Ihrer Dauerbudgetierung beide Ziele - ich betone: beide - verfehlt
worden sind.
({13})
Betrachtet man die belastbaren Zahlen, so stellt man fest,
dass die Ausgaben im Arzneimittelbereich zwischen
1998 und 1999, also im ersten Jahr Ihrer Regierungsverantwortung, trotz Budgetierung von 34,7 Milliarden DM
auf 37,6 Milliarden DM, also um fast 3 Milliarden DM,
gestiegen sind. Die Zahlen für das Jahr 2000 liegen noch
nicht vor. Das Ziel, die Ausgaben im Gesundheitsbereich
zu begrenzen, ist glatt verfehlt worden. Sie sagen nun, den
Regress, der jetzt fällig wäre, würden Sie nicht vollziehen.
Dazu kann ich Ihnen nur gratulieren und ich werde dazu
noch etwas sagen.
Durch das Budget ist es zu der verhängnisvollen Entwicklung gekommen, dass man zum einen die Ausgabenexplosion im Arzneimittelbereich nicht in den Griff bekommen hat und dass es gleichzeitig eine nachweisliche
Verschlechterung bei der Versorgung kranker und älterer Menschen gibt.
({14})
Reden Sie einmal mit den Selbsthilfegruppen zu den
Krankheiten Krebs, Multiple Sklerose, Rheuma und andere! Dort werden Sie erschütternde Beispiele hören.
10 bis 20 Prozent der chronisch kranken und der älteren
Menschen erhalten - Frau Schmidt, das wissen Sie - wegen der Budgetierung nicht mehr die Versorgung mit notwendigen Medikamenten. Das ist die Realität im deutschen Gesundheitswesen.
({15})
Das ist eine unwürdige und beschämende Situation:
Die kranken und älteren Menschen sind zu Bittstellern geworden. Sie müssen Ärzte suchen, die bereit sind, sie
überhaupt zu behandeln. Wenn sie einen solchen Arzt gefunden haben, dann bekommen sie die Auskunft, dass er
wegen des Budgets die notwendigen Arzneimittel nicht
verordnen könne.
({16})
Ich sage es noch einmal: Das ist die Realität im deutschen Gesundheitswesen zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
({17})
Das ist die Folge der Dauerbudgetierung. Es ist beschämend!
({18})
Wir haben im Moment eine Mehrklassenmedizin.
Wer von der Sozialhilfe lebt, der bekommt eine umfassende gesundheitliche Versorgung auf dem besten Niveau.
({19})
Wer 40 Jahre Beiträge in die gesetzliche Krankenversicherung eingezahlt hat, bei dem wird gespart, weil er unter das Diktat des Budgets fällt.
({20})
Ich gönne dem Sozialhilfeempfänger die Versorgung auf
dem höchsten medizinischen Niveau. Das soll auch so
bleiben. Aber wir müssen schleunigst abschaffen, dass jemand, der Solidarbeiträge in die Krankenversicherung
zahlt, eine nur noch mittelmäßige gesundheitliche Versorgung bekommt.
({21})
Ich weiß, welches Argument Sie als nächstes bringen:
die Selbstbeteiligung. Das Budget wird gegen die Selbstbeteiligung ausgespielt. Das Budget führt im Gegensatz
zur Selbstbeteiligung voll und ganz zur Leistungsausgrenzung bei kranken Menschen. Deshalb wiederhole ich,
was wir vor zwei Jahren prognostiziert haben: Das Budget ist die unsozialste Form der Selbstbeteiligung, die man
sich vorstellen kann.
({22})
Das Budget nimmt keinerlei Rücksicht auf soziale Härtefälle oder darauf, ob man Kinder erzieht, wie krank man
ist und welches Einkommen man hat. Das Budget schlägt
nach der Fallbeilmethode zu: Wer im November krank
wird, bekommt unter bestimmten Voraussetzungen keine
medizinische Versorgung mehr. Deshalb, Frau Schmidt:
Die Budgets müssen weg. Es gibt keine andere Möglichkeit. Dabei haben Sie unsere vollste Unterstützung.
({23})
Die Budgetierung führt auch zur Demotivation aller
Beteiligten im Gesundheitswesen, insbesondere der Ärztinnen und Ärzte. Der Kollektivregress führt zu der abstrusen Folge, dass ein Mediziner, der beispielsweise in
Hof tätig ist, der verantwortlich verordnet und sogar unterhalb der Budgetgrenze bleibt, für einen Arzt haftet, der
zum Beispiel in München aus dem Vollen schöpft. Sie
können keinem Arzt erklären, dass er selbst dann, wenn er
seine Budgetgrenze nicht erreicht, für einen anderen Arzt,
der 3 000 km entfernt ohne Rücksicht auf das medizinisch
Notwendige aus dem Vollen schöpft, haftet. Man darf also
nicht nur an die Versorgungsstrukturen und an die Versorgungsqualität denken, sondern muss auch daran denken,
dass wir motivierte Ärzte im deutschen Gesundheitswesen brauchen. Das Budget hat aber zur Demotivierung der
deutschen Ärzteschaft geführt.
({24})
Greifen Sie unser Modell der Richtgröße auf! Wir haben nach der Bundestagswahl nicht plötzlich eine neue
Gesundheitspolitik erfunden. Im Jahre 1997, also vor der
Bundestagswahl, haben wir es hier im deutschen Parlament in Kraft gesetzt und sind als Sozialräuber und Ähnliches beschimpft worden.
({25})
Der jetzige Bundeskanzler war damals in meinem Wahlkreis. Ich nehme an, dass er - so kennen wir ihn - jeden
seiner Auftritte auf Video aufnehmen lässt, damit er sich
später einmal selbst bewundern kann. Wenn er wieder in
meinen Wahlkreis kommt, dann werde ich ihm den Teil
des Videos vorspielen, in dem er seine gesundheitspolitischen Ausführungen macht. Was er jetzt im „Stern“ sagt,
entspricht der Gesundheitspolitik, die er in der Vergangenheit, vor zwei Jahren, bekämpft hat.
({26})
Die Vorlage über die Richtgröße haben wir 1997 verabschiedet. Die Richtgröße ist die ideale Kombination
zwischen medizinischen Erwägungen und Wirtschaftlichkeit. Der Arzt hat die Möglichkeit, das unter medizinischen Gesichtspunkten Notwendige zu verordnen, ohne
ständig befürchten zu müssen, dass das Fallbeil des Regresses kommt. Wenn ein Arzt zehn Krebspatienten mehr
als im vorherigen Quartal hat, dann muss er doch verdammt noch mal das Notwendige und Hochwertige verordnen können.
({27})
Umgekehrt müssen wir auch die Wirtschaftlichkeit sehen. Natürlich gibt es schwarze Schafe. Aufgrund der
Richtgröße haben die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen die Möglichkeit, die schwarzen
Schafe mit einem Regress zu belegen. Dann wären auch
wirklich nur die schwarzen Schafe betroffen und es gäbe
keinen kollektiven Regress gegenüber den Anständigen.
({28})
Wenn Sie bei dem skizzierten Ansatz bleiben und für ihn
eine Mehrheit in Ihrer Koalition finden, dann können Sie
- wir bringen heute einen Gesetzentwurf ein - noch in diesem Monat unsere Zustimmung bekommen und auf diesem Feld der Gesundheitspolitik herrscht wieder Ruhe.
({29})
Das reicht aber nicht, und das, was Sie, Frau Schmidt, uns
heute gesagt haben, reicht auch nicht, um die Probleme im
Gesundheitswesen zu lösen. Was Sie vorgeschlagen haben, ist Stückwerk. Wir werden in den nächsten Monaten
nicht darum herumkommen, die deutsche Gesundheitspolitik neu zu strukturieren. Wenn Sie unsere Gesundheitsreform nicht zurückgenommen hätten, dann hätten Sie
viele Probleme, mit denen sie zurzeit zu kämpfen haben,
nicht. Sie haben sich die Probleme selbst eingebrockt.
({30})
Niemand kann die Augen davor verschließen, dass uns
die gleichen Probleme, die wir in Bezug auf die Rentenversicherung haben, auch in Bezug auf die Krankenversicherung bewegen: der Altersaufbau der Bevölkerung,
immer weniger Beitragszahler und immer mehr Leistungsempfänger. Diese Probleme schlagen in der Krankenversicherung viel dynamischer durch.
({31})
Die Beitragsdynamik wird dort mittel- und langfristig
stärker als in der Rentenversicherung sein. Während im
Hinblick auf die Rentenversicherung jetzt Gott sei Dank
Konsens über die Handlungsnotwendigkeit und die Handlungsrichtung besteht, fehlt ein solcher Konsens noch im
Hinblick auf die Krankenversicherung.
({32})
Bei den älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern - das
ist kein Vorwurf, nur ein Befund - liegt der Aufwand für
die medizinische und die pflegerische Betreuung um
80 Prozent höher als bei den Erwerbstätigen. 6 956 DM
fallen für einen älteren Menschen im Durchschnitt an. Das
soll auch so bleiben; denn darin besteht die Solidarität
zwischen Jung und Alt. 3 706 DM fallen im Durchschnitt
für jemanden an, der im erwerbsfähigen Alter ist. Der
Aufwand für einen älteren Menschen liegt also um
80 Prozent höher. Da die Anzahl der Beitragszahler immer
geringer und die der Leistungsempfänger immer höher
wird, stehen wir im Gesundheitswesen vor einer riesigen
Herausforderung, die größer als die im Bereich der Rentenversicherung ist. Sie dürfen nicht erst handeln, wenn
die Katastrophe eingetreten ist.
({33})
Sie müssen jetzt handeln, damit die Katastrophe vermieden wird.
({34})
Wir alle wissen, dass die Rentner - das soll auch so
bleiben - nur halb so hohe Beiträge wie die Erwerbstätigen zahlen, weil ihre Bemessungsgrundlage niedriger ist.
Dazu kommen die Kosten des medizinischen Fortschritts der, ethisch angewandt, ein Segen für die
Menschheit ist. Diese Kosten werden auch in Zukunft
stärker als die Einnahmen der Krankenkassen steigen.
Beides zusammen, die Demographie unseres Volkes und
den medizinischen Fortschritt, bezeichne ich als das
Ozonloch unseres Gesundheitswesens. Wir stehen vor einer riesigen langfristigen Herausforderung, auf die in der
Gegenwart, also kurzfristig reagiert werden muss.
({35})
Wer jetzt nicht handelt, Frau Schmidt, der kommt um
krasse Einschnitte in das Leistungsangebot des deutschen
Gesundheitswesens nicht herum. Das wollen wir vermeiden. Rechtzeitiges Handeln bedeutet Prävention gegen
unsoziale und krasse Leistungseinschnitte.
({36})
Wir nennen Ihnen hier die drei wesentlichen Elemente
unserer Reformvorstellungen. Der Patient mit seinen Bedürfnissen muss endlich in den Mittelpunkt des Handelns
gestellt werden. Mit dem ökonomischen Diktat im Gesundheitswesen muss Schluss sein. Der kranke Mensch
mit seinen Bedürfnissen muss ins Blickfeld rücken.
({37})
Um das zu gewährleisten, brauchen wir erstens in dieser Dunkelkammer - so bezeichne ich das deutsche Gesundheitswesen - mehr Transparenz hinsichtlich Kosten
und Qualität.
({38})
Es ist höchste Zeit - so stand es schon im Gesetz -, dass
die Menschen über das, was geleistet wurde, und darüber,
wie es abgerechnet wurde, endlich eine Information erhalten, auch eine Information über die Qualität der erbrachten Leistung.
({39})
Nur ein informierter Bürger ist ein mündiger Bürger. Es
ist ganz wichtig, dass wir das realisieren.
({40})
Zweitens. Wir brauchen einen Wettbewerb um die
bestmögliche Qualität und die bestmögliche medizinische
Versorgungsform. Muss denn alles kartellartig auf der
Seite der Krankenkassen und zunftartig auf der Seite der
Ärzte und anderer in Deutschland organisiert sein? Muss
alles oder jedenfalls das meiste einheitlich organisiert
sein? Können wir uns nicht endlich einmal wieder auf ein
bewährtes Regulativ der sozialen Marktwirtschaft besinnen, indem wir Pluralität und Wettbewerb im deutschen
Gesundheitswesen zulassen?
({41})
Verschiedene Versorgungsangebote und verschiedene
medizinische Methoden sollen miteinander konkurrieren.
Dann sollen nicht Funktionäre oder Ministerialbeamte,
sondern die Bürger entscheiden, welches Versorgungsangebot und welche medizinische Versorgungsform sie
wollen.
({42})
Im Gesundheitswesen gibt es ein Kartell und gibt es
Zünfte. Die Argumentation von allen, die versucht haben,
dieses System ein wenig aufzubrechen - auch ich gehöre
dazu -, ist mehr oder weniger zertrümmert worden. Man
wurde als Sozialräuber, als jemand, der Sozialabbau betreibt, beschimpft. Wenn wir nicht mehr geordneten Wettbewerb im Gesundheitswesen zulassen, werden wir aber
in Zukunft kein erstklassiges Gesundheitssystem mehr
gewährleisten können.
Drittens. Was spricht denn eigentlich dagegen, dass wir
den mündigen Bürgern etwas mehr Wahlfreiheit auch
beim Leistungskatalog geben? Wie haben Sie solche Vorhaben beim Zahnersatz bekämpft! Der Bürger kann doch
zum Beispiel entscheiden, ob er 10 oder 12 Prozent Krankenversicherungsbeitrag bezahlen will, wenn er dafür im
Falle eines Falles eine Bagatellrechnung selber bezahlt.
Wenn er das nicht will, dann kommt auf ihn eben eine
höhere Dauerbelastung zu. Warum soll das ein Bürger
nicht wollen und können?
({43})
Alles trauen wir dem Bürger zu, wenn wir mit schönen
Worten Sonntagsreden halten. Nein, übertragen wir ihm
diese Verantwortung einmal in der Realität! Die Schweizer, die Franzosen, alle anderen haben das gemacht, nur
wir in Deutschland glauben, dass wir dem Bürger diese
Wahlfreiheit nicht zumuten können. Mehr Wahlfreiheit
beim Leistungskatalog!
({44})
Natürlich muss dann ein Kernbereich festgelegt werden,
der solidarisch finanziert wird, denn sonst würden Junge
und Gesunde sich zu der Entscheidung durchringen, sich
erst in 30 Jahren zu versichern. Dann würden die Solidarbeiträge für die Kranken und die Älteren fehlen. In einer
bestimmten Bandbreite aber wollen die Leute mehr Auswahlrechte bezüglich des zu wählenden Leistungskataloges. Geben wir sie ihnen!
Ich bin der tiefen Überzeugung, dass, nachdem wir in
den letzten 20 Jahren mit zweifelhaftem Erfolg im Gesundheitssystem fast alles ausprobiert haben, diese drei
Elemente - Transparenz,
({45})
geordneter Wettbewerb und Wahlfreiheit - für Qualität
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen mehr bewirken als jede staatliche Reglementierung. Deshalb müssen
wir diese drei Dinge umsetzen.
({46})
Frau Schmidt, ich nehme es Ihnen ab, dass Sie sich um
inhaltliche Signale bemühen und das Gesprächsangebot
ernst meinen. In einer Demokratie gewinnen jedoch auch
noch so schöne Worte Überzeugungskraft erst durch tätigen Einsatz. An der Tat werden wir Sie messen. Ihre Versuche, mal zu diesem, mal zu jenem Thema ein Gespräch
zu führen, sind ehrenwert. Ich will Sie aber einmal darauf
hinweisen, dass es sich 1992 anders verhielt: Die damalige Regierung hatte einen Gesetzentwurf vorgelegt.
({47})
Auf der Grundlage dieses Gesetzentwurfes haben wir uns
nach Lahnstein in Klausur begeben und parteiübergreifende Gespräche geführt. Deshalb sage ich Ihnen auch für
meine Fraktion: Wir sind immer zu Gesprächen bereit; es
muss aber bitte vorher klargestellt werden, dass die Regierung regieren wollte. Also soll sie regieren,
({48})
und deshalb soll sie zuallererst einmal ein Konzept vorlegen.
({49})
Dann werden wir auf der Grundlage dieses Konzeptes
prüfen, ob Gespräche Sinn machen oder nicht. Ich kann
Ihnen alle Protokolle und alles, was ich mir persönlich zu
Lahnstein aufgezeichnet habe, überreichen. Wir haben damals die Orientierung vorgegeben, ein Konzept vorgelegt
und dann die Opposition zu einem Gespräch eingeladen.
Machen Sie es so wie wir! Ohne Konzept wird es kein Gespräch geben. Sorgen Sie erst einmal für Ihre Vorstellungen und für die des Bundeskanzlers, die im „Stern“ veröffentlicht wurden, bei Ihrer eigenen Regierungskoalition
für die nötigen Mehrheiten!
({50})
Frau Schmidt, noch ein Letztes. Es geht natürlich nicht,
dass man jetzt Ankündigungen macht und sagt: Die notwendige Reform machen wir nach der Wahl. - Wir legen
schon Wert darauf, dass Sie den Menschen vor der Bundestagswahl reinen Wein einschenken
({51})
und dass Sie jetzt mit der strukturellen Umgestaltung
des deutschen Gesundheitswesens beginnen. Wer dem
Gesundheitswesen jetzt die Umgestaltung verweigert, der
verweigert den Menschen ein Stück Zukunftssicherheit.
({52})
Ich gebe der
Kollegin Monika Knoche für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Herzlichen Dank, Frau Ministerin Schmidt, für Ihre
Rede, die ich außerordentlich gerne gehört habe.
Herr Seehofer, ganz zum Schluss haben Sie die Katze
aus dem Sack gelassen. Ohne auch nur ein einziges Mal
den Begriff „Ausstieg aus dem Solidarsystem“ zu verwenden, ohne auch nur einmal den Begriff zu nennen, um
den es geht, nämlich Verabschiedung vom Sachleistungsprinzip, haben Sie einem Systemwechsel nach original
neoliberaler Konzeption das Wort geredet.
({0})
Sie sind nicht einmal davor zurückgeschreckt, Sozialhilfeempfänger in Konkurrenz zu anderen Versicherungsnehmern der gesetzlichen Krankenversicherung zu setzen, um auszudrücken, dass Sie die gesetzliche
Krankenversicherung auf einen so genannten Kernbereich reduzieren wollen und anderes der privaten Zusatzversicherung unterwerfen wollen. Sie wollen also Regelund Wahlleistungen in einem Konzept mit so genannten
Kernleistungen. Herr Seehofer, dieses Modell haben Sie
subkutan schon einmal probiert. Sie sind dafür abgewählt
worden.
({1})
Wir werden alles tun, die ideologische Seite dieses Systemwechsels zu thematisieren und das, was wir seit Übernahme der Regierung durch Rot-Grün gemeinsam entwickelt haben, weiterzuführen.
Ich bin eine große Verfechterin
({2})
des solidarischen Sicherungssystems, das wir in Deutschland haben. Alle Reden, die bisher gehalten worden sind,
haben eines deutlich gemacht: Einen Wechsel in der Gesundheitspolitik wird es unter Rot-Grün bei Ministerin
Schmidt nicht geben. Er ist nicht zu erkennen und ihn wird
es nicht geben.
({3})
Was hat sie gesagt?
({4})
Sie hat eine ganz wichtige Aussage für die Bevölkerung
und für die Kommunikation von Politik insgesamt gemacht. Sie hat gesagt: Ich will nicht, dass eine Patientin
oder ein Patient im Wartezimmer sitzt und sagen muss:
Wenn ich Geld hätte, würde ich besser behandelt werden.
({5})
Ein besseres Plädoyer für das vorhandene Gesundheitssystem mit seiner Finanzierungsstruktur kann man meines Erachtens nicht halten.
({6})
Das ist völlig eindeutig und klar.
({7})
Ich habe sehr wohl wahrgenommen, dass hier Spitzen
gefahren werden, um einmal zu sehen: Wird der Ausstieg
aus der paritätischen Finanzierung kommen? Gibt es
dafür Verlockungen?
({8})
Gerade wenn man das Prinzip von Wahl- und Regelleistungen propagiert und von Kernleistungen redet, meint
man nichts anderes als den Ausstieg aus der paritätischen Finanzierung.
({9})
Nichts in dieser Gesellschaft - davon bin ich wirklich
überzeugt - schafft mehr Vertrauen in die Zukunftsfähigkeit des Gesundheitswesens als die Gewissheit, dass sich
alle an der solidarischen Sicherung beteiligen.
({10})
Wenn wir über Zukunftsfragen und Finanzierungsfragen sprechen, dann müssen wir den Menschen auch vermitteln, dass die Eingebundenheit in die sozialen Sicherungssysteme mit ihren Beitragssätzen ganz eng mit der
wirtschaftlichen und der arbeitsmarktpolitischen Entwicklung korrespondiert. Angesichts der Herausforderung, die
Kultur des Sozialen durch die Gesundheitspolitik sicherzustellen, ist es unter der Maßgabe der Beitragssatzstabilität unverzichtbar, mehr Menschen in dieses System der
solidarischen Sicherung aufzunehmen. Die Zuwächse bei
den Gruppen mit höheren Einkommen zu nutzen und deren Bezieher in dieses System der solidarischen Sicherung aufzunehmen
({11})
dient auch dem Ziel, Beitragssatzstabilität zu erreichen.
Es ist ganz wichtig, dass wir in der öffentlichen Debatte nicht den Eindruck erwecken, es gebe für die Fortschreibung dieses Systems keine Möglichkeiten. Die Alternative besteht wahrlich nicht darin, aus der
paritätischen Finanzierung auszusteigen.
({12})
Damit können wir die Garantien, die wir in der Gesundheitspolitik zu geben haben, nicht einhalten. Das wäre in
der Tat der Weg in eine Zweiklassenmedizin, die sowohl
Sie als auch wir nicht wollen und die wir der Gesellschaft
auf keinen Fall zumuten werden.
({13})
Man muss über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland und über deren Finanzierung
sprechen. Ich habe schon die mögliche Alternative genannt - wir sollten sie nicht vergessen -, die Pflichtversicherungsgrenze zu erhöhen, um mehr Menschen in dieses System aufnehmen zu können.
({14})
Diese Alternative ist elementar. Sie werden an keiner
Stelle erkennen, dass sich in unserer Regierung diese Auffassung auch nur in Nuancen ändern wird.
({15})
Entsprechende Aussagen stehen im Koalitionsvertrag. Sie
sind für die weitere Ausgestaltung der rot-grünen Gesundheitspolitik entscheidend. Ich hoffe, dass damit dieser Teil der Debatte geklärt ist.
({16})
Das Arzneimittelbudget ist der Ausgangspunkt der
heutigen Debatte. Ich weiß nicht, was den Äußerungen
der Frau Ministerin Schmidt hinzuzufügen wäre.
({17})
Ganz wesentlich scheint mir zu sein, auf den Wettbewerb
zu orientieren, den Herr Seehofer angesprochen und gefordert hat,
({18})
der sich dabei grüner Vokabeln und Gedankenbilder bedient hat.
({19})
Das ist wunderbar. Warum auch nicht? Nichts anderes
kann das Ziel der Gesundheitspolitik sein, als die Interessen der Patientinnen und Patienten ins Zentrum zu stellen.
Aber genau das müssen auch die niedergelassenen
Ärzte in ihren Kassenärztlichen Vereinigungen aufgrund
ihrer Verantwortung für das Arzneimittelbudget tun. Sie
haben die Möglichkeit und auch die Aufgabe - vielleicht
können wir es auch evidenzbasierte Medizin nennen -,
Qualitätsorientierung anzustreben und Behandlungsleitlinien zu erlassen. Auf jeden Fall müssen sie in ihrer
Zuständigkeit als niedergelassene Ärzte solche Formen
der Honorierung entwickeln, die Arzneimittelausgaben
zielgerecht mit einbinden, damit sie mit dem vorhandenen
Geld auch auskommen. Wir können zu Recht die Forderung an die niedergelassene Ärzteschaft stellen, dass sie
nicht darauf besteht, das Arzneimittelbudget frei zu lassen. Es muss vielmehr ein qualitativer Zugewinn erkennbar sein, der zeigt, dass die Mittelsteuerung zielgenau ist.
Ich will, dass Phytopharmaka wie auch hochpreisige
Medikamente zu den qualitativen Standards gehören, die
die Versorgung der Patienten, der chronisch Erkrankten,
aber auch der nicht manifest Erkrankten, zielgenau sicherstellen. Warum sind einige Kassenärztliche Vereinigungen in Deutschland in der Lage, das zu leisten? Es ist
nicht wahr, dass in der Bundesrepublik die Kassenärzte
insgesamt mit dem Geld nicht auskommen. Die Hälfte der
Kassenärztlichen Vereinigungen stellen sich dieser qualitativen Neuorientierung und kommen mit dem Geld aus.
Ich bitte die Ärzteschaft insgesamt, sich aus dieser Konfliktkonstellation zu lösen und die Problematik vor allen
Dingen in den eigenen Reihen zum Wohle der Patientinnen und Patienten konstruktiv anzugehen. Das ist der Sinn
des Sicherstellungsauftrages; das müssen sie auch leisten.
Dialog bedeutet - das halte ich für eine wichtige Aussage -, dass wir die Kompetenz und den Willen innerhalb
der Kassenärztlichen Vereinigungen sehen, die Arzneimittelversorgung nach qualitativen Kriterien in den Behandlungskontext einzubeziehen.
Den Dialog so zu führen bietet Möglichkeiten, langfristig
zu einer Überwindung der Probleme auch in den Sektoren
kommen zu können. Anders, denke ich, kann man die Ministerin in dieser Frage gar nicht verstehen.
({20})
Es gibt noch einiges, was in den letzten Tagen bewegt
worden ist, woran erkennbar wird, dass sich hier eine
Richtungsänderung vollziehen soll. Welche Merkmale
dafür haben Sie gefunden? Wo sind sie für Sie sichtbar geworden? Ich konnte nicht sehen, dass hier in irgendeiner
Weise versucht worden ist, das Modell, das die
CDU/CSU-F.D.P.-Regierung in ihrer Regierungszeit
hatte, neu zu beleben oder neu zu bedienen.
Die Frage des Risikostrukturausgleiches ist angesprochen worden. Mit diesem Thema mussten wir deshalb
neu beginnen, weil - vielleicht erinnern sich manche noch
daran - die CDU/CSU Gefahr lief, die Beitragssätze zu
regionalisieren und sich insgesamt aus dem Konsens über
die Notwendigkeit eines gesamtdeutschen Risikostrukturausgleiches zu verabschieden.
Morbiditätskriterien sind neu in den Risikostrukturausgleich aufgenommen worden. Diese Parameter sind wichtig, um den Wettbewerb der Krankenkassen um risikoarme
Versicherte sozial gerecht auszubalancieren. Durch die
Aufnahme dieses neuen Kriteriums in den Risikostrukturausgleich wird es Gesetzgebungsverfahren geben,
bei denen auch die Länder gefragt sind, sich konstruktiv an
diesem Prozess zu beteiligen. Bei der Durchführung wird
sich zeigen, ob der Wettbewerb unter den Krankenkassen
sozial ist, ob wir die soziale Ausrichtung in den Vordergrund stellen oder ob der Wettbewerb destruierende Wirkungen entfaltet. Die Entwicklung, auch hinsichtlich der
Honorierung der Niedergelassenen, wird zeigen, ob das in
dieser Legislaturperiode eingeleitete Reformwerk der
neuen Ausbalancierung des Risikostrukturausgleiches erfolgreich sein wird.
Ich möchte auf jeden Fall, dass die Bevölkerung trotz
des ganzen Gezerres und Mutmaßens weiß: Auf Zuruf aus
den Medien wird sich die Politikgestaltung durch diese
Regierung nicht verändern.
({21})
Dazu ist das Themengebiet zu groß. Es ist zu wichtig für
unser Selbstverständnis, wie wir in der Gesellschaft leben,
was der Wert des Sozialen in unserer Gesellschaft ist. Ich
denke, nirgendwo drückt sich deutlicher als im Gesundheitswesen aus, welches Verständnis von Krankheit und
Krankheitsentwicklung wir haben. Es muss immer die Sicherheit gegeben sein, dass wir keine Ausdifferenzierung
wegen des sozialen Status, wegen finanzieller Voraussetzungen seitens der Patientinnen und Patienten haben.
Mit Sicherheit ist es wichtig, die Patientinnen und Patienten stärker an dem Prozess der Qualitätsorientierung
zu beteiligen. Aber diese Fragen sollten im Vergleich zu
den Systemfragen in der Politik nicht so hochrangig behandelt werden. Die Probleme, die Patientinnen und Patienten im System haben, dürfen nicht dazu benutzt oder sogar missbraucht werden, um aus dem System
auszusteigen.
Die Probleme sind handhabbar; sie sind lösbar. Deshalb bin ich außerordentlich froh darüber, dass bei der
heutigen Debatte von all den Erwartungen, die da herumwaberten, nichts übrig geblieben ist,
({22})
woraus Sie schlussfolgern könnten, es gebe in der rot-grünen Gesundheitspolitik keine Kontinuität.
({23})
Danke.
({24})
Ich gebe das
Wort der Kollegin Dr. Ruth Fuchs für die Fraktion der
PDS.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! CDU/CSU und F.D.P. stellen heute erneut die
Budgetierungsproblematik in den Mittelpunkt der Debatte. Ohne Frage: Hier liegt ein entscheidender
Schwachpunkt der bisherigen rot-grünen Gesundheitspolitik und das scheint endlich auch die Regierung begriffen
zu haben.
({0})
Nur so ist die angekündigte Streichung der ärztlichen
Kollektivhaftung beim Arznei- und Heilmittelbudget zu
verstehen.
Wie die Praxis zeigt: Dies war mehr als überfällig.
Schlimm wäre aber, wenn diese Maßnahme nur dazu
führen sollte, das aufgewühlte Gesundheitswesen, also
Ärzte und Patienten, für den Rest der Legislaturperiode
ruhig zu stellen und hinter dieser Fassade ein ganz anderes Szenario vorzubereiten.
Wenn auch nur einiges von dem stimmt, was gestern im
„Stern“ - ich weiß aus Erfahrung, dass sich Zeitungsmeldungen oft als Zeitungsenten entpuppen; aber es waren keine Nobodys, die dort zitiert worden sind; darauf,
denke ich, sollte man schon achten - über die gesundheitspolitischen Absichten der jetzigen Regierung nach
den nächsten Wahlen zu lesen war - Frau Ministerin,
natürlich habe ich Ihr Dementi gelesen und Ihrer Rede
heute sehr aufmerksam zugehört -, dann ist festzustellen:
Die Menschen, besonders die kranken, älteren und behinderten, gehen traurigen Zeiten entgegen. Eine SPD-geführte Bundesregierung würde - ich betone das Wort
„würde“ - im Hinblick auf das Gesundheitswesen eine
Umwälzung planen, deren soziale Härte all das in den
Schatten stellt, was wir vor 1998 erlebt haben.
({1})
Frau Ministerin, Sie plädieren für eine Gesundheitspolitik des Vertrauens. Aber auch Sie benutzen in Ihrem Dementi das verräterische Wort von der Eigenverantwortung der Versicherten und Patienten.
({2})
Die gesundheitspolitisch tätigen Kollegen in Ihrer Fraktion haben schon oft genug klargestellt - die Kollegin
Monika Knoche hat dies heute noch einmal getan -, was
damit bei der Vorgängerregierung gemeint war: noch
mehr Zuzahlungen, Leistungskürzungen, private Zusatzversicherungen nach individueller Zahlungsfähigkeit und
andere soziale Grausamkeiten. Ins Spiel gebracht wurden
diese von Arbeitgebern, neoliberalen Wirtschaftsprofessoren und sonstigen marktradikalen Vordenkern.
({3})
Trotz mancher Enttäuschung in den letzten zwei Jahren: Es fällt mir immer noch schwer, zu glauben, dass so
etwas sozialdemokratische Gesundheitspolitik werden
soll. Liebe Kollegin Monika Knoche, ich möchte das in
Ihrer Rede Dargestellte wirklich gerne glauben - und dies
vor allem im Interesse der Versicherten und Patienten.
({4})
Aber allein die Rentenreform hat für mich gezeigt, wozu
die Regierung Schröder inzwischen in der Sozialpolitik
fähig ist.
({5})
Natürlich wissen wir alle, dass der Bedarf an gesundheitlicher Versorgung weiter steigen wird. Selbst wenn
es gelingt, die Effizienz zu erhöhen, werden die Aufwendungen deutlich stärker. Somit ist eine Erweiterung der
Finanzgrundlage der gesetzlichen Krankenversicherung
unausweichlich. Seit langem setzen wir uns dafür ein. In
der Vergangenheit haben wir dazu viele konstruktive Vorschläge gemacht.
Der entscheidende Unterschied scheint aber zu sein:
Wir sagen, eine solche Entwicklung könne und müsse
strikt an sozialer Gerechtigkeit und Solidarität orientiert
bleiben. Unser Credo ist: Gesundheitssicherung und
medizinische Versorgung sind Menschenrechte. Sie
gehören zu den elementaren Voraussetzungen von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit und sie müssen
für jeden gleichermaßen zugänglich sein und bleiben.
({6})
Was nun die Budgetierung betrifft, so gilt für uns: Gesetzlich verordnete Ausgabenbegrenzungen eignen sich
auf Dauer nicht als Steuerinstrument im Gesundheitswesen. Wie ich gehört habe, sind wir uns alle an dieser Stelle
einig. Mit dem Arzneimittelbudget werden die Ärzte in
unzumutbare Gewissenskonflikte und noch dazu in
Existenzängste gestürzt. Die Patienten sind zu Recht verunsichert und dem Arzt-Patienten-Verhältnis wird schwerer Schaden zugeführt.
Auch wir, Frau Ministerin, halten es für richtig, dass
die Ärzteschaft als Ganzes nicht aus der Verantwortung
für die rationelle Arzneimitteltherapie entlassen wird. Das
ergibt sich für uns schon aus der Tatsache, dass dort der
nötige Sachverstand vorhanden ist. Wir können auch feststellen, dass bereits anerkennenswerte Ergebnisse erreicht
wurden. Der jüngste Arzneiverordnungsreport, der eines
Lobbyismus in Bezug auf Ärzte und Industrie wahrlich
unverdächtig ist, bescheinigt, dass es ärztlicherseits gelungen ist, einen beachtlichen Teil der Rationalisierungsreserven zu erschließen.
Was jetzt vor allem fehlt, ist der Beitrag, den die Regierungsseite zu leisten hat. Wir fragen: Warum sehen Sie
hilflos zu, wie die Pharmaindustrie mittels juristischer
Einsprüche eine Steuerungsmaßnahme nach der anderen
außer Kraft setzt? Sie, meine Damen und Herren von
Union und F.D.P., sollten, wenn Sie schon Vorschläge zur
Abschaffung des Budgets machen, das richtig tun. Was in
Ihren Anträgen völlig fehlt, lieber Kollege Thomae, ist
eine klare Benennung jener Aufgaben, die die Politik
selbst zu lösen hat.
Warum - das frage ich Sie besonders - trauen Sie sich
nicht, die Pharmaindustrie zu kritisieren?
({7})
Am Ende unterbindet diese nämlich die elementaren
Bemühungen von Kassenärztlichen Vereinigungen, die
Ärzte systematisch über wirtschaftliche Verordnungsweisen
zu informieren.
({8})
Insidern sage ich nur: Denken Sie an die KV Hessen und
an das, was dort läuft!
Im Übrigen hat es auch Rot-Grün bisher nicht geschafft, die hemmungslose Preistreiberei der Pharmaindustrie besonders bei innovativen Arzneimitteln zu unterbinden. Frau Ministerin, Sie haben sich hierzu geäußert.
Ich hoffe, es wird in Zukunft auch hierzu Maßnahmen geben.
Könnte es sein, dass Union und F.D.P. dazu nichts sagen, weil sie es selbst nie gewagt haben, am übermächtigen Einfluss der Pharmaindustrie zu rütteln?
({9})
Herr Seehofer, ich möchte in diesem Zusammenhang nur
noch einmal an das Zerreißen der Positivliste erinnern,
über das wir - damals noch in Bonn - alle gelacht haben.
({10})
Ich frage: Was hindert uns eigentlich, in diesem Parlament einen fraktionsübergreifenden Antrag zu stellen,
dass zum Beispiel bei Arzneimitteln nur der halbe Mehrwertsteuersatz anzuwenden ist oder dass man sogar ganz
auf die Mehrwertsteuer verzichtet?
({11})
Alle von uns wissen, dass wir damit den Ärzten wirklich
einen enormen Druck nähmen. Wir bleiben dabei: Es kann
nicht allein um die Streichung des Budgets gehen. Notwendig ist ein ganzes Bündel von Maßnahmen im Sinne
einer überzeugenden Arzneimittelpolitik.
Ein weiterer Vorschlag der Unionsfraktion bezieht sich
auf die Abschaffung der Honorarbudgets. Sie sollen durch
Regelleistungsvolumina mit festen Punktwerten ersetzt
werden.
({12})
- Ja, ein guter Vorschlag und auch ein wichtiges Thema. - Auch aus unserer Sicht verfügt ein zunehmender Teil der Ärzte - als Ostdeutsche sage ich, weil ich
es aus eigenem Erleben kenne: in Ostdeutschland besonders - nicht mehr über ein angemessenes Einkommen.
({13})
Dabei muss gerade in den neuen Bundesländern angesichts der stärker überalterten Bevölkerung von einem
höheren Bedarf an medizinischer Versorgung ausgegangen werden. Dennoch bleiben die Einkommen der Ärzte
dort deutlich hinter denen der Ärzte in den alten Bundesländern zurück. Hier besteht tatsächlich dringender Handlungsbedarf und auch diesbezüglich hoffe ich, dass die
Versprechungen der Frau Ministerin Realität werden.
Was die ärztlichen Vergütungsformeln im Einzelnen
betrifft, so sollte unserer Auffassung nach die Entwicklung noch stärker weg von der Einzelleistungsvergütung
hin zu pauschalen Honorierungsformen führen. Sie müssen vor allen Dingen von kommerziellen und bürokratischen Zwängen entlasten und mehr zuwendungsorientierte Medizin ermöglichen. Der alleinige Übergang zu
Regelleistungsvolumina, wie er im Antrag der Union vorgeschlagen wird, greift unserer Meinung nach zu kurz.
Aber ich denke, wir werden in den Ausschüssen noch
genügend Zeit haben, über Ihren Antrag zu debattieren.
Lieber Herr Thomae, Ihrem Antrag können wir aus den
genannten Gründen unsere Zustimmung nicht geben.
({14})
Für die
Fraktion der SPD spricht nun die Kollegin Regina
Schmidt-Zadel.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, ich finde es
ganz besonders bemerkenswert - deswegen will ich das
hervorheben -, dass Sie in den Mittelpunkt Ihrer Rede,
aber auch Ihrer Politik die Menschen stellen, nämlich die
Versicherten und die Kranken. Deswegen möchte auch
ich Ihnen ganz herzlich für Ihre Rede danken.
({0})
Herr Seehofer, es reizt mich ja, auf Ihre Rede einzugehen. Ich werde es aber nicht tun; denn ich habe positive
Dinge zu verkünden und das andere ginge von meiner Redezeit ab. Nur eines will ich Ihnen sagen: Wir haben die
Budgets wieder eingeführt,
({1})
weil Sie uns eine desolate Situation im Gesundheitswesen
hinterlassen haben, meine Damen und Herren. Deswegen
mussten wir sie wieder einführen.
({2})
Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür - Herr
Thomae, da können Sie noch so böse gucken -, dass Sie
Ihre Rückwärtsgewandtheit in vielen Bereichen zum
Grundprinzip Ihrer gesundheitspolitischen Überlegungen
machen. Aber das genau tun Sie mit den heute vorliegenden Entwürfen.
({3})
Wenn ich mir ansehe, was in Ihrem Gesetzentwurf steht,
dann frage ich mich ernsthaft: Warum haben Sie denn
nicht gleich einen Gesetzentwurf für die Wiedereinsetzung der alten Kohl-Regierung geschrieben?
Darauf läuft die Sache doch letztlich hinaus, meine Damen und Herren.
({4})
Sie kommen mit alten Kamellen. Sie legen verstaubte
Vorschläge vor, mit denen Herr Seehofer schon zu seinen
Ministerzeiten große Schwierigkeiten hatte. Herr
Seehofer, wir würden Ihnen ja einen Botschafterposten
gönnen. Wir können gemeinsam überlegen, wo.
({5})
Dazu sind wir gerne bereit.
({6})
Ich stelle fest: Anstatt überzeugende Konzepte vorzulegen, mit denen unser Gesundheitswesen für die nächsten Jahrzehnte fit gemacht werden kann, anstatt in einen
Dialog darüber einzutreten, welche Prioritäten in der Gesundheitspolitik gesetzt werden sollen, und anstatt konstruktiv mit uns zu diskutieren - dazu fordern wir Sie
heute auf - kramen Sie in der Mottenkiste die alten, verstaubten Parolen heraus.
({7})
- Hören Sie gut zu! Dazu komme ich noch. - Dabei ist
doch allen Akteuren im Gesundheitswesen längst klar: In
der Debatte um die Zukunft der GKV geht es nicht in erster Linie um die Budgetierung. Wer über die Zukunft der
gesetzlichen Krankenversicherung spricht, muss doch vor
allem über die Verbesserung der Versorgungsqualität
und über die Situation der Menschen sprechen. Darauf hat
die Ministerin hingewiesen.
({8})
Lassen Sie uns doch nicht über eine Gesundheitspolitik von gestern reden,
({9})
sondern über eine von morgen. Unsere Ideen und Vorstellungen möchte ich Ihnen jetzt gerne vortragen.
({10})
Die Bundesgesundheitsministerin hat in ihrer Rede die
Grundzüge formuliert. Ich möchte daran anknüpfen und
für meine Fraktion auf einige Aspekte eingehen.
({11})
Wie wir alle wissen, bewirken die Strukturen unseres Gesundheitswesens derzeit Unter-, Fehl- und Überversorgung.
({12})
Jahrzehntealte Strukturen stemmen sich trotz manchen
Erfolges immer noch gegen eine Weiterentwicklung.
({13})
In einigen Bereichen fehlt das Geld, in vielen anderen Bereichen wird es aber geradezu verschleudert, auch im Gesundheitswesen.
({14})
Das gilt vermutlich für viele medizinische Versorgungsbereiche;
({15})
das wird das Gutachten des Sachverständigenrates bestätigen. Wir alle wissen das und wir alle müssen verhindern, dass diese Entwicklung, auf die ich eben hingewiesen habe, so weitergeht. Erfolgreiche Konzepte der
Gesundheitsreform 2000 - auch darauf hat die Ministerin
hingewiesen -, wie die Schaffung integrierter Versorgungsformen, müssen konsequent umgesetzt und weiterentwickelt werden.
Sie alle wissen, warum bisher nicht mehr Veränderungen in der Gesundheitspolitik möglich waren. Sie von der
CDU/CSU und der F.D.P. haben mit Ihrer Fundamentalopposition und Ihrem Stimmverhalten im Bundesrat
Veränderungen verhindert.
({16})
Umdenken heißt die Parole. Ziel muss es sein, eingespartes Geld nicht aus dem System herauszuziehen, sondern
in den unterentwickelten Bereichen des Systems einzusetzen.
({17})
Es ist höchste Zeit zum Umdenken bei allen politisch
Verantwortlichen - dazu fordere ich Sie auf -, aber auch
bei den Krankenkassen, der Pharmaindustrie - darauf ist
schon hingewiesen worden -, den die Leistungen erbringenden Menschen
({18})
- Herr Zöller, Sie können gleich noch reden und darauf
eingehen ({19})
und den unterschiedlichen Verbänden. Für viele ist das
selbstverständlich. Ich möchte aber nochmals betonen:
Wir erwarten, dass die Menschen, ganz gleich mit welcher
Erkrankung sie zum Arzt gehen und ob in Norddeutschland oder in Süddeutschland, ob in Ballungszentren oder
auf dem Land, möglichst einheitlich und nach dem wissenschaftlichen Stand behandelt werden. Das ist es, was
wir fordern.
({20})
Sie wissen, dass das heute keineswegs der Fall ist.
({21})
Wir wissen, es kann theoretisch nur die beste Behandlung einer Erkrankung geben. In der Praxis geht es um die
am besten geeigneten Therapien. Alle diese Therapien
müssen jedem gesetzlich Krankenversicherten unabhängig vom Einkommen und unabhängig vom Wohnort zur
Verfügung stehen. Dafür kämpfen wir.
({22})
Behandlungsleitlinien, Qualitätszirkel und vergleichbare
Einrichtungen scheinen hier wirklich eine Lösungsoption
zu sein. Diese Entwicklung kommt, aber sie kommt vielleicht auch zu langsam. Das will ich eingestehen.
({23})
Wir brauchen den Willen und auch die Fachkompetenz
der Ärzteschaft. Wir möchten den emanzipierten Patienten. Wir möchten, dass auch die Krankenkassen sich der
Qualitätsaufgabe noch mehr annehmen, als dies bereits
in der Vergangenheit geschehen ist. Wir wünschen uns
mehr Experimentierfreude bei Erkrankungs- und Einzelfallmanagement im Interesse aller Versicherten. Wir
werden - darauf können Sie sich verlassen - alles dazu
Notwendige veranlassen, damit dieses in die Tat umgesetzt wird.
({24})
Wir begrüßen ausdrücklich Ihre Einladung, Frau Ministerin, zu einem Dialog aller am Gesundheitswesen Beteiligten. Es gibt nämlich viele Gemeinsamkeiten und
Ziele, für die sich der gemeinsame Kampf lohnt. Wir müssen es nicht Lahnstein 2 nennen, Herr Seehofer. Ich
komme aus dem Wahlkreis Mettmann, vielleicht machen
wir ein Mettmann 1, um diese Ziele durchzusetzen.
({25})
Wir wünschen uns eine finanzielle und eine solidarisch-menschliche Seite, die oft vergessen wird. Ich lade
alle Verantwortlichen zur Mitarbeit ein. Die SPD-BunRegina Schmidt-Zadel
destagsfraktion und die SPD wissen, dass die Gesundheitspolitik einen sehr hohen Stellenwert in der Bevölkerung einnimmt. Ich erinnere an die vergangenen Wahlen,
die das gezeigt haben.
({26})
Deswegen scheuen wir uns nicht, vorzuzeigen, was wir
bisher geleistet haben.
({27})
Auch für die Zukunft gelten die Grundsätze unserer
Gesundheitspolitik: hohe Dialogbereitschaft, hohe Versorgungsqualität und - darauf will ich ganz besonderen
Wert legen - die solidarische Finanzierung und die medizinisch beste Versorgung.
({28})
Darauf können sich die Bürgerinnen und Bürger in diesem
Land verlassen.
({29})
Vielen Dank.
({30})
Nunmehr
gebe ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Lohmann für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
- Ja, Lüdenscheid.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade wurde „Lüdenscheid“ gerufen. Ich schlage vor, aus Lahnstein Lüdenscheid zu machen.
({0})
Dann sind wir auch sicher, dass nicht geklüngelt wird. Sie
wissen, dass im Rheinland geklüngelt wird, wir Westfalen
aber sind strack durch, wie man bei uns sagt.
Meine Damen und Herren, liebe Frau Schmidt-Zadel,
Sie erwarten eine einheitliche und qualitativ hochwertige Versorgung nach Standards. Aber wir sehen daran,
dass die Betroffenen nicht mehr zu Ihnen kommen, wie
sehr die Versorgung inzwischen gelitten hat, und zwar unter dieser Regierung.
({1})
Insofern hätte es auch möglich sein können, dass Sie
das, was in der Vergangenheit geschehen ist, kritisieren
und sagen: Wir wollen zu neuen Ufern aufbrechen, um
diese Ziele, die im Grunde genommen gemeinsame Ziele
sein müssen, zu erreichen. Eingefangen werden wir aber
nicht. Und wenn Sie glauben, dass wir Horst Seehofer
gern irgendwo zum Botschafter machen würden,
({2})
irren Sie. Der wird hier dringend gebraucht. Wir lassen
ihn uns nicht wegmobben; damit das klar ist.
Frau Ministerin, jetzt möchte ich gern etwas aus dem
Blatt zitieren, das heute erschienen ist und in dem sicher
wieder alles falsch steht. Dort heißt es:
Ulla Schmidt ist richtig nett. Ob Ärzte, Patienten oder
Kassenmanager - für jeden hat die Gesundheitsministerin ein aufmunterndes Wort. Mit pädagogischer
Freundlichkeit wirbt sie für eine „Gesundheitspolitik
des Vertrauens“
- das macht sie auch heute hier oder lädt zum „Miteinander“ ein.
Letzter Satz in diesem Absatz:
Eine rheinische Frohnatur als wandelnde Beruhigungspille.
Genau diesem Eindruck können wir uns nicht entziehen,
denn immer dann, wenn auch von diesem Blatt die Frage
gestellt wird, was möglicherweise konkret gemacht werden soll, um eine Wende einzuleiten, bleiben Sie im Nebulösen.
Sie haben unmittelbar nach Amtseintritt angekündigt,
Sie wollten die Kollektivhaftung der Ärzte abschaffen.
Sie sagten wörtlich:
Es bleibt bei der Grundaussage, dass berechenbare
finanzielle Stabilität letztlich nicht durch starre Budgets gewährleistet werden kann. ... Am allerwenigsten brauchen wir Instrumente, deren Wirksamkeit in
der Praxis nicht unter Beweis gestellt werden können.
Das ist ein Teil unseres Antrags, Sie haben aber kein gutes
Haar daran gelassen bzw. nichts zu diesem Antrag gesagt.
Sie tun seit Ihrem Amtsantritt so - das ist jetzt der für
uns entscheidende Punkt -, als würde Rot-Grün nicht
schon seit zwei Jahren regieren. Auf dem Empfang der
Bundesärztekammer vergangene Woche sagten Sie sogar,
Sie hätten alles viel schlimmer vorgefunden als erwartet.
Ist Frau Fischer gerade da? - Nein.
({3})
Sie wird sich sicher sehr für die Beurteilung dessen, was
sie in den letzten zwei Jahren gemacht hat, interessieren,
die von einem Mitglied der Koalitionsregierung geäußert
wird. Aber Sie sind doch dafür verantwortlich, was sich
tagtäglich in den Arztpraxen und Krankenhäusern abspielt. Mit Ihrer Budgetierungsorgie - wir haben das an
den verschiedensten Stellen immer wieder kritisiert; auch
Horst Seehofer hat das eben noch einmal deutlich gemacht - sind Sie gescheitert. Jetzt muss Farbe bekannt
werden, was sich in Zukunft ändern soll.
Es ist auch zu fragen, ob beim Bundeskanzler und bei
Ihnen in Vergessenheit geraten ist, dass durch Ihren
Druck - auch das wurde heute schon angedeutet - die
Einführung der Budgets in die Koalitionsvereinbarung
aufgenommen worden ist. Sie werden sich jetzt überlegen
müssen, wie Sie aus dem eben schon geschilderten Dilemma herauskommen wollen, um die Koalition aufrechtzuerhalten.
Nun haben wir gestern in den Abendstunden und heute
verschiedene Zitate gelesen. Ein Teil wird sicherlich dementiert werden oder ist schon dementiert worden, vielleicht auch das, was Professor Rürup, einer der wichtigsten Berater der Regierung, gesagt hat. Das mag ja sein.
Aber was die Einzelnen von Ihnen gesagt haben, kann weniger gut dementiert werden. Danach soll es im Gegensatz
zu dem, was Frau Schmidt-Zadel eben angekündigt hat
- sie sagte, es bleibe alles beim Alten - , eine grundsätzliche Änderung und Wende geben.
Herr Struck zum Beispiel, der Fraktionsvorsitzende,
sagt, dass bis zur Wahl bloß keine umstürzlerischen Gesundheitsreformversuche unternommen werden sollen.
Dies richtet er praktisch an Ihre Adresse.
Herr Minister Müller, der Gralshüter der Wirtschaftsinteressen, charakterisiert das, was in der Parteispitze bei
Ihnen als „harter Sprung für die SPD“ verklausuliert wird,
folgendermaßen:
Das wird eine Revolution; aber wir müssen ja irgendwann mal damit anfangen.
Es wäre gut, wenn man einmal hören würde, was konkret
damit gemeint ist.
({4})
Vorsichtshalber haben Sie aus diesen Gründen den
Zeitpunkt für den angekündigten Kurswechsel offen gelassen. Weil man den Eindruck haben könnte, dass große
Teile dieser neuen Überlegungen bei uns auf fruchtbaren
Boden fallen würden, haben wir Ihnen nun ganz kurzfristig den Gefallen getan, diesen Gesetzentwurf als Hilfe
mit ins Gespräch zu bringen, damit Sie in Ihrer Koalition
vielleicht noch schneller daran arbeiten können, als Sie es
ursprünglich vorgesehen haben.
Diese Budgets müssen weg. Die Multiple-SkleroseGesellschaft berichtet, dass von 60 000 Patienten, bei denen eine Therapie mit Interferon indiziert ist, wegen der
fallbeilartigen Verhinderung durch das Budget zurzeit nur
15 000 behandelt werden können. Die Deutsche Parkinson-Vereinigung weist darauf hin, dass häufig im Krankenhaus medikamentös gut eingestellten Patienten vom
ambulant weiterbehandelnden Arzt aus Budgetgründen
die Medikamente vorenthalten werden. - All das sind Tatsachen, auf die Sie bisher aber nicht eingegangen sind.
Darüber wundern wir uns, denn Sie führen doch offensichtlich - zumindest nach Ihren Ankündigungen - auch
Gespräche mit den Betroffenen. Und in Ihrer Koalitionsvereinbarung haben Sie den Patienten- bzw. Verbraucherinteressen Vorrang eingeräumt.
Diese Beispiele ließen sich fortführen. Ich möchte aber
noch gerne auf den vielstimmigen Chor - es ist ja ein
misstönender Chor, weil jeder aus der Koalition etwas anderes singt - eingehen und erläutern, welche Töne dort
zurzeit angestimmt werden.
Eike Hovermann - er ist ja nicht irgendjemand; herzliche Gratulation zur Wahl zum stellvertretenden gesundheitspolitischen Sprecher - hat in der Veröffentlichung
der Betriebskrankenkassen unter dem Titel „Wettbewerb
im Gesundheitswesen“ gesagt:
Wir werden ein entscheidendes Thema nicht mehr
ausklammern können, nämlich die Diskussion über
Kernleistungen und Ergänzungsleistungen. Dabei
werden wir uns wichtigen Fragen stellen müssen:
...Was kann und soll in Zukunft solidarisch von der
Gemeinschaft der Versicherten bezahlt werden ...?
Das bezieht sich also auf den Regelleistungskatalog.
Was muss in Zukunft jeder selbst tragen ... ?
Es ist doch interessant, dass das Dementi schnell, in den
nächsten Tagen, erfolgt ist.
Herrn Müller habe ich eben als Gralshüter bezeichnet.
Zu Herrn Kirschner würde ich sagen: Er ist einer der letzten Betonfacharbeiter aus der Dressler-Riege.
({5})
Er sagt schon vorbeugend, die Debatte um eine Spaltung
der Krankenversicherung in Grund- und Wahlleistungen zerstöre die Akzeptanz jedes Solidarsystems. Das
heißt, wir können mit Ihnen gar keine Gespräche führen,
solange wir dafür keine Basis haben. Oder wollen Sie uns
zumuten, dass wir mit zehn, zwölf oder 15 verschiedenen
Mitgliedern Ihrer Koalition Einzelgespräche führen, um
erst einmal zu erkunden, auf welchem Pfad sie sich bewegen? Dies hat wenig Sinn.
Inzwischen beklagen - das ist heute auch schon gesagt
worden - die Ärzte - weil wir gerade von Budgets, der
Abschaffung des Honorarbudgets und den damit verbundenen Regressforderungen sprechen - im Osten große
Schwierigkeiten. Wir reklamieren schon seit Monaten in
fast jeder Ausschusssitzung, dass etwas geschehen muss,
aber es geschieht nichts.
Es ist nicht nur so, dass dort die Morbiditätsrate höher
ist als bei uns, dass dort also mehr geleistet werden muss.
Nein, allein schon die Zahl der Patienten pro Arzt ist in
den neuen Bundesländern größer als hier. Infolgedessen
müssen sie wesentlich mehr arbeiten, bekommen aber weniger Honorar und müssen obendrein noch einen Abschlag hinnehmen. Das muss unbedingt geändert werden.
({6})
Wenn Vertreter unserer Seite das Wort „Eigenverantwortung“ in den Mund nehmen, ruft Herr Kirschner meistens „Zuzahlung!“.
({7})
Das ist uralt und falsch. Sie können sich nicht vorstellen,
dass Menschen Eigenverantwortung übernehmen können, ohne automatisch zu Mehrzahlungen gezwungen zu
sein. Die Menschen wollen entscheiden, welche VersorWolfgang Lohmann ({8})
gung, welche Sicherheit sie für ihr Geld einkaufen. Sie
wollen möglicherweise ein geringeres Risiko abdecken
und dafür einen geringeren Beitrag zahlen. Warum sollen
sie das nicht können?
({9})
Frau Schmidt, Ihr Chef, Herr Schröder, der Ihnen auch
die Verhaltensmaßregeln mit auf dem Weg gegeben hat
- was auch richtig ist -, hat in dem Aufsatz „Zivile Bürgergesellschaft“ auch geschrieben, dass ein Gesundheitswesen ohne finanzielle, geistige und in diesem Fall buchstäblich körperliche Selbstbeteiligung der Versicherten
nicht mehr vorstellbar ist.
({10})
Das ist eine richtige Erkenntnis, die aber bisher von Ihnen
immer diffamiert wurde und keineswegs zu einem Umdenken geführt hat.
Herr Kollege Lohmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Seifert?
Ja.
Herr Kollege Lohmann, können
Sie mir und anderen vielleicht erklären, wie ein System
solidarisch funktionieren soll, bei dem sich jemand dann,
wenn er gesund ist, überlegt, für welche Krankheiten er
sich versichert und für welche nicht? In Ihrer Rede haben
Sie gesagt, dass gerade das solidarische System ein wichtiger Bestandteil unseres Gesundheitswesens sei. Wie soll
dies funktionieren, wenn sich jemand aussuchen kann, für
welche Krankheiten er sich absichert? Sie wissen ganz genau, dass das Prinzip der solidarischen Versicherung darin
besteht, dass diejenigen, denen es gut geht, mehr einzahlen, als sie herausbekommen, und diejenigen, denen es
schlecht geht, mehr herausbekommen, als sie einzahlen.
Anders kann es nicht funktionieren.
Sie
versuchen mich nun auf den Pfad der Differenzierung
zwischen Kern- und Wahlleistungen zu führen und wollen, dass ich einzelne Krankheiten benenne. Das ist so
nicht richtig. Es geht um Folgendes: Es gibt heute einen
Leistungskatalog. Jeder weiß, welche Leistungen dieser
umfasst. Dieser Katalog enthält so genannte Kernleistungen, die unbedingt Bestandteil der Krankenversicherung
bleiben müssen, damit nicht jemand, der sie abgewählt
hat, in einigen Jahren sagen kann: Ich habe die entsprechende Krankheit und muss nun behandelt werden, und
zwar zulasten der Solidargemeinschaft. - Das andere sind
Wahlleistungen oder - wie Herr Hovermann sagt - Zusatzleistungen. Nun soll der Versicherte nicht entscheiden
müssen, ob er Leistungen hinzuwählt und dafür zusätzlich
bezahlt, sondern sagen können: Auf diesen Teil kann ich
verzichten und habe dafür einen niedrigeren Beitrag zu
zahlen. Das ist eine ökonomische Eigenverantwortung.
Anders ausgedrückt: Warum soll es nicht möglich sein
- das stand bereits in unserem Gesetz -, zum Beispiel
500 DM pro Jahr selbst an Kosten zu übernehmen, wenn
dadurch weniger Beiträge bezahlt werden müssen, wie
das bei einer privaten Krankenversicherung immer schon
der Fall gewesen ist? Warum wollen Sie den Menschen
die Möglichkeit der freien Entscheidung, der Wahl und
ein Mehr an Eigenverantwortung nicht geben? Das ist die
Frage.
({0})
Die Menschen werden nicht gezwungen, dies zu machen,
sondern es ist eine Option, die ihnen geboten wird.
Ich will in der letzten Redeminute, die mir bleibt, noch
etwas ansprechen: Liebe Frau Schmidt, Sie hätten die
Möglichkeit gehabt - Sie haben das nicht getan, was ich
bis zu einem gewissen Grad verstehen kann -, zu dem,
was bei vielen Kollegen und wichtigen Kräften Ihrer Koalition im Gespräch ist, Stellung zu nehmen. Wenn das
heute nicht geschieht, dann erwarten wir, dass Sie dies in
den nächsten Tagen tun, spätestens am 7. März dieses Jahres, an dem Sie - immerhin sieben Wochen nach Ihrer Vereidigung - dem Ausschuss Bericht erstatten werden. Wir
möchten gerne wissen, was unter einer „Grundversorgung“ zu verstehen ist, von der heute Ihre Kollegen gesprochen haben. Gleiches gilt, wenn von einem Verzicht
auf Zahnersatz oder Psychotherapie die Rede ist. Ich zitiere Sie selbst, Frau Schmidt, und keinen anderen: Ich
meine die Unfallkosten bei Risikosportarten. Übrigens
betreibe auch ich eine Risikosportart.
({1})
Sie sagten: Wer das macht, muss sich nebenbei versichern.
Wenn Sie dies vorhaben, sagen Sie dies bitte deutlich.
Dann werden wir gemeinsam darüber sprechen und ein
Gesamtkonzept erarbeiten, bei dessen Diskussion sich unsere Standpunkte annähern können. Aber Ihre Freundlichkeit allein reicht nicht. Sie haben schon die ganze
Zeit - das ist mein letzter Satz - den Mund gespitzt. Ich
habe bei anderer Gelegenheit Frau Fischer gesagt: Den
Mund zu spitzen reicht nicht, es muss auch gepfiffen werden. Nur dann gibt es Antworten.
Vielen Dank.
({2})
Für die
Fraktion der F.D.P. spricht nun der Kollege Detlef Parr.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Oecher Tön, dat is schön, Frau Ministerin.
Als Düsseldorfer könnte ich eigentlich über den rheinischen Ton froh sein, der die gesundheitspolitische Musik
in Zukunft ausmacht. Aber die Frage bleibt auch nach
Wolfgang Lohmann ({0})
Ihrer Antrittsrede, Frau Ministerin, weiter unbeantwortet,
ob Sie die schrillen Dissonanzen der Vergangenheit wirklich abstellen können.
({1})
Auch wenn in Ihrer Heimatstadt Aachen soeben Guido
Westerwelle den „Orden wider den tierischen Ernst“ erhielt - ich will kein Spaßverderber sein -, kommen wir an
der Feststellung nicht vorbei, Herr Kirschner: Die Lage
im Gesundheitswesen ist bitterernst. Mit Schönrederei
kommen wir nicht weiter.
({2})
Wir haben durch die Rolle rückwärts, Frau SchmidtZadel, der grünen Amtsvorgängerin von Frau Schmidt
zweieinhalb Jahre Zukunft verspielt.
({3})
Erinnern wir uns, welche zarten Pflänzchen der Eigenverantwortung, der Wahlmöglichkeiten und des Wettbewerbs Ihre grüne Vorgängerin konzeptions- und gedankenlos zertreten hat. Ich nenne einige Beispiele: die freie
Entscheidung der gesetzlich Versicherten für die Kostenerstattung und damit den Durchblick des Patienten auf die
tatsächlichen Kosten eines Arztbesuches, den möglichen
Versicherungsschutz mit Selbstbehalt und Beitragssenkungen,
({4})
Beitragsrückerstattungen, eine berechenbare Bezahlung
ärztlicher Leistungen mit festen Punktwerten und Preisen.
Wo sonst gibt es in Deutschland einen Berufsstand, der etwas leistet und erst später erfährt, was ihm für diese Leistung gezahlt wird?
(Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg.
Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/
CSU]
Weitere Punkte sind: Festzuschüsse beim Zahnersatz mit
der Freiheit der Vereinbarung, bei höherwertigem Zahnersatz nach eigenem Ermessen zuzuzahlen, und - als letztes Beispiel - die Abschaffung der Kostenübernahme von
Zahnersatz bei Jugendlichen, um die Verantwortung für
die eigene Zahnpflege von klein auf anzureizen.
An dieser Stelle ein Wort an Horst Seehofer mit einem
verschmitzten Blick zurück, der aber ohne Zorn ist. Bei
mancher heute von Ihnen mit Begeisterung vorgetragenen
Idee hat Sie die F.D.P. ein wenig tragen müssen.
({5})
Für manches mussten wir uns sogar beschimpfen lassen.
Wir werden, Dieter Thomae, die Last des Transports überzeugender Ideen natürlich gerne weiter auf uns nehmen.
({6})
Gute Medizin schmeckt manchmal bitter. Wir müssen
den Versicherten endlich die Wahrheit sagen: Mit begrenzten Mitteln sind Leistungen nicht unbegrenzt zu bezahlen.
({7})
- Doch, das sagen Sie. Sie gaukeln den Versicherten etwas vor, Herr Kirschner.
Wir werden immer älter. Der medizinische Fortschritt
ist rasant und nicht zum Nulltarif zu haben.
Ordnen wir das Verhältnis von Subsidiarität und Solidarität neu! Reden Sie nicht nur von Solidarität, sondern
auch von Subsidiarität. Trauen wir allen Beteiligten im
Gesundheitswesen mehr Eigenverantwortung und eigene
Entscheidungen zu! Herr Seehofer hat das Neuordnungsgesetz von 1997 angesprochen. Stellen wir dieses Gesetz
auf den Prüfstand und entwickeln wir es in den Punkten
weiter, wo es angefangen hat, sich zu bewähren. Dabei
gehören Verantwortung und Transparenz zusammen. Das
Bewusstsein für die Kostenentwicklung, die alle Beteiligten beeinflussen können, muss geschärft werden. Es muss
ein Wettbewerb der Krankenkassen um Qualität - oft angesprochen - durch Flexibilisierung und echte Gestaltungsrechte in den Tarifen und Versorgungsstrukturen in
Gang gesetzt werden.
Eines steht auch für uns außer Frage: Auch in Zukunft
sollen Bürger im Krankheitsfall die notwendige medizinische Versorgung erhalten. Niemandem darf die medizinisch notwendige Versorgung versagt werden - wie dies
Ihre Budgetierungspolitik zur Folge hat -, nur weil er über
zu wenig Einkommen verfügt. Genauso gilt aber, dass
nicht alles, was wünschenswert ist, über die sozialen Sicherungsnetze finanziert werden kann.
({8})
Frau Ministerin, ein letztes Wort: Bedenken Sie bei allen neuen Überlegungen, dass wir eine Gesundheitspolitik für mündige Versicherte und freie Heilberufe machen.
({9})
Auch den Forschungsstandort Deutschland dürfen wir dabei nicht vergessen. Ärzte, Apotheker und Therapeuten
dürfen nicht zu Kassenangestellten oder Staatsbeschäftigten degradiert werden.
({10})
Die Versicherten sollen nicht länger Zwangsversicherte
ohne eigene Gestaltungsmöglichkeiten bleiben.
({11})
Abschließend, Frau Schmidt-Zadel, erinnere ich an ein
Wort Ihres Kanzlers, das wir alle noch im Ohr haben: Wir
wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen. Diese Bundesregierung hat in der Gesundheitspolitik bis
heute fast alles anders, aber nichts besser gemacht. Also:
Ballonmütze ab, ideologische Scheuklappen weg und Alternativen erkennen! Wir sind zu einem sachlichen Dialog
bereit.
({12})
Als letzter
Redner in dieser Debatte spricht der Kollege Klaus
Kirschner für die SPD-Fraktion. Er ist nicht Betonfacharbeiter, sondern Werkzeugmacher und Mechanikermeister.
Herr Präsident! Auch der
mir zugedachte Beruf ist keine Schande, ich wollte nur
korrekterweise die Tatsache dem Kollegen Lohmann
durch meinen Zuruf deutlich machen.
Was die neue Politik angeht: Lieber Herr Kollege Parr,
ich denke an den Gewürzpflanzenanbau in WestfalenLippe. Das ist ja die neue Gesundheitspolitik.
({0})
Als Fazit dieser Debatte will ich feststellen: Sie von
CDU/CSU und F.D.P. haben das Ziel - das kommt sowohl
im Gesetzentwurf als auch in Ihrem Antrag zum Ausdruck -: Es soll mehr Geld für die Leistungserbringer
fließen. Herr Kollege Seehofer, das ist Ihre Botschaft. Sie
blenden aber aus, wer es bezahlen soll.
({1})
- Doch, sicher. Ich habe nichts davon gehört.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Die einzige Botschaft, die ich von Ihnen vernommen habe, ist die Ausgrenzung des Zahnersatzes aus der vertragszahnärztlichen
Versorgung. Dazu kann ich nur sagen: Diagnose falsch
und Therapie verfehlt. Wir haben das in der Vergangenheit
erlebt.
Es ist unbestritten, dass eine moderne Gesundheitsversorgung viel Geld kostet. Man kann doch nicht so tun,
Herr Kollege Parr, als ob Gesundheit zum Nulltarif zu haben sei. Ich bitte Sie: Die GKV hat 1999 256 Milliarden DM ausgegeben, 2000 260 Milliarden DM und wird
in diesem Jahr voraussichtlich 266 Milliarden DM ausgeben. Wer kann denn in diesem Zusammenhang von einem
Nulltarif reden?
({2})
- Wo steht denn die Bundesrepublik Deutschland?
Herr Kollege Lohmann, wenn Sie die Gesundheitsministerin Schmidt zitieren, tun Sie das bitte im richtigen
Zusammenhang. Wenn Sie sie mit der Aussage zitieren,
sie habe die Verhältnisse schlimmer vorgefunden, so muss
man den Zusammenhang sehen. Sie hat gesagt, das Ganze
sei ein Haifischbecken, in dem um Partikularinteressen
gestritten werde, und dieser Umstand sei viel schlimmer,
als sie sich das gedacht habe. Ich bitte Sie, in dieser Aussage keine Abgrenzung - wie das von Ihrer Seite zwar
versucht wird, wie es aber nicht gemeint ist - zu ihrer Vorgängerin zu sehen.
Ich frage noch einmal: Wo stehen wir? Die Bundesrepublik Deutschland gibt in Europa, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, das meiste Geld für das Gesundheitswesen aus. Wir stehen damit weltweit an zweiter Stelle.
Deshalb kann die Frage auch nicht lauten: Muss mehr
Geld in das Gesundheitssystem hineingesteckt werden?
Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Wie viel Geld
wird bei der Diagnostik und bei den Therapien durch nicht
notwendige, nicht indizierte und nicht qualitätsgesicherte
Leistungen - auch bedingt durch Überkapazitäten und
Doppelstrukturen -, die deswegen nicht solidarisch zu finanzieren sind, fehlgeleitet?
({3})
Sie können doch nicht die Tatsache ignorieren, dass wir
in Deutschland die höchste Bettendichte mit der längsten
Verweildauer in den Krankenhäusern, die höchste Zahl an
Röntgenuntersuchungen, die meisten Linksherzkatheteruntersuchungen und mit die höchsten Arzneimittelkosten haben. Sie tun so, als ob die Sparmöglichkeiten bei
den Medikamenten ausgereizt seien.
Ich möchte jetzt auf Ihre Angstmacherei mit der Rationierung eingehen. Ein Kostenvergleich bei Blutdrucksenkern in Baden-Württemberg
({4})
- lieber Kollege Dieter Thomae, ich kann auch Rheinland-Pfalz als Beispiel nehmen - macht deutlich
({5})
- hören Sie doch einmal genau zu; Sie können ja versuchen,
das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, zu widerlegen -, dass
zum Beispiel durch die Verordnung von Generika und den
Verzicht auf teure Analogpräparate, die in der Fachsprache Metoos heißen, alleine im zweiten Quartal 2000 nur
bei den kostenintensivsten Arzneimitteln rund ein Drittel
der Kosten,
({6})
nämlich sage und schreibe 46 Millionen DM, einzusparen
gewesen wären. Hätte man 1999 beim ACE-Hemmer
Captopril in allen KV-Bereichen - zu diesem Ergebnis
kommt das Wissenschaftliche Institut der Ortskrankenkassen bei der Auswertung des Arzneimittelmarktes zum günstigsten Tagestherapiepreis substituiert, ergäbe
sich ein theoretisches Einsparpotenzial im gesamten Bereich der GKV von fast 140 Millionen DM.
({7})
Beim Betarezeptorenblocker Metoprolol wären es rund
177 Millionen DM gewesen. Meine Damen und Herren
von der Opposition, in welcher Welt leben Sie denn, dass
Sie solche Fakten nicht zur Kenntnis nehmen?
({8})
Ich möchte auch etwas zur Versorgung der Diabetiker
sagen, die der Kollege Seehofer bereits angesprochen hat.
Der MDK Baden-Württemberg hat in einer Untersuchung
festgestellt, dass im zweiten Quartal 2000 in Baden-Württemberg 10,63 Millionen DM für Kunstinsuline, Amaryl
und Glucobay ausgegeben wurden. Hätte man auf die
preisgünstigsten Generika und auf standardisierte Therapien mit bewährten Diabetesmedikamenten zurückgegriffen, hätte man 7 Millionen DM einsparen können.
Wenn Sie sich diese Zahlen einmal vor Augen führen,
dann können Sie mit der Rationierung doch nicht den
Teufel an die Wand malen.
({9})
- Darauf komme ich gleich zu sprechen. - Der Kollege
Thomae hat gefragt: Wie sieht es mit der Deregulierung
aus? Der Kollege Seehofer, der nicht mehr anwesend ist
({10})
- Entschuldigung, ich habe ihn nicht gesehen; ich nehme
alles zurück und behaupte das Gegenteil -, hat von Regulierungswut gesprochen. Lieber Kollege Thomae und lieber Kollege Seehofer, wie sieht es denn eigentlich aus?
Welcher andere Markt ist so reguliert wie der Arzneimittelmarkt? Wie lautet denn eure Antwort? - Bei euch
herrscht Stillschweigen.
({11})
- Haben Sie schon einmal etwas von Marktwirtschaft
gehört? Hier könnte man marktwirtschaftliche Instrumente auf diesem Markt einführen.
({12})
Aber Sie wissen ganz genau, dass man dann natürlich auf
gewaltigen Widerstand stößt, weil damit wirtschaftliche
Interessen berührt sind.
Ich möchte noch auf ein paar andere Bereiche eingehen, in denen auch Geld verschwendet wird. Die Deutsche Röntgengesellschaft beziffert die Ausgaben für nicht
notwendige Röntgenaufnahmen auf 800 Millionen DM
pro Jahr. In einem Punkt muss ich dem Kollegen Seehofer
immer wieder Recht geben. Er hat früher einmal das Wirtschaftlichkeitspotenzial in der GKV auf 25 Milliarden DM
geschätzt. Ich bin der Meinung, dass diese Einschätzung
nach wie vor aktuell ist.
Sie blenden neben dem Wirtschaftlichkeitsaspekt auch
den Qualitätsaspekt weitestgehend aus. Dies wird zunehmend zu einem Kernproblem des deutschen Gesundheitswesens. In der Lebenserwartung - meine Damen und Herren, daran müssen wir uns orientieren - nehmen wir
lediglich einen Mittelplatz ein. Das müsste doch auch bei
Ihnen Nachdenken erzeugen.
Das zum 1. Januar 2000 in Kraft getretene Gesundheitsreformgesetz - jetzt setzen wir die Reformen Schritt
für Schritt um - bringt für die Bürgerinnen und Bürger
mehr Qualität im Gesundheitswesen. Das gilt beispielsweise für die Wiedereinführung der von Ihnen gestrichenen Prävention. Die haben Sie doch gestrichen. Wie viel
war Ihnen Prävention denn wert?
