Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/9/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich, da es gerade Wortmeldungen zu Zwischenfragen gegeben hat, an unsere Geschäftsordnung erinnern: Danach sind während einer Regierungserklärung keine Zwischenfragen und im Anschluss an sie auch keine Kurzinterventionen zugelassen, da die Aussprache erst danach beginnt, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich eröffne jetzt die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir hatten ja alle etwas Mühe, bei dieser Regierungserklärung wach zu bleiben. ({0}) Herr Scharping, Sie konnten das nicht sehen, aber bei den anwesenden Mitgliedern der Bundesregierung war das noch augenfälliger als bei uns; ({1}) sie sparen vielleicht ihre Kräfte. Ich will zunächst zwei Fragen stellen, die mir spontan in den Sinn gekommen sind, als ich Ihre Rede hörte: ({2}) - Ich habe nur zwei, aber dafür zwei konkrete. Ich habe mich zum einen gefragt, warum eigentlich vor gut einem Jahr der Generalinspekteur von Kirchbach zurückgetreten ist, ({3}) wenn Ihr Konzept so gut ist, wie Sie es hier dargelegt haben. Was war eigentlich der Grund für den Amtsverzicht des Generalinspekteurs, ({4}) den Sie ja auch beauftragt hatten, eine neue Konzeption für die Bundeswehr vorzulegen? ({5}) Zum Zweiten stellt sich für mich ein logisches Problem: Wenn die Zahlen - ich frage jetzt nicht nach Brutto und Netto - alle stimmen, die Sie hier vorgetragen haben, dann müssten Sie eigentlich auf der Suche nach mindestens 50 neuen Standorten für die Bundeswehr in der Bundesrepublik Deutschland sein. ({6}) In Wahrheit hat noch nie ein Verteidigungsminister hier im Parlament eine Konzeption für die zukünftige Struktur der Bundeswehr vorgestellt, die so auf Sand gebaut ist wie die, die wir heute Morgen zum zweiten Mal gehört haben. ({7}) Die Bundeswehr steht vor einem Umbauprozess ohne Perspektive und voller neuer Unsicherheiten. Die „Reform der Bundeswehr von Grund auf“, wie Sie das nennen, stellt die Fähigkeit der Bundeswehr, die ihr gestellten Aufträge auch in Zukunft zu erfüllen, von Grund auf in Frage. Das ist die Wahrheit. ({8}) Schon die Art und Weise, wie Sie die Standortentscheidungen hier noch einmal präsentiert haben, zeigt das ganze Ausmaß der Unseriosität, auch was Ihre Zahlen angeht. Ich will Ihnen drei Beispiele nennen. Sie haben vor, einen der größten Standorte in den neuen Bundesländern zu verkleinern. In Ihrem Konzept wird dieser Standort, Eggesin in Mecklenburg-Vorpommern, von 1 800 Dienstposten auf jetzt 55 reduziert. ({9}) Da die Grenze zwischen Kleinstandorten und Großstandorten bei 50 eingezogen wurde, bleibt dieser Standort Bundesminister Rudolf Scharping mit 55 auch in Zukunft ein Großstandort. Meine Damen und Herren, so rechnet Scharping. ({10}) Lassen Sie mich ein zweites Beispiel nennen. In Neumünster verbleiben von rund 800 Soldaten und zivilen Mitarbeitern jetzt noch zehn. ({11}) Dort verbleibt das Truppendienstgericht ({12}) - ohne Truppe, meine Damen und Herren. ({13}) Kürzungen, die weniger als 500 Dienstposten ausmachen und nicht mehr als die Hälfte des Personalbestandes betreffen, werden in Ihrem Konzept überhaupt nicht als Standortverkleinerungen genannt. Mit diesen Tricksereien täuscht die Bundesregierung, täuscht der Bundesverteidigungsminister die Öffentlichkeit. Schlimmer noch: Er täuscht die Betroffenen, die Soldaten und die zivilen Mitarbeiter an den Standorten. ({14}) Welche seltsamen Wege Sie mit Ihrer Öffentlichkeitsarbeit und Ihrer Informationspolitik gehen, Herr Bundesverteidigungsminister, das haben wir schon beim Umgang mit dem Problem der so genannten DU-Munition und auch bei der Gefährdung der Soldaten durch die Radarabstrahlungen erlebt. ({15})) Darüber werden wir bei anderer Gelegenheit noch ausführlicher sprechen. Ich will nur etwas Grundsätzliches sagen. Sie sind als Verteidigungsminister, Herr Scharping, nicht nur Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt. Sie sind als oberster Dienstherr auch zur Fürsorge den Soldaten gegenüber verpflichtet. ({16}) Diese Fürsorgepflicht ernst zu nehmen gegenüber den Soldaten der Bundeswehr erfordert Offenheit und Ehrlichkeit, und zwar nicht nur beim Einsatz der Soldaten, sondern auch dann, wenn sie an ihren Standorten sind. Von dem Vertrauen, das einmal ein ebenfalls sozialdemokratischer Verteidigungsminister namens Georg Leber bei den Soldaten der Bundeswehr gehabt hat ({17}) - nein; ich weiß mich daran zu erinnern, weil ich in der Zeit meinen Wehrdienst geleistet habe -, sind Sie meilenweit entfernt, Herr Scharping. ({18}) Es ist ja nicht nur ein Konzept zur Reduzierung der Standorte, sondern es muss ein sicherheitspolitisches Konzept dahinter stehen. Darüber zu sprechen muss heute Morgen auch Gelegenheit sein. ({19}) Nach der wiedergewonnenen deutschen Einheit haben die Bundesverteidigungsminister Stoltenberg und Rühe aus zwei feindlichen Armeen die Armee der Einheit geschaffen. ({20}) Aus Gegnern wurden Freunde in einer gemeinsamen deutschen Bundeswehr. Nirgendwo sonst in der deutschen Gesellschaft ist die innere Einheit so schnell und so erfolgreich Realität geworden wie in der Bundeswehr. ({21}) Diese historische Leistung haben wir dem großartigen Engagement der Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr, aber auch der übernommenen Soldaten und zivilen Mitarbeiter der Nationalen Volksarmee zu verdanken. Auch zehn Jahre nach der deutschen Einheit hat dies unseren Respekt und unsere Anerkennung verdient. ({22}) Ich sage dies, weil seitdem die Bundeswehr in Umfang, Struktur und Auftrag in sehr schwierigen Reformschritten auf die neuen Aufgaben ausgerichtet worden ist. Es entstanden die Streitkräfte im vereinten Deutschland, die Streitkräfte eines Landes, das auch in der Außen- und Sicherheitspolitik eine größere internationale Verantwortung übernehmen musste, übernehmen wollte und auch übernehmen konnte. Diese neue Bundeswehr hat ihre ersten internationalen Militäreinsätze bei Friedensmissionen und bei der Krisenbekämpfung insbesondere in Kambodscha und Somalia sowie - bis heute andauernd - in Bosnien und im Kosovo professionell und sehr erfolgreich absolviert. Diese Einsätze waren wichtig für den Frieden in den jeweiligen Ländern. Sie waren von unschätzbarer Bedeutung für das Ansehen unseres Landes nach der Wiedervereinigung. Es gehört eben auch zur historischen Wahrheit: CDU und CSU haben diese Einsätze damals zum Teil gegen den erbitterten Widerstand von Teilen der Sozialdemokraten und insbesondere der Grünen durchsetzen müssen. ({23}) Ich erwähne all dies, weil Sie, Herr Scharping, nach diesem tief greifenden Umbauprozess in der Bundeswehr ein gut bestelltes Haus übernommen haben. ({24}) Ich will gar nicht bestreiten, dass es auch nach 1998 weiteren Reformbedarf in der Bundeswehr gegeben hat. Aber der entscheidende Unterschied ist: Unsere Politik hätte ihre Grundlage in einer Haushaltsplanung gehabt, die nach Jahren des Sparens eine Trendumkehr für die Bundeswehr eingeleitet hätte. ({25}) - Meine Damen und Herren, da Sie erwartungsgemäß Zwischenrufe in größerer Anzahl machen, möchte ich an dieser Stelle daran erinnern, dass es nach der Bundestagswahl 1998 einen Konsens gegeben hat, die Haushaltsplanung für die Bundeswehr, so wie ursprünglich vorgesehen, auf knapp 50 Milliarden DM im Jahr aufzustocken. ({26}) Sie, Herr Scharping - wir alle haben dies noch gut in Erinnerung -, haben den Posten als Vorsitzender der SPDBundestagsfraktion nur aufgegeben und sind Verteidigungsminister geworden, weil der Bundeskanzler und der Bundesfinanzminister Ihnen genau diese Aufstockung zugesagt und versprochen haben. Diese Zusage ist gebrochen worden. ({27}) Unter Rot-Grün gibt es die größte Kürzungsaktion in der Geschichte der Bundeswehr. Die Streitkräfte verlieren in vier Jahren knapp 20 Milliarden DM gegenüber dem, was Sie ihnen zu Beginn Ihrer Amtszeit zugesagt haben. ({28}) Sie haben damit Ihre Versprechen gebrochen. Sie stehen heute nicht als Gestalter einer Reform, sondern als Getriebener des Bundesfinanzministers vor dem Deutschen Bundestag. ({29}) Dies zeigt noch etwas anderes: Diese Bundesregierung und insbesondere viele Regierungsmitglieder haben eine tiefe innere Distanz zur Bundeswehr. Die Bundeswehr hat keine Freunde mehr in dieser Regierung. ({30}) Wer ein Unternehmen neu ausrichten will, der weiß, dass im Zuge einer grundlegenden Reform neue Investitionen erforderlich sind. ({31}) Auf diesen Punkt hat auch die so genannte WeizsäckerKommission in ihrem Bericht „Zukunft der Bundeswehr“ zu Recht hingewiesen. ({32}) Jenseits aller Punkte, die uns heute Morgen in der Bewertung Ihrer Reform voneinander trennen, muss ich sagen: Sie berufen sich bei Ihrer Reform doch auf den Bericht der Weizsäcker-Kommission. ({33}) Aber die entscheidende Veränderung, die die WeizsäckerKommission von Ihnen verlangt, Herr Scharping, nämlich eine Anschubfinanzierung für die Reform der Bundeswehr, fehlt in jeder Haushaltsplanung für die nächsten Jahre. ({34}) Ich will Ihnen ein paar weitere Fragen stellen, Herr Scharping: Glauben Sie denn wirklich, dass im laufenden Haushaltsjahr 2001 mehr als 1 Milliarde DM durch den Verkauf von Bundeswehreigentum eingestellt werden kann? Glauben Sie wirklich, dass die Industrie bereit ist, bisherige Aufgaben der Bundeswehr zu übernehmen, wenn es sich nicht rechnen wird? Woher nehmen Sie eigentlich den Optimismus für die hohen Einsparungen, die Sie durch Privatisierung und Rationalisierung erzielen wollen? Glauben Sie schließlich ernsthaft, dass die Soldaten nicht sehr genau registriert hätten, dass die Höhe des Verteidigungshaushaltes für dieses Jahr gegenüber den Planungen des Finanzministers nur deswegen relativ und vordergründig freundlich ausfällt, weil Sie rechnerisch im Verteidigungshaushalt rund 2 Milliarden DM zusätzlich verbuchen konnten, nämlich für den Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan? Dies alles ist auf Sand gebaut. Ihre Zahlen stimmen nicht und Sie wissen das, Herr Scharping. ({35}) Nun lassen Sie mich, weil auch das in diesen Zusammenhang gehört, ein Wort zur Wehrpflicht sagen. Sie haben sich - gegen manche Widerstände, auch aus den eigenen Reihen - stets für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland ausgesprochen. Wir teilen diese Einschätzung, weil auch wir der Überzeugung sind, dass die Wehrpflicht gut begründet ist, nicht nur hinsichtlich der sicherheitspolitischen Lage, sondern auch in unserem Land und in unserer Gesellschaft. Die Wehrpflicht bleibt als Bindeglied zwischen der Gesellschaft und den Streitkräften auf längere Sicht unverzichtbar. ({36}) Aber nun sind dramatische Einschnitte bei der Zahl der Wehrpflichtigen geplant. Sie wissen doch, Herr Scharping, dass die Zahlen, die Sie uns heute Morgen hier vorgetragen haben - soweit man dem überhaupt folgen konnte -, falsch sind. ({37}) - Entschuldigung, Sie haben doch allein 30 000 so genannte Schülerstellen in die Zahlen einbezogen, die in der Bundeswehr gar nicht ausgefüllt werden. - Die Zahl der Wehrpflichtigen, die Sie vorsehen, und die Haushaltslage, die damit verbunden ist, werden - das wissen Sie ganz genau - dazu führen, dass die Wehrgerechtigkeit im Kern gefährdet ist. Damit wird die Wehrpflicht von innen ausgehöhlt. Dies wird auch die Fähigkeit der Bundeswehr, Zeit- und Berufssoldaten zu rekrutieren, auf mittlere Sicht im Kern gefährden. ({38}) Die Kürzungen bei der Bundeswehr sind weder sicherheitspolitisch noch verteidigungspolitisch zu verantworten. Die Bundeswehr hat einen erheblichen Modernisierungsbedarf: ({39}) bei der Aufklärung, bei der Kommunikation, beim Transport und auch bei den persönlichen Ausrüstungen der Soldaten. ({40}) Unsere Soldaten haben, gerade wenn wir sie in so schwierige Einsätze wie im Kosovo schicken, einen Anspruch auf die beste Ausrüstung und die beste Ausbildung. Hierfür zu sorgen ist Verpflichtung und Verantwortung der Politik, ({41}) dieses Parlaments, das einen Einsatz der Streitkräfte allein beschließen kann, und der Bundesregierung. Wir fordern den Mut zu einer notwendigen Prioritätensetzung zugunsten der Bundeswehr so, wie ihn andere Länder, insbesondere die USA, bereits aufgebracht haben. Wir haben deshalb beantragt, zur Finanzplanung der alten Bundesregierung zurückzukehren, das heißt konkret - ich will es noch einmal sagen -, einen Anstieg der Mittel auf circa 50 Milliarden DM vorzunehmen. ({42}) Die Politik muss der Bundeswehr gerade in dieser schweren Zeit klare und verlässliche Rahmenbedingungen setzen. Nur dann kann die Bundeswehr ihren herausragenden Dienst weiterhin so erfolgreich leisten und nur dann können die Soldaten, die zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ihre Familien endlich wieder eine verlässliche Lebensplanung haben. ({43}) Der frühere amerikanische Präsident George Bush hat der Bundesrepublik Deutschland 1991 in einer weltweit beachteten Rede, die er in der Stadt Mainz gehalten hat, „partnership in leadership“ angeboten. ({44}) Wenn wir dies ernst nehmen, muss gerade Deutschland die Streitkräfte in die Lage versetzen, die politisch vorgegebenen Aufgaben auch tatsächlich zu erfüllen. Auf der Münchener Konferenz für Sicherheitspolitik am letzten Wochenende - Sie waren doch auch fast die ganze Zeit anwesend, Herr Scharping - haben alle amerikanischen Politiker, die aus der neuen Regierung und die aus der früheren Regierung, diese Ansprüche an uns in aller Deutlichkeit formuliert. Die Erwartungen an Deutschland sind hoch. Deswegen sehen unsere Bündnispartner mit großer Sorge, dass zwischen dem politischen Anspruch und der Realität in der Bundeswehr eine immer größere Lücke klafft. ({45}) Diese Sorgen unserer Partner sind alles andere als unberechtigt. Wer will, dass die Bundeswehr neue Aufgaben übernimmt - da befinden wir uns in einem Konsens, auch und gerade was die Beschlüsse von Nizza betrifft -, wer will, dass diese Aufgaben wirklich erfüllt werden können, ({46}) der muss auch bereit sein, die notwendigen Mittel für die Modernisierung der Bundeswehr aufzubringen. Ich will es noch einmal ganz konkret sagen: Weder die Beschaffung des neuen Transportflugzeuges noch die Finanzierung des gemeinsamen Aufklärungssatelliten finden sich in Ihren Haushaltszahlen ausreichend wieder. Was hier auf dem Spiel steht, meine Damen und Herren, ist nicht mehr und nicht weniger als die unter der früheren Regierung unter schwierigen Bedingungen, aber erfolgreich begonnene Ausrichtung auf eine neue sicherheitspolitische Lage nach dem Ende des Kalten Krieges. Frieden und Freiheit unseres Landes zu sichern, mitzuwirken an internationalen Friedensmissionen und deutsche Interessen wirksam zu vertreten, das alles ist nicht zum Nulltarif zu haben. ({47}) Wer nicht zur Solidarität fähig ist, verliert an Einfluss. Im Bündnis der NATO steht Deutschland mittlerweile an vorletzter Stelle, was die Ausgaben für die Streitkräfte betrifft, bezogen auf die Anteile am Bruttosozialprodukt, noch hinter Luxemburg. Dies wird der Bedeutung und der Verantwortung unseres Landes nicht gerecht. ({48}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluss deutlich machen: Deutschland ist, ob wir das wollen oder nicht, politisch und wirtschaftlich das bedeutendste Land in Europa. Als wiedervereintes Land in der geopolitischen Mitte unseres zusammenwachsenden Kontinents haben wir eine neue, größere außenpolitische Verantwortung übernommen. Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik stehen in einem inneren Zusammenhang. Deutschland, Europa und die NATO sind aufeinander angewiesen. Der Verteidigungsetat dieser Bundesregierung gefährdet diesen inneren Zusammenhalt. Wir wünschen uns eine deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, die die gewachsene Verantwortung, die unser Land trägt, auch aktiv wahrnimmt. Wir müssen eine stärkere Rolle im Bündnis der NATO, in den transatlantischen Beziehungen und in der Europäischen Union spielen. ({49}) Frieden und Freiheit zu sichern, die Menschenrechte zu schützen, aber eben auch unsere Interessen zu vertreten, dies muss Aufgabe der deutschen Außenpolitik, aber auch Aufgabe der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sein. Meine Damen und Herren, dieser Aufgabe wird die Bundesregierung mit der vorgelegten Reform der Bundeswehr nicht mehr gerecht. ({50})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Jürgen Koppelin, F.D.P.Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Merz, ich kann durchaus mit vielem, was Sie hier vorgetragen haben, einverstanden sein. Aber ich denke, eines sollten sich die beiden Oppositionsfraktionen, CDU/CSU und F.D.P., in einer solchen Debatte nicht entgehen lassen, nämlich auf das zurückzukommen, was der Bundesverteidigungsminister in der Haushaltsdebatte Ende November letzten Jahres gesagt hat. Als wir damals sagten, es würden 50 Standorte geschlossen, hat er nämlich der CDU/CSU und der F.D.P. in der Person des Kollegen Austermann und in meiner Person vorgeworfen, ({0}) dies sei völlig übertrieben, und hat uns aufgefordert, den Beweis hierfür zu liefern. Es spricht heute nur noch von 39, hat aber tatsächlich mindestens 59 Standorte geschlossen. ({1}) Sie haben das Beispiel Neumünster genannt. Herr Kollege Merz, Sie haben es nicht gesagt. Dann tue ich es: Herr Bundesverteidigungsminister, hier ist der Beweis, dass Sie über 50 Standorte schließen. ({2}) Daneben fehlt mir sowohl bei Ihnen, Herr Kollege Merz, als auch beim Bundesverteidigungsminister die Aussage darüber, was dieses Konzept kosten wird. Eine Standortreduzierung wird nämlich zunächst einmal viel Geld kosten. Der Bundesverteidigungsminister hat es bis heute nicht nötig gehabt - das ist der Unterschied zu unserer alten Koalition; auch wir haben Standorte geschlossen -, in den Haushaltausschuss zu gehen, dort sein Konzept vorzulegen und zu sagen: So viel wird es zunächst kosten und so viel werde ich langfristig einsparen. Auch das muss doch gesagt werden! ({3}) Zum Abschluss: Herr Kollege Merz, der Bundesverteidigungsminister hat in vielen Teilen seiner Rede die Opposition, also CDU/CSU und F.D.P., massiv kritisiert. Wir befinden uns dabei, so meine ich, Herr Verteidigungsminister, in allerbester Gesellschaft. Ich habe nämlich einen Zeitungsartikel dabei und ich freue mich darüber, dass die Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein anwesend ist. Die Überschrift lautet: Simonis kritisiert Scharping. Wahrscheinlich liegt der Unterschied darin, dass Frau Simonis das schon seit zehn Jahren macht, während wir es erst tun, seit er Verteidigungsminister ist. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich unterstelle, Kollege Merz, dass Sie darauf nicht antworten wollen, denn Sie waren gar nicht gemeint. Das, was Herr Koppelin gemacht hat, nennt man eine Dreiecksintervention. Kollege Koppelin, die Regel lautet: Die Intervention soll sich auf den vorherigen Redner beziehen. Daran möchte ich nur erinnern. ({0}) Ich erteile dem Kollegen Gernot Erler, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus Januar/Februar 2001 werden wir zwei Erinnerungen mitnehmen: ({0}) eine daran, dass in diesen Tagen ein wichtiger Schritt zur Umsetzung der Bundeswehrreform getan wurde, und zwar mit dem Ziel, die Bundeswehr bündnisfähiger, aufgabenfähiger und zukunftsfähiger zu machen; eine andere daran, dass die Opposition, vor allem die CDU/CSU, diesen Schritt ausschließlich mit Geschrei und leer laufenden Attacken begleitet hat. ({1}) Was hier abläuft, ist eine durchschaubare Inszenierung. Herr Merz, erst haben Sie sich an der Kampagne beteiligt, dem Verteidigungsminister bei der Uranmunition irgendwas in die Schuhe zu schieben. ({2}) Ich betone dabei „irgendwas“; denn die Vorwürfe waren beliebig und wechselten täglich. Erst hieß es, es hätte zu späte Informationen für die eingesetzten Soldaten gegeben, später hieß es, das Problem sei vernachlässigt worden, und schließlich hieß es, es hätte eine schlechte Information des Parlaments gegeben. Was ist heute davon übrig geblieben? - Nichts, gar nichts! ({3}) Sie mussten anerkennen: Die eingesetzten Soldaten sind rechtzeitig gewarnt und informiert worden, die Bundeswehr hat anders als andere Streitkräfte sogar eigene Untersuchungen durchgeführt - das beweist das Gegenteil von Gefahrenunterschätzung -, und wir konnten Ihnen nachweisen, dass der Bundestag über das Thema früh, wiederholt und gründlich informiert wurde. ({4}) Wir haben dabei gemerkt: Ihnen ist es überhaupt nicht um die Sicherheit der Soldaten oder den Schutz von Umwelt und Land gegangen; denn Sie haben uns, als wir versucht haben, in der NATO wenigstens einen Stopp der Verwendung dieser Munition zu erreichen, im Stich gelassen. Sie haben uns überhaupt nicht unterstützt. Das beweist, um was es Ihnen bei dieser Geschichte wirklich gegangen ist. ({5}) Dann kamen die Standortentscheidungen. Wieder ging das Geschrei vom Kahlschlag und von der Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik los. Eigentlich hat nur noch gefehlt, dass Sie Ihre Familien in ein sicheres Ausland verbracht hätten, so ein Geschrei haben Sie angestellt. ({6}) Das waren absurde Vorwürfe. Das Echo in der Öffentlichkeit war verheerend, ({7}) und zwar für Sie, nicht für den Verteidigungsminister. ({8}) Ich will Ihnen etwas aus der „Süddeutschen Zeitung“ vortragen. Sie schreibt: Man kann mäkeln und meckern an dieser oder jener Ecke seiner Reform: Rudolf Scharping kommt das klare Verdienst zu, anders als seine Vorgänger von der Union, gründlich Inventur bei der Bundeswehr gemacht zu haben. Seine Standortliste schreckt nicht vor harten Wahrheiten zurück und hat die Logik auf ihrer Seite: Wer eine moderne und kleinere Bundeswehr will, muss sich damit abfinden, dass sie sich dann aus manchem Stadtbild verabschiedet. Das eine wollen und das andere nicht aufgeben, geht nicht. Der Vorwurf des Kahlschlags ist nicht gerechtfertigt. Auch die Unterstellung der parteipolitischen Auswahl geht bei genauer Betrachtung der Streichliste ins Leere. ({9}) Das sind nicht wir, die das sagen, das ist die Öffentlichkeit.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Erler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte gern im Zusammenhang vortragen. Im „Mannheimer Morgen“ stand: Scharping hat die Erblast in nur zwei Jahren überwunden und die Bundeswehr so radikal und grundlegend umgekrempelt wie keiner seiner Vorgänger. Das könnten wir gar nicht besser ausdrücken. ({0}) Die „Kölnische Rundschau“ schreibt: Dabei versucht die Union wieder einmal, alte Schlachten neu zu schlagen. Sie spricht von „Kahlschlag“ ({1}) und verlangt eine Bundeswehrstärke von 300 000 Soldaten. Im Grunde will die Unionsspitze also nur kosmetische Veränderungen, aber keine Reformen. So ist das; das hat die Öffentlichkeit gemerkt. ({2}) Es war also wieder nichts mit der Attacke. In Wirklichkeit wissen Sie ganz genau, dass die Standortentscheidungen im Ganzen rational, in der Lastenverteilung fair und von der Sache her unumgänglich sind. Von der CSU haben wir das sogar schriftlich bekommen, freilich verbunden mit der Aufforderung an die eigenen Funktionäre, trotzdem nach Kräften vor Ort Rabatz zu machen. ({3}) Sie nutzen also die örtlichen Betroffenheiten, die es gibt, die wir ernst nehmen und auf die wir vor Ort auch unsere Antworten geben werden, ({4}) für Ihre billigen Attacken gegen die gesamte Bundeswehrreform aus, zu der Sie in 16 Jahren nicht die Kraft gefunden haben. ({5}) Herr Merz, Sie haben noch etwas gemacht: Sie haben in München auf der Sicherheitskonferenz - vielleicht sind Sie so nett und hören mir einmal zu, weil ich Sie persönlich ansprechen möchte - vor Fachleuten aus der ganzen Welt Ihr eigenes Land an den Pranger gestellt mit den sachlich falschen Behauptungen, die Bundesrepublik werde durch die Kürzung der Verteidigungsausgaben um 20 Millarden DM ({6}) ihre Bündnisverpflichtungen nicht erfüllen können, die übrige Welt sei mit Deutschland unzufrieden. Das ist ein unerhörter Regelverstoß; das gibt es in keinem anderen Land. Das hat es in 36 Konferenzen vorher nicht gegeben. ({7}) Damit haben Sie den Grundkonsens in der Sicherheitspolitik gebrochen, Herr Merz. Leute, die mehr Erfahrung haben als Sie, werden Ihnen noch oft sagen, dass diese Premiere fehlgeschlagen ist. Sie werden Ihnen sagen, was sie davon halten, nämlich gar nichts. ({8}) Ziehen wir also Bilanz: Ihr Versuch bezüglich der Uranmunition ist gescheitert, ebenso der bezüglich der Standortentscheidungen. Über die Provokation, die Sie sich in München geleistet haben, haben alle geschwiegen, weil es allen nur peinlich war. Aber Sie brauchen ja etwas, um schnell in die Offensive zu kommen. Sie müssen ja ablenken von Ihrem internen Führungshakeln und Führungsdebakel, ({9}) von Ihrem geschmacklosen Plakatdesaster und all den anderen Pleiten der letzten Tage. Deswegen haben Sie jetzt ein neues Thema gefunden, nämlich die Bundeswehrfinanzen. Nach dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert“ kann man jetzt natürlich mit diesem Thema kommen, ohne irgendwelche Etatvorschläge, die gedeckt sind, zu machen. Die Methode ist: Wieder rein in die Vollen, Horrorzahlen verbreiten, Unsicherheit säen - alles wie gehabt. Die Öffentlichkeit erwartet in der Tat schon gar nichts anderes mehr von Ihnen. ({10}) Aber, Herr Kollege, die Zahlen sind nun einmal neutral; die können Sie nicht anzweifeln. Nach den Zahlen ist es nun einmal Tatsache, dass der Einzelplan 14 nicht in Ihrer Zeit, sondern in den nur drei Etats der neuen Bundesregierung angewachsen ist. Es ist nun einmal Tatsache, dass Sie für die Materialerhaltung in den letzten vier Jahren Ihrer Regierung im Schnitt 4 Milliarden DM aufgewendet haben. ({11}) Wann wurde denn von der Kannibalisierung ganzer Waffensysteme gesprochen? Dieser Begriff ist doch zu Ihrer Regierungszeit geprägt worden und nicht zu unserer. ({12}) Diese Mittel sind jetzt aufgestockt worden. In Investitionen in die militärische Beschaffung sind fast 2 Milliarden DM mehr als in Ihrer Regierungszeit geflossen. Wir haben doch noch die vielen Klagen der Industrie im Ohr, die in Ihrer Regierungszeit in Bezug auf die Arbeitsplätze und die Fähigkeit, international mitzuhalten, geäußert wurden. Das ist jetzt besser geworden. Auch die Investitionsquote, eine magische Größe, haben Sie von 26,9 Prozent im Jahre 1991 auf 23,7 Prozent in Ihrem letzten Regierungsjahr heruntergefahren - mit einem Tiefpunkt von 21,1 Prozent im Jahr 1994. Das ist damals international in der Tat ein Thema gewesen. Jetzt liegt die Investitionsquote wieder bei 24,3 Prozent; wir wollen in diesem Jahr auf 25,4 Prozent kommen. An diesen Zahlen kommen Sie nicht vorbei. Ihre Attacken in Bezug auf diese Etatfrage brechen schlicht und einfach zusammen. Tatsache ist: Die neue Bundesregierung hat die Mittel im Einzelplan 14 erhöht. ({13}) Sie hat die Materialerhaltung verstärkt. Sie hat die Mittel für Investitionen erhöht und vor allen Dingen die Investitionsquote wieder heraufgesetzt. Das alles ist im dritten Etatjahr der neuen Bundesregierung gelungen. Das ist ein respektables, ein vorzeigbares Ergebnis, das zudem unter den Zwängen der Haushaltskonsolidierung erzielt worden ist, die von der Bevölkerung akzeptiert wird und die auch für die Bundeswehr gelten muss. Darüber gibt es in unserer Gesellschaft einen Konsens. ({14}) Deswegen kann ich von dieser Stelle aus abschließend nur eines tun: Ich kann Sie, Herr Merz, und Ihre Fraktion nur dazu auffordern, endlich einmal zur Kenntnis zu nehmen, dass Sie mit Ihrer ständigen Aufforderung zur Ausweitung der Verteidigungsausgaben weder in der Fachwelt noch in der Mehrheit der Bevölkerung Zustimmung finden. Die Mehrheit hat die Unseriosität Ihrer Forderungen, die ja gar nicht von irgendwelchen Deckungsvorschlägen begleitet werden, erkannt. ({15}) Sie zielen mit Ihren haltlosen Zahlenspielen zwar auf die Verunsicherung der Beschäftigten ab, werden damit aber Schiffbruch erleiden. Denn die Menschen haben längst bemerkt, dass es nicht um mehr Verteidigungsausgaben geht, sondern darum, die Sicherheit und die Zukunft der Bundeswehr auf der Basis einer Reform, einer realistischen Anpassung der Größenordnung, also auf der Basis von Strukturveränderungen, zu gestalten. Dies ist der einzige Weg und den geht Rudolf Scharping bzw. die Koalition. ({16}) Ich rufe Ihnen zu: Hören Sie auf mit Ihrem unverantwortlichen Gerede! Kehren Sie zur Sacharbeit zurück, die noch genügend Platz für ein Ringen um die besseren Antworten lässt! Herr Merz, kehren Sie zu dem in sicherheitspolitischen Fragen bewährten Grundkonsens zurück! Davon haben in der Vergangenheit alle profitiert: die Gesellschaft, die Bundeswehr und das Ansehen Deutschlands in der ganzen Welt. Ich danke Ihnen. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Günther Nolting, F.D.P.-Fraktion.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Erler, ich habe Sie in den letzten Wochen nicht ein einziges Mal im Verteidigungsausschuss gesehen. Die gesamte Diskussion ist an Ihnen vorbeigegangen. ({0}) Sie haben sich an dieser Diskussion überhaupt nicht beteiligt. Nun greifen Sie hier die Opposition an. Das kann es ja wohl nicht sein. ({1}) Sie reden hier das Konzept des Ministers schön. Sie werden erleben, dass dieses Konzept nicht zukunftsfähig ist. ({2}) - Dazu komme ich gleich noch. Einen Moment! - Sie haben hier die Diskussion über die DU-, die Uranmunition angesprochen. Dazu ist festzustellen: Wir nehmen die Ängste der Soldaten ernst ({3}) und vertuschen nicht, wie Sie es getan haben. ({4}) Angesichts dessen, dass Sie von Geschrei in den betroffenen Standorten gesprochen haben - auch ich schreie jetzt, weil ich nicht anders kann und weil die Emotionen hier hochkommen -, ({5}) ist zu fragen: Nehmen Sie eigentlich die Sorgen der Soldaten, der zivilen Mitarbeiter und der Kommunen ernst? ({6}) Nein, Sie tun es nicht. ({7}) Ist denn die Kritik der Ministerpräsidentin aus SchleswigHolstein, die zu Recht vorgetragen wurde, Geschrei? In welcher Welt befinden Sie sich? Beschäftigen Sie sich eigentlich mit diesen Fragen? ({8}) Sie sollten in sich gehen und noch einmal überprüfen, was Sie hier vorgetragen haben. ({9}) Herr Kollege Merz, Sie haben ja Recht: Die so genannte Reform Scharping ist aus der sicherheitspolitischen Analyse nicht ableitbar. Wir haben ja gemeinsam mit dem früheren Bundespräsidenten von Weizsäcker einen kompetenten Verbündeten; Sie haben darauf hingewiesen. Er stammt aus Ihren Reihen. Aber ebenso wie die Pläne von Hans-Peter von Kirchbach vom Minister nicht berücksichtigt wurden, wurden auch die Pläne von Herrn von Weizsäcker nicht berücksichtigt. Allerdings suchen Sie sich aus den Plänen der Weizsäcker-Kommission nur das heraus, was Sie gerade brauchen. Auf die Personalreduzierungen, die Herr von Weizsäcker vorgeschlagen hat, sind Sie überhaupt nicht eingegangen. Auch das hätten Sie einmal tun sollen. ({10}) Ich betone an dieser Stelle: Das vorgelegte Konzept „Feinausplanung und Stationierung“ ist kein Geniestreich. Aber, Herr Kollege Merz, angesichts Ihrer heutigen Rede kommen bei mir nun doch einige Fragen auf. ({11}) Die Bundeswehr ist seit Jahren drastisch unterfinanziert und Sie wissen dies. ({12}) Das heißt, der Verteidigungshaushalt muss erhöht und das Personal auf das sicherheitspolitisch erforderliche Maß reduziert werden. Auch darauf sind Sie heute nicht eingegangen. Sie bewegen sich in realitätsfernen Gefilden, Herr Kollege Merz. ({13}) Sie erwecken den Eindruck, als sei mit der Union alles besser. Ich frage mich, woher Sie eigentlich diesen Mut nehmen. Wo war der Mut der CDU/CSU-Fraktion in den gemeinsamen Regierungsjahren mit der F.D.P., als die F.D.P. die Öffnung der Bundeswehr für Frauen forderte? Die Union hat abgelehnt. ({14}) - Die SPD hat auch abgelehnt. Klatschen Sie nicht! ({15}) Wo war der Wille der CDU/CSU-Fraktion, sich für die Menschen einzusetzen, als die F.D.P. gleiche Gehälter für die Bundeswehr in Ost und West durchsetzen wollte? ({16}) Die Union hat abgelehnt, die SPD hat abgelehnt, die Grünen haben abgelehnt und die PDS hat abgelehnt. ({17}) Die F.D.P.-Fraktion hat der Öffentlichkeit bereits vor zwei Jahren ihre Vorstellungen über die Zukunft der Bundeswehr mitgeteilt. Die von Ihnen geführte CDU/CSUFraktion hat bis heute in dieser Frage kein abgestimmtes Konzept. So kann es nicht gehen, Herr Kollege Merz. ({18}) Keine eigenen Vorstellungen, aber Kritik üben - das ist mir schlicht und einfach zu wenig. So verstehen wir Freidemokraten unsere Oppositionsrolle nicht. Meine Damen und Herren, der Mensch steht im Mittelpunkt. Die Politik muss sich immer daran messen, ob sie nach diesem Grundsatz handelt. Selbstverständlich gilt das auch für die Reform der Bundeswehr. Die Angehörigen der Bundeswehr haben Anspruch auf eine bestmögliche Ausbildung, auf modernste Ausrüstung und auf eine angemessene Bezahlung. Sie haben auch Anspruch auf größtmögliche Planungssicherheit, auch in Zeiten schneller Umbrüche wie in den vergangenen Jahren. Selbstverständlich stehen die Angehörigen der Bundeswehr auch im Mittelpunkt, als Staatsbürger in Uniform. Unsere Soldaten übernehmen viele und nicht immer angenehme Pflichten. Ich verweise auf die gegenwärtigen Einsätze auf dem Balkan. Ich verweise aber auch auf die wichtige Arbeit zu Hause. Deshalb sage ich: Wir haben es nicht mit einem abstrakten Gebilde zu tun, sondern mit Menschen, mit Staatsdienern im wahrsten Sinne des Wortes. Ich kann mir nicht helfen, aber genau hier sehe ich ungeheure Defizite bei den Entscheidungen des Verteidigungsministers, und zwar von Tag zu Tag zunehmend. In jedem Standort, den ich in den letzten Tagen besucht habe, bekomme ich von den Menschen gesagt, die Reform der Bundeswehr ginge an ihnen vorbei. Da werden Hochglanzbroschüren ausgeteilt, die lücken- und fehlerhaft sind. Da werden Informationen so lange zurückgehalten, bis die Gerüchteküche überquillt und Presseveröffentlichungen den Minister zur Unterrichtung zwingen. Da wird mit Zahlen getrickst, die keiner Überprüfung standhalten. Ich verweise dabei auf das unhaltbare Papier zur Wehrgerechtigkeit vom Herbst letzten Jahres. So kann es niemanden wundern, dass von der vollmundig angekündigten größten Reform in der Geschichte der Bundeswehr lediglich ein verunglücktes Reförmchen übrig geblieben ist. Ganz offensichtlich hat Sie, Herr Minister Scharping, der Mut verlassen. Das notwendige Geld war vorher schon weg. ({19}) Herr Minister Scharping, Sie sind kein Visionär, wie wir das heute wieder erlebt haben, ({20}) Sie sind nicht einmal Realist. ({21}) Sie sind ein mutloser Zauderer, zunehmend gepaart mit träumerischen Zügen. Herr Minister Scharping, der Kollege Koppelin hat schon darauf hingewiesen: Sie haben hier im letzten Herbst in der Haushaltsdebatte erklärt, es werde, abgesehen von Kleinststandorten, kein Standort geschlossen, ({22}) und in diesem Zusammenhang die Kollegen Austermann und Koppelin der Lüge bezichtigt. ({23}) Am 14. Dezember letzten Jahres konnten wir dann in der Zeitung „Die Welt“ nachlesen, welche Standorte geschlossen werden. Haben Sie, Herr Minister Scharping, am 29. November letzten Jahres wissentlich die Unwahrheit gesagt oder arbeitet Ihr Haus an Ihnen vorbei? ({24}) Ich könnte auch sagen: Es begann mit einer Lüge. ({25}) Herr Minister Scharping, Sie sollten sich endlich bei den Kollegen Koppelin und Austermann genauso wie beim Vorsitzenden des Deutschen Bundeswehrverbandes entschuldigen. Natürlich müssen Veränderungen bei Standorten vorgenommen werden, ({26}) wenn die Bundeswehr umstrukturiert wird. Daran besteht kein Zweifel. Aber dann darf der verantwortliche Minister nicht noch zehn Wochen zuvor lediglich von zu schließenden Kleinststandorten sprechen. Das ist der eigentliche Skandal! Herr Minister, Ihre eigenen Parteifreunde haben Ihnen diese Aussagen abgenommen und dies auch in den Standorten verkündet. Sie stehen jetzt im Regen. Sie stehen in dieser Frage auch aus Ihren eigenen Reihen unter Druck, aber lassen nicht von diesem Wege ab, wie Ihre Hochglanzbroschüre „Feinausplanung und Stationierung“ belegt. Sie ist eine standortpolitische Mogelpackung allererster Güte. Das kann man an einigen wenigen Fakten belegen: Es werden 59 Standorte geschlossen, davon 39 Großstandorte; das ist in diesem Papier nachzulesen. Zudem wird der Personalbestand in 20 Standorten halbiert und in 18 Standorten bis zu 98 Prozent reduziert, was einer Totalaufgabe gleichkommt. Ich nenne einige wenige Beispiele: Dülmen wird von 1 969 Dienstposten auf unter 400 reduziert - dort wird es in Zukunft nur noch zivile Mitarbeiter geben - aber der Standort, so der Minister, bleibt erhalten. Eggesin wird von 1 792 auf 55 Dienstposten gekürzt, aber, so der Minister, der Standort bleibt erhalten. Neumünster wird von über 900 Dienstposten auf ganze zehn reduziert, aber der Standort, so der Minister, bleibt erhalten. - Die Liste ließe sich fortsetzen. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, den Standort Schneeberg ganz zu streichen? Auch dazu müssen Sie noch eine Erklärung abgeben. ({27}) Herr Minister Scharping, ich fordere Sie auf, endlich Antworten auf folgende Fragen zu geben: Wie ernst nehmen Sie eigentlich die Gespräche mit den Betroffenen? Wie gedenken Sie den sozialverträglichen Umbau der Bundeswehr zu finanzieren? Haben Sie Vorkehrungen getroffen für die fällige Anpassung des Personalbestandes? Wann erfahren die betroffenen Soldaten und zivilen Mitarbeiter, was mit ihnen passiert? Welche Verträge wird es geben? Wie wollen Sie den erforderlichen umweltgerechten Rückbau der Liegenschaften und die vielerorts überfällige Modernisierung der Kasernen finanzieren? Wie wollen Sie den Gemeinden helfen, die ihre Kasernen plötzlich ganz oder weitgehend eingebüßt haben? Sie glauben doch selber nicht, dass diese Last allein den Ländern und Kommunen aufgebürdet werden kann. ({28}) Ich prophezeie Ihnen: Wenn Sie hier nicht in kürzester Zeit tragfähige Konzepte vorlegen, werden Sie einen dramatischen Rückgang beim Unteroffiziersnachwuchs erleben und von einer massiven Welle berechtigter Entrüstung und innerer Kündigung überrollt. Das kann nun wahrlich nicht im Interesse einer seriösen und zukunftsfähigen Bundeswehrplanung sein. ({29}) Ich werfe Ihnen vor, dass Sie die bei Amtsantritt groß angekündigte Bundeswehrreform, die überfällig war - darin sind wir uns ja einig -, zum Reförmchen haben verkommen lassen. Ich werfe Ihnen vor, dass Ihr Werk „Feinausplanung und Stationierung“ dieses Jahrzehnt nicht überdauern wird. Ich werfe Ihnen vor, dass Sie wider besseres Wissen um die Zukunft der Wehrpflicht an dieser festhalten. Die allgemeine Wehrpflicht wird wegen der Wehrungerechtigkeit Ihres Strukturmodells in absehbarer Zeit ausgesetzt werden. Ob nun mangelhaft ausgeprägte Weitsicht, Mutlosigkeit oder parteipolitisches Kalkül dafür verantwortlich zeichnen, ist für Soldaten wie zivile Bundeswehrbeschäftigte und deren Familien unbedeutend. Diese erkennen nur überdeutlich: Sie, die Menschen, stehen bei Ihren Entscheidungen nicht im Mittelpunkt, Herr Minister, sie werden nicht berücksichtigt. Das ist der größte Skandal. ({30}) Ihre Amtszeit, Herr Minister, gleicht einem Drama in vier Akten. Erster Akt: Vertrauensbildung durch Versprechungen und große Ankündigungen. Zweiter Akt: Beschwichtigung durch Planungsaktivität, Vertuschung und Täuschung. Dritter Akt: Versprechungen nicht eingehalten, nur scheibchenweise Eingeständnisse. Vierter Akt: Bundeswehr im Chaos, Scharping macht eine Reform und keiner macht mit. Wir warten darauf, dass der Vorhang fällt. Vielen Dank. ({31})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Fraktion macht die Bundeswehrreform mit der Rede ihres Fraktionsvorsitzenden heute zur Chefsache. Angesichts der Bedeutung des Themas ist das anzuerkennen. Es geht immerhin um die größte und durchgreifendste Reform der Bundeswehr seit ihrer Gründung. Aber das Auswechseln der Spitzenredner der CDU/CSUFraktion ändert nichts an der Beschränktheit und künstlichen Aufgeregtheit ihrer Attacke. ({0}) Ihre Verurteilung der laufenden Bundeswehrreform ist total, die Urteilsbegründung aber ausgesprochen dünn. Das ist auch in Ihrem heute eingebrachten Entschließungsantrag deutlich nachzulesen. Sie behaupten, die Bundeswehrreform basiere nicht auf einer umfassenden Bedrohungsanalyse. Mir ist bisher nicht aufgefallen, dass sich die Bedrohungswahrnehmung der CDU/CSU sonderlich von der des Ministeriums unterscheidet. Sie behaupten, mit der geplanten reduzierten Umfangstärke werde die Bundesrepublik ihrer Rolle in der Mitte Europas nicht mehr gerecht. Es bleibt mir unerfindlich, worauf dann der Vorschlag der CDU/CSU zielt, in dem geringfügig mehr Soldaten gefordert werden, nämlich insgesamt 300 000, ({1}) in dem aber auf einen streitkräftegemeinsamen Ansatz, somit Effizienzgewinne durch straffere Strukturen, verzichtet wird. Herr Merz, was erwarten Sie eigentlich von einer Bundeswehrreform? Dazu haben Sie gerade in Ihrer Rede gar nichts gesagt. ({2}) Ihre Kritik ist widersprüchlich, unehrlich, konzeptionslos und kein produktiver Beitrag zur Bundeswehrreform. Wir haben es nun mit der 7. Bundeswehrreform in den 45 Jahren ihres Bestehens der Bundeswehr zu tun. Die Ausrichtung auf neue Aufgaben geschieht einerseits durch eine grundlegende Umstrukturierung der Kräfte, also Zusammenfassung von so genannten Querschnittsaufgaben in der Streitkräftebasis, verbunden mit einer Zusammenfassung der Hauptverteidigungskräfte und Krisenreaktionskräfte zu den Einsatzkräften. Andererseits reduzieren wir die Kräfte der Bundeswehr. Diese Reduzierung ist im Gesamtumfang maßvoll, für einzelne Truppengattungen aber einschneidend. Bei den Kampftruppen des Heeres zum Beispiel beträgt sie mehr als 40 Prozent, bei den Logistikverbänden ungefähr 60 Prozent. Mit dem Konzept „Feinausplanung und Stationierung“ kommt die Bundeswehrreform bei den Menschen vor Ort an und erhitzt selbstverständlich etliche Gemüter. Unsicherheiten sind in einer solchen Phase zunächst einmal unvermeidlich. Deshalb ist es besonders wichtig, dass mit diesen Unsicherheiten offen umgegangen wird und dass sie vor allem nicht parteipolitisch geschürt oder durch das Sankt-Florians-Prinzip künstlich angefacht werden. ({3}) Denn nach aller Erfahrung besteht das große Risiko, dass sich gerade ein fahrlässiger Umgang mit der Standortfrage als Bremse für notwendige Reformen auswirkt. Der Umfang der Standortreduzierungen ist ausgesprochen moderat ausgefallen, verglichen mit Rationalisierungs- und Einsparungspotenzialen eines strengen Modernisierungskurses oder vor allem mit den Vorschlägen der Weizsäcker-Kommission, die bei einer Gesamtstärke von 240 000 Soldaten eine Halbierung der Zahl der Standorte und Liegenschaften empfohlen hat. ({4}) Insgesamt betrachtet sind die Standortentscheidungen sachgerecht und nachvollziehbar. Wir sehen keinerlei Anhaltspunkte für parteipolitisch motivierte Begünstigungen oder Benachteiligungen. ({5}) Wo in Einzelfällen die Entscheidungen bisher nicht nachvollziehbar sind, muss dies schnell nachgeholt werden. ({6}) - Herr Braun, Sie sollten ein bisschen genauer hinhören. Dann brauchen Sie nicht dazwischenzurufen. Die Reduzierungen sind - darin stimmen die Auffassungen in diesem Haus, wenn man ein bisschen ehrlich ist, überein - insgesamt unumgänglich. Deshalb sind Überlegungen überfällig, wie dieser Prozess wirklich sozialverträglich gestaltet werden kann. Dabei geht es als Erstes um die betroffenen Menschen, die Soldaten, ihre Angehörigen und die Zivilbeschäftigten. Den Zivilbeschäftigten versprach die Bundesregierung, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen geben werde. Dieses Versprechen muss jetzt in den laufenden Tarifverhandlungen eingelöst werden. ({7}) Für etliche Kommunen bedeuten diese Standortreduzierungen und -schließungen einen einschneidenden und gravierenden Vorgang. Allein in dem Regierungsbezirk Münster, aus dem ich komme, sind mehr als 50 Prozent der Standortreduzierungen von ganz Nordrhein-Westfalen vorgenommen worden. Das verunsichert natürlich. Aber wenn wir einmal in die 90er-Jahre zurücksehen, als enorme Truppenstärken reduziert werden mussten, dann können wir feststellen, dass diese erheblichen Strukturbrüche - zunächst einmal waren es Strukturbrüche - insgesamt sehr gut bewältigt wurden, allerdings in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Bayern zum Beispiel war verhältnismäßig wenig betroffen. In Bayern - das zeigt sich jetzt sehr deutlich - hat sich die CSU niemals darum gekümmert, wie solche Prozesse wirklich sozialverträglich abgefedert werden können, wie also Konversion betrieben werden kann. ({8}) Hier ist ein Unterschied zum Beispiel zum Land Nordrhein-Westfalen, in dem es darum ging, insgesamt 120 000 so genannte Militärarbeitsplätze, davon mehr als 20 000 Arbeitsplätze von Zivilbeschäftigten, und 300 Liegenschaften abzubauen. Es gelang, in diesen Liegenschaften 10 000 neue Arbeitsplätze zu entwickeln; 25 000 weitere sind in Aussicht. Voraussetzung für diesen erfolgreichen Konversionsprozess war die ausgezeichnete Zusammenarbeit der Kommunen, kommunaler Akteure, des Landes und der entsprechenden Beratungseinrichtungen, vor allem des Internationalen Bonner Konversionszentrums, sowie schließlich und wesentlich auch der Europäischen Union. Diese Erfahrungen können wir jetzt bei dem weiteren Konversionsprozess hervorragend nutzen. Das macht Hoffnung, diesen Prozess gut bewältigen zu können. Ich nannte gerade das Stichwort Europäische Union. Hier ergibt sich zugleich ein Problem: Die EU-Gelder, die im vorigen Jahrzehnt zur Verfügung standen, werden jetzt realistischerweise nicht mehr zur Verfügung stehen. In diesem Falle geht es ja um eine nationale Militärreform und nicht um eine europaweite Frage. Das heißt in der Konsequenz, dass nun auch der Bund in der Pflicht ist, Mitverantwortung für die Standortkonversion zu übernehmen. Das wird nicht einfach und einige InteressenWinfried Nachtwei konflikte, zum Beispiel beim Liegenschaftsverkauf, sind vorprogrammiert. Aber mit der Koalitionsvereinbarung, in der es hieß, „Rüstungskonversion wird auch als bundespolitische Aufgabe gesehen“, haben SPD und Grüne dazu ihre Bereitschaft erklärt. Dazu stehen wir weiterhin. Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Ulrich Adam.