({13})
- Was heißt, das stimmt nicht? Haben Sie den § 20 nicht
gestrichen?
({14})
- Na also.
Ferner haben wir die durchgängige Verpflichtung der
Leistungserbringer zur Qualitätssicherung; an entsprechenden Richtlinien wird gearbeitet. Dann haben wir in
§ 140 die integrierte Versorgung weiterentwickelt. Das
wird zu einer Verbesserung in der Versorgung führen.
({15})
Wir haben die Arzneimittelpositivliste wieder ins Gesetz geschrieben. Sie können jetzt einmal beweisen, ob
Sie für mehr Qualität sind, indem Sie dafür sorgen, dass
dies im Bundesrat auch durchkommt.
({16})
Der Kollege Seehofer hat die Positivliste Herrn Professor
Vogel, dem damaligen Hauptgeschäftsführer des BPI, zu
seinem 60. Geburtstag geschreddert überreichen lassen.
Hätten Sie diese Positivliste - wir haben sie in Lahnstein
gemeinsam verabredet - weitergeführt, dann wären wir,
was Qualität und mehr Wirtschaftlichkeit in der Arzneimittelversorgung angeht, ein gewaltiges Stück weiter.
({17})
Meine Damen und Herren, ich erinnere daran, dass wir
einen Koordinierungsausschuss installiert haben, der
jährlich auf der Grundlage evidenzbasierter Leitlinien
Kriterien zur Behandlung von zehn Krankheiten zu beschließen hat. Das wird ebenfalls die Qualität verbessern.
Herr Kollege Kirschner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Zöller?
Ja, bitte.
Herr Kollege
Kirschner, halten Sie es für richtig, wenn in einer Positivliste nur noch vier Firmen vertreten sind, aber Hunderte
von mittelständischen Unternehmen nicht erscheinen?
Halten Sie eine solche Positivliste für sinnvoll?
Lieber Herr Kollege Zöller - ({0})
- Nein, mir ist der Hals trocken geworden.
({1})
- Nein, nicht vor Schreck. So schnell lasse ich mich nicht
erschrecken.
Herr Kollege Zöller, Sie wissen doch genau, dass die
von uns in Lahnstein beschlossene Positivliste - ({2})
- Sehen Sie, das ist ja schon die Antwort: Das war
grundsätzlich ein Fehler. Sie haben sich davon verabKlaus Kirschner
schiedet, wie Sie sich auch von dem dahinter stehenden
Konzept und von einer ganzen Reihe von Dingen verabschiedet haben.
({3})
- Nein, es stimmt ja auch nicht, dass am Schluss vier Arzneimittelfirmen übrig bleiben. Das ist doch überhaupt
nicht wahr.
({4})
- Entschuldigen Sie bitte: In der Arzneimittelpositivliste
werden - das wissen Sie genau - die Wirkstoffe festgelegt.
({5})
Die eben auch von Ihnen genannte Zahl ist eine Horrorzahl, die einfach nicht stimmt.
({6})
Meine Damen und Herren, wenn Sie Richtgrößen
wollen, dann erinnere ich Sie daran, dass es heute schon
Richtgrößen gibt, allerdings budgetbegleitet. Die Prüfvereinbarungen werden in vielen KVen - auch das müssen
Sie zur Kenntnis nehmen - beim jeweiligen Sozialgericht
beklagt. In Hessen drohen 10 bis 15 Prozent der niedergelassenen Ärzte Richtgrößenprüfungen. Da können Sie
sich einmal vorstellen, was das bei 120 000 niedergelassenen Ärzten an Sozialgerichtsverfahren und vielen Dingen mehr bedeutet. Dieses Konzept funktioniert doch
nicht.
({7})
Was die Regelleistungsvolumina angeht, die Sie fordern, so geht der Gesetzentwurf ins Leere und ist pure
Kosmetik, da die Selbstverwaltung heute schon nach der
bestehenden Gesetzeslage dies vereinbaren kann. Ihr Gesetzentwurf entspricht der Rechtslage des Jahres 1997.
Auf der Grundlage des 2. NOG sind jedoch in den KVen
keine Vereinbarungen über Regelleistungsvolumen zustande gekommen, da sie auch damals nicht finanzierbar
waren und der Grundsatz der Beitragssatzstabilität entgegensteht.
Meine Damen und Herren, kurzum: die Vorgabe fester
Steigerungsraten der Gesamtvergütung - daran möchte
ich Sie auch noch einmal erinnern - galt mit dem Solidaritätsgesetz nur für ein Jahr, für das Jahr 1999. Bereits seit
dem Jahre 2000 ist die Selbstverwaltung wieder frei, sektoral andere Margen zu vereinbaren, wenn sie denn mit
dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität vereinbar sind.
Ich kann es daher nicht anders sagen: Ihr Gesetzentwurf
ist populistische Spiegelfechterei.
({8})
Ich schließe
die Aussprache.
Wir kommen nun zu den Abstimmungen.
Wir stimmen zunächst über die Beschlussempfehlung
des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Frak-
tion der F.D.P. zur Abschaffung der Arznei- und Heilmit-
telbudgets auf Drucksache 14/5319. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3299 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ange-
nommen.
In Bezug auf Tagesordnungspunkt 4 b wird interfrak-
tionell die Überweisung der Vorlage auf Drucksa-
che 14/5225 an den in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden?
- Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 k sowie
Zusatzpunkt 2 auf. Es handelt sich um Überweisungen im
vereinfachten Verfahren ohne Debatte:
20 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in
Bund und Ländern 2000
({0})
- Drucksache 14/5198 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherstellung der
Nachsorgepflichten bei Abfalllagern
- Drucksache 14/4926 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der UVP-Änderungsrichtlinie, der IVURichtlinie und weiterer EG-Richtlinien zum
Umweltschutz
- Drucksache 14/5204 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar
Schmidt ({4}), Brigitte Adler, Ingrid BeckerInglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({5}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Förderung von Entwicklungspartnerschaft mit
der Wirtschaft/Vergabe eines Preises für Unternehmerinnen und Unternehmer
- Drucksache 14/3810 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katherina
Reiche, Volker Rühe, Dr. Friedbert Pflüger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Für eine zukunftsgerichtete deutsch-polnische
Freundschaft
- Drucksache 14/4162 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Innenausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl
Lamers, Christian Schmidt ({8}), Hartmut
Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Chancen des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages für Versöhnung stärker nutzen
- Drucksache 14/5138 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
g) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Für eine gemeinsame Zukunft: Deutsche und
Polen in Europa
- Drucksache 14/5244 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eduard
Lintner, Dirk Fischer ({11}), Dr.-Ing. Dietmar
Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Erlaubnis zum Führen von Schienenfahrzeugen
- Drucksache 14/4933 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({12})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Koschyk, Arnold Vaatz, Christian Schmidt
({13}), Karl Lamers und der Fraktion der CDU/
CSU
Frieden, Stabilität und Einheit auf der koreanischen Halbinsel
- Drucksache 14/4936 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({14})
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Ina Albowitz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Die russische Exklave Kaliningrad/Königsberg
unterstützen
- Drucksache 14/5141 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({15})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
k) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Eva Bulling-Schröter, Wolfgang
Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Aktuelle Menschenrechtssituation in der Türkei
- Drucksache 14/5165 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner
Lensing, Ilse Aigner, Dr. Maria Böhmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunftsorientierte Weiterbildung durch Eigenverantwortung und Selbstorganisation - Ein
Paradigmenwechsel
- Drucksache 14/5312 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/5204, Tagesordnungspunkt 20 c, soll abweichend von der Tagesordnung zusätzlich an den Rechtsausschuss und an den Innenausschuss, jedoch nicht an den Ausschuss für die
Angelegenheiten der Europäischen Union überwiesen
werden. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussfassung über Vorlagen, zu
denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Tagesordnungspunkt 21 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 5. März 1996 über die an Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte teilnehmenden Personen
- Drucksache 14/4298 ({18})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({19})
- Drucksache 14/5330 Berichterstattung:
Abgeordnete Hedi Wegener
Norbert Röttgen
Hans-Christian Ströbele
Jörg van Essen
Dr. Evelyn Kenzler
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/5330, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu den Änderungen vom 1. Oktober
1999 der Satzung der Internationalen Atomenergie-Organisation
- Drucksache 14/4454 ({20})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({21})
- Drucksache 14/5183 Berichterstattung:
Abgeordneter Volker Jung ({22})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/5183, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich gehe davon
aus, dass auch diejenigen, die sich an dieser Abstimmung
nicht beteiligt haben, damit zum Ausdruck bringen wollten, dass sie zustimmen. Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 c:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 19. Mai
1999 zum Europipe-Abkommen vom 20. April
1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und dem Königreich Norwegen über den Transport von Gas durch eine neue Rohrleitung ({23}) vom Königreich Norwegen in die
Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 14/4300 ({24})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({25})
- Drucksache 14/5184 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({26})
Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/5184, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 d:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 3. Juni 1999
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und
der Tschechischen Republik über das Grenzurkundenwerk der gemeinsamen Staatsgrenze
- Drucksache 14/4707 ({27})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({28})
- Drucksache 14/5187 Berichterstattung:
Abgeordnete Petra Ernstberger
Karl Lamers
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/5187, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten,
sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({29}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Zweiundfünfzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
- Drucksachen 14/4389, 14/4571 Nr. 2.1, 14/5182 Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Kutzmutz
Der Ausschuss empfiehlt, die Aufhebung der Verordnung
auf Drucksache 14/4389 nicht zu verlangen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Tagesordnungspunkt 21 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 240 zu Petitionen
- Drucksache 14/5257 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 240 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 241 zu Petitionen
- Drucksache 14/5258 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 241 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 21 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 242 zu Petitionen
- Drucksache 14/5259 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 242 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 3 a:
Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache
({33})
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Europäischen Sozialcharta
- Drucksache 14/4671 ({34})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({35})
- Drucksache 14/5327 Berichterstattung:
Abgeordneter Johannes Singhammer
Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Zusatzpunkt 3 b:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Zulassung einer Ausnahme vom Verbot der Zugehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung
- Drucksache 14/5271 Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/5271? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Haltung der Bundesregierung zu den von grünen Kernkraftgegnern angekündigten Protesten bei Wiederaufnahme der Castortransporte
Ich gebe für den Antragsteller, also für die CDU/CSUFraktion, zunächst dem Kollegen Dr. Paul Laufs das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Demnächst, aber erst nach den Landtagswahlen, wird es wieder Atomtransporte in Castorbehältern geben.
({0})
Es wäre ehrlicher, Transporte schon ab sofort durchzuführen. Sie kommen aus Frankreich, gehen nach Gorleben
und werden in ausschließlicher Verantwortung der Bundesregierung durchgeführt. Der Bundesumweltminister
Trittin sieht keine Gefahren durch radioaktive Strahlungen für Begleitpersonal und Umwelt.
({1})
Das ist gut.
Wir erinnern uns an die 90er-Jahre, als in großer Zahl
Castortransporte stattfanden, die ebenfalls in jeder Hinsicht gefahrlos waren, aber von der rot-grünen AntiAtom-Bewegung zum Inbegriff des Schreckens und der
Lebensgefahr erklärt wurden.
({2})
Bündnis 90/Die Grünen hat damals zu Massenprotesten
aufgerufen. Namhafte Politiker haben Gewalt befürwortet und gebilligt. Elisabeth Altmann hat als grüne Bundestagsabgeordnete zur Demontage von Schienen aufgerufen.
({3})
Die bündnisgrüne Europaabgeordnete Undine von
Blottnitz fand in einem Fernsehinterview das Lockern
von Schrauben an Gleisen total in Ordnung. Der ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete Wolfgang Ehmke forderte Sabotage und Bandenbildung.
({4})
Andere Grüne riefen zur Blockade von Bahnanlagen auf.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
({5})
Damals haben wir darauf gewartet, dass der Sprecher
der grünen Fraktion Joseph Fischer seine gewaltgeneigten
Kolleginnen und Kollegen öffentlich abmahnt und zur
Ordnung ruft. Er hat es nicht getan; wir haben nichts
vernommen. Tatsächlich kam es damals zu gewalttätigen
Ausschreitungen und nahezu bürgerkriegsähnlichen Zuständen: Schienen wurden demontiert, Bahndämme unterminiert, auf Oberleitungen wurden Krampen geworfen
und Personen verletzt. Mehr als 30 000 Polizei- und Bundesgrenzschutzbeamte mussten aufgeboten werden.
Minister Trittin spricht heute vom Missbrauch der Polizei;
damals marschierte er noch selber gegen den Castor, hat
die Proteststimmung aufgeheizt und die Bundesrepublik
als Polizeistaat diffamiert.
({6})
Was wir vor vier Jahren erlebt haben, darf sich nicht
wiederholen. Wir fordern die Bundesregierung auf, ohne
jede augenzwinkernde Sympathie alle Aktionen entschieden zu verurteilen,
({7})
die zu Blockaden, Transportgefährdungen und Gewalt
führen können. Proteste gegen seine eigenen Castortransporte, so meint Minister Trittin heute, seien unbegründet
und unklug. Nach allem, was sich in Diskussionen, in Ankündigungen in Presse und Internet abzeichnet, muss man
feststellen: Die Atomblockierer lassen sich nicht gängeln,
von den Regierungsgrünen schon gar nicht.
({8})
Selbst Trittins Parteifreunde wollen protestieren, gegen
ihn auf die Straße gehen und friedliche, fantasievolle Sitzblockaden veranstalten, wie es euphemistisch ausgedrückt wird.
({9})
Es braut sich etwas zusammen.
({10})
Die Bürgerinitiative vor Ort will die gesamte 56 Kilometer lange Bahnstrecke von Lüneburg nach Gorleben als
Aktionsfläche blockieren.
Nun muss Minister Trittin durchsetzen, was er gestern
selbst kompromisslos bekämpft hat. Wir werden mit Interesse verfolgen, wo er sich aufhält, wenn mithilfe des
Bundesinnenministers und von Landesinnenministern die
Strecke für die Atomtransporte geräumt wird.
({11})
Die Geister, die er rief, wird er nun nicht los. Deshalb will
Minister Trittin die Zahl der Transporte reduzieren, koste
es, was es wolle. Davon sind die innerdeutschen Transporte in die regionalen Zwischenlager betroffen.
Der Zweck heiligt offenbar die Mittel. Das gilt auch für
die rechtswidrige bundesaufsichtliche Weisung an das
Land Baden-Württemberg vom 22. Januar. In Neckarwestheim dürfen die zum Transport bereitgestellten
Brennelemente plötzlich nicht mehr zu der am Standort
zugelassenen Umgangsmenge gerechnet werden. So wird
Platz geschaffen und werden Atomtransporte vermieden.
Das ist reine Willkür und in eklatantem Widerspruch zum
Atomgesetz und zu den Genehmigungsbescheiden. Hier
wird für politische Ziele das Recht manipuliert und instrumentalisiert.
Am 14. Juni 2000 wurde zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgern vereinbart, dass Castortransporte bis zur Inbetriebnahme standortnaher Zwischenlager in einem Zeitraum von längstens fünf Jahren
nicht behindert werden. Auch diese Zusage gilt offenbar
nicht mehr.
Herr Trittin, Sie haben diesen Staat früher aktiv und vehement bekämpft. In Ihrem Ministeramt sind Sie heute in
der Pflicht, Völkerrecht und Gesetz zu achten und den
Rechtsstaat zu verteidigen. Daran werden wir Sie messen
und Sie in den kommenden Wochen sehr kritisch begleiten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Arne Fuhrmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin überrascht, Herr Laufs,
dass Sie heute ohne die sonstige Polemik ausgekommen
sind
({0})
und sich darum bemüht haben, so etwas wie Sachkompetenz in diesen Raum hineinsprudeln zu lassen.
Allerdings habe ich bei der ganzen Geschichte etwas
vermisst, nämlich erstens eine Begründung dafür, wieso
Sie diese Aktuelle Stunde - vor allem unter der von Ihnen
gewählten Überschrift - beantragt haben.
({1})
Zweitens habe ich vermisst, dass Sie irgendwann einmal - das ist aber wahrscheinlich von der Opposition in
diesem Haus zurzeit überhaupt nicht zu erwarten - darauf
eingehen, dass es so etwas wie einen Rechtsstaat gibt, in
dem auch Dinge, die Ihnen nicht gefallen, von den geltenden Gesetzen gedeckt sind.
({2})
- Herr Uldall, Sie kommen noch dran. Dann können Sie
alles sagen, was Sie möchten. Jetzt müssen Sie - egal, ob
es Ihnen gefällt oder nicht -,
({3})
weil Sie da sitzen, sich das anhören, was ich Ihnen ins
Stammbuch schreibe.
Wenn Sie so gesetzestreu sind, wie Sie immer vorgeben, dann nehmen Sie gefälligst zur Kenntnis, dass dieser
Staat mit Ihrer Unterstützung Meinungs-, Versammlungsund Demonstrationsfreiheit als ein ganz prinzipielles
Recht, das jedermann und jeder Frau in diesem Land zusteht, festgeschrieben hat.
({4})
Die schamlose Unterstellung von Ihrer Seite, dass es
bei künftigen Castortransporten zu Gewalt kommt, wird
wahrscheinlich dazu führen - dies war eh und je der Fall;
diese verbalen Entgleisungen kennen wir von Ihnen dass sich die betroffenen Menschen in der Region und darüber hinaus bereits jetzt wieder in der Ecke fühlen, obgleich das, was sie zum Teil mit Fantasie und äußerster
Kreativität tun, nämlich ihren Ausdruck von: „Ich will das
nicht“ deutlich zu dokumentieren, von uns als Parlament
nicht nur hingenommen werden sollte, sondern im
Grunde genommen als Bestätigung unserer demokratischen Grundauffassung für richtig geheißen werden
muss.
({5})
Es kann nicht angehen, dass jedes Mal, wenn sich jemand in dieser Republik gegen eine Entscheidung des
Parlaments verbal oder durch eine vom Gesetz erlaubte
Handlung - dazu gehören zum Beispiel friedliche Sitzblockaden ({6})
zur Wehr setzt, Parlamentarier sagen: Das ist ein Gesetzesverstoß! Wehret den Anfängen!
({7})
- Das hat der Minister niemals getan.
({8})
Er hat in seiner Partei die Menschen, die bisher sehr enthusiastisch gehandelt haben und die sich manchmal in ihrer jugendlichen und leichtsinnigen Art angekettet haben,
({9})
vernünftigerweise daran erinnert, dass ihr friedlicher Protest in Ordnung ist; aber all das, was nicht in friedlicher
Form geschieht, nicht in Ordnung ist.
({10})
Sie sollten sich beispielsweise auch einmal mit der
Presse auseinander setzen. Ich habe einen Artikel mit der
Schlagzeile „Dialog soll Gewalt verhindern“ vor mir liegen. Ich empfehle Ihnen, keine hämischen - ich will nicht
sagen: dümmlichen, weil das nicht parlamentarisch
wäre - Bemerkungen zu machen.
({11})
Sie sollten sich vielmehr mit den Möglichkeiten auseinander setzen, die Sie haben, um diejenigen, die protestieren, davon zu überzeugen, dass ihr Protest überflüssig
ist. Das wird uns aber erst dann gelingen, wenn die
Castortransporte in dieser Republik weniger werden und
wenn die Menschen in Gorleben nicht wie in diesem Jahr
die Aufnahme von zwölf Castoren aus La Hague hinnehmen müssen, obwohl es ein Moratorium gibt.
Wir werden in diesem Bereich erst erfolgreich sein,
wenn dieses Haus bereit ist, sich auf die Seite derer zu
stellen, die mit uns allen zusammen - das unterstelle ich
auch Ihnen - einen Ausstieg auf gesittete Art und Weise
erreichen wollen. Dieser Ausstieg kostet im Zweifelsfall
etwas, in dem einen oder anderen Fall auch einen großen
Teil der bisherigen eigenen Überzeugungen.
Dies ist nicht leicht und fällt gerade den betroffenen
Menschen in der Region um Gorleben ganz besonders
schwer. Herr Laufs, Sie haben es wesentlich einfacher,
weil Sie nicht in dieser Gegend wohnen. Vielleicht erinnern Sie sich daran, welche Debatten im Laufe der letzten
zehn Jahre in diesem Haus stattgefunden haben. Ich wünsche mir, dass Sie nicht mehr von Gewalt reden und dass
Sie die entsprechenden Unterstellungen aufgeben. Verbale Gewalt nämlich ist immer der Funke, der das Feuer
entzünden kann.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Walter Hirche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, mit welchen sprachlichen Verrenkungen sich rote und grüne Politiker heute zu den gleichen Transporten äußern und diese
rechtfertigen, die sie noch vor zwei Jahren abgelehnt haben.
({0})
Sachlich hat sich im Hinblick auf die Transporte doch
nichts verändert: Erstens. Es gibt seit Jahren völkerrechtlich verbindliche Vereinbarungen mit Frankreich, wiederaufgearbeiteten Atommüll aus La Hague zurückzunehmen. Zweitens. Die Transporte bedeuten keine Gefährdung der Bevölkerung. Jeder weiß: Das war so und
das ist so geblieben.
({1})
Wenn das Bundesamt für Strahlenschutz nach dem
Stopp der Transporte durch Frau Merkel vor gut zwei JahArne Fuhrmann
ren einige Auflagen verfügt hat, dann entspricht das dem
in Deutschland glücklicherweise üblichen guten Verwaltungshandeln, bei Erkennen von Problemen im Detail
Auflagen anzuordnen. Das ändert nichts an der Tatsache,
dass von den Castortransporten noch nie eine akute Gefährdung für die Polizei oder für die Begleitung ausgegangen ist. Wer anderes behauptet, will immer nur Hysterie schüren.
({2})
Geändert hat sich nur eines: Die Grünen sind gerade
durch die Verbreitung hysterischer Parolen an die Macht
gekommen und müssen jetzt denen, die an die Parolen geglaubt haben, verklickern, warum das heute beim gleichen Sachverhalt alles anders ist. Jetzt rufen die Bürgerintiativler: Das sind doch aber die gleichen Castoren! Das ist natürlich korrekt. Aber Herr Trittin und Frau
Müller erklären, dass des Kanzlers neue Castoren jetzt
eben grüne Kleider hätten.
({3})
Einige tragen offenbar sogar ein schwarzes „T“.
Warum kapieren die armen Wendländer denn nicht,
dass damit alles anders ist? Warum wird denn nun vor Ort
weiter die Stimmung aufgeheizt und gegen alle Transporte Stellung bezogen? Das ist einfach zu erklären: Rot
und Grün stehen angesichts der Proteste als Zauberlehrlinge da. Sie müssen die Suppe auslöffeln, die sie sich
eingebrockt haben. Das macht die Situation aus.
({4})
Die Transporte sind ungefährlich und notwendig. Das
sagen auch Sie heute. Ich begrüße das. Aber wer jahrelang
dafür getrommelt hat, zu demonstrieren, zu blockieren
und zu verhindern, der muss sich doch nicht wundern,
dass es Menschen gibt, die an solche Aufrufe glauben.
Tatsache ist, dass für diese notwendigen und ungefährlichen Transporte offenbar wieder Irrsinnskosten anfallen,
für ein Demonstrationsziel, das die Grünen selbst nicht
mehr vertreten. Wer in Deutschland über Polizeikosten für
Castortransporte nachdenkt und darüber spricht, der kann
diese Kosten für Blockaden und gewalttätige Ausschreitungen getrost der jahrelangen früheren Politik der Grünen zuschreiben.
({5})
Um nicht missverstanden zu werden, nachdem gerade
die F.D.P. jahrelang eine Distanzierung der Grünen von
Gewalt gefordert hat: Wir begrüßen es, wenn die Grünen
jetzt zum Verzicht auf Blockaden auffordern. Wir würden
es noch mehr begrüßen, wenn dem heute ausdrücklich der
öffentliche Verzicht auf Gewalt nachgeschoben würde.
Das ist das Mindeste, was Sie tun können und müssen, damit nicht weiterhin im Schutz von Demonstrationen und
Blockaden gewalttätige Aktionen stattfinden.
Denn genau das ist der Punkt. Herr Fuhrmann, ich
knüpfe an Ihre Worte an: Demonstrationen gehören zum
guten politischen Grundrecht auf Meinungsfreiheit in
Deutschland. Das trifft auf jeden Sachverhalt zu, ob es einer politischen Partei, einer Regierung oder einer Opposition passt oder nicht. Aber Gewalt, die direkt oder indirekt von solchen Demonstrationen ausgeht, ist nicht zu tolerieren.
({6})
- Ich sehe: Auch da stimmen wir überein.
({7})
Aber genau das bleibt von Ihrer früheren Politik. Sie
wussten, dass Demonstrationen als Schutzwände für Gewaltaktionen genutzt werden konnten.
({8})
Das ist der Beginn der Unterminierung des Rechts auf
friedliche Demonstrationen.
({9})
Die Gefahr, dass friedliche Demonstrationen von einigen
für gewalttätige Happenings genutzt werden, müssen die
Demonstranten selbst ausschließen, wenn sie ihr Ziel
nicht gefährden wollen. Das haben Sie in der Vergangenheit nicht getan. Die Aussage des Sprechers der Lüchower
Bürgerinitiative jetzt, dass der Protest das Wichtigste sei
- und nicht die Verhinderung des Transports der Castoren
in die Zwischenlager -, dieser solle „die Kunst des Widerstands“ zeigen, macht deutlich, dass hier eine Sache
um ihrer selbst willen getrieben werden soll.
Diese lockere Selbstbeschreibung führt zum Kern des
Problems. Es geht nicht mehr vorrangig um Bedenken gegen die Transporte, sondern es geht darum, der demokratischen Mehrheit im Staat die rote Karte zu zeigen. Das
trifft Sie so, weil Sie sich in der Vergangenheit an diesem
Spiel beteiligt haben und so Ihr politisches Süppchen gekocht haben. Jetzt sind Sie selber die demokratische
Mehrheit und merken zum ersten Mal, was Sie angerichtet haben.
({10})
Eine Regierung, die auf zwei Schultern trägt, eine
grüne Partei, die gleichzeitig vorwärts und rückwärts
läuft, das ist wie Zirkus pur, nur nicht ganz so lustig. Wer
ein solches Vorbild abgibt, muss sich nicht wundern, dass
in der Gesellschaft Werte und Normen durcheinander
kommen.
({11})
Herr Abgeordneter, Ihre Redezeit ist beendet.
Das ist der rote Faden, Herr
Minister Trittin, der sich aus Ihrer Studentenzeit bis in die
heutigen Tage zieht.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesminister Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Mancher Faden der Rhetorik, lieber
Herr Hirche, entwickelt sich zum Knäuel, bei dem am
Ende der Zauberlehrling als Suppenkaspar dasteht. Insofern sollte man aufpassen, welche Bilder man verwendet.
({0})
Herr Glos hat letzte Woche gefordert, wir sollten die
Atomtransporte vor den nächsten Landtagswahlen durchführen. Ich muss Ihnen mit allem Ernst und Nachdruck sagen: Die Bundesregierung genehmigt Atomtransporte
nicht aus Daffke und nicht zur Unterhaltung von Herrn
Glos. Die Bundesregierung genehmigt Transporte, wenn
sie notwendig sind. Sie genehmigt sie, wenn sie dazu international verpflichtet ist, und sie genehmigt sie ausschließlich unter der Voraussetzung, dass die Sicherheit
dieser Transporte gewährleistet ist.
({1})
Die Ausführungen von Herrn Laufs hätten eines nicht
deutlicher machen können: Es geht Ihnen nicht um die
Notwendigkeit und die Sicherheit der Transporte. Es geht
Ihnen ausschließlich um ein politisches Spektakel. In
Bayern ist Fasching und in Baden-Württemberg Landtagswahlkampf.
({2})
- Regen Sie sich ruhig auf! - Dass bei der CDU/CSU die
närrische Zeit nicht an die Faschingssaison gebunden ist,
wissen wir: Merz gegen Merkel und beide gegen Stoiber!
({3})
Ich warte noch auf den Tag, an dem Sie Herrn Landowsky
zum Kanzlerkandidaten ausrufen.
({4})
Ich will mit allem Nachdruck auf folgende Dinge hinweisen:
Erstens. Sie tragen die Verantwortung dafür, dass über
Jahre hinweg deutscher Atommüll im Ausland zwischengelagert worden ist. Die Zwischenlagerung deutschen Atommülls im Ausland entspricht weder dem deutschen noch dem französischen Recht.
({5})
Zweitens. Sie haben dafür gesorgt, dass da, wo ein
Transport nötig gewesen wäre, dreimal transportiert
wurde, und zwar in die Wiederaufarbeitungsanlage, in das
zentrale Zwischenlager, nach Gorleben und nach Ahaus,
und anschließend wieder zurück.
Drittens. Sie haben unter dem Deckmantel der Erkundung - wohlgemerkt: der Erkundung! - den Bau des Endlagers in Gorleben betrieben, dessen einziger geologischer Vorteil im Vergleich zu anderen Standorten es
gewesen ist, dass er sehr nahe an der Grenze zur damaligen DDR gelegen war.
Für all das tragen Sie durch Ihre Atommüllpolitik die
Verantwortung!
({6})
Ich sage Ihnen mit allem Nachdruck: Gegen diese Politik
des Faktenschaffens haben die Wendländer zu Recht protestiert und demonstriert. Deswegen sind sie mit ihrem
Protest von den jetzigen Koalitionsfraktionen zu Recht
unterstützt worden.
({7})
Wenn wir heute Atommüll aus Frankreich zurückholen
müssen, dann ist dies auch eine Folge Ihres unverantwortlichen Handelns, die wir zu tragen haben. Sie können
hier reden, wie Sie wollen; eines lassen wir Ihnen nicht
durchgehen: Wenn wir versuchen, mit den Folgen Ihres
Handelns fertig zu werden, und von Ihnen dafür noch beschimpft werden, dann akzeptieren wir das nicht.
({8})
Wir haben im Rahmen des Atomkonsenses zum ersten
Mal die Menge des Atommülls definiert und begrenzt.
Erst damit beginnt eine Entsorgungspolitik.
({9})
Wir haben mit dem Verzicht auf Wiederaufarbeitung ab
2005 die Menge des Atommülls vermindert. Wir haben
durch das Konzept der dezentralen Zwischenlagerung und
der direkten Endlagerung die Zahl der Transporte perspektivisch auf ein Drittel reduziert. Gegen all diese
Dinge sind Sie; gegen all diese Dinge protestieren Sie!
Die Betreiber von Atomanlagen beurteilen die Situation heute anders, als Sie das tun. Zum Beispiel erfolgte
der Verzicht auf den Transport von Atommüll von Neckarwestheim nach Ahaus, obwohl die Betreiber zwei geltende Transportgenehmigungen hatten.
({10})
- Lieber Herr Hirche, Sie sollten sich diese anschauen.
Die hat den Transport nicht untersagt. - Der Verzicht erfolgte durch den Betreiber und gegen den wütenden Protest von Herrn Laufs und gegen die rechtswidrige Haltung
der örtlichen Atomaufsicht, die eine atomrechtliche Position eingenommen hat, die in dieser Form nicht einmal
von Bayern geteilt wird.
({11})
- Das sehen wir mit großer Gelassenheit.
Der Ausstieg aus der Atomenergie wird auch mit
Transporten einhergehen. Dafür haben wir die Voraussetzungen - auch die politischen Voraussetzungen - geschaffen. Wir haben den Bau des Endlagers in Gorleben
unterbrochen und wir entwickeln wissenschaftlich begründete Standortkriterien für ein solches Endlager, anstatt eine fachliche Standortbestimmung durch politische
Vorfestlegungen zu ersetzen.
({12})
Nur wenn uns diese fachliche Standortbestimmung gelingt, werden wir Akzeptanz erhalten.
Außerdem haben wir die Festschreibung Gorlebens als
Endlagerstandort beendet.
({13})
Deswegen finde ich die Proteste gegen den jetzigen
Rücktransport verständlich, aber in der Sache falsch. Da
kann es kein Vertun geben. Dieser Transport dient, anders
als Ihre Transporte, nicht dem unbegrenzten Betrieb von
Anlagen. Dieser Transport ist Folge der Abwicklung der
Atomenergie.
({14})
Aber, meine Damen und Herren, auch wenn wir das
Ziel des Ausstiegs mit den Menschen im Wendland teilen,
so teile ich dennoch ihre Gründe nicht, gegen diesen
Transport zu demonstrieren. Eines allerdings verteidige
ich mit Nachdruck: das Recht der Wendländer, für diese
ihre - aber in meinen Augen falsche - Auffassung gewaltfrei zu demonstrieren.
({15})
Ich verwahre mich mit aller Entschiedenheit dagegen,
dass der gewaltfreie Protest der Wendländer von der Opposition hier im Hause mit Gewalt in Verbindung gebracht wird.
({16})
Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg hat stets und
immer zu gewaltfreiem Widerstand aufgerufen.
({17})
Der zivile Ungehorsam im Wendland war deswegen so erfolgreich, weil er massenhaft auf gewaltfreie Aktionen gesetzt hat.
({18})
Die Menschen im Wendland brauchen von Ihnen, Herr
Hirche - und das gilt besonders für die CDU -, keine Belehrungen über die Art und Weise von gewaltfreiem Protest.
({19})
Meine Damen und Herren, Sie sollten sich vielleicht
einmal in aller Ruhe das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage, ob Sitzblockaden Nötigung und ob sie
Gewalt sind, anschauen.
({20})
Sie wissen es doch selber besser. Ich will Ihnen das an
einem Beispiel verdeutlichen. Ich war am 2. Oktober auf
der Insel Rügen. An diesem Tage kam der Verkehr faktisch zum Erliegen, weil Taxifahrer und Bauern mit
schwerem Gerät - Treckern, Bussen - die zentrale Kreuzung in Bergen dichtgemacht hatten. Zum Dank für diese
Aktion wurden sie von der CDU-Kreistagspräsidentin
empfangen. Sie hat sich selber als „Bindeglied“ zwischen
den Blockierern und der Bundespolitik angeboten. Ich
weiß genau, was sie damit gemeint hat. Vermutlich spielte
sie auf die örtliche CDU-Abgeordnete an. Das ist Angela
Merkel.
Meine Damen und Herren, eines will ich Ihnen sagen:
Ich habe das Anliegen dieser Demo nicht geteilt. Ich fand
es ziemlich daneben. Aber so lange Sie Straßenblockaden
mit Treckern, mit Lastern und Bussen für zulässige Protestformen halten und sich Ihre Mitglieder daran beteiligen, so lange haben Sie überhaupt keinen Grund, andere
Menschen, die sich friedlich auf die Straße setzen, als
Gewalttäter zu diffamieren.
({21})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Roland Claus.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Also sprach der GrünenVorstand: „Schluss mit Protestieren“, wird nix mit Castor
nix, bleibt daheim und achtet die Gesetze!“
({0})
Dazu kann man eine Meinung haben. Ich werde Ihnen
meine Meinung auch sagen, will aber zunächst eine Frage
stellen: Wo soll das hinführen, wenn Vorgänge innerhalb
einer politischen Partei - innerhalb einer politischen Partei! - von einer anderen politischen Partei hier im Bundestag zum Gegenstand einer Debatte gemacht werden?
Anders gefragt: Was geht es die Schwarzen an, dass die
Grünen sich nicht grün sind?
({1})
Ich glaube Ihnen nicht, dass Ihr Begehren darin besteht, die Grünen auf den wahren Tugendpfad der Demokratie zu führen. Wir dürfen uns hier nichts vormachen.
Ich denke, es ist der erneute Versuch der Christdemokraten, die Geschichte und Gegenwart demokratischer Widerstandsbewegungen zu diskriminieren und zu kriminalisieren.
({2})
Darum geht es: um nicht mehr, aber auch nicht um weniger.
Die 68er-Bewegung, die aus ihr entstandene Friedensbewegung, die ich heute sehr, sehr vermisse,
({3})
der Drang nach Demokratisierung und Liberalisierung
der Gesellschaft und auch das Ideal von sozialer Gerechtigkeit lassen sich nicht wegreden, nicht wegverordnen
und auch nicht wegtragen.
({4})
Das weiche Wasser bricht den Stein.
Genauso gilt heute: Niemand darf das Demonstrationsrecht infrage stellen. Es hat nämlich etwas mit der
Würde des Menschen gemein. Deshalb gehört die bürgernahe Anticastorbewegung unterstützt und nicht diskriminiert.
({5})
Sie werden mit dem Versuch scheitern, diese volksnahe
Bürgerinitiative quasi als Vereinigung von Gewalttätern
darzustellen. Sie gehört erst recht nicht in Käfige gesperrt,
die den schönen Polizeibegriff „mobile Gewahrsamszellen“ bekommen sollen.
Ich glaube, die CDU versucht hier, die Diskriminierung und Diskreditierung demokratischer Bewegungen
fortzusetzen. Ich glaube, das alles sind keine Betriebsunfälle Ihrer parlamentarischen Arbeit,
({6})
sondern Sie knüpfen damit bewusst an antidemokratische
Ressentiments, die es in der Gesellschaft gibt, an. Diesen
Vorwurf muss man Ihnen machen.
({7})
Insofern sage ich Ihnen: Sie haben nichts, aber auch gar
nichts aus Ihrer Anti-Schröder-Plakat-Affäre gelernt. Frau
Merkel hat gesagt - das hat mich sehr beeindruckt -, sie
habe 48 Stunden darüber nachgedacht. Ich habe großen
Respekt davor, wenn jemand 48 Stunden am Stück nachdenkt. Aber das hat ihr heute nichts genutzt.
({8})
Frau Merkel sagt noch immer - ich zitiere sie -: Unser
Staat, die Bundesrepublik Deutschland, ist seit 1949 ununterbrochen eine freiheitliche, solidarische und weltoffene Republik.
({9})
Wenn das stimmt, meine Damen und Herren,
({10})
dann stimmt es auch, dass Gehlen, Globke und Heusinger
nie in hohen Bundesämtern waren, dass die Erde eine
Scheibe und die CDU eine Partei der christlichen Nächstenliebe ist,
({11})
wobei ich seit dem Gebaren von Herrn Landowsky besser
verstehe, was bei der CDU Nächsten-Liebe bedeutet,
({12})
und dann wird es auch stimmen, dass die anonymen Spender von Helmut Kohl alle in der PDS sind.
Die Grünen leisten Hilfestellung bei der Entsorgung
und Klitterung der eigenen Vergangenheit. Es ist natürlich
kurios, wenn Jürgen Trittin gleichzeitig auf der einen
Seite die Kernkraft und auf der anderen Seite die Kernkraftgegner bekämpft. Das muss man erst einmal hinbekommen. Dafür muss man Formeln schaffen wie: die
guten und die schlechten Transporte. Er geht sogar noch
weiter - er ist ja pfiffig -: Er hat die Transporte in unheimliche und heimliche unterteilt, wie wir seit einiger
Zeit wissen.
({13})
Meine Damen und Herren, Parteien sollen laut Grundgesetz an der Willensbildung des Volkes mitwirken, nicht
aber den eigenen Mitgliedern den Willen nehmen. Ich will
jetzt aber enden, sonst richten Sie doch noch die Frage an
mich: Was geht es die Roten an, wenn sich die Grünen
nicht grün sind?
Herzlichen Dank.
({14})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ulrich Kelber.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines wird von Tag zu Tag deutlicher: Viele Politiker von CDU/CSU können ihre klammRoland Claus
heimliche Freude, dass es zu möglichen Krawallen
kommt, kaum mehr verhehlen.
({0})
- Klammheimliche Freude passt dieses Mal sehr gut zur
CDU/CSU.
({1})
Wenn ich mir die Ausführungen von Herrn Hirche anhöre,
dann muss ich feststellen, dass auch in der F.D.P. dem einen oder anderen die rechte liberale Gesinnung in dieser
Frage fehlt. Dabei geht es der Opposition überhaupt nicht
um die Form der Proteste. Mit ihrer dümmlichen AntiÖkosteuer-Kampagne haben CDU/CSU selber zu Blockaden und teilweise sogar zu Rechtsbruch aufgerufen.
({2})
Es geht der Opposition nur um die inhaltlichen Ziele der
Protestierer. Möglichst viele Atomtransporte passen in
das politische Kalkül von CDU/CSU/F.D.P., weil die Welt
dann endlich wieder so schön schwarz-weiß ist, wie das
Meyer, Merz und Merkel brauchen.
Dabei ist es der Opposition völlig egal, ob die Transporte zulasten der Dienstzeiten der Polizeibeamten und
zulasten der Steuerzahler gehen. CDU/CSU/F.D.P. sind
bereit, Hunderte Millionen DM aus Steuergeldern indirekt
für ihre Wahlkämpfe in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zu missbrauchen.
({3})
Die Quelle für dieses politische Kalkül ist die völlige
Ignoranz dessen, wieweit Technologien von der Bevölkerung akzeptiert werden. Besonders pikant an der Sache
ist, dass die Südländer, selber immer glühende Befürworter der Atomenergie, nicht bereit sind, Zwischen- und
Endlager auf ihrem Gebiet einzurichten.
({4})
Die Quelle für die Proteste ist die Atompolitik der letzten Jahrzehnte. Die SPD hat sich davon lösen können,
CDU/CSU/F.D.P. aber sind im alten Denken verblieben.
({5})
Die Transportlogik der früheren Bundesregierung, hochradioaktiven Abfall quer durch die Republik zu schicken,
und zwar durch dicht besiedelte Gebiete, ist der entscheidende Fehler gewesen, der den Menschen so aufgestoßen
ist.
({6})
Niemandem ist es verständlich zu machen, warum man
hochradioaktiven Abfall quer durch unser Land nach
Frankreich schickt, ihn dann in ein Zwischenlager und
schließlich in ein imaginäres Endlager bringt, das noch
immer nicht zur Verfügung steht.
Der Frust der Protestierer vor Ort ist deswegen gut verständlich. Man hatte sich natürlich von einer neuen Atompolitik auch ein Ende der Transporte erhofft. Es ist Ironie
der Geschichte, dass die rot-grüne Bundesregierung aus
der Atomenergie aussteigt und trotzdem mit Atomgegnern
in Konflikt gerät. Das tut weh, das muss man zugeben, darum kommt man nicht einfach herum.
Deswegen werden wir mit den Menschen noch intensiver sprechen müssen und ihnen eine Perspektive für die
Beendigung der Atomenergie und der Transporte deutlich
machen. Wir werden ihnen zeigen, dass wir die Zahl der
Transporte schon heute über die Wege, die wir gegangen
sind, verringert haben. Gleichzeitig werden wir die internationalen Vereinbarungen erfüllen müssen, die Folge der
falschen Politik der Vorgängerregierung sind.
({7})
Zum Schluss möchte ich noch einmal in Richtung
CDU/CSU, insbesondere an die CSU gewandt, deren Vorsitzender Stoiber der Hauptkonfliktschürer in diesem
Land ist, aber noch nicht einmal den Unterschied zwischen Zwischen- und Endlagern kennt - das zeigte er bei
einer seiner letzten Reden -, sagen: Diese Aktuelle Stunde
- einige der Vorredner haben schon gesagt, welch ein Unsinn diese Aktuelle Stunde ist - wäre überflüssig, wenn
Sie bei der Erinnerung an Franz Josef Strauß nicht immer
nur an seine Sonthofen-Rede denken würden, sondern
sich darüber freuen würden, dass sich diese Bundesregierung strikt an das von Strauß so oft zitierte Prinzip
„Pacta sunt servanda“ hält.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Vera Lengsfeld.
({0})
Da habe ich von der
SED schon andere Dinge gehört, das nehme ich ganz gelassen.
({0})
Sie sollten sich schon ein bisschen weniger in diese Tradition stellen.
Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Herr Minister, eine Bemerkung muss ich vorweg machen:
Die Regierung Kohl hat ganz bestimmt Großes geleistet;
aber wenn Sie meinen, dass sie die Salzstöcke in Richtung
Grenze schieben konnte, überschätzen Sie sie wirklich
maßlos.
({1})
Diese sind schon im Perm entstanden, als es die 16 Jahre
Kohl noch nicht gegeben hat.
Nun zur Sache: Für eine Partei, die sich selbst als gewaltfrei bezeichnet, haben die Grünen eine erstaunlich
enge Beziehung zu einer Vielzahl von gewaltsamen Ereignissen in der Geschichte unseres Landes vor und nach
der Vereinigung: Ob Wackersdorf, Brokdorf, Startbahn
West, die alljährliche Revolutionäre 1.-Mai-Demo in Berlin bis hin zu den Castorblockaden, immer waren grüne
Parteiaktivisten dabei und meist hat die Partei sogar zu
den Mitaufrufern gehört.
Feinsinnig wurde zwischen Gewalt gegen Sachen, die
angeblich akzeptabel sei, und Gewalt gegen Menschen
unterschieden, die man nicht unterstützen wolle. Dabei
zählten Polizisten offensichtlich nicht zu den Menschen;
denn bei den aufopferungsvollen Schlachten um das Gute
kamen regelmäßig Polizisten zu Schaden, was kaum einen grünen Politiker je zu einem Wort des Bedauerns
genötigt hat.
({2})
Heute, wo die Grünen in der Regierungsverantwortung
sind, lehnen sie in dem gleichen Brustton der Überzeugung Gewalt gegen Sachen als illegitim ab, wie es uns
Kerstin Müller am Montag vorgeführt hat, die im Frühjahr
1996 die Demontage von Bahnanlagen „erst mal o.k.“
fand und heute
({3})
Gewalt gegen Sachen für illegitim erklärt.
Das geschieht nach dem Motto: Wir verkünden heute
dies und morgen das Gegenteil, aber auf jeden Fall sind
wir die besseren Menschen.
({4})
Wer angesichts der unaufgearbeiteten Gewaltgeschichte
der Grünen Zweifel und Fragen hat, dem drohen schärfste
Konsequenzen.
Man könnte nun den Grünen zugute halten, dass sie einen erheblichen Teil des gewaltbereiten linken Protestpotenzials in diesem Lande domestiziert und zur Demokratie bekehrt haben, aber leider fehlt es an der nötigen
Ehrlichkeit gegenüber der eigenen Geschichte. Denn es
waren eben jene grünen Politiker, die noch heute ihrer Basis im revolutionären Rolli und in der Lederjacke gegenübertreten, um anschließend im Dienstwagen in den
Nadelstreifenanzug für den Stehempfang zu wechseln,
die in den 70er-Jahren die Gewalt vom linken Rand „in
die Mitte der Gesellschaft“ getragen haben.
({5})
Das war die Zeit der „klammheimlichen Freude“ über
die Ermordung von Buback und Schleyer, Herr Kollege
Kelber, die Zeit der kaum kaschierten Parteinahme für die
RAF, der Sympathie mit der SED-Diktatur, die Zeit des
Gefasels vom „Vorbild Kuba“ und der Forderung nach einer Kulturrevolution in Deutschland.
({6})
Die Zeit des Straßenterrors war auch eine Zeit der Verharmlosung der stalinistischen Verbrechen,
({7})
der Ergebenheitsadressen an Pol Pot und des Wunsches
nach dem Sieg des palästinensischen Volkes auf dem gesamten Territorium von Palästina, das heißt nach Auslöschung Israels.
({8})
Unserem Land steht eine Aufarbeitung und eine Auseinandersetzung mit dieser verdrängten bzw. verklärten
Gewaltgeschichte noch bevor. Sie wird heute entscheidend durch den Umstand erschwert, dass die damals
Agierenden und Sympathisierenden heute die Interpretationsmacht besitzen, und sie zeigen, wie sie diese Interpretationsmacht benutzen.
({9})
Da wird allen Ernstes behauptet, eine demokratische
Bürgergesellschaft wäre erst durch gewaltsamen Protest
entstanden, so als wäre gewaltsamer Protest eine Art Zivilcourage und Voraussetzung für die Civil Society.
({10})
Da wird zur Rechtfertigung des NATO-Einsatzes, als
wäre Völkermord nicht Grund genug, der Holocaust
bemüht, um alle Zweifler gleich mit der Moralkeule, dass
sie sich zu Mitschuldigen machen, zu erledigen. Da wird
das Land wie selbstverständlich mit vermeintlich politisch korrekten Verdikten überzogen, und wer sich diesen
Verdikten nicht gleich beugen will,
({11})
wird schon mal verbal aus der Gemeinschaft der Anständigen ausgeschlossen,
({12})
wobei es sich lohnt, einige besonders edle Exemplare dieser Gemeinschaft der Anständigen einmal näher zu betrachten.
Ist es anständig, wenn man sich wie Umweltminister
Trittin noch 1996 an den gewaltsamen Protesten gegen
den Castortransport beteiligt hat oder im Juli 1994 gemeinsam mit gewaltbereiten Vermummten marschiert,
aber heute seiner grünen Basis per Rundbrief ihr demokratisches Recht auf Demonstration abspricht?
({13})
Die CDU sollte vielleicht eine Sitzblockade für das
Recht der Grünen machen, friedlich gegen die Castortransporte zu protestieren.
({14})
Ist es anständig, dass Herr Trittin nach 1992 in einem
Interview in der „Welt am Sonntag“ seine K-GruppenVergangenheit nicht bestätigen will?
Frau Kollegin,
denken Sie bitte daran, dass Sie fünf Minuten Redezeit
haben.
Ich bin sofort fertig.
Ist es anständig, wenn er später so tut, als hätte er immer öffentlich zu seinem Hinterzimmerkommunismus
gestanden?
({0})
Ist es anständig, dass die Grünen sich nicht einmal zu
dem einfachen Bekenntnis durchringen können, dass das
Gewaltmonopol des Staates immer gleich ist, egal, ob man
sich in der Regierung oder in der Opposition befindet?
Es stellt sich die Frage, wie sich Herr Trittin verhalten
wird, wenn er morgen nicht mehr Minister ist.
({1})
Wird er wieder mit Vermummten gegen den Polizeistaat
demonstrieren? Diese Frage könnten Sie gern einmal beantworten.
({2})
Frau Kollegin,
fünf Minuten heißen wirklich fünf Minuten. Ich bitte Sie,
jetzt Ihren letzten Satz zu sagen.
Das ist mein letzter
Satz.
Ist es anständig, dass Herr Wolfram König, Präsident
des Bundesamtes für Strahlenschutz, heute eine Broschüre verbreitet, in der die sicherheitstechnische Unbedenklichkeit der Castortransporte mit Fakten und Zahlen
belegt wird,
Frau Kollegin,
ich bitte Sie jetzt aufzuhören.
- die eben jene Fakten
und Zahlen sind, die jahrelang von grünen „Experten“ und
so genannten kritischen Wissenschaftlern im grünen Umfeld bestritten worden sind?
({0})
Soll diese Art von Doppelmoral, die die Grünen hier - ({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Hermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Lengsfeld, bei Ihren Reden und bei all dem, was Sie
über uns erzählen und behaupten, frage ich mich manchmal wirklich, welcher Teufel Sie eigentlich geritten hat,
dass Sie ausgerechnet zu den Grünen gegangen sind.
({0})
Es ist unglaublich, dass Sie jahrelang in dieser Fraktion
waren und sich jetzt so benehmen.
Dabei will ich es aber bewenden lassen und zum eigentlichen Tagesordnungspunkt, den Castortransporten,
kommen. Sie haben mehrfach versucht, das Thema so
hinzustellen, als wären nicht die Atomtransporte für die
Risiken und die Ängste der Menschen verantwortlich und
das eigentliche Problem, sondern als wäre der Protest als
solcher das Problem. Das ist eine völlige Verkehrung der
Situation. Wir haben es hier mit Problemen zu tun, die Sie
mit Ihrer Politik nie haben lösen können.
({1})
Zu den Protesten, die Sie heute beklagen, und von denen
Sie behaupten, sie kämen nur aus dem grünen Umfeld,
muss ich Ihnen, Herr Laufs, sagen: Ob in Baden-Württemberg oder anderswo, der Protest gegen Transporte und vor
Ort an den Atomkraftwerken kam aus allen Bevölkerungsschichten, ob von CDU-Mitgliedern oder Grünen. Vor Ort
saßen alle zusammen, unter Umständen vor den Toren oder
auf dem Bauplatz.
({2})
Das ist die Wahrheit. Es war nicht nur eine grüne Marotte,
wie Sie das jetzt darstellen. Es gab überall vor Ort einen
breiten Bürgerprotest.
({3})
Unter anderem haben diese Proteste und dauernden
Aufmärsche bei der Polizei, die man gebraucht hat, um
Risiken zu minimieren, dazu geführt, dass man nachgedacht hat, wie man aus diesem Teufelskreis herauskommt,
({4})
wenn es offensichtlich ist, dass die Bevölkerung vor Ort
diese Technologie nicht akzeptiert, wenn es offensichtlich
ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung das Risiko der
Atomwirtschaft nicht tragen will. Den Ausweg daraus haben wir gesucht.
Wir haben mit unserem Ansatz versucht, aus einer, wie
wir finden, verheerenden Technologie langfristig mit einer Strategie herauszukommen, die das vorhandene Risiko zwar nicht mehr wegzaubern, es aber begrenzen und
schließlich minimieren kann. Das ist schwierig,
({5})
weil wir hier eine Suppe auszulöffeln haben, die Sie, Herr
Hirche, uns angerührt haben.
({6})
Nur handelt es sich nicht um ein beliebiges Süppchen,
sondern um eine hochgefährliche Atomsuppe.
({7})
Sie können wirklich froh sein, dass sich die heutige Regierung dieses Problems annimmt, mit dieser Technologie
Schluss macht und für ihre Entsorgung und Beendigung
sorgt.
({8})
Wir haben deutlich gemacht - darüber reden wir ganz
offen -: Grüne waren immer Teil der Anti-AKW-Bewegung. Wir haben immer gesagt: Atomkraft ist riskant, gefährlich. Die Zukunft ist unklar. Die Endlagerung ist völlig unklar. Hier stehen wir auf der Seite der Bevölkerung.
({9})
Aber es gibt bei den Grünen sehr wohl eine ganz lange
Tradition bei der Debatte darüber, welcher Protest sinnvoll und was gewaltfrei ist. Ich bin von Anfang an bei den
Grünen dabei: Wir haben diese Debatte immer hart geführt; intern und auch in der Bewegung. Wir haben klar
gesagt: Für uns kommen nur gewaltfreie Widerstandsformen infrage. - Wir haben das auch konsequent praktiziert.
({10})
Das war der Grundkonsens. - Dies haben manche von Ihnen schon damals nicht zur Kenntnis genommen. Dazu
kann ich Ihnen sagen: Die Grünen haben ein reines Gewissen. - Dies können Sie in vielen Papieren nachlesen.
({11})
Meine Damen und Herren von der CDU, wir müssen
uns nicht von Dingen distanzieren, die Sie uns seit 20 Jahren unterstellen und die noch nie wahr waren. Herr Laufs
oder Herr Hirche, wenn Sie hier reden, müssen Sie immer
Menschen zitieren, die schon lange nicht mehr bei den
Grünen sind oder das Thema früher einmal ganz anders
betrachtet haben. Es tut mir Leid, aber Sie kommen immer mit Leuten, die schon lange draußen sind.
({12})
Das wäre etwa so, als wenn ich Rechtsradikalismus damit
beweisen würde, dass ich Republikaner zitiere, die mal
CDU-Mitglieder waren. Das ist doch absurd; das kann
man nicht machen. Aber so unfair und ungerechtfertigt argumentieren Sie. Damit liegen Sie, wie ich glaube, völlig
daneben.
Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren
von der CDU: Eine Partei, die es bis zum heutigen Tage
nicht geschafft hat, sich anständig von ihrem EhrenwortVorsitzenden zu distanzieren, sollte hier im Hause niemanden in Sachen Rechtsstaat belehren.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Max Straubinger.
({0})
Sowieso. - Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Pünktlich
nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und
Rheinland-Pfalz wird Ende März oder Anfang April aufgrund regierungsamtlicher Vereinbarungen zwischen
Bundeskanzler Schröder und dem französischen Ministerpräsidenten Jospin unter der rot-grünen Bundesregierung der erste Castortransport von La Hague nach Gorleben durchgeführt werden. Damit kommt - das begrüßen
wir - der Bundesumweltminister Trittin zu der überfälligen Einsicht, dass Transporte sicher getätigt werden können und dass die von grünen Aktivisten verbreiteten
Ängste über irrationale Risiken bei Castortransporten in
der Vergangenheit falsch waren.
Die Bundesregierung hat dies noch zusätzlich untermauert; denn in der heutigen Pressemitteilung kann man
lesen, dass zwischen 1998 und 2000 mehrere Transporte
von nuklearem Material zwischen Hanau und La Hague
getätigt wurden, dies der Öffentlichkeit aber nicht dargelegt wurde. Hier sieht man sehr deutlich, wie rot-grünes
Regierungshandeln in der Bundesrepublik letztendlich
funktioniert.
({0})
Aufgrund dieser Einsichten wäre eine Grundlage dafür
gelegt, ideologiefrei und offen über die Risiken und
Chancen der Kernenergie zu reden. Doch damit beginnt
das Problem mit den grünen Anhängern, die sich zu Recht
verschaukelt fühlen. Wenn jetzt richtigerweise Herr
Trittin, Herr Kuhn und Frau Müller an die grüne Parteibasis Aufrufe richten, von Blockaden des Transportes
abzusehen, und erklären, dass Demonstrationen eigentlich unnötig sind, begreift das die grüne alternative Anhängerschaft nicht. Sie fragt sich zu Recht, ob denn von
Rot-Grün genehmigte Transporte besser als die Transporte sind, die unter einer CDU/CSU-F.D.P.-Regierung
durchgeführt wurden.
({1})
Ich gebe Ihnen sofort die Antwort: Sie sind unter RotGrün nicht besser geworden. Die frühere Bundesumweltministerin Angela Merkel hat nämlich für die notwendigen Sicherheitsstandards gesorgt,
({2})
die darüber hinaus in den vergangenen zwei Jahren von
Rot-Grün nicht verbessert wurden.
({3})
Aber die grüne Parteibasis hat ein starkes Erinnerungsvermögen. Haben nicht Trittin, Fischer und die
Führung der grünen Partei in der Vergangenheit zu Demonstrationen aufgerufen, welche zum Teil sehr gewalttätig verlaufen sind? Wurde nicht aufgrund des Aufrufs
der ehemaligen Kollegin von Bündnis 90/Die Grünen
Elisabeth Altmann, sich am „lustigen Demontieren von
Schienen“ zu beteiligen, die Sicherheit der Transporte gefährdet und damit natürlich eine Grundlage für gewalttätige Ausschreitungen gelegt?
({4})
Der grünen Parteibasis wird immer mehr bewusst, dass sie
von Fischer und Trittin hintergangen wurde und weiterhin
wird und dass die Antiatombewegung von den beiden
Herren nur zur Erringung der Macht benutzt wurde.
Eine weitere Frage drängt sich mir angesichts der
Ankündigung von Blockaden und Demonstrationen auf,
und zwar inwieweit der zu Unrecht viel gelobte Atomkonsens vom 15. Juni 2000 trägt. Vollmundig hatte der
Bundeskanzler ausgeführt - ich zitiere mit der Genehmigung der Frau Präsidentin -:
Als in jener Nacht zum 15. Juni 2000 die Einigung
erzielt war und ein grüner Umweltminister und die
Chefs der Energiewirtschaft zugestimmt hatten, da
ging eine Epoche gesellschaftlichen Konfliktes zu
Ende.
Ich frage mich angesichts der Aufrufe zu Blockaden
und Demonstrationen: Wo ist denn der Konflikt beendet?
Hat nicht die rot-grüne Bundesregierung neue Konflikte
geschaffen, weil sie nicht bereit ist, die Entsorgungsfrage
zu lösen, sondern das Problem nur vor sich herschiebt,
Zwischenlager an Kernkraftwerksstandorten einrichtet,
die zu Endlagern werden, die Wiederaufbereitung von
Kernbrennstäben verhindern möchte, die sichersten Kernkraftwerke stilllegen will und bereit ist, aus dem Ausland
in unsicheren Reaktoren erzeugten Atomstrom zu importieren?
({5})
Das verstehen die Bürger nicht und die Steuerzahler haben kein Verständnis für die Blockaden und Demonstrationen, die die grüne Basis nur deshalb durchführen
möchte, um ihre Parteiklientel bei der Stange zu halten.
Der Steuerzahler und die Stromabnehmer sind nämlich die
Zahler dieser verfehlten rot-grünen Kernenergiepolitik.
Besten Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Monika Ganseforth.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ohne den Schluss Ihrer Ausführungen hätte ich Ihre Rede als flammende Lobesrede zur
Unterstützung einer Bürgerinitiative gegen die Atomenergie
aufgefasst. Insofern habe ich mich etwas gewundert.
Wir als rot-grüne Regierung sind angetreten, um den
Weg zu gehen, den die Mehrheit unserer Bevölkerung gehen möchte, nämlich die Nutzung der Atomkraft zur Energieerzeugung zu beenden und aus dem Betrieb der Atomkraftwerke auszusteigen.
({0})
Die Auffassung hierüber hat sich seit dem Regierungswechsel grundsätzlich geändert. Wir haben aber leider
noch mit den Altlasten zu tun, die Sie uns hinterlassen haben. Am schönsten fand ich in diesem Zusammenhang,
wie Herr Hirche über die Suppe gesprochen hat, die wir
nun auslöffeln müssten, die wir aber Ihnen zu verdanken
haben.
({1})
Wir stehen zu den notwendigen Konsequenzen und
werden die nationalen sowie internationalen Verträge einhalten. Außerdem tragen wir die Verantwortung für die
Suche nach einer nationalen Lösung für die Entsorgung
des deutschen Atommülls. Auch wenn die Lösung dieser
Frage in einem gewissen Widerspruch zu unserer Überzeugung, endlich mit der Nutzung der Atomenergie aufzuhören, steht, müssen wir diese Altlasten beseitigen.
Gegenüber den Transporten, die zu Ihrer Regierungszeit
stattgefunden haben, hat sich allerdings etwas geändert.
({2})
Wir haben die Rahmenbedingungen verändert: Wir haben
die Menge begrenzt - das bedeutet, dass ein Ende der
Transporte abzusehen ist - und wir tun alles, um die Zahl
der Transporte zu reduzieren. Wir wollen unnötige Transporte vermeiden. Unsere Maßnahmen zeigen auch bereits
Wirkung.
({3})
Ich will schließlich an die Schlampereien erinnern, die
es im Zusammenhang mit den Transporten in den letzten
Jahren Ihrer Regierung gegeben hat. Wir stellen heute
eine penible Einhaltung des Atomrechtes und des Verkehrsrechtes durch das Bundesamt für Strahlenschutz sicher, sodass gewährleistet ist, dass die Transporte, die
heute noch stattfinden müssen, nach geltendem Recht und
unter größter Sorgfalt durchgeführt werden.
Des Weiteren - das ist die allerwichtigste Botschaft,
die ich sowohl an die rechte Seite als auch an die Bürgerinitiativen richten muss - gilt: Wir machen aus diesen
Transporten keine Kraftprobe für einen ideologischen
Weiterbetrieb der Atomkraftwerke zur Energieerzeugung.
({4})
Insofern sind die Atomtransporte kein Symbol mehr für
eine ideologische Unterstützung einer falschen Energiepolitik. Das ist die Hauptbotschaft und darin besteht der
entscheidende Unterschied gegenüber Ihrer Regierungszeit. Deswegen benötigen die Bürgerinnen und Bürger
den Protest gegen diese Transporte nicht mehr als Symbol
eines Kampfes gegen die Atomenergie.
Trotzdem gibt es natürlich Menschen - Bürgerinnen
und Bürger in der Region -, die besorgt sind. Es ist ganz
selbstverständlich ein demokratisches Bürgerrecht, gegen
diese Transporte zu demonstrieren, wenn man davor Angst
hat. Wo sind wir denn? Es ist ein demokratisches Recht.
Dass wir immer wieder betonen müssen, dass solche Demonstrationen Gewaltfreiheit verlangen, ist allmählich
richtig ärgerlich. Sie verlangen in diesem Zusammenhang,
dass wir uns immer wieder zu Selbstverständlichkeiten bekennen.
({5})
Allerdings stellt sich die Frage, ob es klug ist, wenn
Mitglieder von Parteien gegen Maßnahmen einer Regierung, an der die eigene Partei beteiligt ist, demonstrieren.
Das ist eine andere Frage. Aber legitim ist das.
({6})
Zu den diesbezüglichen Zwischenrufen möchte ich sagen:
Ich erinnere mich, dass ich demonstriert habe, als Helmut
Schmidt regiert hat. Ich denke, es ist legitim, gegen Maßnahmen der eigenen Regierung zu demonstrieren. Wo
sind wir denn?
({7})
Ich bin allerdings sicher, dass sich die zukünftigen Demonstrationen nicht mehr in erster Linie wie zu Ihrer Zeit
gegen die Regierung, sondern gegen die Atomenergienutzung richten werden.
({8})
- Aber sicher! - Der Kampf der Menschen gegen die
Atomenergienutzung wird erst beendet sein, wenn das
letzte Atomkraftwerk vom Netz gegangen ist. Darauf warten wir und dafür kämpfen wir seit vielen Jahren.
({9})
Vielleicht haben Sie es vergessen: Im April vor 15 Jahren geschah die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Ich
erinnere mich noch sehr deutlich, dass es damals auch auf
der rechten Seite des Parlaments sehr nachdenkliche Töne
gab und auch viele von Ihnen davon überzeugt waren,
dass man von der Atomenergienutzung Abschied nehmen
müsse. Das hat sich inzwischen leider geändert. Es gab sicherlich auch Leute in Ihren Reihen, die schon als Atomenergielobbyisten auf die Welt gekommen sind.
({10})
Aber es gab auch einmal andere. Es ist schade, dass es diesen Konsens nicht mehr gibt; denn die Atomenergie ist risikoreich. Die Endlagerfrage ist national und international
nicht gelöst. Auch das Problem der Proliferation ist nicht
gelöst. Es gibt inzwischen viele Studien, in denen bewiesen wurde, dass man auf die Nutzung der Atomenergie
verzichten kann und eine nachhaltige und klimafreundliche Energiepolitik auch ohne Atomenergienutzung möglich ist. Wir sind auf dem Weg dahin.
Schönen Dank.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Gehb.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Ich muss mich schon wundern,
({0})
ausgerechnet aus dem Munde unseres Umweltministers
zu hören, dass die Ausübung des Demonstrationsrechts
davon abhängen soll, ob atomrechtliche Maßnahmen unter einer CDU/CSU/F.D.P.-Regierung oder unter einer
rot-grünen Regierung beschlossen worden sind. Herr
Trittin, zu dem Versuch, zwischen moralisch guten und
rechtmäßigen und weniger moralisch guten, illegitimen
oder, wie Frau Roth gesagt hat, sogar illegalen Genehmigungen und Transporten zu unterscheiden, möchte ich Ihnen etwas sagen: Sie haben heute zum wiederholten Male
unter Beweis gestellt, dass Sie als Minister nicht in der
Lage sind, einen Notenschlüssel von einem Paragraphenschlüssel zu unterscheiden.
({1})
Bei großem Bemühen gelingt Ihnen, Herr Trittin, vielleicht die Parallelwertung in der Laiensphäre. Das werde
ich Ihnen jetzt einmal klarmachen.
Sämtliche Transportgenehmigungen der letzten Jahre
sind auf der Rechtsgrundlage des Atomgesetzes in der
Fassung der Bekanntmachung vom 15. Juli 1985 erteilt
worden. Das gilt für die gestern und für die heute erteilten
Genehmigungen. Aber das wird auch für die morgen und
übermorgen erteilten Genehmigungen gelten. De lege lata
sind sämtliche Genehmigungen, ausschließlich auf dem
Atomgesetz beruhend, legal, legitim und rechtmäßig.
Selbst de lege ferenda - ich übersetze für Sie, Herr Trittin:
nach der künftigen Gesetzeslage -, wenn Sie den so genannten Atomkonsens parlamentarisch umgesetzt haben
und wenn das neue Atomgesetz, dessen Entwurf jetzt vorliegt, in Kraft ist - letztlich wollen wir Parlamentarier darüber befinden und nicht irgendwelche Gruppen, die zwischen den Energieversorgungsunternehmen und Regierungsmitgliedern stehen -, wird es weiterhin genehmigte
Transporte geben.
Herr August Fuhrmann, da Sie mich gerade so anschauen: Sie haben zwar nicht nur in Ihrer eigenen Fraktion, sondern auch außerhalb dieses Hauses den Ruf eines
„ausgewiesenen Atomrechtsexperten“. Aber als Sie in Ihrer Rede am 7. Dezember letzten Jahres - mit sicherem
Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit in der Sache - behauptet haben, dass es in Zukunft - außer bei völkerrechtlichen Verpflichtungen - keine Genehmigungen für
Castortransporte mehr geben werde, haben Sie damit Ihre
völlige Ahnungslosigkeit unter Beweis gestellt.
({2})
Sie haben uns darüber hinaus - das finde ich besonders
verwerflich, weil Sie gerade Sprache und Gewalttätigkeit
gerügt haben - Geheimniskrämerei bei den letzten Genehmigungen vorgeworfen. Wer sich wie ich fünf Jahre
lang am höchsten hessischen Gericht mit Atomrecht befasst hat, der weiß, dass es kein transparenteres, kein
mehrstufigeres und kein offeneres Verfahren gibt als bei
der Erteilung von atomrechtlichen Genehmigungen.
Uns haben Sie Geheimniskrämerei vorgeworfen - vielleicht sagt Herr Uldall nachher noch etwas dazu -; aber
bei Ihnen gab es ein paar Transporte, die jenseits aller Gesetzlichkeit geheim abgelaufen sein sollen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich verstehe gar nicht, was
Sie hier bei der Genehmigungspraxis ins Feld führen wollen. Frau Roth, Sie als designierte Vorsitzende einer Partei, die an der Regierung ist, haben davon geredet - Sie,
Herr Trittin, übrigens auch -, dass in der Vergangenheit
Atommüll verschoben worden sei. Sie haben es noch getoppt, indem Sie gesagt haben, dies sei illegitim. Dann
kam der Höhepunkt: Es sei auch illegal.
({4})
Nichts von alledem ist der Fall. Es waren alles legale
Transporte.
Sie wollen nur neben der Rechtsmäßigkeitsvoraussetzung einen neuen Parameter bilden und Moral zu der
Messlatte machen, an der sich Genehmigungen auszurichten haben. Wissen Sie, dazu, dass in den 70er-Jahren,
als unter der „Schreckensherrschaft“ der sozialdemokratischen Kanzler Brandt und Schmidt
({5})
Polizeihundertschaften durch die Straßen Frankfurts marodierten, um 25-jährige jugendliche Studierwillige, die
freilich kein Abitur hatten, am Besuch von Vorlesungen
zu hindern,
({6})
wird heute gesagt, es sei gerechtfertigt gewesen, sich gegen diese Polizisten mit Gewalt zur Wehr zu setzen.
({7})
Sie führen ganz neue Prüfungsmaßstäbe für die Erteilung
von Genehmigungen ein,
({8})
nämlich jenseits von Recht und Gesetz Moral und moralische Verpflichtung. Nicht nur, dass Sie diese Parameter
neu setzen, Sie füllen sie auch noch mit Inhalt aus. Das
heißt, dass nur Sie sagen dürfen, was moralisch verwerflich ist und was nicht.
({9})
Wer so mit dem Rechtsstaat umgeht und die Hysterie in
der Bevölkerung geradezu schürt, indem er sagt, Atommüll sei verschoben worden und dies sei illegitim und sogar illegal gewesen, hat es schlichtweg nicht verdient,
sich selbst „rechtsstaatlich“ zu nennen.
Wenn nun ausgerechnet Sie, Frau Müller - Sie sind gerade so schön in Ihre Unterlagen vertieft; eben hatten Sie
schon einmal einen puterroten Kopf - sich zum Sprachrohr derer machen, die wollen, dass nicht und schon gar
nicht gewalttätig demonstriert wird, dann kommt mir
das - mit Verlaub; im Moment ist Berlinale - so vor, als
wollte Dr. Hannibal Lecter Graf Dracula von seinen
nächtlichen Blutraubzügen ablenken.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske, dem ich vorab zu
seinem heutigen Geburtstag gratuliere.
({0})
Frau Präsidentin, schönen Dank für die Glückwünsche.
Das sollte mich eigentlich milde stimmen. Aber angesichts des Blödsinns, der hier erzählt worden ist - vor allen Dingen in der letzten Rede -, geht das leider nicht.
({0})
Ich will nur auf einige Argumente eingehen, die hier gebracht worden sind.
Ich beginne mit Ihnen, Herr Hirche. Sie haben sinngemäß gesagt, die Transporte seien in der Vergangenheit
unproblematisch gewesen, seien in der Gegenwart unproblematisch und würden auch in der Zukunft unproblematisch sein.
({1})
- Das ist ja noch schlimmer. Sie haben jedenfalls gesagt,
es gebe keinen Unterschied zwischen früher, jetzt und in
Zukunft. Das ist falsch. In der Zeit, als Ihre Transporte
stattgefunden haben, waren sie Teil einer unendlichen Geschichte. Seitdem wir an der Regierung sind, sind sie Teil
einer Abwicklungsgeschichte. Das ist ein fundamentaler
Unterschied.
({2})
Wir haben den Atomausstieg vereinbart und, wie Sie wissen, ein drei- bis zehnjähriges Erkundungsmoratorium in
Gorleben vereinbart. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied. Sie haben nichts dergleichen gemacht. Insofern
unterscheiden sich diese Transporte vom Prinzip her fundamental.
Zweiter Punkt: Herr Claus und Herr Gehb haben ausgeführt, bei den Dingen, die jetzt bekannt geworden seien,
handele es sich um Geheimtransporte. Es gibt kundigere
Leute als mich, die dazu sprechen können, zum Beispiel
der Minister selbst oder Vertreter seines Hauses. Die
Wahrheit ist, dass im Jahr etwa 350 vergleichbare Transporte stattfinden. Fakt ist auch, dass gerade diese Transporte Teil einer Abwicklungsgeschichte sind: Die MOXBrennelemente-Fabrik in Hanau ist geschlossen worden
und die Transporte, die daraus resultieren, sind 1996 Teil
eines Öffentlichkeitsbeteiligungsverfahrens gewesen.
Hier von Geheimtransporten zu reden ist schierer Blödsinn.
({3})
Der dritte Punkt betrifft die Glaubwürdigkeit der
CDU/CSU; dies liegt mir besonders am Herzen, Frau
Lengsfeld und Herr Gehb. Das Vorgehen der CDU/CSU
grenzt schon fast an Chuzpe. Man muss übrigens dazu gar
nicht auf die Insel Rügen gehen, Herr Minister, man kann
hier in Berlin bleiben. Vor wenigen Monaten haben am
Brandenburger Tor LKW-Fahrer Randale gemacht. Auch
das war eine vollkommen legitime Nutzung des Demonstrationsrechts; dieses Kronjuwel der Demokratie sollten
wir hüten und pflegen, das ist überhaupt keine Frage.
({4})
Als die Herrschaften dann aber in das Regierungsviertel,
in die so genannte Bannmeile - über deren Sinn kann man
unterschiedlicher Meinung sein - , eindrangen, haben sich
Abgeordnete aus den Reihen der CDU mit Ihnen gemein
gemacht und sich den Randalierern angeschlossen. Zu
dem, was aus Ihrem Munde hier vorgetragen wurde, sind
Sie nicht berufen.
({5})
Auf die Rede von Frau Lengsfeld, die sehr stark biografische Züge gehabt hat, will ich nicht weiter eingehen.
Ich möchte nur sagen: Der Hass, der darin zum Ausdruck
kam, entspricht doch nicht der Realität. Eine Gesellschaft
entwickelt sich dadurch weiter, dass es Konflikte gibt. Ihr
statisches Verständnis von der Gesellschaft ist vollkommen unrealistisch und muss hier insofern nicht weiter diskutiert werden.
Zu dem Punkt, an dem die Grünen angegriffen werden,
muss ich Ihnen sagen: Ich bin froh darüber und sogar ein
bisschen stolz darauf, dass wir uns mit dieser Sache
quälen; das kann gar nicht anders sein. Unsere Grundhaltung ist nämlich: Wir wollen so schnell wie möglich aus
der Atomenergie aussteigen; für uns sind die besten Transporte diejenigen, die gar nicht stattfinden müssen. Wir haben dem Atomkonsens auf unserem Parteitag - unter
Mühen - mit einer großen Mehrheit zugestimmt. Wir stehen zu dem Atomkonsens, auch zu den Teilen, die uns unangenehm sind. Dazu gehören zum Beispiel die notwendigen Rücktransporte aus La Hague und der Bau von
standortnahen Zwischenlagern, der vor Ort nicht gerade
Hallelujarufe auslöst.
({6})
Die CDU, die Atompartei schlechthin - Filbinger hat
vor 25 Jahren gesagt: „Wenn wir nicht noch mehr Atomkraftwerke bauen, dann gehen die Lichter aus.“ - organisiert jetzt den Protest vor Ort gegen die standortnahen
Zwischenlager. Das ist unglaubwürdig, heuchlerisch und
verlogen.
({7})
Als Abgeordneter aus Nordrhein-Westfalen möchte ich
zum Abschluss Folgendes sagen: Herr Laufs, Sie kommen
doch aus Baden-Württemberg. Es gibt Transporte, die den
Charakter einer politischen Provokation hätten. Der
Transport von Neckar-Westheim nach Ahaus in Nordrhein-Westfalen wäre eine solche politische Provokation
gewesen, die von der Sache her in gar keiner Weise notwendig gewesen wäre.
({8})
Ein Geschäft funktioniert nicht: Sie kassieren in BadenWürttemberg sozusagen die Gewerbesteuer für die Atomanlagen und wir in Nordrhein-Westfalen nehmen Ihren
Müll entgegen, wofür wir noch Danke schön sagen sollen.
So geht es nicht.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gunnar Uldall.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst wünsche ich
unserem Kollegen Loske alles Gute für das neue Lebensjahr. Vor allen Dingen wünsche ich Ihnen, Herr Loske,
sehr viel Weisheit, damit Sie die politischen Dinge immer
richtig einordnen können.
({0})
Über Jahre hinweg wurden die Demonstranten am
Rande der Castortransporte von den Grünen aufgehetzt.
Angeblich bestand eine Verstrahlungsgefahr. An den Castortransporten hat sich aber nichts geändert.
({1})
Minister Trittin hat eben gesagt, dass durch die Transporte
der nächsten Zeit keine Gefahr besteht. Wenn das so ist,
dann bestand auch bei den früheren Castortransporten
keine Gefahr. Das zeigt: Minister Trittin, Frau Müller und
alle anderen, die zu den Anführern der früheren Demonstrationen gegen die Castortransporte gehörten, sie sind als
Pharisäer entlarvt.
({2})
Offensichtlich gilt für die Grünen: Castortransporte
unter einer CDU-geführten Regierung sind schlecht, Castortransporte unter einer Regierung, an der die Grünen beteiligt sind, sind gut. So einfach kann man die Rechnung
aber nicht machen.
({3})
Zu Recht schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer
Ausgabe vom Dienstag, Herr Minister Trittin: „Die Castortransporte befördern nicht nur Müll, sondern auch Karrieren.“ Herr Minister Trittin, ich finde, das ist eine sehr
gute Beschreibung Ihrer politischen Karriere. Ich frage
mich: Würden Sie heute auf dieser Regierungsbank sitzen, wenn Sie damals gegen die Castortransporte nicht so
engagiert demonstriert hätten? Die Castortransporte befördern nicht nur Müll, sondern auch Karrieren.
({4})
Heute berichtet die „Berliner Zeitung“, dass der Herr
Minister Trittin heimlich acht Atomtransporte hat durchführen lassen.
({5})
Er hat damit die Bevölkerung und seine eigenen
Parteifreunde auf das Schlimmste hintergangen.
({6})
Die Transporte mögen gerade noch legal gewesen sein,
aber politisch, Herr Minister, haben Sie durch die Verheimlichung Ihre eigene Basis betrogen.
({7})
Ihre Fraktion und die Sozialdemokraten wurden von Ihnen hinters Licht geführt.
({8})
Man stelle sich einmal einen Moment lang vor, was
hier im Parlament und auf den Straßen in Deutschland los
gewesen wäre, wenn unter einer CDU/CSU/F.D.P.-Regierung insgeheim acht Transporte mit Atommüll durchgeführt worden wären,
({9})
Heute ist hier alles ganz ruhig. Die Grünen klatschen sogar noch Beifall, wenn der Minister hier spricht. Ich weiß
eigentlich nicht, worüber ich mehr den Kopf schütteln
soll: darüber, dass der Minister Trittin seine eigene Fraktion hinters Licht führt, oder darüber, dass die GrünenFraktion Trittin dafür nicht kritisiert. Ein solches Maß an
politischer Unterwürfigkeit habe ich bei einer anderen
Bundestagsfraktion noch nie erlebt.
({10})
Alles das wäre noch erträglich, wenn es nicht noch einen weiteren und sehr viel ernsteren Aspekt bei dieser
Angelegenheit gäbe: Über 25 Jahre haben Sie Ihre politischen Vorstellungen stets moralisch überhöht. Ihre politischen Ideen hielten Sie nicht nur für richtig - das muss
man als Politiker natürlich immer tun -, sondern Sie hielten Ihre Vorstellungen auch immer für moralisch so hoch
stehend, dass Sie für deren Umsetzung auch andere Mittel als die politische Überzeugungsarbeit als gerechtfertigt ansahen. Der politische Gegner wurde nicht nur mit
Worten bekämpft, der politische Gegner wurde verdammt. Das war zum Beispiel bei den Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss oder auch bei
den Demonstrationen gegen die Kernenergie der Fall.
Mit dieser moralischen Selbstüberhöhung haben Sie
die einfachen, gutgläubigen Demonstranten angetrieben,
sodass viele von ihnen glauben, dass Gewalt bei diesen
Demonstrationen auch heute gerechtfertigt sei.
({11})
Deswegen liegt bei Ihnen ganz persönlich, Herr Minister
Trittin, bei Ihnen ganz persönlich, Frau Müller, die politische Verantwortung dafür, wenn auf diesen Demonstrationen Gewalttätigkeiten vorkommen sollten.
({12})
Sie tragen dafür die Verantwortung, dass dieses vermieden wird.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Kubatschka.
Sehr geehrte Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Uldall, Sie unterstellen, die Grünen hätten den politischen Gegner verdammt.
({0})
Ihre Rede könnte man bestens dafür hernehmen, um zu
beweisen, wie Sie das machen. Wie die rechte Seite des
Hauses in letzter Zeit den politischen Gegner verdammt,
geht eigentlich nicht mehr auf die berühmte Kuhhaut. Permanent versuchen Sie das.
({1})
Eigentlich muss die Regierungsarbeit von Rot-Grün
sehr gut sein.
({2})
Anders lässt es sich nicht erklären, dass die CDU/CSU
verzweifelt nach Themen für eine Aktuelle Stunde sucht.
Heute setzen wir uns mit dem Thema „Haltung der Bundesregierung zu den von den grünen Aktivisten angekündigten Protesten bei Wiederaufnahme der Castortransporte“ auseinander. Erst heute früh haben Sie es etwas
abgemildert und sprechen jetzt von „grünen Kernkraftgegnern“. In ihrer Verzweiflung greift die CDU/CSUFraktion in innerparteiliche Vorgänge bei den Grünen ein.
Dieses Thema müssten eigentlich die Grünen in ihren Parteigremien diskutieren; es ist eigentlich überhaupt kein
Thema für den Deutschen Bundestag.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, hinter die Aussage,
ob dieser Protest vernünftig ist, setze ich ein Fragezeichen. Ich will es aber auch klar sagen: Der Protest ist legitim. In Art. 8 unseres Grundgesetzes heißt es:
Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu
versammeln.
Dies ist ein selbstverständliches Grundrecht. Aber entscheidend ist auch das Wort „friedlich“. Jede Gewalt wird
von uns Sozialdemokraten abgelehnt. Gleichwohl gibt es
immer wieder Versuche, Rot-Grün in die Nähe von Gewalt zu rücken. Dies geht bis hin zu Fälschungen in der
Zeitung mit den großen Buchstaben. Dies ist eine Strategie der CDU/CSU-Fraktion und der gesamten Partei, wie
sie hier schon öfter erlebt haben.
Um aber die SPD-Linie noch einmal klar zu formulieren: Wir lehnen Gewalt gegen Menschen und Sachen ab.
Am 17. April 1996 habe ich vor diesem Hohen Hause ausgeführt:
In unserem Rechtsstaat bleibt es jedem unbenommen, gegen Entscheidungen, die er für falsch oder
richtig hält, friedlich zu demonstrieren oder in anderer Weise friedlich vorzugehen. Wir fordern die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Demonstration
auf, sich nicht an gewalttätigen Aktionen zu beteiligen. Gewalt gegen Menschen und Sachen ist ein Irrweg. Gewalttätige Aktionen arbeiten den Befürwortern der Kernenergie in die Hände.
({4})
Der letzte Satz gilt immer noch. Im Rahmen der Aktuellen Stunde ist schon angesprochen worden, wie das damals dargestellt wurde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Castortransporte
sind nicht zu vermeiden. Die rot-grüne Koalition hat nach
Regierungsantritt Kriterien und Bedingungen genannt,
die erfüllt sein müssen, damit die Transporte wieder genehmigt werden können. Nachdem diese lange Liste abgearbeitet wurde, besteht ein Rechtsanspruch auf die
Transporte. Darauf habe ich bereits im November 1999 in
diesem Hohen Hause hingewiesen.
Durch die Transporte, die jetzt in der Diskussion sind,
sollen Glaskokillen aus der Wiederaufbereitungsanlage in
La Hague in das zentrale Zwischenlager Gorleben gebracht werden. Auch Frankreich hat einen Anspruch darauf, dass man die Glaskokillen abtransportiert.
Dazu hat sich die Bundesregierung in einer gemeinsamen Erklärung vom 6. Juli 1989 und in einem Briefwechsel zwischen der deutschen und der französischen
Regierung vom 25. April 1990 verpflichtet. Die jetzige
Regierung hat sich ebenfalls dieser Verpflichtung gestellt.
Wir müssen also abtransportieren, um die Verträge einzuhalten. Es ist nach wie vor eine Verpflichtung, eine nationale Lösung für die Endablagerung zu finden. Die Castortransporte sind nicht zu verhindern. Sie können aber
minimiert werden. Deswegen will die rot-grüne Koalition
dezentrale Zwischenlager schaffen. Damit werden sinnlose Castortransporte verhindert. Dadurch wird die Zahl
der Transporte minimiert. Nach Errichtung der dezentralen Zwischenlager sollen sie nur noch ein Drittel des jetzigen Umfangs betragen.
Um es aber noch einmal klarzustellen: Bei der Lagerung an den Kernkraftwerken darf es keine geringere Sicherheit geben als bei den zentralen Zwischenlagern.
Herr Hirche, noch einmal zu Ihrem Zwischenruf. Sie
haben von den gewalttätigen Siebzigern gesprochen. Ich
muss sagen: Sie hatten einmal einen Generalsekretär namens Flach. Ich glaube, der dreht sich im Grabe um, wenn
er solche Zwischenrufe hört. Sie sind wirklich zu einer
Partei verkommen, die Big Brother nützt und Fallschirm
springt. Das ist nicht die alte liberale Partei.
Ich danke fürs Zuhören.
({5})
- Nein.
({6})
Das Wort erhält
noch einmal der Herr Bundesminister Jürgen Trittin.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Erstens. Pro Jahr finden in der Bundesrepublik Deutschland ungefähr 45 000 Transporte radioaktiver Stoffe statt.
Zweitens. Die Stoffe, um die es hier geht, sind Brennelemente. Von dieser Kategorie finden pro Jahr - jedenfalls über den Daumen; ich habe aber auch die genauen
Zahlen für den Fall hier, dass Sie sie haben wollen 350 Transporte statt. Mich wundert schon, dass Parlamentarier, die schon eine geraume Zeit im Geschäft sind,
angesichts dieser Tatsache behaupten, sie hätten von
nichts gewusst.
Man kann von diesen acht Transporten in keiner Weise
behaupten, dass sie geheim stattgefunden hätten. Die ersten vier dieser Transporte wurden im September 1998 und
die nächsten vier Transporte im August 2000 genehmigt.
Diese Genehmigungen waren zuvor Gegenstand eines
öffentlichen Anhörungsverfahrens im Zusammenhang
mit der Stilllegung der Anlage in Hanau. Im Rahmen dieses Anhörungsverfahrens ist darüber debattiert worden,
was mit dem Müll und mit den Kernbrennstoffen, die sich
noch in dieser Anlage - beruhend auf der Stilllegung dieser Anlage - befanden, zu passieren habe.
Ergebnis des öffentlichen Anhörungsverfahrens ist gewesen, dass die einzige Möglichkeit der Entsorgung dieser Kernbrennstoffe der Transport zur Wiederaufbereitungsanlage in La Hague war. Was ist daran geheim? Die
„Berliner Zeitung“ hat versucht, ihre mangelnde Recherchefähigkeit dadurch zu verdecken, indem sie von Geheimtransporten spricht, obwohl sie Gegenstand von öffentlichen Anhörungen gewesen sind.
({0})
- Ich weiß nicht, wie Sie Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof werden konnten.
({1})
Angesichts Ihrer Beiträge komme ich ins Grübeln. Dieses
Verfahren hat übrigens in Hessen stattgefunden. Vielleicht beschäftigen Sie sich einmal damit, Herr Kollege.
Ich lege ausdrücklich Wert auf die Feststellung, dass es
seit 1998, also seit dem Verhängen des Transportstopps,
keine Castortransporte nach Frankreich mehr gegeben
hat. Diese Transporte hat es nicht etwa deswegen nicht
gegeben, weil eine hysterische Öffentlichkeit - Sie haben
versucht, es so darzustellen - suggeriert hat, diese Transporte seien gefährlich. Diese Transporte haben vielmehr
deswegen nicht mehr stattgefunden, weil die damalige
Umweltministerin Merkel - sie hat jetzt in ihrer Partei
eine bestimmte Funktion - gezwungen war, sie zu stoppen. Warum war sie dazu gezwungen? - Weil die Betreiber von Atomtransporten zehn Jahre lang nicht gemeldet
haben, dass bei diesen Transporten die international gültigen Grenzwerte nicht nur nicht eingehalten, sondern um
das Hundertfache und in einigen Fällen sogar um das Tausendfache überschritten worden sind. Das ist der Grund,
warum Frau Merkel völlig zu Recht diese Transporte gestoppt hat.
({2})
Wenn Sie versuchen, diese richtige Entscheidung - sie
ist eine der wenigen richtigen atompolitischen Entscheidungen von Frau Merkel - in Zusammenhang mit angeblich hysterischem Gerede aus der Richtung der Grünen
und der SPD zu bringen, dann verkennen Sie schlicht und
ergreifend einen einfachen Umstand: Eine Atomaufsicht
kann nicht tolerieren, dass bei Transporten Grenzwertüberschreitungen in dieser Höhe vorkommen. Wir haben
es hier nicht mit dem Betrieb einer Pommesbude zu tun.
Das ist der Grund, warum die Transporte gestoppt worden
sind und warum wir mit neuen Auflagen sicherstellen,
dass es nicht wieder zu diesen Grenzwertüberschreitungen kommt. Das ist der Unterschied zwischen der heutigen Praxis und der Praxis vor zehn Jahren.
({3})
Der Herr Bundesminister Trittin hat nach Ablauf der vorgesehenen
Dauer der Aussprache gesprochen. Da, wie nach unseren
Regeln vorgesehen, eine fünfminütige Antwort innerhalb
der Dauer der Aussprache nicht mehr möglich ist, eröffne
ich auf Verlangen der CDU/CSU eine weitere Ausspracherunde. Jede Fraktion kann sich daran mit einem fünfminütigen Redebeitrag beteiligen.
Zunächst erteile ich dem Abgeordneten Uldall das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so
aufregen, Herr Kollege Trittin.
({0})
Wenn das Verfahren in Ordnung und jedermann bekannt gewesen ist: Warum echauffieren Sie sich dann am
Rednerpult? Es kommt außerordentlich selten vor, dass
eine Aussprache im Rahmen einer Aktuellen Stunde vom
Minister noch einmal eröffnet wird, weil er ein bestimmtes Thema in der vorgesehenen Debattenzeit nicht angesprochen hat.
({1})
Wenn Sie dieses Thema ganz bewusst nicht angesprochen haben, obwohl es heute in einer Vielzahl von Agenturmeldungen abgehandelt wurde, obwohl Rundfunkmeldungen dazu gelaufen sind und die „Berliner Zeitung“
einen großen Bericht geschrieben hat, dann zeigt das
doch, Herr Minister Trittin, dass Sie in dieser Frage ein
außerordentlich schlechtes Gewissen haben.
({2})
Wir haben mit Ihnen hier ja schon viele Debatten geführt.
Aber dass Sie einmal schlichtweg etwas vergessen hätten,
war nie der Fall. Sie haben dieses Thema ganz bewusst
ausgeklammert.
Wenn Sie nun sagen, es sei für Sie völlig unverständlich, warum dieses Thema in der Öffentlichkeit zu einer
solchen Erregung führe, dann will ich nur an das erinnern,
was der Kollege Michael Müller von der SPD hierzu gesagt hat.
({3})
- Der Kollege Michael Müller fehlt natürlich, weil ihm
diese ganze Geschichte außerordentlich peinlich ist. Das
kann ich auch verstehen.
({4})
Der Kollege Müller hat - obwohl Sie gemeint haben,
das hätte eigentlich jeder wissen müssen - gesagt: Ich
habe von diesen Transporten nichts gewusst, das ist eine
Unverschämtheit. - Recht hat Herr Müller, kann ich nur
sagen.
({5})
Wenn Sie sagen, dass das Ganze eigentlich völlig in
Ordnung gewesen sei, dann kann ich nur wiederholen,
was ich schon vorhin ausgeführt habe:
({6})
Es ist beschämend, dass sich die grüne Fraktion von ihrem
Minister so abbürsten lässt.
({7})
Der Einzige, der hier wenigstens etwas Flagge gezeigt
hat, war der Vertreter von der Sozialdemokratischen Partei. Es wäre gut, wenn Frau Müller gleich noch einmal
nach vorne gehen würde und genauso mannhaft und klar
wie ihr Namenskollege aus der SPD dieses von Trittin
verschwiegene, verheimlichte Transportieren von Atommüll durch Deutschland verurteilen würde.
({8})
Es handelt sich hier nicht um eine vernachlässigbare
Größenordnung, - überhaupt nicht, Herr Trittin. Das lässt
sich nicht einfach vom Tisch wischen. Wir haben ja von
Herrn Trittin schon gehört, dass es in den Jahren 1998 und
2000 Fuhren gab. Die ersten Transporte wurden also
durchgeführt, sofort nachdem Herr Trittin Umweltminister geworden war und wenige Monate nachdem Frau
Merkel einen allgemeinen Transportstopp ausgesprochen
hatte. Jeder politisch denkende Umweltpolitiker wusste
doch, dass damit im Grunde genommen jegliche Art von
Transporten gestoppt werden sollte. Aber Sie, Herr
Trittin, als grüner Umweltminister haben dann sofort
dafür gesorgt, dass diese Transporte wieder durchgeführt
wurden.
Bei der zweiten Runde im letzten Jahr handelte es sich
um Transporte von insgesamt 3 927 Kilogramm Uran und
154 Kilogramm Plutonium. Ich kann nur sagen: Dies ist
der Rohstoff, aus dem man auch Bomben bauen kann.
({9})
Wie ist eigentlich gesichert worden, dass hieraus keine
Bomben gebaut werden und dass nichts irgendwie abhanden kommt?
Dies ist ein großer Skandal. Durch den zweiten Auftritt
von Herrn Minister Trittin hat dieser Skandal erst seine eigentliche Dimension erfahren. Deswegen ist es richtig,
dass wir zu dieser Sache noch einmal das Wort bekommen
haben.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Herr Kollege Kubatschka.
Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch wenn Sie noch so lautstark sind, Herr
Uldall: So schnell wird kein Skandal daraus.
({0})
- Das wollen wir erst einmal prüfen.
({1})
Ich meine, wir sollten uns im Umweltausschuss einen
Bericht dazu anhören und darüber sprechen. Sie reagieren
auf Pressemeldungen und sagen, sie seien wahr.
({2})
- Ich habe ja nicht die Existenz der Transporte geleugnet.
Ich denke auch, wir müssen über diese Meinung von
Herrn Trittin sprechen.
({3})
Aber nach meiner Auffassung ist der Umweltausschuss
der Ort, wo das erörtert werden sollte.
({4})
Ich möchte das nicht aus der Hüfte heraus im Schnellschuss beurteilen, denn ich möchte zu vernünftigen Aussagen kommen.
Ich wurde gerade von n-tv zu einem Interview über die
Castortransporte gebeten. Als mir der Journalist die Fragen stellte, fiel mir auf, dass er von etwas ganz anderem
spricht. Ich hatte angenommen, es gehe um die Castortransporte, die Thema dieser Aktuellen Stunde sind. Er
aber wollte über die so genannten Geheimtransporte sprechen.
Es gab diese Geheimtransporte nicht. Minister Trittin
hat klargelegt, dass es natürlich Transporte gegeben hat.
Wegen dieser Transporte sollten Sie dem Minister kein
schlechtes Gewissen einreden.
({5})
Sie versuchen einen Skandal herbeizureden, der so nicht
stattgefunden hat.
({6})
- Frau Präsidentin, ich weiß nicht, ob Zwischenfragen
zulässig sind.
Nein. Wir befinden uns immer noch in der Aktuellen Stunde.
Dies geht also leider nicht.
So müssen die Kollegen von der CDU/CSU weiter randalieren und können sich nicht artikulieren und mir damit
nicht die Möglichkeit geben zu antworten.
Diese Geheimtransporte - sie würden in Ihr politisches
Kalkül passen - haben so nicht stattgefunden. Aufgrund
meiner Informationen gehe ich davon aus, dass diese
Transporte selbstverständlich unter höchster Bewachung
durchgeführt wurden, wenn dabei Plutonium im Spiel
war. Dann besteht schon die Gefahr, dass etwas passiert.
Meine Damen und Herren, im Grunde genommen baden wir aus, was Sie uns bis 1995 eingebrockt haben.
({0})
Bis 1995 wurde überlegt, in Hanau eine Atomfabrik zu
bauen. Sie ist dann Gott sei Dank nicht gebaut worden.
Das dafür notwendige Atommaterial existiert und muss
abtransportiert werden.
({1})
Ich halte es für vernünftig, es nach La Hague zu transportieren, weil das meiner Meinung nach eine vernünftigere
Lösung ist, als das Material weiter in Hanau zwischenzulagern. In La Hague wird es, wenn dazu die Genehmigung
erteilt wird, zu MOX-Brennelementen aufgearbeitet werden.
Diese Angelegenheit hat also nichts mit den Castortransporten zu tun, über die hier zunächst diskutiert worden ist. Das ist ein ganz anderes Thema. Wenn dieses
Atommaterial in Castorbehältern transportiert und das
Verbot, das Ihre Ministerin ausgesprochen hat, umgangen
worden wäre, dann wäre dies für mich ein Skandal. Aber
dies hat so nicht stattgefunden.
Dadurch, dass Sie es behaupten, wird es nicht wahrer.
Das ist das Entscheidende bei dieser Sache. Wir werden
im Umweltausschuss prüfen, ob der Transport nach La
Hague eine vernünftige Lösung ist. Ich glaube, das, was
Sie hier vorbringen, ist ein Schnellschuss und bringt uns
nicht weiter.
Ich danke Ihnen für Ihr Zuhören.
({2})
Das Wort hat
jetzt noch einmal der Abgeordnete Walter Hirche.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Wirklichkeit geht es hier darum, dass
ein Fall von Doppelmoral offenkundig geworden ist.
({0})
Herr Minister Trittin, ich halte Ihre Sachdarstellung - der
Ausschuss wird sie prüfen - für durchaus nachvollziehbar. Aber Herr Uldall hat es auf den Punkt gebracht: Wenn
eine andere Regierung in dieser Art und Weise solche
Transporte durchgeführt hätte, hätten Grün und Rot die
halbe Republik mobilisiert
({1})
und beispielsweise gesagt: Verstoß gegen Recht und Gesetz, die Atommafia ist am Werke, da soll etwas verschoben werden - um mit Trittins Worten zu sprechen.
Der Hauptpunkt in dieser Geschichte ist, dass der Versuch gemacht wird, mit zweierlei Maßstäben zu arbeiten,
({2})
und zwar je nachdem, ob Rot-Grün es tut oder ob es die
alte Regierung getan hat.
({3})
Das ist die Verbindung zum ersten Thema dieser Aktuellen Stunde.
({4})
Ich habe hier gesagt - dabei bleibe ich; Herr Kollege
Loske, Sie haben das dankenswerterweise aufgegriffen -,
dass die Transporte, die unter der CDU/CSU-F.D.P.-Regierung durchgeführt wurden, ungefährlich und sicher
waren und dass auch die neuen Transporte sicher sind.
Daraufhin haben Sie gesagt, ob die Transporte sicher
sind, sei letztlich überhaupt nicht der Punkt. Früher haben
Sie aber die Leute mobilisiert
({5})
und gesagt: Die Polizeibeamten, die sich in der Nähe dieser Castorbehälter bewegen, werden alle impotent; man
fällt um, wenn man sich zu lange in deren Nähe aufhält.
Es wundert mich immer, dass die Leute dann direkt vor
Ort demonstrieren. Das waren Ihre Vokabeln. Sie haben
gesagt, das sei das Schlimme; deswegen dürften solche
Transporte nicht stattfinden. Ich habe dagegen gesagt: Die
alten Transporte waren genauso sicher, wie die neuen es
sind. Es sind zusätzliche Auflagen in einzelnen Punkten,
an denen man Schwächen erkannt hat, gemacht worden.
Das ist das klassische deutsche Verwaltungshandeln.
Jetzt kommen wir an einen interessanten Punkt. Sie sagen: Gegen die neuen Transporte haben wir nichts, weil
der Zweck ein anderer ist.
({6})
Denn Sie bringen dies in Verbindung mit Ihrem Plan, aus
der Kernenergie auszusteigen. Damit führen Sie etwas
Neues in das deutsche Rechtsverständnis ein. Es geht
nicht mehr darum, einen Sachverhalt zu beurteilen und zu
prüfen: ob ein Transport sicher ist oder nicht. Weil ein
Zweck für richtig gehalten wird, ist vielmehr plötzlich der
gleiche Sachverhalt heute in Ordnung, während er früher
nicht in Ordnung war.
({7})
Meine Damen und Herren, das ist die eigentliche
Frage, mit der wir uns auseinander setzen müssen, und das
zeigt auch die Linie zu dem auf, was sich Anfang der
70er-Jahre an den Hochschulen abgespielt hat, Herr
Kubatschka. Ich hatte dies bereits angesprochen. Einige
glaubten, nachdem sie definiert hätten, was für sie selber
das Richtige ist, sagen zu können
({8})
- Selbstgerechtigkeit, sage ich zunächst einmal -, ob eine
Sache richtig oder falsch ist.
({9})
Wir haben aber unseren Rechtsstaat errichtet, damit unabhängig von den Zwecken und den Meinungen der Leute
objektiv Recht gesprochen wird. Dagegen verstoßen Sie
an dieser Stelle fundamental.
({10})
Das wäre ein Staat, wie ich ihn in Deutschland nicht haben will.
({11})
Ich will einen Staat haben, bei dem der Buchstabe des Gesetzes gilt, unabhängig von dem Zweck, für den etwas gemacht wird. Insoweit unterscheiden sich unsere Beweggründe fundamental.
({12})
Herr Kubatschka, ich habe in diesem Zusammenhang
im Übrigen nicht pauschal von den 70ern gesprochen.
({13})
Wenn Sie das so aufgefasst haben, tut mir das Leid. Dann
nehme ich das zurück. Ich habe gesagt: Es gibt einen Unterschied zwischen den 68ern und dem, was sich bei den
70ern an Gewalttätigkeit abgespielt hat. Das wird ja auch
in der Presse breit diskutiert. Da sage ich: Ein Bindeglied
- darüber werden wir noch diskutieren müssen - ist der
berühmte Chefberater Herrn Fischers, Herr Schmierer,
({14})
der damals, 1970, den Psychoterror an der Universität
Heidelberg organisiert hat und unter dem ich und viele
andere gelitten haben. Ich nehme nicht hin, dass das Recht
noch einmal für Zwecke instrumentalisiert wird, dass
unterschieden wird, ob etwas gut oder böse ist. Recht gilt
für alle, unabhängig vom Zweck.
({15})
Das Wort hat
noch einmal der Abgeordnete Reinhard Loske.
({0})
Herr Hirche, wir wollen einmal ein wenig mehr Ruhe in
die Debatte hineinbringen. Den Pappkameraden, den Sie
hier aufbauen, gibt es in dieser Form überhaupt nicht.
Jetzt zu Ihren Argumenten, und zwar zunächst nur zu
den Tatsachen, soweit ich sie aus dem Stand beurteilen
kann. Es ist vollkommen richtig, dass wir nicht alle Details ständig parat haben -, auch als Abgeordnete nicht.
Erstens, zu den Transporten: Ich habe mich noch einmal vergewissert. Es geht um zwei Chargen à vier Transporte. Die Transporte aus dem Jahre 1998 sind am
18. September 1998 von der Umweltministerin Merkel
genehmigt worden.
({0})
Zu diesem Zeitpunkt war Walter Hirche von der F.D.P.
Parlamentarischer Staatssekretär. Er tut jetzt so, als wenn
er von Tuten und Blasen keine Ahnung hätte.
({1})
Herr Hirche, Sie wissen, dass ich Sie als Kollegen schätze.
Aber das nenne ich absolut scheinheilig.
({2})
Zweiter Punkt. Hier werden systematisch und vorsätzlich die Castortransporte auf der einen Seite und auf der
anderen Seite die notwendigen Transporte, die aufgrund
der Abwicklung, Schließung, Stilllegung und Dekontamination der Anlagen von Alkem und Nukem in Hanau notwendig geworden sind, vermischt. Das sind zwei äußerst
unterschiedliche Dinge.
({3})
Ich möchte Sie wirklich bitten, diese Dinge auseinander
zu halten.
Hier ist viel über Juristerei geredet worden. Frau
Merkel hat sich geärgert, weil sie jahrelang von der Atomindustrie nach Strich und Faden belogen worden ist. Deshalb hat sie politischen Druck ausgeübt. Dieser Druck hat
dazu geführt, dass die Atomkraftwerksbetreiber von den
erteilten Genehmigungen keinen Gebrauch gemacht haben. Das war der Stand der Dinge. Sie dürfen hier nicht alles miteinander vermischen.
Bei dem dritten Punkt, den ich noch ansprechen
möchte, geht es um die Frage, wie sich das in der Praxis
verhält. Darüber können wir im Detail noch einmal im
Umweltausschuss reden, wobei mir der Fall allerdings relativ klar zu sein scheint. Hier hat eine Information der
Öffentlichkeit durch die hessische Landesregierung stattgefunden. Diese Information war umfassend. Klar war
nämlich, dass viele öffentliche Belange berührt sind,
wenn eine solche Anlage wie in Hanau abgebaut wird.
Das muss man umfassend besprechen. Das ist geschehen.
Insofern besteht kein Grund, von Geheimaktionen zu
sprechen. Das ist absoluter Blödsinn.
({4})
Sprechen kann man sicherlich noch einmal über die
Frage, ob dann, wenn das Bundesamt für Strahlenschutz
als Genehmigungsbehörde ein bestimmtes Zeitfenster für
die Transporte angibt, auch der Tag genau genannt wird.
Ob das bei 350 Transporten im Jahr sinnvoll und für die
Öffentlichkeit wirklich erforderlich ist, kann man in Ruhe
besprechen.
Ich möchte Sie aber bitten, nicht Äpfel mit Birnen zu
vergleichen und nicht eine Debatte aufzuziehen, Herr
Hirche, die sozusagen den Charakter eines Popanzes hat.
Jürgen Trittin vertritt - das gilt für ihn in ganz besonderer
Weise, völlig unabhängig davon, welche politischen Vorbehalte Sie ihm gegenüber haben, - in dieser Frage eine
150-prozentig klare rechtsstaatliche Position, die ihm im
Übrigen auch viel Ärger einbringt. Das nötigt mir durchaus Respekt ab. Von daher sollten Sie keine Zwischentöne
in die Diskussion bringen, die so nicht gerechtfertigt sind.
({5})
Das Wort hat die
Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe das Gefühl,
dass diese Debatte scheinheilig geführt wird, und zwar auf
allen Seiten.
({0})
Ich beginne einmal mit Frau Lengsfeld und Herrn Gehb.
Aus den Reden hat der Hass gegenüber Demonstrantinnen und Demonstranten nur so getrieft. Frau Lengsfeld ist
leider schon weg. Offensichtlich hatte sie keine Zeit mehr.
Scheinheiligkeit der CSU: In Bayern sind Sie gegen
Zwischenlager, in einem Land, in dem die Atomkraft absolut befürwortet wird. Vielleicht werden Herr Stoiber
und ich gemeinsam gegen Zwischenlager demonstrieren
müssen. Sie wollen aber die Atomkraftwerke weiterbetreiben. Sie wollen keinen Atomkonsens. Sie wollen überhaupt nichts.
({1})
Gute und schlechte AKWs: Die CSU spricht sich in Bayern bei Bürgerinitiativen gegen Temelin aus.
({2})
In Passau ist das alles bekannt. Gleichzeitig werden von
der Bayerischen Staatsregierung Kredite für den Bau von
Temelin vergeben. Die CSU lehnt es im Bayerischen
Landtag natürlich ab, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.
Ein Stadtrat in Passau fordert die Bürger auf, von ihrem
Versorgungsvertrag mit Eon zurückzutreten, damit kein
Strom von diesem schmutzigen Atomkraftwerk bezogen
wird.
({3})
Dieser Mann soll entlassen werden. Das ist Scheinheiligkeit hoch drei. Irgendwann muss man sich entscheiden.
Sie tun das aber nicht.
SPD und Atomkonsens: Die Laufzeit der AKWs soll
noch 32 Jahre betragen. Schacht Konrad soll genehmigt
werden.
({4})
Zwischenlager sollen genehmigt werden. In der Genehmigung von Gundremmingen steht eine Laufzeit bis
2046. Das ist ein bisschen länger als ein paar Jahre. Die
Wiederaufbereitung soll bis 2005 genehmigt werden.
Über die atomare Verstrahlung der Meere spricht niemand, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen.
Meine Kollegin Ursula Schönberger stand hier mit mir.
Wir haben über diese Themen diskutiert. Damals klang
das noch ganz anders; AKWs und Transporte galten als
schädlich. Jetzt sind sie plötzlich nicht mehr schädlich.
Das müsst ihr uns einmal erklären.
({5})
Warum sich die CSU und die F.D.P. aufregen, verstehe
ich nicht. Sie wollen doch die Atomkraft noch viel länger
nutzen.
Die Bundesregierung garantiert im Zusammenhang
mit dem so genannten Atomkonsens den ungestörten Betrieb. Wie die Anti-AKW-Bewegung kann auch ich nur
sagen: Konsens ist Nonsens. Denn nach wie vor wird kein
einziges AKW abgeschaltet. Wir werden sehen, wann
überhaupt eins abgeschaltet wird.
({6})
Im Grunde gibt es eine Atomverstromungsgarantie, das
heißt, die Atomkonzerne werden weiter Profite machen.
Sie haben jetzt auch noch die Garantie durch die rot-grüne
Regierung. Danke.
({7})
Die Leute in Gorleben haben das Recht zu demonstrieren. Es geht darum, dass sie den Atomausstieg wollen,
und zwar nicht in 10 oder 20 Jahren, sondern jetzt. Dahinter steht die PDS. Wir werden den Protest unterstützen.
({8})
Was Sie von der rechten Seite hier betreiben, ist Hetze.
Diese Hetze haben wir schon ein paarmal erlebt. Demjenigen, der sagt, das ist die Ecke der Buback-Mörder, kann
ich nur sagen, dass ich in München bei einer Demo gegen
die NPD war und uns die NPD entgegengerufen hat: „Ihr
Buback-Mörder“. Wenn Sie sich auf diese Ebene begeben
wollen, täte mir das wirklich Leid.
({9})
Bezüglich der geheimen Transporte bin ich der Meinung: Aufklärung muss natürlich sein. Im September
1998 war Herr Hirche noch Staatssekretär; da gab es die
neue Regierung noch nicht. Wir wollen Aufklärung. Für
mich ist eines ganz klar: Wenn es heißt, alle Transporte
werden nicht genehmigt, dann meine ich auch alle, dann
sollte auch die Bundesregierung, egal welche, alle Transporte meinen. Hier ist Aufklärung nötig. Natürlich ist klar
- Sie haben Recht, Herr Hirche -: Was hätte die grüne Partei gesagt, wenn Sie das damals gemacht hätten?
({10})
- Sie haben es gemacht, das ist das Schlimme. Wo ist der
Unterschied?
({11})
Ich meine, hier muss es einen Unterschied geben.
Ich wünsche mir, dass trotz der geänderten Haltung der
Grünen möglichst viele Menschen in Gorleben demonstrieren; denn die AKW-Bewegung hat sich inzwischen
emanzipiert, sie braucht keine Parteien mehr. Es wird eine
gute außerparlamentarische Opposition.
({12})
- Vielleicht braucht sie uns nicht, aber wir unterstützen
sie, ohne sie parteilich vereinnahmen zu können oder zu
wollen. Das ist eine wichtige Sache.
Ich denke, die Proteste werden sehr stark werden. Ich
wünsche den Leuten dort viel Erfolg.
({13})
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung futtermittelrechtlicher, tierkörperbeseitigungsrechtlicher und tierseuchenrechtlicher
Vorschriften im Zusammenhang mit der BSEBekämpfung ({0})
- Drucksache 14/5219 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
({2})
- Drucksache 14/5332 Berichterstattung:
Abgeordneter Helmut Lamp
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Matthias Weisheit.
Frau Präsidentin! Geschätzte
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetz zur Änderung
futtermittelrechtlicher, tierkörperbeseitigungsrechtlicher
und tierseuchenrechtlicher Vorschriften im Zusammenhang
mit der BSE-Bekämpfung stellen die Koalitionsfraktionen
von SPD und Grünen und die Bundesregierung erneut unter
Beweis, wie ernst sie diese Aufgabe nehmen und dass sie
durch schnelles und konsequentes Handeln das Vertrauen
der Verbraucherinnen und Verbraucher in unsere heimischen Nahrungsmittel wiedergewinnen wollen.
({0})
Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Oppositionsfraktionen und den Bundesländern dafür, dass sie auf die
üblichen Fristen bei der parlamentarischen Beratung verzichten und so eine Verabschiedung dieses Gesetzes innerhalb einer guten Woche ermöglichen.
({1})
So werden unnötige Verzögerungen bei der BSEBekämpfung vermieden.
Dieses Gesetz enthält eine Reihe von Verordnungsermächtigungen, die notwendig sind, um die Vorschriften
der einschlägigen Gesetze im Zusammenhang mit der
BSE-Bekämpfung neuen Entwicklungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen jeweils aktuell anpassen zu
können. Die im Ausschuss vorgetragenen grundsätzlichen
Bedenken des Kollegen Heinrich gegen diese Verordnungsermächtigungen - er wird sie hier sicherlich wiederholen - sind nicht tragfähig. Ich will das am Beispiel
der derzeit verfügten Bestandskeulung von Rinderherden, in denen ein BSE-Fall aufgetreten ist, verdeutlichen.
Nach gegenwärtigem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse bleibt unter dem Primat des vorsorgenden Verbraucherschutzes keine andere Möglichkeit, als die gesamte Herde zu schlachten. Diese Anordnung fällt mit
Sicherheit keinem von uns leicht; dessen können Sie sicher sein.
Gibt es aber Fortschritte, neue wissenschaftliche Bewertungen, können sie durch Verordnung, so wie wir es
vorgesehen haben, sofort umgesetzt werden, ohne dass es
eines - wie wir alle wissen - langwierigen Gesetzgebungsverfahrens bedarf. Der Umgang mit Beständen,
in denen BSE aufgetreten ist, kann in Zukunft flexibel den
jeweiligen Erkenntnissen entsprechend gehandhabt werden. Auch die Sorge, wir Parlamentarier würden in dem
Fall außen vor bleiben, ist angesichts der bisher geübten
Praxis der Bundesregierung nicht begründet, und daran
wird sich speziell im Zusammenhang mit der BSEBekämpfung nichts ändern.
({2})
Besonders froh bin ich darüber, dass unser aller
Wunsch, eine Sonderregelung im Milchquotenregime für
von BSE betroffene Betriebe zu treffen, mit diesem Gesetz erfüllt wird. Die betroffenen Betriebe können ihre
Milchquote maximal zwei Jahre, bis ihre Herde wieder
aufgebaut ist, ganz oder teilweise verleasen. So wird der
wirtschaftliche Schaden durch das Auftreten von BSE in
einem Betrieb in Grenzen gehalten.
({3})
Ein Ansatz, der die Entschädigung unbilliger Härten
durch Maßnahmen zur BSE-Bekämpfung geregelt hätte,
musste zu unserem Bedauern aus dem Entwurf gestrichen
werden, um die rasche Zustimmung des Bundesrates zum
Rest des Gesetzes zu ermöglichen.
An die Adresse aller Länder - hierbei spielt die Farbe
überhaupt keine Rolle - richte ich den dringenden Appell,
sich sehr schnell mit der Bundesregierung über eine Aufteilung der Kosten im Zusammenhang mit der BSE-Bekämpfung zu einigen. Es kann nicht angehen, dass die
Bundesländer, die unter anderem für die Kontrolle von
Futtermitteln verantwortlich sind und die einen großen
Teil der Verantwortung dafür tragen, dass es in der Vergangenheit in diesem Sektor nicht immer nach Recht und
Gesetz zugegangen ist, die finanziellen Lasten jetzt auf
den Bund allein abschieben wollen. Auf diese Art und
Weise wird das föderale System leichtfertig in Misskredit
gebracht. Die Leidtragenden sind die betroffenen Unternehmen und die Bauern. Deshalb noch einmal mein Appell: Einigen Sie sich - auf der Bundesratsbank sitzt
natürlich niemand - möglichst schnell mit der Bundesregierung auf eine Regelung für die Entschädigung.
({4})
Eine letzte Anmerkung zu den Vorschlägen Kommissar Fischlers zur weiteren Begrenzung der Überschüsse.
Eine 90-Tier-Obergrenze für Rinderprämien lehnen wir
ebenso ab wie weitere Tötungsaktionen über die beschlossene Zahl von Tieren hinaus.
({5})
- Das steht nicht im Gesetz, aber ich mache hier noch
diese Anmerkung, damit das klar ist. - Wir erwarten in
Zukunft von der Europäischen Union keine weiteren Tötungsaktionen und auch nicht diese 90-Tier-Obergrenze.
Wir unterstützen hier die Ministerin in ihrer Haltung massiv und hoffen, dass sie das in Brüssel so durchsetzen
kann.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Lamp.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion hat erhebliche Bedenken
gegen die Verabschiedung dieses Gesetzes. Wir werden
aber aus übergeordneten Gründen und insbesondere weil
wir heute Morgen nach Rücksprache mit verschiedenen
Ländern signalisiert bekommen haben, dass in nächster
Zeit einige Ergänzungen umgesetzt werden, die uns sehr
am Herzen liegen und auf die ich noch zu sprechen kommen werde, mehrheitlich zustimmen.
Das Gesetz ist eine erste Korrektur des Verfütterungsverbotsgesetzes vom 1. Dezember. Weitere Nachbesserungen werden ganz sicher bald folgen. Im Dezember akzeptierten wir die Eilbedürftigkeit der Gesetzesverabschiedung.
Auch wenn wir diesmal dem Gesetz zustimmen werden, so
fehlt uns jetzt für das überstürzte Verfahren doch das Verständnis. Die rot-grüne Regierung hatte zwei Monate Zeit
zur Vorbereitung des Nachbesserungsgesetzes.
({0})
Auch ein Ministerwechsel kann nicht als Grund der Verzögerung vorgeschoben werden. Der Mitarbeiterstab im
Ministerium ist in die Problematik eingebunden. Die Probleme sind seit Wochen und Monaten bis ins letzte Detail
bekannt. Es wäre durchaus möglich gewesen, die parlamentarischen Gremien in ausreichender Weise in die Beratungen mit einzubeziehen.
Nun werden immer noch etliche Fragen offen bleiben.
Auch die betroffenen Verbände bemängeln nachdrücklich, dass ihnen nicht der erforderliche Zeitrahmen für
umfassende Stellungnahmen eingeräumt wurde. Wir
werden ein oberflächliches Durchpeitschen so wichtiger
Gesetzesvorhaben künftig nicht mehr einfach hinnehmen.
({1})
Abgesehen von gewissen Vorbehalten kann die
CDU/CSU den Gesetzestext in den wichtigen Teilen mittragen. So stehen wir im Sinne eines vorbeugenden Verbraucherschutzes zu den futterrechtlichen Bestimmungen des Gesetzentwurfes. Wir begrüßen, dass in der
gestrigen Ausschusssitzung unser Antrag Berücksichtigung fand, den Herr Weisheit schon angesprochen hat.
Damit wird einem wichtigen CDU-Anliegen Rechnung
getragen, nämlich dass auch die Milchbetriebe in die
Übergangsregelung für Milcherzeuger einbezogen werden, die nur indirekt von einem BSE-Fall betroffen wurden, also zum Beispiel jene Betriebe - wie das hier schon
gesagt wurde -, von denen Rinder verkauft worden waren, die auf anderen Höfen an BSE erkrankten.
Ein entscheidender Punkt, den ich vorhin schon andeutete, ist, dass uns heute Vormittag in Aussicht gestellt
wurde, dass der Tiermehltourismus über die Ländergrenzen hinweg eingedämmt werden soll, und zwar vonseiten
der Länder; die werden darauf drängen.
({2})
Damit zeichnet sich die baldige Lösung eines für uns sehr
zentralen Problems ab. Das erleichtert es uns, unser Unbehagen zurückzustellen und dem Gesetz nun doch zuzustimmen.
Mit dem Tiermehltransport über Ländergrenzen hinweg sind vielfältige Probleme verbunden. So sind
während des Transportes feinkörniger Tiermehle aus
Großbritannien, die für die Verbrennung in Deutschland
vorgesehen sind, Verwehungen nicht auszuschließen. Die
CDU/CSU fordert die Bundesregierung nachdrücklich
auf, gemeinsam mit den Ländern sicherzustellen, dass
möglichst bald zumindest Tiermehlimporte nach
Deutschland unterbunden werden. Wir sind der Überzeugung, dass das Tiermehlproblem von jedem Land innerhalb seiner eigenen Grenzen gelöst werden muss. Damit
würde auch die Gefahr vermindert, dass Tiermehle doch
widerrechtlich als Tierfutter eingesetzt werden.
Man kann sich natürlich fragen, warum wir uns über
Verwehungen Sorgen machen, ist Tiermehl doch immer
noch in Gartenfachgeschäften in unbegrenzten Mengen
frei verkäuflich. Seit Wochen mahne ich das Verbraucherministerium, dieses Problem aufzugreifen, ohne dass
erkennbare Konsequenzen zu registrieren sind. Noch
heute Morgen wurde mir auf Anfrage bestätigt, dass in
der Gartenabteilung eines Berliner Baumarktes reines
Knochenmehl, aufgepeppt mit Blutmehl, für jedermann
in ausreichenden Mengen zu haben sei. Ich denke, hier
könnte die Verbraucherministerin auch einmal Aktivitäten zeigen und dieses doch so kleine Problem in Kürze
lösen.
Ich erwarte in diesem Zusammenhang von der Regierung - auch dies hätte Niederschlag im Gesetz finden
können -, dafür zu sorgen, dass auf EU-Ebene umgehend
die Düngung mit Tiermehlen in Gärten und im ökologischen Landbau verbindlich untersagt wird.
({3})
Auch wenn wir dem Gesetz zustimmen werden, so
sind noch eine Reihe von Fragen offen. Ich möchte hier
einige markante Punkte nennen: Herr Weisheit, viel zu
weit gehen unserer Ansicht nach die im Gesetz vorgesehenen Verordnungsermächtigungen. Damit können
Verordnungen - für einen gewissen Zeitraum geltend an Parlament und Länderkammer vorbei erlassen werden.
({4})
Was sollen wir davon halten, wenn uns gestern der Regierungsvertreter eher lapidar mitteilt, dem zuständigen
Fachausschuss würden anstehende Verordnungstexte zur
Kenntnis gegeben? Das ist keine Beratung in den politischen Gremien.
({5})
Existenzielle Rechte des Parlaments werden hiermit ausgehöhlt, eine parlamentarische Kontrolle ist somit nicht
möglich. Wie die Praxis aussehen wird, werden wir sehen
und sehr genau beobachten.
Es wird unserer Meinung nach langsam skandalös,
dass es immer noch keine verbindlichen Vorgaben zur Finanzierung der Folgekosten der BSE-Krise gibt. Wir
erlassen Gesetze - auch heute wieder -, deren Finanzierung im Nebel liegt.
Während der Anhörung am 5. Januar dieses Jahres im
Berliner Roten Rathaus kündigte der damalige Landwirtschaftsminister Funke an, die Frage der Finanzierung im
Zusammenhang mit den Folgekosten werde in den nächsten zwei Wochen geklärt.
({6})
Einige Tage später wurde Frau Künast die verantwortliche Ministerin. Auch sie hat bis heute kein Konzept zur
Finanzierung der Folgekosten vorgelegt. Nichts ist da!
({7})
Im Gegenteil: Sie ließ es zu, dass im vorliegenden
BSE-Maßnahmengesetz der § 5 zum „Ausgleich unbilliger Härten“ komplett gestrichen wurde. Der Kernsatz des
§ 5 lautete:
Wird durch eine Anordnung aufgrund dieses Gesetzes ... dem Betroffenen ein erheblicher Vermögensnachteil zugefügt, so kann ein Ausgleich in Geld gewährt werden.
Selbst diese pflaumenweiche Formulierung war zu viel.
Die Betroffenen aber haben einen Anspruch darauf, umgehend und verlässlich darüber informiert zu werden, wie
es mit der Finanzierung der Folgen der BSE-Krise weitergehen soll. An der Finanzierung soll sich jeder beteiligen, heißt es. Offensichtlich haben aber manche noch
nicht begriffen, dass die Bauern, die Futtermittelindustrie
und das Fleischereigewerbe mit dem Rücken an der Wand
stehen und kaum mehr finanzielle Spielräume haben.
1995 verkaufte ich Mastbullen aus meinem Stall für
8,40 DM das Kilogramm. Bullen gleicher Qualität werden heute in Schleswig-Holstein mit 3,35 DM notiert. Das
ist eine Mindereinnahme von weit über 1 000 DM je Tier.
In der Zwischenzeit explodierten förmlich die Kosten.
Die Beiträge für den Tierseuchenfonds werden sich in
nächster Zukunft wahrscheinlich verzehnfachen. Es drohen der Gesamtwirtschaft Folgen, die in ihrem Gesamtumfang immer noch weit unterschätzt werden.
Ich möchte zum Schluss kommen. Ich hätte noch gerne
das eine oder andere zum Außenschutz gesagt.
({8})
Wir werden - wenn auch mit erheblichem Unbehagen dem vorliegenden Gesetzentwurf mehrheitlich zustimmen. Unsere uns nicht leicht fallende Zustimmung sollte
die Ministerin als Angebot zur kritisch-konstruktiven Begleitung im Interesse eines wirksamen Verbraucherschutzes und des Erhaltes einer vielfältigen mittelständischen Landwirtschaft verstehen.
({9})
Für die Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Ulrike Höfken.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Agrarbericht zeigt - das ist erfreulich -, dass es
aufwärts geht. Für die Betriebe gibt es bei den Einnahmen
ein Plus von etwa 13 Prozent. Eine Ausnahme stellt hier
Rheinland-Pfalz dar, wo der F.D.P.-Landwirtschaftsminister Bauckhage auch aktuell nicht allzu viel Innovationskraft beweist.
({0})
Dieses Plus von 13 Prozent - das wissen wir natürlich hat sich aber hauptsächlich im Bereich der Veredlung bei
den Schweinepreisen ergeben. Dabei muss man im Zusammenhang mit der Diskussion um den aktuellen Skandal darauf hinweisen, dass es erheblichen Handlungsbedarf gibt; denn wenn der Skandal um die Haltung von
Schweinen anhält, wird es auch in diesem Bereich einen
Preiseinbruch geben. Ich nenne die Haltungsform und die
illegale Abgabe von Antibiotika. All diese Probleme müssen jetzt gelöst werden, auch vom Berufsstand selber.
({1})
Im Agrarbericht wird auch deutlich, dass es eine Strukturveränderung gibt, die in der zunehmenden Aufgabe
von Betrieben zum Ausdruck kommt. Das zeigt die mangelhafte Bereitschaft zur Betriebsnachfolge. Dies ist ein
klares Zeichen für die bisherige Perspektivlosigkeit und
Unattraktivität des landwirtschaftlichen Berufs.
Es gibt aber auch eine positive Entwicklung, nämlich
die gleichzeitige Zunahme von Arbeitnehmerzahlen, also
eine Entwicklung hin zur Arbeitnehmerlandwirtschaft.
Wir von Rot-Grün wollen Möglichkeiten zur Erhöhung
der Zahl der Arbeitsplätze in der Landwirtschaft massiv unterstützen. Umwelt- und tiergerechte Produktion,
Ökolandbau und Qualitätsproduktion - all das sind positive Faktoren für den Arbeitsmarkt.
({2})
Das sind Felder, in denen Menschen wieder gerne arbeiten sowie Ansehen und Einkommen erzielen sollten.
Diese Aspekte möchten wir durch eine verbesserte Förderpolitik unterstützen.
Im Agrarbericht wird auch deutlich, dass die Einkommensgrundlage im Futterbau und in Milchviehbetrieben
bedroht ist.
({3})
In diesem Punkt handelt die Bundesregierung. Unsere Ministerin, Frau Künast, hat in Brüssel auf der letzten Tagung des Agrarrates eine ganze Reihe von Maßnahmen
vorgeschlagen, von denen im Notfallpaket des Agrarkommissars Fischler eine größere Zahl Berücksichtigung
gefunden hat.
Die Vorschläge von Agrarkommissar Fischler weisen sowohl eine gute als auch eine problematische Seite
auf. Gut ist, dass die Vorschläge der Koalitionsfraktionen,
zum Beispiel auf den Stilllegungsflächen Kleegras anzubauen - ein Antrag, der mit den Stimmen des ganzen Hauses verabschiedet worden ist -, Aufnahme in den Katalog
von Agrarkommissar Fischler gefunden haben. Auch die
Flächenbindung der Tierhaltung - er hat jetzt eine Grenze
von 1,8 Großvieheinheiten eingezogen, auch das ist eine
positive Sache ({4})
sowie die Änderungen bei der Gewährung von Prämien
mit dem Ziel, weniger Fleisch auf den Markt zu bringen,
sind sinnvolle Ziele. Wir müssen diese Vorschläge nachhaltig unterstützen.
({5})
Nicht gut ist, dass diese Maßnahmen durch den Vorschlag, 1,2 Millionen Tiere in ein so genanntes Sonderaufkaufprogramm einzubeziehen, konterkariert werden.
Ich glaube, in diesem Punkt muss man viel mehr auf die
Maßnahmen Wert legen, die sowohl die Koalitionsfraktionen als auch die Ministerin vorgeschlagen haben, nämlich Veränderungen bei der Prämiengewährung mit dem
Ziel einer Verringerung der Fleischmengen einzuführen.
Eine solche Form von Sonderaufkaufprogrammen, wie
sie vorgeschlagen werden, werden wir uns kaum vorstellen können. Ganz gewiss darf keine weitere Vernichtung
von Tieren geschehen. Nicht akzeptabel für Deutschland
ist auch eine Begrenzung auf 90 Tiere. Wichtig für uns ist,
wie ein Tier gehalten wird,
({6})
und nicht, wie viel Weidefläche zur Verfügung steht. In
diesem Zusammenhang bleibt festzustellen, dass wir in
den neuen Bundesländern die geringsten Tierzahlen haben.
({7})
Eine solche Begrenzung darf keine Rolle spielen. Wichtig
ist, wie ein Tier gehalten wird, und danach muss sich die
Prämiengewährung richten.
Jedenfalls setzt das Programm endlich eine notwendige Neuorientierung um, auch wenn es nur ein Notfallprogramm ist. Es setzt aber die Zeichen in die richtige
Richtung. Wichtig ist dabei, dass die Punkte, die ich angesprochen habe und die wir nicht mittragen können,
nicht mehr in dem Programm enthalten sind. Wir können
nicht - auch nicht mit den neuen Bundesländern - über
Modulation reden und gleichzeitig über eine solche Form
der Begrenzung diskutieren.
Für uns steht heute das BSE-Maßnahmengesetz in der
dritten Lesung und damit zur Verabschiedung an. Ich bedanke mich bei der CDU/CSU, dass sie dem Gesetzentwurf nunmehr zustimmt. Für uns ist die Verabschiedung
des Gesetzes zur Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen notwendig und es ist in diesem Sinne auch eilig. Wir
haben hier ganz eindeutig die Notwendigkeit zur Beseitigung der rechtlichen Defizite. Das Gesetz schafft die tierseuchenrechtlichen Bekämpfungsmöglichkeiten. Auch
das ist notwendig, und zwar für alle Bundesländer.
Wir haben hier auch eine Lösung des Milchproblems
für die betroffenen Betriebe. Herr Lamp, Sie haben darauf
hingewiesen, dass wir in diesem Punkt im Ausschuss eine
Änderung vorgenommen haben. Wir hatten aber von Anfang an die Intention, die Betriebe mit einzubeziehen, die
dadurch betroffen sind, dass ein erkranktes Tier in ihrer
Herde gestanden hat, was zur Folge hat, dass die gesamte
Herde gekeult werden muss.
Das Gesetz schafft die Voraussetzungen, die angesprochenen Maßnahmen durchzuführen. Aber niemand von
uns sagt, dass das alles ist. Diese Maßnahmen sind ein
Baustein zur Problemlösung. Wir haben noch einiges andere zu tun. Alle Bereiche des Verbraucherschutzes sind
in der Regierungserklärung und in dem Antrag der Koalitionsfraktionen bereits angesprochen worden. Darunter,
Herr Lamp, ist auch das Problem des Tiermehltourismus. Wir müssen eine rechtliche Möglichkeit finden
- wir werden uns anstrengen, das bald zu tun -, Exporte
von Tiermehl zu verhindern, die als Wertstoff und nicht
als Tiermehle deklariert sind und bei denen sich plötzlich
herausstellt, dass dieses reimportierte Tiermehl eine Inkarnation zum Futterstoff erfahren hat. Das kann nicht
sein.
Wichtig sind auch die Vorschläge des Bundesamtes für
gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin, zum Beispiel zu den Schlachtverfahren. Auch diese
Vorschläge sind Bestandteil unseres Konzepts. Dasselbe
gilt für die Frage der Kosten. Aber um es ganz deutlich zu
sagen: Das BSE-Maßnahmengesetz ist natürlich kein Gesetz zur Kostenregelung. Diese findet an anderer Stelle
statt, nämlich bei den Verhandlungen zwischen Bund und
Ländern. Auch ich bin der Meinung, dass die Kosten nicht
länger hin- und hergeschoben werden dürfen.
({8})
Es ist auch das zu unterstützen, was Ministerin Künast
im Ausschuss gesagt hat: Wir werden auf jeden Fall die
Länder unterstützen, die jetzt bei der Beseitigung von Futtermitteln, von Altrückständen auf den Bauernhöfen handeln. Natürlich muss eine bessere Lösung gefunden werden, als Steuerzahlergelder zwischen Bund und Ländern
hin- und herzuschieben. Wir sollten versuchen, marktwirtschaftliche Lösungen zu finden, und dafür sorgen,
dass zum Beispiel tierische Bestandteile auf ungefährliche Art und Weise im Rahmen der energetischen Verwertung genutzt werden. All das sind Maßnahmen zur Kostensenkung, die der Bund, die Länder und die Kommunen
und natürlich auch die Steuerzahler benötigen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen HeinrichWilhelm Ronsöhr, CDU/CSU.
Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich war zuerst etwas
erstaunt. Ich dachte, dass es um ein BSE-Bekämpfungsgesetz gehe. Ulrike Höfken muss wohl - jedenfalls mit
Blick auf ihre anfänglichen Ausführungen - ein falsches
Redemanuskript erwischt haben;
({0})
denn sie hat sich vorwiegend mit dem Agrarbericht 2000
auseinander gesetzt.
({1})
Ich möchte darauf hinweisen - unser Vorredner konnte
natürlich nicht mehr darauf eingehen -, dass man dann,
wenn man behauptet, dass die Einkommen der LandUlrike Höfken
wirte gestiegen seien, zuerst einmal beziffern muss, um
wie viel die Einkommen der Landwirte im Vorjahr gesunken sind.
({2})
Die Einkommen, die zuerst gesunken sind und jetzt wieder steigen, erreichen damit lediglich den Status quo.
Nach meiner Meinung sollten wir alle gemeinsam den
Agrarbericht 2000 zu Makulatur erklären, damit wir uns
endlich der Lösung der wahren Probleme in der Landwirtschaft zuwenden können. Wie sieht es denn zurzeit
bei den Rindfleisch produzierenden und den Milchvieh
haltenden Betrieben aus? Die deutsche Landwirtschaft
wird wahrscheinlich eine Superabgabe zahlen müssen,
weil sie die Milchquoten überschritten hat und weil diese
Bundesregierung bezüglich bestimmter Herauskaufaktionen nicht in Gang gekommen ist.
({3})
Es ist zwar richtig, dass sich eine neu ernannte Ministerin
erst einmal einarbeiten muss. Aber es gibt sicherlich auch
andere Mitglieder der rot-grünen Bundesregierung, die
Verantwortung tragen und die die entsprechenden Entscheidungen viel schneller hätten treffen können. Das
Gleiche gilt für viele andere Bereiche. Obwohl sich die
Landwirtschaft in einer existenziellen Krise befindet,
wird hier von Einkommenserhöhungen von 13 Prozent
gesprochen. Ich glaube, dass das der Situation in den ländlichen Räumen in der Bundesrepublik Deutschland auf
keinen Fall gerecht wird. Ich hätte es lieber gesehen, wenn
man sich bei den Ausführungen auf die im Gesetz vorgesehenen BSE-Bekämpfungsmaßnahmen beschränkt
hätte; denn schließlich soll heute das BSE-Maßnahmengesetz verabschiedet werden.
Frau Höfken, wir werden Sie in der Tat daran messen,
ob Sie es schaffen, den Tiermehltourismus in der Europäischen Union zu unterbinden. Die rot-grüne Bundesregierung hat sich mit dem vorliegenden BSE-Maßnahmengesetz eine Verordnungsmöglichkeit geschaffen. Ich hoffe
- deswegen stimmen wir dem Gesetz zu -, dass die rotgrüne Bundesregierung diese Verordnungsmöglichkeit im
Sinne des Verbraucherschutzes nutzen wird.
({4})
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Höfken, bitte.
Herr
Kollege Ronsöhr, wenn Sie sich durch den Titel des Tagesordnungspunktes beschränkt fühlen, dann kann ich das
nicht ändern. Ich rede jedenfalls zu aktuellen politischen
Themen, die - ich glaube, das wird niemand bestreiten
wollen - im Zusammenhang mit diesem Tagesordnungspunkt stehen. Ich bin auf sämtliche Vorwürfe, die Sie jetzt
gemacht haben, schon in meiner Rede eingegangen und
habe bei meiner Argumentation die Ergebnisse des Agrarberichts in einen Zusammenhang mit der Notwendigkeit
des Handelns und mit unserem Entwurf eines BSE-Maßnahmengesetzes gesetzt. Das ist sicherlich notwendig und
es tut mir Leid, wenn Ihr Redner das eben nicht getan hat.
Zum Zweiten gehe ich auf die Herauskaufaktion ein.
Gerade aus Ihrer Fraktion und gerade von der F.D.P.
({0})
kam der riesengroße Popanz, dies dürfe man alles nicht
machen. Widerspruch kam aber auch vonseiten des Tierschutzes und der Kirchen; das ist eine ernst zu nehmende
Sache.
({1})
Insofern kann man vernünftigerweise nur Argumente aufnehmen und dafür sorgen, dass es hier wenn schon keinen
Konsens, dann doch wenigstens ein gewisses Verständnis
für Maßnahmen gibt. Ohne jegliche Akzeptanz sind sie
nämlich nicht durchführbar. Insoweit hat es nicht im Mindesten eine Verzögerung gegeben, sondern, ganz im Gegenteil, eine Verständigung mit der Gesellschaft und eine
Erklärung von Maßnahmen. Dies empfand ich in diesem
Zusammenhang weiß Gott als notwendig.
Was die Tiermehlexporte betrifft, so bedanke ich mich
für die Unterstützung. Im Übrigen leide ich nicht an
Selbstüberschätzung und sage, dass sich erst noch erweisen wird, wer die europäischen Fragen regeln kann. Wir
haben hier unseren Part zu erledigen, und das tun wir.
Danke.
({2})
Nächster Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Ulrich Heinrich für die
F.D.P.-Fraktion
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute
über ein BSE-Bekämpfungsgesetz, das von den Koalitionsfraktionen - bemerkenswerterweise nicht von der Regierung - eingebracht worden ist. Erstaunlicherweise beantragt die Koalition für die Regierung weit gehende
Ermächtigungen. Nur derjenige, der trotz der Erfahrungen
der Vergangenheit der Meinung ist, der Staat und die Politik hätten im Zusammenhang mit BSE alles richtig gemacht, kann glauben, es seien zusätzliche Ermächtigungen notwendig. Wir sind hier absolut anderer Meinung.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Ermächtigungen gehen weit über das hinaus, was in einer
Demokratie üblich ist und was demokratisch erträglich
ist. Wir wollen die Debatte im Plenum des Bundestages
und im Ausschuss führen. Wir wollen aber keine einsamen Beschlüsse der Bundesregierung, die uns dann nur
noch zur Kenntnis gegeben werden.
({1})
Wir wollen vor allen Dingen, dass in jedem Gesetz das schreibt eigentlich schon der Anstand vor - Aussagen
über die Finanzierung enthalten sind. Wenigstens müsste
da stehen, wer finanziert.
({2})
Auch wenn Sie die Zahlen noch nicht kennen, müssten
Sie doch wissen, wer finanziert. Aber das wissen Sie auch
nicht. Deshalb ist es äußerst unsolide, was Sie mit diesem
Gesetzentwurf vorhaben.
({3})
Das widerspricht jeder ordentlichen Haushaltsführung.
Wie jemand dem zustimmen kann, wenn er nicht in Not
ist, ist für mich völlig unverständlich.
({4})
Die Ermächtigung zur Keulung der gesamten Bestände
möchte ich ausdrücklich nicht, weil ich eine andere Regelung haben will, nämlich das Schweizer Modell, das die
Anonymität der betroffenen Betriebe und eine Kohortenkeulung, nicht aber die Keulung der gesamten Bestände
beinhaltet.
({5})
Ein weiterer Punkt ist der 0,00-Prozent-Grenzwert bei
Futtermitteln: Wir haben uns darüber im Ausschuss unterhalten und waren uns einig, dass ein solcher Grenzwert
nicht einzuhalten ist. Wenn Sie in einen Gesetzentwurf etwas hineinschreiben, von dem jeder Fachmann weiß, dass
es nicht einzuhalten ist, dann ist das von vornherein
schlampig, überstürzt und der Sache nicht dienlich.
({6})
Solche Grenzwerte lassen sich schon bei einem Getreidebestand nicht einhalten, in dem sich ein Getreideschädling, zum Beispiel ein Käfer, vermehrt. Verfüttern Sie dieses Getreide als Futtermittel an Ihre Tiere, verstoßen Sie
gegen dieses Gesetz. Es ist doch absurd, so etwas in ein
Gesetz hineinzuschreiben.
({7})
Genauso absurd ist es mit Blick auf Kleintiere, deren Aufnahme und Tötung im Rahmen der Silageherstellung unvermeidbar ist. Wenn man das Futter untersucht, dann
stellt man möglicherweise fest, dass es tierisches Eiweiß
enthält. Der im Gesetzentwurf enthaltene Wert von
0,0 Prozent ist absoluter Unsinn. Sie wissen offensichtlich
nicht, was Sie tun.
({8})
Die F.D.P. wird diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({9})
Herr Kollege
Heinrich, ein seltener Fall: Ihre Redezeit ist noch nicht abgelaufen. Außerdem hat die Kollegin Höfken den Wunsch
nach einer Zwischenfrage. Lassen Sie die zu?
Gerne.
Herr
Kollege Heinrich, erkennen Sie an, dass in all Ihren Ausführungen der Aspekt des Verbraucherschutzes deutlich
missachtet wurde? Sie haben nichts anderes getan, als auf
Probleme hinzuweisen und einige Defizite aufzuzeigen.
Wirkliche Problemlösungen haben Sie aber nicht einbezogen.
Wissen Sie, dass in der Schweiz Bekämpfungsmaßnahmen zehn Jahre lang sehr verantwortungsvoll durchgeführt worden sind? Das hatte Auswirkungen auf den
Grad der epidemiologischen Durchseuchung. Nach dem,
was Sie hier gesagt haben, glaube ich, dass Sie die Gefahr,
dass die Milchproduktion schwer in Misskredit gerät,
nicht ausreichend berücksichtigt haben.
Wissen Sie, dass wir uns hinsichtlich der Grenzwerte
dafür einsetzen, dass es zu einer angemessenen Berücksichtigung unbeabsichtigt eingetragener Bestandteile,
zum Beispiel von auf dem Feld herumlaufenden Tierchen,
kommt, wodurch die Praktikabilität verbessert wird?
Liebe Frau Kollegin
Höfken, ich hätte einem schlüssigen, sauber ausgearbeiteten und dem Verbraucherschutz tatsächlich dienenden
Gesetzentwurf sehr gerne zugestimmt.
({0})
Dass ein solcher Gesetzentwurf vorliegt, ist nicht der Fall.
Mit diesen Inhalten bringen Sie den Verbraucherschutz in
den von mir angesprochenen Bereichen nicht voran; vielmehr schaffen Sie neue Problemfelder. Das garantiere ich
Ihnen schon heute.
Zur Keulung - Stichwort „Schweizer Modell“ - sei Ihnen gesagt, dass dem Verbraucherschutz sowohl bei der
Bestandstötung als auch bei der Kohortentötung gleichermaßen Rechnung getragen wird. Das sagen die Schweizer
Wissenschaftler. Sie haben sehr sorgfältig gearbeitet; von
ihren Ergebnissen können wir einiges aufnehmen. Wir
sollten nicht so tun, als müssten wir in dieser Frage das
Rad neu erfinden. Wir können vielmehr auf den Erfahrungen der Schweizer aufbauen und daraus unsere
Schlüsse ziehen. Wenn das geschieht, dann können wir
schon heute entsprechende Maßnahmen ergreifen. Die
Erfahrungen der Schweizer lehren, dass man mittels der
Kohortentötung den gleichen Grad an Verbraucherschutz
wie mittels der Tötung des gesamten Bestands gewährleisten kann.
({1})
Wir alle rücken den Verbraucherschutz an die vorderste Stelle. Daher verstehe ich nicht, dass Sie in den Gesetzentwurf Ziele aufnehmen, bei denen von vornherein
klar ist, dass sie nicht erreichbar sind. Die Analysemethoden zur Ermittlung von Futtermittelbestandteilen sind
schon heute so fein, dass man einfach davon ausgehen
muss, dass auch die kleinsten Bestandteile feststellbar
sind. Im Nachhinein lässt sich nicht bestimmen, ob ein beUlrich Heinrich
stimmtes Eiweiß durch eine schlampige Herstellung in
das Futtermittel gekommen ist oder von einer Maus oder
von einem Insekt stammt.
Die gleichen Probleme gab es bereits bei der Herstellung von Wurstwaren. Man hatte auf die Verpackung geschrieben, dass das Nahrungsmittel rindfleischfrei sei.
Bei der Analyse stellte man zwar fest, dass Rindfleisch
enthalten ist; tatsächlich aber war es so, dass die Verwendung von Naturdarm von Rindern ausreichte, um das Analyseergebnis entsprechend zu beeinflussen.
Sie kommen mit dem Gesetz nicht weit. Ich garantiere
Ihnen: In der Praxis werden Sie damit scheitern.
({2})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Um endlich Klarheit und Rechtssicherheit zu schaffen, hält auch meine Fraktion die Verabschiedung eines BSE-Maßnahmengesetzes im Eilverfahren für notwendig.
({0})
Dass der Gesetzentwurf bereits fünf Tage nach seiner Geburt zurechtgestutzt werden musste, nur um morgen im
Bundesrat nicht zu scheitern, erinnert aber schon sehr an
Flickschusterei.
({1})
Ich habe kein Verständnis dafür, dass so wichtige Problemfelder wie Sperrung von Schlachthöfen, Tötung von
Rinderbeständen, Entschädigung von Landwirtschaftsbetrieben und Schlachthöfen, die im Gesetzesantrag des
Freistaates Thüringen enthalten sind, im Entwurf der Bundesregierung ausgeklammert wurden. Immerhin sind das
die Fragen, die gerade die Betroffenen besonders bewegen. Da ist es wenig tröstlich, lieber Kollege Weisheit,
wenn Sie, wie gestern im Ausschuss, ankündigen, dass
weitere Gesetze kommen werden. Nach Ihrer Aussage,
Kollegin Höfken, dass der vorliegende Gesetzentwurf nur
ein Baustein sei, bin ich gespannt, wann das Haus endlich
fertig ist.
Wo ist nun das BSE-Folgekostenkonzept der Bundesregierung? Das war für den 31. Januar 2001 angekündigt
und soll nun morgen mit den Ministerpräsidenten, aber
ohne Bundeskanzler Schröder, der plötzlich abgesagt hat,
verhandelt werden. Es steht jedem offen, dies zu bewerten. An ein Ergebnis werde ich allerdings erst dann glauben, wenn es schwarz auf weiß vorliegt. Wenn Sie hier
schnell Klarheit herstellten, würde das mehr Akzeptanz
für Ihre Politik der Krisenbewältigung schaffen und vor
allem Existenznöte und -ängste verringern. Um nicht missverstanden zu werden: Mein Plädoyer ist kein Plädoyer
für eine unkritische Übernahme der Thüringer Positionen,
sondern für eine klare Regelung.
Notwendig ist die vorgesehene Änderung des Verfütterungsverbotsgesetzes vom 1. Dezember 2000, um die
EU-Entscheidungen in nationales Recht umzusetzen und
Regelungen zum Schutz vor BSE schnell auf dem Verordnungsweg treffen zu können.
({2})
Das Gleiche gilt für die Änderungen im Tierkörperbeseitigungsgesetz, namentlich für die Aufnahme des Verbrennens von Tierkörpern und Tierkörperteilen als Entsorgungsform. Erforderlich ist auch, dass mit dem
Tierseuchengesetz eine Rechtsgrundlage für eine Tötung
von Rindern bei Ausbruch von BSE im Interesse des Gesundheitsschutzes der Verbraucher geschaffen wird. Ich
halte es für richtig, dass im Gesetz nicht geregelt wird, ob
der Bestand oder die Kohorte zu töten ist. Sicher wird
früher oder später - abhängig vom Erkenntnisstand - der
Übergang zur Kohortentötung möglich werden.