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich habe jetzt ein Problem. Ich hatte mich nämlich mit Blick auf den Kollegen Erler gemeldet.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Dann beziehen Sie sich auf den Kollegen Erler; er ist ja anwesend.

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön. - Herr Kollege Erler, ich empfand vor allen Dingen zu Beginn Ihrer Rede die Behauptung vermessen, wir seien in der Standortdiskussion lediglich polemisch. Oben auf der Besuchertribüne sitzen der Bürgermeister von Eggesin, F.D.P., und der Bürgermeister von Stavenhagen, CDU, mit Vertretern aus der Region, die auch draußen mit Transparenten sehr deutlich machen, wie betroffen sie von der Schließung ihrer Standorte sind. Es ist ja schon wiederholt dargestellt worden, dass die Entscheidung über Eggesin faktisch einer Schließung gleichkomme. Insofern ist es ein Ding, wenn Sie behaupten, es sei reine Polemik, wenn die Bürger ihren Unmut deutlich machen. Ich kann Ihnen dann nur bescheinigen, dass Sie nichts über die neuen Bundesländer wissen. Der Landkreis Demmin, in dem die Reuterstadt Stavenhagen liegt, hat die höchste Arbeitslosigkeit in Mecklenburg-Vorpommern und in der Bundesrepublik Deutschland. Gleich danach kommt der Landkreis Uecker-Randow, in dem die Stadt Eggesin liegt. An dieser Stelle frage ich Sie: Wie geht das mit den Kriterien überein, die der Verteidigungsminister aufgestellt hat? Das habe ich ihm selber auch schon gesagt. Insofern ist es schon vermessen, wenn Sie da von Polemik sprechen. ({0}) Ein weiteres Argument: Wir hatten in diesem Haus einen breiten Konsens bei der Aufstellung des NordostKorps. Ich bin sehr stolz darauf, dass das noch unter unserer Regierung stattgefunden hat; bevor Polen in der NATO war, wurde die Absichtserklärung gegeben. Erklären Sie mir jetzt einmal, wie die Schließung gerade dieser wichtigen Standorte im Nordosten Deutschlands mit der internationalen Zusammenarbeit zusammengeht. Das macht doch wohl keinen Sinn. Was ich angesprochen habe, war zum Beispiel auch eines der Kriterien für den Erhalt einzelner Standorte, die der Verteidigungsminister aufgestellt hat. Dass Sie in diesem Zusammenhang immer wieder von Polemik sprechen und dabei noch den Beifall Ihrer Kollegen haben, halte ich für ein Unding. Insofern fordere ich Sie auf, angesichts der betroffenen Bürger und Soldaten klar zu sagen, worum es hier geht: Es geht hier nicht um Polemik, sondern um die Sorgen von Menschen. Es kann nicht sein, dass in den Regionen unseres Vaterlandes, in denen wir die größten wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die höchste Arbeitslosigkeit haben, Standorte in so radikaler Weise geschlossen werden, dass nicht ein Einziger übrig bleibt. Wenn Sie sich zum Beispiel den Landkreis Demmin anschauen, werden Sie feststellen, dass dies in dieser Region der letzte Standort ist, den es dort gegeben hat. Auch für mich ist das ein Schlag ins Gesicht. Unser Fraktionsvorsitzender hat zu Recht gesagt: Die Bundeswehr ist die Armee der deutschen Einheit. Wenn Sie zur Schließung von Standorten in den ärmsten Regionen der neuen Bundesländer - ich schließe darin Schneeberg mit ein - Ihr Wort geben und unsere Kritik als billige Polemik abtun, halte ich das schlicht für einen Skandal. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Erler.