Da es für die Gesundheit und das Leben von Menschen
Gefahren durch BSE gibt, akzeptiert meine Fraktion auch,
dass die Bundesregierung mit diesem Gesetz ermächtigt
wird, bei Gefahr im Verzug Eilverordnungen mit befristeter Geltungsdauer ohne Zustimmung des Bundesrates
zu erlassen. Ich gehe - im Unterschied zum Kollegen
Heinrich - nicht davon aus, dass dadurch die parlamentarische Demokratie ausgehöhlt wird. Solche Gefahren sehe ich auf ganz anderen Gebieten.
({3})
- Wehret den Anfängen? Gut, dann werden Sie darauf
achten.
Vernünftig ist auch die Übertragung der Milchquote
eines Agrarbetriebes, dessen Milchkuhbestand wegen eines BSE-Falles getötet wird, bis zum Wiederaufbau eines
neuen Bestandes an einen anderen Milcherzeuger. Sicher
bedarf es in punkto Milch einer Lösung zur Abwehr der
Superabgabe für die drohende Überschreitung der nationalen Milchreferenzmenge. Aber das ist keine Frage dieses Gesetzes.
Die Aufnahme von Straftatbeständen in das Gesetz
deckt sich mit den Forderungen der PDS und wird von uns
ausdrücklich unterstützt. Die PDS sieht den dringenden
Handlungsbedarf, wird sich aber aufgrund der von mir
kritisierten Punkte der Stimme enthalten.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Gerald Thalheim.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben mit dem heutigen Tag 29 bestätigte
BSE-Fälle und neun Verdachtsfälle.
({0})
- Ungefähr 140 000.
({1})
- Jetzt reden wir über den Gesetzentwurf; Antworten kann
ich Ihnen später geben.
Wir haben also Grund genug, sehr intensiv die weitere
Bekämpfung von BSE anzugehen. Das BSE-Maßnahmengesetz ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. Es ist
notwendig im Interesse der Risikominderung, des vorbeugenden Verbraucherschutzes und natürlich als Hilfe
für die Landwirte.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hermann
Otto Solms?
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Ja, bitte.
Herr Kollege,
wären Sie bitte bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass es bis
zum 2. Februar bei ungefähr 185 000 Rindern Tests gegeben hat und bis zu diesem Zeitpunkt 28 Fälle festgestellt
worden sind?
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Meine Zahlen, Herr Kollege Solms, bezogen sich auf die uns gemeldeten Fälle; nach dem Stand
von heute früh gibt es 29 bestätigte Fälle und neun Verdachtsfälle, unabhängig davon, wie viele Tests es gegeben
hat. Diese Zahlen entsprachen der letzten Meldung der
Länder. Ich habe das nicht wegen der heutigen Debatte abgefragt, weil das hier nicht Gegenstand ist.
Was den BSE-Erkrankungsumfang anbelangt - da gibt
es überhaupt keinen Zweifel -, so gelten die Zahlen, die
ich genannt habe. Es kommen aber leider fast täglich viel
zu viele hinzu. Das ist das eigentliche Problem.
Herr Lamp hat die Eilbedürftigkeit des Gesetzes kritisiert. Herr Kollege Lamp, das ist nicht eine Frage der
Versäumnisse der Bundesregierung, sondern der Dynamik, die der Krankheit innewohnt. Das heißt, der Sachverhalt ändert sich fast täglich. Das gilt zum Beispiel für
die Regelungen bei der Milchquote. Wäre es bei einem,
zwei oder drei Fällen geblieben, was wir alle gehofft haben, hätten wir in dem Punkt nichts regeln müssen. Aber
wir mussten hier letztendlich zur Tat schreiten.
Herr Staatssekretär, es
gibt einen weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Ja, gerne.
Herr
Staatssekretär Thalheim, wie bewerten Sie unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes Plakate, die in Gaststätten hängen und auf denen geschrieben steht: „Argentinien bietet, was die Kunden jetzt fordern: Rindfleisch
garantiert frei von BSE“, mit amtlicher Genusstauglichkeitsbescheinigung als BSE-frei zertifiziert, offensichtlich herausgegeben vom Staatssekretariat für Landwirtschaft, Fischerei und Ernährung in Argentinien? Wie
werden Sie gegen eine solche Verbrauchertäuschung vorgehen?
Da dies offensichtlich bei uns möglich ist, frage ich
Sie: Warum bekommt zum Beispiel die Edeka Nord, die
freiwillig alle Rinder testet und dieses im Sinne des Verbraucherschutzes tut, nämlich um den Verbrauchern etwas mehr Sicherheit zu geben, nicht die Genehmigung,
ihre Waren entsprechend auszuzeichnen?
Herr Kollege Carstensen, als Erstes ist
festzuhalten, dass wir das als sehr problematisch erachten;
denn Frau Bundesministerin Künast ist nicht nur die Verbraucherschutzministerin für die Produkte, die in Deutschland hergestellt werden, sondern für die Produkte insgesamt. Da ist es schon problematisch, wenn mit BSEFreiheit geworben wird, ohne dass ein Nachweis erbracht
werden kann. Ganz eindeutig wird in Argentinien wie in
vielen Drittländern nicht getestet.
Es ist das Bemühen der Bundesministerin auf europäischer Ebene, bei Drittlandimporten die gleichen Standards einzuführen oder, wenn es aus WTO-Gründen nicht
möglich ist, entsprechend auszuzeichnen, um zumindest
zu erreichen, dass der Verbraucher dann ganz genau weiß,
dass das Produkt - im Gegensatz zu den Produkten, die
bei uns hergestellt werden - aus einem Drittland mit einem anderen Schutzniveau kommt.
Was die Frage Edeka Nord und BSE-Tests angeht, so
wissen wir natürlich alle, dass die Aussagekraft der Tests
umso stärker zurückgeht, je jünger die Tiere sind. Mit den
Tests ist es nicht möglich, BSE-Prionen im Anfangsstadium nachzuweisen. Insofern ist natürlich die Aussage
„getestet“ mit einem gewissen - die Betonung liegt auf
„gewissen“ - Fragezeichen zu versehen.
Herr Kollege
Thalheim, es gibt eine weitere Frage des Kollegen
Carstensen.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Ja, bitte.
Nur
noch eine kurze Frage, Herr Staatssekretär: Habe ich Sie
richtig verstanden, dass die Bundesregierung jetzt endlich
die Initiative ergreifen und dafür sorgen wird, dass in der
EU beschlossen wird, nur noch getestetes Rindfleisch auf
den deutschen bzw. den europäischen Markt zu lassen?
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Die Bundesregierung - das ist auch die
Aussage von Frau Bundesministerin Künast - hat sich bereits beim letzten Agrarrat auf der europäischen Ebene
dafür eingesetzt - dies wird sie auch in Zukunft tun -, dass
für Drittlandimporte der gleiche Standard gilt wie für
Ware, die in Deutschland hergestellt wird.
({0})
Es gibt eine weitere
Frage des Kollegen Ulrich Heinrich.
({0})
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Wenn der Erkenntnisgewinn der Opposition dient, dann kann es ja nicht schaden.
({1})
Vielen Dank, Herr Staatssekretär Thalheim. Ich habe mich sehr gefreut zu hören,
dass Sie sich auf europäischer Ebene dafür einsetzen, dass
auch von Drittländern entsprechende Tests verlangt werden sollen. Aber das sind längere Prozesse, die man nicht
von heute auf morgen hinbekommt. Deshalb aktuell die
Frage: Was unternimmt die Bundesregierung, damit es für
die Betriebe, die mit dem vorhin erwähnten Plakat werben, entsprechende Konsequenzen gibt? Mich würde die
Antwort auf diese Frage sehr interessieren.
Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der
Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft: Herr Kollege Heinrich, die Bundesministerin hat gestern in der Ausschusssitzung zugesagt, in diesem Punkt aktiv zu werden. Ich gehe davon aus, dass sie
sich seit heute Morgen damit beschäftigt, und hoffe, dass
ich Ihnen zur nächsten Ausschusssitzung eine Antwort geben kann.
Herr Kollege Heinrich, ich bleibe bei Ihren Argumenten.
({0})
Wie notwendig der Erkenntnisgewinn gerade bei Ihnen
wäre, haben Sie durch Ihren Redebeitrag deutlich gemacht.
({1})
Zu Ihrer Argumentation wäre mir eine Reihe landwirtschaftlicher Fachbegriffe eingefallen, die ich hier aber aus
Höflichkeit nicht äußern will.
({2})
Erstens. Verordnungsermächtigungen sind im Bereich des landwirtschaftlichen Fachrechtes, also im Futtermittelrecht, im Tierkörperbeseitigungsrecht und übrigens auch im Lebensmittelrecht, durchaus üblich und kein
Novum, wie Sie es dargestellt haben.
Zweitens. Die Frage der 0,0-Grenze wird durch das
Gesetz überhaupt nicht berührt. Sie wird durch das Verfütterungsverbotsgesetz geregelt, dem Sie übrigens zugestimmt haben.
({3})
Sie haben also ein Plädoyer gegen ein Gesetz gehalten,
dem Sie selbst zugestimmt haben. Ich kann Ihrer Argumentation nur insofern folgen, als dass wir das bei nächster Gelegenheit ändern sollten.
Drittens. Auch die Keulung ist nicht Gegenstand des
BSE-Maßnahmengesetzes.
({4})
- Nein! - Das Gesetz enthält zu Recht eine Verordnungsermächtigung.
({5})
- Nein, es kommt nicht auf dasselbe heraus. - Die Verordnung muss natürlich auf politischer Ebene diskutiert
werden: auf der einen Seite mit den Ländern und auf der
anderen Seite im Parlament und dort vor allen Dingen im
Ausschuss. Die Frage wird sein - das ist der entscheidende Punkt -, ob wir uns eher Ihrer Argumentation anschließen, für die zugegebenermaßen einiges spricht, oder
ob wir auch Argumente übernehmen, die dafür sprechen,
dem vorbeugenden Verbraucherschutz das entsprechende
Gewicht einzuräumen.
Ich kann Ihnen als Antwort auf Ihre Frage, ob die Keulung in Zukunft praktiziert werden solle oder nicht, nur
das sagen, was ich angesichts der Tötung von 1 000 Rindern in Sachsen-Anhalt gesagt habe. Ich habe dort ausgeführt, dass wir von dieser Praxis abrücken, sobald wir es
vor den Verbraucherinnen und Verbrauchern und vor den
Landwirten verantworten können. Diese Aussage gilt
weiterhin.
({6})
Wir werden eine Verordnung auf den Weg bringen. Der
Vorschlag der Bundesregierung, alle Rinder einer betroffenen Herde zu töten, wird in dem Entwurf enthalten sein.
In diesem Zusammenhang haben wir über den vorbeugenden Verbraucherschutz zu diskutieren. Wenn es richtig
ist, dass BSE über Futtermittel übertragen wird und dass
auch andere Tiere des Bestandes das gleiche Futter fressen, dann entspricht es einer gewissen Logik, den ganzen
Bestand zu töten.
Ein weiterer Aspekt ist der Verbraucherschutz
- wenn ich das so sagen darf - in Richtung der Landwirte.
Es würde keinem etwas nützen, wenn wir von der Praxis
der Tötung der jeweiligen Bestände abweichen, aber anschließend weder die Milch noch das Fleisch gekauft werden würde. Das heißt, wir müssen mit der Öffentlichkeit,
mit der Wissenschaft, mit der Ernährungsindustrie, mit
den Bauern und mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern in einen Dialog eintreten. Erst wenn wir sicher sein
können, dass wir gute Gründe für ein Abrücken von dieser Praxis haben und unser Vorgehen letztendlich von der
Öffentlichkeit akzeptiert wird, können wir zu einer anderen Entscheidung kommen.
({7})
Um noch eine letzte Bemerkung anzufügen: Es ist
natürlich auch notwendig, das Thema in der Öffentlichkeit nicht unter Sensationsaspekten, sondern sachlich zu
diskutieren.
({8})
In der Vergangenheit lag hier der größte Missstand. Wir
werden dann erkennen, dass es mit dem Verbraucherschutz durchaus zu vereinbaren ist, wenn wir Schritt für
Schritt zu einer anderen Praxis kommen.
Zu diesem Dialog, Herr Kollege Heinrich, darf ich Sie
schon an dieser Stelle einladen. Im Gesetzentwurf steht,
wie gesagt, lediglich die Verordnungsermächtigung. Die
Verordnung wird damit keineswegs vorweggenommen.
Vielen Dank.
({9})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen ein-
gebrachten Entwurf eines BSE-Maßnahmengesetzes. Es
handelt sich um die Drucksachen 14/5219 und 14/5332.
Mir liegt eine schriftliche Erklärung gemäß § 31 der
Geschäftsordnung der Kollegin Susanne Jaffke vor.1) Zu
einer mündlichen Erklärung gemäß § 31 der Geschäftsordnung erteile ich jetzt dem Kollegen Peter Harry
Carstensen das Wort.
Ich
mache es kurz, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Ich gebe diese Erklärung auch im Namen der Kollegen
Herr Kansy, Herr Siemann, Herr Scherhag, Herr Deß,
Herr Gerd Müller und Frau Ilse Aigner ab.
({0})
Wir werden dem Gesetz zustimmen, obwohl wir als
Parlamentarier bei einem Gesetz, das so viele Verordnungsermächtigungen enthält, dieselben Bauchschmerzen haben, wie sie der Kollege Heinrich hier formuliert
hat. Wir stimmen deswegen zu, weil wir in einer Situation
sind, in der schnelles Handeln angebracht ist
({1})
und in der wir merken, dass wir von Woche zu Woche
neue Erkenntnisse gewinnen, die schnell umgesetzt werden müssen. Obwohl ich, wie gesagt, als Parlamentarier
diese Bauchschmerzen habe, der Regierung durch die
Verordnungsermächtigung so viele Vollmachten zu geben, halte ich es für richtig, dass die Regierung in dieser
Sache bei neuen Erkenntnissen ausgesprochen schnell
reagieren kann.
Ich stimme auch deswegen zu, weil dadurch die Möglichkeit besteht, nach neuen Erkenntnissen von der Herdenkeulung abzukommen und sehr schnell zu einer Kohortenkeulung oder einer anderen modifizierten Keulung
und Bekämpfung von BSE in den Beständen zu kommen.
Dies ist im Moment für mich sowie die Kolleginnen
und Kollegen, die diese Erklärung unterstützen, der
Grund, Ja zu sagen und der Regierung trotz unserer
Bauchschmerzen diese Ermächtigung zu geben. Wir wollen, dass schnell gehandelt wird. Wir wollen nicht jedes
Mal in ein langwieriges Gesetzgebungsverfahren eintreten, sondern ermöglichen, dass Erkenntnisse sehr schnell
umgesetzt werden können. Das können wir mit diesem
Gesetz erreichen.
Schönen Dank.
({2})
Wir kommen zur Ab-
stimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die
Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der PDS-
Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und eine
Stimme aus der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der
PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Peter Rauen, Gerda Hasselfeldt, Dietrich
Austermann, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Senkung der Mineralölsteuer
und zur Abschaffung der Stromsteuer ({0})
- Drucksache 14/4097 ({1})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({2})
- Drucksache 14/5272 -
1) Anlage 2
Berichterstattung:
Abgeordnete Heinz Seiffert
Detlev von Larcher
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/5273 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Emil Schnell
Oswald Metzger
Jürgen Koppelin
Dr. Uwe-Jens Rössel
Dietrich Austermann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({4}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich
({5}), Hildebrecht Braun ({6}), Rainer
Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
Kraftfahrzeugsteuer für schwere LKW auf EU-
Niveau senken - Bedingungen am Güterkraft-
verkehrsmarkt harmonisieren
- Drucksachen 14/4254, 14/5300 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Gerhard Schüßler
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({7}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat, das
Europäische Parlament, den Wirtschafts- und
Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Besteuerung von Flugkraftstoff
KOM ({8}) 110 endg.; Ratsdok. 06743/00
- Drucksachen 14/3576 Nr. 2.11, 14/4443 Berichterstattung:
Abgeordneter Klaus Lennartz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die SPDFraktion ist der Kollege Ernst Ulrich von Weizsäcker.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Damen und Herren! Ich betrachte es als eine Ehre, gegenüber dem Hohen Hause zu
begründen, warum man einen in der gesamten Diktion
unsinnigen Antrag der CDU/CSU-Fraktion ablehnen
muss.
({0})
Die CDU/CSU-Vertreter haben sich an einigen Stellen
sogar zu der Behauptung verstiegen, dass die ökologische
Steuerreform der Umwelt schade. Allerdings wurde dies
bei der Anhörung im November von niemandem bestätigt,
nicht einmal von denjenigen, die die Oppositionsfraktionen eingeladen haben.
Es ist zwar zutreffend und bedauerlich, dass der eine
oder andere Busunternehmer in der Zeit der explodierten
Weltmarktölpreise hat aufgeben müssen. Das hatte aber
sehr wenig mit den damals 6 plus 1 Pfennig Ökosteuer zu
tun.
({1})
Es ist unsinnig und unglaubwürdig, an diesen 7, 14 bzw.
inzwischen 21 Pfennig all die Veränderungen aufzuhängen, die man in unserem Land sieht. Bekanntlich wurden
ja dem Benzinpreis während der Regierungszeit von
Dr. Kohl 50 Pfennig aufgeschlagen. Doch lassen wir dieses Aufrechnen. Denn schließlich plädiere ich ja nicht für
ein Gesetz zur Abschaffung der Kohl-Benzinsteuer.
Lassen Sie uns stattdessen über das sprechen, was in
der Diskussion neu ist, und nicht die alten Schlachten neu
schlagen. Neu ist zum Beispiel, dass bei der Anhörung,
die wir zu diesem Thema durchgeführt haben, in den
Herbstgutachten der Wirtschaftsinstitute und in den
Äußerungen des Sachverständigenrates zur Begutachtung
der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung auf einmal - anders als früher - ein eindeutiges Plädoyer der führenden
Ökonomen dieser Republik für die ökologische Steuerreform zum Ausdruck gekommen ist.
({2})
Ich gestatte mir hier, aus dem Herbstgutachten der
Wirtschaftsinstitute zu zitieren:
Eine Senkung der Mineralölsteuer würde lediglich
bedeuten, dass der Staat die Belastung von den
Ölverbrauchern auf die Allgemeinheit umverteilt.
Das wäre der falsche Weg.
Weiter unten heißt es:
Die Mineralölsteuersenkung ({3}) letztlich gar
nicht beim Verbraucher an, sondern nützte lediglich
den Ölstaaten bzw. den Mineralölkonzernen,
während gleichzeitig die öffentlichen Haushalte belastet würden.
So ähnlich hat sich vor etwa 14 Tagen Professor Norbert
Walter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, geäußert.
Allerdings raten diese renommierten Wirtschaftswissenschaftler, die ökologische Steuerreform noch etwas
konsequenter durchzusetzen, zum Beispiel die bestehenden Ausnahmen zu streichen. Das Geschrei derjenigen,
die sich gegen die ökologische Steuerreform ausgesprochen haben, möchte ich hören, wenn wir diesem Ratschlag folgen würden.
Oft hört man von der Oppositionsseite die Kritik, es
handele sich bei der ökologischen Steuerreform um eine
Vermischung von Zielen des Klimaschutzes, der Ressourcenschonung und der Beschäftigungspolitik.
({4})
Bei dieser Kritik liegt ein grundsätzliches Missverständnis vor. Es beruht auf einer viel zu engen und veralteten
Auffassung von Umweltpolitik. Bei dieser alten Umweltpolitik ging es um die rasche und gezielte Verminderung
Vizepräsidentin Petra Bläss
von Schadstoffen. Diese Hausaufgaben sind in den letzten
Jahrzehnten - übrigens mit Beiträgen aus allen Parteien in Deutschland vorbildlich erledigt worden.
Bei der neuen ökologischen Herausforderung geht es
um etwas, was man eigentlich nur mit dem Wort „ökologischer Strukturwandel“ bezeichnen kann. Da geht es
um eine neue Agrarpolitik; darüber haben wir gerade gesprochen. Es geht um eine neue Energiepolitik, eine neue
Verkehrspolitik und auch eine neue Technologiepolitik.
Es geht also nicht nur um die Minderung des CO2-Ausstoßes, sondern um eine generelle Minderung des
Ressourcenverbrauchs. Das ist natürlich ein langfristiger
Prozess.
Auch die industrielle Revolution war ein langfristiger
Prozess. Sie hat 200 Jahre gedauert. Im Laufe dieser Zeit
ist die Arbeitsproduktivität etwa verzwanzigfacht worden. Heute ist der Faktor Arbeit überhaupt nicht knapp
- sonst hätten wir keine Arbeitslosen -; heute ist die Natur das eigentlich knappe Gut. Es geht also hauptsächlich
darum, endlich die Ressourcenproduktivität zu erhöhen.
({5})
In diesem Kontext ist es dann verhältnismäßig nachrangig, ob Kohle oder Atomstrom eingespart wird. Die Beschränkung auf ein ganz bestimmtes Ziel, zum Beispiel
auf CO2, wird dem Thema nicht gerecht.
Dass die Wirkungen der ökologischen Steuerreform
nicht über Nacht eintreten, weiß jeder, der etwas vom
Strukturwandel versteht. Aber immerhin haben wir im Jahr
2000 interessante Signale für einen solchen beginnenden
Strukturwandel erlebt. Zum Beispiel ist die volkswirtschaftliche Energieproduktivität - die Menge Wohlstand
pro eingesetzter Energieeinheit - um mehr als 3 Prozent
gestiegen. Damit ist sie mehr als doppelt so groß wie in den
Jahren billiger Energie.
In der Zeit seit der Einführung der ökologischen Steuerreform erleben wir beispielsweise eine dramatische Entwicklung hinsichtlich der Energieeffizienz im Gebäudebereich.
({6})
Die Bestellungen für so genannte Passivhäuser, die im
Vergleich zum Altbaubestand nur noch ein Zehntel Energie verbrauchen, gehen seit Jahren exponentiell in die
Höhe. Jetzt kommt die Altbausanierung hinzu. Mit den
Zinseinsparungen aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen werden 2 Milliarden DM für Zinsverbilligungen
zur Verfügung gestellt. Das summiert sich zu einem Investitionsvolumen von etwa 10 Milliarden DM für Altbausanierungen. Auch in diesem Bereich erwarten wir
technische Sprünge und große Einspareffekte.
Ähnlich sieht es im Automobilbereich aus. Wer vor
ein paar Jahren für ein Dreiliterauto eingetreten ist, war in
Gefahr, sich lächerlich zu machen. Heute schmückt sich
jede Firma, die sich modern geben will, mit einem Programm für ein Dreiliterauto.
({7})
Ich möchte gerne wissen, ob Firmen, die noch die
Technologien vergangener Jahrzehnte verkaufen, den
großen chinesischen Markt oder andere Exportmärkte
erobern können. Nein, das werden eindeutig diejenigen
Firmen sein, die - zum Teil unter dem Druck der ökologischen Steuerreform, zum Teil aus internen Modernisierungsgründen - auf das Effizienzauto setzen.
Ein weiterer Bereich des ökologischen Strukturwandels, der eingesetzt hat, sind die erneuerbaren Energiequellen. Deutschland ist diesbezüglich in den letzten zwei
Jahren zum Spitzenreiter weltweit geworden. Hunderte
von Hightech-Arbeitsplätzen sind zum Beispiel in BadenWürttemberg, aber auch in anderen Bundesländern geschaffen worden; dieser Trend ist ungebrochen.
Nicht zu vergessen ist bei all dem die Finanzierungsseite der Ökosteuerreform. Dass wir endlich den jahrzehntelangen Trend der Steigerung der Lohnnebenkosten
gebrochen haben, ist ein unbestreitbar segensreiches Signal für die Arbeitsmärkte.
Diese erfreulichen Trends bei Gebäuden, Autos, Sonnenenergie, Windenergie und Lohnnebenkosten jetzt abzubrechen wäre also nicht nur umweltpolitisch, sondern
auch wirtschaftspolitisch unverantwortlich.
({8})
Sie können nicht im Ernst erwarten, dass sich die SPDFraktion einer solchen unverantwortlichen Politik anschließt.
Ich hatte gesagt, ich wolle über neue Nachrichten sprechen. Eine sehr interessante neue Nachricht haben wir
dieser Tage aus Belgien gehört. Belgien wird ja in der
zweiten Jahreshälfte 2001 die Präsidentschaft in Europa
haben. Die durch den Gipfel von Nizza ermöglichte neue
Form der Koordination in dem so genannten Verfahren
der verstärkten Zusammenarbeit wollen die Belgier nutzen, um endlich eine europäische ökologische Steuerreform auf den Weg zu bringen.
({9})
Das wäre doch ein Angebot zur Güte an CDU/CSU und
F.D.P., die immer wieder, wenn sie die deutsche ökologische Steuerreform abgelehnt haben, beteuert haben, bei
einer europäischen würden sie selbstverständlich mitmachen. Das möchte ich dann auch einmal sehen.
({10})
Aber wenn man ausgerechnet in dem Moment, in dem
durch den Erfolg des Gipfels von Nizza diese Perspektive
eröffnet ist, ein Gesetz zur Abschaffung der Ökosteuer
vorlegt, dann heißt das: Die Unglaubwürdigkeit wird perfekt. Da machen wir nicht mit.
Vielen Dank.
({11})
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Heinz Seiffert.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Ökosteuer war
von Anfang an eine Fehlkonstruktion,
({0})
eine Fehlkonstruktion, die ideologisch geleitet war und die
auch durch Ihre Reparaturversuche nicht besser geworden
ist. Wenn ich mich recht entsinne, Herr von Weizsäcker,
haben Sie das anfangs ebenso gesehen. Die einzig konsequente Lösung ist: Diese Ökosteuer muss weg.
({1})
Diese Steuer war immer ein Abkassiermodell mit
falschem Etikett. Sie haben nie besonders umweltfreundliches Verhalten belohnt und Sie haben umweltschädliches Verhalten auch nicht in jedem Fall bestraft. Dafür haben schon die umfangreichen Ausnahmen gesorgt, die mit
einem wahnsinnigen bürokratischen Aufwand umgesetzt
werden. Es ging der rot-grünen Regierung in diesem Fall
immer nur ums Geld!
Die Mehreinnahmen aus der schrittweisen Erhöhung
von Mineralöl- und Stromsteuer dienen nicht der Förderung erneuerbarer Energien oder sinnvoller Maßnahmen
im Umweltschutz. Auch sind die Steuermehreinnahmen
nicht in vollem Umfang für die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages verwendet worden, wie Sie immer vorgegeben haben. Damit sind auch noch Lafontaines Haushaltslöcher gestopft worden. Das wissen Sie ganz genau.
Die so genannte Ökosteuer ist eine sozial unausgewogene Belastung für die Bürger, für viele Bereiche der
Wirtschaft, für den Arbeitsmarkt und auch für den Umweltschutz, weil nämlich viele Investitionen, die beim
Umweltschutz dringend notwendig gewesen wären, nicht
getätigt werden konnten, Herr von Weizsäcker, weil man
das Geld in die Rentenkasse abliefern musste. Sie
schwächt die Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft und belastet den mühevollen Angleichungsprozess
der neuen Länder. Die Ökosteuer ist als untaugliches
Querfinanzierungsinstrument für die Rentenversicherung konzipiert worden. Das führt zu einem Grundwiderspruch zwischen den Zielen einer dauerhaften Einnahmeerzielung zugunsten der Rente auf der einen Seite und
der Lenkungswirkung, die eigentlich von einer ökologisch begründeten Steuer entwickelt werden sollte, auf
der anderen Seite.
Dass durch die Ökosteuer einzelne Branchen in ihrer
Existenz bedroht sind, kann Ihnen doch nicht egal sein!
Aber die Regierung bleibt trotz der massiven Proteste der
betroffenen Gewerbezweige und trotz des Unmuts der geschröpften Autofahrer stur. Zum 1. Januar 2001 trat deshalb, wie geplant, die dritte Stufe der Ökosteuer in Kraft,
die eine Verteuerung der Spritpreise um weitere 6 Pfennige brachte. Dabei hatten Sie das Glück, dass die Mineralölkonzerne kurz vorher die Preise aufgrund der Dollarentwicklung und der gesteigerten Fördermengen gesenkt
hatten.
({2})
Damit ist im Übrigen auch die Behauptung widerlegt,
Herr Poß, dass die Senkung der Ökosteuer nicht automatisch zu einer Senkung der Benzinpreise führen würde.
Das haben Sie immer gesagt. Hier ist das Gegenteil bewiesen, dass nämlich nach den Faktoren kalkuliert wird,
die für die Preisgestaltung wichtig sind.
({3})
Dies kann jedoch überhaupt nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Staat bei jedem Liter Benzin heute schon
1,43 DM an Mineralölsteuer und Mehrwertsteuer kassiert. Das sind 70 Prozent des Spritpreises, die an den
Staat gehen. Bis 2003 folgen zwei weitere Erhöhungsstufen. Damit wird dann der Staatsanteil bei 1,57 DM pro Liter liegen.
Dass die Ölmultis diese Steuererhöhungen jeweils mit
eigenen Preiserhöhungen begleiten werden, kann Sie
doch nicht ernsthaft überraschen. Damit aber überfordern
Sie die Wirtschaftsbereiche, die ihre gestiegenen Kosten
nicht über höhere Preise abwälzen können. Rot-Grün bestraft besonders die Menschen im ländlichen Raum, die
dringend auf ihr Auto angewiesen sind. Gerade dort hätte
man vielleicht noch einen Funken Verständnis, wenn zumindest ein Teil der Ökosteuer dem Straßenbau - insbesondere dem Bau von Ortsumgehungen - zugute käme.
Aber Fehlanzeige!
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, ich
will Sie einmal an Ihren Koalitionsvertrag erinnern. Das
ist vielleicht ganz interessant für Sie.
({5})
Darin gehen Sie davon aus, dass nach 1999 zwei weitere
Erhöhungsschritte kommen. Damit sollen dann die Sozialversicherungsbeiträge auf unter 40 Prozent sinken.
Bei der Ausgestaltung der Erhöhungsschritte wollten Sie
die Ergebnisse der deutschen EU-Präsidentschaft beachten. Außerdem wollten Sie die konjunkturelle Lage und
die Preisentwicklung auf den Energiemärkten berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, in allen wesentlichen Punkten haben Sie sich über Ihre Koalitionsvereinbarung hinweggesetzt. Sie haben nicht drei Erhöhungsstufen, sondern fünf beschlossen. Außerdem haben Sie die
europäische Komponente, die konjunkturelle Lage in
Deutschland sowie die Preisentwicklung auf den Energiemärkten nicht berücksichtigt. Von gesetzlichen Lohnnebenkosten unter 40 Prozent sind Sie trotz der drei Erhöhungsstufen meilenweit entfernt.
({6})
Statt nach Ihrer eigenen Vereinbarung zu handeln, haben Sie die Ökosteuer ohne Rücksicht auf Verluste durchgezogen. Weder die konjunkturelle Entwicklung noch
die Preisentwicklung auf den Energiemärkten hätten es
1999 zugelassen, die Preise noch weiter in die Höhe zu
treiben. Ganz im Gegenteil: Der Preis für Rohöl ist gerade
im letzten Jahr in Schwindel erregende Höhen geklettert
und hat damit die Inflation angeheizt. Auch die Abstimmung mit den europäischen Partnern war ein leeres Versprechen.
Wie sagte doch Bundeskanzler Schröder am 26. Oktober 1998 im „Spiegel“?
Wir wollen auch aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit die Energiebesteuerung nicht im nationalen
Alleingang machen.
Im selben Interview sagte er:
Ich bedauere auch, dass der eine oder andere 10 Mark
im Monat mehr fürs Autofahren, fürs Heizen, fürs
Gas zu zahlen hat. Aber mehr sind es dann auch nicht
im ungünstigsten Fall. Bei 6 Pfennig ist Ende der
Fahnenstange.
Worte und Taten fallen beim Herrn Bundeskanzler ja
gelegentlich weit auseinander, es sei denn, er hätte mit
6 Pfennig nur die jährliche Erhöhungsquote gemeint. Hat
er aber nicht und die 10 Mark im Monat waren ebenfalls
ein schlechter Witz.
Deshalb sage ich Ihnen ganz offen: Ich glaube dem
Herrn Bundeskanzler kein Wort, wenn er jetzt sagt, nach
2003 und nach fünf Ökosteuerstufen soll keine weitere
Erhöhung folgen. Das ist doch ein durchsichtiges Spiel in
der rot-grünen Koalition, wenn zur gleichen Zeit namhafte Grüne wie der stellvertretende Ministerpräsident
von NRW, Vesper, und unser geschätzter - weil ehrlicher Kollege Loske ankündigen, dass ihre Fraktion über 2003
hinaus an der schrittweisen Erhöhung der Ökosteuer festhalte.
Die Erfahrung zeigt doch, wie dieses abgekartete Spiel
läuft: Die Grünen sind nach wie vor auf dem Weg zu
5 DM pro Liter Benzin und der Bundeskanzler würde folgen. Nur gut, dass die Meinung von Herrn Schröder nach
der verlorenen Bundestagswahl 2002 nur noch am Rande
interessiert.
({7})
Dabei würde seine Begründung für das Ende der
Ökosteuer nach 2003 bereits heute gelten. Herr Schröder
sagte vor wenigen Tagen im „Mannheimer Morgen“, es
sei ein Fehler, die Ökologisierung des Steuersystems stets
auf die Frage der Verteuerung des Sprits zu beziehen, hier
gebe es objektive Grenzen;
({8})
diese hätten mit der Automobilkonjunktur zu tun, aber
auch mit der Belastbarkeit der Menschen. Ich denke, die
Äußerung war nicht mit Ihnen abgestimmt, Herr von
Weizsäcker.
Genau diese richtigen Argumente des Kanzlers gelten
nämlich bereits heute und nicht erst nach 2003. Es kann
Ihnen doch nicht entgangen sein, dass die Zulassungszahlen der PKW in Deutschland dramatisch zurückgegangen
sind und dass die Grenze der Belastbarkeit der Menschen
und Unternehmen längst erreicht oder überschritten ist.
Den Menschen wird durch Ihre übermäßige Benzinbesteuerung und durch die demnächst ins Haus flatternde
Abrechnung der Mietnebenkosten Kaufkraft entzogen,
die im Wirtschaftskreislauf dringend benötigt wird. Die
teilweise minimale Entlastung, die Sie den Lohn- und
Einkommensteuerzahlern durch die Steuerreform gewährt haben, wird zu einem guten Teil wieder abkassiert.
All diejenigen Mitbürger, die weder von stabilen
Rentenversicherungsbeiträgen noch von der Steuerreform
profitieren, werden von der Ökosteuer netto erfasst. Das
sind vor allem Rentnerinnen und Rentner und die sozial
Schwachen, auf die Ihre Politik grundsätzlich keine Rücksicht nimmt.
({9})
Darüber kann auch der untaugliche Reparaturversuch
durch die Entfernungspauschale und den einmaligen
Heizkostenzuschuss, die Sie zulasten der Länder und
Kommunen eingeführt haben, nicht hinwegtäuschen.
({10})
Meine Damen und Herren, die Ökosteuer passt auch
konjunkturell nicht in die Landschaft. Es kann Ihnen doch
nicht verborgen geblieben sein, dass sich die Wachstumsrate in Deutschland besorgniserregend entwickelt. Namhafte Volkswirte halten die Prognosen der Regierung für
2001 für viel zu optimistisch.
Obwohl wir mit 2,4 Prozent Wirtschaftswachstum in
Euro-Land nur den vorletzten Platz einnehmen, drohen
wir auf 2,0 Prozent zurückzufallen. Ich will den Teufel gar
nicht an die Wand malen, denn der regiert in Baden-Württemberg erfolgreich,
({11})
aber wenn ich die konjunkturelle Entwicklung in den
USA sehe - meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich
hoffe, dass Ihnen das Zwischenrufen nicht vergeht -, dann
habe ich die große Sorge, dass dies auch auf unsere Wirtschaft übergreift und dass unsere exportorientierte Wirtschaft von dieser Entwicklung relativ rasch erfasst wird.
In dieser Situation müsste eigentlich die Binnennachfrage anspringen, aber dafür sind Steuererhöhungen für
Wirtschaft und Verbraucher das pure Gift.
Viele Wirtschaftsbereiche, die auf bezahlbare Energiekosten angewiesen sind, empfinden die Ökosteuer zu
Recht als Folterwerkzeug. Ich nenne hier nur das Transportgewerbe, die Spediteure, die Omnibusbetriebe; ich
nenne auch die Landwirtschaft und die Betriebe in den
neuen Ländern, die es derzeit besonders schwer haben. In
diesen Betrieben wird um die Erhaltung jedes einzelnen
Arbeitsplatzes gekämpft und diesen Kampf für die Arbeitnehmer sollte die Regierung nicht durch eine Ökosteuer, die keiner akzeptiert, erschweren.
({12})
Meine Damen und Herren, wenn Sie nun sagen:
„Aber das Geld für die Rente brauchen wir doch“, dann
will ich dazu als ehemaliger Kämmerer auch Stellung nehmen. Ich kann nur entgegnen: Hätten Sie im November
1998 unsere Rentenreform nicht zurückgenommen, hätten
Sie den fairen demographischen Faktor nicht außer Kraft
gesetzt und dann zwei Jahre nur diskutiert, dann hätten Sie
von Anfang an keine Ökosteuer in dieser Form gebraucht.
({13})
Ich finde, Lafontaines Haushaltslöcher hätten Sie
eben auf seriöse Weise stopfen müssen. Wenn Sie uns jetzt
vorwerfen, dass wir zur Finanzierung dieser Ausfälle
nichts sagen, dann ist das so, als wenn Ihnen, nachdem Sie
in den falschen Zug eingestiegen sind, der Schaffner
sagte: „Sie erreichen so Ihr Ziel nicht“ und Sie ihm entgegneten: Jetzt müssen Sie mir aber sagen, wie ich wieder
zurückkomme und wer mir diese Fahrt finanziert. - So
geht es nicht.
({14})
Diese Ökosteuer ist als Bestandteil einer verfehlten Politik, die Sie zulasten der Menschen und zulasten der Wirtschaft machen, abzulehnen. Kehren Sie auf diesem verhängnisvollen Weg um. Stimmen Sie unserem Gesetz zur
Abschaffung dieser Ökosteuer zu!
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat Kollege
Dr. Reinhard Loske für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege von Weizsäcker hatte ja darum gebeten, wir sollten uns einmal bemühen, nach neuen Argumenten Ausschau zu halten. Herr Kollege Seiffert, obwohl ich Ihnen
auch gern Ehrlichkeit attestiere und hohe Anerkennung
zolle, muss ich doch sagen: Dem haben Sie wirklich nicht
genügt. Das war alles altes Zeug von vorgestern.
({0})
Das ist falsch und bleibt falsch.
({1})
Was vielleicht für uns auch noch eine ganz interessante
Sache ist: Früher, wenn man klarmachen wollte, dass die
Union bei der Debatte über die Ökosteuer auch schon einmal ein Stück weiter war, musste man immer im Zitatenschatz der Vergangenheit suchen. Man musste gucken,
was Herr Töpfer, Frau Merkel oder Herr Schäuble früher
gesagt haben.
({2})
Heute braucht man gar nicht mehr in alten Unterlagen
nachzusehen, sondern muss nur die Zeitungen von heute
heranziehen. Da wird nämlich unter anderem Herr
Schäuble, der leider zurzeit nicht da ist, interviewt und mit
dem bemerkenswerten Satz zitiert:
Der Verbrauch von Ressourcen muss langfristig in
größerem Maße zur Finanzierung öffentlicher Haushalte herangezogen werden als bisher, um die Arbeitskosten zu entlasten.
Da kann ich nur sagen: Der Mann hat Recht.
({3})
Das ist nämlich ganz genau das Prinzip der ökologischen
Steuerreform, so wie wir sie umsetzen, wie Sie es aber
immer noch nicht verstanden haben.
Die ökologische Steuerreform ist und bleibt ein zentrales Instrument zur Modernisierung unserer Volkswirtschaft und vor allen Dingen zur Verringerung unserer Abhängigkeit vom Erdöl. Man kann deshalb sagen: Eine
Abschaffung der Ökosteuer wäre unverantwortlich und
falsch.
({4})
Ich will mich aber jetzt doch gern einmal mit Ihrem
Gesetzentwurf auseinander setzen, denn Sie haben ja versucht, auf die argumentative Ebene zu gelangen. Wir hatten ja im Finanzausschuss vor wenigen Monaten eine
Anhörung und man darf sagen, dass das, was Sie da präsentiert haben, vollkommen auseinander genommen
wurde.
({5})
Das wurde nicht ernst genommen und es war jedem mit
Ausnahme des BDI klar - Sie waren ja selbst da, Herr
Seiffert, zumindest zeitweise -,
({6})
dass das Ganze ein durchsichtiger Showeffekt ist und
keine Substanz vorhanden ist. Die Veranstaltung war im
Prinzip eine teure Anhörung auf Kosten des Steuerzahlers, auf die wir auch ganz und gar hätten verzichten können.
({7})
Ich komme jetzt zu den einzelnen Argumenten. Ich
werde Herrn Ewringmann vom Finanzwissenschaftlichen
Forschungsinstitut der Universität Köln heranziehen.
Dieses hat viel für den BDI gearbeitet und steht deshalb
sicherlich nicht im Verdacht, übermäßig einseitig zu sein.
Er nimmt sich Ihre Argumente im Einzelnen vor und
schreibt als ersten Satz:
Der Gesetzentwurf ... geht von falschen Annahmen
und falschen Behauptungen aus.
Danach greift er sich einzelne Aussagen Ihres Gesetzentwurfes heraus. Ich werde ihn im Einzelnen zitieren.
Ewringmann sagt:
Erstens. Die Aussage, dass sich die Ökosteuer zu einer Belastung sowohl für alle Bürger als auch für die
Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und den Umweltschutz
entwickelt,
({8})
widerspricht sämtlichen bisher vorliegenden empirischen Untersuchungsbefunden. Legt man die wissenschaftlichen Ergebnisse zugrunde, so ist die deutsche Wirtschaft insgesamt von der Ökosteuer und
den Sozialabgabensenkungen bisher entlastet worden,
der Arbeitsmarkt wurde - wenn auch nur leicht - positiv beeinflusst. Für die Umwelteffekte ist ein negatives Ergebnis auszuschließen.
Im Gegenteil - dazu komme ich gleich -: Sie sind positiv.
Das heißt, das Argument, die Ökosteuer sei beschäftigungs-, sozial- und umweltpolitisch kontraproduktiv,
wird durch die Fakten nicht gedeckt. Es ist schlicht und
einfach falsch und dumme Polemik.
({9})
Zweitens - ich zitiere wieder wörtlich -:
Die Aussage, dass die ökologische Lenkungswirkung daran scheitert, dass sie als Quersubventionierungsinstrument für die Rentenversicherung konzipiert wurde, verkennt triviale Zusammenhänge. Die
ökologische Wirkung der Steuer hängt vor allem von
Bemessungsgrundlage und Steuersatz ab. ... Die Mittelverwendung für die Senkung der Sozialversicherungsbeiträge stört indessen die ökologische Lenkungswirkung ... überhaupt nicht.
Das heißt, auch diese Behauptung ist falsch.
({10})
Drittens - ich zitiere wieder wörtlich -:
Die Aussage, dass die Wettbewerbsposition der deutschen Volkswirtschaft geschwächt werde, ist falsch!
Durch eine aufkommensneutrale Umschichtung von
volkswirtschaftlichen Abgaben- bzw. Steuerlasten
wird die Volkswirtschaft nicht geschwächt.
Auch diese Behauptung von Ihnen ist falsch.
Der vierte Punkt betrifft das so genannte AustermannMärchen. Herr Seiffert, hören Sie zu, es ist wirklich sehr
interessant. Ewringmann sagt:
({11})
Es heißt: Beträge in einer Größenordnung von jährlich 16 Milliarden DM hat sie
- die Bundesregierung regelmäßig zur Finanzierung des allgemeinen Haushalts verwendet. Daraus muss bzw. soll wohl die Folgerung abgeleitet werden, in den beiden bisherigen
Erhebungsjahren der Ökosteuer seien insgesamt
32 Milliarden DM des Ökosteueraufkommens falsch,
also nicht zur Senkung der Rentenversicherungsbeiträge verwendet worden.
Jetzt kommt der schönste Satz:
Die Tatsache, dass dieser Betrag
- also diese 32 Milliarden DM weit über der bisher vereinnahmten Ökosteuer
- nämlich 25 Milliarden DM liegt, macht deutlich, wie diese Aussage einzuordnen
ist.
({12})
Seine Schlussfolgerung ist:
Der Gesetzentwurf sollte nicht weiter verfolgt werden. Er steht einer sachlichen Diskussion ... entgegen.
Dem ist wirklich nichts mehr hinzuzufügen, außer vielleicht abschließend ein paar nackte Zahlen.
Neben der Tatsache - das wurde bereits von dem Kollegen von Weizsäcker genannt -, dass fast alle Heizungsanlagenbauer und alle Automobilkonzerne mittlerweile
mit energieeffizienten Modellen werben, gibt es weitere
Fakten. Erstes Faktum: Der öffentliche Personennahverkehr profitiert. Das Wachstum im letzten Jahr betrug
1,3 Prozent.
Zum Mineralölabsatz: Bei Ottokraftstoffen gab es ein
Minus von 4,3 Prozent, bei leichtem Heizöl ein Minus von
5,7 Prozent, bei schwerem Heizöl ein Minus von 8,7 Prozent. Die Begründung des Mineralölwirtschaftsverbandes - ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin - lautet: erstens Rückgang der Fahrleistung und zweitens geringerer
spezifischer Verbrauch der Fahrzeuge aufgrund effizienterer Modelle.
Ich glaube, diese Zahlen sprechen für sich und zeigen,
wie flach Ihr Antrag - ich muss sagen: leider - ist.
({13})
Ihn können wir leider nicht unterstützen. Wir werden ihn
ablehnen.
({14})
Jetzt spricht der Kollege Hermann Otto Solms, F.D.P.-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier wird eine
ökologisch-ökonomische Rundumdiskussion geführt, die
von den eigentlichen Problemen ablenkt. Es ist offenkundig so, dass die Oppositionsparteien, jedenfalls CDU/
CSU und F.D.P.,
({0})
auch früher Vorschläge für eine stärkere ökologische Belastung vorgelegt haben. Das heißt aber doch noch lange
nicht, dass wir den Unsinn dieser Ökosteuer verteidigen
können.
({1})
Herr von Weizsäcker, das Problem haben Sie sauber
umgangen. In einer früheren Rede haben Sie es deutlicher
angesprochen: In dieser Ökosteuer stecken gewaltige
Konflikte, Widersprüche.
Erstens steht die ökologische Lenkungsfunktion völlig im Hintergrund. In Wirklichkeit geht es um die Finanzierung der Rente.
({2})
Zweitens. Auch ökologisch ist diese Steuer nicht wettbewerbsneutral. Unterschiedliche Energieträger werden
unterschiedlich behandelt. Der ökologisch schlechteste
Energieträger, die Kohle, wird von dieser Belastung
ausgenommen.
({3})
Der öffentliche Personennahverkehr ist in diese Besteuerung einbezogen.
Drittens. Die Betroffenen werden unterschiedlich beund entlastet. Eine große Gruppe der Bevölkerung kann
von den Entlastungen bei den Lohnzusatzkosten nicht
profitieren: Hausfrauen, Rentner, Sozialhilfeempfänger,
Arbeitslose, Studenten und Schüler. Das wissen Sie doch
alles.
({4})
Herr Kollege Solms,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Loske?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Solms, ich als Ökologe bin wahrlich kein
übermäßiger Freund der Kohle, doch ich will Sie ernsthaft
fragen: Wissen Sie nicht, dass die Kohle im Wesentlichen
zur Stromerzeugung eingesetzt wird und dass wir eine
Stromsteuer haben, die die Kohle vollständig erfasst? Ihre
Behauptung, die Kohle sei von der Ökosteuer ausgenommen, ist deswegen schlichtweg falsch. Meinen Sie etwa
den kleinen Anteil des Hausbrandes? Wenn Sie wollen,
dass wir auch Briketts besteuern, dann bringen Sie doch
einen entsprechenden Antrag ein. Wenn Sie glauben, dass
dadurch die ökologische Konsistenz erhöht wird, können
Sie dies tun. Es könnte aber sein, dass Sie in diesem Punkt
irren.
({0})
Herr Kollege
Loske, vielen Dank, dass Sie Ihre Frage selbst beantworten. Überall dort, wo Kohle direkt als Energieträger eingesetzt wird, ist sie von der Besteuerung ausgenommen.
Das haben Sie gerade bestätigt. Dies ist einer der vielen
Widersprüche dieser Steuer. Einen würde man vielleicht
noch akzeptieren, aber die Fülle der Widersprüche ist so
groß, dass man sagen muss: Die Logik in diesem System
fehlt.
({0})
Ich bekenne mich weiterhin offen zu dem Vorschlag
der F.D.P., dass ein dritter Mehrwertsteuersatz auf den
Energieverbrauch eine vernünftige Lösung dieses Problems wäre. Dieser Steuersatz müsste jedoch in Europa
einheitlich sein. Das wäre technisch unglaublich einfach,
völlig wettbewerbsneutral und würde die Energie ohne
Unterschied gleichmäßig belasten.
({1})
- Das ist in Europa bis jetzt nicht akzeptiert worden, weil
es gar nicht verhandelt worden ist. Das ist das Problem.
Aber jeder, dem Sie dies erklären, wird dies als das ideale
Instrument ansehen.
Die Ökosteuer beinhaltet sehr viele Widersprüche. Einige besonders krasse will ich Ihnen erläutern. Sie behaupten, mit dieser Steuer würden die Lohnzusatzkosten
entsprechend der Belastung gesenkt. Bei der Ökosteuererhöhung Anfang dieses Jahres ist die Belastung für die Verbraucher um knapp 6 Milliarden DM einschließlich
Mehrwertsteuer gestiegen. Die Entlastung bei den Rentenversicherungsbeiträgen von 19,3 auf 19,1 Prozent ist
nur zur Hälfte den Verbrauchern, den Arbeitnehmern, zuzurechnen, weil die andere Hälfte den Arbeitgebern zugute kommt. Die Verbraucher werden also nur um
1,8 Milliarden DM entlastet. Wo findet denn ein Ausgleich statt? Was Sie der Öffentlichkeit erzählen, ist gelogen. Es stimmt überhaupt nicht.
({2})
Ein anderes pikantes Beispiel: Die Sozialhilfeempfänger müssen keine Rentenversicherungsbeiträge zahlen.
Über die Ökosteuer müssen sie aber für ihre Rentenversicherung indirekt Beiträge zahlen. Was soll das? Auch das
wird nicht erklärt.
({3})
Wir unterstützen den Vorschlag der Union, diese Steuer
abzuschaffen. Das Thema soll auf der Tagesordnung bleiben. Aber die Lösung soll systemimmanent, vernünftig,
gleichmäßig und ohne Wettbewerbsverzerrungen sein.
Eines möchte ich noch ergänzen, Herr von Weizsäcker.
Es ist nun wirklich nicht so, dass die gestiegene Energieeffizienz auf die Ökosteuer zurückzuführen ist. Über das
Dreiliterauto redet die Automobilindustrie schon seit gut
zehn Jahren und forscht an seiner Entwicklung.
({4})
Auch die Senkung des Energieverbrauchs in den Haushalten ist ein Thema, das schon in den 70er-Jahren diskutiert worden ist. Bereits damals gab es Anreize und das ist
seitdem konsequent fortgesetzt worden. Das hat mit der
Ökosteuer, die es erst seit zwei Jahren gibt, überhaupt
nichts zu tun.
({5})
Lassen Sie mich noch einige Bemerkungen zu dem Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion zu den schweren LKW
machen. Wir haben gefordert: Aufgrund der unerträglichen und inakzeptablen Belastungen des deutschen Speditionsgewerbes im Wettbewerb müssen wir eine Entlastung schaffen, die wir europakonform ohne weiteres
selber umsetzen können. Wir müssen nämlich dazu die
Kfz-Steuer für schwere LKW in Deutschland auf das in
Europa festgelegte Mindestniveau senken. Das bedeutete
pro schwerem LKW eine Entlastung um 1 000 DM im
Jahr. Damit könnte die gewaltige Benachteiligung im
Wettbewerb ein wenig ausgeglichen werden.
Zu diesem Thema hat es Verhandlungen mit dem Verbandspräsidenten Schmidt im Bundeskanzleramt gegeben. Man hat Nebelkerzen aufsteigen lassen, indem man
gesagt hat, man könne sich vorstellen, Entgegenkommen
zu zeigen. Der Finanzminister hat das am gleichen Tag dementieren lassen und gesagt, er sei nicht bereit, in diesem
Punkt Entgegenkommen zu zeigen. Im Endeffekt passiert
gar nichts.
Im Gegenteil: Die Belastungen werden noch erhöht.
Die Belastungen werden zum einen durch die Verlängerung der Abschreibungsfristen beim Speditionsgewerbe
- Frau Kollegin Hendricks, Sie wissen, dass uns das
Thema im Finanzausschuss beschäftigt hat - und zum anderen dadurch erhöht, dass die Bundesregierung auf europäischer Ebene zugestimmt hat, die für Holland und
Frankreich vorgesehenen Ausnahmen im Zusammenhang
mit der Mineralölsteuer bis zum Ende des nächsten Jahres
beizubehalten. Das ist eine gewaltige Zeitspanne, da in
diesen zwei Jahren eine völlig inakzeptable, innerhalb Europas eigentlich nicht zulässige Entlastung der Wettbewerber in Frankreich, Holland oder in anderen Ländern
erfolgt, ohne dass für das deutsche Speditionsgewerbe ein
Äquivalent ausgehandelt wurde.
({6})
Ein solches Ergebnis müsste aus Sicht der Bundesregierung völlig unverantwortlich und inakzeptabel sein.
({7})
Deswegen möchte ich Sie sehr herzlich bitten, unserem
Gesetzentwurf zuzustimmen.
({8})
Wenn Sie das im Augenblick aber nicht dürfen, weil Sie
nur das tun, was die Regierung Ihnen vorgibt - leider haben die Koalitionsfraktionen kein Selbstbewusstsein, sie
brauchen immer die Anweisung der Regierung dazu, was
sie beschließen dürfen -, und Sie diese Genehmigung
nicht bekommen, dann möchte ich Sie doch zumindest
auffordern, an die Bundesregierung heranzutreten, gerade
Sie, Herr Schmidt, der Sie sich als Verkehrspolitiker einen
gewissen Namen gemacht haben,
({9})
und zu sagen: Es kann nicht sein, dass Deutschland Wettbewerbsvorteilen für andere Länder zustimmt,
({10})
das Speditionsgewerbe in Deutschland zusätzlich im steuerlichen Bereich benachteiligt wird und wir nicht handeln,
um einen gewissen Ausgleich für Benachteiligungen zu
schaffen.
Das kann nicht akzeptiert werden und das können auch
Sie nicht akzeptieren. Deswegen fordern wir Sie auf zu
handeln.
Vielen Dank.
({11})
Jetzt spricht die Kollegin Dr. Barbara Höll für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im „Spiegel“ dieser Woche ist ein
sehr interessanter Artikel über ein Werk von Herrn
Professor Rüdiger Glaser mit dem Titel „Klimageschichte
Mitteleuropas. 1 000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen“
veröffentlicht. Er vermutet, dass das milde, trockene Bilderbuchwetter zwischen 1770 und 1820 die Dichter und
Denker zu ihren klassischen Höchstleistungen veranlasst
hat. Auch in den 90er-Jahren hatten wir ein sehr gutes
Wetter mit sehr guten Sommern. Ich glaube aber, der Antrag der CDU/CSU beweist, dass gutes Wetter nicht ohne
weiteres zu geistigen Höchstleistungen führt.
({0})
Ihr Antrag zeugt eigentlich nur von einem, nämlich von
Ihrer derzeitigen völligen Politikunfähigkeit.
({1})
Fakt ist bei aller Kritik an der Ökosteuer: Sich hinzustellen und ohne eigenes Konzept eine Rücknahme zu fordern zeugt von Politikunfähigkeit, weil Sie einfach nur
zum alten Zustand zurückkehren wollen.
({2})
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal auf
Professor Glaser kommen, der seine Geschichte über den
Klimawandel bestimmt nicht allein aus Jux und Tollerei
geschrieben hat. Er kommt zu der Erkenntnis, dass in den
letzten 1 000 Jahren die Durchschnittstemperatur in Mitteleuropa nur um 1,5 Grad Celsius geschwankt hat,
während wir in den nächsten 100 Jahren mit einer Erwärmung um mindestens 1,4 bis maximal 5,8 Grad Celsius
rechnen müssen.
In dieser Situation so zu tun, als könnte man weiter so
handeln wie bisher, zeugt einfach von Politikunfähigkeit.
({3})
Sie haben keine eigene Antwort. Ich möchte mich nicht
weiter damit auseinander setzen. Es ärgert mich aber
schon, wenn Sie bei der Begründung Ihres Entwurfs, die
nicht einmal analytisch ist, auf die neuen Bundesländer
Bezug nehmen. Es ist sicher so, dass die gestiegenen
Preise insbesondere die Menschen in den neuen Bundesländern belasten.
({4})
Ich frage mich, warum Sie dann nicht zum Beispiel dem
Antrag, den die PDS in der vergangenen Woche im Finanzausschuss gestellt hat, zugestimmt haben, in dem wir
die Aufhebung der zweijährigen Begrenzung der steuerlichen Absetzbarkeit von Zweitwohnungen gefordert haben, einer Begrenzung, die von Ihnen eingeführt wurde
und die eine wirkliche Behinderung für die Menschen ist,
die zum Beispiel in Leipzig wohnen und in Stuttgart arbeiten und die nicht umziehen können bzw. wollen, weil
die Kinder in Leipzig zur Schule gehen und es in Sachsen
ein anderes Schulsystem als in Baden-Württemberg gibt.
({5})
- Das hat damit sehr wohl etwas zu tun; denn man kann
nicht einfach nur so Mobilität fordern. Man muss vielmehr die konkreten Bedingungen analysieren. Erst dann
kann man konkrete Antworten geben.
Ich muss leider zugeben, dass die rot-grüne Regierungskoalition Ihnen durch eine schlecht gemachte Ökosteuerreform erst das Einfallstor für Ihre platte Kampagne
geöffnet hat. Fakt ist leider: Ihre Ökosteuer ist eben nicht
ökologisch. Sie hat kaum ökologische Lenkungswirkung.
({6})
- Herr Binding, man kann sich nicht darauf beschränken,
zu sagen: Wir verteuern jetzt ein kleines bisschen den
Strom und das Mineralöl. Wo ist denn bitte schön nun das
Dreiliter- oder das Einliterauto? Wo ist der Boom bei den
neuen Umwelttechnologien? Durch Ihre Ökosteuer ist
nichts dergleichen angeschoben worden. Man kann sich
die Ökosteuerreform, wie es im Finanzausschuss geschehen ist, natürlich schönreden und sie zur Erfolgsgeschichte von Rot-Grün umstricken. Aber darüber lacht
nicht nur ein Großteil der Abgeordneten im Parlament,
sondern auch diejenigen, die nicht hier sitzen. Die Menschen fühlen sich dadurch regelrecht veralbert.
Man kann zudem eine ökologische Steuerreform nur
dann in der Bevölkerung durchsetzen, wenn man sie sozial gerecht ausgestaltet. Das haben Sie eben nicht getan.
Die Ökosteuer ist keine sozial gerechte Steuer, weil sie
einseitig Rentnerinnen und Rentner, Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger, Studentinnen und Studenten
belastet; denn diese haben nichts davon, dass das Aufkommen aus der Ökosteuer zur Senkung der Rentenbeiträge verwendet wird. Wenn man eine Ökosteuerreform durchführt, ohne gleichzeitig eine Wende in der Verkehrspolitik einzuleiten, nimmt man von vornherein in
Kauf, dass sie Stückwerk bleibt.
Wir können hier gerne ausführlich darüber diskutieren,
warum Sie den ÖPNV in die Ökosteuerreform einbezogen haben; denn das ist völlig unerklärlich. Nehmen Sie
Berlin als Beispiel: Im August sollen die Preise für den
öffentlichen Personennahverkehr wieder erhöht werden.
Der Fahrschein für eine einfache Fahrt wird dann
4,20 DM kosten. Da kann doch niemand davon sprechen,
dass die Menschen zum Umstieg auf den öffentlichen
Personennahverkehr angeregt werden. Der öffentliche
Personennahverkehr kommt dadurch nicht aus der Spirale
heraus, die darin besteht, dass immer weniger Menschen
mit dem ÖPNV fahren, dass der ÖPNV dadurch immer
teurer wird und dass dann im nächsten Jahr unweigerlich
die nächste Preiserhöhung ansteht. Das ist eine Politik, die
sehr kurzfristig angelegt ist.
Da einige Abgeordnete offenbar nur ein Kurzzeitgedächtnis haben - ich denke, dass sie manchmal wirklich
darunter leiden -,
({7})
möchte ich auf unseren Entschließungsantrag auf Drucksache 14/4534, den wir eingebracht haben, verweisen, der
einen Katalog mit notwendigen Maßnahmen enthält.
Denn wenn Sie von der Bundesregierung in der Diskussion über die Ökosteuer hauptsächlich daran denken, wie
das Straßennetz am besten ausgebaut werden kann,
während die Bahn vor Problemen steht und flächendeckend Strecken stilllegt, so zeugt das eindeutig davon,
dass Ihre Politik sehr kurzfristig angelegt ist. Leider haben Sie das Instrument Ökosteuer, mit der sich tatsächlich
eine ökologische Lenkungswirkung erzielen ließe, diskreditiert.
Wir von der PDS sind für eine Verteuerung des Umweltverbrauchs, aber nicht auf diese Art und Weise. Deshalb lehnen wir Ihre Ökosteuer weiterhin ab. Wir lehnen
allerdings auch den Gesetzentwurf der CDU/CSU ab. Der
Vorschlag der F.D.P. ist zwar vom Ansatz her verständlich. Aber mit ihm wird leider nur der europäische Subventionswettlauf weiter vorangetrieben. Deshalb ist auch
das nicht der richtige Weg.
Ich bedanke mich.
({8})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Wolfgang Grotthaus für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir reden heute erneut über
die Ökosteuer; ich weiß gar nicht, zum wievielten Male.
Ich hoffe aber, dass dies das letzte Mal sein wird;
({0})
denn das Interesse in Ihren Reihen, Herr Seiffert, zeugt
davon, dass das Thema sozusagen ausgelutscht ist. Ansonsten wären mehr von Ihren Kolleginnen und Kollegen
im Parlament anwesend, zumal Sie die Debatte verlangt
haben.
({1})
Auch der heute ebenfalls zur Debatte stehende Antrag
der F.D.P. stellt einen neuerlichen Versuch dar, über eine
scheinbare Initiative zum Güterkraftverkehr die Ökosteuer infrage zu stellen. Die F.D.P. macht für die Lage des
Güterkraftverkehr die Ökosteuer verantwortlich,
({2})
obwohl sie genau weiß, dass die steuerliche Seite hier
nicht verantwortlich ist.
Die Opposition sollte durch die Anhörung zum
Thema Ökosteuer im November 2000 eigentlich dazugelernt haben. Diese Anhörung wurde von der Opposition
inszeniert; doch dieses Schauspiel ist von der Öffentlichkeit und von den Kritikern verrissen worden.
({3})
- Herr Seiffert, darauf komme ich gleich noch zurück.
Wie Herr Kollege von Weizsäcker bereits darstellte,
fand sich auch nicht ein Ökonom, der sich auf Ihre Seite
schlug.
({4})
Sehr eindrücklich wird dieses für die Regierungspolitik so
positive Echo zu Beginn dieses Jahres im „Spiegel“ dargestellt. Niederschmetternd, Herr Seiffert, ist das Urteil
für die Opposition:
Steuerpolitik muss stetig und verlässlich sein.
... Ganz besonders gelte das für die Ökosteuer, so der
Darmstädter Wirtschaftsexperte Rürup.
Bei der Expertenanhörung ... stand die Union fest an
der Seite der Autolobbyisten ...
Fachleute raufen sich die Haare. Selten sei eine politische Diskussion „dermaßen jenseits jeder Sachargumentation“ geführt worden, klagt ein hoher Beamter im Berliner Umweltbundesamt. ...
Umweltexperten, vor allem aber Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler attestierten den Christdemokraten „fehlerhafte Annahmen und falsche Behauptungen“.
Schließlich zitiere ich noch Dieter Ewringmann.
({5})
- Führen Sie sich das doch einmal zu Gemüte, hören Sie
doch einmal zu!
({6})
Dann werden Sie in Ruhe überlegen können. Wir gehen
nämlich davon aus, dass Sie solche Anträge dann weiß
Gott nicht mehr stellen werden.
({7})
Zum Schluss also zitiere ich noch eine Äußerung von
Herrn Ewringmann, über die Sie besonders nachdenken
sollten:
({8})
Die Behauptung, die Ökosteuer belaste die Bürger,
Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und den Umweltschutz, widerspreche „sämtlichen vorliegenden empirischen Untersuchungsbefunden“. Die Union ignoriere „triviale Zusammenhänge“ und arbeite mit
falschen Zahlen.
({9})
- Dies, Herr Seiffert, auch zu Ihrer Bemerkung, die Ökosteuer sei von Anfang an eine Fehlkonstruktion gewesen.
Festzuhalten ist, dass Sie nichts dazugelernt haben: nicht
weil Sie es nicht verstehen, sondern weil Sie in Ihren
Denkstrukturen verhaftet sind.
({10})
Mein Kollege von Weizsäcker hat schon die zentralen
Punkte der Ökosteuer aufgelistet. Ich möchte hier
nochmals einen der wichtigsten Punkte der Ökosteuer
aufgreifen, die Senkung der Lohnnebenkosten und damit
die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen.
({11})
- Herr Fromme, stellen Sie ruhig eine Zwischenfrage. Ich
erinnere mich noch an eine Zwischenfrage von Ihnen, bei
deren Beantwortung Sie am liebsten den Saal verlassen
hätten.
Die Opposition sollte nochmals die Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaft und des RWI nachlesen, die
sich auf die Neuschaffung und den Erhalt von Arbeitsplätzen durch die Ökosteuer beziehen. Dies sollten wir
den Arbeitnehmern in unserer Republik sagen, weil sie
von der Ökosteuer auch diesbezüglich profitieren.
Der Einsatz der F.D.P. für den Güterkraftverkehr in allen Ehren, ihr Antrag geht aber meines Erachtens völlig an
der Sache vorbei. Hier geht es nicht alleine um die Ökosteuer, sondern es muss uns um die gesamte Wettbewerbslage im Güterkraftverkehr gehen. Die steuerliche
Seite ist nicht an vorhandenen Wettbewerbsverzerrungen
schuld. Zum Beispiel ist die Kraftfahrzeugsteuer unter
Berücksichtigung aller rechtlichen und tatsächlichen Rahmenbedingungen ungeeignet, eine spürbare Verbesserung
der wirtschaftlichen Situation im deutschen GüterkraftWolfgang Grotthaus
verkehr herbeizuführen. Da sind viele weitere Faktoren
entscheidend; ich nenne nur den Faktor Sozial- und Lohndumping. Das wissen Sie, meine Damen und Herren von
der F.D.P., genauso wie wir.
Aus diesem Grunde ist im zuständigen Fachausschuss
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen folgende Empfehlung verabschiedet worden:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, dem Deutschen Bundestag einen Bericht
vorzulegen, aus dem die Wettbewerbsverzerrungen
im europäischen Güterkraftverkehrsgewerbe bei
Steuer- sowie bei Sozial- und Umweltstandards hervorgehen; dem Deutschen Bundestag darüber zu berichten, welche Schritte die Bundesregierung in den
letzten zwei Jahren bereits unternommen hat, um die
Harmonisierungsdefizite zu verringern; den Deutschen Bundestag darüber zu informieren, wo die Widerstände gegen eine Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen in erster Linie zu suchen sind.
Erst wenn diese Fragen beantwortet sind und alle Antworten diskutiert werden können,
({12})
werden wir uns in aller Ruhe und mit allen Fakten über
den Güterkraftverkehr unterhalten.
({13})
Ich möchte ein letztes Zitat vortragen, mit dem ich
mich nicht nur an Sie, Herr Seiffert, sondern an alle Kolleginnen und Kollegen der CDU und der CSU richten
will. Folgende Sätze sind in einem Artikel des Informationsdienstes des Zentralkomitees der deutschen Katholiken unter der Überschrift „Warum die Ökosteuer zu erhalten ist“ veröffentlicht worden:
Die Ökosteuer kann ein kleines, aber wichtiges Element auf dem Weg zu einem verträglichen Ausgleich
zwischen Ökonomie und Ökologie sein. Es ist eine
Frage christlicher Schöpfungsverantwortung, dazu
beizutragen, dass sie entsprechend akzeptiert und
transformiert wird.
Der Autor ist Prof. Dr. Markus Voigt, Leiter der Clearingstelle Kirche & Umwelt, Benediktbeuren. Vielleicht versuchen Sie einmal, dieses Informationsmaterial zu bekommen. Möglicherweise brechen Sie dann aus Ihren
engen Denkstrukturen aus und lernen tatsächlich etwas
dazu.
({14})
Das Wort hat der Kollege Michael Meister für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das deutsche
Güterkraftverkehrsgewerbe geht wirtschaftlich auf dem
Zahnfleisch.
({0})
Es steht aufgrund der Liberalisierung des europäischen
Binnenmarkts in scharfem Konkurrenzkampf. Dafür gibt
es drei wesentliche Gründe: erstens die fehlende Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen, zweitens die illegalen Praktiken der Konkurrenz, drittens die politischen
Entscheidungen dieser Bundesregierung. Deshalb steht
die Bundesregierung in der Verantwortung, dem deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe kurzfristig Flankenschutz zu geben, wenn nicht ein Großteil der 380 000 Arbeitsplätze vor allem im Bereich des mittelständischen
Gewerbes verloren gehen soll.
({1})
Leider spricht nichts dafür, dass sich die Bundesregierung dieser Verantwortung bewusst ist. Sie nimmt, Herr
Kollege Grotthaus, die Probleme lediglich zur Kenntnis;
schließlich sind sie alle im Verkehrsbericht 2000 aufgelistet. Jedoch frage ich mich, was Ihre Beschlussempfehlung
soll. All das, was Sie sich berichten lassen wollen, steht
im Verkehrsbericht 2000. Wir brauchen hier keine
Berichte, sondern Handlungen. Frau Mertens, Herr
Bodewig, handeln Sie endlich und tun Sie etwas für das
deutsche Verkehrsgewerbe!
({2})
Statt die Harmonisierung auf der EU-Ebene zu beschleunigen, hat unsere Bundesregierung - vor dem Hintergrund massiver Kraftstoffverteuerungen - einem neuen
Subventionswettlauf in der EU zugestimmt. Die Konkurrenten in Frankreich, Italien, Belgien und Holland haben
mit Zustimmung der deutschen Bundesregierung Rückvergütungen bekommen. Somit ist das deutsche Gewerbe
nicht nur national, durch die Ökosteuer, belastet. Die Vergünstigungen, die mit der Stimme der deutschen Bundesregierung der Konkurrenz genehmigt wurden, haben es
zusätzlich belastet. Sie haben durch die Ökosteuer keine,
wie Sie immer sagen, „Win-win-Situation“, sondern eine
„Lose-lose-Situation“ herbeigeführt. Es handelt sich um
einen doppelten Nachteil für Deutschland.
({3})
Die Bundesregierung unterschätzt in fahrlässiger
Weise die Folgen der Ökosteuer hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Güterkraftverkehrsgewerbes. Höhere Beförderungsentgelte
sind auf dem Markt nicht durchzusetzen. Auf der geplanten Endstufe der Ökosteuer, der fünften Stufe, haben die
deutschen Transportunternehmen unter Berücksichtigung
der steuerlichen Vorteile in anderen EU-Ländern pro Jahr
und Fahrzeug Mehrkosten in Höhe von netto 13 250 DM
zu tragen. Diese Mehrkosten lassen sich nicht auf den
Preis umlegen, wenn man in einem liberalisierten Markt
tätig ist.
({4})
Die Bundesregierung hat in einer Antwort auf eine Anfrage unseres Kollegen Sebastian erklärt, dass kleine und
mittlere Unternehmen im gewerblichen Güterkraftverkehr „unter Umständen strukturelle Veränderungen vornehmen müssen, um im europäischen Wettbewerb zu bestehen“. Es ist, als ob man Hohn und Spott über die
deutschen LKW-Fahrer und das deutsche Transportgewerbe ausgießt, wenn man ihnen zumutet, sich strukturell
neu aufzustellen, obwohl man selbst die Verantwortung
für ihre Probleme trägt.
({5})
Herr Grotthaus, nehmen Sie diese Fakten doch einfach
zur Kenntnis! Wenn Sie das tun, dann brauchen Sie keine
Berichte anzufordern. Allen, die sich hier damit befassen,
ist das, was ich sage, bekannt.
({6})
Herr Loske, ich gehe davon aus, dass Sie ähnlich wie
der Kollege Grotthaus bei irgendeiner anderen Anhörung,
aber nicht bei der zur Ökosteuer waren. Dort ist nämlich
klar und deutlich gesagt worden, dass diese Ökosteuer für
unsere Unternehmen ökonomisch nicht vertretbar ist und
den Arbeitsplätzen am Standort Deutschland schadet.
({7})
Ich will aber nicht nur über die Frage reden, wer in
Deutschland fährt, sondern auch über die Situation des
Logistikgewerbes in Deutschland insgesamt. In diesen
Komplex gehört zum Beispiel auch die Stromsteuer. Für
Logistikunternehmen gibt es am Standort Deutschland
keine Ermäßigung bei der Stromsteuer. Unsere europäischen Nachbarländer haben konsequent auf den deutschen Markt ausgerichtete Logistikstandorte in Grenznähe geschaffen und locken mit strukturellen Vorteilen:
geringere Steuern, niedrigere Investitionskosten, flexiblerer Arbeitsmarkt, kürzere Genehmigungszeiten. Das alles
sind Vorteile, die gewährt werden, um gezielt Arbeitsplätze aus Deutschland über die offene Grenze im EUBinnenmarkt herauszuziehen. Was tut die deutsche Bundesregierung? Sie sieht zu und unterstützt diese Entwicklung durch die Erhebung von Strom- und Ökosteuer.
Das ist unverantwortlich.
({8})
Die nächste einschneidende Änderung steht uns schon
bevor. Sie haben ja den Gipfel von Nizza als großen Erfolg gelobt; aufgrund der dort gefällten Beschlüsse
kommt die EU-Osterweiterung auf uns zu. Wie wird eigentlich das deutsche Logistikgewerbe auf die EU-Osterweiterung vorbereitet? Was tun wir, um eine Stufenlösung hinzubekommen, damit diejenigen, die dort zu
Billigstlöhnen und -konditionen anbieten, nicht unsere
Marktpreise total verderben? Die Bundesregierung wäre
hier gefordert; im Zusammenhang mit Nizza habe ich
dazu nichts gehört. Sehen Sie sich die Entwicklung im
Jahre 2000 an: Das Mengenwachstum im Logistikmarkt
wurde zu 10 Prozent von ausländischen Unternehmen und
zu lediglich 1,6 Prozent von deutschen Unternehmen abgeschöpft. Das zeigt, wo die Entwicklung hingeht. Sie
aber schauen zu, handeln nicht, sondern lassen sich nur
Berichte geben und auf diese Weise informieren. Handeln
Sie endlich, sonst verschwinden die Arbeitsplätze aus
Deutschland!
({9})
Wir brauchen dringend mit Blick auf das deutsche
Güterkraftverkehrsgewerbe ein Maßnahmenpaket zur
Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen. 11 von 15
EU-Ländern subventionieren ihre Unternehmen, die
Deutschen schauen zu. Hier ist dringend Handlungsbedarf geboten. Im Rahmen der EU-Osterweiterung muss
die Interessenlage des deutschen Transportgewerbes strikt
beachtet werden. Wir brauchen eine Stufenlösung, damit
ein gemeinsamer Markt unter vergleichbaren Wettbewerbsbedingungen entsteht.