Dr. h. c. Gernot Erler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Adam, Sie haben mir ganz offensichtlich nicht zugehört. ({0}) Ich habe den Vorwurf der Polemik nicht den Bürgern gemacht, sondern Ihnen und Ihrer Partei - und dabei bleibe ich. ({1}) Ich habe in meiner Rede gesagt, dass es Betroffenheiten vor Ort gibt, die wir in unserer Fraktion sehr ernst nehmen, und dass wir auf den Einzelfall bezogene Antworten geben werden - und dazu stehen wir. ({2}) Ich weiß zum Beispiel, dass es in dem von Ihnen angesprochenen Fall, den wir sehr ernst nehmen, noch Gespräche zwischen der Landesregierung und dem Ministerium gibt. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Ich wiederhole: Wer von Kahlschlag spricht, wer im Zusammenhang mit den Standortentscheidungen, die bei einer Bundeswehrreform notwendig sind, ein Horrorgemälde zeichnet, ist polemisch, weil er versucht, die Sorgen der Leute vor Ort für einen Schlag gegen die Bundeswehrreform auszubeuten. Die Bundeswehrreform insgesamt ist notwendig und dabei bleibe ich. Im Übrigen war die Reaktion der Öffentlichkeit auf die unerhörten Übertreibungen, die sich Ihr Fraktionsvorsitzender und der Sprecher Ihrer Fraktion geleistet haben, entsprechend. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Hildebrecht Braun. Sagen Sie bitte, auf wen Sie sich beziehen.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich beziehe mich in erster Linie auf den Kollegen Nachtwei, sage aber auch etwas zu den Ausführungen des Kollegen Erler. Herr Erler, Sie weisen den Vorwurf zurück, es habe ein Kahlschlag stattgefunden. Herr Nachtwei dagegen hat - in seinem für einen grünen Verteidigungspolitiker bemerkenswerten Beitrag - ausgeführt, dass der Rückgang der Kampftruppen beim Heer doch sehr beklagenswert sei. ({0}) Das sind interessante Entwicklungen, die sich bei den Grünen feststellen lassen. Tatsache ist, Herr Nachtwei, dass Ihre ehrenwerte Kollegin Angelika Beer noch vor zweieinhalb Jahren ein bundeswehrfreies Schleswig-Holstein gefordert hat. ({1}) Jetzt haben Sie, wenn auch nicht in Schleswig-Holstein, Erfolg. Wenn man sich vor Augen führt, dass das Gebiet zwischen Donauwörth und Marienberg in Sachsen, zwischen Aalen in Baden-Württemberg und Gera in SachsenAnhalt bundeswehrfrei ist - ein Gebiet, deutlich größer als Schleswig-Holstein - kann man nur von Kahlschlag sprechen. Wenn die Menschen in diesem Gebiet mit einer Ausdehnung von 200 mal 200 Kilometern die Bundeswehr in Zukunft nur noch vom Fernsehen her kennen werden, dann entspricht das nicht dem, was Herr Scharping angekündigt hat, nämlich dass die Bundeswehr in der Fläche bleiben werde. Einiges muss einfach angesprochen werden: Es ist ein unglaublicher Vorgang, dass Bayern weit überproportional bluten muss und dass innerhalb Bayerns in Schwaben überproportional ausgedünnt wird. So werden zum Beispiel aus Sonthofen, einem Ort, der in den letzten 45 Jahren in besonderem Maße Opfer für die Bundeswehr erbracht hat, nahezu 80 Prozent der vorhandenen Streitkräfte abgezogen. In Sonthofen soll die Schule für Feldjäger und Stabsdienst nicht etwa aufgelöst - dafür hätte man vielleicht noch Verständnis, wenn Opfer gebracht werden müssen -, sondern verlegt werden, und zwar, aus nahe liegenden Gründen, nach Hannover. Wenn darüber hinaus Memmingen dicht gemacht wird, Dillingen dicht gemacht wird, Günzburg dicht gemacht wird, in dieser Schiene auch noch Heidenheim dicht gemacht wird, dann ist das nichts anderes als ein Kahlschlag. Unverständlich erscheint auf der anderen Seite, dass der „Wall“ gegen das neutrale Österreich verstärkt wird, nämlich die Südschiene: Mittenwald, Füssen, Reichenhall. Auf der einen Seite wird wirklich geklotzt - dahin kommen zusätzliche Soldaten; die brauchen wir dort ja auch aus strategischen Gründen ganz dringend - und auf der anderen Seite wird Schneeberg dicht gemacht. Und dann heißt es noch: Es werden den einzelnen Mitarbeitern keine betriebsbedingten Kündigungen aufs Auge gedrückt. Das heißt, den Halbtagskräften dort wird angeboten, in Zukunft für eine Halbtagsstelle in einen 80 Kilometer entfernten Standort zu fahren? ({2}) - Nein, Herr Erler, beschäftigten Sie sich mit den Auswirkungen dessen, was Sie hier beredt verteidigen, und Sie werden sehen: Was hier gemacht wird, entspricht nicht sozialdemokratischen Grundsätzen und ist auch für die Bundeswehr nicht in Ordnung. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich Kollegin Hannelore Rönsch. ({0}) - Ich nehme an, diese Kurzintervention bezieht sich auch auf Sie, sodass Sie zusammenhängend antworten können. Nach dieser Kurzintervention hat dann endlich der nächste Redner das Wort.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank, Herr Präsident. Ich möchte mich auf den Kollegen Erler beziehen, weil ich ihm einfach einmal deutlich machen will, wie -