Wir brauchen schnellstens ein Gesamtkonzept zur
Bekämpfung der grauen und illegalen Kabotage sowie
der illegalen Beschäftigung im EU-Straßengüterverkehrsgewerbe. Die Bundesregierung hat einen entsprechenden
Gesetzentwurf im Kabinett verabschiedet. Es ist dringend
erforderlich, dass dieser Gesetzentwurf rasch beschlossen
und durchgesetzt wird, damit deutsche Unternehmen die
gleichen Chancen haben.
({10})
Wir müssen darüber hinaus etwas bezüglich der ÖkoPunkte-Problematik mit Österreich tun. Hier dürfen wir
die deutschen Unternehmen nicht alleine lassen und ihre
Interessen an diesem wichtigen Nord-Süd-Transportweg
in Europa nicht aus den Augen verlieren.
Wir brauchen ferner eine streckenbezogene, nutzungsabhängige LKW-Gebühr. Sie ist nötig, muss aber aufkommensneutral sein. Wir brauchen keine neuen Belastungen. Außerdem muss sie bald eingeführt werden. Ich
glaube Herrn Bodewig nicht mehr, Frau Mertens. Ich
glaube nicht, dass sie 2003 kommen wird. Sie kündigen
an, dass diese Gebühr für LKW kommt. Ich frage Sie: Wie
weit sind Ihre Vorbereitungen? Es wird an dieser Stelle
viel zu wenig getan. Zugleich kommen wir in die Situation hinein, dass Ihr groß angekündigtes Anti-Stau-Programm nur auf dem Papier finanziert erscheint, tatsächlich aber die Finanzierungsgrundlage fehlt. Hier ist
dringend Handlungsbedarf geboten.
Ich komme zum Punkt Ökosteuer. Die Ökosteuer muss
dringend abgeschafft werden, da sie die Wettbewerbssituation zusätzlich verschärft, ihre ökologische Lenkungswirkung verfehlt und Aufkommensneutralität nicht gegeben ist. Wir haben immer gesagt: Klimaschutz hat für uns
Priorität, wenn EU-weite Maßnahmen ergriffen werden,
diese emissionsbezogen, aufkommensneutral und wettbewerbskonform sind. Von allen vier Punkten sind Sie meilenweit entfernt, meine Damen und Herren.
({11})
Heute Morgen gab es eine intensive Debatte über ITTechnologie. Der Logistikmarkt ist dabei, in immer kleinere Transporteinheiten zu zerfallen. Miniaturisierung
heißt das Stichwort. Was tun wir in Deutschland? Wir behindern Transport- und Logistikgewerbe durch ständig
mehr Regulierung. Wir brauchen eine Öffnung, damit der
deutsche Markt von dieser durch die neuen Technologien
ausgelösten Entwicklung auf dem Logistikmarkt profitieren kann. Hier sind weitere Verbote, mehr Regulierung
und weitere Behinderungen und Verteuerungen nicht
sinnvoll, hier bedarf es einer wettbewerbsgerechten Öffnung des Marktes, damit unsere Unternehmen an dieser
Entwicklung teilhaben können. Da sind intelligente, zukunftsgerichtete Antworten nötig und nicht Ihre rückwärts gerichteten Verbote, Restriktionen und Verteuerungen.
Wenn wir eine Chance haben wollen, dann ist der Weg
über die Verteuerung von Benzin nicht richtig; stattdessen
müssen neue Technologien gefördert und vorangebracht
werden. Man muss zukunftsgewandt agieren und nicht
mit Verboten, Steuererhöhungen und zusätzlichen Belastungen hantieren. Sie tun nichts für die Ökologie in
Deutschland, sondern Ihre Politik richtet sich gegen die
Unternehmen und Arbeitsplätze am Standort Deutschland.
({12})
Kommen Sie endlich zur Besinnung, führen Sie eine
Wende zu mehr Ökologie, mehr Arbeitsplätzen und einer
besseren Wirtschaftspolitik durch! Dann haben Sie uns an
Ihrer Seite.
Danke schön.
({13})
Nächster Redner ist
der Kollege Albert Schmidt für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist im Moment schon eine verrückte Gefechtslage: Vorgestern hat der Ecofin-Rat, also die versammelten europäischen Finanzminister, beschlossen,
dass man die - wie ich hoffe, von uns allen für falsch gehaltenen - Steuervergünstigungen, die einige europäische
Mitgliedstaaten für den LKW-Verkehr gewährt hatten,
erstens sofort um 20 Prozent reduziert, sie nämlich auf
40 000 statt bisher 50 000 Liter pro Jahr und Fahrzeug begrenzt, und dass man sie zweitens bis Ende 2002 befristet.
Zwei Tage später behandeln wir im Bundestag einen
Antrag von der rechten Seite des Hauses, der zum Inhalt
hat, vergleichbare Subventionen für das speditierende
Gewerbe in Deutschland einzuführen. Sie sagen Harmonisierung, aber Sie meinen Subventionswettlauf. Das ist
der Fehler Ihres Antrags.
({0})
Herr Kollege Meister, in den ersten beiden Punkten Ihrer Problemanalyse stimme ich Ihnen ausdrücklich zu.
Was aber sind die wirklichen Probleme des Güterverkehrs, insbesondere der mittelständischen Unternehmen
des speditierenden Gewerbes? Sie haben Recht, wenn Sie
auf die illegale Kabotage verweisen. Dagegen ist die Bundesregierung vorgegangen und mit dem bekannten Gesetzentwurf tätig geworden. Aber das eigentliche Problem
ist eine gnadenlose Deregulierung und Liberalisierung,
einhergehend mit einem Preisverfall, der dazu führt, dass
niemand mehr bereit ist, den Transport per LKW zu bezahlen. Es ist heute billiger, mit dem Taxi von München
nach Hamburg zu fahren, als die Strecke per LKW
zurückzulegen. Das ist das eigentliche Problem, das wir
angehen müssen.
({1})
Kommen wir einmal ganz nüchtern zu dem Thema Mineralölsteuer. Sie sagen ja, das sei das Hauptproblem.
Der Preis für einen Liter Diesel an deutschen Tankstellen
lag zu Beginn des Jahres 2001 im Durchschnitt bei etwa
1,60 DM.
In den Niederlanden, die als eines der subventionsgebenden Länder als Vergleich herangezogen werden, liegt
der Preis bei 1,64 DM. Selbst wenn ich die 4,7 Pfennig,
die das Güterkraftgewerbe dort als Steuerbegünstigung
wieder herauskriegt, abziehe, Herr Solms, bin ich immer
noch bei 1,60 DM, also dem deutschen Niveau.
Oder nehmen Sie Frankreich: Der Tankstellenpreis für
Diesel liegt dort heute durchschnittlich bei 1,72 DM.
Selbst wenn die 7,5 Pfennig Vergünstigung abgerechnet
werden, liegt der Preis mit 1,64 DM nach Adam Riese immer noch 4 Pfennig höher als in Deutschland.
In Italien, ein weiterer Subventionssünder, liegt der
Tankstellenpreis für Diesel bei 1,85 DM. Wenn ich die
Steuervergünstigung, also das, was erstattet wird, abziehe, dann beträgt der Preis 1,72 DM, 12 Pfennig mehr
als in Deutschland.
Lieber Herr Kollege Solms, wenn Sie behaupten, das
Hauptproblem des speditierenden Gewerbes sei die Mineralölsteuer, dann kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben
sich mit der Verkehrspolitik heute keinen Namen gemacht.
({2})
- Bitte schön.
Herr Kollege Solms,
Ihre Zwischenfrage, bitte.
Herr Kollege
Schmidt, sollte es Ihnen entgangen sein, dass sich unser
Antrag auf die Senkung der Kfz-Steuer und nicht der Mineralölsteuer gerichtet hat?
Das ist mir natürlich nicht entgangen, weil
ich die Anträge der F.D.P. immer besonders genau lese.
Ich bin dankbar für Ihre Frage; denn jetzt kann ich Ihnen
dazu unmittelbar Antwort geben.
({0})
In Ihrem Antrag, Herr Kollege Solms, heißt es zunächst
ganz pauschal - ich kann es fast auswendig -, der Deutsche Bundestag möge die Bundesregierung auffordern,
die Kraftfahrzeugsteuer für LKW abzusenken. Dann ist
die Rede vom europäischen Mindestniveau. Da denkt
man: Hoppla, das ist ja eine Wohltat für alle.
Liest man aber vier Zeilen weiter, so stellt man fest,
dass jedoch für die schweren LKW der Klassen Euro 1
und Euro 2, also für die normalen bis mittleren Stinker
- das sind die meisten Fahrzeuge -, der Steuersatz beibehalten werden soll. Nur für Fahrzeuge der Klasse Euro 3
soll die Steuer gesenkt werden. Da wird der Antrag also
wieder eingeschränkt.
({1})
Ich sage Ihnen Folgendes, Herr Kollege: Der Steuersatz für Euro 2 ist im Vergleich zu Euro 1 bereits abgesenkt. Für einen 40-Tonner müssen, sofern dieser die
Euro-2-Norm erfüllt, schon heute 700 DM weniger Kraftfahrzeugsteuer gezahlt werden als für einen alten
Euro-1-Stinker.
({2})
Gleiches gilt für Euro-3-Fahrzeuge.
({3})
Was wir beachten sollten - dieser Punkt ist leider in
Ihrem Antrag nicht enthalten; aber man kann ihn mit
gutem Willen hineininterpretieren -, ist, dass die nächste
Generation von besonders schadstoffarmen LKW unmittelbar vor der Markteinführung steht. Wenn wir uns jetzt
in Bezug auf Euro 4 darauf einigen könnten - darüber
möchte ich mit Ihnen ernsthaft diskutieren -, eine zusätzliche Begünstigung in Richtung Mindeststeuersatz
einzuführen, um diese Technologie beschleunigt auf den
Markt zu bringen, dann kämen wir vielleicht zusammen.
Ich möchte das Finanzministerium bitten, in diese Richtung Überlegungen anzustellen.
({4})
Was mir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P., nicht gefallen hat und was ich nicht als seriös empfinde, ist, dass Sie Steuersenkungen vorschlagen - egal,
für welchen guten Zweck -, ohne zu sagen, wie sie
gegenfinanziert werden sollen. Sie haben in der Begründung Ihres Antrags geschrieben - ich habe nicht nur Ihren
Antrag, sondern auch Ihre Begründung dazu gelesen -,
dass die Steuerentlastung durch eine Erhöhung der KfzSteuer zum 1. Januar 2001 für diejenigen Fahrzeuge finanziert werden solle, die nur wenig emissionsreduziert
sind. Ich muss Sie daran erinnern, dass die ab 1. Januar
2001 geltende Steuererhöhung für die besonders schadstoffreichen und wenig modernen Fahrzeuge Bestandteil
eines Paketes gewesen ist, das Sie selbst 1997, als Sie
noch in der Regierung waren, mit den Ländern ausgehandelt haben - und zwar für die Länder aufkommensneutral.
Wenn Sie den Ländern also diese 1 Milliarde DM wegnehmen, dann würden Sie Ihr Versprechen brechen, das
Sie ihnen 1997 gegeben haben. Das ist absolut unseriös.
({5})
Lassen Sie mich abschließend noch eine kurze Bemerkung zu dem Thema Kerosinbesteuerung machen, das
ebenfalls auf der Tagesordnung steht. Ich halte es für eine
pure Selbstverständlichkeit, dass der Bundestag mit den
Stimmen des ganzen Hauses dem Entschließungsantrag
der Koalitionsfraktionen folgt und die Bundesregierung
nachdrücklich ersucht, die Einführung einer Kerosinbesteuerung oder eines vergleichbaren fiskalischen Elementes einer emissionsbezogenen Treibstoffabgabe auf internationaler Ebene im Gleichklang mit den anderen
Mitgliedstaaten zu forcieren. Wir waren 1995 schon einmal weiter. Ich weiß dies ganz genau, weil ich zu diesem
Thema meine erste Rede als frisch gebackener Abgeordneter gehalten habe.
({6})
Damals haben Politiker wie Schäuble - ein wirklich Wertkonservativer! - dem zugestimmt. Heute wollen Sie davon nichts mehr wissen, Sie Scheinkonservativen!
({7})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Kollege Peter Ramsauer.
Frau Präsidentin,
ich möchte gemäß § 42 unserer Geschäftsordnung namens meiner Fraktion die Herbeirufung einer Vertreterin
oder eines Vertreters des Bundesfinanzministeriums beantragen. Die Federführung liegt nämlich beim BMF.
({0})
- Sie ist jetzt nicht da.
({1})
Dieses Ressort ist nicht vertreten.
Wir haben schon des Öfteren im Ältestenrat darauf hingewiesen, dass bei wichtigen Debatten die federführenden Ministerien durch Abwesenheit glänzen. Es wurde
uns immer wieder zugesagt, dass sich diese Situation
verbessern würde. Sie hat sich aber nicht verbessert. Deswegen bestehen wir darauf, dass die Debatte gegebenenfalls so lange unterbrochen wird, bis eine Vertreterin oder
ein Vertreter des BMF anwesend ist.
({2})
Das Wort zur Geschäftsordnung hat die Kollegin Steffi Lemke.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Ramsauer hat in meinen Augen zum
wiederholten Male das Parlament mit einer Angelegenheit belästigt, die aus meiner Sicht - ({0})
- Sie sollten mich erst einmal ausreden lassen.
({1})
Es geht mir darum, festzustellen, dass Sie hier einen Klamauk inszenieren,
({2})
der nichts mit der Anwesenheit eines Vertreters der Bundesregierung bei dieser Debatte zu tun hat.
Erstens. Herr Ramsauer, Sie wissen - es wurde Ihnen
auch gesagt -, dass Frau Staatssekretärin Hendricks noch
bis vor kurzem im Plenum anwesend war. Sie hat also den
größten Teil der Debatte verfolgt.
({3})
- Das kann sein. Er hat dann wahrscheinlich nicht bemerkt, dass Frau Hendricks den größten Teil der Debatte
anwesend war.
Zweitens. Auf der Regierungsbank sind das Verkehrsministerium, das Umweltministerium und ein weiteres Ministerium vertreten. Ferner ist Staatsminister
Schwanitz anwesend. Mit Hinweis darauf, dass ein Vertreter des Finanzministeriums den größten Teil der Debatte anwesend war, möchte ich feststellen, dass die Regierung in dieser Debatte ausreichend repräsentiert ist.
Ich betrachte das also als eine Inszenierung hier im Parlament, die mit der Geschäftsordnung wenig zu tun hat, da
die Bundesregierung der Debatte natürlich aufmerksam
gefolgt ist.
({4})
Zur Geschäftsordnung
hat sich jetzt der Parlamentarische Geschäftsführer
Dr. Küster gemeldet.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Ramsauer, Sie wissen sicherlich, dass der Bundesfinanzminister durch einen Unfall gesundheitlich angeknackst ist und dass dadurch eine
gewisse personelle Schwierigkeit entstanden ist. Die beiden Staatssekretäre versuchen im Augenblick natürlich,
die Hausleitung wahrzunehmen.
({0})
Dass es nötig ist, am Rande des Plenums eine Reihe
von Abstimmungsgesprächen zu führen, wissen Sie aus
Ihrer Regierungszeit genau. Sie handeln im Augenblick
sehr unfair. Sie wissen auch genau, dass die Staatssekretärin den größten Teil der Debatte mit verfolgt hat. Ich bin
sicher, dass sie auch am Ende dieser Debatte wieder im
Plenum sein wird.
({1})
- Da ist sie schon.
({2})
Wir werden also auch den Rest der Debatte in Anwesenheit der Staatssekretärin Frau Dr. Hendricks führen.
({3})
Dann kommen wir
jetzt zur Abstimmung. Wer dem Antrag auf Herbeirufung
zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Die
Frau Staatssekretärin ist da; Sie sollten sich bei ihr
entschuldigen.
({0})
Ihr Antrag ist doch ein Zeichen dafür, Herr Kollege, dass
Sie nicht die ganze Zeit anwesend waren und nicht mitbekommen haben, dass die Frau Staatssekretärin nur kurz
hinausgegangen ist. Wir müssen sie also nicht mehr
herbeirufen und wir müssen auch nicht mehr die Sitzung
unterbrechen. Damit ist dies erledigt.
({1})
- Was wünschen Sie jetzt?
Sie haben mich
aufgefordert, mich zu entschuldigen.
Nachdem die Frau
Staatssekretärin und weitere Mitglieder der Bundesregierung nun da sind, können wir die Debatte fortführen.
Augenblick, Sie
verwechseln jetzt die Fragerolle, Frau Präsidentin. Sie
fragen mich, was ich will; aber Sie wollten gerade etwas
von mir. Sie haben von mir verlangt, dass ich mich bei der
Frau Staatssekretärin entschuldige. Ich möchte Sie jetzt
fragen, wofür ich mich entschuldigen soll. Ich habe lediglich namens meiner Fraktion den Wunsch geäußert,
dass eine Vertreterin oder ein Vertreter des federführenden
Ministeriums kommt. Das ist jetzt geschehen. Insofern
erübrigt sich der Antrag. Aber wenn eine Entschuldigung
für eine Äußerung ausgesprochen werden sollte, dann für
die, dass es eine Belästigung der Koalition und ein Klamauk sei, wenn eine Oppositionsfraktion verlangt, dass
ein Regierungsmitglied herbeigerufen wird.
({0})
Das ist ein grundgesetzlich garantiertes Recht.
({1})
Dass jemand eine Sitzung verlassen hat, haben wir in
dieser Woche schon einmal gehört, nämlich von Joschka
Fischer, der 1969 eine Sitzung nach einer Stunde wegen
Langeweile verlassen hat. Offensichtlich hat auch die
Frau Staatssekretärin dies aus diesem Grund getan.
Langer Rede kurzer Sinn: Sie ist jetzt da, der Antrag
erübrigt sich. Aber ich entschuldige mich für nichts.
Ich möchte Sie noch
einmal darauf aufmerksam machen, dass die Frau Staatssekretärin den überwiegenden Teil der Diskussion anwesend war und nur kurz hinausgegangen ist und Sie in der
kurzen Zeit nichts anderes zu tun hatten, als diesen Antrag
zu stellen.
Wir setzen jetzt die Debatte fort. Der letzte Redner ist
der Kollege Reinhold Strobl. Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute über den Antrag der CDU/CSU, die Mineralölsteuer wieder zu senken
({0})
bzw. die Ökosteuer abzuschaffen. Außerdem will die
F.D.P., dass die Kraftfahrzeugsteuer für schwere LKWs
abgesenkt wird. Beides - das werden Sie sicherlich verstehen oder vielleicht auch nicht - müssen wir ablehnen,
und dies aus mehreren Gründen.
Das Verhalten der CDU/CSU, immer nur zu fordern,
finde ich nicht nur abenteuerlich, sondern geradezu unverantwortlich.
({1})
Würden wir nämlich allen Wünschen der Opposition
nachkommen, würden wir riesige Haushaltslöcher schaffen und unser Land weiter verschulden.
Die Ökosteuer wurde schließlich nicht aus Jux und
Tollerei eingeführt. Der frühere Umweltminister und heutige Chef der UN-Umweltbehörde, Klaus Töpfer, war es
ja selbst, der voller Sorge hinsichtlich des Klimawandels
darauf verwies, dass die Lage überaus kritisch sei und die
extremen Wettersituationen dramatisch zugenommen hätten. Herr Töpfer hat einmal in einem Interview gesagt,
dass er in seiner Zeit als Bundesumweltminister selbst
eine Anhebung des Benzinpreises in jährlichen 10-Pfennig-Schritten empfohlen habe.
Verantwortlich ist man nicht nur für das, was man tut,
sondern auch für das, was man nicht tut. Wir, die Fraktionen der SPD und der Grünen, sind uns unserer Verantwortung gegenüber der jetzigen Generation, aber auch
gegenüber nachfolgenden Generationen und unserer Umwelt bewusst. Meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, ich meinte, sogar bei Ihrem früheren
Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble so etwas wie
Verantwortungsbewusstsein verspürt zu haben. Seine
diesbezüglichen Aussagen sind heute schon zitiert worden.
Von all dem wollen Sie nichts mehr wissen. Sie wettern
gegen die Ökosteuer und sammeln Unterschriften. Was ist
eigentlich mit diesen geschehen? Vielleicht können Sie
mir das bei Gelegenheit einmal beantworten. Sie haben
Unterschriften gesammelt, Postkartenaktionen gestartet;
aber man hat dann nichts mehr davon gehört.
Ihre Mandatsträger - das verurteile ich ganz besonders - verbreiten sogar, dass sich aufgrund der Erhebung
der Ökosteuer die Heizölrechnung verdoppelt hat, obwohl Sie selbst genau wissen, dass das nicht stimmt. Denn
sowohl im Jahre 2000 als auch im Jahre 2001 wurde gar
keine zusätzliche Ökosteuer auf das Heizöl erhoben. Der
Preis stieg aus anderen Gründen an.
Bereits jetzt ist die Europäische Union stark abhängig
von Erdölimporten. Sie musste im Jahre 2000 75 Prozent ihres gesamten Ölbedarfs einführen. Dieser Anteil
dürfte bis zum Jahre 2020 auf über 85 Prozent ansteigen.
2020 werden über 40 Prozent der weltweiten Fördermengen aus der Golfregion stammen. Die Abhängigkeit von
Rohölimporten muss verringert werden. Wir wollen, dass
auch unsere Kinder noch Auto fahren können. Wir haben
die nötigen Weichen gestellt. Die Autohersteller haben
reagiert und setzen immer mehr auf Autos mit niedrigerem Kraftstoffverbrauch bzw. auf die Brennstoffzelle. Erwähnen möchte ich auch den vermehrten Einsatz von
Biobrennstoffen, welcher neue wirtschaftliche Perspektiven für die Landwirtschaft eröffnet. - Der Verbraucher
wiederum weiß, dass er zum Beispiel beim Kauf eines
Neuwagens auf den Spritverbrauch zu achten hat. Denn er
kann damit, auf längere Sicht gesehen, Geld sparen.
Bei dieser Gelegenheit ist festzustellen - denn es
wurde heute davon gesprochen, dass es sich bei der Ökosteuer um ein Abkassiermodell handelt -: Wir haben die
Arbeitnehmer und die Familien finanziell entlastet.
({2})
Durch unsere Steuerreform profitieren die Arbeitnehmer:
Sie erhalten bis zum Zehnfachen dessen, was sie für die
Erhöhung der Mineralölsteuer ausgeben müssen. Nach
der Gehaltsabrechnung vom 1. Februar dieses Jahres
bestätigten mir viele Arbeitnehmer - fragen Sie sie doch
einmal selber -, dass sie netto 60, 70, 80 DM - oder sogar
einen noch höheren Betrag - mehr bekommen haben.
({3})
Sie dagegen haben die Mineralölsteuer um 100 Prozent,
um 49 Pfennig, erhöht, ohne dass die Menschen eine Entlastung erhalten haben.
Würden wir Ihren Forderungen nachgeben, so könnten
wir die Steuereinnahmen gleich an die Mitglieder der
OPEC überweisen. Die Absenkung der Kraftfahrzeugsteuer für schwere LKWs, wie von der F.D.P. vorgeschlagen, wäre ein falsches Signal und ein Schritt in die
falsche Richtung. Schon heute sind unsere Autobahnen
mit LKWs verstopft. Wir wollen die Straßen entlasten und
wieder mehr Verkehr auf die Schiene bringen. Auch Ihnen
dürfte bekannt sein, dass ein 40-Tonner die Straßen genauso stark belastet - die Zahlen habe ich vom VCD - wie
160 000 PKWs. Der größte Teil der Straßen- und
Brückenschäden geht direkt auf das Konto der schweren
LKWs. Auch deswegen liegen wir mit unserer Schwerverkehrsabgabe richtig.
Mit unserer Politik wollen wir unsere Umwelt schonen
und die verschiedenen Verkehrsträger, die Straße, die
Schiene, das Wasser und die Luft, aufeinander abstimmen.
({4})
Auch der Luftverkehr muss dabei in die Anstrengungen
zu einer möglichst sparsamen Verwendung von fossilen
Kraftstoffen einbezogen werden.
({5})
Wir unterstützen die Bundesregierung in ihren Bemühungen, im Luftverkehr auf internationaler Ebene eine Kerosinbesteuerung bzw. eine emissionsbezogene Klimaschutzabgabe zu erreichen.
({6})
Schon jetzt zeigt sich, dass wir mit unserer Politik richtig
liegen. Wir stärken damit den Wirtschaftsstandort
Deutschland. Wir warten nicht, bis andere es uns vormachen.
({7})
Wir geben jetzt den Anreiz, neue energiesparende
Techniken zu entwickeln. Das Erneuerbare-EnergienGesetz wird von vielen Seiten gelobt. Wir schaffen damit
neue Arbeitsplätze. Meine Damen und Herren von der
Opposition, wir laden Sie ein, diesen Weg, der von den
Menschen in unserem Land mehr und mehr unterstützt
wird, mit uns zu gehen. Ich habe allerdings das Gefühl,
dass Sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, als
dass Sie dazu in der Lage wären, eine Antwort auf die
Herausforderungen der Zukunft zu geben.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({8})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der CDU/CSU zur Senkung der Mineralöl-
steuer und zur Abschaffung der Stromsteuer auf Drucksa-
che 14/4097. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Druck-
sache 14/5272, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf auf Drucksache
14/4097 zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit
dem Titel „Kraftfahrzeugsteuer für schwere LKW auf
EU-Niveau senken - Bedingungen am Güterkraftver-
kehrsmarkt harmonisieren“. Das ist die Drucksa-
che 14/5300. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a)
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksa-
che 14/4254 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b)
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/5300 die
Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung des
Finanzausschusses zu der Unterrichtung durch die Bun-
desregierung über die Mitteilung der Kommission zur Be-
steuerung von Flugkraftstoff auf Drucksache 14/4443 ab.
Der Ausschuss empfiehlt die Annahme einer Entschlie-
ßung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Ge-
genprobe! - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. ist diese Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7a bis 7 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde
Irber, Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Sylvia Voß, Dr. Thea Dückert,
Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Programm zur Stärkung des Tourismus in
Deutschland ({0})
- Drucksache 14/5315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Reinhold Strobl ({2})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Brähmig, Ernst Hinsken, Anita Schäfer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Tourismuswirtschaft stärken
- Drucksache 14/5313 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Cornelia Pieper, Hildebrecht Braun
({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Neue Kampagne „Deutschland besucht
Deutschland“ starten
- Drucksache 14/4153 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ernst
Burgbacher, Birgit Homburger, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Beschilderungsmöglichkeiten für touristische
Hinweise entlang von Autobahnen flexibler gestalten
- Drucksache 14/4635 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({6})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Damit sind Sie einverstanden. Das ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die SPD-Fraktion hat
die Kollegin Brunhilde Irber das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem wir in
den ersten beiden Jahren dieser Legislaturperiode den
Grundstein gelegt haben, um dem Tourismus zu den bislang höchsten Wachstumsraten zu verhelfen, legen wir
nun ein gesondertes Tourismusförderprogramm vor, das
die bisherigen Bemühungen noch verstärken soll und insbesondere Qualifizierung in den Bereichen Arbeits- und
Umweltrecht zum Inhalt hat.
Noch einmal zur Verdeutlichung für die Opposition:
Die höchste Steigerungsrate bei den Übernachtungen
seit Beginn der Aufzeichnungen ist nicht vom Himmel gefallen, Herr Brähmig. Durch die Maßnahmen der
Bundesregierung zur Steuererleichterung und zur Stärkung der Kaufkraft können sich die Menschen in unserem
Lande wieder mehr leisten
({0})
und sie nutzen ihre gestiegenen Möglichkeiten, um in
Deutschland Urlaub zu machen. Das ist eine Entwicklung, auf die wir stolz sein können.
({1})
Alle Maßnahmen, die die Opposition bisher vorgeschlagen hat und die auch jetzt wieder in Ihren Anträgen
zu lesen sind, zielen darauf ab, dass andere Branchen
durch höhere Steuern und infolge einer höheren Staatsverschuldung einen boomenden Wirtschaftsbereich subventionieren sollen. Diese Vorschläge von Ihnen, meine
sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition,
können nur dann bezahlt werden, wenn andere aus ihrem
Bereich etwas abgeben. Steuererleichterungen, die Absenkung der Mehrwertsteuer, mehr Mittel für Zuwendungsempfänger und was Sie sonst noch so auf Ihrer
Wunschliste haben - das alles kann nur finanziert werden,
wenn andere etwas von dem in ihrem Bereich erwirtschafteten Mehrwert an die Tourismuswirtschaft abgeben.
Wie sollen wir denen erklären, dass sie dafür bluten
sollen, dass der Wirtschaftsfaktor Tourismus mit seinem
- dank unserer Politik - größten Wachstum der Geschichte noch weiter steuerlich entlastet werden soll? Das
müssen Sie den anderen Branchen erst einmal vorschlagen.
Ich glaube, Sie sind einfach unfähig, anzuerkennen,
dass unsere Wirtschafts- und Steuerpolitik für die Menschen wirklich etwas gebracht hat. Wir im Tourismus sind
auf der Gewinnerseite.
({2})
Ich fordere Sie auf: Erkennen Sie endlich an, dass unsere
Regierung dieser Branche zu einer Gesundung verholfen
hat!
({3})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Gebetsmühlenartig wiederholen Sie Ihre Forderungen
nach Abschaffung der Ökosteuer - gerade eben hatten wir
dieses Thema auf der Tagesordnung -, nach Verringerung
des Mehrwertsteuersatzes für die Hotellerie und nach Änderung der 630-DM-Regelung.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brähmig?
Ja, gerne.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Liebe Frau Kollegin
Irber, Sie schreiben in Ihrem Antrag und haben das auch
hier noch einmal persönlich an mich gerichtet angesprochen, dass diese positive Entwicklung Ergebnis der Reformpolitik von Rot-Grün sei. Ich stelle das hier infrage.
Ich bin der festen Überzeugung,
({0})
dass dies das Ergebnis der Leistung der Touristiker in den
verschiedenen Regionen der Bundesrepublik Deutschland ist.
Ich habe zwei konkrete Punkte. Erstens. Sie sprechen
von einem Förderprogramm. Dieses liegt aus meiner
Sicht noch nicht vor. Damit meinen Sie wahrscheinlich
den Antrag, den Sie hier einbringen.
Zweitens. In Ihrem Antrag wird mit Zahlen gespielt.
Ich denke dabei an die Angaben über die Steigerung der
Zimmerauslastung von 61,1 Prozent auf 63,6 Prozent. Es
kann doch nicht Ihr Ernst sein, dies als allgemein geltende
Zahlen für die deutschen Tourismusregionen anzusehen.
Hier ist aus meiner Sicht ein ganz kleines Segment der
Großstadthotellerie hinzugezählt worden.
Mich würde einmal Ihre Stellungnahme zu diesen beiden Punkten interessieren.
Herr Kollege Brähmig, es
freut mich, dass Sie diese Punkte angesprochen haben.
Diese Punkte haben Sie schon während der letzten Debatte thematisiert und ich habe Ihnen schon damals darauf
geantwortet. Ich verweise deshalb auf diese Antwort.
Zum anderen werde ich Ihnen im Folgenden das Tourismusförderprogramm erläutern, das wir mit unserem Antrag vorgeschlagen haben. Wenn Sie gut zuhören, werden
Sie erfahren, was damit gemeint ist.
({0})
- Jawohl.
Ich möchte jetzt mit meiner Rede fortfahren. Durch die
Maßnahmen, die sich aus der 630-DM-Regelung ergeben
haben, wurden die Lohnnebenkosten gesenkt. Die Rentenversicherung wurde gestützt. Das wissen Sie. Das Rentensystem war marode.
({1})
- Sie waren an der Regierung, Herr Burgbacher und Herr
Brähmig. Nicht wir waren 16 Jahre an der Regierung und
auch nicht wir waren es, die den Unsinn beschlossen haben, die Renten Ost aus dem Rententopf West zu bezahlen. Es waren Ihre Leute, die das beschlossen haben.
Ich möchte jetzt gerne fortfahren. Was die Wachstumschancen angeht, die sich im Tourismus ergeben haben,
sind 326 Millionen Übernachtungen in Deutschland mit
der höchsten Steigerungsrate seit Beginn der Aufzeichnung kein Pappenstiel.
({2})
Das ist das Verdienst der Leistungsträger in der Tourismuswirtschaft, aber auch das Verdienst der rot-grünen
Bundesregierung, die die richtigen Rahmenbedingungen
gesetzt hat und damit dieses Wachstum ermöglicht hat.
({3})
Wir lassen uns auf diesem Wege nicht beirren; der Erfolg
gibt uns Recht.
Sie werden in Ihren Beiträgen sicherlich wieder die
gleiche Litanei herunterbeten und mit den 55 Punkten, die
in Ihrem Antrag stehen - das will ich Ihnen auch einmal
deutlich vorhalten -, den Tourismusstandort Deutschland
beschädigen. Sie reden andauernd von hohen Mehrwertsteuersätzen in der Hotellerie, verschweigen aber, dass
die Hotelpreise in Deutschland deutlich niedriger sind als
in anderen Ländern. Den Kunden draußen wird weisgemacht, sie würden in deutschen Hotels über den Eingriff
des Staates abgezockt. In Wirklichkeit findet er in den Hotels ein Preisgefüge, das deutlich anders gestaltet ist als in
dem von Ihnen so hochgelobten Ausland mit den so niedrigen Mehrwertsteuersätzen. Ich bitte Sie also: Hören Sie
auf, den Tourismus- und Wirtschaftsstandort Deutschland
kaputtzureden und verabschieden Sie sich aus Ihrer Jammer AG.
({4})
Das Prinzip ist also - ich möchte es Ihnen noch einmal
verdeutlichen -: Wir werden einer boomenden Branche
nicht weitere Steuermittel andienen, für die andere aufkommen müssen. Die Zeichen der Zeit stehen auf Qualifizierung, Qualitätssicherung und Qualitätsverbesserung.
Das ist etwas, was auch wir als Fachausschuss bewegen
können.
({5})
Die Zeichen der Zeit stehen auch auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Das Motto lautet „Lust auf
Natur“. Diese beiden Eckpunkte - das Sichern von Servicequalität und die Nachhaltigkeit der Produkte im
Deutschlandtourismus - werden wir in Modellprojekten
unterstützen.
Das Modellprojekt Qualitätsmanagement im Tourismus hat bereits begonnen. Ich danke der Bundesregierung
dafür, dass sie es ermöglicht hat, in Ostbayern beispielhaft
Lehrpläne zu entwickeln, mit denen die Macher des Tourismus in Deutschland zukünftig qualifiziert und weitergebildet werden können. Zunächst werden in dieser Qualifizierungsoffensive 80 Referenten der Landkreise zu
Qualitätsmanagern im Tourismus ausgebildet. Diese geben ihr Wissen in 800 Qualitätszirkeln an Beschäftigte der
Tourismuswirtschaft weiter. Selbstverständlich ist diese
Arbeit ein Modell, das dann auf die gesamte Bundesrepublik übertragen werden kann. Darum geht es.
({6})
- Der Bund bezahlt sie; das wissen Sie doch.
Die Qualifizierung und deren berufliche Anerkennung
waren bereits in der vergangenen Legislaturperiode unser
Anliegen. Das betrifft die Leiter von Fremdenverkehrsämtern, das Personal im Gastgewerbe und natürlich auch
die Eigner und Manager von Tourismuseinrichtungen.
Eine hochwertige Leistung im Tourismus setzt Ausbildung und Motivation voraus. Unsere Initiativen der letzten Legislaturperiode und die Realisierung heute setzen
genau an diesen Punkten der Wertschöpfungskette in der
Dienstleistung an. Wir verwirklichen damit ein Projekt,
das Sie, lieber Herr Burgbacher - das muss ich jetzt leider
loswerden -, Ihrem Minister zu „verdanken“ haben, weil
er dies in der letzten Legislaturperiode vehement abgelehnt hat. Das ist schade; denn sonst wären wir heute vielleicht schon weiter.
Für uns steht das Interesse des Kunden im Vordergrund. Das ist das Einmaleins der Marktwirtschaft, das ist
der Schlüssel zu einer erfolgreichen Branche. Menschen,
die mit ihrem Urlaub in Deutschland zufrieden sind, werden auch weiterhin gern hier Urlaub machen. Die Zufriedenheit hängt in hohem Maße davon ab, wie sich der Gast
aufgenommen fühlt. Wir wollen den Dienstleistenden in
der Tourismusbranche das Rüstzeug dafür geben, die
Wünsche der Gäste besser zu erkennen und entsprechend
vorbereitet zu sein.
({7})
Ich wiederhole meinen Dank an die Bundesregierung.
Sie hat die Sperre im Denken beseitigt.
({8})
- Ihr Antrag, Herr Brähmig - entschuldigen Sie -, ist ein
Sammelsurium von Punkten, wovon den Bundestag vielleicht acht Punkte angehen. Der Rest betrifft Länder und
Kommunen. Ihr Antrag ist also wirklich nicht der Rede
wert.
Ein weiteres Projekt, welches wir in der letzten Legislaturperiode eingebracht haben, war das Modellprojekt
zur umweltverträglichen Besucherlenkung im Tourismus. Auch das haben Sie abgelehnt. Den Trend zum nachhaltigen Tourismus haben Sie nicht erkannt. Wie auch?
Ihre Regierung hatte mit Tourismus schlichtweg nichts
am Hut. Das war der Punkt, Herr Brähmig. Deshalb müssen Sie jetzt 55 Forderungen in den Deutschen Bundestag
einbringen, um die Versäumnisse Ihrer Regierungszeit zu
heilen.
({9})
Die Erhaltung der Natur, der Umweltschutz und die
Absicherung des sozialen Standards in den Ferienregionen waren damals und sind auch heute ein aktuelles
Thema. Heute können wir einen Schritt weiter gehen, als
dies damals mit dem Modellprojekt möglich war; denn
heute haben wir die Mehrheit. Mit dieser Mehrheit haben
wir die Entwicklung der Dachmarke „Nachhaltiger Tourismus - via bono“ vorangetrieben. Dazu steht etwas in
unserem Antrag. Wir wollen damit eine Entwicklung anstoßen, die beim Tourismus mehr Wert auf Qualität denn
auf Quantität legt.
Auch hier gilt mein Dank zunächst dem Ministerium
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Die Anschubfinanzierung für die Dachmarke ist ein wichtiger
Beitrag zu deren Realisierung.
({10})
Mir fehlt jetzt leider die Zeit, um auf die anderen
Punkte in unserem Antrag einzugehen;
({11})
ich würde das gern tun. Aber eines möchte ich noch feststellen: Es geht uns darum, auch das Reisebürogewerbe
zu stützen. Wir werden ein Kompetenzzentrum für
E-Commerce einrichten, wodurch es der mittelständischen Reisebürobranche ermöglicht wird, sich an das moderne Zeitalter anzuschließen.
({12})
- Dann wundert es mich aber, Herr Feibel, dass gerade aus
Ihrer Branche dieser Wunsch an uns herangetragen worden ist.
({13})
- Na also, dann brauchen wir es doch.
Wir wollen uns bemühen, eine Zertifizierung für die
Berufe im Tourismus zu etablieren, eine Kammerregelung
für die Fremdenverkehrsamtsleiter und -leiterinnen. Das
jetzige Qualitätsmanagementprojekt ist die Grundlage
dafür.
Ich sage Ihnen, Herr Burgbacher, jetzt hier schon: Wir
liebäugeln auch mit Ihrem Antrag, dass wir eine bessere
Beschilderung auf den Autobahnen erreichen.
({14})
Leider fehlt mir jetzt die Zeit, alle anderen Punkte dieses Antrags noch aufzuzählen,
({15})
aber lassen Sie mich zum Abschluss feststellen: Der Weg
zum Erfolg führt nicht über ein bedingungsloses Abnicken aller Forderungen der Branche. Der Weg zum Erfolg führt über das Setzen von Rahmenbedingungen, die
das Augenmerk auf die Menschen im Lande, die Reisenden, die Kunden legen. Hier sind wir auf dem richtigen
Weg. Diesen Weg werden wir fortsetzen - zur Stärkung
des Tourismus in Deutschland.
({16})
- Am Ende wird abgerechnet!
({17})
Nun hat Kollege
Ernst Hinsken für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Werte Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Wenn einer eine Reise
tut, kann er was erzählen. Das ist eine alte deutsche
Spruchweisheit.
Wenn einer in dieser Debatte reden darf, dann hat er
viel zu sagen.
({0})
Frau Kollegin Irber hat eben gesagt, ihr fehle die Zeit. Ich
möchte die Zeit, die mir zur Verfügung steht, nutzen, um
die Probleme der Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland aus unserer Sicht zu beleuchten.
Frau Kollegin Irber, drei- oder viermal haben Sie gesagt, wir seien unfähig. Ich überlasse es Ihnen allein, so
zu urteilen. Ich meine nur, Ihnen heute das Gegenteil sagen und belegen zu können, damit Sie sehen, wer in dieser Bundesrepublik Deutschland unfähig ist.
({1})
Wenn Sie hier von der Qualifizierungsoffensive Ostbayern sprechen, dann freue ich mich darüber, dass diese
Qualifizierungsoffensive in Ostbayern läuft.
({2})
Aber warten wir zunächst einmal das Ergebnis ab. Hoffentlich lohnt sich der Einsatz. Schauen wir, was unter
dem Strich gesehen dabei herauskommt. Ich bin nicht
überwältigend beeindruckt und zuversichtlich, dass alles
geht. Ich möchte von dieser Stelle aus appellieren, dass
man von diesem Angebot Gebrauch macht,
({3})
um die Grundlage zu schaffen, sich zu stärken, sich weiterzubilden, um zu bestehen.
({4})
Eines muss ich Ihnen sagen, Frau Kollegin Irber: Sie
waren ja zu feige, im Tourismusausschuss des Deutschen
Bundestages einen Tagesordnungspunkt zuzulassen, in
dem die Bundesregierung über diese Qualifizierungsoffensive berichten sollte. Dafür müssen Sie sich
schämen.
({5})
Jetzt aber kommt eine
Zwischenfrage der Kollegin Irber, Herr Kollege. Lassen
Sie sie zu?
Selbstverständlich.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Herr Kollege Hinsken, können Sie mir bestätigen, dass Sie aus Verärgerung darüber,
dass Sie bei der Präsentation dieses Modellprojekts nicht
in der ersten Reihe stehen konnten, zwei Briefe an den Regierungspräsidenten von Ostbayern geschrieben sowie
den Kollegen Brähmig instruiert haben, bei der Bundesregierung einen entsprechenden Antrag auf Bericht zu
stellen?
Frau Kollegin Irber, Ersteres stimmt. Ich habe dem Präsidenten der Regierung
der Oberpfalz geschrieben und mich beschwert, dass ich
Sie bei dieser Präsentation nicht loben konnte, was ich
gerne getan hätte.
({0})
Das Zweite stimmt nicht, nämlich meinen Kollegen
Brähmig instruiert zu haben, in dieser Angelegenheit
tätig zu werden. Ich gehe davon aus, dass wir so mündige
Kolleginnen und Kollegen in der Arbeitsgruppe haben,
dass sie sehr wohl wissen, was sie wollen. Wenn diese hinterfragen, was speziell für ihren Bereich getan wird, ist
das richtig und rechtens. Solchen Wünschen möchte ich
mich grundsätzlich nicht verschließen.
Nun möchte die Kollegin Faße eine Zwischenfrage stellen.
Selbstverständlich
gerne. Frau Kollegin Faße ist eine nette Kollegin.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Herr Kollege Hinsken, ist es
vielleicht so, dass Sie die Briefe aus dem unbefriedigten
Ehrgeiz heraus geschrieben haben, dass Sie kein Rederecht bekommen haben? Haben Sie den Bericht deswegen
angefordert. Ist es nicht so, dass Sie mit Ihrem Ansinnen
ein wenig daneben gelegen haben?
Frau Kollegin Faße,
jetzt muss ich doch ein bisschen aus dem Nähkästchen
plaudern und darauf verweisen, dass sich der wissenschaftliche Referent der CDU/CSU-Fraktion drei Tage
vor dieser Präsentation an das Bundeswirtschaftsministerium gewandt hat, um zu erfragen, was sich überhaupt
hinter dieser Qualifizierungsoffensive verbirgt. Ihm
wurde gesagt, das sei geheime Kommandosache und er
könne das am Freitag oder Samstag der Woche in der Zeitung lesen. Das ist meines Erachtens ein ganz schlechter
Stil. Den hat es zur Zeit der CDU/CSU/F.D.P.-Regierung
nicht gegeben.
({0})
Nun möchte Ihnen
der Kollege Brähmig eine Frage stellen. Bitte sehr, Herr
Kollege.
Vielen Dank, Herr Kollege Hinsken. - Ich habe eigentlich nur eine Nachfrage.
Die CDU hat Anfragen an die Bundesregierung zu den Pilotprojekten und dem Qualitätsmanagement im Bayerischen Wald bzw. in Ostbayern gestellt. Begrüßen Sie, dass
wir diese Fragen gestellt haben, um vor allem zu erfahren,
welche Maßnahmen die Bundesregierung - möglicherweise am Tourismusausschuss vorbei - in der Bundesrepublik Deutschland noch plant, und inwieweit seitens der
Bundesregierung die Projekte zum Qualitätsmanagement,
die in der Bundesrepublik Deutschland schon seit vielen
Jahren vorhanden sind, in diesen Kommunikationsprozess und in die Projektförderung eingebunden werden?
({0})
Herr Kollege Brähmig,
ich bin selbstverständlich voll und ganz Ihrer Meinung,
({0})
dass es richtig war, diese Fragen an die Bundesregierung
zu stellen. Einerseits freue ich mich, dass diese Qualifizierungsoffensive in Ostbayern stattfindet,
({1})
andererseits habe ich aber nichts dagegen, wenn auch andere Teile der Bundesrepublik Deutschland hier Berücksichtigung finden und von den dort gewonnenen Erkenntnissen profitieren können.
Herr Staatssekretär Mosdorf, ich habe Ihnen schon damals in der Sitzung gesagt, ich bedauere es sehr, dass Sie
dieses Projekt nicht positiv darstellen können. Die Bundesregierung hätte die Möglichkeit gehabt, dies zu tun.
Aber die Kollegin Irber hat das leider Gottes verhindert.
({2})
Herr Kollege, ich
gehe jetzt davon aus, dass Sie in Ihren Ausführungen fortfahren wollen, und lasse erst einmal keine weiteren Zwischenfragen mehr zu. Sie haben weiterhin das Wort.
Frau Präsidentin, es liegt
natürlich in Ihrem Belieben, so zu handeln, wie Sie das
gerade getan haben.
({0})
Der Kollege Brähmig hat einmal gesagt: Die Tourismuswirtschaft ist die Leitökonomie der Zukunft. Daran
ist nichts auszusetzen. Das haben Sie, Frau Kollegin Irber,
die Sie vorhin das Wort „unfähig“ gebracht haben, leider
noch nicht ausreichend zur Kenntnis genommen.
Wir müssen nur eines tun: Die Tourismuswirtschaft ist
gefordert, auf Urlaubswünsche, die immer anspruchsvoller werden und differenzierter sind, vermehrt einzugehen.
Wenn die Tourismuswirtschaft die Trends frühzeitig erkennt und die Angebote danach ausrichtet, ist sie gut beraten und wird auch Zuwachsraten zu verzeichnen haben.
Hier spielt vor allen Dingen die regionale Vielfalt eine
wesentliche Rolle, die es gilt herauszuarbeiten.
({1})
Deutschland ist so vielseitig, Frau Kollegin Gradistanac,
dass man sagen kann: Es lohnt sich, einmal den Urlaub
nicht im Ausland, sondern in der Bundesrepublik
Deutschland zu verbringen.
({2})
Deshalb muss es unser aller Anliegen sein, einen Aha-Effekt zu erzielen. Der Anreiz muss geschaffen werden, einmal bei uns in der Bundesrepublik Deutschland Urlaub zu
machen.
({3})
Dabei sollte man natürlich nicht aus den Augen verlieren,
was auch das Ausland an Schönheiten bietet. Dem zunehmenden Wunsch nach Erlebnisurlaub muss aber in
Deutschland durch Fitnessangebote, moderne Sportarten
und vieles andere mehr Rechnung getragen werden.
Wenn der Kollege Brähmig von der „Leitökonomie der
Zukunft“ spricht, dann kann ich dazu nur sagen: Allein im
vergangenen Jahr waren weltweit 700 Millionen Menschen unterwegs. Bis zum Jahr 2020 wird diese Zahl auf
2 Milliarden ansteigen. Diese Entwicklung darf am deutschen Tourismus nicht einfach vorbeigehen, sondern wir
müssen mit dabei sein.
({4})
Eines muss erwähnt werden: Der Freizeitforscher Professor Opaschowski - das ist jüngst in der Öffentlichkeit
bekannt geworden - hat festgestellt, dass die Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland bei weitem
nicht so gut dasteht, wie das Frau Irber vorhin deutlich zu
machen versuchte. Über 96 Milliarden DM sind im vergangenen Jahr ins Ausland getragen worden, aber nur
33 Milliarden DM kamen durch den Tourismus an Einnahmen in die Bundesrepublik Deutschland.
({5}))
Das Verhältnis beträgt also 3:1. Das heißt, hier ist noch
viel zu tun.
({6})
Diese Entwicklung zeigt sich auch darin, dass die Lufthansa ein Rekordjahr mit 47 Millionen Passagieren hatte.
- Frau Kollegin Irber, wenn Sie ein bisschen aufpassen,
dann müssen Sie nicht mehr von Unfähigkeit reden. Sie
würden dann erfahren, dass Sie mit Ihren Ausführungen
total daneben lagen.
({7})
47 Millionen An- und Abflüge in der Bundesrepublik
Deutschland durch die Lufthansa lassen sich hören. Wenn
zu dem gerade jetzt, wenige Tage vor der Eröffnung der
Internationalen Tourismusbörse, festgestellt wird, dass
dieses Jahr mit 9 000 Anbietern 30 Prozent mehr als im
letzten Jahr verzeichnet werden können, dann ist das etwas Positives, über das wir uns alle zusammen freuen
sollten.
({8})
Angesichts der Forderung, dass die Deutschen vermehrt in Deutschland Urlaub machen sollen, ist es wichtig, dass die Hotellerie und Gastronomie in einer Weise
unterstützt wird, dass sie weiterhin existenzfähig ist.
({9})
Mich beunruhigt die Aussage des Deutschen Hotelund Gaststättenverbandes, dass viele kleinere und mittlere
Betriebe Existenzängste haben. Darum müssen Sie sich
kümmern. Es ist bei weitem nicht so, Frau Kollegin Irber,
wie Sie es dargelegt haben.
({10})
Viele Betriebe müssen mit einer Auslastung von unter
30 Prozent auskommen. Sie können nicht die Städte mit
den Orten vermischen, in denen der Urlaub insgesamt verbracht wird.
({11})
Beim Städtetourismus sind Zuwachsraten von über
60 Prozent zu verzeichnen, aber in anderen Regionen
schaut es aber bei weitem nicht so gut aus.
Deshalb möchte ich nochmals Herrn Professor
Opaschowski erwähnen: Die Zahl der Reisenden im Inland ist gestiegen, aber der Auslandstourismus ist prozentual noch stärker gestiegen. Wenn man also davon
spricht, dass Jahr für Jahr immer mehr Deutsche ihr Land
als Reiseland entdecken, dann muss man sich auch bewusst machen, dass es die Deutschen noch mehr ins Ausland zieht. Es ist nach wie vor das Ausland, das vornehmlich von der Reiselust der Deutschen profitiert. Dies wird
durch die negative deutsche Reiseverkehrsbilanz belegt.
Das habe ich vorhin bereits angesprochen.
Frau Kollegin Irber, Sie haben darauf hingewiesen, wie
viel seitens dieser Bundesregierung für die mittelständische Wirtschaft getan worden ist und getan wird.
({12})
Dazu muss ich Ihnen sagen, dass Sie damit ein klein
bisschen daneben liegen. Sie sprechen immer von weniger Bürokratie und von Deregulierung. Das haben Sie bereits vor eineinhalb Jahren für Ihre Fraktion angekündigt.
Geschehen ist bislang nichts.
({13})
Ich hoffe und wünsche, dass die neue Mittelstandsbeauftragte der Bundesregierung nicht umsonst bezahlt
wird, sondern dass sie sich in ihrer Aufgabe darauf konzentriert, die Deregulierung nach vorne zu treiben. Es
muss eingelöst werden, was sie versprochen hat, nämlich
noch in diesem Jahr einen Deregulierungskatalog für die
Bundesrepublik Deutschland vorzulegen, um die Grundlage dafür zu schaffen, dass die bürokratischen Belastungen in Zukunft verringert werden.
({14})
Ich erspare es mir, auf Einzelheiten - wie zum Beispiel
das 630-DM-Gesetz - einzugehen.
({15})
Das wird unsere weitere Rednerin, Frau Töpfer, heute
noch tun. Wir haben uns die Aufgaben in gewisser Hinsicht geteilt. Hotellerie und Gastronomie klagen, über das
630-DM-Gesetz hinaus, über zu viel Bürokratie, die Ökosteuer, die Steuerreform - Stichwort Personen- und Kapitalgesellschaften -, Verschlechterung bei den Abschreibungsmöglichkeiten und über den Rechtsanspruch auf
Teilzeitarbeit. In diesem Zusammenhang werden Geringverdiener im Hotel- und Gaststättengewerbe in verwerflicher Weise als volle Arbeitskräfte mitgezählt und dann ist
man gleich bei 15 Mitarbeitern angelangt. Weiterhin wird
über Belastungen im Zusammenhang mit der Kündigungsschutzschwelle und dem Lohnfortzahlungsgesetz
geklagt. Die Tourismuswirtschaft wird in diesem Punkt
seitens der Politik auf stärkste Weise negativ tangiert.
({16})
Die CDU/CSU-Fraktion versucht mit der Postkartenaktion, die sie jetzt starten wird, den Menschen klarzumachen, dass die Tourismuswirtschaft einige Probleme hat.
({17})
Unter dem Begriff „Standortstau - SOS“ wird darauf
verwiesen, dass das Betriebsverfassungsgesetz, die Ökosteuer, die Neufassung der AfA-Tabellen, das
630-DM-Gesetz und andere Maßnahmen für die Tourismuswirtschaft negativ sind.
({18})
- Ich lasse Ihre Zwischenfrage zu, Frau Kollegin Irber,
wenn die Frau Präsidentin das erlaubt, selbstverständlich,
gern.
Nach dieser Demonstration, Herr Kollege muss ich das doch erlauben. Frau
Kollegin, bitte sehr.
({0})
Ich möchte von Herrn Kollegen Hinsken nur wissen, ob die CDU/CSU-Fraktion die
Rechte an diesem Bild erworben hat.
({0})
Das kam hier oben
akustisch nicht an.
({0})
Frau Kollegin Irber, Sie
haben gesehen, dass das kein Foto, sondern eine Zeichnung ist. Diese Zeichnung wurde in Auftrag gegeben. Das
bedeutet, dass die rechtlichen Voraussetzungen
({0})
voll und ganz erfüllt sind, so wie es sich für eine ordnungsgemäße Fraktion gehört.
({1})
Nun möchte Ihnen
auch Herr Schmidt eine Frage stellen. Anschließend fahren sie in Ihrer Rede fort. Einverstanden? - Ja.
Herr Kollege Hinsken, ich wollte Sie nur fragen, ob sie mir das Bild noch einmal zeigen könnten.
({0})
Herr Kollege Schmidt,
ich bin nicht nur bereit, Ihnen das Bild zu zeigen, sondern
Sie bekommen nachher von mir eine Postkarte, die Sie an
die Bundesregierung schicken können, um sich mit uns zu
identifizieren, weil unsere Forderungen berechtigt sind.
({0})
Ich warte sowieso
schon lange auf Ausführungen über die Nordsee und nicht
nur über bayerische Tourismuszentren. Herr Kollege, Sie
haben das Wort.
Herr Kollege Schmidt,
ich weiß nicht, wo Sie mit dem Schiff herumfahren wollen, ob auf hoher See oder als Binnenschiffer zum Beispiel auf der Donau, die auch große Probleme haben. Es
bleibt Ihnen freigestellt, Ihren Horizont auf diese Art und
Weise zu erweitern.
({0})
Ich möchte noch Ausführungen im Zusammenhang mit
den Kompetenzen des Wirtschaftsministeriums machen, weil man seitens des Wirtschaftsministeriums der
Tourismuswirtschaft zu wenig Bedeutung beimisst. In der
zuständigen Abteilung sind nur neun Personen beschäftigt.
({1})
- Ich war dagegen, eine weitere Staatssekretärin für dieses Ministerium zu ernennen, da das Geld kostet. Wenn
man aber Kompetenzen verliert, kann man interne Umstellungen zum Wohle der Tourismuswirtschaft vornehmen. Darauf warte ich, aber bislang ist nichts geschehen.
({2})
Ich darf noch darauf verweisen, dass nicht nur Hotellerie und Gastronomie von der Politik negativ betroffen
sind, sondern dass neben anderem auch die Abschaffung
des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung Reisebürounternehmen betrifft. Kollege Feibel, Sie gehören
zu den Kollegen, die gerade auf diesem Sektor besonders
aktiv sind. Sie wissen davon ein Lied zu singen. Auch ich
bin für Deregulierung, ganz klar. Aber ich bin dagegen,
dass man das Kind mit dem Bade ausschüttet, dass man
die Probleme kleiner und mittlerer Unternehmen nicht
sieht, diese außen vor lässt und sagt: Augen zu und durch!
({3})
So darf man bei diesem Gesetz nicht vorgehen.
({4})
Deshalb werden wir von der CDU/CSU danach trachten,
dass auch in Zukunft den kleineren und mittleren Betrieben das notwendige Verständnis entgegengebracht wird.
Ein weiterer Punkt. Die Tourismuswirtschaft ist ein
großer Wirtschaftsfaktor. Fakt ist, dass in diesem Bereich mit 275 Milliarden DM ein großer Batzen erwirtschaftet wird. Man könnte diese Zahl noch erhöhen, wenn
man auch die Betriebe mit weniger als neun Betten statistisch erfassen würde. Wenn man auch die Übernachtungsund Urlauberzahlen dieser Betriebe berücksichtigen
würde, kämen in verschiedenen Regionen fast 40 Prozent
dazu. Ich freue mich deshalb - es hat lange gedauert -,
dass die SPD-Fraktion jetzt auf den Trichter gekommen
ist und zwischenzeitlich auch von der Bundesregierung
signalisiert worden ist, dass man in Zukunft auch die Betriebe mit weniger als neun Betten statistisch erfassen
will.
Mir ist auch wichtig, dass wir in Zukunft alles tun, um
die Bundesrepublik Deutschland auf das Tourismuswesen
auszurichten. Marketing und Buchungssysteme müssen
überregional aufeinander abgestimmt und die geforderten
Standards eingeführt werden.
({5})
Ich bin der Meinung - ich denke, darüber gehen die
Meinungen nicht auseinander -, dass die touristische
Landkarte Deutschlands neu gezeichnet werden muss.
Die Zahl der Tourismusorganisationen ist den natürlichen
Gegebenheiten anzupassen. Leistungsfähige Strukturen
haben sich künftig an den Grenzen der Ferienregionen zu
orientieren und dürfen nicht in die Grenzen von Kommunen und Landkreisen verbessern. Dies würde zu einer Reduzierung auf 30 bis 50 wettbewerbsfähige Destinationen
führen.
({6})
Lassen Sie mich zum Abschluss feststellen: Herr Kollege Burgbacher, Sie haben federführend für die F.D.P.Fraktion den Antrag „Beschilderungsmöglichkeiten für
touristische Hinweise entlang von Autobahnen flexibler
gestalten“ eingebracht.
({7})
- Jawohl. - Unsere Fraktion möchte diesen Antrag nachhaltig unterstützen.
({8})
Herr Kollege, Sie
müssen auf Ihre Redezeit achten.
Es ist wichtig, die Möglichkeiten, Schilder mit touristischen Hinweisen entlang
der Autobahn aufzustellen, zu verbessern.
Wir wollen zudem auch den Campingtourismus unterstützen; denn in diesem Bereich wird eine Bruttowertschöpfung von 6,5 Milliarden DM erzielt. Dieser Bereich
soll nicht außen vor gelassen werden. Auch ihm müssen
wir das notwendige Verständnis entgegenbringen.
Allerletzte Bemerkung: Es passt nicht zusammen,
wenn man das Jahr 2001 zum Jahr des Tourismus in der
Bundesrepublik Deutschland erklärt - Herr Staatssekretär
Mosdorf, ich bedanke mich, dass Sie diesen Vorschlag,
den die CDU/CSU-Fraktion eingebracht hat, aufgegriffen
haben ({0})
und dann keine einzige Mark dafür zur Verfügung stellt.
Das bedaure ich.
({1})
Wenn man hier erfolgreich sein möchte, dann muss man
auch die notwendigen finanziellen Mittel bereitstellen,
die, wie gesagt, leider nicht bereitgestellt worden sind.
Herr Kollege, Sie
müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.
Ich möchte mich herzlich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken und Ihnen empfehlen: Anstatt die Bundesregierung weiterhin dabei zu
unterstützen, unsinnige Gesetze aufzulegen - um bei dem
Jargon von Frau Irber zu bleiben -, wäre es besser, wenn
Sie, die Mitglieder der Bundesregierung Urlaub in
Deutschland machen würden.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort für das
Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Sylvia Voß.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU sind im
Plakativen offensichtlich kreativer als in der Politik, kann
man nach ihrem Plakat nur sagen.
Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürt jährlich ein
„Wort des Jahres“. Sie richtet sich dabei nach inhaltlichen
und sprachlichen Kriterien. Entscheidend ist aber das,
was im jeweiligen Jahr stattgefunden hat und besonders
wichtig war. Im Jahr 1998 gewann das Wort „rot-grün“.
Das war sehr schön und erfolgte völlig zu Recht. Im Jahr
2000 hatten wir leider keine Chance, denn als das Wort
des Jahres wurde diesmal „Schwarzgeldaffäre“ gekürt.
Das war zwar nicht schön, erfolgte aber auch völlig zu
Recht.
({0})
- Herr Brähmig, Sie werden gleich wissen, warum ich
dieses Thema anspreche.
Wir möchten nachträglich noch einen Vorschlag für
das Jahr 2000 machen, nämlich das Wort „Rekordjahr“.
Von einem Rekordjahr sprechen nämlich die Tourismusverbände durchweg, wenn sie an das zurückliegende Jahr
denken. Noch nie reisten so viele Besucher aus Deutschland innerhalb des Landes und noch nie kamen mehr Besucher aus anderen Ländern nach Deutschland.
({1})
Das Wachstum im Tourismusbereich machte aus
dem Jahr 2000 tatsächlich ein Rekordjahr, was sich leicht
mit Zahlen belegen lässt. Im zurückliegenden Jahr reisten
innerhalb Deutschlands 108,2 Millionen Menschen, die
326 Millionen Mal in Hotels, Pensionen und Gasthöfen
mit mehr als neun Betten übernachteten. Das entspricht
einem Anstieg von 6 Prozent. Bei den ausländischen Gästen stieg die Zahl sogar um 10 Prozent an. Dieser erneute
deutliche Anstieg sorgt bei den Mitarbeitern in der Tourismusbranche, aber nicht nur dort für Freude
({2})
- bei Ihnen offensichtlich nicht -; denn durch die anhaltend positive Entwicklung in den vergangenen Jahren
konnte zum Beispiel das Gastgewerbe im Jahre 1999
13,7 Prozent mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen.
({3})
Die Zahl der Ausbildungsplätze ist übrigens auch eine
Rekordzahl. Weitere 15 000 Ausbildungsplätze kommen
in anderen Tourismusberufen hinzu.
Es gibt viele weitere positive Zahlen, die das Jahr 2000
zum Rekordjahr für den Tourismus machen. Schauen wir
aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, von den zufrieden
stellenden Statistiken auf; denn es geht ja letztlich nicht
um ständig neue Rekorde unter Rot-Grün.
({4})
Es geht uns in diesem Zusammenhang auch um den
Schutz von Natur und Kultur, um gesünderes Essen, um
die Stärkung des Mittelstandes und der ländlichen Räume.
Es geht um mehr Klasse statt Masse im Tourismus.
({5})
Unser Programm zur Stärkung des Tourismus in Deutschland beinhaltet dies, während Sie nichts Ähnliches zustande gebracht haben. Wir werden unter Beachtung der
grundgesetzlich geregelten Zuständigkeit des Bundes die
Rahmenbedingungen für den Tourismus in Deutschland
verbessern.
Die Gäste- und Übernachtungszahlen in Deutschland
steigen. Auch das Jahr des Tourismus ist viel versprechend angelaufen. Mit den fast unzähligen kulturellen,
sportlichen und kulinarischen Aktionen wird das Jahr
2001 wesentlich dazu beitragen, Deutschland als attraktives Reiseland noch bekannter zu machen, auch und gerade in Deutschland selbst. Wer einmal mit dem Floß auf
den herrlichen Seen der Uckermark unterwegs war oder
die Störtebeker-Spiele in Ralswiek auf Rügen erlebte,
wird davon erzählen.
({6})
Gäste, die sich beispielsweise in den Bann der Walpurgisnacht haben ziehen lassen oder den Klang des Choriner Musiksommers erlebt haben, werden wiederkommen und vieles auch als Geheimtipp weiterempfehlen. So
wird das Jahr des Tourismus 2001 dazu führen, dass sich
immer mehr Bürger für eine Reise im eigenen Land begeistern.
Entscheidend für eine beständige, erfolgreiche Entwicklung ist neben der Qualität der Produkte deren Vermarktung. Es reicht nicht mehr, die Möglichkeiten zu
nutzen, die der Markt bietet. Es kommt immer stärker darauf an, neue Trends frühzeitig zu erkennen und diese
dann gegebenenfalls auch zu fördern, sofern sie naturverträglich sind. Darüber sind wir uns hoffentlich in allen
Fraktionen einig.
({7})
Wir haben uns vorgenommen, entsprechende Modellvorhaben anzuschieben.
({8})
Die guten Zahlen im Deutschlandtourismus sind auch
auf die Weitsicht der Touristiker zurückzuführen. Etwa
die Hälfte der Deutschlandreisen werden als Haupturlaub unternommen. Viele Touristen nutzen ihre Urlaubstage aber mittlerweile und zunehmend auch dazu, einen
Kurzurlaub in einem unserer 16 Bundesländer zu verbringen.
Frau Kollegin, es
wird eine Zwischenfrage vom Kollegen Seifert gewünscht. Nehmen Sie sie an?
Nein, eigentlich nicht.
Dann haben Sie weiterhin das Wort.
Zweitund Dritturlaube sind ebenfalls gefragt. Darauf galt und
gilt es sich einzustellen. Während sich die Branche bei der
Buchung früher auf den Wochenrhythmus von Sonnabend
bis Sonnabend konzentrierte, haben sich einige Unternehmen bereits auf flexible und kreative Angebote für
Deutschland umgestellt.
Die Kunden werden anspruchsvoller. Auch diese Tatsache haben wir uns vor Augen geführt. Deshalb werden
wir Vermietern, die bemüht sind, ihren Gästen die schönste Zeit des Jahres so angenehm wie möglich zu gestalten,
unter die Arme greifen. So können Vermieter zinsverbilligte Kredite durch Inanspruchnahme des CO2-Gebäude-Sanierungsprogramms der Kreditanstalt für
Wiederaufbau erhalten, mit denen sie privat vermietete
Zimmer modernisieren und sanieren können. Mit dieser
Förderung ist beiden Seiten geholfen: Den Touristen gefallen die schönsten Tage des Jahres noch einmal so gut
und die privaten Vermieter halten durch die Modernisierung den Anschluss an gewünschte Standards. Gleichzeitig tun wir dabei etwas für den Klimaschutz.
({0})
Es wäre wirklich zu kurz gesprungen, sich nur um Freude
und Zufriedenheit unter Tourismusmitarbeitern und Touristen zu sorgen. Wenn wir nicht gerade im Tourismus auf
unsere Umwelt Acht geben, dann kann es mit beiden ganz
schnell vorbei sein.
Nachhaltiger Tourismus lautet unser Konzept, bei dem
deutlich wird, dass im Mittelpunkt die Bemühungen zum
Schutz und zur Pflege der Umwelt stehen. So freut es uns
auch, dass im tourismuspolitischen Bericht der Bundesregierung der Umweltschutz inzwischen zu einem neuen
Schwerpunkt gemacht wurde.
({1})
Das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Beachtung des Zusammenhangs von Umweltschutz und Tourismus in
Deutschland unter Rot-Grün endlich jenen Stellenwert erhält, den er eigentlich schon lange hätte erhalten müssen.
Der in Arbeit befindliche Bericht der Bundesregierung zu
Umwelt und Tourismus wird uns weitere und tiefere Einblicke in diese Zusammenhänge liefern. Bei solchen Zeichen darf es aber nicht bleiben; dafür werden wir sorgen.
Als Abgeordnete der Regionen sollten wir uns aber
auch Bedächtigkeit auferlegen, wenn es um neue
Straßenprojekte geht. Ich denke zum Beispiel an die stillen kleinen Alleen auf Rügen. Tut es dieser Insel gut,
wenn ein neuer Rügen-Damm mit all den nachfolgenden
großen Verkehrsprojekten gebaut wird? Ist eine Straße
durch das Oderbruch oder durch den Nationalpark Unteres Odertal sinnvoll, obwohl diese Straße - auf der anderen Seite ist nichts! - in wertvollsten polnischen Naturgebieten endet? Wir sollten uns auch fragen, ob wir ein
Bombodrom in Wittstock unterstützen - in dieser Gegend
ist Fontane gewandert -, obwohl dadurch die Mecklenburgische Seenplatte und auch der Nationalpark Müritz
beeinträchtigt werden.
Touristen lieben die unzerstörten stillen Räume, wo
man sich noch richtig von Lärm, Verkehr und Hektik erholen kann.
({2})
- Sie sollen jetzt zuhören! - Diejenigen, die es anders
wollen, können in die Städte gehen. Wir unterstützen die
behutsame und naturbewahrende Entwicklung des Tourismus in den ländlichen Räumen. Es handelt sich nicht
nur um ein großes Potenzial bei der Bewältigung des so
dringend notwendigen Strukturwandels der Landwirtschaft, sondern auch um einen entscheidenden Beitrag zu
einer nachhaltigen und eigenständigen Regionalentwicklung. Eine solche Entwicklung gibt dem ökologischen
Landbau und der naturgemäßen Waldwirtschaft eine neue
Chance. Das bedeutet Gesundheit für alle: für Touristen,
für Einheimische und für die Natur.
Wenn wir hier über eine intakte Natur sprechen, dann
fallen uns die Nationalparke Deutschlands ein, die zurzeit 2,1 Prozent der Fläche des Bundesgebietes ausmachen.
({3})
Unsere Nationalparke, die vor allem der Bewahrung unseres nationalen Naturerbes dienen, wollen wir auch touristisch nutzen; denn wir wissen, dass die Akzeptanz des
Naturschutzes vor allem dann gegeben ist, wenn der
Mensch diese herrliche Natur unmittelbar erleben, sehen
und schätzen lernen kann, um sie dann auch schützen zu
wollen. Das ist ein Erfolg versprechender Weg. Darum
arbeiten wir mit Bund und Ländern bereits gemeinsam daran, das Marketing für Nationalparke
({4})
und die Kenntnis von dieser hinreißend schönen Natur sowohl bei unseren Landsleuten - dort ist davon noch
viel zu wenig bekannt - als auch im Ausland deutlich zu
verbessern.
({5})
Ich denke, da sind wir auf einem guten Weg. Die Erholungssuche in der geschützten Natur muss mit einer sinnvollen Besucherlenkung selbstverständlich verbunden
werden.
An dieser Stelle möchte ich einige Anmerkungen zum
vorliegenden Antrag der CDU/CSU machen. Sie haben
sich Gedanken um die deutsche Tourismuswirtschaft gemacht. Allerdings kann ich mich, wie Frau Irber vorhin
schon sagte, des Eindrucks nicht erwehren, dass Ihr Antrag nach dem Motto „Husch, husch!“ in den letzten Tagen zusammengestellt worden ist; denn er ist wirklich
nur ein Sammelsurium, eine bunte Liste von Forderungen. Was dort enthalten ist, hat der Bundestag zum Teil
längst beschlossen oder der Bundestag hat diese Forderungen bereits mehrfach begründet abgelehnt, weil nur
die Länder betroffen sind usw. Ihr Antrag erinnert mich
- die Kollegen aus dem Osten werden verstehen, was damit gemeint ist - an die Sendung „Wünsch Dir was“, die
es einmal im DDR-Fernsehen gab.
Tourismuspolitik, lieber Herr Brähmig und lieber Herr
Hinsken, ist aber kein Wunschkonzert, sondern die Gestaltung günstiger Rahmenbedingungen unter Beachtung
auch der finanziellen Möglichkeiten des Bundes.
({6})
Leider vergisst die Opposition nur allzu gerne, dass die
Haushaltsführung des Bundes viel zu lange in ihren Händen lag.
Es ist der CDU/CSU mit ihren 5 Forderungen gelungen, nahezu jeden Bereich, der auch nur im Entferntesten
etwas mit dem Tourismus zu tun hat, aufzulisten. Ihr Antrag lässt aber leider kaum eine Anregung, geschweige
denn eine konkrete Idee erkennen, wie alle Ihre Forderungen umgesetzt werden können.
({7})
Vielleicht haben Sie als Ihren Beitrag zu dem „Wünsch dir
was“ und zum „Tischleindeckdich“ den Goldesel schon
im Stall stehen.
Wir begrüßen aber, dass die Opposition die Bundesregierung in dem Vorhaben, die statistische Erfassung der
Anzahl der Übernachtungen unterhalb von acht Betten zu
verbessern, unterstützen wird.
({8})
Sie muss schnell lesen, weil ihre Redezeit schon abgelaufen ist.
Ja, ich
weiß.
Leider hat das Wort „Rekordjahr“ rückwirkend keine
Chance noch das Wort des Jahres 2000 zu werden.
({0})
Wenn sich die Opposition aber in der nächsten Zeit
- jetzt kommt das scheußliche CDU-Wort - „brutalstmöglich“ mit unserem Antrag beschäftigen wird,
({1})
statt nur neidvoll und in Trance realitätsvergessen zu jammern, dann bestehen wirklich gute Chancen, im Jahre 2001
wieder einige Rekorde für den Tourismus in Deutschland
zu vermelden.
Danke.
({2})
Nun hat das Wort der
Kollege Ernst Burgbacher für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte mich eigentlich darauf gefreut, hier vor der ITB eine Tourismusdebatte zu einer vernünftigen Zeit zu führen. Dieser Wirtschaftssektor hat es nicht verdient, dass wir hier in
kleinkarierter Weise miteinander um manche Details
streiten. Da wäre wahrlich etwas anderes angesagt.
({0})
Sie haben in Ihrem Antrag zunächst einmal Zahlen genannt, die ich nur unterstreichen kann und über die wir
uns alle mächtig freuen. Die Steigerungsraten betragen
6 Prozent, bei Gästen und Übernachtungen aus dem Ausland sogar 10 Prozent. Nur kommt dann in Ihrem Antrag
der Kernsatz:
Diese Entwicklungen sind das Ergebnis der Reformpolitik der rot-grünen Bundesregierung.
({1})
Nein, meine Damen und Herren, diese Entwicklungen
sind das Ergebnis der Risikobereitschaft und des Fleißes
von Unternehmern und Beschäftigten
({2})
in Hotels, Gaststätten, bei der Bustouristik, in Freizeiteinrichtungen, in Reisebüros, von Schaustellern und Unternehmern, die dem rot-grünen Gegenwind trotzen, die Ärmel aufkrempeln, um im Wettbewerb bestehen zu können.