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin, es ist unüblich, dass als Antwort auf eine Kurzintervention nun wiederum eine Kurzintervention folgt. Sie müssen sich ausdrücklich auf die Rede beziehen.

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich werde mich ausdrücklich auf die Rede beziehen, da ich ja vorhin schon einen Ansatz gemacht habe, eine Zwischenfrage an den Minister zu stellen. Ich will nur einmal deutlich machen, wie örtliche Antworten aussehen: Meine Heimatstadt Wiesbaden hat mit ihrer Wehrbereichsverwaltung von der Konzeptionslosigkeit des Ministeriums partizipiert. Aus dem Ministerium kam zunächst die Botschaft, dass dort 800 Arbeitsplätze wegfallen würden. Durch Verhandlungen und viele Interventionen vorher ist offensichtlich dann doch erreicht worden, dass 630 dieser Dienstposten in Wiesbaden verbleiben. Das wurde in einer Nacht ausgehandelt und am nächsten Morgen mitgeteilt. Jetzt bekommen wir die Mitteilung, dass es sich hierbei um „einfache Verwaltungstätigkeiten“ handelt. Ich hätte natürlich gerne vom Ministerium gewusst, wie lange die Nebenstelle Wiesbaden erhalten bleibt. Denn das ist die dringende Frage der Mitarbeiter dort. Der Minister hatte seiner Kollegin Wieczorek angeblich schon im Juni vergangenen Jahres gesagt -

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Rönsch, ich muss eine Zwischenbemerkung machen. ({0}) Es handelt sich hier um das parlamentarische Instrument der Kurzintervention. Sie sprechen jetzt das Ministerium an. Das ist nicht der Sinn der Kurzintervention. ({1}) Wir haben dieses Instrument ins Leben gerufen, damit unsere Debatten in der parlamentarischen Rede und Gegenrede lebendiger werden. Sie können jetzt nicht auf Entscheidungen des Ministeriums ausführlich eingehen. Wer soll denn darauf antworten?

Hannelore Rönsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001870, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielleicht kann der Kollege Nachtwei darauf antworten, ({0}) sofern er denn in die Verhandlungen mit einbezogen wurde, und mir mitteilen, was die 630 Mitarbeiter in der Wehrbereichsverwaltung IV in Wiesbaden unter „einfachen Verwaltungstätigkeiten“ zu verstehen haben, wer in Wiesbaden verbleibt und wer aus Wiesbaden abgezogen wird. ({1}) Das ist die Frage, die die Wehrbereichsverwaltung IV und die Mitarbeiter dort brennend interessiert. In der Vergangenheit konnte dies keiner beantworten, denn die Staatssekretäre aus dem Ministerium haben immer das Gegenteil von dem behauptet, was der Minister schriftlich niedergelegt hat.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Nachtwei, Sie haben Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Ich will noch einmal daran erinnern: Das Instrument der Kurzintervention soll nicht die Fragestunde ersetzen, in der man Minister und die Regierung befragen kann. ({0})

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In Respekt vor der rechtsstaatlichen Gewaltenteilung werde ich natürlich nicht für das Ministerium sprechen, sondern nur zu den Punkten, in denen ich konkret angesprochen wurde. Kollege Braun, Sie haben sich offensichtlich vor kurzem nicht - so zumindest mein Eindruck - an dem Hörtest beteiligt, der hier im Bundestag angeboten wurde. Sonst hätten Sie hören können, dass ich die Reduzierung der Kampftruppen, der Logistikverbände - da könnte man noch einiges andere, zum Beispiel Kampfunterstützung anführen - schlichtweg als Beleg dafür konstatiert habe, dass bei einzelnen Truppenteilen die Reduzierungen viel größer sind als die Reduzierung des Gesamtumfangs. Das war ohne jede Wertung, das habe ich schlichtweg konstatiert. Was Bayern angeht: Sie wissen selbst, dass die Standortdichte in Bayern erheblich ist, dass Bayern von früheren Reduzierungen unterproportional betroffen war und dass Bayern auch von der jetzigen Standortreduzierung im Vergleich zu etlichen anderen Ländern nicht überproportional betroffen ist. ({0}) Was den Vorwurf eines „Kahlschlags“ angeht: Selbstverständlich - darum kann man gar nicht herumreden - ist es für die Gegend, in der ein großer Standort aufgelöst wird, ein Kahlschlag. Wenn allerdings Sie von der F.D.P. laut über den Rückzug der Bundeswehr aus der Fläche jammern, dann gebe ich Ihnen Folgendes zu bedenken: Erstens. Schon bei den Bundeswehrreformen in den letzten Jahren hat es erhebliche Teilrückzüge aus der Fläche gegeben. Das dürften Sie nicht übersehen haben. Zweitens. Wäre diese Bundeswehrreform rigide allein nach militärischen und Effektivitätsgesichtspunkten durchgeführt worden, dann wären die Rückzüge aus der Fläche erheblich größer gewesen. Die Wahrung der Präsenz in der Fläche war gerade im Hinblick auf die Nachwuchsgewinnung weiterhin ein wichtiges Kriterium, und zwar wichtiger, als wir vorher erwartet haben. Herr Braun, vergessen Sie bitte nicht, was die F.D.P. zur Bundeswehrreform vorgeschlagen hat: erheblich geringere Kopfstärken. ({1}) Wie wollen Sie diesen Vorschlag mit dem Ziel unverminderter Präsenz in Einklang bringen? Es wäre interessant, darauf von Ihnen einmal eine Antwort zu hören. Im Moment wollen wir das aber nicht mehr. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Wolfgang Gehrcke, PDS-Fraktion, das Wort.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn all das der Bundeswehr drohen würde, was aus dem vom Kollegen Merz gezeichneten Bild hervorgeht, dann könnte ich mich vor Begeisterung überhaupt nicht mehr einkriegen. ({0}) Natürlich weiß jeder, dass das - leider - Unsinn, schwarze Magie war. Ich habe aber Verständnis dafür, dass der Kollege Merz persönlich und die CDU allgemein in einem Dilemma stecken. Ihr Dilemma besteht darin, dass Sie im Prinzip nichts anderes als das machen würden, was die Regierungskoalition macht, wenn man Sie denn lassen würde. Deswegen fallen die Reden so nölig aus, deswegen kann nur am Rande herumgenörgelt und können keine echten Alternativen aufgezeigt werden. ({1}) In einer Regierungskoalition haben sich die Koalitionsfraktionen den Partner teilweise ausgesucht. Eine Oppositionsfraktion kann sich nicht aussuchen, mit wem sie zusammen die Oppositionsbänke drückt. Das hat man eben hinzunehmen. ({2}) Die Reform der Bundeswehr ging in diesem Haus vor einem halben Jahr friedlich über die Bühne. In der Richtung waren sich CDU/CSU, F.D.P., SPD und Grüne über das qualitativ größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einig. Sie waren sich in der Richtung einig, dass aus der Bundeswehr, aus einer Verteidigungsarmee, eine weltweite Interventionsarmee werden sollte. Dass der Kollege Erler das jetzt als einen Inhalt sozialdemokratischer Politik darstellt, wirft ein bezeichnendes Licht darauf, wo die SPD heute angekommen ist. Dort möchte zumindest ich nicht landen. Das ist ein wirklich eindeutiger Kurswechsel. ({3}) - Die Gefahr besteht wirklich nicht. Allein die Fraktion der PDS war dagegen und hat ein anderes Konzept vorgestellt. Die Sache ist doch so: Das Verteidigungsministerium schlägt Standortschließungen vor. Das klingt zunächst nach weniger Militär; so ist es aber nicht. Das Programm heißt nicht Abrüstung, sondern Umrüstung. Tatsächlich handelt es sich um Aufrüstung. Im Hinblick auf das Standortkonzept der Regierung ist nicht entscheidend, wie viel sie abbaut - das ist wenig genug -; entscheidend ist, was sie abbaut: Es sind Verbände, die etwas mit der Landesverteidigung zu tun haben. Als Interventionsarmee braucht die Bundeswehr hochmobile, schnelle und flexible Kontingente. Darauf werden die Standorte zugeschnitten und dafür ist auch fast jedes Mittel heilig. Sie müssen schon die Frage beantworten, wie Sie es in Übereinstimmung mit Ihrem Konzept bringen, dass Sie neben dem Abbau anderer Standorte gleichzeitig die Garnison Wittstock - die es bisher noch gar nicht gibt und das dortige Bombodrom, also den Bombenabwurfplatz, neu einrichten. ({4}) - Bombodrom heißt das Ding, das sagt doch jeder in der Region. ({5}) - Dass Sie nicht wissen, wovon Sie sprechen, sieht man schon daran, dass Sie uns unterstellt haben, dass wir nicht für die Angleichung der Gehälter in der Bundeswehr in Ost und West seien. Da haben Sie wirklich etwas verwechselt. ({6}) - Das ist doch Unsinn. ({7}) Wenn man 59 Standorte schließt und gleichzeitig für den Aufbau eines solchen Standorts insgesamt 500 Millionen DM aufwenden will, stellt sich die Frage, was der Hintergrund dafür ist. Der Hintergrund dafür ist, dass die Krisenreaktionskräfte hier Boden-Luft-Übungen durchführen sollen. Das ist das militärpolitische Konzept dieser Regierung. ({8}) Als Rudolf Scharping noch SPD-Vorsitzender war, hat er übrigens der Bevölkerung dort versprochen: Das Bombodrom kommt weg. Das war seine Aussage. ({9}) Über das Thema „Scharping und Wahrheit“ wird man nach der gestrigen „Monitor“-Sendung hier im Bundestag sowieso noch einmal diskutieren müssen. ({10}) Das, was die SPD einmal versprochen hat, gilt anscheinend nicht mehr. Das zeigt: Es geht Ihnen nicht um Abrüstung, Sie wollen nur umbauen und neue Waffensysteme einführen. Für neue Waffensysteme allerdings taugt das Standortkonzept. Es wird reduziert, um Mittel freizubekommen für die Modernisierung und Effektivierung der Bundeswehr. Das ist ein grundfalsches Konzept, das zu allem Überfluss auch noch schlecht umgesetzt wird: Sie verordnen nämlich von oben, Sie reden nicht tatsächlich mit den Betroffenen, Sie diktieren. Befehl und Gehorsam mögen beim Militär üblich sein, in der demokratischen Gesellschaft sind sie nicht üblich. Kommunen hören nicht auf Kommandos. Auch das sollten Sie einmal lernen. ({11}) Darüber hinaus stiehlt sich die Regierung aus der Verantwortung. Die Kommunen haben sich nicht freiwillig einseitig auf die Bundeswehr fixiert. Politische Interessen haben sie dazu gebracht. Nach dem Verursacherprinzip läge es jetzt beim Bund, den Kommunen ein Leben jenseits der Standorte zu eröffnen. Das tut die Bundesregierung nicht. Sie verbindet die Schließungen nicht mit gezielter regionaler Wirtschaftsförderung. Sie bietet keine Perspektiven für einen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Strukturwandel. Um aktuell den größten Schaden von den Gemeinden abzuwenden, fordert die PDS-Fraktion die Bundesregierung auf: Erlöse aus dem Verkauf von Liegenschaften müssen den Kommunen zugute kommen. Sie dürfen nicht in den Rüstungshaushalt fließen. ({12}) Beim Verkauf der Liegenschaften müssen die Kommunen ein Vorkaufsrecht erhalten. Das ist nicht gesichert. Die Konversion bislang militärisch genutzter Gebäude und Flächen ist aus dem Verteidigungsetat zu bezahlen. Das ist eine wichtige Position. ({13}) Den Zivilbeschäftigten und den Berufssoldaten, die das wünschen, müssen sofort Beratung, Umschulung und Qualifizierung angeboten und finanziert werden. ({14}) In den letzten Tagen haben wir Mahnwachen vor Standorten erlebt, wo es oft nichts außer der Bundeswehr gibt. Ich kann sehr gut verstehen, dass sich die Menschen dort an den Strohhalm Bundeswehr klammern. Wir hatten in unserer Fraktion diskutiert, von der Bundesregierung zu fordern, wenigstens keine Standorte in Ostdeutschland zu schließen. Dafür würde all das sprechen, was letztendlich Hoffnungslosigkeit heißt, ({15}) also Massenarbeitslosigkeit, Mangel an Ausbildungsplätzen, schwierigste Bedingungen für den Mittelstand, Verarmung des kulturellen Lebens. Wir haben uns trotzdem gegen diese pauschale Forderung entschieden. Auch hier lassen wir Ost und West nicht gegeneinander ausspielen. Nicht Aufrüstung, sondern Konversion und Abrüstung in Ost und West wollen wir. Das ist die Perspektive. ({16}) Konversion und Schließung von Standorten müssen Hand in Hand gehen, aber Schließungen mit dem Gestus „Nach uns die Sintflut!“ und ohne Konversion sind unverantwortlich. ({17}) Das trifft insbesondere auf die ostdeutschen Standorte zu, deren Lage mehr als schlecht ist. Wir als PDS haben ein Reformkonzept für die Bundeswehr vorgelegt. Das ist ein echtes Kontrastprogramm. Wir setzen auf den Verzicht auf neue Waffensysteme, auf strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Die Armee soll auf 100 000 Soldaten reduziert werden und sie soll sich auf reine Verteidigung beschränken. Unsere Alternative würde Standortschließungen in weit größerem Umfang mit sich bringen. Das hier und heute zu sagen gebietet die Redlichkeit. Im Unterschied zu Ihnen haben wir in unsere Abrüstungsvorschläge aber die soziale Verantwortung zum Aufbau ziviler Strukturen, ein Amt für Konversion und Abrüstung sowie Konversionsfonds eingebaut. Wir wollen, dass dieser Prozess sozial verläuft, dass er strukturell geordnet wird. All das fehlt in Ihrem Konzept. Deswegen werden wir dieses Konzept ablehnen und, soweit wir es können, dazu beitragen, dass es in der Praxis scheitert. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Zumkley, SPD-Fraktion.

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der Feinausplanung und den damit verbundenen Stationierungsentscheidungen ist ein schlüssiges und überzeugendes Konzept vorgelegt worden. Die Reform der Bundeswehr ist vor dem Hintergrund der Sicherheitslage in Europa überfällig und dringend notwendig. In diesem Punkt sind sich im Übrigen die Fachleute einig. ({0}) Sie von der CDU sind für 300 000 Soldaten. Wir planen die Zukunft der Bundeswehr mit circa 285 000 Soldaten. Der Unterschied - es ist gesagt worden - zwischen den beiden Stärkezahlen ist so gering, dass Ihre überzogene Kritik nicht begründet ist. Im Übrigen vermissen wir ein Alternativkonzept von CDU und CSU. ({1}) Sie müssen sich endlich einigen, ob Sie 300 000 oder 340 000 oder noch mehr Soldaten haben wollen. Sie müssen sich auch einigen, welchen Inhalt Sie uns vorschlagen, damit man mit Ihnen auch einmal ernsthaft diskutieren kann. ({2}) Bei unserer Reform geht es nicht allein um eine Reduzierung des Personals und der vorhandenen Standorte, wie es in der Vergangenheit von Ihnen praktiziert wurde. Unser Ziel ist es, die Bundeswehr für die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen Europas und der NATO fit zu machen. Dazu erhält die Bundeswehr neue Fähigkeitsprofile. Für die ihr gestellten Aufgaben im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung und bei internationalen Kriseneinsätzen ist dies unerlässlich. Sie von der Union kritisieren, dass Deutschland seinen international zugesagten Beiträgen nicht nachkommen könne. Nur ein Beispiel hierzu. In Ihrer Regierungszeit lag die Zahl der Krisenreaktionskräfte bei circa 50 000 Soldaten bei einer Gesamtstärke von 340 000. Ich gebe Ihnen zu: Manchmal waren wir bei 320 000 - geschenkt! In der neuen Konzeption werden 150 000 Soldaten bei einem Stärkeumfang von circa 285 000 Soldaten zu den Einsatzkräften gehören. Es gibt also eine deutliche Verbesserung hinsichtlich der Einsatz- und Durchhaltefähigkeit. Die Feinausplanung verdeutlicht dies. Aufgaben werden neu zugeordnet. Die Zusammenarbeit zwischen den Teilstreitkräften wird ausgebaut. Die Verantwortungsebenen werden gestrafft. Die logistischen und sanitätsdienstlichen Kräfte werden konzentriert. Die Zusammenarbeit in multinationalen Verbänden wird gestärkt. Die Streitkräfte werden somit moderner und leistungsfähiger, aber auch kleiner. Wenn man den Personalumfang verringert, hat dies zwangsläufig Auswirkungen auf die Standorte. Die Schließung oder Reduzierung von Standorten ist für die Betroffenen auch mit Härten verbunden. Dies bedeutet oftmals für viele der betroffenen Städte und Gemeinden, Herr Adam, einen schmerzlichen Einschnitt. Die Angehörigen der Bundeswehr sind als Bürger mit ihren Regionen eng verbunden. Wir wissen um die gewachsenen Strukturen und Traditionen in den Garnisonen. Auch in meiner Heimatstadt sind die Menschen in der Bundeswehr und in den sie umgebenden Bereichen durch das vorliegende Stationierungskonzept zum zweiten Mal stark betroffen. Es muss ehrlicherweise aber auch gesagt werden, dass die Bundeswehr nicht ausschließlich einem strukturpolitischen Zweck dienen kann, so sehr dies im Einzelfall auch wünschenswert wäre. Die überwiegende Zahl der Standorte bleibt von der jetzigen Entscheidung unberührt. Die Bundeswehr bleibt in der Fläche erhalten. Darüber sind wir froh. Die Soldaten können grundsätzlich auch weiterhin heimatnah einberufen werden und bleiben in die Bevölkerung integriert. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht hätte es auch zu drastischeren Schließungen kommen können. Die WeizsäckerKommission hat dies deutlich empfohlen. Es ist aber äußerst unglaubwürdig, auf der einen Seite die jetzt notwendigen Standortveränderungen überschäumend zu kritisieren und auf der anderen Seite die von Ihnen zu verantwortenden und Mitte der 90er-Jahre erfolgten Reduzierungen und Schließungen insbesondere in Schleswig-Holstein und Niedersachsen nicht zu erwähnen. Veränderungen an 46 Standorten aufgrund der damaligen Entscheidung sind noch nicht vollzogen. Ich bitte doch um ein wenig Sachlichkeit und Ausgewogenheit in dieser Diskussion. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Zumkley, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith?

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin heute stimmlich nicht auf der Höhe. Deswegen bitte ich um Nachsicht, dass ich bei meinem Text bleibe. Vielleicht können wir über die Frage später reden. ({0}) Die überwiegende Zahl der Standorte bleibt also erhalten. Wir sind der Meinung, dass wir diese Diskussion auch im Interesse der Bundeswehr versachlichen müssen. Den Vorwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, es handele sich um einen Kahlschlag und dieser sei darüber hinaus parteipolitisch motiviert, nimmt in der Öffentlichkeit niemand ernst. Auch Ihre Fachleute tun dies nicht. In dem vorliegenden Ressortkonzept sind einige Forderungen des Antrages der CDU/CSU bereits aufgenommen - wir sind froh, dass wir auch Gemeinsamkeiten herausstellen können -; exemplarisch nenne ich an dieser Stelle - das ist besonders wichtig - das Attraktivitätsprogramm für das Personal der Bundeswehr. Wir laden Sie herzlich dazu ein, dieses Programm konstruktiv kritisch zu begleiten. ({1}) Weitere Punkte sind die Sozialverträglichkeit der Personalmaßnahmen und die Beibehaltung der Wehrpflicht. Ich möchte aber hier hinzufügen, dass ich Respekt vor all denen habe, die eine andere Lösung bevorzugt haben. Allerdings sind Ihre Finanzierungsvorschläge, die Sie in Ihrem Antrag machen und die auf der überholten Grundlage von 340 000 Soldaten basieren, rückwärts gerichtet und falsch dimensioniert. Sie haben Ihre Finanzplanung in der Vergangenheit nie eingehalten. Sie haben häufig Kürzungen im jeweils laufenden Haushaltsjahr vorgenommen. Ein Großteil der Probleme in der Bundeswehr ist noch heute darauf zurückzuführen - leider. Wir haben keine Kürzungen vorgenommen und wir werden keine Kürzungen im laufenden Haushaltsjahr vornehmen. Mit dem vorgesehenen Plafond werden wir die Bundeswehr kontinuierlich Schritt für Schritt modernisieren. Im Übrigen, Herr Kollege Merz, möchte ich Ihnen Folgendes sagen - ich mache diese Bemerkung mit weniger Leidenschaft als mein Kollege Erler -: Neben bemerkenswerten Teilen Ihrer Rede in München - diese möchte ich ausdrücklich erwähnen - gab es Teile, zu denen ich sagen muss: Die Finanzierung der Bundeswehr auf einer internationalen Sicherheitskonferenz so zu thematisieren, wie Sie es getan haben, entsprach nicht den Gepflogenheiten auf internationalem Parkett. ({2}) So haben es viele empfunden. Herr Kollege Merz, einem solch fachkundigen Publikum wie in München können Sie durchaus zutrauen, dass es die Positionen von Regierung und Opposition gleichermaßen kennt. Sie sollten diesen meinen Rat in Ihrem Herzen bewegen, insbesondere wenn Sie den Weg zum Kanzlerkandidaten beschreiten wollen. ({3}) - Als älterer Kollege darf ich mir diesen Ratschlag erlauben. ({4}) Herr Kollege Merz ist ja noch nicht allzu lange Mitglied des Bundestages. Insofern ist mein Rat freundschaftlich gemeint. ({5}) Der Stellenabbau wird sozialverträglich und ohne betriebsbedingte Kündigung erfolgen. Die Umstrukturierung der Bundeswehr wird mehrere Jahre dauern. Diesen Zeitraum gilt es zu nutzen. Insbesondere die Personal bearbeitenden Dienststellen in der Bundeswehr und die betroffenen Gemeinden haben damit die Möglichkeit, sich auf die Veränderung zeitlich einzustellen. Das wird oftmals nicht leicht sein. Für die Bundeswehrreform sind mit den Eckwerten der Grobausplanung und der Feinausplanung einschließlich der Stationierungsentscheidung wichtige Meilensteine gesetzt. Diese Reform verlangt eine große Kraftanstrengung und die Umsetzung des Kabinettsbeschlusses vom 14. Juni 2000. ({6}) Für das Gelingen brauchen wir vor allem die Mitwirkung der Soldaten und zivilen Mitarbeiter sowie ihre Bereitschaft, sich den neuen Herausforderungen mit Engagement zu stellen. Dafür dankt meine Fraktion ihnen bereits im Voraus. Vielen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich rufe nun zunächst zwei Kurzinterventionen auf, nämlich die des Kollegen Wolfgang Dehnel und die des Kollegen Kurt Rossmanith, und gebe dann dem Kollegen Zumkley die Gelegenheit zu erwidern. Anschließend setzen wir die Debatte in der vorgesehenen Reihenfolge fort. Herr Kollege Dehnel, bitte.