Das ist der Sachverhalt.
({3})
Alle diese Menschen, deren Tätigkeiten ich beschrieben
habe, müssen den Inhalt des von mir zitierten Satzes doch
als Hohn empfinden.
Ganz besonders müssen die in der Gastronomie Tätigen einen solchen Satz als Hohn empfinden.
({4})
Sie haben Umsatzrückgänge und ansonsten überhaupt nur
geringe Zuwächse zu verzeichnen. Die Situation in der
Gastronomie ist Besorgnis erregend. Sie aber, Frau Voß,
sagen da ernsthaft, die rot-grüne Politik habe dazu geSylvia Voß
führt, dass dort 13 Prozent mehr ausgebildet würden. Dass
sie ausbilden, ist eine riesige Leistung, die Respekt verdient, da sie selbst fast nichts verdienen. Das ist doch der
Punkt.
({5})
Sie, liebe Kollegin Irber, gaukeln uns hier vor, Sie hätten den Menschen mehr Geld gegeben. Schauen Sie sich
doch die Zahlen an, die das von Ihnen geführte Finanzministerium veröffentlich hat: Dort wurde errechnet, dass
die Steuerbelastung nicht abgenommen, sondern sich die
Steuerlastquote im Jahre 2000 sogar geringfügig um
0,1 Prozent erhöht habe. Trotz Steuerreform nimmt die
Steuerlast zu und nicht ab.
({6})
- Die Steuerlastquote ist gestiegen.
Der Tourismus ist zweifellos wichtig für die gesamte
Gesellschaft, aber man sollte die Kirche schon im Dorf
lassen. Nicht alle aktuellen gesellschaftspolitischen Probleme wie zum Beispiel die verfehlte europäische Agrarpolitik und BSE können wir durch Maßnahmen im Tourismusbereich ausgleichen. Es bringt doch nichts, über
den ökologischen Landbau als Wegbereiter für Tourismus
zu reden.
({7})
Es wäre viel sinnvoller, eine moderne Kampagne zu starten. So könnten wir zum Beispiel eine Kampagne „Bauer
und Bett im Internet“ machen. Bieten wir das doch einfach einmal am Markt an. Solche Wege müssen wir gehen.
({8})
Das funktioniert aber nicht auf der Basis der Aussagen in
Ihrem Antrag.
({9})
Wenn Sie für sich in Anspruch nehmen, die Erfolge
seien das Ergebnis rot-grüner Politik, dann muss es umgekehrt einmal gestattet sein, in aller Kürze aufzulisten,
was Sie eigentlich konkret getan haben. Sie haben den
Tourismushaushalt unterm Strich um 1 Million DM gekürzt; Sie haben zwar bei der DZT draufgelegt, aber dafür
an anderer Stelle umso stärker gekürzt. Im Resultat macht
das 1 Million DM weniger.
({10})
Weiterhin nenne ich das 630-Mark-Gesetz, die Erhebung
der Ökosteuer und die Einführung der echten 0,5-Promille-Grenze, die gerade für die Gastronomie ein Riesenproblem darstellt, weil sie zu weniger Umsätzen führt.
({11})
Sie wollen die Gaststättenverordnung ändern; darüber haben wir neulich diskutiert. Dann muss man immer mit
dem Taschenrechner in die Wirtschaft gehen.
({12})
Meine Damen und Herren, das Grundproblem hat sich
doch gerade in den letzten Tagen gezeigt: Wir haben einen
zuständigen Minister, der zwar bei großen Anlässen auftritt, sich aber in keiner einzigen Frage durchgesetzt hat.
Herr Müller hat überall gekuscht. Er hat für den Tourismus überhaupt nichts Konkretes herausgeholt.
({13})
Lassen Sie mich jetzt ein Wort zu dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion sagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie listen in einem Katalog
von 55 Punkten wirklich alles auf, was überhaupt denkbar ist. Ich denke, es wäre sinnvoller, Schwerpunkte zu
setzen.
({14})
Es wäre richtig, auch in der Opposition zu berücksichtigen, was überhaupt finanzierbar ist. Deshalb werden wir
hier ein Stück weit solider arbeiten.
({15})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Faße?
Aber bitte.
Bitte sehr.
Herr Burgbacher, habe ich Sie
eben richtig verstanden, dass Sie die Tatsache, dass wir
die Promillegrenze auf 0,5 gesenkt haben, allen Ernstes
mit der Begründung kritisiert haben, dass dies eine negative Auswirkung auf die Gastronomie habe?
({0})
Ich meine, dass dieser Zusammenhang ja wohl sehr weit
hergeholt ist. Können Sie mir ganz klar und deutlich sagen, ob diese Senkung nicht im Hinblick auf die Sicherheit im Straßenverkehr sehr viel Sinn macht?
({1})
Liebe Frau Kollegin
Faße, darüber haben wir vor kurzer Zeit im Deutschen
Bundestag diskutiert. Sie wissen, dass die F.D.P.-Fraktion
dagegen gestimmt hat, weil es wieder ein typischer Vorwand ist: Sie senken diese Grenze, obwohl Sie genau wissen, dass das Problem im Straßenverkehr nicht diejenigen
Menschen darstellen, die Promillewerte von 0,5 oder 0,8
haben, sondern die, die erheblich höhere haben.
({0})
Es ist nachweisbar, dass diese Senkung dazu führt, dass
man beim abendlichen Ausgehen Angst hat, kein Viertel
Wein mehr trinken zu können. Dies hat auf das Verhalten
der Touristen natürlich erheblichen Einfluss.
({1})
Wenn Sie davor die Augen verschließen, tun Sie mir Leid.
({2})
Mich wundert schon, wie weltfremd Sie manchmal argumentieren. Das ist unwahrscheinlich.
({3})
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, lassen
Sie mich einen zweiten Punkt ansprechen. Der Hilferuf
„SOS für den Tourismusstandort Deutschland“ scheint
mir völlig überzogen zu sein.
({4})
Es ist richtig: Wir haben hohe Wachstumsraten. Wir stehen gut da. Dann SOS zu sagen halte ich für völlig an der
Sache vorbei.
({5})
Richtig ist: Wir könnten erheblich mehr machen, wenn die
Rahmenbedingungen stimmen würden. Dazu fordern wir
auf.
Wir als F.D.P.-Fraktion haben zwei Anträge eingebracht. Einmal fordern wir, die touristische Beschilderung an Autobahnen nicht so zu handhaben, wie dies
jetzt der Fall ist.
({6})
Es ist doch verrückt: Wir erlauben nur alle 20 Kilometer
ein Schild. Es darf nur auf sichtbare Ziele hingewiesen
werden. Alle unsere Nachbarn machen das völlig anders.
Ich freue mich, dass ich von allen Seiten des Hauses Zustimmung signalisiert bekommen habe, dass man hier
mitmachen wird.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Brähmig?
Aber sehr gerne, von dem
Kollegen Brähmig doch immer.
Bitte sehr.
Lieber Kollege
Burgbacher, Sie sprachen soeben von unserem Antrag und
thematisierten das „SOS“. Wir wollen mit diesem Begriff
„Standortsicherung“ darstellen. Ich glaube, wir sind uns
doch wohl einig - das war sowohl in den letzten Monaten
als auch in den zweieinhalb Jahren im Ausschuss und ansonsten im Parlament auch Ihr Petitum -, dass die Überbürokratisierung auch in der mittelständischen Branche
derartige Belastungen mit sich bringt, dass man diese
Dinge doch aufzeigen kann.
({0})
Dazu gehört ganz einfach, dass man die Öffentlichkeit
und die Branche insgesamt sensibilisiert. Das soll damit
zum Ausdruck gebracht werden - nicht mehr und nicht
weniger. Übrigens freue ich mich auf Ihre Argumente,
aber auch auf die der Kolleginnen und Kollegen von RotGrün im Ausschuss, wie wir versuchen können, diese
Standortsicherung zu erreichen. Denn wer zur Quelle will,
muss gegen den Strom schwimmen. Dies haben wir letztendlich auch mit diesem Antrag versucht zu tun. Lieber
Herr Burgbacher, ob nun 55 Einzelpunkte oder zehn Kernaussagen, darüber werden wir in der nächsten Zeit weiter
diskutieren.
Lieber Kollege Brähmig,
gestern habe ich die Einladung zur Pressekonferenz gesehen: „SOS-Tourismus“. Ich habe gesagt: Das kann nicht
wahr sein. Dagegen wende ich mich. Wir können doch in
Bezug auf eine gut laufende Branche nicht sagen: Jetzt müssen wir SOS funken. Das scheint mir unrealistisch zu sein.
({0})
Lassen Sie mich zu unserem zweiten Vorhaben kommen. Wir haben einen Antrag eingebracht, eine Kampagne
unter dem Motto „Deutschland besucht Deutschland“ zu
starten. Auch hier rufe ich Sie auf: Unterstützen Sie das!
({1})
Für den Deutschlandtourismus ist es eine Riesenchance,
wenn wir nach zehn Jahren deutscher Einheit dafür werben, dass die Menschen aus den neuen Bundesländern mal
wieder in die alten Bundesländer reisen sollen und umgekehrt. Es ist auch eine große Chance für unseren Staat.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang Mark Twain
bemühen, der einmal gesagt hat: „Reisen ist tödlich für
Vorurteile.“ Ich glaube, dieser Satz passt sehr gut.
Ich möchte zum Schluss noch ein Wort zum Jahr des
Tourismus sagen. Ich habe die Idee immer für gut gehalten; aber ich war der Einzige, der vor einer kurzfristigen
Umsetzung gewarnt hat.
({2})
- Sagen wir einmal so: Ich war der Einzige, der dagegen
gestimmt hat. - Ich mache nun die Erfahrung, dass bis
heute vor Ort fast niemand - übrigens auch nicht unter den
Touristikern - etwas vom Jahr des Tourismus gehört hat.
({3})
- Ich habe diese Erfahrung auf zahlreichen Veranstaltungen gemacht.
Wir haben eine Chance vertan. Lieber Herr Mosdorf,
ich fordere die Bundesregierung auf zu handeln. Es geht
nicht an, dass Minister Müller zwar das Jahr des Tourismus proklamiert, aber dann keinen Pfennig Geld dafür
ausgeben will.
({4})
Sie müssen schon Geld zur Verfügung stellen.
Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Wir schreiben
im Tourismus schwarze Zahlen, aber nicht dank, sondern
trotz Ihrer Politik. Wenn die Rahmenbedingungen günstiger wären, wären die Zahlen noch besser. Wir werden Sie
aus Ihrer Verantwortung nicht entlassen, bessere Rahmenbedingungen zu schaffen.
({5})
Das Wort hat nun die
Kollegin Rosel Neuhäuser für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Burgbacher, Ihre Argumentation hinsichtlich der 0,5-Promille-Grenze
({0})
ist schon sehr gewagt. Wir sollten einmal darüber reden.
({1})
Ich denke, Ihr Argument dient der Sache nicht.
({2})
Sie haben es eben schon angesprochen: 2001 ist das
Jahr des Tourismus in Deutschland. Haben Sie schon gemerkt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass keiner hingeht? Oder geht es Ihnen wie den meisten Menschen hier
im Lande, dass sie den Eindruck haben, dass das fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit abläuft?
Es war uns ein ganz wichtiges Anliegen - ich denke, in
diesem Punkt stimmen wir überein -, deutlich zu machen,
dass bestimmte Maßnahmen notwendig sind. Es ist auch
die Einschätzung der Bundesregierung, dass der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist, für den steigende Tendenzen prognostiziert werden.
Was heißt das für uns konkret? Man kann doch nicht
davon ausgehen, dass sich der Tourismus im Selbstlauf
entwickelt. In den Anträgen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen, CDU/CSU sowie der F.D.P. wird deutlich, dass
die Tourismuswirtschaft ein buntes Netzwerk von vielfältigen Angeboten und Dienstleistern ist. Sie können mir sicher zustimmen, dass die einzelnen Regionen nicht nur
von der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft, sondern auch
die Wirtschaft von der touristischen Attraktivität der Regionen lebt. Soll in diesem Sinne die deutsche Tourismuswirtschaft wettbewerbsfähiger gestaltet werden,
benötigen wir den politischen Willen des Bundes, der
Länder, der Kommunen und natürlich der Branche.
({3})
Was aus meiner Sicht ganz wichtig ist: Wir brauchen eine
hohe Koordinierungsbereitschaft.
Der Tourismusstandort Deutschland darf doch nicht
unter Kleingeist leiden. Es ist an der Zeit, nicht mehr nur
über neue Ansätze zu diskutieren, sondern endlich neue
Wege zu beschreiten.
({4})
Dies geht aber nicht in der Weise, wie es am Dienstag
beim Neujahrsempfang des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft recht widersprüchlich von vielen Rednern und Referenten verkündet und auch gefordert worden ist und wie es in einzelnen Punkten im Antrag der
CDU/CSU nachzulesen ist: Auf der einen Seite lehnt man
staatliche Bevormundung ab. Auf der anderen Seite ruft
man aber im gleichen Atemzug sehr energisch nach Regularien und Rahmenbedingungen, die zu schaffen sind,
und zwar allein von der Bundesregierung, ohne dass die
Möglichkeiten der Mitwirkung erwähnt werden.
({5})
Dieser Zeitgeist ist überholt. Im Wettbewerb um die
besten touristischen Standorte gewinnen schließlich jene,
die neben viel Gastfreundschaft, Service und Dienstleistung auch eine hohe Bereitschaft zur Koordination des
Marketings vor Ort signalisieren und die sich diesem Prozess nicht verschließen.
({6})
Ihre Anträge lassen an vielen Stellen den guten Willen
erkennen, für Veränderungen zu sorgen. In den Mittelpunkt rücken Sie dabei die Forderung, Deutschland besser zu vermarkten. Das ist, denke ich, auch gut und richtig, gerade in dieser Situation. Aber eines vergessen Sie:
Zu einer besseren, modernen Vermarktung gehört, dass
sich Deutschland jung, dynamisch und interessanter präsentiert.
Ich will Herrn Brähmig jetzt nicht besonders herausstellen. Aber es gab gestern Abend in Sachsen eine Präsentation der Sächsischen Schweiz. Das war ein gelungener Ansatz. Das Angebot, Herr Brähmig, muss jedoch
auch für junge Menschen attraktiver sein. Das haben mir
Ihre jungen Kollegen gestern auch bestätigt. Junge Menschen müssen neugierig auf Deutschland gemacht werden. Das ist eine Frage des Images. Wo - so frage ich zum
was weiß ich wievielten Mal hier in diesem Parlament,
auch an die Fraktionen von SPD und Grünen gerichtet bleiben Ihre konkreten Maßnahmen zum Kinder- und Jugendtourismus?
({7})
Kinder- und Jugendtourismus ist komplexer, als Sie
allgemein annehmen. Experten schätzen, dass der Kinderund Jugendtourismus in den vergangenen zehn Jahren in
Deutschland um 8 Prozent gewachsen ist. Damit liegen
die Steigerungsraten fast doppelt so hoch wie beim gesamten Tourismus.
In den nächsten Jahren wird die Kinder- und Jugendreisebranche aus ihrer Nische herauswachsen und einen
respektablen Platz in der Reisebranche einnehmen können.
({8})
Die umliegenden europäischen Staaten haben die jungen
Leute längst als eine wichtige Zielgruppe erkannt.
Deutschland hat mit seinen Regionen auf diesem Gebiet
noch einen Nachholbedarf. Der Zug ist in voller Fahrt.
Springen Sie auf!
Es kann doch auch nicht sein, dass das Problem des
Kinder- und Jugendtourismus nach einer Anhörung im
Ausschuss und mehreren Debatten danach in den Anträgen, besonders der Regierungsparteien, mit einem Satz
abgetan wird.
({9})
Es muss gelingen, die vielfältigen Verantwortungsbereiche aus Politik, Wirtschaft und Branche, die mit ihren Aktivitäten bisher eher nebeneinander als miteinander agierten, an einer gemeinsamen Zielrichtung im Kinder- und
Jugendreisebereich zu orientieren. Das sollte nicht zuletzt
für die Menschen mit Behinderungen gelten. Ich denke,
auch das ist eine Frage, der wir uns stellen sollten.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU, Ihre
Ansätze, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Tourismuswirtschaft zu stärken, gehen in der Fülle Ihres Forderungskataloges unter. Warum müssen es 55 Punkte sein?
Viel muss nicht immer gut sein. Lieber Qualität als Quantität!
({11})
Noch eines zum Schluss. Lassen Sie uns in den weiteren Beratungen in den Ausschüssen um ein gutes Konzept
ringen. Dann haben wir alle Voraussetzungen, das Jahr
des Ökotourismus 2002, das international ausgeschrieben
wird, erfolgreich einzuleiten.
Vielen Dank.
({12})
Ich erteile das Wort
dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Herrn Siegmar
Mosdorf.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu den
Fakten. Wir haben im Jahr 2000 im Tourismus ein
Rekordergebnis erzielt. 108 Millionen Ankünfte von Gästen - 6 Prozent mehr als im Vorjahr -, 326 Millionen
Übernachtungen - 6 Prozent mehr als im Vorjahr - und,
was besonders bemerkenswert ist, 10 Prozent mehr ausländische Gäste. Ich glaube, wir können alle gemeinsam
darauf stolz sein, dass wir dieses Ergebnis haben.
({0})
Deshalb lassen Sie mich zu Beginn auch gleich sagen:
Ich glaube, die Leistungsträger dieser Branche, die Gastronomie, die Hotellerie und diejenigen, die sich hier besonders engagieren, die Tourismusbranche insgesamt haben ein Dankeschön für die qualitätsvolle Arbeit verdient,
die sie leisten.
({1})
Wir sollten diesen Dank alle gemeinsam aussprechen.
Denn wir haben zwar gute Bedingungen in Deutschland,
weil unser Land wirklich interessant und vielfältig ist,
weil es kulturhistorisch, landschaftlich und regional sehr
viel zu bieten hat, aber letztlich hängt es doch von den
Leistungen der Menschen ab, ob wir Touristen gewinnen,
bei uns Urlaub zu machen. Dafür kann man ein Dankeschön aussprechen; denn die Qualität war im letzten Jahr
besser als in den Jahren zuvor.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Gerne.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, wir
sind natürlich stolz auf die großartigen Zahlen, was die
Touristen angeht. Aber die Zahl der Touristen ist nur die
eine Seite. Es gibt auch eine andere Betrachtungsweise.
Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie der Auffassung
sind, dass zum Beispiel eine Umsatznettorendite von 0,6
bis 0,8 Prozent im deutschen Reisemittlergewerbe ausreichend erscheint und ebenfalls zu solchem Jubel Anlass
gibt wie die Zahlen der Gäste, die nach Deutschland kommen, oder ob nicht vielmehr eine Reihe von Rahmenbedingungen dazu beitragen, dass dieser Teil der Branche
fast nicht mehr überleben kann.
Herr Kollege, da
wir beide von der Sache etwas verstehen, ist dies für mich
eine rhetorische Frage. Natürlich wollen wir in dieser
Branche eine bessere Umsatzrendite haben; das ist
selbstverständlich. Aber die kann die Regierung nicht verordnen. Da spielen viele Dinge eine Rolle. Ich glaube,
dass eine positive Entwicklung in dieser Branche schon
dadurch erzielt wird, dass wir die Steuerreform zustande
gebracht haben. Denn sie führt zu einer ersten großen Entlastung. Wir werden aber gemeinsam weitere AnstrenRosel Neuhäuser
gungen unternehmen müssen, um die wirtschaftliche Situation dieser Branche zu verbessern. Auf eine Reihe von
Punkten wollte ich in diesem Zusammenhang noch zu
sprechen kommen. Da Sie schon zu Beginn meiner Rede
eine Zwischenfrage gestellt haben, haben Sie manche
Dinge vorweggenommen.
Ich habe meine Rede mit dem Hinweis auf diese positiven Zahlen nicht begonnen, um alles zu kalmieren bzw.
zu sagen, es sei alles in Butter. Wir arbeiten intensiv an der
Lösung der bestehenden Probleme.
Übrigens muss ich feststellen: Der Tourismusausschuss ist ein sehr lebendiger Ausschuss. Dort wird sehr
vital und meist an der Sache orientiert gestritten. Was ich
heute im Ausschuss ein bisschen schade fand, ist die
Zeichnung, Herr Brähmig - ich weiß nicht, ob Sie sie selber gezeichnet haben -, die ein Störtebeker-Schiff und ein
SOS-Signal darstellt.
({0})
Man kann auch Antiwerbung für Deutschland machen; da
teile ich die Auffassung von Herrn Burgbacher. Ich finde,
das ist nicht gut.
({1})
Sie haben ja bereits Ihre Erfahrungen mit Plakaten gemacht. Wenn Sie diese Zeichnung den Hamburgern anbieten, die in diesem Jahr an die 600 Jahre zurückliegende
Hinrichtung Störtebekers erinnern, dann ist es in Ordnung. Aber ich finde, man muss ein gemeinsames Interesse daran haben, den Standort Deutschland positiv darzustellen.
({2})
- Eben.
Es ist wahr - Ernst Hinsken hat darauf hingewiesen; er
kann jetzt leider nicht mehr anwesend sein -: Wir haben
im Ministerium neun Mitarbeiter mit der Beantwortung
der Frage beschäftigt, wie man den Standort Deutschland
positiv darstellen kann. Das sind erstens mehr als in der
Vergangenheit und zweitens die Besten. Das ist nicht
schlecht; auch das sollte man einmal feststellen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten Herrn
Burgbacher - er ist ein sehr fachkundiger Kollege; er kommt
aus dem Schwarzwald und kennt sich sehr genau aus ({4})
aus der Sackgasse befreien, in die er im Rahmen der
0,5-Promille-Grenze geraten ist. Ich formuliere es jetzt
einmal ökonomisch: Herr Burgbacher, wenn die Gäste die
Heimfahrt nicht überleben, dann sind sie morgen doch
keine Gäste mehr.
({5})
Insofern betrifft dies doch auch die Tourismusbranche.
Herr Burgbacher, verstehen Sie dies bitte nicht falsch. Es
ist auch nicht ganz ernst gemeint. Ich finde, man kann im
Überschwang des Gefechts auch einmal eine Spur verfolgen, die nicht hilfreich ist. Viele Ihrer Beiträge zum Tourismus waren positiv. Außerdem kennen Sie sich in der
Sache aus.
Im Übrigen will ich feststellen: Das, was Frau Irber gesagt hat, nämlich dass wir im Hinblick auf die Möglichkeiten der Beschilderung entlang von Autobahnen einen
gemeinsamen Weg gehen sollten - dies sollte möglichst
noch breiter angelegt sein, also nicht nur auf die Autobahnen begrenzt -, hat Herr Burgbacher bzw. die F.D.P. in
einem Antrag gefordert. Daran haben wir ein gemeinsames Interesse. Ich glaube, dass wir in diesem Punkt, auch
international gesehen, rückständig sind und noch einiges
tun können. Das sollten wir gemeinsam angehen. Ich jedenfalls biete das ausdrücklich an.
({6})
Wir haben uns direkt im Anschluss an das EXPO-Jahr
das Tourismusjahr auf die Fahnen geschrieben. Wir waren
uns einig, dass es sinnvoll ist, noch einmal besondere
Marketinganstrengungen im Hinblick auf den Tourismus
zu unternehmen.
Herr Staatssekretär,
von Herrn Dr. Seifert wird noch eine Zwischenfrage gewünscht.
Gerne.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Staatssekretär, Sie sprachen gerade von großen Erfolgen, aber auch davon, dass
wir, international gesehen, noch einiges aufzuholen haben. Was will die Bundesregierung tun, damit wir zum
Beispiel im barrierefreien Tourismus, also im Tourismus
für Menschen mit den verschiedensten Behinderungen,
ein bisschen vorankommen? Momentan sieht es ja so aus,
dass man zum Beispiel als Rollstuhlfahrer kaum irgendwo
hinfahren kann, weil man in kein Hotel hineinkommt. Es
werden höchstens ein oder zwei entsprechende Zimmer
angeboten; aber dann ist Feierabend. Es ist sehr schwierig
zu verreisen. Für die Regierung wäre es doch ein sehr lohnendes Ziel, in diesem Bereich etwas zu tun, was dann
übrigens einer ganzen Region zugute käme.
Herr Kollege, es
ist völlig klar: Gerade bei hoch entwickelten Volkswirtschaften und bei hoch entwickelten Standorten werden
auf die gezielten Kundengruppen gerichtete spezielle Angebote immer wichtiger. Sonst steht man im Wettbewerb
mit ganz anderen Regionen, die hierauf vielleicht einen
besonderen Akzent legen. Ich meine, wir haben dazu auch
schon gezielte Initiativen ergriffen.
({0})
- Ja, im Antrag steht es. Wir haben aber auch schon vorher konkrete Initiativen angestoßen.
Wenn Sie das genau wissen wollen, werde ich Ihnen
dazu - weil ich jetzt gerne fortfahren möchte - gerne
schriftlich antworten. Es ist völlig klar, dass wir auf diesem Sektor gemeinsam Anstrengungen unternehmen
müssen
({1})
- nein, aber Sie wissen, was ich meine -, um ein besonderes Angebot zu machen, damit auch für diese Menschen
der Urlaub zum Vergnügen wird. Das ist ja nicht möglich,
wenn man nicht besondere Bedingungen schafft.
Meine Damen und Herren, weil es unser gemeinsames Anliegen ist, den Tourismus voranzubringen, will
ich noch einmal auf das Jahr des Tourismus zu sprechen kommen. Wir alle haben dies unterstützt und auch
die Bundesregierung hat Anstrengungen unternommen,
auf diesem Sektor in besonderer Weise voranzukommen.
Wir haben natürlich auch Partner gesucht, die mithelfen.
Sie wissen das ja auch, Herr Brähmig. Wir haben die
Bundesbahn gewinnen können, die sich bereit erklärt
hat, sich mit 1 Million DM an dieser Aktion zu beteiligen. Wir haben die Rundfunk- und Fernsehanstalten gewinnen können, sich daran zu beteiligen. Gleichzeitig
haben wir die Lufthansa gewonnen, spezielle Angebote
zu machen.
({2})
Wir haben in unserem Haushalt selber 1 Million DM zusätzliche Mittel mobilisiert, um im Jahr des Tourismus vor
allen Dingen hinsichtlich der Werbung Anstrengungen zu
unternehmen. Das heißt, wir sind doch gemeinsam
bemüht, alles zu tun, um das Jahr des Tourismus ins Bewusstsein zu rücken.
Ich will es noch einmal ausdrücklich sagen: Die Deutschen geben heute für Reisen ins Ausland über 90 Milliarden DM aus.
({3})
- Ja. Sie geben also über 90 Milliarden DM aus.
({4})
- Das ist doch klar. Ich sage bloß: Einmal weniger Mallorca
und dafür ein Aufenthalt bei uns, am Schwäbischen Meer,
am Bodensee, im Schwarzwald oder in der Sächsischen
Schweiz, wo es besonders schön ist.
({5})
- Oder in Heidelberg; das ist ganz wichtig.
({6})
- Oder in Bayern. Einmal weniger Mallorca und sich einmal zu Hause umschauen.
({7})
- Ja, natürlich, Wilhelmshaven.
Die Nordsee vergessen Sie immer, Herr Kollege. Das ist unglaublich.
({0})
Das wäre doch
etwas. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam Anstrengungen
unternehmen, damit wir im Jahr des Tourismus vorankommen.
Ich will nur sagen: Wir haben im Campingplatzwettbewerb 2000, bei den Radfernwegen, bei den Nationalparks, bei der Umweltdachmarke, beim Qualitätsmanagement wichtige Fortschritte erzielt.
Ich muss, gerade was das Qualitätsmanagement angeht, sagen: Dass wir in Ostbayern begonnen haben, hat
natürlich auch etwas damit zu tun, dass dort die wichtigen
Akteure Bruni Irber und Ernst Hinsken wohnen. Aber es
hat auch etwas mit der schönen Gegend zu tun. Ich finde,
wenn man schon einen solchen Anstoß gibt, dann kann
man das doch positiv hervorheben und muss es nicht bekritteln. Dann kann man doch gemeinsam sagen: Die
Frage des Qualitätsmanagements ist eine wichtige Frage.
Man kann es möglicherweise mit den Erfahrungen verknüpfen, die man mit dem Qualitätssiegel in der Sächsischen Schweiz gemacht hat. Wir sollten es gemeinsam positiv versuchen und nicht immer gleich das Negative
sehen.
Gemeinsam können wir eine Menge bewegen. Das
müssen wir in der Tourismusbranche auch tun. Sie ist eine
der wichtigsten Wachstumsbranchen der Zukunft. Für die
Bundesrepublik ist es besonders wichtig, dass wir dieser
Wachstumsbranche helfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Jetzt erteile ich für die
CDU/CSU der Kollegin Edeltraut Töpfer das Wort.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der
Tourismus ist weltweit die Zukunftsbranche Nummer
eins. Die Tourismusbranche gilt auch in Deutschland, wie
wir bereits von allen Vorrednern gehört haben, als Hoffnungsträger bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und
hat eine große gesamtwirtschaftliche Bedeutung. Sie sichert in Deutschland direkt und indirekt 2,8 Millionen Arbeits- und über 90 000 Ausbildungsplätze. Die Tourismuswirtschaft erwirtschaftet mit einem Jahresumsatz von
275 Milliarden DM 8 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Die Rolle des Tourismus lässt sich am Beispiel Berlins
gut verdeutlichen. Der touristische Höhenflug hielt auch
im Jahr 2000 ungebremst an. Zum ersten Mal wurden
über 11 Millionen Übernachtungen in den Berliner Hotels
registriert. Das ist ein Plus von über 21 Prozent gegenüber
dem Vorjahr.
({0})
Rund 5 Millionen Gäste besuchten die Stadt, davon ein
Viertel aus dem Ausland. Besonders bei Gästen aus den
USA ist Berlin beliebter denn je. Hier wird sich positiv
auswirken, dass Berlin endlich wieder eine direkte Flugverbindung in die USA bekommt. Berlin ist damit ein Beispiel für steigende touristische Wachstumsraten. Die Tourismuswirtschaft als besonders personalintensive Branche
ist ein bedeutender Hoffnungsträger bei der Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Arbeitsplätze lässt
sich im Bereich Urlaub, Freizeit und Reisen in Deutschland noch enorm steigern. Für die gesamte Europäische
Union hat eine Expertenkommission für den Zeitraum bis
2010 ein Potenzial von 3,3 Millionen neuen Arbeitsplätzen im Tourismus festgestellt. Bisher wirkt sich aber die
positive Entwicklung der Gäste- und Übernachtungszahlen im Deutschlandtourismus leider nicht auf den Arbeitsmarkt aus. Darauf sind Sie leider nicht eingegangen.
({1})
Die Zahl der Beschäftigten im Gastgewerbe als dem
wichtigsten Leistungsträger der deutschen Tourismuswirtschaft ist von Januar bis Oktober 2000 im Vergleich
zum Vorjahreszeitraum um 2,7 Prozent zurückgegangen.
Auch der Umsatzentwicklung im Gastgewerbe nutzten
die Gäste- und Übernachtungszuwächse kaum. 1999 sank
der Umsatz um 1,4 Prozent, während er von Januar bis
Oktober 2000 lediglich um 1,1 Prozent stieg. Gerade im
Gaststättenbereich ging der Umsatz von Januar bis Oktober 2000 um 1,8 Prozent zurück. Hier scheint der Arbeitskräftemangel, der vor allem auf die Neuregelung
der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zurückzuführen ist, am deutlichsten sichtbar zu werden. Seit dem
In-Kraft-Treten dieser Neuregelung im April 1999 sind
laut Angaben des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes 100 000 nebenberuflich Beschäftigte als Arbeitskräfte verloren gegangen.
({2})
Dies hat gravierende Einschnitte im Servicebereich und
beim Leistungsangebot zur Folge,
({3})
und dies, obwohl wir gerade in Deutschland im Dienstleistungsbereich einen enormen Nachholbedarf gegenüber
dem Ausland haben.
({4})
Auf der anderen Seite gibt es im Gastgewerbe zurzeit
80 000 freie Stellen. Darum fordern wir die Rücknahme
des Gesetzes zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, da insbesondere das Gastgewerbe
({5})
- liebe Frau Irber, man kann das gar nicht oft genug erwähnen - durch einen massiven Rückgang der 630-DMJobs sowie einen erheblichen bürokratischen Mehraufwand dauerhaft schwer belastet wird.
({6})
Eine weitere schwere Belastung der Wettbewerbsfähigkeit stellt die Ökosteuer dar.
({7})
Ihre ersten drei Stufen haben zu einer erheblichen nachhaltigen Mehrbelastung und Benachteiligung der deutschen
Tourismuswirtschaft im internationalen Wettbewerb geführt. Ihre ökologische Lenkungswirkung ist verfehlt, und
die derzeit etwas niedrigeren Rohölpreise dämpfen die negativen Folgen nur kurzfristig.
({8})
Die Belastungen der Tourismuswirtschaft hat die SPDgeführte Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große
Anfrage der CDU/CSU-Fraktion „Auswirkungen der
Ökosteuer und der hohen Kraftstoffsteuer auf den
Deutschlandtourismus“ bereits selbst festgestellt. Nach
Einschätzung der Regierung sind demnach vor allem drei
Bereiche betroffen, erstens das Gastgewerbe, zweitens
das Schaustellergewerbe und drittens die Deutsche Bahn.
Darüber hinaus legt auch die Bustouristik, die ein
wichtiges Rückgrat der touristischen Infrastruktur in
Deutschland darstellt, alarmierende Zahlen vor. Dort
schlugen im letzten Jahr die höheren Kraftstoffkosten pro
Bus durchschnittlich mit 10 500 DM zu Buche, davon allein über 2 500 DM durch die Ökosteuer. Fast alle anderen EU-Staaten gewähren Steuerbefreiungen bzw. Steuererleichterungen, um den Bustourismus attraktiver zu
gestalten. In Deutschland dagegen wird ausgerechnet der
ökologisch besonders vorbildliche Reisebus genauso besteuert wie der PKW und unterliegt nicht etwa wie die
Bahn einem ermäßigten Steuersatz.
({9})
Wo bleibt da die Rücknahme der Ökosteuer, die in Wahrheit keine Ökosteuer, sondern eine Haushaltsausgleichssteuer ist?
({10})
Die Bundesregierung hat sich zwar den von der
CDU/CSU im Tourismusausschuss unterbreiteten Vorschlag zu Eigen gemacht und das Jahr 2001 zum „Jahr des
Tourismus in Deutschland“ erklärt; schöne Worte allein
aber genügen nicht. Wo bleiben konkrete Pläne und Konzepte? Jetzt müssen endlich Strategien entwickelt werden,
die den Tourismusstandort Deutschland weiter stärken.
Werbemaßnahmen sind zwar zu begrüßen, reichen aber
nicht aus. Eine solide Finanzierung muss her.
Insgesamt ist in aller Deutlichkeit festzustellen, dass
Maßnahmen, die der deutschen Tourismusbranche effektiv helfen würden, bisher ausgeblieben sind. Die Bundesregierung muss sich die Frage gefallen lassen: Warum
sind die Zuwendungen an die Deutsche Zentrale für
Tourismus nicht deutlich erhöht worden,
({11})
um eine effizientere Vermarktung des Tourismusstandortes Deutschland im In- und Ausland zu ermöglichen und
die Grundlage dafür zu schaffen, Deutschland auf wichtigen Auslandsmärkten besser darzustellen und Lust auf einen Besuch unseres Landes zu wecken?
Um insbesondere eine Erhöhung der Zahl der osteuropäischen Touristen zu erreichen, muss endlich auch im
Hinblick auf die EU-Erweiterung nach Osten das Drehkreuz nach Osteuropa, der Großflughafen Berlin Brandenburg International in Berlin-Schönefeld, ohne weitere Verzögerungen ausgebaut werden. Ich fordere daher
die Bundesregierung auf, dieses Projekt in jeder Hinsicht
zu fördern.
Frau Kollegin, Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Meine Damen und
Herren, ich komme zum Schluss. Ich frage Sie: Aus welchen Gründen hat der Umzug der Deutschen Zentrale für
Tourismus, DZT, nach Berlin noch nicht stattgefunden?
({0})
Viele wichtige Verbände der Wirtschaft haben die Bedeutung Berlins längst erkannt und ihren Sitz nach Berlin verlegt. Sollte der Umzug der DZT aus finanziellen Gründen
noch nicht geschehen sein, muss die Bundesregierung
dafür Mittel zur Verfügung stellen. Die DZT muss, um
leistungsstärker tätig werden zu können, direkt in der
Hauptstadt präsent sein,
({1})
nachdem Politik und Wirtschaft inzwischen hier ihr Domizil gefunden haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren -
Frau Kollegin, ich
bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Wir haben 2001, das
Jahr des Tourismus. Lassen Sie uns alles daransetzen, die
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Tourismus gemeinsam zu stärken. Tourismuspolitik ist Mittelstandspolitik
und Mittelstandspolitik ist Beschäftigungspolitik.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt erteile ich der
Kollegin Birgit Roth von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der
CDU/CSU-Fraktion ist mit den Worten betitelt: Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Tourismuswirtschaft stärken. Ich möchte Ihnen in den nächsten Minuten anhand
von Fakten belegen, dass genau das in den letzten zwei
Jahren unsere Politik gewesen ist und natürlich auch weiterhin sein wird.
({0})
Um erst gar nicht in den Geruch zu kommen, ein Tendenzgutachten oder eine Tendenzumfrage zu verwenden,
möchte ich mich im Folgenden auf die Zahlen der DIHTSaisonumfrage Tourismus beziehen. Ihnen, Herr
Burgbacher, muss ich zunächst einmal sagen, dass Sie nur
die Hälfte zitiert haben, denn der Satz heißt
Gastgewerbe gespalten: Gastronomie im Minus,
- worauf Sie sich ja bezogen haben - und geht dann weiter mit:
Beherbergungsgewerbe im Plus.
({1})
Ich möchte einige Zahlen aus der Umfrage herausgreifen. Sie werden feststellen, dass 43 Prozent der Befragten
die Geschäftslage momentan als befriedigend beurteilen,
und - das finde ich ganz erheblich, meine sehr verehrten
Damen und Herren von der Opposition - 40 Prozent der
Befragten beurteilen die Geschäftslage als gut.
({2})
Mit anderen Worten: Das sind knapp über 80 Prozent.
Und da wollen Sie sagen, dass die Wettbewerbsfähigkeit
im Tourismusgewerbe nicht gegeben sei?
({3})
Es tut mir Leid, da kann ich Ihnen nicht ganz folgen.
Ein nächstes Beispiel sind die Umsatzzahlen. Ich fand
es sehr beeindruckend, dass Sie vorhin auf den Umsatz
eingegangen sind. 34 Prozent der Befragten sagen, der
Umsatz sei gleich geblieben, und 44 Prozent - man höre
und staune - sagen sogar, der Umsatz sei gestiegen.
({4})
Herr Hinsken hat vorhin gesagt, es gebe Existenzängste. Auch hier sind es wieder 80 Prozent der Befragten, die
positive Zahlen, aber vor allem auch positive Erwartungen und entsprechende Umsätze haben.
({5})
Übrigens haben Sie in der vorigen Debatte die Staatssekretärin Barbara Hendricks hier herzitiert, weil sie kurz
draußen gewesen ist. Mit Verlaub, meine sehr verehrten
Damen und Herren von der Opposition: Herr Hinsken war
Ihr erster Redner, und ich möchte auf ein paar Punkte seiner Ausführungen eingehen, aber er ist einfach gegangen.
Ich muss sagen, das finde ich auch nicht in Ordnung.
({6})
Noch einige weitere Fakten. Es gab - Herr Staatssekretär Mosdorf hat es ja bereits erwähnt - am Dienstag in
Frankfurt eine Pressekonferenz von Frau Schörcher, der
Leiterin der DZT, der Deutschen Zentrale für Tourismuswirtschaft. Sie hat ganz klar gesagt: Von Januar bis November wurden 37,2 Millionen Übernachtungen ausländischer Gäste gezählt. Das ist ein Plus von 10 Prozent.
Wenn Sie sich die Übernachtungszahlen für die inländischen Gäste anschauen, dann werden Sie sehen: Hier haben wir eine Steigerungsrate von 5,3 Prozent. Da muss ich
Sie wieder fragen: Wie kann es denn sein, dass dann angeblich die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, sprich die Wettbewerbsfähigkeit, nicht gut
sind? - Das Gegenteil ist der Fall.
({7})
Nehmen Sie den Städtetourismus! Frau Töpfer hat
es ja bereits angesprochen. Sie haben auch beim Städtetourismus für Berlin Zuwachsraten in zweistelliger
Höhe. Wir gehen für dieses Jahr davon aus, dass wir
21,2 Prozent Zugewinn in Berlin haben werden. Natürlich ist Berlin eine Ausnahmestadt, es ist die Hauptstadt
- überhaupt keine Frage. Aber nehmen Sie eines der
Bundesländer. Auf Platz eins steht Mecklenburg-Vorpommern. Auch hier haben wir Zuwächse von 17 Prozent. Meine sehr verehrten Damen und Herren, da stimmen die Wettbe-werbsfähigkeit und die Politik bei uns in
Deutschland.
({8})
Wenn Sie einfach nur einmal einige der Zahlen, die ich
Ihnen genannt habe, reflektieren, dann ergibt sich, dass
diese Entwicklung auch das Ergebnis einer rot-grünen Reformpolitik ist.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Feibel? - Bitte
sehr, Herr Kollege Feibel.
Frau Kollegin Roth,
könnte es sein, dass die Preissteigerungen, die auch in der
Tourismusbranche nicht zu verhindern waren, bedingt
durch höhere Öl- und Treibstoffkosten,
({0})
durch höhere Energiekosten, durch die steuerliche Zusatzbelastung, durch alle diese Faktoren, automatisch zu
höheren Preisen - das ist auch hier in Berlin sehr gut nachzuvollziehen, in der Hotellerie beispielsweise - und damit
automatisch zu einem höheren Umsatz geführt haben, dieser höhere Umsatz aber nicht zu einer höheren Rendite
und einer besseren Kapitalausstattung der Unternehmen
geführt hat? Ist das denkbar?
({1})
Ich danke Ihnen für die
Frage, Herr Feibel.
Nein, das ist nicht denkbar,
({0})
denn bedenken Sie doch nur die Steuerreform.
({1})
Die Steuerreform entlastet auf der einen Seite Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sie entlastet Familien,
und sie entlastet gleichzeitig Unternehmen, und zwar in
einer Höhe von 75 Milliarden DM. Das müssen Sie einfach einmal reflektieren. Vorhin sind ja auch die AfA-Tabellen angesprochen worden. Wir hatten hier gerade die
Diskussion über die angebliche Belastung. Da kann ich
Ihnen nur sagen: Bei den AfA-Tabellen geht es um eine
Belastung von 3,5 Milliarden DM, und Sie müssen diese
beiden Werte auch einmal gegenüberstellen. Ein Entlastungsvolumen von 75 Milliarden DM steht einer Belastung von 3,5 Milliarden DM gegenüber. Da muss ich Ihnen ganz einfach sagen: Nein, denn das Entlastungsvolumen ist massiv größer.
({2})
Oder nehmen Sie die von Ihnen vorhin zitierte Ökosteuer. Hier sehen Sie es ganz klar. Sie nennen ja immer
nur den einen Teil, nämlich die Belastung. Aber es hat
noch niemand von Ihnen hier erwähnt, dass auf der anderen Seite die Lohnnebenkosten im Bereich der Rente reduziert worden sind.
({3})
Wir machen eine aktive Wirtschafts- und Finanzpolitik. Denken Sie nur allein an die Staatsverschuldung:
Die wird gerade massiv reduziert. Ferner gehen wir auch
Birgit Roth ({4})
dieses Jahr wieder von einem Wirtschaftswachstum von
ungefähr 2,7 Prozent aus.
({5})
Ganz nebenbei bemerkt: Auch die Arbeitslosigkeit
baut sich langsam, aber sicher ab. Das ist selbstverständlich auch ein Ergebnis der demographischen Entwicklung, aber Sie müssen ebenso sehen, dass hier in diesem
Lande in den letzten zwei Jahren ungefähr 250 000 neue,
moderne und - das ist ganz besonders wichtig, Herr
Feibel; vielleicht hören Sie mir bitte zu - vor allem eben
auch sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstanden sind. Das wurde bereits vorhin in der Debatte um die
630-Mark-Jobs angesprochen.
({6})
Ich kann auch hier Ihre Argumentation nicht nachvollziehen, weil ich im Tourismusbereich keine 630-MarkJobs haben möchte; denn das, was unter anderem auch in
Ihrem eigenen Antrag steht, betrifft ja eine Qualitätsoffensive. Wir brauchen Fachservicekräfte, und diese arbeiten in erster Linie auf ganz normalen Arbeitsplätzen und
nicht in 630-Mark-Jobs.
({7})
Mit dem Antrag zum Tourismusförderprogramm gehen wir den eingeschlagenen Weg konsequent weiter.
({8})
Ich möchte mich an dieser Stelle nochmals bei Frau
Brunhilde Irber für ihr großes Engagement für diesen Antrag bedanken. Darin finden Sie in erster Linie, dass wir
uns für eine Dachmarke im Tourismus und für weitere
Kompetenzzentren in diesem Bereich stark machen. Es
gibt mittlerweile 24 E-Commerce-Bildungszentren, eines
davon im Tourismusbereich, und zwar in Worms.
Vorhin haben Sie gesagt, dass Herr Minister Müller angeblich nur ankündigen würde.
({9})
Mit Verlaub: Es sind 24 neue Kompetenzzentren entstanden, insbesondere aufgrund des Engagements von Minister Müller.
({10})
Ihnen muss ich erst recht vorhalten, dass die Mittel für die
DZT jetzt zum ersten Mal wieder erhöht wurden. Wenn
Sie sich die letzte Finanzplanung Ihrer Regierungszeit ansehen würden, würden Sie sehen, dass Sie selbst die Mittel für die DZT von ungefähr 40 Millionen DM auf
27 Millionen DM gekürzt hätten. Nur durch den Einsatz
von Minister Müller konnten die Mittel sogar noch auf
42 Millionen DM erhöht werden.
({11})
Sie kritisieren den angeblich mangelnden Abbau von
Bürokratie. Wer von uns beiden hat denn wirklich Rabattgesetz und Zugabeverordnung abgeschafft bzw. ist
dabei, sie abzuschaffen? Sie wissen ganz genau, dass die
Zugabeverordnung sehr alt, nämlich aus dem Jahre 1933
ist. Deutsche Anbieter im Internet sind beispielsweise
sehr negativ davon betroffen,
({12})
weil alle anderen Anbieter höhere Rabatte geben können.
Dann sagen Sie: Wir können das Rabattgesetz wegen
des Mittelstandes nicht abschaffen. Ich bitte Sie! Ich habe
durch Zufall etwas dabei, nämlich ein tolles Beispiel für
eine Rabattkarte, und zwar für den Mittelstand, die ich
heute in der Post hatte.
({13})
- Das ist richtig, momentan ist es noch unerlaubt. Aber
wir sind dabei, Rabattgesetz und Zugabeverordnung abzuschaffen. Hier haben sich ungefähr 150 mittelständische, kleine Betriebe zusammengeschlossen. Sie müssen
mir jetzt einmal erklären, weshalb sich die Abschaffung
des Rabattgesetzes nicht positiv auf den Mittelstand auswirkt.
({14})
Eines muss ich noch zur Kritik von Herrn Hinsken an
der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes sagen. Mit
Verlaub, meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Opposition, das Betriebsverfassungsgesetz ist aus dem
Jahre 1972. Sie kennen ganz genau die wirtschaftliche
Dynamik. Ich glaube, es ist unser aller Pflicht, auch die
Ihre, auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu
unterstützen,
({15})
dass wir es schaffen, auch sie an dem Modernisierungsprozess teilhaben zu lassen.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ja. - Niemand hat ein
größeres Interesse an dem Wohlergehen der Betriebe als
die eigenen Betriebsräte. In diesem Sinne bitte ich Sie um
Zustimmung zu unserem Antrag.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/5315, 14/5313, 14/4153 und
14/4635 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Dann ist das so beschlossen.
Birgit Roth ({0})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Schnieber-Jastram, Karl-Josef Laumann, Brigitte
Baumeister, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Beschäftigung älterer Arbeitnehmer durch
Qualifizierung sichern - drohendem Arbeitskräftemangel vorbeugen
- Drucksache 14/5139 Überweisungsvorschlag
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat die Kollegin Birgit SchnieberJastram.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen
jetzt zu einem Thema, bei dem man nicht in der Weise
schönmalen kann, wie wir das eben erlebt haben, nämlich
zur Arbeitslosigkeit älterer Menschen, die in diesem
Land - ich glaube, das wissen wir alle - erschreckend
hoch ist. Ich bin sicher, dass wir quer durch die Parteien
Abhilfe schaffen wollen.
Das Problem betrifft rund 800 000 Menschen. Ich rede
von denjenigen, die älter als 55 Jahre alt sind. Im Übrigen
ist das heute kein Alter mehr. Viele fühlen sich in diesem
zünftigen Alter noch sehr jung.
({0})
- Bei dieser Aussage hätte auch der eine oder andere von
der SPD klatschen können.
({1})
- Danke schön.
({2})
Wir reden über Menschen, die, bevor sie ihren Arbeitsplatz verloren haben, jahrzehntelang fleißig einem Beruf
nachgegangen sind und Steuern und Sozialabgaben gezahlt haben. Plötzlich gehören sie zum alten Eisen, zu den
Verlierern. Diese Zahl stellt nur die Spitze des Eisbergs
dar. Jeder kann heutzutage im Arbeitsamt miterleben, wie
es einem 45-jährigen Erwerbslosen geht. Ihm wird direkt
gesagt: Vielen Dank für Ihren Besuch, aber Sie sind zu alt,
Sie haben keine Chancen mehr.
Wenn man sich den europäischen Vergleich anschaut,
stellt man fest, dass Deutschland bei den über 50-Jährigen
mit einer Erwerbstätigenquote von 39 Prozent 10 Prozentpunkte unter dem europäischen Durchschnitt liegt.
Dies ist für uns kein Ruhmeszeichen.
Das Kuriose ist, dass diese Entwicklung vor dem Hintergrund von Prognosen abläuft, die ab 2005 vor einem
Mangel an qualifizierten Arbeitsplätzen warnen. Sechs
von zehn Arbeitnehmen werden dann älter als 40 Jahre alt
sein, ein Viertel sogar älter als 50 Jahre. Für 2030 wird
prognostiziert, dass jeder zweite Deutsche älter als
50 Jahre alt sein wird. Das sind in jeder Hinsicht Alarmzeichen. Der Mangel an Fachkräften ist vorprogrammiert.
Wenn wir nicht bereits heute die Weichen stellen, ältere
Erwerbstätige im Beruf zu halten und weiter zu qualifizieren, dann wird es ein böses Erwachen geben.
({3})
Welchen Schaden der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften für die Volkswirtschaft bedeutet, ist absehbar. Hier
besteht für Politik und Wirtschaft akuter Handlungsbedarf. Das wissen wir alle miteinander.
Die Phrase vom lebenslangen Lernen müssen wir
endlich mit Inhalten füllen, damit auch in Zukunft erstklassige Fachkräfte aller Altersstufen in unseren Betrieben arbeiten. Jenseits aller ökonomischen Gesichtspunkte müssen wir wissen: Menschen sind keine
Maschinen, die nach abgelaufener Abschreibungsfrist
geleisteter Arbeit in Rente und Erwerbslosigkeit entsorgt
werden können, wenn neue Modelle am Markt auftauchen. Vergessen wir nicht, dass menschliche Arbeit eben
nicht nur materielle Versorgung bedeutet, sondern auch
etwas mit Würde, Selbstbewusstsein und sozialer Teilhabe zu tun hat.
({4})
Wir reden über ein ernstes Thema, das nicht nur hunderttausende Einzelschicksale betrifft, sondern in einigen
Jahren unsere Volkswirtschaft nachhaltig beeinflussen
wird. Deshalb möchte ich den nachfolgenden Rednern
- Herrn Ostertag und Frau Dr. Dückert - einen Vorschlag
zur Dramaturgie der Debatte machen. Streiten wir nicht
über Prozentpunkte und Zahlen, sondern denken wir gemeinsam über vernünftige und pragmatische Lösungen
nach, wie wir den älteren Erwerbslosen eine neue Chance
auf ein Beschäftigungsverhältnis eröffnen können.
({5})
Ich gestehe Ihnen gerne zu - damit habe ich keine Probleme -, dass die Zahlen des Arbeitsmarktes besser geworden sind. Ich will nur in einem Nebensatz anmerken
- weil das immer schöngeredet wird -, dass dies zu einem Gutteil der Frühverrentung, der Altersteilzeit und
dem erleichterten Bezug von Arbeitslosengeld für ältere
Menschen zuzuschreiben ist. Wir wissen alle miteinander, dass allein 100 000 Menschen die vorruhestandsähnliche Regelung gemäß § 428 SGB III, also Arbeitslosengeld unter erleichterten Voraussetzungen, in
Anspruch nehmen.
Damit Sie sich von der Regierungskoalition, insbesondere von der SPD, im Folgenden konzentrierter mit unserem Antrag beschäftigen, will ich gern auch das berühmte
Programm „50 Plus“ erwähnen. Dies ist ein Programm
der Bundesregierung, das vielleicht ein gut gemeinter
Schritt ist; aber die Substanz der dort vorgeschlagenen
Maßnahmen ist nicht nur meiner Meinung nach sehr
Vizepräsidentin Anke Fuchs
mager. Ich will Ihnen aber die Peinlichkeit ersparen, dieses Programm, das eher Absichtserklärungen beinhaltet,
zu diskutieren.
({6})
Ich möchte vielmehr die Mehrheit der Abgeordneten
des Hauses davon überzeugen, dem von der CDU/CSU
eingebrachten Antrag zuzustimmen. Ich glaube, es ist
auch Sinn einer Debatte im Parlament, sich von guten
Vorschlägen überzeugen zu lassen. Dass ein solches Vorgehen kein sinnloses Unterfangen ist, zeigt die Absicht
der Regierungskoalition, jetzt ein „Job-Rotation“-Programm aufzulegen.
({7})
Ich habe mich sehr darüber gefreut, als Herr Thönnes hier
vor einer Woche diese Absicht verkündet hat. Offensichtlich ist es sogar ihm aufgefallen, dass Ihre Regierung bei
diesem Programm nicht in die Puschen gekommen ist.
({8})
Ich halte dieses Modell für einen sehr guten Weg, einerseits älteren Arbeitslosen die Möglichkeit zur Qualifizierung im Beruf zu bieten und andererseits älteren Arbeitnehmern eine Chance zu einer weiteren Qualifizierung im
Beruf zu eröffnen. Wie gesagt: Ich war über die Absicht
der Regierungskoalition, dieses Modell in Deutschland zu
praktizieren, hoch erfreut.
Etwas verwundert war ich allerdings, als ich vor einer
Woche Herrn Thönnes hörte, der sagte: Wir werden einen
Antrag in den Deutschen Bundestag einbringen, mit dem
wir die „Job-Rotation“ fördern wollen. Ein solcher Antrag
liegt tatsächlich druckfrisch vor. Dieses Vorhaben geschieht jedoch ziemlich genau ein Jahr, nachdem
CDU/CSU das Gleiche in einem ausführlichen Antrag gefordert haben.
({9})
Dieser Antrag mit der Drucksachennummer 14/2909
schmort seitdem im Ausschuss. Sie waren und sind herzlich eingeladen, diesen Antrag gemeinsam mit der
CDU/CSU-Fraktion schnellstmöglich vom Bundestag
verabschieden zu lassen.
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, Sie hätten sich viel Energie für dringlichere
Aufgaben sparen können, etwa für die Ausarbeitung einer
durchdachteren Rentenreform oder eines durchdachteren
Betriebsverfassungsgesetzes. Aber von all dem abgesehen: Es sieht doch nicht gut aus, wenn die Regierungsparteien Anträge der Opposition zuerst ignorieren und
dann plagiieren. Wir bitten höflichst um die Beachtung
des Urheberrechtes.
({11})
- Seit zwei Jahren ist Ihre Partei an der Regierung, Frau
Lotz, und auf diesem Feld haben Sie nichts getan.
({12})
Alles, um was wir höflichst bitten, ist die Einhaltung
des Urheberrechtes. Es waren CDU und CSU, die als erste
Partei die Idee einer „Job-Rotation“ in den Deutschen
Bundestag eingebracht haben. Basta!
({13})
- Das ist doch keine Frage. Wir wissen, dass das Modell
praktiziert wird. Aber wir waren die Ersten, die es im
Deutschen Bundestag eingebracht haben, und freuen uns,
wenn Sie es jetzt machen wollen.
Davon abgesehen: Befürworten Sie doch einfach den
heute zur Debatte stehenden Antrag, denn er fordert als
ersten Punkt die Einführung einer „Job-Rotation“. Stimmen Sie einfach zu, denn es ist wirklich der schnellste
Weg, um die Sache zum Laufen zu bringen. Außerdem legen wir in unserem Antrag neun weitere vernünftige Initiativen vor. Ich nenne als Beispiel die Förderung von Weiterbildungsverbünden. Warum sollen sich Unternehmen
nicht zusammenschließen, um im Verbund Weiterbildung
anzubieten? Fördern Sie das und ermöglichen Sie eine Unterstützung durch die Bundesanstalt für Arbeit. Was spricht
gegen die Möglichkeit, den gesetzlichen Bildungsurlaub
in Absprache zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber
auch für die betriebliche Fortbildung zu nutzen?
Klar ist, dass wir älteren Arbeitnehmern und Erwerbslosen nur durch die Zusammenarbeit mit den Tarifpartnern wirklich helfen. Einige unserer Vorschläge zielen darauf ab; ich nenne etwa die Einrichtung von lokalen
Netzwerken zur Beratung und gezielten Förderung älterer
Arbeitsloser oder die verstärkte Einbeziehung von Weiterbildungsmaßnahmen in Tarifverträge. Das sind
Maßnahmen, mit denen man die Qualifizierung älterer
Arbeitnehmer wirklich vorantreiben kann.
({14})
Gefordert sind übrigens auch die Unternehmen, die
speziell bei der Umsetzung anspruchsvoller und kontinuierlicher Weiterbildung noch eine Menge aufzuholen haben. Man sollte nicht nur nach weiter reichenden GreenCard-Regelungen rufen, sondern sich auch darum
bemühen, ältere Mitarbeiter, Fachleute, jene über
45 Jahre, nicht nur in die Rente oder auf das Arbeitsamt,
sondern in die betriebseigene Qualifizierung zu schicken.
Ich glaube, dass das ein sehr guter Weg ist, und denke
nicht, dass wir noch sehr viel Zeit haben, den problematischen Entwicklungen länger tatenlos zuzusehen.
Unser Antrag sieht vor, Arbeitgebern, die spezielle
Qualifizierungsmaßnahmen anbieten, und Arbeitnehmern, die solche Maßnahmen wahrnehmen, Abschläge
bei den Beiträgen zur Rentenversicherung und zur
Arbeitslosenversicherung zu gewähren; denn wir glauben, dass man diesen Bereich durch entsprechende Anreize ein Stückchen anschieben muss. Von einem solchen Anschub hätten alle Beteiligten etwas.
({15})
Das war ein Auszug aus den zehn Punkten, deren Umsetzung wir von der Bundesregierung in unserem Antrag
gefordert haben, um die Erwerbschancen und die Qualifizierung älterer Arbeitnehmer zu verbessern. Ich würde
mich freuen, wenn Sie nicht wieder so handeln würden,
wie Sie es im Hinblick auf unser Job-Rotations-Programm getan haben, nämlich die Vorschläge abzulehnen,
nur weil sie von der Opposition stammen, um ein Jahr
später die Richtigkeit unserer Vorschläge einzugestehen
und dann die eigene Regierung aufzufordern, endlich etwas zu tun.
({16})
Ich hoffe, dass Sie dem von uns vorgelegten Antrag im
Sinne der älteren Arbeitslosen zustimmen werden. Ich
freue mich auf die zukünftige Debatte. Ich befürchte allerdings, dass wir im Ausschuss lange über unsere Vorschläge diskutieren werden, bevor wir im Bundestag darüber abschließend beraten können. Ich bitte Sie: Lassen
Sie uns nicht zu viel Zeit verschwenden und lieber schnell
entscheiden! Die Lage auf dem Arbeitsmarkt bedarf dringend einer Verbesserung.
Danke.
({17})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Adolf Ostertag
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Es ist erfreulich, dass sich
die Union endlich mit diesem Thema befasst.
({0})
Man kann nachlesen, dass die Union im Laufe des letzten
Jahres insgesamt vier Initiativen zu diesem unbestritten
wichtigen Thema gestartet hat, nämlich zwei Kleine Anfragen und zwei Anträge. Eine Antwort auf eine der beiden Kleinen Anfragen liegt schon relativ weit zurück.
Aber Konsequenzen sind daraus eigentlich nicht gezogen
worden, vor allen Dingen nicht in dem jetzt vorliegenden
Antrag. Das bedauere ich außerordentlich. Wir haben die
Anträge, die die Union im Verlauf des letzten Jahres gestellt hat, nicht ignoriert. Wir haben politisch gehandelt,
im Gegensatz zu Ihnen: Sie haben in den vielen Jahren, in
denen Sie in der Regierungsverantwortung waren, nicht
gehandelt.
Frau Schnieber-Jastram, Sie haben auch die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angesprochen. Es ist bekannt, dass die Arbeitslosenzahl erheblich zurückgegangen ist.
({1})
Ich glaube, das ist der größte Erfolg, den diese Regierung
neben anderen bei diesem Thema, über das wir heute debattieren, aufzuweisen hat.
({2})
Seit Antritt der rot-grünen Regierung ist die Arbeitslosenzahl kontinuierlich verringert worden. Die Erwerbstätigenzahl - dieser Aspekt ist genauso wichtig - ist um
1 Million gestiegen. Das korrespondiert natürlich mit dem
Rückgang der Arbeitslosigkeit. Eigentlich hätte sich die
gestiegene Zahl der Arbeitsplätze - das ist der wichtigste
Indikator - noch stärker auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar
machen sollen. Trotzdem kann sich die Zahl von 1 Million neuer Arbeitsplätze sehen lassen.
({3})
Sie haben anscheinend nicht gemerkt - das ist ein weiterer wichtiger Indikator -, dass die Zahl der Arbeitslosen
über 55 Jahre im letzten Jahr im Durchschnitt um fast
12 Prozent zurückgegangen ist, stärker als in allen anderen Problembereichen des Arbeitsmarktes. Darauf sind
wir stolz. Das ist letzten Endes das Ergebnis unserer Politik. Das ist ein gutes Zwischenergebnis, das die Opposition auch einmal zur Kenntnis nehmen sollte.
({4})
Ich behaupte nicht, dass wir mit dieser Entwicklung zufrieden sind. Wir wollen - darauf komme ich noch zu
sprechen - noch mehr erreichen. Darauf können Sie sich
verlassen!
Im internationalen Vergleich steht Deutschland nicht
so schlecht da, wie Sie glauben machen wollen. Man
sollte natürlich nicht die Zahlen von 1990 bis 1995 nehmen. Die aktuellen Daten von Eurostat belegen, dass die
Quote der Erwerbstätigen im Bereich der 50- bis unter
65-Jährigen im Jahr 1999 bei 48,2 Prozent lag, also nicht
bei 39 Prozent, die Sie angeführt haben. Damit liegt
Deutschland im Durchschnitt der Europäischen Union.
Mit ihrem beschäftigungspolitischen Aktionsplan wird
die Bundesregierung ihre Anstrengungen natürlich fortsetzen; das ist überhaupt keine Frage. Die Europäische
Kommission hat unsere Arbeit anerkannt und bestätigt,
dass wir auf einem guten Weg sind. Trotzdem müssen die
Beschäftigungsquote und die Beschäftigungschancen der
älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weiter verbessert werden.
In dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion steht, dass man
über die momentane Situation erschrocken sei. Wenn Sie
schon erschrecken, dann doch bitte über die Arbeitsmarktpolitik, die in den letzten 16 Jahren der KohlRegierung betrieben wurde; denn die Millionen von Arbeitslosen sind ja nicht in den letzten zwei Jahren der
rot-grünen Regierung vom Himmel gefallen. Dieses Problem hat sich vielmehr über lange Zeit entwickelt, genauso wie die Probleme der Langzeitarbeitslosigkeit und
der älteren Arbeitslosen. Das ist also ein erschreckendes
Ergebnis Ihrer Politik und nicht dessen, was in den letzten
zwei Jahren gemacht oder nicht gemacht worden ist; das
muss man hier fairerweise auch sagen.
({5})
Wenn Sie zum Beispiel die Antwort auf Ihre Kleine
Anfrage nachgelesen hätten, hätten Sie feststellen können, dass die von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen
von der Bundesregierung längst auf den Weg gebracht
worden
({6})
- ich komme darauf zu sprechen, Frau SchnieberJastram - oder auch im Bündnis für Arbeit in enger Zusammenarbeit mit den Tarifvertragsparteien, also Arbeitgebern und Gewerkschaften, vorbereitet worden und
wirksam geworden sind. Daraus resultiert der Abbau der
Arbeitslosigkeit in dieser Altersgruppe um beinahe
12 Prozent in einem Jahr.
({7})
Nehmen Sie das doch bitte zur Kenntnis!
Ich nutze deswegen die Gelegenheit, Ihnen hier bei einigen Punkten auf die Sprünge zu helfen und ein paar
Wahrnehmungslücken in Bezug auf die Arbeitsmarktpolitik zu schließen. Ich glaube, dass das wichtig ist. Wir haben - Sie haben es vielleicht schon vergessen - im August
1999 mit dem Zweiten Änderungsgesetz zum SGB III
wichtige Akzente im Hinblick auf eine verstärkte Qualifizierung von älteren Arbeitslosen gesetzt. Durch die Senkung der Altersgrenze von 55 auf 50 Jahre können jetzt für
noch mehr ältere und vor allem Langzeitarbeitslose Eingliederungszuschüsse gezahlt werden. Für ältere Arbeitnehmer im Osten haben wir spezielle Strukturanpassungsmaßnahmen eingeführt; auch dies ist positiv zu
Buche geschlagen.
Herr Kollege Ostertag, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Natürlich.
Bitte.
Herr Ostertag,
ich hätte die Frage nicht gestellt, wenn Sie jetzt nicht
zwei-, dreimal wiederholt hätten, dass im Bereich der Älteren die Arbeitslosenquote sehr stark gesunken ist. Wir
haben dieses Thema angesprochen, weil wir darauf hinweisen wollten, dass wir nicht weiter den Weg gehen können, immer mehr Leute in Altersteilzeit zu bringen. Stimmen Sie mir also zu, dass Altersteilzeit eigentlich etwas
anderes - hier geht es darum, Menschen früher aus dem
Arbeitsleben heraus und in die Rente zu bringen - als das
ist, was Absicht unseres Antrags ist, nämlich ältere Arbeitnehmer stärker und länger im Arbeitsleben zu halten
und damit eine Beseitigung des absehbaren Fachkräftemangels zu unterstützen?
Herr Meckelburg, auf das
Thema Altersteilzeit komme ich gleich noch zu sprechen,
weil das einer der Punkte ist, der natürlich auch zu dem
Instrumentenkasten gehört. Sie kommen ja auch aus der
Problemregion Ruhrgebiet, wo wir in den letzten Jahrzehnten viele Erfahrungen mit dem Strukturwandel gemacht haben. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Instrument, das wir ausgebaut haben, weiterhin einen
Stellenwert haben wird. Es ist immer noch ein besseres
Instrument als das, was wir vor zehn Jahren hatten,
({0})
als mit einer ganz breiten Palette von Sozialplänen teilweise sogar 50-, 51-Jährige in den Vorruhestand geschickt
worden sind und dies insbesondere von Sozialkassen finanziert worden ist. Diese Politik der damaligen Regierung wollen wir nicht fortsetzen, sondern wir wollen Älteren behutsam eine Chance geben, im Arbeitsleben zu
bleiben, und zugleich einen gleitenden Ausstieg ermöglichen. Deswegen gehört dies zu den Instrumenten, zu denen wir uns ausdrücklich bekennen.
({1})
- Nein, das reicht nicht. Deswegen werde ich auch gleich
noch auf eine Reihe weiterer Punkte eingehen und nachweisen, wo wir etwas unternommen haben.
Zuletzt habe ich etwas zum Thema Strukturanpassungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Änderung
des SGB III gesagt. Zu dieser Reform des SGB III haben
Sie im Grunde genommen nur erklärt, es sei ein Aufblähen des Sozialhaushalts und eine Bürokratisierung.
Die Zahlen sprechen aber dafür, dass die Reform richtig
war. Die überdurchschnittliche Senkung der Arbeitslosigkeit bei Älteren schlägt sich eben ganz konkret nieder.
Wir werden in den Betrieben auch künftig keine olympiareifen Mannschaften haben, gerade nicht bei den Älteren.
({2})
Wir wollen eine Arbeitswelt, in der jeder, egal, wie alt er
ist, seinen Platz finden kann und Chancen des Wiedereinstiegs hat. Deswegen unterstützen wir hier eine ganze
Reihe von Aktivitäten in der Arbeitszeitpolitik, insbesondere Arbeitszeitmodelle. Gerade im Bündnis für Arbeit
sind einige wichtige Weichenstellungen vorgenommen
worden. Dazu gehört zum Beispiel das Thema Altersteilzeit, weil, meine Damen und Herren von der Union, das
Altersteilzeitgesetz an diesem Punkt ansetzt.
({3})
- Herr Niebel, Sie können sich gerne noch einbringen.
({4})
Ich möchte noch auf eine Zahl hinweisen, die deutlich
macht, wie dieses Gesetz angenommen wird.
({5})
- Ja, Altersteilzeit. - Innerhalb eines Jahres ist die Anzahl
der entsprechenden Tarifverträge von 349 auf 530 gestiegen; das ist eine gute Entwicklung. Dieses Instrument
wird vor allen Dingen in Problembereichen angewandt.
Wir dürfen uns nichts vormachen: Der Strukturwandel in
diesem Land hört nicht auf, weil wir ihn in großen Regionen, in den neuen Ländern oder vielleicht in einigen Branchen hinter uns gebracht haben, sondern er geht weiter.
Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Gesetz zur Altersteilzeit vielen älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geholfen hat. Das gilt übrigens auch - das ist
ganz klar - für die Betriebe.
({6})
Des Weiteren haben wir - auch das ist hier zu erwähnen - auf den Gebieten „Teilzeit“ und „befristete Arbeitsverträge“ einen Fortschritt gemacht. Seit dem 1. Januar
dieses Jahres ermöglicht das Gesetz über Teilzeit und
befristete Arbeitsverträge, Arbeitslose ab dem 58. Lebensjahr ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes in ein
befristetes Arbeitsverhältnis zu übernehmen.
({7})
Mit den Instrumenten „Teilzeit“ und „befristete Arbeitsverträge“ werden wir in den nächsten Monaten und Jahren eine weitere Entspannung gerade dieses Sektors der
Arbeitslosigkeit zustande bringen.
({8})
Ich bin der festen Überzeugung, dass es uns gelingen
wird, diesen Weg fortzusetzen und die Quote erwerbstätiger älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu steigern.
Frau Schnieber-Jastram, Sie haben angesprochen, dass
wir, was Job-Rotation angeht, erst auf Ihre Aktion hin
und daher sehr spät reagiert haben. Wie Sie wissen, planen wir - wir haben ein Vorschaltgesetz verabschiedet eine Reform des SGB III.
({9})
Das Thema Job-Rotation und auch einige andere Punkte
werden - darauf können Sie sich verlassen - im Rahmen
der SGB-III-Reform angepackt werden.
({10})
Auch unsere Regierung hat ein Konzept für ihre Arbeit.
Wir führen kontinuierlich eine Reform nach der anderen
durch und wir werden die SGB-III-Reform in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen.
({11})
Das Thema Job-Rotation wird dabei einen hohen Stellenwert haben.
({12})
Man muss auch fragen, warum Sie zum Thema JobRotation 16 Jahre lang - das ist eine lange Zeit - keinen
Antrag eingebracht haben. Warum wurde nichts unternommen?
Ihr Antrag, in dem zehn Punkte aufgelistet werden, ist
ein Sammelsurium von Forderungen, die entweder fernab
der Wirklichkeit sind - ich komme auf einige noch zu
sprechen - oder die durch Regierungshandeln und durch
das Handeln im Bündnis für Arbeit längst erledigt sind.
({13})
Einige Ihrer Forderungen sind mit uns allerdings nicht
zu machen.
({14})
Sie wollen die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung senken, wenn ältere Arbeitnehmer eingestellt werden. Wir können und
werden dem nicht zustimmen. Ich glaube, dass diese Forderung falsch ist. Wir wollen weder die Rentenversicherung noch die Arbeitslosenversicherung weiter ausbluten
lassen; vielmehr wollen wir sie stärken.
({15})
Wir haben in dieser Legislaturperiode einige Gesetzentwürfe eingebracht und verabschiedet, durch die die gesetzlichen Solidarsysteme gestärkt und nicht geschwächt
werden.
({16})
Ich glaube, Sie wollen die Rentenkasse mutwillig
schwächen und die älteren Menschen zugleich als eine
Art Discountarbeitskraft verramschen.
({17})
Das wollen wir nicht machen. Es wäre gegenüber den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern unredlich,
wenn ihr Arbeitgeber plötzlich keine Beiträge zur Arbeitslosen- oder Rentenversicherung mehr zahlen würde.
Meine Fraktion und ich, wir halten diesen Weg für verkehrt. Die Politik der Bundesregierung hat andere Ansätze, die ich teilweise schon genannt habe.
Die Mittel für das lebensbegleitende Lernen - auch
das ist in Ihrem Antrag genannt - haben wir in den letzten
zwei Jahren verdoppelt. Während Ihres letzten Regierungsjahres standen dafür gerade einmal 100 Millionen DM zur Verfügung, inzwischen sind es 200 Millionen DM.
({18})
Warum waren Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit
nicht aktiv? Warum legen Sie jetzt plötzlich vollmundig
einen Katalog von Forderungen vor?
Ich verweise auf das von Ihnen angesprochene Programm „50 plus - die können es“. Das ist eine gute Aktion der Arbeitsämter, die von einer Kampagne begleitet
wird, die in der Öffentlichkeit und insbesondere mit Blick
auf die Arbeitgeber, Aktivitäten entfalten soll.
Ich möchte auch auf das Beispiel der betrieblichen
Weiterbildung eingehen. Ich glaube, dass die betriebliche Weiterbildung ein wichtiges Instrument ist, um älteren Menschen wieder eine Perspektive zu geben oder sie
im Betrieb zu halten. Hier verweise ich aber in der Tat auf
das, was im Bündnis für Arbeit vereinbart worden ist und
auch die Arbeitgeber selbst so sehen: Sie wollen keine
diesbezüglichen gesetzlichen Regelungen, sie wollen diesen Bereich in der betrieblichen Verantwortung belassen.
Ich glaube, da gehört er letzten Endes auch hin.
Meine verehrten Damen und Herren insbesondere von
der Unionsfraktion, Sie werfen uns in Ihrem Antrag vor,
die Bundesregierung verharre in Untätigkeit.
({19})
Wenn man diese Punkte, die ich genannt habe, als Beispiele nimmt, dann zeigt sich, dass wir tatsächlich einige
Schritte vorangekommen sind. Es kann doch nicht sein,
dass Sie das wirklich ernst meinen. Sie sollten besser
Ihren Antrag nicht weiter verfolgen,
({20})
sondern uns unterstützen, wenn wir konsequent die Arbeitsplatzfrage von älteren Arbeitnehmern in den Mittelpunkt von Diskussionen stellen, zum Beispiel bei den Diskussionen um die SGB-III-Reform. Das ist ganz wichtig.
Sie sollten das unterstützen, was die Arbeitsämter machen; ich glaube, das wäre der richtige Weg.