Wolfgang Dehnel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000366, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Zumkley, Sie haben gerade das „schlüssige Konzept“ erwähnt und verteidigt. Seit heute früh 7.30 Uhr demonstrieren Schneeberger Bürger vor dem Brandenburger Tor. Sie haben sich heute Morgen um 3 Uhr auf den Weg gemacht, um für ihren Standort einzutreten. Sie sprechen von einem „schlüssigen Konzept“. Der Herr Bundesminister hat noch am 15. Dezember, nachdem die ersten Schließungspläne bekannt geworden sind, angekündigt, dass letzten Endes keine großen Standorte geschlossen werden und dass sowohl das wirtschaftliche Umfeld als auch die Ausbildungssituation in diesen Regionen entsprechend berücksichtigt werden. In keinem Fall hätte danach der Standort Schneeberg geschlossen werden dürfen. Die Schneeberger Bürger werden sich heute wundern, dass hier im Plenum nicht ein einziger SPD-Abgeordneter aus Sachsen vertreten ist und dass der Minister für den Osten, Herr Schwanitz, nicht anwesend ist. ({0}) Ich finde, es ist skandalös, dass diese Vertreter ihrer Region nicht da sind. Die Bürger der Region hätten das verdient gehabt. Die ganze Region Südwestsachsen steht nämlich zu diesem Standort, und zwar nicht erst seit den Schließungsplänen, sondern die ganzen zehn Jahre seit der deutschen Einheit. In diesen zehn Jahren sind dort 110 Millionen DM investiert worden, es ist modernisiert worden. Jetzt kommen die Schließungspläne von Herrn Bundesminister Scharping. Ich glaube, das ist nicht gerecht gegenüber der Region und den dort lebenden Menschen. Ich bitte da um mehr Verständnis. Sie sollten Ihre sächsischen Kollegen auffordern, Alternativen zu suchen. Meine Alternativen werde ich Ihnen in der nächsten Woche in der Fragestunde vorstellen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich rufe jetzt die Kurzintervention des Kollegen Kurt Rossmanith auf. Herr Rossmanith, bitte. ({0})

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was das Sprechen anbelangt, ist Rot ganz gut, für die Zukunft allerdings nicht. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte den Kolleginnen und Kollegen diese Kurzintervention an sich gerne erspart. ({0}) Aber, Kollege Zumkley, Sie haben leider eine Frage von mir nicht zugelassen. Jetzt dürfen Sie dann trotz Ihrer belegten Stimme noch antworten. ({1}) Ich möchte auf drei Punkte Ihrer Ausführungen eingehen. Sie haben es als bemerkenswert dargestellt, dass die Zahl der Einsatzkräfte jetzt praktisch verdreifacht wird. Ich möchte aber trotzdem darauf hinweisen, dass die Hauptaufgabe unserer Streitkräfte, der Bundeswehr, nach wie vor die Bündnis- und die Landesverteidigung ist. Sie haben von einer Kraftanstrengung gesprochen, die Sie jetzt unternehmen müssen. Das billige ich Ihnen persönlich zu, weil ich weiß, dass Sie diese so genannte Reform nur sehr widerwillig verteidigen und vertreten. Aber wir können jetzt nicht eine Einsatzarmee wollen; das wollen auch Sie sicher nicht. Deshalb finde ich es nicht richtig, wenn Sie diese so genannte Reform, wie ich noch einmal betonen will, jetzt mit dieser Begründung als solche darstellen. Wenn Sie das schon tun, dann frage ich natürlich auch, weshalb die fliegenden Verbände um 25 Prozent reduziert werden müssen. Gerade die vergangenen Konflikte und insbesondere die Beteiligung der Bundeswehr bei der Beilegung des Konflikts im Kosovo haben gezeigt, dass die Luftverbände im zukünftigen Verteidigungsfalle eine wesentliche Rolle spielen. Vor diesem Hintergrund ist es mir unverständlich, weshalb Standorte, wie zum Beispiel Memmingerberg mit über 2 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einschließlich Soldaten, ohne die Wehrpflichtigen, einfach mit einem Federstrich verschwinden sollen. Gerade Memmingerberg ist ein Standort, der im Leistungsvergleich von der Einsatzbereitschaft und von der Einsatzfähigkeit immer an erster Stelle gelegen hat, der auch meteorologisch mit die besten Einsatzmöglichkeiten bietet, weil Nebel und schlechte Wetterverhältnisse dort nur eine sehr geringe Rolle spielen. Mir ist auch unverständlich, weshalb Sonthofen praktisch aufgelöst werden soll - im Endeffekt wird auch der Standort Sonthofen geschlossen; denn es verbleiben nur ein paar Soldaten - und weshalb die Feldjägerschule gerade in den Ballungsraum Hannover verlegt werden soll. Auch eine Begründung hierfür habe ich in Ihren Ausführungen, Herr Kollege Zumkley, vermisst. Als Letztes will ich Ihnen sagen: Sie haben davon gesprochen, Sie müssten 46 Standorte schließen, deren Schließung noch in der Regierungsverantwortung von CDU/CSU und F.D.P. beschlossen worden sei. Lieber Herr Kollege Zumkley, Sie, der Sie sich immer an der Wahrheit orientieren und sich nie mit Halbwahrheiten begnügen - das sage ich Ihnen anerkennend -, sollten solche Argumentationen unterlassen. Diese Standorte werden quasi nur noch abgewickelt. In diesen Standorten befinden sich kaum mehr Soldaten. Die Schließung von 39 Standorten plus fast noch einmal der gleichen Anzahl, bei der der beabsichtigte Abbau quasi einer Schließung gleichkommt, haben Sie zu verantworten. Darüber werden Sie den Bürgerinnen und Bürgern draußen Rede und Antwort stehen müssen. Sie haben aber nicht einmal Ihren eigenen Genossen Rede und Antwort gestanden. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben das einfach mit einem Federstrich umgesetzt und erst im Nachhinein mit einer Beschwichtigungspolitik gegenüber ihren eigenen Genossen, den Landtagskollegen oder den jeweiligen Bürgermeistern reagiert. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Zumkley zur Erwiderung. - Bitte sehr.

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Dehnel, ich verstehe, dass die Schneeberger Bürger um ihren Standort kämpfen. Es hätten auch meine Fischbeker draußen stehen können. Ich kann sie gut verstehen und finde es auch gut, dass sie dies tun. Das zeigt, dass sie eine besondere Beziehung zur Bundeswehr haben, was wir als außerordentlich positiv empfinden. Aber wenn es nicht Schneeberg ist, muss es ja wohl ein anderer Standort sein. Heute ist - ich will dieses Kampfwort eigentlich gar nicht wiederholen - schon vom Sankt-Florians-Prinzip gesprochen worden. Davon ist das Ganze weit entfernt. Aber wenn man reduziert, muss es leider auch Schließungen geben. Die Frage ist immer: Wo ist die Alternative? Wenn der Minister den Standort in Schneeberg beließe, müsste er einen Standort an anderer Stelle schließen. Ich finde, dieses Wechselspiel kann man so nicht treiben. Im Übrigen ist Ihr Ministerpräsident ja noch in der Lage, in dieser Hinsicht Vorschläge zu machen. Ich möchte mich nun dem Kollegen Kurt Rossmanith zuwenden. Herr Kollege, Sie irren sich, wenn Sie glauben, ich stünde nicht hinter dieser Reform. Ich habe dem Inspekteur des Heeres auch aufgrund meiner beruflichen Vergangenheit zu dem neuen deutschen Heer mit den fünf plus zwei Divisionen gratuliert und zu der Art und Weise, wie diese Divisionen anders als früher instandgehalten und eingesetzt werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die vielfältigen europäischen Aufgaben unter dem Stichwort „headline goal“ - aufgrund der Vereinbarungen von Helsinki müssten wir ja 60 000 Soldaten stellen - und an die Erfüllung von NATO-Aufgaben. Ich stimme mit Ihnen überein, wenn Sie sagen, dass unsere Einsatzkräfte von 150 000 Soldaten vornehmlich der Landes- und der Bündnisverteidigung dienen. Dafür sind sie in erster Linie da, dafür brauchen wir sie und dafür werden Sie auch ausgebildet. Aus diesem Teil nehmen wir diejenigen, die bei friedenserhaltenden Maßnahmen benötigt werden. Darüber besteht bei uns Konsens. Dass Sie die Reduzierung der Zahl fliegender Verbände in der Luftwaffe beklagen, verstehe ich. Im Heer gibt es weit drastischere Reduzierungen bei den Kampftruppen, den Kampfunterstützungstruppen und den Führungstruppen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Auch bei der Marine gibt es Reduzierungen. Das ist so auch gewollt und hat zur Folge, dass wir die Streitkräftebasis einführen, die viele Aufgaben der Teilstreitkräfte unterstützend übernimmt. Das halte ich für ein sinnvolles wirtschaftliches und militärisches Konzept. Sie beklagen die Entwicklungen - ich empfinde das genauso wie bei Schneeberg oder meinen eigenen Leuten in Memmingerberg. Auch dafür habe ich volles Verständnis. Wenn ich aber die Anzahl der fliegenden Verbände reduziere, dann muss ein Fliegerhorst geschlossen werden. Wenn es nicht Memmingerberg ist, muss es ein anderer sein. Sollen wir Manching, Kaufbeuren oder Nörvenich schließen? ({0}) - Es gibt genügend Möglichkeiten, Alternativen zu finden. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Zumkley, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich bin lange gefragt worden. Es gab zwei Interventionen mit mehreren Fragen. Es muss erlaubt sein, darauf in sachlicher Form einzugehen. ({0}) Ich glaube, es geht hier um einen ganz wichtigen Punkt. Ich sage jetzt abschließend: Ich werfe Ihnen nicht vor, dass 46 Standorte übrig geblieben sind. Sie haben mit Ihrer Bemerkung völlig Recht, dass diese abgewickelt werden müssen. Wir haben - damals in der Opposition die 94er-Entscheidung zwar kritisch, aber konstruktiv begleitet, ({1}) weil wir gesehen haben, dass die Bundeswehr von 370 000 auf 340 000 Mann reduziert werden musste. Ich habe nur dafür plädiert, auch diese Seite zu betrachten, wenn man die jetzigen Maßnahmen und Entscheidungen überschäumend kritisiert. Ich halte Ihre Position für unglaubwürdig und Sie sollten sie wirklich ernsthaft überprüfen. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächstem Redner gebe ich dem Kollegen Christian Schmidt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es wird jetzt in der Tat eng - für die bayerische SPD. Denn sie hat sich heute anhören müssen, dass Bayern abgestraft werden muss, weil es dort zu viele Standorte gibt und man deshalb zustimmt, dass in Bayern überproportional gekürzt wird. Genauso ist es. ({0}) Der Bundesminister der Verteidigung hat sein Wort gebrochen. Er betreibt - ich möchte hier mit Genehmigung des Präsidenten zitieren - „eine dumme Politik der Standortauflösung“. So hat er das am 7. Juni 2000 in diesem Hause formuliert. In der gleichen Bundestagsdebatte, also vor gerade acht Monaten, hat er den CSU-Kreisverbänden - das sind diejenigen, die Ihnen, Herr Pfannenstein, Ärger machen -, die sich für die Sicherung ihrer Bundeswehrstandorte eingesetzt haben, einen donquichottehaften Kampf gegen Windmühlen vorgeworfen. Er sagte damals, die CSU kämpfe um etwas mit großer Kraft, was gar nicht gefährdet sei. Zwischenzeitlich habe ich den Eindruck, dass hier kein Don Quichotte, sondern der Baron von Münchhausen unterwegs ist. ({1}) Dessen Geschichte, man könne sich selbst am Schopf aus dem Schlamassel ziehen, war bekanntermaßen nur ein Märchen. Ein Märchen ist auch, dass diese Bundeswehrverkleinerung ohne Geld etwas mit Reform zu tun habe. Sie verkleinern die Bundeswehr gerade so weit, wie Ihr Geld reicht. Das ist das Problem, daran kommen Sie nicht vorbei. Sie haben sich dafür entschieden, die Bundeswehr drastisch zu verkleinern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun? ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schmidt, Sie beklagen natürlich zu Recht das Schweigen der bayerischen SPD. Darf ich Sie aber fragen: Wo ist heute die Bayerische Staatsregierung? ({0}) Heute geht es doch um ein Konzept, das praktisch ein bundeswehrfreies Nordbayern vorsieht und das Schwaben in einem Maße beschädigt, wie wir es bisher nicht erlebt haben. ({1})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wissen Sie: Ich bin schon etwas überrascht, Herr Kollege. Sie haben sicherlich verfolgt, dass die Bayerische Staatsregierung im Bayerischen Landtag eine sehr dezidierte Position zu dieser Frage bezogen hat. ({0}) Aus dieser Erklärung geht hervor, dass sie mit den Bürgermeistern der 20 Kommunen, die betroffen sind und die vorher nicht informiert waren, Gespräche führen muss. Auch deswegen hat die Staatsregierung das Gespräch, das gestern der Bundesverteidigungsminister mit dem Ministerpräsidenten führen wollte, abgesagt, weil sie der Auffassung ist, das ist zu früh. Es kann doch nicht sein, dass eine Reform zwei Jahre lang entwickelt wird und dass anschließend innerhalb von vier Werktagen entschieden werden soll, wie es weitergeht. ({1}) Damit eines ganz klar ist: Hier diskutieren wir über Verantwortlichkeiten. Die Verantwortung liegt bei der Bundesregierung und bei niemand anderem. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmidt, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Braun?