Wir werden bei der anstehenden SGB-III-Reform nicht
nur das Thema Jobrotation in Angriff nehmen, sondern
wir werden auch weitere Schritte in Richtung auf Wiedereingliederung von älteren Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt machen. Das ist wohl auch angesichts der Entwicklung der Zahlen angesagt.
({21})
Herr Kollege Ostertag, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir werden die Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau fortsetzen. Im Ansatz sind inzwischen 44 Milliarden DM für die aktive Arbeitsmarktpolitik vorgesehen.
({0})
Bei Ihnen waren gerade einmal 37 Milliarden DM für die
aktive Arbeitsmarktpolitik vorgesehen, als Sie abgewählt
wurden. Inzwischen haben wir zusätzlich noch 1 Million
Arbeitslose weniger, wenn man das im Vergleich zu diesem Zeitpunkt sieht. Ich glaube, dass die Anstrengungen,
die wir unternommen haben, richtig waren.
Jetzt
kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich lade Sie ein: Leisten Sie einen konstruktiven Beitrag, das Arbeitsplatzrisiko der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu senken, und
helfen Sie mit, dass das immense Erfahrungswissen der
älteren Arbeitslosen in den Unternehmen und unserem
Gemeinwesen wieder zum Tragen kommt.
({0})
Herr Kollege, ich hatte Sie jetzt dreimal gebeten, zum Schluss zu
kommen.
Diese Aufforderung richtet
sich auch an die Tarifvertragsparteien.
Vielen Dank.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dirk Niebel von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, auch ich befürchte, dass die
Regierung ein Konzept hat, aber dieses Konzept führt
nicht dazu, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt verbessert wird, sondern dazu, dass die Chancen, neue
Arbeitsplätze zu schaffen, erschwert werden. Dieses Konzept wird ebenso wie die Maßnahmen im Antrag der
Union verhindern, dass die älteren Menschen in diesem
Land eine Chance auf Teilhabe am Arbeitsleben bekommen.
({0})
Es gibt 1,2 Millionen Menschen über 50 Jahren, die arbeitslos sind. Das faktische Renteneintrittsalter liegt mittlerweile bei 60,1 Jahren. Ein Zeitraum der Arbeitslosigkeit von zehn Jahren ist nicht nur für die sozialen
Sicherungssysteme ein Problem, sondern ganz besonders
für die betroffenen Menschen außerordentlich schwierig.
Deshalb ist es dringend notwendig, dass wir sowohl die
menschlichen und sozialen Kompetenzen als auch die
Fachkenntnisse, die bei älteren Menschen vorhanden
sind, in die Betriebe einbinden. Das werden wir nicht
schaffen, Herr Ostertag, durch eine vermehrte Ausnutzung von Altersteilzeit, weil diese dazu führt, dass die Älteren aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und nicht wieder
neu hereinkommen. Das ist auch nicht durch eine erhöhte
Subventionierung der Einstellung von Arbeitssuchenden
aufseiten der Arbeitgeber zu schaffen,
({1})
sondern das werden wir nur schaffen, wenn wir die tarifvertraglichen Arbeitsmarkteintrittsbarrieren entschärfen
und so die Möglichkeit für ältere Arbeitnehmer schaffen,
wieder in den Arbeitsmarktprozess hereinzukommen.
Die Union setzt mit ihrem Antrag im Wesentlichen auf
Subventionen und viel zu wenig auf Eigeninitiative aufseiten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Lebensbegleitendes Lernen - die Erwerbsbiografien verändern
sich ja und man bleibt nicht mehr direkt nach der Ausbildung sozusagen über die goldene Uhr bis zum verdienten
Ruhestand im gleichen Betrieb und im gleichen Beruf setzt ein höheres Maß von Flexibilität auf beiden Seiten
voraus, bei den Arbeitnehmern und bei den Arbeitgebern.
({2})
Die Weiterbildung ist zunächst Sache der jeweiligen Betroffenen. Das kann man durch steuerliche Anreize abfedern, aber das nicht ist in erster Linie Sache der staatlichen Unterstützungskassen.
Wir müssen mehr auf Prävention setzen, das heißt,
man soll sich nicht erst beim Arbeitsamt melden, wenn
man schon arbeitslos ist oder weiß, dass man es innerhalb
von zwei Wochen wird. Man kann auch schon früher dorthin gehen und die Vermittlungsdienste in Anspruch nehmen. Aber das alles ändert nichts daran, dass die tarifvertraglichen Eintrittshemmnisse abgebaut werden müssen.
Wir haben es hier mit einem Kartell der Arbeitsplatzbesitzenden gegen die Arbeitssuchenden zu tun. Dieses Kartell müssen wir aufbrechen.
({3})
Das geht nur, wenn wir das Einkommen vom Lebensalter abkoppeln, wenn wir zu einer Bezahlung nach der
Tätigkeit und nach der Leistung kommen und die Bezahlung nach Alter und Betriebszugehörigkeit abschaffen.
Denn das ist gut für die, die drin sind, etwa für einen
53-Jährigen, der nach sechs Monaten Betriebszugehörigkeit unkündbar ist. Das ist aber nicht gut für die, die
draußen sind, die mit 55 vielleicht noch hineinkommen
wollen. Deswegen war es falsch, die Chance von befristeten Arbeitsverhältnissen einzuschränken.
Sie müssten, da bei den 45-Jährigen jeder zweite Arbeitslose schon länger als ein Jahr arbeitslos ist, vielmehr
die Chance von befristeten Verträgen nutzen und für Arbeitnehmer ab 50 Jahren befristete Arbeitsverträge ohne
Einschränkung ermöglichen, wenigstens aber zur alten
Regelung zurückkehren; denn nur so bekommen Sie die
Menschen in den Arbeitsmarkt.
({4})
Diese Regierung hat nicht erkannt, dass es besser ist,
befristet in Arbeit zu sein, als unbefristet arbeitslos zu
sein. Mit der Frühverrentung spielen Sie die junge Generation gegen die alte aus. Die Alten werden aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt. Die Jungen müssen es bezahlen. Im Endeffekt hat keiner etwas davon. So wird es nicht
funktionieren.
({5})
Herr Staatssekretär Andres hat im Bündnis für Arbeit
einen richtigen Schritt eingeleitet. Dass der Einkommenszuschuss für ältere Arbeitslose ab 50 Jahre gewährt
werden kann, ist vernünftig; denn dieses Förderinstrument
greift im ersten Arbeitsmarkt, wodurch in aller Regel eine
neu eintretende Arbeitslosigkeit verhindert wird.
Wir werden auch - das werden wir in einem Teilbereich zu späterer Stunde in diesem Hause noch tun - vermehrt über Zuwanderung reden müssen. Aber auch mit
Zuwanderung werden wir die Probleme des Arbeits- und
Fachkräftemangels nicht dauerhaft lösen. Wir müssen uns
um die Menschen kümmern, die schon im Land sind. Das
sind Ältere und das sind Nichtdeutsche.
Kurz gesagt, es geht um Teilhabe für Ältere; wir brauchen mehr davon. Es geht aber auch um die Sicherung der
Fachkompetenz für die Betriebe, die diese Kenntnisse unbedingt brauchen, wir brauchen mehr davon. Im Endeffekt: F.D.P., mehr davon.
({6})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Thea
Dückert von Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Es ist gut, dass wir über dieses Thema hier diskutieren.
Der von der CDU/CSU eingebrachte Antrag wäre sogar
gut, wenn nicht mindestens 80 Prozent dessen, was darin
vorgeschlagen wird, in den letzten zwei Jahren von dieser
Regierung bereits angegangen worden wäre bzw. in der
Umsetzung wäre.
Sie haben Beispiele genannt. Das eine Beispiel ist die
Job-Rotation, Sie behaupten, Sie seien die Erfinder, die
Urheber dieses Programms. Richtig aber ist, Frau
Schnieber-Jastram, dass das Programm in den vergangenen Jahren in rot-grün regierten Ländern wie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen erprobt worden ist
({0})
und dass wir das Programm auf der Basis der während
dieser Erprobung gemachten Erfahrungen jetzt im Bund
als Regelinstrument in ein verändertes SGB III übernehmen können. Das ist doch die Realität.
({1})
Frau Schnieber-Jastram, wenn Sie auf einen Zug aufspringen wollen, der schon längst fährt, dann werden Sie
übernächste Woche in diesem Plenum Gelegenheit haben,
sich unserem Antrag, der das noch präzisiert, anzuschließen. Dann werden wir an dieser Stelle weiterkommen.
({2})
Sie schlagen in Ihrem Antrag vor - ich finde, das ist
eine gute Idee -, den Bildungsurlaub für innerbetriebliche Bildung zu nutzen. Sie wissen aber genauso gut wie
ich, dass Bildungsurlaub Ländersache ist und in den Ländern sehr unterschiedlich geregelt ist. Ich frage Sie einmal
- wenn Sie doch schon dafür verantwortlich sind -, in
welchem CDU-Land Sie das schon umgesetzt haben. Wie
ist es denn mit dem Bildungsurlaub im CSU-Land Bayern? Wenn Sie hier ernsthaft diskutieren wollen, dann machen Sie Vorschläge, über die wir auf Bundesebene reden
können.
({3})
Wenn Sie meinen, Sie seien vorne an der Bewegung, dann
zeigen Sie uns doch einmal, wie Sie das in Ihren eigenen
Ländern regeln.
({4})
Der Antrag wäre nicht nur gut, wenn nicht schon so viel
umgesetzt wäre, er wäre sogar sehr gut, wenn Sie Perspektiven aufzeigen würden. Auch das machen Sie natürlich nicht. Sie haben einen nur in Ihren Augen zukunftsgewandten Vorschlag bezüglich der Rente gemacht,
nämlich dass nach 35 Jahren Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung die Rentenbeiträge abgesenkt werden sollen.
({5})
Frau Schnieber-Jastram, ich muss Sie wirklich mit allem Ernst fragen: Was haben wir im letzten Jahr eigentlich gemacht? Wir haben in zähen Gesprächen über die
Rentenreform gestritten. Sie hatten bis vor drei Wochen
noch Gelegenheit, Änderungsanträge einzureichen. Aber
was ist passiert? - Ich habe keinen Änderungsantrag gesehen.
({6})
- Herr Kollege Meckelburg, Sie wissen ganz genau, dass
Sie eine gegenteilige Position in der Rentendebatte auf
Basis eines CSU-Vorschlages eingenommen haben, der
Vorstellungen enthielt, wie man mit Rentnerinnen und
Rentnern nach 45 Beitragsjahren verfahren soll. Das ist
aber ein ganz anderes Thema.
({7})
Im Übrigen gibt es dabei ein Problem mit der Äquivalenz
in der Rentenversicherung. Sie blasen nur die Backen auf.
Sie hatten bis vor kurzem noch die Gelegenheit, sich konstruktiv mit diesem Thema zu befassen. Sie haben diese
Chance aber nicht genutzt.
Ich finde Ihre Analyse „spannend“, dass es für die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt ein Riesenproblem gibt,
({8})
dass wir ein Qualifikationsproblem in der Zukunft bekommen und dass wir uns damit auseinander setzen müssen. Um aber eine sehr gute Analyse abzuliefern, hätten
Sie die Ehrlichkeit und den Mut haben müssen, sich einmal mit der Tatsache auseinander setzen müssen, dass Sie
während Ihrer Regierungszeit den Paradigmenwechsel
verschlafen haben. Die Nachbarländer wie zum Beispiel
Dänemark und Holland haben in den vergangenen Jahren
schon längst erkannt - dieser Punkt war Bestandteil Ihrer
Vorschläge -, dass ein Renteneintrittsalter von durchschnittlich 58 Jahren der falsche Weg ist.
({9})
In Dänemark werden seit Jahren Job-Rotation und andere Projekte angegangen.
({10})
Sie hätten während Ihrer Regierungszeit die Chance gehabt, in diesem Bereich tätig zu werden. Aber Sie haben
sie nicht ergriffen. Wir müssen die Probleme jetzt anpacken. Es ist gut, auch wenn es für Sie schwierig ist, dass
Sie auf den Boden der Tatsachen zurückkommen. Wir begrüßen Sie gerne an Bord des fahrenden Zuges.
({11})
Machen Sie mit beim Kampf gegen die Arbeitslosigkeit
von älteren Menschen!
Danke schön.
({12})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Pia Maier von der PDSFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Frau Schnieber-Jastram, Ihre Analyse der Zukunftsperspektive für die nächsten zehn Jahre teile ich
durchaus. Ich glaube aber, dass die Vorschläge in Ihrem
Antrag an den heutigen Problemen gänzlich vorbeigehen.
({0})
Lassen Sie mich Ihre Vorschläge einmal ganz irdisch
betrachten. Frau Schnieber-Jastram, wären Sie eine ganz
normale Arbeitnehmerin - Ihr Alter kann man genauso
wie meines nachlesen: Sie sind 55 und ich werde 30 -,
({1})
dann könnten Sie ohne Einschränkung befristet beschäftigt werden.
({2})
- Habe ich mich verrechnet?
({3})
- Bei den von Ihnen vorgeschlagenen Fristen zählt nicht,
wie alt Sie sich fühlen, sondern wie alt Sie tatsächlich
sind.
Außerdem würden Sie, abgesehen davon, dass Sie befristet beschäftigt werden, noch die Möglichkeit eingeräumt bekommen, gefördert ein Tandem zu bilden - meinetwegen auch mit mir -, damit ich von Ihrer Qualifikation
profitieren kann. Über Weiterbildung soll geredet werden
und in lokalen Netzwerken sollen Sie sich fortbilden.
In gut zehn Jahren würden Sie nach dem heutigen
Stand der Dinge in Rente gehen. Ich würde dann immer
noch lange Zeit zu arbeiten haben. Sie hätten aber mit
Ihrem Antrag dafür gesorgt, dass ich keinen Bildungsurlaub mehr nehmen kann bzw. von meinem Arbeitgeber
dahin gedrängt werde, ihn für innerbetriebliche Fortbildung zu verwenden. Wenn mein Arbeitgeber nicht vorausschauend plant, dann hätte ich keine Chance, meine
Qualifikation zu verbessern. Ich wäre vielmehr auf seine
Vorgaben angewiesen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Ihre
Vorschläge sind kurzsichtig. Das Problem liegt nicht bei
den heute 55-Jährigen. Das Problem ist, dass die Arbeitgeber nur noch das Nötigste in Bildung und Weiterbildung
investieren, weil sie wissen, dass sie nach dem Staat rufen
können, wenn etwas schief geht.
Das Problem ist die verfehlte Bildungspolitik der letzten knapp 20 Jahre, die keinen Grundstein für eine lernende Gesellschaft gelegt hat. Das Problem ist aber nicht
der Mangel an qualifizierten Mitarbeitern. Wir hätten genug Menschen, die qualifizierte Stellen besetzen könnten,
wenn sie schon viel früher die richtigen Bedingungen vorgefunden hätten, zu studieren, Kurse zu besuchen und
sich weiterzubilden. Aber es gibt bis heute kein Weiterbildungsgesetz und bei der Personalentwicklung konnten
die Unternehmen getrost sparen, wohl wissend, dass
dann, wenn Probleme auftauchen, staatlicherseits entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.
Ihre Vorschläge müssen in den Ohren der heute Arbeitslosen - das sind ja nicht gerade wenige und nicht gerade ausgewählte Menschen - zynisch klingen.
({4})
Sie sollen nur noch befristet beschäftigt werden und hören
überall, dass ihre Qualifikation falsch sei, dass sie zu
nichts mehr nütze seien, außer kurzfristig und befristet
Löcher zu stopfen. Von den Arbeitslosen, die in Qualifikationsmaßnahmen geschickt werden, hört man dann,
dass sie dort eigentlich nur gebeten werden, doch bitte
möglichst schnell den Arbeitsmarkt zu räumen und in den
Vorruhestand zu gehen.
So bereinigt man Statistiken, aber so löst man nicht die
Probleme der arbeitslos Gemeldeten. Die löst man nur, indem man Arbeitsplätze schafft.
({5})
Qualifikation, egal in welchem Alter, ist wichtig. Sie
bauen hier aber einen Popanz auf, der vor allem dazu
dient, die hier und heute bestehende Arbeitslosigkeit als
Problem wegzureden. Für einen solchen Ansatz bekommen Sie unsere Zustimmung nicht.
Danke.
({6})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5139 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dritter Bericht zur Lage der älteren Generation
in der Bundesrepublik Deutschland: Alter und
Gesellschaft
und
Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 14/5130 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Bundesministerin Christine Bergmann das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Dritte Altenbericht beschreibt sehr umfassend die Lebenssituation
der älteren Generation zehn Jahre nach Erreichen der
deutschen Einheit und er beschreibt grundlegende Veränderungen der Situation älterer Menschen in unserer Gesellschaft. Bei aller Notwendigkeit einer differenzierten
Betrachtung ist festzustellen - das ist sehr erfreulich -,
dass die meisten Seniorinnen und Senioren heute gesünder, besser ausgebildet und materiell unabhängiger sind,
als es in früheren Generationen der Fall war.
({0})
Weit über das 70. Lebensjahr hinaus sind immerhin
80 Prozent der Rentnerinnen und Rentner zu einer weitgehend selbstständigen Lebensführung in der Lage. Der
größte Teil der älteren Bevölkerung lebt die ersten 15 bis
20 Jahre nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben
unabhängig von ständiger Hilfe und Pflege.
Die dritte Lebensphase wird vom überwiegenden Teil
der Menschen in unserem Land als Chance gesehen und
das ist sehr gut so.
Der Bericht stellt fest, dass die älteren Menschen in unserem Land in gesicherten sozialen und materiellen Verhältnissen leben können. Das gilt für den Westen wie für
den Osten Deutschlands gleichermaßen, wobei die wichtigste Einkunftsquelle die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ist. Dies gilt etwas mehr für Ostdeutschland als für Westdeutschland.
Keine Altersgruppe in Deutschland weist eine so geringe Sozialhilfedichte auf wie die der älteren Menschen
über 65 Jahre. Das ist höchst erfreulich.
({1})
Die Politik der Bundesregierung für ältere Menschen ist
so angelegt, dass dies auch in Zukunft so sein wird. Wir
haben mit der Rentenreform Bedingungen geschaffen,
die die demographischen Veränderungen, die auf uns zukommen, berücksichtigen. Diese Veränderungen sind gewaltig. Ich will noch einmal die Zahlen nennen. Der Anteil der über 60-Jährigen wird sich bis zum Jahr 2050 auf
36 Prozent erhöhen; gleichzeitig wird sich der Anteil der
unter 20-Jährigen auf 16 Prozent verringern. Das heißt,
innerhalb von 100 Jahren hat sich das Verhältnis genau
umgekehrt. Hatten wir 1950 ungefähr doppelt so viele unter 20-Jährige wie über 60-Jährige, werden wir 2050 circa
doppelt so viele über 60-Jährige wie unter 20-Jährige haben. Darauf stellen wir uns in unserer Politik, und zwar
von der Rentenreform bis hin zu Altenhilfeprojekten, ein
und warten nicht ab, was passiert.
Ich will einen weiteren Punkt ansprechen, der in dem
vorliegenden Altenbericht sehr deutlich zutage tritt: Die
Solidarität der Generationen in unserem Land ist - das
muss man immer wieder betonen - entgegen allen Unkenrufen intakt. Sie ist ein wichtiges Fundament unserer
Gesellschaft. Ältere Menschen haben eine enge Verbindung zu ihren Familien, ihren Kindern und ihren Enkelkindern. 70 Prozent der Älteren wohnen mit mindestens
einem ihrer Kinder am selben Ort, 45 Prozent sogar im
selben Haus bzw. in unmittelbarer Nachbarschaft. Hilfe
wird vielfältig geleistet, und zwar in beiden Richtungen:
Die Älteren helfen den Jüngeren - häufig in materieller
Hinsicht - und die Jüngeren natürlich den Älteren.
Dieses „mitverantwortliche Leben“, wie es der Altenbericht nennt, zeigt sich auch an der aktiven Teilnahme
am gesellschaftlichen und am nachbarschaftlichen Leben.
Aus vielen Vereinen, Einrichtungen und Organisationen
ist die ehrenamtliche Arbeit der Älteren überhaupt nicht
mehr wegzudenken. Etwa jeder dritte ältere Mensch ist
bis zum 70. Lebensjahr ehrenamtlich engagiert.
({2})
- Dies verdient wirklich Anerkennung.
Wir können es nicht häufig genug betonen: Dieses Engagement ist ein bedeutendes gesellschaftliches Potenzial,
das wir fördern und stützen. Ich will ein Beispiel nennen:
Mit unserem Multiplikatorenprogramm „Erfahrungswissen für Initiativen“ erhalten Ältere die Möglichkeit, ihre
Kompetenz einzubringen, indem sie ihr Wissen an jüngere
Generationen weitergeben. Das stärkt das Engagement,
die gesellschaftliche Stellung und die Anerkennung älterer
Menschen und das hilft den Jungen, weil sich die Älteren
wirklich aktiv kümmern können.
Dieses bürgerschaftliche Engagement zu würdigen
und zu stärken ist das Ziel unserer vielfältigen Aktivitäten
im Internationalen Jahr der Freiwilligen. Wir werden
uns an der einen oder anderen Stelle damit sicher noch
auseinander setzen.
({3})
Meine Damen und Herren, wir brauchen die aktive
Teilhabe älterer Menschen, um die Zukunft unserer Gesellschaft zu gestalten. Das gilt auch für die Arbeitswelt.
Über dieses Thema wurde ja gerade eine Debatte geführt.
Auch im Altenbericht wird zu Recht festgestellt, dass es
paradox ist, dass bei einem steigenden Durchschnittsalter
der Bevölkerung insgesamt - das gilt auch für die Erwerbsbevölkerung - der Anteil der über 50-Jährigen, die
noch einer Erwerbsarbeit nachgehen, gesunken ist. Wir
alle kennen die Arbeitsmarktsituation und wissen, dass es
in den letzten Jahren absolute Priorität war und im Moment noch ist, zu sichern, dass die Jungen am Arbeitsmarkt teilhaben. Aber wir wissen auch, wie die Entwicklung weitergehen wird: Wir können es uns in den nächsten
Jahren nicht mehr leisten, auf die Kompetenz der über
50-Jährigen, auf diese Fachkräfte, zu verzichten. Deswegen ist hier ein Umdenken notwendig. In den Unternehmen muss es zu einer vorausschauenden Personalpolitik
und zu einer Qualifizierung derjenigen kommen, die nicht
mehr ganz so jung sind, die also die 30 schon ein bisschen
überschritten haben.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Alt sein heißt nicht zwangsläufig, gebrechlich und
hilfsbedürftig zu sein. Wir wissen, dass der medizinische
Fortschritt den Gesundheitszustand der älteren Menschen verbessert. Wir können davon ausgehen, dass wir
alle länger gesünder bleiben. Das ist eine sehr positive
Entwicklung. Aber wir wissen auch, dass vor allem die
über 80-Jährigen mit Gesundheits- und Funktionseinbußen zu tun haben. Bis zum Jahr 2050 wird der Anteil der
über 80-Jährigen an der Gesamtbevölkerung von jetzt
4 Prozent auf 12 Prozent wachsen. In diesem Alter stellt
sich natürlich einiges ein: Multimorbidität, chronische Erkrankungen und insbesondere Altersdemenz, die heute
eine der häufigsten Ursachen von Pflegebedürftigkeit ist.
Das stellt die Altenhilfe vor große Herausforderungen.
Ich will ein paar Beispiele nennen, wie wir darauf reagiert haben - wir haben nämlich den hier bestehenden Reformstau kräftig abgebaut: Wir haben an der einen oder
anderen Stelle schon darüber gesprochen. Es geht darum,
den Schutz der Hilfsbedürftigen zu gewährleisten, die
Qualität der Hilfe zu sichern und die Strukturen der Altenhilfe effektiver zu gestalten. Die Sicherung von Pflegequalität ist nicht denkbar ohne die Sicherung einer
zeitgemäßen Ausbildung der Pflegekräfte.
({4})
Damit fängt es an. Im Rahmen des neuen Altenpflegegesetzes bzw. einer bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung haben wir es erstmals geschafft, ein einheitliches
Berufsprofil herzustellen und diesen typischen Frauenberuf aufzuwerten.
({5})
Dieses Gesetz haben wir hier verabschiedet. Wir stehen
nun wieder vor der Situation, dass das Land Bayern - man
kann nicht vom vergangenen Jahrhundert sprechen, weil
es noch nicht lange zurückliegt - einige Jahrzehnte im
Rückstand ist und offensichtlich den Zustand der 17 unterschiedlichen Altenpflegeausbildungen noch eine Weile
beibehalten möchte.
Ich kann Ihnen eigentlich nur raten: Lesen Sie diesen
Dritten Altenbericht sehr genau. Sie finden darin viel zur
gesundheitlichen Situation, viele Empfehlungen, die unser Handeln sehr unterstützen. Denn in Ihrer Klage vor
dem Bundesverfassungsgericht behaupten Sie ja, dass
dieser Beruf gar nicht so sehr in den medizinisch-pflegerischen Bereich hineingehört. Die alte Leier: Es reicht,
wenn man schon einmal in der Familie etwas getan hat. Das reicht eben nicht. Deswegen haben wir das Altenpflegegesetz verabschiedet.
({6})
Ich will einen weiteren Punkt nennen. Wir hören leider
immer wieder von Missständen in Pflegeheimen. Auch in
dieser Hinsicht haben wir gehandelt. Mit der Novellierung
des Heimgesetzes und dem Pflege-Qualitätssicherungsgesetz, die ja schon auf dem Tisch liegen, werden wir diese
Situation beträchtlich verbessern. Wir verbessern die
rechtliche Stellung der Bewohnerinnen und Bewohner der
Heime. Wir verstärken die Heimaufsicht. Wir stärken die
Qualitätssicherung in den Heimen. Unser Ziel ist klar:
Qualitätskontrolle und -sicherung müssen sich zukünftig
wie ein roter Faden durch Strukturen und Systeme in der
Altenhilfe ziehen. Letztlich geht es darum, die Würde der
älteren pflegebedürftigen Menschen zu respektieren. Dieses Ziel verfolgen wir mit diesen Gesetzen.
({7})
Aber unsere Politik sorgt auch für eine zeitgemäße
Weiterentwicklung der Infrastruktur, zum Beispiel durch
das Modellprogramm „Altenhilfestrukturen der Zukunft“. Hierbei geht es darum, die Übergänge, die Zusammenarbeit zwischen Rehabilitation und Pflege, zwischen Tagespflege und ambulanten Diensten und der
Beratung für Angehörige zu verbessern. Hier geht es insbesondere auch darum, den Menschen, die demenzkranke
Angehörige pflegen, Hilfe und Unterstützung zu geben
und damit auch neue Wege in der Pflege zu beschreiten.
Darüber hinaus wollen wir das Verständnis der Gesellschaft für das Zusammenleben mit Demenzkranken verbessern und deutlich machen, welche Herausforderungen
auf die Familien und auf die Gesellschaft zukommen. Ich
denke, das sind sehr wichtige Punkte.
({8})
Ich halte es für wichtig und richtig, dass sich der
Vierte Altenbericht, an dem jetzt schon gearbeitet wird
und der bis zum Ende der Legislaturperiode vorliegen
wird, das Thema Demenz in den Mittelpunkt stellen wird.
Die demographische Entwicklung der nächsten Jahrzehnte stellt unsere Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Diesen stellen wir uns, und zwar nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene. Wir
haben angeregt, dass der Weltaltenplan nach 20 Jahren
endlich überarbeitet wird, dass dieses Thema also nicht
immer nur lokal oder regional bearbeitet wird.
({9})
Dies geschieht jetzt und wir arbeiten hieran aktiv mit.
Im Jahr 2002 werden wir hier auch eine regionale ECEKonferenz durchführen, bei der es um die Implementierung der Ergebnisse des überarbeiteten Weltaltenplans gehen wird, weil wir auch internationale Unterstützung in
diesem Bereich haben wollen.
Ich komme zum Schluss. Der vorliegende Bericht unterstützt und bestätigt nachdrücklich die zukunftsorientierte Seniorenpolitik der Bundesregierung. Wir schaffen
Bedingungen für ein aktives Altern inmitten der Gesellschaft und wir sichern Hilfe und Schutz für Menschen, die
im Alter unsere Unterstützung brauchen. Dafür steht unsere Politik.
Danke.
({10})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Maria Eichhorn von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Der Dritte Altenbericht
zum Thema Alte und Gesellschaft beschreibt einerseits
Defizite und Verbesserungsmöglichkeiten bei der Gesundheitsversorgung und widmet sich andererseits den Anforderungen, die sich aus einer alternden Gesellschaft ergeben.
Die Stellungnahme der Bundesregierung enthält keine
Antwort auf die aufgeworfenen Fragen. Auch der vorliegende Entschließungsantrag der SPD
({0})
enthält außer allgemeinen Feststellungen nichts Neues.
Der Lagebericht über die Situation der Älteren in der Bundesrepublik Deutschland zeigt die erheblichen Anstrengungen zu Regierungszeiten der CDU/CSU zur Verbesserung der gesellschaftlichen Situation der Seniorinnen und
Senioren in unserem Land.
({1})
Jetzt geht es darum, Perspektiven für die Zukunft zu
entwickeln. Die Bevölkerung erwartet von uns und vor allen Dingen von Ihnen, der Koalition, konkrete Schlussfolgerungen und Handlungsanweisungen. Wir erwarten
eine konkrete Stellungnahme der Bundesregierung dazu,
ob und wie der Staat in einer alternden Gesellschaft bereit ist, vorzusorgen und die Teilhabe älterer Menschen
am gesellschaftlichen Leben zu fördern.
({2})
Wir erwarten konkrete Schritte und verlässliche Aussagen
der Seniorenministerin dazu, mit welchen Gesetzesvorhaben und inhaltlichen Zielvorstellungen sie die Seniorenpolitik in unserem Lande betreiben will.
Zu Beginn der Legislaturperiode haben Sie, Frau Ministerin, lautstark mehrere Gesetze im Seniorenbereich
angekündigt.
({3})
Aber was ist aus diesem Ihrem Versprechen geworden?
Lediglich ein Gesetz, das Altenpflegegesetz, ist bisher
verabschiedet worden. Dabei gibt es aber viele Probleme
bei der Umsetzung, wie uns die Fachleute sagen.
Nun soll endlich das Heimgesetz eingebracht werden.
Trotz langer Vorbereitungszeit gibt es in Fachkreisen erhebliche Zweifel, ob mit diesem Gesetz die gesteckten
Ziele erreicht werden können.
Alle weiteren angekündigten Gesetze sind auf die
lange Bank geschoben worden. Gestern haben Sie, Frau
Ministerin, im Ausschuss zugegeben, dass Sie das Altenhilfestrukturgesetz nicht mehr in dieser Legislaturperiode
verwirklichen wollen, anders als Sie es noch 1999 angekündigt hatten.
({4})
Zurück zum Altenbericht. Die Bundesregierung gibt
keine Antwort darauf, dass Leistungen, die bisher von der
Familie für die ältere Generation erbracht wurden, in Zukunft nicht mehr zu erwarten sind. Kinder leben oft weit
entfernt von ihren Eltern, sodass sie sich schon allein deshalb nicht mehr um sie kümmern können.
Ein großer Teil des vorliegenden Berichts ist dem Pflegebereich gewidmet. Das Altenpflegegesetz, das im letzten Jahr verabschiedet wurde, bringt bei der Umsetzung
erhebliche Probleme. So sind hinsichtlich der bisher nicht
erlassenen Rechtsverordnungen heute noch viele Fragen
offen. Die Altenpflegeschulen und die Träger müssen
endlich wissen, welche konkrete Bedeutung der ambulanten Altenhilfe in der praktischen Ausbildung zugemessen
wird.
({5})
Es muss geklärt werden, wie die vorgeschriebene inhaltliche und organisatorische Abstimmung des Unterrichts
mit der praktischen Ausbildung gewährleistet werden
kann. Da heute noch keine Ausbildungs- und Prüfungsordnungen vorliegen, können auch noch keine Ausbildungsverträge ausgearbeitet werden, obwohl im Herbst
mit der neuen Ausbildung begonnen werden soll.
Nun aber zum drängendsten Problem. Für die Träger
der stationären Einrichtungen ist es völlig ungewiss, in
welcher Höhe die Ausbildungsvergütung tatsächlich in
den Pflegesatz aufgenommen wird. Deswegen frage ich
Sie, ob es sinnvoll ist, bei derartig vielen offenen Fragen
die neue Ausbildung nach dem Altenpflegegesetz zum
1. August dieses Jahres erzwingen zu wollen. Ich sage:
nein. Machen Sie zuerst Ihre Hausaufgaben!
Einen weiteren Bereich will ich herausgreifen, nämlich
die ökonomischen Ressourcen im Alter, wie sie der Bericht nennt. Die Sachverständigen warnen vor einer drohenden zunehmenden Altersarmut. Nach der von Ihnen
durch den Bundestag gepeitschten Rentenreform wird
aber die Altersarmut nicht ab-, sondern zunehmen. So sehen es auch die Rentenexperten. Vor diesem Hintergrund
kann man wohl kaum noch von ökonomischen Ressourcen sprechen, sondern eher von ökonomischen Zumutungen im Alter.
({6})
Die Rentenanpassungsformel ist willkürlich und manipulierbar. Dabei wird das Rentenniveau geschönt und ist
real niedriger als angegeben. Sie haben am Tage der Verabschiedung mit Ihrem Entschließungsantrag selbst verdeutlicht, dass tatsächlich nur ein Rentenniveau von
64 Prozent erreicht wird.
Sagen Sie doch den Bürgern in unserem Land die
Wahrheit!
({7})
Sagen Sie unseren Bürgern, dass trotz Senkung des Rentenniveaus der Beitragssatz von 22 Prozent im Jahre 2030
nicht gehalten werden kann.
({8})
Die Förderung der privaten Altersvorsorge reicht nicht
aus, um Familien mit niedrigem Einkommen eine wirkliche zusätzliche Absicherung zu ermöglichen.
Die Rentenreform geht vor allem zulasten der Frauen.
({9})
Durch das Einfrieren der Freibeträge bei der Hinterbliebenensicherung und die Anrechnung aller Einkommen
auf die Hinterbliebenenrente werden die Rentnerinnen betrogen.
({10})
Diejenigen, die etwas angespart haben, um sich im Alter
besser zu stellen, werden bestraft.
Die Absenkung des Rentenniveaus trifft Frauen doppelt, bei der eigenen Rente und bei der Witwenrente über
die abgesenkte Rente des Ehemannes. Hinzu kommt, dass
Frauen im Durchschnitt im Osten 35 und im Westen nur
26 Beitragsjahre aufzuweisen haben.
Auf die Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten im Zusammenhang mit der Bewertung der Kindererziehung für
die Rente kann ich aus Zeitgründen nicht näher eingehen.
({11})
Festzustellen ist jedoch: Zukünftig gibt es Kinder unterschiedlicher Güte für die Rente. Der Bericht des „Spiegel“
in dieser Woche unter dem Titel „Riesters Reformruine“
könnte deutlicher nicht sein. Ich zitiere:
Tricks und Pfusch ... frisierte Zahlen ... steigende
Beiträge, kümmerliche Privatrente ... staatliche Bevormundung.
Dem ist nichts hinzuzufügen.
({12})
In einem künftigen Altersbericht wird die Rente wohl
nicht mehr unter „Ressourcen im Alter“ Erwähnung finden, sondern in dem sich ausdehnenden Kapitel „Armut
im Alter“.
Meine Damen und Herren, das Alter ist eine Lebensphase, die sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft viele Chancen bietet, aber auch mit Anforderungen verbunden ist. Der Dritte Altenbericht stellt die
Anforderungen dar. Ich fordere Sie, die Bundesregierung
und die Koalitionsfraktionen, auf, daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen, damit Alt und Jung
wissen, wie es weitergeht.
({13})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Irmingard ScheweGerigk von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte mit einem Zitat des Designers
Wolfgang Joop beginnen. Er sagt: „Grey is beautiful“ und
nennt damit ein neues Schönheitsideal. Im Zeichen der
immer älter werdenden Gesellschaft steht dieser Ausspruch für die Zukunft; denn bald wird jede dritte Person
in Deutschland über 60 Jahre alt sein. Die Ministerin hat
genauere Zahlen genannt; ich will das nicht wiederholen,
aber noch eine Zahl zur Verdeutlichung ergänzen: Nach
einer Schätzung des Max-Planck-Instituts wird jedes
zweite Mädchen, das heute geboren wird, 100 Jahre alt.
Die Menschen werden künftig aber nicht nur länger leben, sondern immer mehr Lebenszeit relativ gesund verbringen. Auf diese Entwicklung müssen sich Gesellschaft
und Politik einstellen. Der vorliegende Bericht bietet hierfür wertvolle Hinweise. Er macht deutlich, wie differenziert diese wachsende Gruppe von älteren und alten
Menschen zusammengesetzt ist. Die Klischees in der Gesellschaft halten sich hartnäckig. Da gibt es die Oma im
Schaukelstuhl, den Pflegefall oder die rüstigen MallorcaReisenden. Dazwischen ist nichts.
Aber alt sein heißt nicht zwangsläufig, gebrechlich und
hilfsbedürftig sein. Senioren sind keine graue Masse von
Gleichgesinnten, nein, sie sind ein bunter Haufen. Sie unterscheiden sich deutlich in ihrer Leistungsfähigkeit,
ihren Interessen und der Gestaltung ihres Alltags.
Von zentraler Bedeutung für ältere Menschen ist
Selbstständigkeit, Lebenszufriedenheit, soziale Integration und materielle Sicherheit.
({0})
80 Prozent der Älteren erfreuen sich guter Gesundheit.
Sie leben unabhängig von Hilfe und Pflege, sind aktiv, engagieren sich in ihrem familiären Umfeld, in der Nachbarschaft, in Kommunen und Vereinen.
Auch Familien profitieren von den alten Menschen;
denn familiäre Bindungen sind für sie ebenso wichtig wie
für die jungen. Das bestätigte jüngst die Shell-Jugendstudie.
Familienpflege wird zu 80 Prozent von Frauen zwischen 50 und 65 Jahren geleistet und viele erbringen diese
Leistung sogar nach dem so genannten Sandwich-System.
Das heißt, sie pflegen die Generation vor ihnen und die
Generation nach ihnen, die Eltern und die Enkelkinder.
Das führt nicht selten zur Überforderung. Ich erwarte,
dass bei der zunehmenden Frauenerwerbstätigkeit diese
für die Gesellschaft kostenlos geleisteten Dienste
({1})
künftig so nicht aufrechtzuerhalten sein werden.
({2})
Um ihre Erfahrungen weiterzugeben, entwickeln ältere
Menschen aber auch ganz neue Beschäftigungsformen. In
Wissensbörsen bieten sie ihr Wissen und ihre Dienstleistungen an. Sie schließen sich immer mehr zu lokalen
Initiativen und zu Seniorenbeiräten zusammen, um gemeinsame politische Interessen zu verfolgen.
Die Politik ist aufgerufen, dieses enorme Engagement
zu unterstützen. Dies gilt für alle Bereiche - für die Weiterbildung, für Wohnen und Stadtplanung bis hin zur Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Pflegepolitik. Wir ziehen
mit diesem Antrag jetzt die Konsequenzen daraus und unterstützen die Menschen, Frau Eichhorn.
({3})
Bildung und Weiterbildung bilden den Grundstock einer auf Wissen basierenden Gesellschaft. Wer nicht außen
vor bleiben möchte, muss bereit sein, ein Leben lang zu
lernen. Deshalb sind altersübergreifende Bildungsangebote in Betrieben und Universitäten, aber auch selbstorganisierte Angebote zu fördern.
Senioren sind aber auch in Sachen Verbandsarbeit sehr
aktiv. Die Zahl der Gründungen von gemeinnützigen
Initiativen hat sich in den letzten Jahren mehr als verdreifacht und diese Arbeit ist für unsere Gesellschaft wichtig.
Derzeit werden von der Bundesregierung zahlreiche
ehrenamtlich geführte Einzelprojekte gefördert. Weitere
Maßnahmen stehen noch an, um für das Ehrenamt auch
bessere Rahmenbedingungen zu schaffen.
({4})
Dazu gehören Versicherungsschutz sowie qualifizierte
Weiterbildungsmaßnahmen.
In der vorigen Debatte haben wir gehört, dass Deutschland Schlusslicht bei der Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer innerhalb der EU ist. Ich
frage Sie: Woran liegt denn das, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU? Das, was Sie beklagen, haben Sie durch die jahrelange, fehlgeleitete Arbeitsmarktpolitik der Frühverrentung geradezu herbeigeführt.
({5})
Wir werden Beschäftigungsmöglichkeiten für ältere
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schaffen, wir werden in Qualifizierung investieren. Dies ist nämlich nicht
nur ein Anspruch der Beschäftigten, sondern angesichts
der demographischen Entwicklung geradezu notwendig.
Ich komme zum Thema Wohnen im Alter. Alte Menschen wollen so lange wie möglich in ihrer gewohnten
Nachbarschaft bleiben. Kasernenartige Altenheime sind
keine Einrichtungen der Zukunft und müssen endlich der
Vergangenheit angehören.
({6})
Wohnformen, die einen hohen Grad an eigener Häuslichkeit ermöglichen, sind gefragt. Die bestehenden Formen des altersgerechten und generationenübergreifenden
Wohnens müssen daher weiter ausgebaut werden.
Deshalb begrüße ich das Modellprogramm der Ministerin Bergmann „Selbstbestimmt Wohnen im Alter“. Dieses Programm schafft gute Voraussetzungen dafür, dass
wir individuelle Möglichkeiten für vielfältige Wohnformen schaffen können.
({7})
Ich komme jetzt zu einem sehr traurigen Thema. Dass
die Heimmindestbauverordnung umfassend überarbeitet
werden muss, ist ein Gebot der Stunde. Viel zu lange ist
auf diesem Gebiet überhaupt nichts passiert. Mich erfüllt
es mit Scham, wenn alten Menschen 12 Quadratmeter
zum Wohnen und Schlafen zugebilligt werden. Für einen
deutschen Schäferhund sind 10 Quadratmeter vorgesehen. Ich finde das schon sehr beschämend.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Kürze werden
wir - die Ministerin hat darauf hingewiesen - ein neues
Heimgesetz verabschieden. Mehr Mitbestimmungsrechte
und Stärkung der Heimaufsicht sind die Stichworte dafür.
Angesichts der zahlreichen Pflegeskandale ist das dringend notwendig.
In allen gesellschaftlichen Bereichen muss die besondere Lebenssituation alter Menschen berücksichtigt werden. Das darf sich jedoch nicht nur auf diejenigen beziehen, die in Deutschland geboren sind. Das ist eine
Grundvoraussetzung für eine solidarische Gesellschaft.
Dass Seniorinnen und Senioren bereit sind, hier Verantwortung zu übernehmen, zeigt der vorliegende Bericht
ganz eindringlich. Wir werden sie mit den vorgeschlagenen Maßnahmen, die unserem Antrag zugrunde liegen,
in dieser anspruchsvollen Aufgabe unterstützen.
Vielen Dank.
({9})
Als
nächster Redner hat Kollege Klaus Haupt von der F.D.P.Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Freiheit und Verantwortung
kennen weder Ruhestand noch Altersgrenzen. Das macht
der Dritte Bericht zur Lage der älteren Generation sehr
deutlich. Im Mittelpunkt jeder Seniorenpolitik muss daher
das Selbstbestimmungsrecht der älteren Menschen
über ihre Lebensplanung stehen.
({0})
Die Senioren von heute sind keine Menschen, auf deren
Produktivität oder Kreativität unsere Gesellschaft einfach
verzichten könnte. Sie bilden in Zukunft eine wichtige
Ressource, auch für die Arbeitswelt. Von dem Jugendwahn, der den Arbeitsmarkt noch bestimmt, müssen wir
uns schnellstmöglich freimachen. Die Ressourcen älterer
Arbeitnehmer werden auf dem Arbeitsmarkt derzeit nur
wenig geschätzt; das wurde in der Diskussion schon erwähnt.
Der demographische Wandel wird die Arbeitswelt
nachhaltig verändern. Von der Vorstellung einer sich ständig verkürzenden Lebensarbeitszeit werden wir uns verabschieden müssen.
({1})
Dem Trend zur Frühverrentung muss politisch entgegengewirkt werden.
({2})
Die Rente mit 60 ist ein völlig ungeeignetes Instrument
der Arbeitsmarktpolitik.
({3})
Betriebliche Innovationsfähigkeit ist weniger vom Alter
als vielmehr vom Qualifikationspotenzial der Belegschaft
abhängig.
({4})
Den Vorsprung an Energie, Dynamik und Ehrgeiz der Jüngeren können die Älteren durch Wissen, Erfahrung, Zuverlässigkeit und soziale Kompetenz ausgleichen. Das erfordert in der Wirtschaft eine neue Vorgehensweise bei
der Personalentwicklung. Es ist notwendig, von einer reaktiven Politik zu einer präventiven, das heißt zu einer lebenslauforientierten und altersneutralen Politik der Beschäftigungsförderung und -sicherung zu kommen.
Aber auch jenseits des Erwerbslebens können, werden
und müssen ältere und alte Menschen Aufgaben und Verantwortung für sich und unsere Gesellschaft wahrnehmen. Bürgerschaftliches Engagement von Senioren im
sozialen, kulturellen, politischen und kirchlichen Bereich
stellt eine erhebliche gesellschaftliche Ressource da.
Wir reden derzeit viel über ein freiwilliges soziales
Jahr für Jugendliche. Sollten wir nicht auch einmal über
Derartiges für Senioren nachdenken?
({5})
Dieses Jahr könnte vielleicht als Ausfallzeit auf die Rente
angerechnet werden. Das könnte für die Menschen eine
Hilfe sein, die die Höchstrente noch nicht erreicht haben.
Zugleich könnte dies eine Perspektive für die sozialen
Einrichtungen eröffnen, die unter der immer geringer
werdenden Zahl von Zivildienstleistenden leiden.
Soziale Altenarbeit knüpft an die Handlungskompetenz der Menschen an und versteht ihre Angebote nicht als
Kompensation von Defiziten, sondern erschließt Aktivitätsfelder, die objektiv und subjektiv sinnvoll sind. Es
geht darum, die Selbstständigkeit alter Menschern zu erhalten. Das bedarf der Weiterentwicklung formeller Hilfen zu einer Unterstützungskette, die von alten Menschen
eigenständig mobilisiert werden kann.
({6})
Es gibt aber nicht nur aktiv-junge, sondern auch gebrechliche und pflegebedürftige Alte. Durch die demographische Entwicklung wird auch ihre Zahl in Zukunft
wachsen. Es ist unabdingbar, für diese Menschen ein breit
gefächertes, möglichst flexibles und auf die Bedürfnisse
der Betroffenen zugeschnittenes Angebot bereitzuhalten.
Dies muss durch neue Formen der Pflege aufgefangen
werden, etwa durch den so genannten Wohlfahrtsmix aus
informeller und professioneller Pflege, von marktgängigen Dienstleistungen und staatlichen Solidarleistungen,
von stationärer, familiärer und ehrenamtlicher Versorgung. Die Förderung und Unterstützung alternativer
Heimkonzepte, die Klein- und Wohngruppenansätzen folgen und die Einbeziehung von Angehörigen und bürgerschaftlich Engagierten vorsehen, könnte „Heim-Sog-Effekte“, die insbesondere bei Demenzkranken problematisch sind, abmildern.
({7})
Das Eintrittsalter für Seniorenheime liegt heute bei
80 Jahren, das Durchschnittsalter bei 82 Jahren. Eine Anpassung des Heimgesetzes an die veränderte Situation ist
längst überfällig.
({8})
Auch hier gilt: Selbst- und Mitbestimmung kennt keine
Altersgrenze. Heimbewohner wollen nicht nur versorgt
und verwaltet werden, sondern so aktiv wie möglich am
Heimleben teilnehmen und es mitbestimmen.
({9})
Sie haben Anspruch darauf, ihren Lebensraum selbst mitzugestalten.
Leider ist Mitbestimmung im bisherigen Referentenentwurf zum Heimgesetz nicht vorgesehen. Aber da die
Koalition daran schon länger arbeitet, als von ihr selbst
geplant, besteht noch die Hoffnung, dass sich dies ändert.
Bei aller Notwendigkeit, die gesetzlichen Regelungen
dem demographischen Wandel anzupassen: Wir müssen
darauf achten, nicht durch Überregulierung jede Initiative, auch und gerade der privaten Dienstleister, zu ersticken.
({10})
Qualitätssicherung darf nicht kontraproduktiv werden.
({11})
Die F.D.P. wird sich am liberalen Leitbild eines selbstbestimmten, würdigen Lebens auch im Alter orientieren.
In diesem Sinne werden wir an den hoffentlich bald anstehenden Gesetzesberatungen wie bisher kritisch, aber
konstruktiv mitwirken.
Danke.
({12})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Monika Balt von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! „Man braucht sehr lange, um jung zu werden.“ Mit diesem schönen Satz von Pablo Picasso kann
man die Schlussfolgerung eines wesentlichen Teils des
Dritten Altenberichts beschreiben. Alt sein heißt nicht
zwangsläufig, gebrechlich und hilfsbedürftig zu sein.
({0})
Der Bericht zeichnet unseres Erachtens ein relativ differenziertes und realistisches Bild der älteren Generation.
Gleichzeitig beinhaltet er Perspektiven und Anforderungen an eine Politik für ältere Menschen im Kontext individueller und gesellschaftlicher Ressourcen. Die Ihnen allen bekannte demographische Entwicklung unserer
Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten unterstreicht
die wachsende Bedeutung der Altenpolitik. Längst hat die
Gesellschaft beispielsweise die jungen Alten als potenzielle Käufergruppe entdeckt. Mir geht es um viel mehr: Ältere Menschen sind mit ihren Erfahrungen für uns alle
eine Bereicherung.
({1})
In ihrer Regierungserklärung betonte Frau Ministerin
Bergmann die Absicht, die ältere Generation stärker in
den Mittelpunkt der Politik zu rücken. Was ist bisher geschehen und was ist bis zum Ende der Legislaturperiode
geplant? Die Bundesregierung trat an, den bis dahin aufgelaufenen Reformstau aufzulösen. Ich erinnere an das
Gesetz über die bundeseinheitliche Ausbildung in den
Berufen der Altenpflege, das beschlossen worden ist, und
die Novellierung des Heimgesetzes. Das Qualitätssicherungsgesetz und andere Gesetze sind noch in der Diskussion.
Die PDS erkennt die Notwendigkeit dieser Reformen
an. Aber eines ist all diesen Entwürfen und Gesetzen gemeinsam: Der soziale und sozialfürsorgliche Aspekt wird
Schritt für Schritt abgebaut und ausgeblendet. Alter wird
zunehmend auf Gebrechlichkeit, Krankheit und medizinische Pflegebedürftigkeit reduziert.
({2})
Hinzu kommen die äußerst bedenklichen Äußerungen des
Bundeskanzlers und seiner Gesundheitsministerin, ähnlich wie bei der Rentenreform die Risiken des Alters
weitgehend zu privatisieren.
Die PDS tritt dafür ein, den Pflegebedürftigkeitsbegriff, wie er im SGB XI gefasst ist, nämlich im Sinne einer umfassenden Betreuung im Alter, also auch der sozialen Betreuung, auszubauen.
({3})
Tatsächlich geschieht eine rasante Aushöhlung dieses Begriffes, indem die sozialen Kompetenzen älterer Menschen in der Politik völlig ausgeblendet werden.
Nehmen wir zum Beispiel die Entwicklungstendenzen
auf dem Arbeitsmarkt. Zum einen erleben wir eine groß
angelegte Diskussion um die Green Card. Zum anderen
weist der Bericht aus, dass die Erwerbslosenquote in den
letzten Jahren sowohl in West- wie in Ostdeutschland, sowohl bei Männern als auch bei Frauen stark angestiegen
ist. Die vorangegangene Debatte machte dies zusätzlich
deutlich. Von einer generellen oder automatischen Abnahme der Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer kann überhaupt keine Rede sein. Ihre
Berufserfahrung und Kompetenz können wohl kaum ersetzt werden.
Gefördert werden kann Leistungsfähigkeit durch gesundheitsspezifische Merkmale am Arbeitsplatz und
durch eine gezielte und kontinuierliche Weiterbildung der
Qualifikation. Hier vermissen wir von der Bundesregierung weit reichende Maßnahmen.
({4})
Zum Schluss noch eines: Sorgen macht uns wohl allen
die anhaltende und überproportionale Abwanderung
jüngerer Menschen aus den neuen in die alten Bundesländer. Es sind nicht nur keine Maßnahmen der Bundesregierung zur Lösung des Problems erkennbar - offensichtlich herrscht Ratlosigkeit. Lassen Sie nicht zu, dass
der Osten zum Altenheim Deutschlands wird!
Danke.
({5})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Christa Lörcher von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau
Eichhorn, während Ihrer Regierungszeit waren drei
Ministerinnen im Amt und keine davon hat die Altenpflegeausbildung bundeseinheitlich regeln können. Seit unserem Regierungsantritt ist eine Ministerin im Amt und
wir haben das bereits in dieser Legislaturperiode geschafft. Was die Rente angeht, so bitte ich Sie herzlich,
sich erst einmal sachkundig zu machen.
({0})
Herr Haupt, bei der Novellierung des Heimgesetzes ist
Mitbestimmung sehr wohl vorgesehen. Es freut mich,
dass Sie sich derart für die Mitbestimmung einsetzen. Sehen Sie sich die Vorschrift einfach noch einmal genau an!
({1})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich stelle
fest, dass in der Reihe der bisher vorgelegten AltenbeKlaus Haupt
richte mit diesem Dritten Altenbericht wichtige aktuelle
Grundlagen für eine differenzierte Einschätzung der Lage
der älteren Menschen bei uns sowie Leitlinien für eine Altenpolitik, die auf allen Ebenen die Menschenwürde und
die Rechte der Älteren in den Mittelpunkt stellt, geschaffen wurden.
({2})
In diesem Altenbericht ist besonders hervorzuheben,
dass durch alle Kapitel hindurch von den Ressourcen des
älteren Menschen in unserer Gesellschaft und von den
Ressourcen der Gesellschaft zur Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft für alle gesprochen wird.
Dies zeigt den Paradigmenwechsel in der Altenpolitik,
den wir in der Altenarbeit seit langem zu vermitteln versuchen, und zwar: weg vom Defizitmodell, das vor allem
Schwächen aufzeigt, hin zu einem Kompetenzmodell, das
auf Stärken und Fähigkeiten hinweist, diese weiterentwickelt und nutzt, zum Wohle des Einzelnen und der Gesellschaft.
({3})
Dieses veränderte Bild des Alters aufzunehmen, weiterzutragen und in den Köpfen der Menschen zu verankern sehe ich als eine der Chancen des Berichts und als
eine Aufgabe für uns alle. Für diese Weiterentwicklung zu
einem sehr differenzierten, ressourcenorientierten Bild
des Alters danke ich der Sachverständigenkommission
unter Leitung von Professor Kruse sehr herzlich.
({4})
Aus der Fülle des Materials und der Anregungen will
ich nur einige Bereiche herausgreifen:
Zum Ersten, Gesundheit und Pflege: Die Zahl der
über 60-Jährigen bei uns wird - das wissen wir alle - von
rund 18 Millionen Anfang 1999 voraussichtlich auf über
26 Millionen im Jahre 2030 anwachsen. Auch die Lebenserwartung wird weiter zunehmen; und zwar, so wird geschätzt, um rund ein Jahr je Dekade. Allein diese Vorausschätzungen machen deutlich, welch hohen Stellenwert
Gesundheitsförderung sowie medizinische, pflegerische
und - Frau Balt, das wollte ich Ihnen gerne sagen - auch
soziale Dienste haben und haben werden.
({5})
Zum Zweiten: Damit diese Dienste nicht nur in genügender Zahl angeboten werden, sondern qualifizierte Arbeit geleistet werden kann, müssen die entsprechenden
Berufsbilder in Bezug auf Theorie und Praxis von hoher
Qualität sein. Dies erfordert - wie die Kommission an
mehreren Stellen des Berichts betont - eine Stärkung von
Ausbildung, Weiterbildung, Pflegeforschung und Pflegewissenschaft.
Als Drittes: Unsere Gesellschaft wird bunter und vielfältiger. Von den bei uns lebenden 7,3 Millionen Menschen mit anderer als deutscher Nationalität ist erst ein
kleiner Teil in der nachberuflichen Lebensphase. Sie bilden aber die am stärksten anwachsende Gruppe unserer
Gesellschaft. Es ist jetzt und erst recht im Hinblick auf die
Zukunft wichtig, dass die Situation von Menschen mit
Migrationserfahrung aufgezeigt wird, zum Beispiel im
Hinblick auf ihre gesundheitliche Belastung oder die Zugangsbarrieren zu unseren Diensten. Wir begrüßen es daher, dass der Bericht Forderungen für diese gesellschaftliche Gruppe einbezieht.
({6})
Alter ist eine Lebensphase, die - so die Kommission mit Chancen und Anforderungen verbunden ist. Das gilt
für jedes Lebensalter, ist aber gerade für Menschen im
hohen Alter eine Herausforderung. Deshalb freue ich
mich, dass, kaum war der Dritte Altenbericht am 20. Juni
des letzten Jahres vorgelegt, am 1. Juli der nächste in Auftrag gegeben wurde: ein Bericht, der schwerpunktmäßig
Hochaltrigkeit und Demenzerkrankungen thematisiert.
Die demographische Entwicklung mit der Zunahme an
Älteren und der Zunahme an Lebenserwartung bietet den
Menschen in jedem Alter Chancen und Anforderungen:
dem 80-jährigen Diabetiker, der nach beidseitiger
Amputation im Rollstuhl sitzt, der 40-jährigen Ärztin, die
für ihre Arbeit den Schwerpunkt Geriatrie gewählt hat, genauso wie dem 20-Jährigen, der seinen Zivildienst beendet hat und überlegt, ob er einen Pflegeberuf erlernen soll.
Es sind Chancen für mehr Lebensqualität und Anforderungen durch komplexer gewordene Strukturen in Alltag
und Beruf.
41 der 81 Empfehlungen der Sachverständigenkommission beziehen sich auf den Bereich Gesundheit und
Pflege. Die wichtigste Botschaft dieser Empfehlungen ist:
Gesundheitserhaltung und -sicherung sowie Prävention
und Rehabilitation sind die beste Strategie, um die Lebensqualität in jedem Lebensalter zu verbessern, um aber
gerade auch in der letzten Lebensphase physische und
psychische Einschränkungen oder Multimorbidität zeitlich hinauszuschieben oder die Folgen abzumildern. Das
hat auch eine Anhörung bestätigt, die wir in der EnqueteKommission „Demographischer Wandel“ zum Thema
Gesundheit durchgeführt haben: Wir brauchen - genau
dieser Punkt ist entscheidend - Prävention und Rehabilitation.
Der größte Teil der Älteren bei uns - darauf ist heute
mehrfach hingewiesen worden - führt ein selbstständiges
Leben im eigenen Haushalt. Aber rund ein Drittel lebt in
Einpersonenhaushalten. Gerade deswegen ist es notwendig, vielfältige Formen des Wohnens anzubieten und sie
weiterzuentwickeln. Wir haben die Forderung nach dem
Mehrgenerationenwohnen in unserem Entschließungsantrag aufgenommen, weil wir das für sehr wichtig halten.
({7})
Anfragen von Betroffenen, Angehörigen und Pflegekräften, die Erfahrung in der Pflege Älterer und psychisch
Kranker haben - seit 20 Jahren kenne und erlebe ich diese
Arbeit -, betreffen immer wieder die Rahmenbedingungen in der Pflege. Wenn die Zahl der Pflegebedürftigen
genannt wird, dann wird immer, so auch im Dritten Bericht zur Lage der älteren Generation, die Zahl der Leistungsempfängerinnen und -empfänger in der Pflegeversicherung angeführt. Das ist zwar korrekt, spiegelt aber
nicht die Realität wider. Es gibt tatsächlich viel mehr
Pflegebedürftige, als die Statistik ausweist; denn auch
Menschen, die einen Pflegebedarf von weniger als 90 Minuten haben, sind pflegebedürftig. Sie werden allerdings
nicht von der Pflegeversicherung unterstützt. Auch diese
Menschen müssen wir in unseren Planungen berücksichtigen.
Ein großer Teil der Pflege und Betreuung wird im häuslichen Bereich geleistet. Rund 80 Prozent der Pflegenden
sind Frauen. Ihre Situation ist durch die Pflegeversicherung mit Hilfen in Form von Geld- oder Sachleistungen
und durch die inzwischen von uns vorgenommenen Änderungen in der Pflegeversicherung verbessert worden.
Aber bei zunehmend schwieriger werdender Pflege muss
dem Risiko der Überforderung der Pflegenden - ich
komme darauf bei der teilstationären Pflege zurück
- durch Entlastung entgegengewirkt werden.
({8})
Die Sicherung der Pflegequalität, die Erreichbarkeit
von pflegerischen und sozialen Diensten, die Versorgung
und Betreuung Schwerkranker und Sterbender nicht nur
in stationären Einrichtungen, sondern auch zu Hause in
der gewohnten Umgebung wird jedoch in Zukunft bei abnehmender Zahl jüngerer Menschen immer schwieriger
werden. Entscheidend ist deswegen, dass die Berufsbilder
in diesen Bereichen attraktiver werden und dass eine ausreichende Zahl an Pflegekräften für diese Aufgaben ausgebildet und weiterqualifiziert wird. Eine Aufwertung
und Neuordnung der Pflegeberufe ist im letzten Jahr
geschehen. Ich bin sehr dankbar, dass das Altenpflegegesetz demnächst in Kraft treten wird.
({9})
Sehr positiv sehe ich auch die Entwicklung in der teilstationären Pflege. Die Zahl der Tagespflegeeinrichtungen und -plätze ist in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Sowohl für die Tagesgäste wie auch für die zu Hause
Pflegenden bedeutet diese Form der Betreuung mit Sicherheit eine große Entlastung und eine Erhöhung der Lebensqualität. Ich möchte in diesem Zusammenhang kurz
von einer Einrichtung in Ulm-Wiblingen berichten: Dort
werden circa 25 Tagesgäste betreut. Es sind vorwiegend
Ältere mit demenziellen Erkrankungen. Ein Teil von ihnen
kommt aus der angegliederten stationären Einrichtung, die
anderen von zu Hause. Wir, eine Gruppe von Gästen, wurden dazwischengesetzt und nahmen am Singen, Essen und
an der gemeinsamen Kommunikation teil. Das war für alle
sehr lebendig und interessant. Den Ausbau solcher Angebote sehe ich als Chance für viele der zu Hause Gepflegten, gerade auch bei Demenzerkrankungen.
({10})
Auch für stationäre Einrichtungen gibt der Bericht
vielfältige Informationen und Anregungen. Ich will nur
die wichtigsten nennen, die sich in unserem Entschließungsantrag finden: Verbesserungen zu Standards
für Wohnen und Personalbemessung. Die Novellierung
des Heimgesetzes wird dazu beitragen; sie ist auf den Weg
gebracht.
Altenpolitik - das möchte ich abschließend sagen - ist
mehr als die finanzielle Absicherung im Alter. Lebensqualität hängt natürlich auch von finanziellen Ressourcen
ab; aber Lebensqualität im Alter bedeutet ebenso das Vorhandensein von vielfältigen Ressourcen in unserer Gesellschaft, bedarf vor allem aber unserer Solidarität und
Achtung. Bei den vorgeschlagenen Initiativen, Projekten
und Forschungsvorhaben werden wir Prioritäten setzen
und Schritt für Schritt an die Umsetzung gehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema Alter betrifft alle und nimmt an Bedeutung zu. Ich freue mich auf
die gemeinsame Weiterarbeit an diesem Thema.
Herzlichen Dank.
({11})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Klaus Haupt
das Wort.
Ich weiß, dass man Damen selten widersprechen soll. Da Sie, liebe Kollegin Lörcher,
mich aber persönlich angesprochen haben, will ich noch
etwas zu Ihnen sagen; dann kann ich heute Abend auch
wirklich beruhigt schlafen gehen.
Es wird nicht wahrer, wenn Sie schlicht behaupten, die
Novelle des Heimgesetzes sehe Mitbestimmung vor, und
mich dann auffordern, es nachzulesen. In der Novelle des
Heimgesetzes ist von Mitsprache und Mitentscheidungsrecht die Rede. In den §§ 2 bis 4, in denen der Wertekanon
aufgezählt ist, fehlt jedoch das Wort Mitbestimmung, weil
die Juristen, die das im Ministerium erarbeitet haben, befürchten, dass ein solcher Begriff ganz bestimmte juristische Konsequenzen nach sich ziehe. Ich empfehle also
wärmstens, dass wir beide nachlesen. Wenn Sie Recht haben
sollten, bezahle ich eine Flasche guten sächsischen Weines.
({0})
Zur Erwiderung, Frau Lörcher.
Herr Haupt, könnte es sein,
dass wir unter Mitbestimmung Unterschiedliches verstehen, dass Sie also eine ganz andere Vorstellung von Mitbestimmung haben als ich? Wenn ich in der Novelle des
Heimgesetzes sehe, dass Heimbewohnerinnen und -bewohner an Entscheidungen in vielen Bereichen beteiligt
werden sollen - die Heimträger kritisieren dies insbesondere in Bezug auf finanzielle Entscheidungen -, dann
kann ich Ihre Kritik nicht nachvollziehen. Die Stärkung
des Heimbeirats ist klar gegeben. Dass auch noch andere
Personen als Fürsprecher hinzugezogen werden können,
sehe ich nicht als Schwächung, sondern als Stärkung der
Stellung der Menschen, die ihren Lebensabend in einem
Heim verbringen.
({0})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Walter Link von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zu später
Stunde versuchen, Ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, indem ich den Dritten Bericht zur Lage der älteren Generation aus der Sicht der Demographie beleuchte. Verbesserte Lebens- und Umweltbedingungen, der Fortschritt in
der Medizin und ein gesundheitsbewusstes Verhalten der
Menschen haben dazu geführt, dass die durchschnittliche
Lebenserwartung von Frauen und Männern bei uns in
Deutschland weiterhin steigt. Wir wissen, dass in
Deutschland bis zum Jahre 2050 Frauen durchschnittlich
85 und Männer 80 Jahre alt werden. Das heißt, die Lebenserwartung wird in den nächsten Jahren um weitere
vier Jahre steigen. Es ist immer ein Wunsch der Menschen
gewesen, bei guter Gesundheit möglichst alt zu werden.
Diesem Wunsch sind wir schon sehr nahe gekommen.
Getrübt wird diese Tatsache nur dadurch, dass die Anzahl der Geburten auf einem relativ niedrigen Niveau verharrt. Gegenwärtig werden in Deutschland durchschnittlich weniger Kinder geboren, als zum Erhalt der
Bevölkerungszahl notwendig wären. Das heißt, die Bevölkerungszahl geht zurück. Wenn diese Entwicklung anhält, werden wir in Deutschland im Jahre 2050 nur noch
circa 70 Millionen Menschen sein. Der Altenbericht
spricht davon, dass dann 37 Prozent älter als 60 Jahre sein
werden. Die Zahl der Erwerbspersonen wird sich von gegenwärtig 41 Millionen auf knapp 34 Millionen - das ist
eine alarmierende Zahl - im Jahre 2050 verringern. Meine
Fraktion, die CDU/CSU, ist der Meinung, dass diese Entwicklung durch Zuwanderung im bisherigen Ausmaß gemildert, aber nicht grundsätzlich gestoppt werden kann.
Im Übrigen betrifft diese Entwicklung nicht nur die
Bundesrepublik; vielmehr ist die Situation auch in allen
anderen EU-Staaten ähnlich.
Das von mir geschilderte Szenario ist demographisch
relativ sicher vorhersehbar und stellt uns vor enorme wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Der Bericht
zur Lage der älteren Generation, den die Bundesregierung
am 17. Januar 2001 vorgelegt hat und über den wir heute
diskutieren, beschreibt vor diesem Hintergrund die Lebenssituation der älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem beschreibt der Bericht die zu
erwartenden gesellschaftspolitischen Herausforderungen
auch aus anderen Bereichen.
Dass Reformen dringend notwendig sind, stellt der Bericht der Sachverständigen auf analytisch gute Art und
Weise dar. Von den Sachverständigen, die von der früheren Bundesministerin Claudia Nolte im Januar 1998 berufen wurden, ist gute Arbeit geleistet worden. Sowohl
aus individueller, innerfamiliärer als auch aus gesellschaftlicher und ökonomischer Perspektive werden Defizite beschrieben und Empfehlungen an die Politik gegeben. - Empfehlungen, die mehr als die derzeitige
Situation und die Zukunft der älteren Generation beschreiben. Das war, so glaube ich, auch notwendig, weil
wir auf diesem Gebiet mithalten müssen.
Auch die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“, die in
der zweiten Legislaturperiode unter meinem Vorsitz tagt,
befasst sich mit den Auswirkungen einer älter werdenden
Gesellschaft und deren Folgen. Der Schlussbericht der
Enquete-Kommission hat allerdings nicht nur die ältere
Generation im Blick; sondern untersucht das Verhältnis
der Generationen unter ökonomischer, gesellschaftlicher
und politischer Perspektive.
Es geht in diesem Zusammenhang auch um Generationengerechtigkeit, die die sozialpolitische Grundlage
unserer Gesellschaftsordnung darstellt. Das beinhaltet jedoch auch die Betrachtung der Grenzen der Finanzierbarkeit unserer Sozialversicherungssysteme bzw. der
Grenzen der materiellen Leistungsfähigkeit unseres Sozialstaates insgesamt. Es kommt darauf an, auf der Grundlage vorliegender Analysen - an dieser Stelle wird der Bericht der Enquete-Kommission ausreichend Material
bieten - heute die Weichen für die Demographietauglichkeit unseres Sozialsystems zu stellen. Der Bericht der
Bundesregierung zur Lage der älteren Generation wird
darum im Schlussbericht der Enquete-Kommission mit
seinen analytischen Ergebnissen entsprechend sicherlich
gewürdigt werden.
Die Sachverständigenkommission spricht im Bericht
Empfehlungen für die medizinische Versorgung, für die
Versorgung psychisch Kranker, für das Pflegesystem, für
eine lebenslauforientierte, altersneutrale Politik der
Beschäftigungsförderung, für innerfamiliäre Netzwerke
und für vieles mehr aus. Diese Empfehlungen fordern von
unserer Seite ein Umdenken in der Politik.
Trotz der Freude über das Älterwerden der Menschen
müssen wir auch gravierende Gesundheitsbeeinträchtigungen im Alter realistisch zur Kenntnis nehmen. Die
Häufigkeit von Demenzen nimmt mit steigendem Alter
erheblich zu. Bei 80- bis 84-Jährigen liegt sie bei 11 Prozent, bei über 90-Jährigen bei 31 Prozent, also bei ungefähr einem Drittel. Verantwortliche Politik muss darauf
reagieren.
({0})
Meine Fraktion, die CDU/CSU, weist seit langem auf
eine notwendige Verbesserung der Leistungen für Demenzkranke im Rahmen der Pflegeversicherung hin. Der
vorliegende Bericht bestätigt unsere Forderungen. Jetzt
warten wir auf einen Gesetzentwurf der neuen Gesundheitsministerin, die für einen guten Vorschlag die Unterstützung meiner Fraktion erhalten wird.
Wir brauchen nicht nur eine den gesellschaftlichen
Veränderungen angepasste Seniorenpolitik, sondern eine
diesen Veränderungen angepasste Gesellschaftspolitik.
Heute sind in Deutschland nur noch - bei einem anderen
Tagesordnungspunkt haben wir darüber gesprochen circa 37 Prozent der Erwerbstätigen im Alter von 55 bis
60 Jahren im Arbeitsprozess aktiv. Die Ursachen dafür
sind neben gesundheitlichen Faktoren, die zur Erwerbsund Berufsunfähigkeit führen, Frühverrentungen und eine
jugendzentrierte Einstellungspolitik der Unternehmen.
Wenn es nun gelänge, dieses Potenzial an qualifizierten Arbeitskräften länger im Erwerbsleben zu halten, dann
würde sich das, wie sich leicht vorstellen lässt, auf die gesamte Sozialversicherung auswirken.
({1})
Die deutsche Wirtschaft sollte nicht auf die Erfahrung ihrer Älteren verzichten. Darum darf lebenslanges Lernen
nicht nur ein Konzept bleiben.
({2})
Lassen Sie mich noch eines sagen: Wir haben weder
Rentnerberge noch eine alte, graue Gesellschaft. Auch
diskutieren wir nicht über den Altenbericht, wie es die
Bundesregierung in ihrer Presseerklärung tut. Wir sprechen über das positive Potenzial, das ältere Menschen in
der Gesellschaft darstellen.
({3})
Meine Fraktion, die CDU/CSU, ist der Meinung, dass
wir, wenn wir die aus der demographischen Entwicklung
entstehenden Anforderungen richtig, überlegt und tabulos
angehen, eine große Chance haben, diese Anforderungen
in der Zukunft zu meistern. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten!
Wer nur einen Funken von der Arbeit versteht, die Hunderttausende Altenpflegerinnen und Altenpfleger und alle
im Ehren- und Hauptamt Tätigen für unsere älteren Menschen in der Bundesrepublik tun, versteht, dass ich für
meine Fraktion ein herzliches Wort des Dankes an diese
im Haupt- und Ehrenamt Tätigen richte.
({4})
Danke schön.
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5130 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag auf Drucksache 14/5322 soll zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend und zur Mitberatung an den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung, den Ausschuss für Gesundheit,
den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sowie den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung überwiesen werden. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr.-Ing. Rainer Jork, Ilse Aigner, Günter Baumann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Nutzung von Geoinformationen in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 14/3214, 14/4139 Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Rainer Jork von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Geoinformationstechnik ist ein wesentlicher Nutzungsbereich der
Informationstechnik. Geoinformationen beschreiben Zustände, Prozesse und Entwicklungen auf, über und unter
der Erdoberfläche. Was abstrakt klingt, erschließt sich am
ehesten, wenn man sich Anwendungsbeispiele aus dem
täglichen Leben vor Augen führt. Die Wanderkarte für den
Wochenendausflug, der Wetterflug am Ende der Fernsehnachrichten oder das Navigationssystem im PKW, all
dies wäre ohne Geoinformationen nicht möglich.
Etwa 80 Prozent aller erhobenen Daten weisen einen
räumlichen Bezug auf, zum Beispiel in Form von zugehörigen Koordinaten, Ortsbezügen, Lagebeschreibungen und Adressen. Damit sind Geoinformationen als infrastrukturelle Voraussetzung für die Verbesserung der
Lebensbedingungen heute von ähnlicher Bedeutung wie
früher Straßen und Schienenwege. Geoinformationen haben einen überaus interdisziplinären und dynamischen
Charakter. Sie sind ein Rohstoff, der es ermöglicht, durch
die Zusammenführung mit anderen Informationen neue
Informationen, Produkte und Dienstleistungen zu schaffen. Gerade mittelständische Dienstleister können hiervon sehr profitieren.
Wenn der frühere Bundespräsident Roman Herzog einst
einen Ruck forderte, der durch Deutschland und dessen
Bildungs- und Wissenschaftssystem gehen müsse, hat er
wohl nicht die Einführung der Green Card und die Anwerbung ausländischer Fachkräfte gemeint. Green-Card-Aktionen in der Informationstechnik greifen allenfalls kurzfristig. Es ist absolut notwendig, künftig kontinuierlicher
und effektiver als bisher die neuen Wissensbereiche und
Hochtechnologien in Deutschland zu fördern, besonders
die Informationstechnik.
Deutschland hat auf dem Geoinformationsmarkt im
internationalen Vergleich akuten Nachhole- und Handlungsbedarf. Das Finanzvolumen des deutschen Marktes
für Geoinformationen erreichte 1999 etwa 220 Millionen DM und 7 000 Arbeitsplätze. Das geschätzte Wachstum liegt zwischen 10 und 30 Prozent pro Jahr.
In den USA rechnet man mit weitaus höheren Wachstumsraten, vor allem wegen der dort besseren staatlichen
Rahmenbedingungen.
({0})
Dort ist die enorme Bedeutung von Geoinformationen
seit langem erkannt. Präsident Clinton hat bereits 1994
eine entsprechende Order zur Koordinierung erlassen. Die
USA fördern den Aufbau einer Geodateninfrastruktur mit
mehreren Milliarden Dollar und amtliche Daten werden
nahezu kostenlos abgegeben. Insbesondere amerikanische
Unternehmen drängen mit aller Macht auf den internatioWalter Link ({1})
nalen Markt und verkaufen orts- und raumbezogene Daten
zur weiteren Nutzung.
Das Hauptproblem in Deutschland ist sicher nicht der
quantitative Mangel an Geodaten und auch nicht deren
Qualität. Das speziell deutsche Problem besteht darin,
dass die amtlichen Daten unter Länderhoheit erhoben
werden und die Datenformate zu wenig aufeinander abgestimmt und kompatibel sind.
Zudem kommt es oft zu Mehrfacherfassungen. Geoinformationen werden nämlich auch in der Privatwirtschaft
in großem Umfang erfasst.
Damit kann es vorkommen, dass parallel ähnliche Datenbestände entstehen. Diese Mehrfacherfassungen von
Geoinformationen sind volkswirtschaftlich unsinnig.
Nötig wäre ein zentrales Auskunftssystem, das dem Interessierten Hinweise gibt, wo welche Daten in welcher
Qualität verfügbar sind.
({2})
Im Bereich der amtlichen Geodaten gibt es immerhin
erste Verbesserungsansätze durch das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie, das seit 1996 zentral Geodaten
aus den Ländern sammelt.
({3})
Damit wird aber das Problem nicht gelöst, auf das ich
bei meinen Kontakten mit der Wirtschaft vielfach angesprochen wurde. Es wird beklagt, dass die Preise für die
amtlichen Geodaten oft zu hoch sind. Gerade kleinere Unternehmen mit wenig Eigenkapital, vor allem in den
neuen Bundesländern, können sich den Einkauf nicht leisten. Um marktfähige Produkte aus oft inhomogenen Daten herzustellen, entstehen ohnehin noch hohe Entwicklungskosten.
Hinzu kommt, dass von den Landesvermessungsämtern der Bundesländer bei der Datenabgabe vielfach unterschiedliche Nutzungsbedingungen festgelegt werden.
Das erleichtert nicht gerade den länderübergreifenden
Einsatz der Daten.
Ohne also die föderale Struktur Deutschlands infrage zu
stellen, muss doch festgestellt werden, dass die föderale
Hoheit über öffentliche Daten besondere Schwierigkeiten
bereitet. Solange 16 Bundesländer über die Erhebung,
Bereitstellung und Vermarktung von Geodaten einzeln bestimmen, so lange scheint es für die wertvollen Informationen keine wirkliche Lösung des Verfügbarkeitsproblems zu geben. Es fehlt eine ordnende Hand, die
politische Führung, welche die Länderdaten auf Bundesebene koordiniert und Ordnung in das Chaos bringt.
({4})
Da Geoinformationen wesentlich mehr als die amtlichen Geodaten der Länder umfassen, kann die föderale
Aufgabenteilung völlig unangetastet bleiben. Der Bund
muss eine politische Führungsrolle übernehmen mit dem
Ziel, eine funktionierende Geodateninfrastruktur für den
gesamten Geoinformationsmarkt, also den privaten wie
den öffentlichen Teil, zu schaffen. Als positives Beispiel
hierfür mag die Organisation des Rundfunks gelten.
Um das Problem anzugehen, hat noch die alte Bundesregierung im Jahre 1998 einen ständigen Interministeriellen Ausschuss für Geoinformationswesen, IMAGI,
unter der Federführung des BMI eingerichtet. Leider hat
dieser Ausschuss das Geoinformationswesen in Deutschland bisher noch nicht entscheidend vorangebracht.
({5})
Nach dem Beschluss der alten Bundesregierung von
1998 sollte „zur besseren Vertretung der deutschen Interessen im Ausland, insbesondere gegenüber der EU, ein
hochrangiger Vertreter auf Bundesebene in Fragen der
Geoinformation nach außen eingesetzt werden.“
Ich beklage, dass die benannte Vorsitzende des IMAGI,
Frau Staatssekretärin Zypries, zumindest öffentlich bisher
kaum in Erscheinung getreten ist. Ich sehe sie auch jetzt
nicht.
({6})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat im April 2000
die Große Anfrage „Nutzung von Geoinformationen in
der Bundesrepublik Deutschland“ an die Bundesregierung
gerichtet, um den öffentlichen Missständen abzuhelfen.
({7})
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Anfrage
liegt nun vor.
({8})
- Sie können gerne eine Frage stellen. - Sie ist im Wesentlichen mit erheblicher Sorgfalt erstellt worden. Die
besondere Rolle der Geoinformation als Technologie- und
Wirtschaftsfaktor wurde augenscheinlich erkannt. Es liegt
jetzt eine umfassende Bestandsaufnahme der Aktivitäten
auf Bundesebene vor.
Bei dieser Bestandsaufnahme handelt es sich allerdings in erster Linie um eine Sicht auf die amtlichen Daten, die von Bundesstellen erfasst werden. Die Situation
des deutschen Geoinformationswesens insgesamt - also
auch die Einbeziehung der Wirtschaft - ist aus der Antwort weitgehend ausgeklammert.
({9})
Damit wird zwar ein wichtiger, aber eben nur ein Teil des
Problems behandelt.
Besonders bedauerlich ist, dass der Antwort der Bundesregierung deutlich entnommen werden kann, dass offensichtlich nach wie vor keine Bereitschaft besteht, einen
hochrangigen politischen Vertreter auf Bundesebene für
Fragen der Geoinformation zu benennen, der in dem eben
genannten Sinn tätig wird.
({10})
- Da bin ich gespannt, welchen Namen Sie nennen. - In
vielen Punkten enthält die Antwort lediglich Absichtserklärungen. Beschrieben ist, was man für sinnvoll und
wichtig hält.
({11})
Konkrete Taten und Aktionspläne fehlen dagegen.
Um eine spürbare Stimulierung des deutschen Geoinformationsmarktes zu erreichen, sind jetzt konkrete
Schritte und politische Initiativen zu ergreifen. Die Wichtigsten sind im vorliegenden Entschließungsantrag der
CDU/CSU genannt.
({12})
Ich nenne einige der Forderungen an die Bundesregierung: Bekennen Sie sich klar zur Zuständigkeit auch des
Bundes in Fragen der Geoinformation! Benennen Sie
endlich einen hochrangigen politischen Vertreter, der die
Koordination innerhalb der EU und mit den Aktivitäten
der Länder übernimmt!
({13})
- Warum stellen Sie keine Zwischenfrage? Ich frage Sie:
Warum stand in Ihrem ersten Antrag ebenfalls diese Forderung? Es hat sich doch in der Zwischenzeit nichts geändert.
Sorgen Sie für eine Vereinheitlichung der Datenformate bzw. für die Kompatibilität der erhobenen Daten!
Bauen Sie ähnlich wie in den USA eine nationale Geodateninfrastruktur auf! Unterstützen Sie die Hersteller und
auch die Anwender von Geoinformationssystemen!
Ich darf daran erinnern, dass der Bundeskanzler gesagt
hat, die Informationstechnik sei Chefsache. Chefsache
war auch der Aufbau Ost. Ich habe aber den Eindruck,
dass beide Chefsachen Akte ein und desselben Theaterstücks sind. Entwickeln Sie endlich einen Katalog konkreter Maßnahmen, die eine gemeinsame, effektive Nutzung und Erhebung von Geoinformationen durch
Wirtschaft, Wissenschaft und Staat gewährleisten und befördern!
({14})
Noch etwas Grundsätzliches: Unsere Probleme dürfen
nicht auf Kosten anderer Länder gelöst werden. Der wissenschaftliche Nachwuchs sowie Bildung und Forschung
in unserem Lande müssen dringend und weit besser als
bisher gefördert werden. Ich fordere die Bundesregierung auf, hier das Nötigste zu tun. Sonst ist auch das Problem der Geoinformation in Deutschland nicht wirklich
lösbar.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Für die
SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Margrit Wetzel das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wissen Sie, wo Ekapa liegt? Kennen Sie Kapkaupunki? Nein? - Doch! Denn Sie alle kennen Kapstadt. Dieses kleine Beispiel zeigt schon, wie
wichtig die internationale Verbindlichkeit von Namen ist.
Allein diesem Randthema der Nutzung von Geoinformationen wird im Herbst 2002 eine internationale Tagung
der Vereinten Nationen in Berlin gewidmet sein.
Daten sind weder trocken noch verstaubt oder langweilig, sondern sie sind der Schlüssel zu einem hochdynamischen Wachstumsmarkt mit sehr qualifizierten neuen
Arbeitsplätzen. Lassen Sie mich deshalb einige Beispiele
nennen:
Navigationssysteme. Der Autopilot auf Basis der elektronischen Seekarte macht nautisch schwierigste Schiffspassagen mit der führerlosen Brücke technisch möglich.
Ein anspruchsvolles Navigationssystem im PKW wird für
den Verbraucher bezahlbar. Im LKW führt die elektronische Routenplanung zu einer optimalen Auslastung der
Fahrzeuge. Leerfahrten können vermieden werden. Das
ist aktiver Umweltschutz und CO2-Reduzierung dank
Geodatenmanagement.
({0})
Ist Ihnen bewusst, dass die modernen Handydienstleistungen nur auf der Basis zuverlässiger Geodaten möglich
sind?
Nehmen wir Land- und Forstwirtschaft: Waldschadenserfassung, Bodenschutz durch sparsamste Düngung,
Ernteschadenversicherung, Kontrolle flächenbezogener
Beihilfen - alles wird wirtschaftlich überschaubar, ist bereits jetzt weder personal- noch kostenintensiv technisch
möglich.
Oder BSE: Hilfestellung durch Visualisierung über
Geodaten, Tierbestände, BSE-erkrankte Tiere, Einzugsbereiche, Hauptlieferrichtungen bestimmter Futtermittelhersteller, Milchaustauscher, selbst die Häufigkeit der
Dasselfliegenbekämpfung - all das kann mithilfe von Geodaten optisch überlagert werden, um daraus erste Ansätze
zur Lösung wichtiger aktueller Fragestellungen abzuleiten.
Oder nehmen wir die Raumplanung, zum Beispiel die
Findung einer Autobahntrasse: Planung wird exakter; Bürgerbeteiligung kann, wenn sie gut vorbereitet ist, Konflikte
entschärfen, statt sie zu produzieren. Wer optisch großflächig projiziert, welche Nutzungen und welche Nutzungskonflikte es wo gibt, Naturschutzgebiete, Moore,
Flussverläufe mit notwendigen Querungsbauwerken aufzeigt, Einwohnerverteilungen, Belastungskorridore überlagert, findet nicht nur die konfliktärmste Trasse schneller,
sondern kann sie auch sofort anschaulich darstellen und
begründen.
Oder das Beispiel der Hilfe im Katastrophenfall,
beim Oder-Hochwasser: Über Erdbeobachtung und durch
Satellitendaten war konkrete, zielgenaue Hilfe, Vorsorge
und Evakuierung schneller möglich als jemals zuvor.
Geodaten, aktuell, zuverlässig und von gleichbleibender Qualität, sind öffentliche Infrastruktur mit ständig zunehmenden, grenzenlosen Anwendungsmöglichkeiten.
({1})
Deshalb wollen wir die anwendungsorientierte Forschung
fördern, damit insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen durch die uneingeschränkte, zuverlässig verfügbare Nutzung dieses spannenden Zauberlehrlings neue
Chancen gegeben werden.
({2})
Deutschland nimmt in Qualität und Stand seiner Geodaten noch eine internationale Spitzenstellung ein.
({3})
- Neuerdings, das stimmt. - Aber sie ist durch die weltweite Konkurrenz gefährdet. Denn aus Indien kommen
nicht nur Green-Card-Inhaber. Wir sind zum Beispiel
auch darauf angewiesen, in Indien produzierte Satellitenbilder zu kaufen, weil uns leider Staatsverschuldung und
Zinsbelastung die Hände binden, sodass wir vom Finanzminister keine Mittel für einen eigenen Satelliten zur Erdbeobachtung fordern können. Und wer uns die Staatsverschuldung eingebrockt hat, das brauche ich hier, glaube
ich, nicht zu betonen.
Der Interministerielle Ausschuss für Geoinformationswesen und sein Konzept eines effizienten Geodatenmanagements finden deshalb unsere überzeugte und
absolut engagierte Unterstützung.
({4})
Die selbstkritische Bereitschaft, ein noch effizienteres
Management im eigenen Zuständigkeitsbereich zu entwickeln, ist hervorragend. Aber wir brauchen bis in die
Ebene der Gemeinden hinein die Bereitschaft, das moderne Datenmanagement angemessen und zügig zu nutzen.
({5})
Wir wollen den noch vorhandenen Vorsprung Deutschlands auch politisch nutzen - Sie müssen unseren
Entschließungsantrag nur einmal anständig lesen, Herr
Jork -,
({6})
um die internationale Kooperation, die Kompatibilität der
internationalen Daten, Normung und Nutzung EU-weit
voranzutreiben.
({7})
Deutschland soll in den entsprechenden EU-Gremien
hochrangig und kompetent vertreten sein.
Ich danke speziell Frau Staatssekretärin Zypries für
ihren überzeugenden Einsatz als Leiterin des IMAGI.
Ich hoffe, dass diese parlamentarische Debatte, die immerhin die allererste zu diesem Thema ist, dazu beiträgt,
diesem Thema die notwendige öffentliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen
({8})
- ja, auch das erstmals -, damit Wirtschaft, Verwaltung
und Politik die vor uns liegenden Wertschöpfungspotenziale erkennen, begreifen und umsetzen.
Frau Kollegin Wetzel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Jork?
Ja, wenn er das möchte.
Bitte
schön, Herr Jork.
Liebe Kollegin
Wetzel, Sie haben vorhin nicht gefragt. Ich nehme mir
jetzt die Freiheit zu fragen.
Ich möchte versichern, dass ich Ihren Entschließungsantrag „anständig“ gelesen habe. Ich habe auch dessen
erste Fassung sehr „anständig“ gelesen. Deshalb meine
Frage: Können Sie mir einmal erklären, weshalb wesentliche Forderungen, die auch in unserem Entschließungsantrag enthalten sind, in der zweiten Fassung Ihres Antrages nicht mehr vorkommen?
({0})
In der ersten Fassung des Antrages der SPD stand nämlich, dass Sie fordern, dass ein höherer Vertreter der Regierung diese Aufgabe wahrnimmt. In der zweiten Fassung fehlt dieser Punkt.
Bei „anständigem“ Lesen hatte ich einfach Probleme,
die Zusammenhänge zu verstehen. Seien Sie so nett und
erklären Sie sie mir bitte!
Herr Jork, das erkläre ich
Ihnen gerne. Dieser Antrag ist mehr oder weniger von mir
geschrieben worden. Ich habe ihn abgestimmt
({0})
mit Arbeitsgruppen, mit anderen Vertretern. - Nein, nicht
abgeschrieben, sondern abgestimmt. - Ihren Antrag kannten wir nicht. Ich habe ihn heute erst erhalten. Es gibt weder einen ersten noch einen zweiten Antrag. Es gibt einen
Entwurf, der im Umlauf war und an dem geringe redaktionelle Änderungen vorgenommen wurden.
({1})
- Moment, diesen Antrag müssen Sie mir erst einmal zeigen. Wir haben die CDU/CSU-Fraktion nicht in unsere
Beratungen einbezogen. Mir ist das nicht bekannt. Ich
weiß nicht, welcher Entwurf Ihnen vorgelegen haben soll.
({2})
Auf jeden Fall ist an der hochrangigen politischen Vertretung Deutschlands in den EU-Gremien nie irgendetwas
geändert worden. Wir wollen, dass Deutschland dort vertreten ist. Nichts anderes ist der Fall.
({3})
- Einen Dialog gibt es doch nicht, oder, Herr Präsident?
Nein, es
gibt keinen Dialog.
({0})
Es sei denn, Sie würden eine weitere Zwischenfrage des
Kollegen Jork zulassen.
Ich lasse sie zu.
Bitte
schön, Herr Jork.
Frau Kollegin
Wetzel, haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen den
ersten Antrag, der von Herrn Tauss unterschrieben worden ist, gleich einmal gebe? Ich suche ihn aus meiner Tasche heraus.
({0})
Dann wissen Sie, wie bei Ihnen der Entwicklungsgang
war, und wir könnten im Nachgang - wenn es Ihnen Recht
ist - darüber sprechen. Ich lege Ihnen diesen Antrag gleich
vor; ich habe ihn hier.
Darauf antworte ich Ihnen
gerne. Ein Antrag von Herrn Tauss hat bei uns in der
Fraktion und auch in den Arbeitsgruppen nicht vorgelegen.
({0})
- Es ist so. Ich weiß beim allerbesten Willen nicht, was
Sie in der Hand haben. Herr Tauss hat einige Ergänzungsvorschläge gemacht - das ist sicherlich auch bei Ihnen in der Fraktion üblich - und die sind alle aufgenommen worden.
({1})
Ich weiß beim besten Willen nicht, welche geheimnisvollen Quellen Sie haben. Ich denke, Sie schaden damit dem
Thema. Das ist absolut absurd.
({2})
Ich möchte die letzten Sekunden meiner Redezeit dafür
nutzen, etwas zu Ihrem Antrag zu sagen: In der Sache
wollen Sie mit Ihrem Antrag das Geodateninformationswesen unterstützen. Ihr Antrag ist - wenn Sie ihn
mit unserem vergleichen, werden Sie das feststellen - wesentlich schlechter als unserer.
({3})
Wir brauchen weder einen Maßnahmenkatalog für Öffentlichkeitsarbeit noch ein Bekenntnis der Bundesregierung. Das ist Quatsch! Wir brauchen auch keine qualifizierte Erhebung der wirtschaftlichen Bedeutung. Die
Märkte werden die neuen Anwendungen aufsaugen wie
ein Schwamm. Sie werden eine solche Eigendynamik entwickeln, dass Sie noch staunen werden.
Wir greifen dieses Thema auf und setzen uns überzeugend dafür ein. Wir wünschen dem IMAGI einen durchschlagenden Erfolg und werden unserem Entschließungsantrag zustimmen.
({4})
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Ulrike Flach
von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wenn ich nur die wichtigsten Anwendungen
von Geoinformationen aufzählen wollte, wäre meine Redezeit - sie ist für die Liberalen knapp bemessen - bereits
nach dieser Aufzählung zu Ende. Von A wie Altlastenkartierung bis Z wie Zivilschutz reichen die Nutzungsmöglichkeiten. Sie können froh sein, dass mir zu dieser fortgeschrittenen Stunde nur eine Redezeit von dreieinhalb
Minuten zusteht und ich mich daher kurz fassen muss.
Die Antwort auf die Große Anfrage der Union ist zwar
sehr umfangreich, hinterlässt aber auch Verwirrung. Denn
mehr als 200 Fachaufgaben mit Geodatenbezug werden
allein in 55 Einrichtungen mit Bundeszuständigkeit wahrgenommen;
({0})
von den Ländern und der EU ganz zu schweigen. Ich freue
mich, dass heute auch Zuhörer der Länderebene anwesend sind, die ja offensichtlich betroffen sind.
({1})
- Schauen Sie genau hin.
({2})
Damit kommen wir zu einem der Kernprobleme: zur
mangelnden Koordination und Harmonisierung von Datenerhebungsmethoden und Datenkriterien sowie zur
Aufbereitung und Verfügbarkeit. So dauert es leider in
manchen Katasterämtern inzwischen fünf Jahre, ehe eine
neue Grundstücksgrenze wirklich vermessen und eingetragen ist. Zwar ist die Datengenauigkeit in Deutschland
einmalig - das bestätigt uns jeder -; aber für Unternehmen, die als Nutzer von Geodaten zum Beispiel für Standortentscheidungen Datenprodukte brauchen, sind die
Zeitabläufe zu lang. Gerade länderübergreifende Daten
passen nicht zusammen und sind viel zu teuer.
Liebe Kollegen, es fehlt eine homogene Systemlandschaft. Das heißt, Daten müssen immer wieder - darauf
haben die beiden Vorredner schon hingewiesen - zwischen unterschiedlichen Computersystemen neu konfiguriert werden. Wir brauchen einen möglichst auch in der Industrie verwendeten Standard und keine langen Debatten
- wie heute Abend - über die Weiterentwicklung der einheitlichen Datenbankschnittstelle.
Die Einrichtung des Interministeriellen Ausschusses
für Geoinformationswesen war sinnvoll - wir stimmen
ihr zu -, dieser muss aber deutlich an Kooperationsfähigkeit mit der Wirtschaft gewinnen. So, wie der Kanzler die
Landwirtschaft von der Ladentheke her denken will, müssen wir Geoinformationen von der Nutzerseite her denken.
({3})
Der Zugriff für die Bürger, die Datenumsetzung und die
Transparenz müssen verbessert werden.
Liebe Kollegen, in beiden Entschließungsanträgen,
über die wir heute abstimmen, sind gute Forderungen enthalten, um die Nutzung und Anwendung von Geoinformationen voranzubringen. Aus diesem Grunde wundere
ich mich über die etwas erregte Diskussion. Das, Herr
von Klaeden, ist offensichtlich bei einigen Kollegen darauf zurückzuführen, dass sie den Inhalt nicht kennen.
({4})
Der Unionsantrag geht aus meiner Sicht weiter. Seine
Annahme würde uns - da stimme ich Ihnen zu, Herr
Dr. Jork - endlich eine Person bringen, die auf Regierungsebene Ansprechpartner im Wust der Geoinformationen ist. Deshalb stimmen wir Ihrem Antrag zu.
({5})
Der Koalitionsantrag setzt zwar Akzente in die richtige
Richtung, aber, ehrlich gesagt: Sie könnten Ihrer Bundesregierung ruhig etwas mehr Dampf machen. Denn
schließlich sind Sie jetzt dran.
({6})
Wir hätten die Möglichkeit, zu einer transparenteren, nutzerfreundlichen Geoinformationspolitik zu kommen. Deshalb werden wir uns bei Ihrem Antrag enthalten.
({7})
Ich hätte mir gewünscht, dass angesichts der grundsätzlichen Übereinstimmung auf diesem Gebiet ein gemeinsamer Antrag von uns allen entstanden wäre. Bis vor wenigen Minuten habe ich mir gewünscht, dass dies auch bei
einem Bereich der Geoinformationen möglich ist, für den
ich in meinem früheren Leben als Umweltpolitikerin gearbeitet habe: beim satellitengestützten Umweltmonitoring.
({8})
Nun höre ich vom Kollegen Fischer, dass dieser Antrag im
Umweltausschuss erneut gescheitert ist. Das bedaure ich,
liebe Kollegen. Das wäre eine Möglichkeit gewesen, gemeinsam etwas voranzubringen.
({9})
Wir sollten daran arbeiten, dass wir das in Zukunft etwas
besser machen.
({10})
Ich erteile dem
Abgeordneten Hans-Josef Fell das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Jork, natürlich schauen auch wir neidisch in die
USA. Dort werden Milliardenbeträge für den Aufbau von
Geoinformationssystemen ausgegeben. Aber die USA
haben eben einen geordneten Haushalt. Hätten Sie uns einen geordneten und nicht überschuldeten Haushalt
hinterlassen, könnten wir auch mehr Mittel für den notwendigen Aufbau dieser Datensysteme zur Verfügung
stellen.
({0})
Ich fand den größten Teil Ihrer Rede völlig in Ordnung,
denn es ist unbestritten: Geoinformationsdaten sind wertvolle Daten, die in vielen Bereichen die Grundlage sinnvollen planerischen Handelns bilden. Bündnis 90/Die
Grünen und die SPD unterstützen daher alle Bestrebungen, eine weitere Verbesserung der Gewinnung, der Verarbeitung und der Nutzung von Geoinformationen voranzutreiben.
Lassen Sie mich zunächst einige Schwerpunktbereiche
aufzeigen, in denen Geoinformationen unverzichtbar sind
und praktisch die Grundlage für gezieltes und erfolgreiches Handeln darstellen.
Auswirkungen der Klimaveränderungen zeigen sich
zuerst im globalen Maßstab. Einzelbeobachtungen vor
Ort sind wenig hilfreich und führen häufig zu Fehleinschätzungen. Geoinformationen bieten die wichtigste Datenbasis für klimabedingte Veränderungen, sei es die Ausbreitung von Wüsten, das Abschmelzen von Gletschern,
der Anstieg des Meeresspiegels, das Abholzen von Wäldern, Sedimentationen oder Bodenerosionen, und auch
für den Hochwasserschutz. Viele für die menschliche Daseinsvorsorge unverzichtbare Wissensgrundlagen finden
sich in den Geoinformationen.
Meine Aufzählung ist lange nicht vollständig und beinhaltet im Wesentlichen auch nur den Umweltbereich.
Mir ist sehr wohl bewusst, dass Geoinformationen auch in
anderen Bereichen wie der Informationstechnologie, der
Infrastruktur, der Wirtschaft, der Landwirtschaft und der
Verwaltung sehr wichtig sind. Vor allem mit der Raumfahrt, über Satelliteninformationen, lassen sich solche Daten umfassend erheben.
Wie wichtig diese Erhebung von Geodateninformationen für Bündnis 90/Die Grünen und für die Bundesregierung ist, wurde schon im Januar 2000 deutlich, als das
Umweltministerium einen viel beachteten Workshop zur
Fernerkundung für Umwelt, Natur und Landschaft organisiert hat. Frau Probst als wichtigste Koordinatorin und
Minister Trittin haben diesen Workshop initiiert. Diese
Fernerkundungsdaten liegen heute vor, und wir orientieren uns auch an diesem Workshop.
Das letzte herausragende Ereignis für die Fernerkundung war die von der Bundesregierung maßgeblich unterstützte SRTM-Mission des Spaceshuttle Endeavour. Eine
immense Datenflut mit der präzisen dreidimensionalen
Vermessung der bewohnten Erdoberfläche wurde gesammelt.
Ich selbst konnte vor wenigen Wochen beim Deutschen
Luft- und Raumfahrtzentrum in München/Oberpfaffenhofen die ersten beeindruckenden Auswertungen der
SRTM-Mission miterleben.
Bündnis 90/Die Grünen sehen aufgrund der wertvollen
Ergebnisse daher den Schwerpunkt der Raumfahrtforschung gerade in der Erdbeobachtung. Wir haben uns immer dafür eingesetzt
({1})
und werden auch in Zukunft weiterhin dafür arbeiten,
Frau Flach, dass die Mittelausstattung für die Erdbeobachtung vor allem in der kosteneffizienten unbemannten
Raumfahrt den Erfordernissen angepasst wird.
({2})
Die noch lange nicht bewältigte Datenflut der SRTMMission ist ein Beispiel dafür dass auch die Datenauswertungen und die Datennutzungen verbessert werden
müssen und können. Noch immer liegen Daten brach, die
einer wichtigen Nutzung zugeführt werden könnten. Allerdings liegt dies auch darin begründet, dass der Aufbau
einer entsprechenden Nutzungsinfrastruktur naturgemäß
nicht mit der Erfassung der Datenfülle Schritt halten kann.
Die Bundesregierung hat, wie die vorliegende Antwort
auf die Große Anfrage der CDU/CSU zeigt, wesentliche
Verbesserungen vorangetrieben und arbeitet weiterhin aktiv und erfolgreich an Verbesserungen.
({3})
Mit der Einrichtung des Interministeriellen Ausschusses
für Geoinformationswesen wurde die Koordination maßgeblich gefördert.
Da hauptsächlich die Länder für die Bereitstellung der
Geoinformationsdaten zuständig sind, hat die Bundesregierung mit der Bund-Länder-Vereinbarung vom
1. September 1999 bereits die Grundlagen für eine Vereinfachung der Nutzung angestoßen. Fachdatenzentren
sind an verschiedenen Bundesämtern im Aufbau. Der öffentliche Zugang zu den Geoinformationen wurde laufend verbessert, zum Beispiel über das Internet.
Mit Millionenbeträgen wurden verschiedene Projekte
von Datenbanken oder Informationssysteme von der
Bundesregierung unterstützt.
All diese Erfolge dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass weiterhin an der Verbesserung der Nutzung
von Geoinformationen gearbeitet werden muss. Der von
den Regierungsfraktionen vorgelegte Antrag trifft die
richtigen Ziele und beschreibt die notwendigen Maßnahmen; übrigens weitaus besser als der Antrag der
CDU/CSU.
({4})
Bündnis 90/Die Grünen sind sich daher mit dem Koalitionspartner SPD einig, dass dem Anliegen der Union
voll Rechnung getragen wird. Die Nutzung von Geoinformationen wird damit in Zukunft weiter verstärkt
werden und die Informationen werden für die Lösung
vieler Probleme und Zukunftsaufgaben zur Verfügung
stehen.
({5})
Danke schön. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Heinrich Fink.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist
durchaus zu begrüßen, dass durch die Große Anfrage der
CDU/CSU die Bundesregierung genötigt ist, eine umfassende Bestandsaufnahme auf den Tisch des Hauses zu legen. Damit wird das Jahr 2002 als Jahr der Geowissenschaft angemessen eingeläutet.
Ohne Zweifel können Geodaten wichtige Aufschlüsse
über die Beschaffenheit der Umwelt, der Landschaft oder
der Meere, geben. Frau Dr. Wetzel hat das anschaulich,
engagiert und unübertroffen geschildert.
({0})
Doch die plötzliche Entdeckung der hohen Bedeutsamkeit von Geodaten macht mich misstrauisch. Als relevant für die Nutzung von Geoinformationen sieht der Antrag der CDU/CSU sowohl zivile wissenschaftlichtechnische - dem können wir zustimmen - als auch militärische Bereiche an. Der Antrag von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen schließt die militärische Nutzung nicht unbedingt aus.
Nach meiner Erinnerung ging es bei Veranstaltungen
zur Datenfernerkundung vordergründig um deren Intensivierung zu friedlichen Zwecken. Aber ich habe den Eindruck, dass die Bemühungen der Antragsteller eigentlich
auf die Legitimation laufender Planungen zum Satellitennavigationssystem Galileo innerhalb des 5. EU-Forschungsrahmenprogramms gerichtet sind.
({1})
In der Antwort auf die Große Anfrage steht auf Seite 19:
Die Satellitentechnik spielt eine wachsende Rolle bei
der Gewinnung und Verteilung von Informationen. ...
Das kann in Einzelfällen den Aufbau neuer Weltraumsysteme bedeuten ({2}), kann aber auch heißen,
dass stärker auf Produkte des entstehenden privaten
Anbietermarktes zurückgegriffen wird.
Meine Damen und Herren, der Entschließungsantrag
der CDU/CSU, aber auch der entsprechende Antrag von
SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen lesen sich wie ein
Werbekatalog für die Auslastung von Galileo. Im Entschließungsantrag der Regierung steht, dass die Bundesregierung
zum Wohle einer nachhaltigen Entwicklung ... den
Einsatz effizienter Technik unter konsequenter Nutzung von Geoinformation in allen Gesellschaftsbereichen und Anwendungsfeldern ... entschieden vorantreiben soll.
Soll das bedeuten, dass die Bundesregierung auf Geheiß der Wirtschaft künftige Nutzer für das Satellitensystem werben soll? Denn zunächst sollen europäische Steuerzahler und Industrie in den Jahren 2001 bis 2007
3,25 Milliarden Euro dafür zahlen. Namentlich DaimlerChrysler erwartet für seine Vorleistungen in kurzer Zeit
hohe finanzielle Rückläufe. Aber der Markt für Geoinformationen in der Privatwirtschaft, in Institutionen
und Behörden ist meines Wissens ziemlich begrenzt.
Was eigentlich soll Galileo können, was das GPS-System aus den USA nicht kann? Die Deutsche Gesellschaft
für Luft- und Raumfahrt bemerkt in ihren Internetseiten,
dass die
derzeit für die zivile Nutzung verfügbaren
Satellitennavigationssysteme - das russische GLONASS und vor allem das weltweit genutzte amerikanische GPS - im Hinblick auf ihre Genauigkeit und
Zuverlässigkeit für eine Vielzahl von Anwendungen
ausreichend
sind. Ich bin deshalb nicht davon überzeugt, dass es hier
hauptsächlich um die zivile Nutzung von Geoinformationen geht; denn die zahlreichen Verweise auf die militärischen Seiten der Satellitennavigation machen einfach
skeptisch. Die DLR hebt zum Beispiel hervor, dass es sich
beim GPS um ein
ausschließlich von den USA ({3}) betriebenes System
handelt, dessen
Verfügbarkeit jedem ausländischen - also auch
europäischen - Mitspracherecht entzogen ist.
Lieber Herr
Kollege, selbst bei großzügiger Betrachtung ist Ihre Redezeit bereits ausgeschöpft.
Meine Fraktion betrachtet
eine militärische Variante der Nutzung von Galileo mit Argwohn, wenn Westeuropa damit eigene militärische Interessen verfolgen würde. Das wird die PDS nicht unterstützen.
({0})
Herr Kollege,
ich glaube, das wäre ein schöner Schlusssatz. Ihre Redezeit ist tatsächlich vorbei.
Wir sehen uns in der Verantwortung, dafür zu wirken, dass wissenschaftliche Forschung ausschließlich nichtmilitärischen Zwecken dient.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Es ist in der Tat richtig, dass das wirtschaftliche Potenzial der Geoinformationen gewaltig ist. Das Volumen des deutschen Marktes erreicht derzeit rund
125 Millionen Euro bei einem jährlichen Wachstum zwischen 10 und 30 Prozent. Dem europäischen Markt wird bis
zum Jahre 2004 eine Steigerung von 840 Millionen Euro
prognostiziert. Der Geoinformationsmarkt der USA hatte
bereits 1998 ein Volumen von 4,2 Milliarden US-Dollar.
Die Wirtschaftsleistungen im Zusammenhang mit Geoinformationen beliefen sich auf 3,5 Billionen US-Dollar - die
Hälfte der Gesamtwirtschaftsleistung der Vereinigten Staaten von Amerika.
Mit nicht geahnter Dynamik werden weitere wichtige
Anwendungsfelder erschlossen. Ein Beispiel dafür sind
die künftigen Dienste für Handys.
Die Bundesregierung hat die Chancen, die der Geodatenmarkt gerade auch für kleine und mittlere Unternehmen bietet, erkannt und in den letzten beiden Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen.
({0})
Lieber Herr Dr. Jork, nicht seit 16 Jahren, aber seit
1990 sind Sie im Deutschen Bundestag. Bis zum heutigen
Tag habe ich zu diesem Thema bis auf Ihre Große Anfrage
keine einzige Rede, keine einzige Initiative erlebt.
Ja, die Situation war anders. Unter dem alten Bundesinnenminister wäre das zuständige Bundesamt um ein
Haar liquidiert worden.
({1})
Das ist Ihre Politik zu diesem Sachbereich gewesen.
({2})
Jetzt fangen Sie nicht an, so zu tun, als ob Sie die Weisheit
erfunden hätten. Ich glaube, es ist nicht redlich, was Sie in
dieser Sache tun.
Im Übrigen - so sage ich einmal - ist diese Bundesregierung für die Kompetenzzuteilung in unserer Verfassung nicht verantwortlich. Dieser Bereich liegt nun einmal in Länderkompetenz,
({3})
und wir müssen im föderalen System dafür sorgen, dass
wir vernünftige Lösungen zustande bekommen.
({4})
Dann sage ich Ihnen noch etwas, Herr Dr. Jork: Der Interministerielle Ausschuss für Geoinformationswesen
wurde 1998 gegründet - das ist richtig -, aber erst nach
dem Regierungswechsel ist die Konzeption eines effizienten Managements für Geodaten auf Bundesebene entwickelt worden.
({5})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Damit hatten Sie als Bundesregierung überhaupt nichts zu tun.
({0})
Sie haben vielleicht formal etwas gemacht, aber inhaltlich
überhaupt nichts.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich möchte gerade noch etwas zu
dem Interministeriellen Ausschuss für Geoinformationswesen sagen,
({0})
weil es mir wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass sich der
gesamte Prozess in der Umsetzungsphase befindet, wobei
vorrangig ein Auskunfts- und Zugriffssystem entsteht, das
die in der Vergangenheit in mehr als 55 Einrichtungen
in Bundeszuständigkeit unkoordiniert aufgebauten Geodatensätze verknüpfen wird. Das ist unsere Lösung.
Ich will noch weiter darstellen, aber wenn Herr Kollege Dr. Jork jetzt eine Zwischenfrage stellen möchte,
dann kann er das gern tun.
Ich danke Ihnen,
Herr Staatssekretär. Das erspart mir eine Kurzintervention.
Nachdem Sie mir direkt Unredlichkeit unterstellten
und vorwarfen - Sie haben gesagt, das, was ich getan
habe, sei nicht redlich gewesen -, frage ich Sie, ob es nicht
eine übliche und redliche Angelegenheit ist,
({0})
dass man dann, wenn man einen Aufgabenbereich als
wichtig erachtet, sich mit einer Großen Anfrage um die
Lösung der Probleme bemüht.
Ich lasse mich von Ihnen auch nicht in jeder Sache Sie wissen, dass ich 1990 aus einem der neuen Bundesländer hierher in den Bundestag gekommen bin - im Hinblick auf Fragen, deren Klärung früher versäumt worden
ist, in die Pflicht und Verantwortung nehmen.
Ist es nicht für Sie auch eine tolle Sache, dass Sie schon
zwei Jahre an der Regierung sind, dass Sie schon zwei
Jahre lang etwas tun können
({1})
und dass Sie nach zwei Jahren mit einer solchen Anfrage
ernst genommen werden?
Lieber Herr Dr. Jork, das Thema
zeigt beispielsweise auch, dass 16 Jahre lang Entwicklungen verschlafen worden sind und dass diese Bundesregierung handelt.
({0})
Das kann ich Ihnen auch noch weiter deutlich machen.
Im Geodatenzentrum des Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie, Außenstelle Leipzig, haben wir beispielsweise eine bundesweite Datenbank für Geobasisdaten mit Anschluss an das Internet geschaffen.
Hervorgehoben werden muss hier die Zusammenarbeit
des Bundes mit den Ländern, die eben nach dem Grundgesetz für die Erfassung solcher Basisdaten verantwortlich sind.
Hier haben die Länder und das zuständige Bundesamt
das Amtliche Topographisch-Kartographische Informationssystem entwickelt. Das sollten Sie auch einmal zur
Kenntnis nehmen. Durch das Geodatenzentrum nimmt
der Bund seine häufig geforderte Koordinierungsfunktion wahr. Wir brauchen da nicht gemahnt zu werden,
sondern wir machen dies.
({1})
Auch in der Europäischen Kommission wird Geoinformation inzwischen als ein zentraler Teil der Informations- und Wissensgesellschaft gesehen. Auf politischer
Ebene ist die Bundesregierung gerade dabei auszuloten,
wie das europäische Geoinformationswesen - natürlich
unter deutscher Mitwirkung - gestärkt werden kann. Ich
bin zuversichtlich, dass die angebahnten Gespräche dazu
beitragen, die bei der EU gelegentlich noch vorherrschende abwartende Haltung zu überwinden.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Diese Bundesregierung wird dafür sorgen, dass die Anwendung der Geoinformationen den politischen Stellenwert erhält, der ihr
im Hinblick auf ihre außerordentlichen Chancen für die
Entwicklung der Gesellschaft zukommt. Sie wird in Zusammenarbeit mit den Ländern sicherstellen, dass amtliche Geodaten für die Unterstützung der Wirtschaft und
der Wissenschaft stetig zur Verfügung stehen, sie wird die
Anwendung von Geoinformationen bei der Modernisierung der Bundesverwaltung durch den Interministeriellen
Ausschuss für Geoinformationswesen koordinieren und
fortentwickeln und sie wird sich dafür einsetzen, dass das
Geoinformationswesen im internationalen Bereich unter
deutscher Teilnahme und Mitwirkung gestärkt wird. Die
Belehrungen, Herr Dr. Jork, können Sie für sich behalten;
wir haben sie nicht nötig.
({2})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/5323. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
CDU/CSU und eine Stimme aus der PDS bei Enthaltung
der F.D.P. und der anderen Stimmen aus der PDS angenommen worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache
14/5321. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Gerhard Jüttemann, Angela Marquardt, Rolf
Kutzmutz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes
- Drucksache 14/1108 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1})
- Drucksache 14/2109 Berichterstattung:
Abgeordneter Elmar Müller ({2})
Die Abgeordneten Barthel, Müller, Hustedt und Funke
sowie der Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf bit-
ten, ihre Reden zu Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann redet in dieser Runde nur der Abgeordnete der PDS, Gerhard
Jüttemann. Bitte, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! In der Debatte zur zweiten und dritten Lesung des Postgesetzes hat der Vertreter der SPD,
Hans Martin Bury, im Oktober 1997 gesagt:
Wir treten für einen fairen Wettbewerb ein. Dieser
basiert auf ordentlichen Arbeitsplätzen. Deswegen
wollen wir eine Lizenzbestimmung, wonach alle Anbieter im Postsektor die üblichen wesentlichen Arbeitsbedingungen einhalten müssen.
Der damalige Antrag der PDS auf Festschreibung sozialer Standards im Postwesen wurde rundweg abgelehnt, auch von der SPD, weil diese, wie Bury damals
sagte, einen eigenen, besseren hatte. Dieser angeblich
bessere Antrag ist jetzt im Postgesetz verankert und führt
dazu, dass die Konkurrenten der Post, von der Regulierungsbehörde ungehindert, flächendeckend die im Postsektor üblichen wesentlichen Arbeitsbedingungen unterschreiten. Der Trick ist einfach: Im Postgesetz ist zwar die
Rede von den wesentlichen Arbeitsbedingungen, die
nicht unterschritten werden dürfen. Die Regulierungsbehörde prüft aber nicht die Arbeitsbedingungen, sondern
lediglich die Arbeitsverhältnisse.
({0})
Die Frage lautet also nur noch: Sind die Arbeitsverhältnisse versicherungspflichtig oder nicht? Die wesentlichen Arbeitsbedingungen jedoch, von denen das Gesetz
ausgeht, umfassen weit mehr: Arbeitslohn, Arbeitszeit,
Urlaub und Kündigungsschutz. Das bedeutet: Das Postgesetz ist an dieser Stelle so beliebig - um nicht zu sagen,
schlampig - formuliert, dass die eingangs zitierte angebliche Absicht der SPD, also die Einhaltung der üblichen
wesentlichen Arbeitsbedingungen im gesamten Postsektor, überhaupt nicht zum Tragen kommt.
({1})
Das Ergebnis ist die absolute Umkehrung der formu-
lierten Idee. Nicht die Postkonkurrenten passen ihre Ar-
beitsbedingungen an die der Deutschen Post AG an, son-
dern die Deutsche Post AG senkt das soziale Niveau der
bei ihr üblichen Arbeitsbedingungen auf das Niveau ihrer
Konkurrenten ab. Die ehemalige Staatspost macht das auf
zwei Wegen. Erstens hat sie unter dem Dach des Konzerns
ein riesiges Geflecht von Subunternehmen geschaffen,
in denen die Tarife der Deutschen Post AG nicht gelten.
Schlimmer noch: In diesen Unternehmen wird vielfach
mit Scheinselbstständigen und Menschen in prekären Be-
schäftigungsverhältnissen gearbeitet. Erst gestern wurde
bekannt, dass die Post durch Auslagerung bis Ende nächs-
ten Jahres 12 000 LKW-Fahrer einsparen will. Die Arbeit
wird dann von Privatunternehmen übernommen, die ihre
Mitarbeiter auch unter unsozialen Bedingungen beschäf-
tigen.
Der zweite Weg ist der Abbau der geltenden Tarif-
verträge. Wer seit Anfang dieses Jahres neu bei der Post
anfängt, für den gelten diese Tarife schon nicht mehr. Er
1) Anlage 3
muss Einkommensverluste zwischen 7 und 29 Prozent
hinnehmen. Der Grund dafür ist die Verwandlung der
ehemaligen Bürgerpost in eine Börsenpost. Was sich nicht
rechnet, wird abgeschafft.
Dazu zitiere ich den Vorsandsvorsitzenden der Deutschen Post AG, Klaus Zumwinkel, in der „Wirtschaftswoche“ vom 31. August 2000:
Wir haben mit den Gewerkschaften vereinbart, dass
jeder, der etwa in der Zustellung neu zu uns kommt,
nicht nach den Posttarifen bezahlt wird, sondern danach, was auch für die Konkurrenz gilt ...
({2})
Der Gegenwert dieses Tarifvertrags und der daraus
resultierenden Einsparungen bei den Personalkosten
geht langfristig und kumuliert in den Milliardenbereich.
Im Klartext heißt das: Die viel zitierten üblichen wesentlichen Arbeitsbedingungen im Postsektor sind seit
Anfang dieses Jahres ein Auslaufmodell. Sie wurden auf
dem Börsenaltar der Renditen geopfert. Leider ist zu befürchten, dass die nun auch von der Regierung angestrebte
Verlängerung des Teilmonopols bei der Briefbeförderung lediglich den Börsenwert der Deutschen Post AG
stärken soll, anstatt die sozialen Bedingungen der Beschäftigten im Postsektor endlich wieder den gesetzlichen
Erfordernissen anzupassen.
Lieber Herr
Kollege, auch Sie müssten jetzt zum Schluss kommen.
Ich bin gleich am Ende.
Vielen Dank.
Letzteres ist das Ziel des Gesetzentwurfes, den die
PDS vorgelegt hat. Die SPD lehnt laut Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie unseren Entwurf
ab, weil angeblich kein Regelungsbedarf bestehe. Das ist
etwas rätselhaft, da es in den jüngst veröffentlichten Thesen der AG Telekommunikation und Post der SPD-Fraktion heißt - ich zitiere -:
Nein, Herr Kollege, es geht wirklich nicht mehr, dass Sie jetzt noch zitieren. Sie sind zwei Minuten über Ihre Redezeit.
Es sind nur noch zwei
Sätze. Das muss bei diesem Inhalt doch möglich sein. Ich
bin der letzte Redner. Es ist außerdem noch keine Schlafenszeit.
Ich glaube, dass
es Ihnen nicht zusteht zu bestimmen, ob Sie noch weiterreden dürfen oder nicht. Das geht jetzt wirklich zu weit.
Ich weiß, dass es für die kleinen Fraktionen schwierig ist.
Ich bin in der Regel aber wirklich sehr großzügig, aber
mehr als zwei Minuten über Ihre Redezeit kann ich Ihnen
nicht zugestehen.
Gut, dann versuche ich
es ganz kurz zu machen.
Nein, Sie dürfen
sich auch nicht mehr kurz fassen, sondern Sie müssen jetzt
Schluss machen.
In der Analyse kommt
die SPD selbst zu der Erkenntnis, dass die Bedingungen
so sind. Ich gebe Ihnen eine Chance, sich Ihrer Sorgen zu
entledigen: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf der
Fraktion der PDS zur Änderung des Postgesetzes auf
Drucksache 14/1108. Der Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/2109, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf auf Drucksache 14/1108 zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den
Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS,
die zugestimmt hat, abgelehnt worden.
Damit entfällt die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard SchmidtJortzig, Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes
- Drucksache 14/4893 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Hier bitten alle Redner, ihre Reden zu Protokoll geben
zu können. Das sind die Abgeordneten Veit, Philipp,
Beck, Niebel und Jelpke sowie die Parlamentarische
Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast.1) Sind Sie da-
mit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir
so.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4893 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
1) Anlage 4
Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt auf, nämlich
den Tagesordnungspunkt 19:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren Verbesserung
von Kinderrechten ({1})
- Drucksache 14/2096 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Für die Beratung ist eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Senatorin der Hansestadt Hamburg, Frau Peschel-Gutzeit.
Bitte.
Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit, Senatorin ({3}) ({4}):
({5})
- Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Deutsche Bundestag berät
heute das Kinderrechteverbesserungsgesetz. Es handelt
sich dabei um einen Gesetzentwurf, der auf Antrag der
Länder Hamburg und Sachsen-Anhalt vom Bundesrat am
24. September 1999, also vor nunmehr fast eineinhalb
Jahren, beschlossen worden ist. Zwei Forderungen dieser
Gesetzesinitiative, nämlich das absolute Gewaltverbot in
der Erziehung und das kleine Miterziehungsrecht bei
Stieffamilien, sind inzwischen gesetzlich geregelt und damit erledigt.
({6})
Die anderen in dem Entwurf enthaltenen Forderungen
sind aber nach wie vor unerledigt und brandaktuell.
Worum geht es? Es geht abermals um die Verbesserung
der Rechte unserer Kinder.
Ich will die wichtigsten unerledigten Punkte dieser Ge-
setzesinitiative nennen: Es geht - erstens - um den Aus-
schluss der Vaterschaftsanfechtung bei einvernehmlicher
heterologer Insemination.
Margot von Renesse [SPD]: Das ist lange an
der Zeit!)
Es geht - zweitens - um die erleichterte Einbenennung
von Kindern in eine neue Familie, und zwar auch bei verbliebener gemeinsamer Sorge der leiblichen Eltern. Es
geht - drittens - um die vollständige erbrechtliche Gleichstellung nichtehelicher Kinder.
Ich beginne mit dem ersten Punkt: Entscheiden sich
Paare gemeinsam dafür, einem Kind auf dem Wege einer
künstlichen Befruchtung mittels Samenspende eines
Dritten das Leben zu schenken, so lässt das geltende
Recht - genauer: die höchstrichterliche Rechtsprechung dem Manne die Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechten;
({7})
sozusagen Rückgabe bei Nichtgefallen. Dies geht natürlich nicht. Nebenbei: Eine solche Anfechtung geht natürlich durch; die Partner wissen ja ganz genau, dass das
Kind nicht vom Partner, sondern von einem Dritten
stammt. Eine solche Anfechtung führt zu einem Verlust
von Unterhalts- und Erbansprüchen, ganz zu schweigen
von den Auswirkungen auf die persönlichen Beziehungen
des Kindes zu seinen Eltern. Das Wohl des Kindes verlangt, dass Eltern, die sich bewusst für diesen Weg zu einem Kind entscheiden, hierfür beide die Verantwortung
tragen und behalten
({8})
sowie die Vaterschaft nicht im Nachhinein aufkündigen
können. Deshalb muss eine Regelung in das Bürgerliche
Gesetzbuch eingefügt werden, welche in diesen Fällen im
Interesse der Kinder eine Anfechtung der Vaterschaft
ausschließt.
Der zweite Punkt betrifft Stiefkinder. Stiefkinderfamilien sind eine millionenfach gelebte soziale Realität. Sie
stellen das Recht vor besondere Herausforderungen. Ein
Aspekt dieses Problemfeldes ist das Namensrecht. Lebt
ein Kind, dessen Eltern geschieden sind, in einer neuen
Familie - Vater oder Mutter sind wieder verheiratet -,
dann kann es die Integration des Kindes durchaus fördern,
wenn es auch den Familiennamen der neuen Familie, in
der es lebt, trägt; das heißt, wenn es einbenannt wird, wie
der Fachausdruck dafür lautet.
Dies ist besonders wichtig, wenn Kinder aus der Erstfamilie - ich nenne sie einmal die kleinen Meiers - mit
Kindern aus der Neufamilie - vielleicht den kleinen
Müllers - zusammentreffen und zusammen aufwachsen.
Schon jetzt kann das Kind einbenannt werden, wenn es
mit einem Elternteil in einer neuen Familie lebt und dieser Elternteil die alleinige elterliche Sorge hat.
Nach neuerem, seit 1998 geltendem Recht kommt es
viel häufiger vor, dass in der gleichen Situation beide Elternteile - also zum Beispiel die wieder verheiratete Mutter und der geschiedene Vater - gemeinsam sorgeberechtigt sind und bleiben. Auch hier kann aber eine
Einbenennung in die neue Familie gewünscht und sinnvoll sein. Sie scheitert aber, wenn zum Beispiel der mitsorgeberechtigte Vater widerspricht. Rechtlich wäre hier
nur über den Umweg einer Sorgerechtsänderung - einer
Änderung, die sehr weit reichende Folgen hat und die im
Übrigen oft gar nicht gewollt ist - zu helfen. Ein Kind, das
in einer solchen bleibenden Elternbeziehung lebt, muss
die Chance auf Einbenennung erhalten. Die entsprechende Vorschrift des Bürgerlichen Gesetzbuches muss
deshalb entsprechend flexibilisiert werden.
Dritter und letzter Punkt. Seit nunmehr über 30 Jahren
gilt in der alten Bundesrepublik das Gesetz über die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder. Das Gesetz hat ganz
wesentlich zur Verbesserung der Rechtstellung nichtehelicher Kinder beigetragen. Aber eine vollständige
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
erbrechtliche Gleichstellung wurde bekanntlich nicht
vollzogen. Für die vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kinder - ich möchte sie einmal etwas uncharmant die Altkinder nennen - gilt noch immer der alte, unbefriedigende Rechtszustand fort. Der Bundesrat hat hier
wiederholt Abhilfe verlangt. Jetzt ist es endlich an der Zeit,
den letzten alten Zopf des Nichtehelichenrechts abzuschneiden und die entsprechende Vorschrift aus dem Nichtehelichenrecht zu streichen.
Die Regelung, die das Erbrecht der vor dem 1. Juli
1949 geborenen nichtehelichen Kinder ausschließt, muss
vor allem gestrichen werden, um einen bis heute bestehenden, nicht zu rechtfertigenden Unterschied zum Recht
der ehemaligen DDR zu beseitigen. Dort waren nämlich
die vor dem Stichtag geborenen nichtehelichen Kinder
schon lange voll erbberechtigt, sodass das Erbrecht der
vor dem 1. Juli 1949 geborenen Kinder im wiedervereinigten Deutschland davon abhängt, wo ihr Vater zum
Zeitpunkt der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt hat. Das ist eine Situation, die in Berlin besonders unbefriedigend ist, weil
vorstellbar ist, dass zwei nichteheliche Gemeinschaften in
ein und derselben Straße wohnen. Allerdings wohnten die
einen im Osten und die anderen im Westen. Kinder, die
aus solchen Verbindungen hervorgegangen sind, haben
nach wie vor einen völlig unterschiedlichen Status.
Die rechtliche Gleichstellung nichtehelicher Kinder ist
seit Jahrzehnten ein Thema der Rechtspolitik und auch
weitgehend umgesetzt. Ich vermag deshalb die bisweilen
geäußerte, meines Erachtens aus Besitzstandsdenken
herrührende Ansicht nicht zu teilen, dass in Altfällen Vertrauenstatbestände künftiger Erben entstanden seien. Es
kommt allein darauf an, die rechtliche Gleichstellung
nichtehelicher Kinder in ganz Deutschland endlich zu
vollenden und damit das deutsche Recht dem europäischen Standard anzugleichen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Der Kollege
Pofalla von der CDU/CSU-Fraktion hat gebeten, seine
Rede zu Protokoll geben zu dürfen.1) Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren wir so.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ekin Deligöz.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das neue,
erst zwei Jahre junge Kindschaftsrecht steht in einer sehr
guten Tradition. Kinder werden in unseren Gesetzen immer mehr als eigenständige Rechtssubjekte und nicht mehr
nur als Rechtsobjekte betrachtet. Kinder werden als Träger
von Rechten anerkannt. Das neue Kindschaftsrecht ist in
diesem Sinne auch ein Stück demokratischer Erfolgsgeschichte, auf die wir stolz sein können.
({0})
Das Kindschaftsrecht ist jedoch nichts Statisches,
nichts Unbewegliches, nichts Starres. Es ist Teil eines gesellschaftlichen Veränderungs- und Entwicklungsprozesses. Es muss deshalb immer wieder überprüft, überdacht
und an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Deshalb
hat die Koalition vereinbart, das neue Kindschaftsrecht zu
evaluieren und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
Die Vorlage, die wir heute behandeln, ist eine Vorstufe
dazu. Die Bundesratsinitiative greift im Wesentlichen die
Mängel auf und schließt die Lücken, die sich insbesondere
in den letzten zwei Jahren abgezeichnet haben. Wir - ich
sage das im Namen meiner Fraktion - unterstützen diese
Initiative voll und ganz, liebe Senatorin.
({1})
Es geht vor allem um die praktischen und pragmatischen Probleme des Alltags, die mit dieser Initiative
gelöst werden sollen. Die wesentlichen Elemente wurden
schon von meiner Vorrednerin sehr ausführlich dargestellt. Es geht darum, Rechtssicherheit für unsere Kinder
zu schaffen. Alle geplanten Veränderungen dürften in diesem Hause wohl weitgehend auf Konsens stoßen.
Eine wichtige Forderung des Entwurfs ist seit geraumer Zeit bereits erfüllt. Wir haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung in unser BGB aufgenommen. Die Formulierung, die wir dafür gefunden haben, greift die
Absicht des Bundesrats auf, ist aber um einiges präziser.
Es geht hier nämlich nicht nur um ein Gebot für Erwachsene, sondern um ein echtes Kinderrecht. Nur so erzielen
wir die nötige gesellschaftliche Signalwirkung; das haben
uns die Erfahrungen aus dem Ausland gezeigt.
Der zukünftige Handlungsbedarf im Kindschaftsrecht
ist trotz allem bereits heute erkennbar. Wir haben in unserer Fraktion vor kurzem eine Fachanhörung veranstaltet,
auf der wir die Erfahrungen vor Ort ausgewertet und Anforderungen für die künftige Entwicklung formuliert haben. Ich möchte heute Abend die Gelegenheit nutzen, sie
stichwortartig darzustellen.
Eine der besonders bedeutsamen Forderungen der vielen Interessensgruppen, Verbände und auch der Verfahrenspfleger war, dass Kenntnisse über Kinderrechte kein
Insiderwissen darstellen dürfen. Kinder haben einen Anspruch darauf, zu erfahren, welche Rechte sie haben. Hier
stehen wir alle gemeinsam in der Verantwortung: die Medien, die Bildungseinrichtungen, die Schulen, die Eltern
usw.
({2})
- Ich habe Sie leider nicht verstanden, Herr Kollege; anderenfalls würde ich darauf reagieren.
Von der Bundesregierung gibt es zum Thema gewaltfreie
Erziehung bereits ein Programm und eine öffentliche Kampagne. In dieser Kampagne geht es auch darum, Kinder über
ihre Rechte zu informieren und sie ernst zu nehmen.
({3})
Ein weiterer Punkt ist ein Mitspracherecht der
Kinder in Scheidungsfällen. In der Praxis erweist es sich
Senatorin Dr. Lore Maria Peschel-Gutzeit ({4})
1) Anlage 5
immer mehr als problematisch, dass Kinder in Trennungsfällen nicht mehr angehört werden, wenn eine gemeinsame
elterliche Sorge vereinbart wird. Sehr viele Kinderpsychotherapeuten und -psychologen sowie zum Teil die Verfahrenspfleger selbst bestätigen, dass dadurch sehr oft bestehende Probleme verdrängt werden und später auf die
Familie und vor allem die Kinder zurückschlagen. Es ist
nicht nur, aber gerade auch deshalb erforderlich, dass wir
den Kindern, aber auch den Eltern niedrigschwellige Betreuungs- und Beratungsangebote bereitstellen.
Ich komme zu meinem letzten Punkt, Frau Präsidentin.
Ein echter Fortschritt des neuen Rechts ist die Verfahrenspflegeschaft. Die „Anwälte der Kinder“ leisten eine
hervorragende Arbeit. Damit sie aber ihre Arbeit noch
wirkungsvoller, dauerhaft und flächendeckend erledigen
können, benötigen wir ein paar Grundvoraussetzungen.
Eine davon ist die Fortbildung der Familienrichter, eine
andere die Qualitätssicherung für die Verfahrenspfleger
sowohl in ihrer Ausbildung also auch in der Praxis.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Kinderpolitik
basiert auf einem Leitprinzip: Gute Kinderpolitik ist eine
Politik, die die Rechte der Kinder anerkennt und schützt.
Sie ist eine Politik, die Kinder stark macht. Starke Kinder
wünschen wir uns in dieser Gesellschaft.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P. begrüßt im Wesentlichen
den vom Bundesrat vorgelegten Entwurf eines Gesetzes
zur weiteren Verbesserung von Kinderrechten. Er nimmt
notwendige, aus der praktischen Erfahrung der Gerichte
gewonnene Detailverbesserungen im Interesse der
schwächsten Glieder unserer Gesellschaft vor. Die liberal-konservative Koalition hat in der letzten Legislaturperiode mit der großen Kindschaftsrechtsreform die maßgebliche Grundlage hierfür gelegt.
Ich weise hier grundsätzlich darauf hin, dass die Zeit
reif dafür ist, das Verhältnis der Generationen zu bedenken. Die Würde von Kindern und Erwachsenen ist
gleichwertig. Dem Schutz ihrer Persönlichkeit ist gleichermaßen Rechnung zu tragen. Wie meine Vorrednerin
sagte: Kinder sind nicht Objekte, sondern Subjekte, also
eigene Persönlichkeiten. Sie sind Träger von Rechten,
aber auch von Pflichten. Wir Erwachsenen müssen Kinder ernst nehmen.
Eigentlich wünscht sich das Kind die Familie wie einen starken, schützenden Ring. Ist dieser irgendwo unterbrochen, so darf man wenigstens die Blickrichtung auf
das Kind nicht verlieren. Jede Diskussion über
Kindschaftsrechte muss davon ausgehen, dass es primär
um die Rechte der Kinder geht.
Eine sensiblere Gestaltung des Einbenennungsrechtes
sowie des kleinen Sorgerechtes für Stiefeltern im Innenverhältnis bei „Angelegenheiten der tatsächlichen Betreuung“ dürfte häufig im Sinne der Kinder sein und ist daher
grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings müssen wir darauf
achten, dass wir die leiblichen Elternteile, die mit ihren
Kindern nicht mehr in einer Familie leben, nicht vor den
Kopf stoßen und noch mehr in die Empfindung drängen,
nur noch „Zahlmutter“ oder „Zahlvater“ zu sein.
({0})
Besonders beim Einbenennungsrecht muss das Einvernehmen beider Elternteile gegeben sein. Auch die
Frage der Rückbenennungsmöglichkeiten ist zu prüfen.
Andererseits muss dem Kind natürlich ein permanenter
Namenswechsel erspart bleiben. Wir müssen daran denken, dass seit der letzten Novellierung des Namensrechtes die Chance größer geworden ist, dass in einer Familie
verschiedene Nachnamen geführt werden. Insofern
könnte in absehbarer Zeit eine Namensverschiedenheit innerhalb der Familie durchaus „normal“ und für ein Kind
weniger belastend als wiederholte Umbenennungen sein.
Auch in diesem Fall muss das Wohl des Kindes im Mittelpunkt stehen.
Die Anregung, dass eine einvernehmliche künstliche
Befruchtung eine Anfechtung der Vaterschaft ausschließt, ist logisch und konsequent. Allerdings - darin
stimme ich der Bundesregierung zu - bedarf es auch aus
liberaler Sicht wohl noch einiger Präzisierungen. Einerseits muss das Einvernehmen irgendwie nachweisbar
sein, andererseits darf die Anfechtung nicht ausgeschlossen werden, wenn Zweifel daran bestehen, dass das Kind
auf dem vereinbarten Wege gezeugt worden ist.
Die gesetzliche Ächtung von Gewalt in der Erziehung
und die Garantie des Rechtes auf Gewaltfreiheit für unsere Kinder ist, wie schon erwähnt, mit Unterstützung der
F.D.P. Realität geworden. Das Erfahren von Gewalt im
Kindesalter wird sehr häufig weitergegeben. Dies führt zu
einem Teufelskreis, in dem die Würde junger Menschen
mit Füßen getreten wird. Dieser verhängnisvolle Kreislauf von erfahrener und weitergegebener Gewalt wird
jetzt durchbrochen.
Die Frage der Erbberechtigung vor dem 1. Juli 1949
geborener nichtehelicher Kinder sehen wir Liberale insofern als problematisch an, als eine gewachsene Rechtssicherheit, die der Bundestag mehrfach so bestätigt hat,
durch eine Änderung nun plötzlich umgeworfen würde.
({1})
Wir müssen davon ausgehen, dass die potenziellen
Erblasser nicht auf diese zusätzlichen Pflichtteilsberechtigten vorbereitet sind.
({2})
Auch Rechtssicherheit, die in diesem Falle nicht zu einem
finanziellen Schaden führt, ist im Rechtsstaat ein hohes
Gut.
Aus liberaler Sicht ist es bedauerlich, dass eine nach der
letzten Kindschaftsrechtsreform offen gebliebene Frage
im vorgelegten Gesetzentwurf weiterhin offen bleibt: die
des gemeinsamen Sorgerechts beider Elternteile für
uneheliche Kinder. Es gibt aus meiner Sicht eigentlich keinen Anlass, Kindern ihre Eltern vorzuenthalten - egal ob
verheiratet oder nicht. Deshalb sollte das gemeinsame Sorgerecht beider Eltern generell und ausnahmslos die Regel
sein und nur bei Einvernehmen beider Elternteile oder in
besonders zu begründenden Fällen sollten abweichende
Regelungen im Sinne des Kindeswohls gerichtlich angeordnet werden können.
Danke.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christina Schenk.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Gesetzentwurf des Bundesrates
enthält diskussionswürdige Aspekte. Ich kann mir vorstellen, dass die PDS-Fraktion den noch nicht geregelten
Punkten zustimmen wird.
Es ist unbestreitbar, dass die Kindschaftsrechtsreform,
die 1998 in Kraft getreten ist, reformbedürftig ist. Immerhin hat das auch die Bundesregierung insofern klargemacht, als sie in ihrem Koalitionsvertrag Maßnahmen in
dieser Richtung angekündigt hat.
In Teilbereichen - das will ich hier ausdrücklich anerkennen - ist auch bereits eine Nachbesserung erfolgt. Das
betrifft zum einen die Ächtung der Gewalt in der Erziehung. Wir haben die Klarstellung im Bürgerlichen Gesetzbuch, dass Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben, nachdrücklich begrüßt. Wir meinen aber
auch, dass das nicht ausreicht. Vielmehr bedarf es vielfältiger Unterstützung, Angebote für Kinder, Jugendliche
und ihre Eltern, damit körperliche, seelische und emotionale Gewalt dauerhaft aus dem Repertoire der Erziehungsmethoden verschwindet.
({0})
Die PDS hat das seinerzeit in einem eigenen Antrag deutlich gemacht.
Zum anderen hat die Bundesregierung im Zusammenhang mit der eingetragenen Lebenspartnerschaft das kleine
Sorgerecht eingeführt. Damit hat künftig der nicht biologische Elternteil eine Mitentscheidungsbefugnis in Angelegenheiten des täglichen Lebens. Dies gilt für soziale Eltern sowohl in homo- als auch in heterosexuellen
Partnerschaften. Das begrüßen wir ausdrücklich. Jedoch
bleibt kritikwürdig, dass homosexuelle Eltern nach wie
vor keine Möglichkeit haben, das gemeinsame Sorgerecht für ein Kind zu erhalten, das bereits mit dem Paar zusammenlebt. Gemeinsame Adoption und Stiefelternadoption sind ihnen verwehrt. Der Weg über eine Erklärung zur
gemeinsamen Sorge ist ebenfalls versperrt. Das, finde ich,
ist ohne jeden Zweifel diskriminierend.
({1})
Mittlerweile gibt es genügend Untersuchungen, die die
Gleichwertigkeit homo- und heterosexueller Elternschaft
belegen. Es ist daher aus meiner Sicht überhaupt nicht zu
rechtfertigen, homo- und heterosexuelle Eltern rechtlich
verschieden zu behandeln.
Zu kritisieren ist auch die Untätigkeit der Bundesregierung bezüglich der jetzt geltenden Regelung zur elterlichen Sorge nach Trennung und Scheidung. Da habe
ich eine ganz andere Meinung als Herr Haupt. Die Gerichte gehen von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis von
gemeinsamer und alleiniger Sorge aus. In dem ersten Jahr
nach In-Kraft-Treten der Reform wurde in fast 90 Prozent
der Scheidungsfälle das gemeinsame Sorgerecht bei den
Eltern belassen. Es gab dabei eine Reihe von Entscheidungen, in denen das gemeinsame Sorgerecht gegen den
Willen eines Elternteils verordnet wurde.
Glücklicherweise werden diese Extrempositionen gegenwärtig seltener. Es wächst die Zahl der Gerichte, die
richtigerweise einen Grundkonsens der Eltern als Voraussetzung für die Beibehaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge ansehen. In dieser Auffassung wurden sie im
vergangenen Jahr vom Bundesgerichtshof unterstützt, der
die Gleichwertigkeit beider Sorgerechtsformen ausdrücklich betont hat.
Trotzdem ist es so, dass noch immer viele Scheidungswillige glauben, dass es nach Trennung und Scheidung
keine Möglichkeit der alleinigen elterlichen Sorge mehr
gebe. Aus Resignation oder auch aus Furcht vor dem
Sorgerechtsstreit verzichten vor allem Frauen darauf, einen Antrag auf alleinige Sorge zu stellen. Das führt zwingend dazu, dass die ehelichen Konflikte weiter auf Kosten des Kindes ausgetragen werden.
Um hier Rechtssicherheit zu schaffen, bedarf es dringend einer Klarstellung durch den Gesetzgeber. Es sollte
darauf hingewiesen werden, dass das alleinige und das gemeinsame Sorgerecht gleichwertige Sorgerechtsformen
sind. Die Eltern müssen die Möglichkeit haben, sich bewusst und entsprechend ihrer ganz konkreten Situation
für eine dieser beiden Sorgerechtsformen zu entscheiden.
Ich meine, um diese Reform durchzuführen, müssen
nicht erst die Endergebnisse der Begleitforschung abgewartet werden. Der Handlungsbedarf ist überaus eindeutig und einsichtig. Die PDS wird zur Reform des
Kindschaftsrechts demnächst einen eigenen Antrag in den
Bundestag einbringen.
Danke schön.
({2})
Als letzter Rednerin erteile ich nun der Abgeordneten Margot von
Renesse das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit großer Freude erinnere
ich mich an die gemeinsame Arbeit an der Kindschaftsrechtsreform. Herr Pofalla ist jetzt nicht da. Viele sind
jetzt nicht dabei, die damals mitgewirkt haben. Das waren
- wie auch Sie, Frau Kollegin, erwähnt haben - wirklich
so etwas wie Sternstunden demokratischen, kooperativen
Streits. Wir waren uns absolut nicht einig, aber wir haben
argumentativ so gestritten, dass etwas dabei herausgekommen ist, und zwar, wie wir alle sehen, etwas Gutes,
auch wenn noch Korrekturen nötig sind; das ist völlig
klar.
Wir haben etwas geschafft, was bei den Eltern Streit
vermeidet, was Streit schlichtet, wo es ihn gibt, und was
vor allem nicht Streit provoziert, wie es das alte Recht
tat - selbst da, wo kein Streit war. Wir haben auf diese
Weise erreicht, dass viele Kinder ihre Eltern auch im
Scheidungskonflikt, im Trennungskonflikt als kompetent
und handlungsmächtig erleben und nicht zusehen müssen,
dass sie vor einem Dritten, nämlich dem Familienrichter,
zittern. Ich habe das immer als eine besonders problematische Erfahrung für Kinder angesehen. Das ist das eine.
Nichts ist so gut, dass es nicht noch verbessert werden
könnte. Es gibt eine Reihe von Restanten aus dem damaligen Diskussionsprozess, die die beiden grandes dames
der Justiz - wenn ich das einmal so sagen darf - aus den
Ländern aufgegriffen haben und uns dankenswerterweise
in diesem Gesetzentwurf vorgelegt haben. Ich denke, vieles davon wird in genau dieser kooperativen Weise gemeinsam mit ihnen beraten werden und, wie ich hoffe, zu
einem guten Erfolg geführt werden.
Aber es gibt noch ein paar Punkte, die ich auch gerne
einführen würde, wenn Sie erlauben. Da ist zum Beispiel
das Besuchsrecht Dritter bei Kindern. Ich habe immer
das Gefühl gehabt, dass das vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss. Ich nehme an, Frau Kollegin, dass wir
uns da einig sind. Es kann nicht das Recht von Großeltern
oder Dritten sein, Umgang mit einem Kind zu haben, sondern die Kinder haben ein Recht auf Kontinuität ihrer gewachsenen Beziehungen. Wie ich weiß, ziehen manche
Großeltern die Eltern, die Familien von Enkelkindern mit
solchen Verfahren in Streitigkeiten hinein. Selbst wenn
sie im Ergebnis ihre Beschlüsse nicht bekommen, ist die
Kostenteilung schon ein großes Problem für die Familie
mit den Kindern. Das ist der eine Punkt.
Der andere Punkt ist die Prozessstandschaft im Unterhaltsverfahren für erwachsene Kinder, die noch im
Haushalt ihrer Eltern oder eines Elternteils leben. Ich
weiß ganz genau, man kann diesen Kindern sagen, dass
sie ihren Vater auf Unterhalt verklagen können. Aber es
entstehen Loyalitätskonflikte, die sehr problematisch
sind. Darüber werden wir nachdenken.
Jetzt komme ich zu drei Problemfeldern, die mir besonders am Herzen liegen. Wir haben es leider immer
noch nicht geschafft - ich denke, wir werden uns das Hirn
zermartern müssen, damit uns etwas einfällt -, um erstens
Herausgabeverfahren nach Kinderklau, nach „legal kidnapping“, effektiv abzuwickeln, damit nicht die Zeit die
Verhältnisse zementiert.
Das Zweite ist die Durchsetzung von Umgangsrechten. Auch da ist uns noch nicht der Stein der Weisen geglückt. Ich denke, dass wir nicht das Verfahren finden
werden, sondern dass wir den Instrumentenkasten mit
weiteren Möglichkeiten füllen müssen, um die Familiengerichte in den Stand zu setzen, in diesen Fällen effektiv
zu helfen. Was nützt es denn, wenn ein Verfahren vier
Jahre schwebt und ein unter zehnjähriges Kind, das seinen
Vater nicht mehr gesehen hat, eines Tages ein Umgangsrecht vor die Stirn geknallt bekommt und sagt, den Herrn
kenne ich nicht? Das ist so gut wie Rechtsverweigerung.
Das Dritte ist die lange Verfahrensdauer bei Sorgerechts- und Umgangsverfahren, die das Verfassungsgericht inzwischen in mehreren Entscheidungen als verfassungswidrige Rechtsverweigerung dargestellt hat. Wenn
man die Fälle sieht, wenn man sieht, wie beraubte Kinder
und beraubte Eltern am Recht verzweifeln, wie daraus tragische Figuren à la Michael Kohlhaas werden, die wirklich schon fast pathologische Züge annehmen, wie Menschen um Lebenssinn und Lebensglück gebracht werden
und wie Kindern korrigierende Erfahrungen mit dem anderen Elternteil genommen werden, dann ist das ein Zustand, den wir nicht hinnehmen können, wo wir es
tatsächlich den Betroffenen, und zwar den Eltern wie den
Kindern, schuldig sind, dass wir mehr machen als nur zu
bedauern. Die Ohnmacht der Familienrichter ist im Ergebnis die Verzweiflung der Betroffenen. Das geht so
nicht mehr weiter.
Weil wir wissen, dass wir hier mit dem Schicksal anderer umgehen, appelliere ich noch einmal an alle Familienrichter, jeden einzelnen Fall so zu behandeln, dass es
nicht zur Routine wird, sondern jeden einzelnen Fall so zu
hantieren, als wäre es der eigene, als ginge es um die eigenen Kinder. Ich glaube, dann geht es weiter.
({0})
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/2096 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 16. Februar, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.