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wissen Sie, Herr Kollege, wir haben ja keine eigene bayerische Armee mehr und deswegen ist das Ganze Bundesangelegenheit. ({0}) Nachdem ich auch von SPD-Kollegen höre, dass sie bei der Frage der Finanzierung der Folgen schon klammheimlich auf die Länder verweisen, habe ich den Eindruck, dass da einiges schief läuft. Das muss heute dieser Bundesregierung klar vor Augen geführt werden. Sie können sicher sein, dass sich die Bayerische Staatsregierung in bekannt klarer, dezidierter Weise zu diesen Fragen äußern wird. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmidt, erlauben Sie trotzdem eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Braun? - Bitte, Herr Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Schmidt, natürlich wissen wir sehr gut, dass es sich hier um reine Bundespolitik handelt. ({0}) Aber sollte man nicht die Bundesratsbank nutzen, um auch hier Stellung zu nehmen, wenn es um so starke Interessen eines Bundeslandes, nämlich des Freistaates Bayern, geht?

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der bayerische Ministerpräsident und der Chef der Bayerischen Staatskanzlei haben sich in dieser Sache geäußert. ({0}) Sie sind im Gespräch mit den Betroffenen und haben es dort nicht an Deutlichkeit fehlen lassen. Ich bin der Ansicht, dass erst einmal die Fraktionen des Bundestages diese Frage diskutieren müssen. Ich werde allerdings auch an den Verteidigungsminister die Aufforderung richten, ({1}) seinen Zeitplan zu revidieren, damit eine vernünftige Auseinandersetzung möglich ist. ({2}) - Entschuldigung, ein solch dummes Gerede habe ich selten gehört, wenn Sie hier „Verweigerungsstrategie“ dazwischenrufen. Am Freitag letzter Woche kam aus dem Ministerium zum ersten Mal ein Brief. Die Bürgermeister, die hier auf der Tribüne sitzen, haben bis heute noch nichts Offizielles bekommen. Dann stellt sich der Verteidigungsminister hier hin und sagt: Die waren leider noch nicht alle bei mir. - Ja, wo sind wir denn? Entschuldigung, wer trägt denn hier die Verantwortung? ({3}) Es schwillt mir der Kamm bei dem, was ich von Ihnen, Herr Kollege Erler, gehört habe. ({4}) - Lassen Sie mich einmal ausreden, dann werden Sie hören, was mein Konzept ist. Ich schicke es Ihnen zu. Kollege Erler, Ihre Propagandarede war missglückt. Uns zu unterstellen, wir hätten kein Konzept auf den Tisch gelegt, ist ja nun völlig absurd. Sie haben wohl die Diskussion des letzten Jahres nicht verfolgt. ({5}) Wenn Sie über die Wehrkundetagung letzte Woche in München sprechen, dann sollten Sie einmal überlegen, welchen Auftritt der Bundeskanzler dort hatte. ({6}) Er war schwierig, um nicht ein schärferes Wort zu verwenden; ich will vorsichtig sein. Wissen Sie zum Beispiel, dass der damalige amerikanische Verteidigungsminister Cohen vor einem halben Jahr in England die Europäer aufgefordert hat, ihre Verteidigungshaushalte zu erhöhen? Da liegt doch der Hase im Pfeffer. ({7}) Mit dem Kollegen Zumkley setze ich mich gern sachlich auseinander, weil er ein sachlicher Mann ist. ({8}) Er hat gesagt, er sei dafür, zu reduzieren. Das ist eine achtbare Position. ({9}) Ich bin nicht dafür. Wieso bin ich nicht dafür? - Weil ich der Meinung bin, dass angesichts der Anforderungen, die im Bereich der Krisenreaktionskräfte und der Landesverteidigung auf uns zukommen, die Stärke der Bundeswehr bei Beibehaltung der Wehrpflicht eine kritische Masse nicht unterschreiten darf. Aus diesem Grunde halte ich die Zahl von 250 000, 255 000, über die wir faktisch reden - das müssen wir uns eingestehen, wenn wir ehrlich miteinander umgehen -, für zu wenig. Ihre Position mag eine andere sein. Aber unsere, meine ich, ist sehr gut begründet. Ich kann sogar den Bundesverteidigungsminister zum Zeugen anrufen. Er sagt viel, wenn der Tag lang ist. Bundesverteidigungsminister Scharping hat nach einem Zeitungsbericht bei einem Truppenbesuch in Hohenmölsen in Sachsen-Anhalt gesagt, er halte an der Personalstärke der Bundeswehr fest. Immerhin sei die Truppenstärke von rund 700 000 Bundeswehrangehörigen im Jahre 1991 auf derzeit rund 330 000 Mann mehr als halbiert worden. Also, der Bundesverteidigungsminister sagt, die Truppenstärke sei halbiert worden, das reiche aus und man bleibe bei einer Truppenstärke von 330 000. Können Sie mir bitte erklären, wieso sich die Sicherheitslage zwischen dem 23. August 1999 und dem 9. Februar 2001 so drastisch verändert hat, dass Sie die Bundeswehr um 80 000 Mann reduzieren wollen? Sie werden es nicht können. Nun zum Thema Glaubwürdigkeit. Wenn man als SPD-Politiker in Goldene Bücher hineinschreibt, wie das in Kötzting der Fall war, „Der Standort bleibt erhalten“ und ihn dann schließt, wenn man an der Regierung ist, dann müssen doch die Wähler bzw. die Bürger an der Glaubwürdigkeit der Politik zweifeln. ({10}) Ihr Genosse Gantzer hat am 31. Januar 2001 im Bayerischen Landtag im Rahmen einer Bundeswehrdebatte den Truppenabbau als ein Geschenk für die Kommunen bezeichnet. Ich wünsche ihm für das Gespräch mit den Bürgermeistern von Ebern, Heidenheim, Sonthofen, Lenggries und Kötzting viel Vergnügen. Ihre Art und Weise, mit diesem Problem umzugehen, ist absolut unakzeptabel.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmidt, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pfannenstein?

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Aber immer. ({0}) - Vorsicht, ich habe es dabei.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Georg Pfannenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002749, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Kollege Schmidt, was halten Sie von der Tatsache, dass Sie am 5. Januar dieses Jahres auf Ihrer Klausurtagung ein Papier Ihrer Landesgruppe veröffentlicht haben, in dem steht, ({0}) diese Strukturveränderung mache Sinn, aber man müsse vor Ort jede einzelne Standortschließung bekämpfen? In diesem Papier wurde der Standort Kötzting aufgeführt. Eine Schließung macht laut Ihrem Papier Sinn. Nun steht Kötzting auf der Liste der zu schließenden Standorte; jetzt macht eine Schließung keinen Sinn mehr. Können Sie mir eine Antwort auf diese Widersprüche geben?

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin für diese Zwischenfrage sehr dankbar, um endlich einmal die hier herumgeisternde Unterstellung, es gebe bei der CSU die Strategie, Scharping zu unterstützen, zu widerlegen. ({0}) Das ist nämlich für Herrn Scharping ein Problem. Ich bin schon von Journalisten gefragt worden, ob wir Scharping gegen Schröder unterstützen würden, weil der einmal die große Koalition gewollt habe. Ich kann Herrn Scharping beruhigen: Wir unterstützen ihn nicht in dieser Position und auch nicht in seiner Reform. Das können Sie übrigens aus diesem Vermerk ersehen, der nirgendwo beschlossen worden ist und der offensichtlich, wie ich zwischenzeitlich an der Art, wie er präsentiert wird, festgestellt habe - Herr Erler, passen Sie bitte auf -, ({1}) nicht ganz lupenrein an die interessierte Beschaffungsabteilung gegangen ist. Wir werden noch über eine andere Angelegenheit sprechen müssen. ({2}) - Herr Präsident, möchten die Kollegen von der SPD Aufklärung von mir haben oder wollen die mich niederschreien? Sie sollten ruhig sein. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wenn Sie die Zwischenfrage noch beantworten würden, dann würde ich den Kollegen Pfannenstein bitten, sich noch einmal zu erheben. ({0})

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich habe sie noch nicht beantwortet.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Schmidt, Kollege Pfannenstein hat Ihnen auf Ihre Genehmigung hin eine Frage gestellt. Die beantworten Sie jetzt. Ich bitte Herrn Pfannenstein, während dieser Zeit stehen zu bleiben.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Pfannenstein, die CSU hat kein Papier verabschiedet, in dem sie das Konzept von Scharping in irgendeiner Weise unterstützt. Sie hat Informationen weitergegeben. Das ist mehr recht als billig in Zeiten, in denen SPD-Abgeordnete beispielsweise in Günzburg gesagt haben, dass dieser Standort sicher sei. Wenn Sie diesen Vermerk eines Mitarbeiters - mehr ist es nicht ({0}) genau lesen, dann stellen Sie fest, dass dort steht, ({1}) Christian Schmidt ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schmidt, eine Zwischenfrage sollte kurz und knapp beantwortet werden. Ich bitte darum.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- dass, mein lieber Kollege Pfannenstein, vor dem Hintergrund dieser Reform eine Schließung Sinn macht. Wieso macht das vor dem Hintergrund der Reform Sinn? - Weil Herr Scharping ein Jahr vorher erzählt hat, es würden nur Kleinststandorte geschlossen, weil er die Leute belogen hat. Wir sind aber nicht für diese Reform. Deswegen macht es nach unserer Meinung auch keinen Sinn; damit das völlig klar ist. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt ist die Frage beantwortet. Danke schön.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Übrigen wundert mich, mit welch eigenartiger Mischung aus Arroganz, Uninteressiertheit, Spaß und Lust dieses Thema offensichtlich in der Koalition behandelt wird. Dies ist ein sehr ernst zu nehmendes Thema. ({0}) Ich bin bereit, über die Inhalte zu diskutieren. Wir tun das auch schon lange, aber da haben Sie nicht aufgepasst. Im Übrigen kann ich nur appellieren, das, was jetzt stattfinden soll, zu blockieren bzw. zu überdenken. Aber selbst dann, wenn wir noch einmal darüber diskutieren, wird es in Wahrheit so bleiben. Ihnen fehlt eines: Geld! ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Liebe Kolleginnen und Kollegen, witzige Zwischenrufe beleben die Debatte und sind auch durchaus erwünscht. Wenn aber dieselben Fragen zehnmal dazwischen gerufen werden, kann dies zu einer Belastung der Debatte führen. ({0}) Ich gebe nun der nächsten Rednerin, der Kollegin Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministerpräsidentin Heide Simonis, ich freue mich, dass Sie hier sind, um dieser Debatte trotz manchmal sinkender Qualität zu folgen. ({0}) Ich glaube, der Stationierungsentwurf ist im Ergebnis in sich ausgewogen und berücksichtigt die verschiedenen Interessenlagen von Kommunen, Ländern, Soldaten, Zivilisten und deren Familien. Ich bin der Meinung, dass die Kriterien, die der Minister öffentlich gemacht hat und die hätten korrigiert werden können, berechtigt sind und als Grundlage dessen gedient haben, über was wir heute diskutieren. Ich finde es - hier nehme ich Bezug auf die Rede des Kollegen Zumkley - verständlich, dass die Länder im Dialog mit den Kommunen versuchen - ohne die kampagnenartige Gestaltung der CDU -, noch über das eine oder andere zu diskutieren. Ich sage aber als Schleswig-Holsteinerin und Neumünsteranerin, wo nun nur noch zehn von 900 Soldaten übrig bleiben sollen: ({1}) Wenn wir bei der Standortentscheidung nach Wirtschaftlichkeitskriterien und nach militärischen Kriterien - das sind die Hauptkriterien bei dieser Reform - vorgehen, ist es einfach logisch, dass man Teile der Panzerbrigade zusammenzieht und den Hauptstandort in Boostedt lässt, so schlimm das für Neumünster ist. Wir werden dort mit Fantasie nach vorne schauen, statt immer nur zu schreien. Heute Morgen hat im Fernsehen - Herr Kollege Schmidt, Sie haben versucht, dies zu übertrumpfen, aber es war einfach nicht zu übertrumpfen - der Kollege Huber von einer „Strafexpedition der Bundesregierung gegen Bayern“ gesprochen. ({2}) Dazu kann ich nur sagen: Gute Nacht! Bleiben Sie in Bayern und wir machen unsere Reform. ({3}) Nun komme ich zu den Vorwürfen, mit denen Sie uns im Hinblick auf Niedersachsen bzw. - etwas konkreter auf Hannover parteipolitische Interessen unterstellen und behaupten, wir würden bei der Zusammenziehung der Wehrbereichsverwaltungen einen Kanzlerbonus einbauen. ({4}) Dazu kann ich nur sagen - so sehr ich den Kanzler schätze -: Mir ist die Strukturreform der Bundeswehr und insofern auch die Zusammenlegung der Wehrbereichsverwaltung in Hannover wichtiger. Diese werde ich auch weiterhin verteidigen. Ich will nicht verhehlen, dass die Vorschläge der Weizsäcker-Kommission und unsere Vorstellungen von einer weiteren Reduzierung der Bundeswehr auf 200 000 Mann im Rahmen einer Freiwilligenarmee nicht weit auseinander lagen. Wir hätten Farbe bekannt: Nach unserem Konzept wären noch mehr Standorte geschlossen worden, mit der Zielsetzung, Kosten zu sparen, wo dies möglich ist, und mehr Geld für Investitionen freizumachen. Aber dies sei nun erst einmal zurückgestellt. Herr Kollege Nolting, ich kann Ihrer fundierten Kritik an Ihrem früheren Koalitionspartner und an Herrn Merz weitgehend folgen. ({5}) Aber dass Sie jetzt nur noch populistisch auf das Konzept von Herrn von Weizsäcker aufspringen, das Sie früher bekämpft haben, ist doch etwas zu kurzsichtig. ({6}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bevorzuge Offenheit in den Aussagen und will anstehende Probleme nicht populistisch kleinreden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Beer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Börnsen?

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, danke. Wer das tut, nützt weder der Bundeswehr noch der Außen- und Sicherheitspolitik. Dieser Bereich ist in dieser Debatte leider etwas zu kurz gekommen. Aber ich sage Ihnen noch einmal ganz klar: Wenn man eine Außen- und Sicherheitspolitik gestalten will und akzeptiert, dass wir eine handlungsfähige Bundeswehr brauchen, die ihren Auftrag hat, muss diese Bundeswehr entsprechend angepasst werden. Das heißt, dass wir sie reduzieren müssen, und das heißt, dass wir Stationierungsveränderungen vornehmen müssen. Alles andere ist keine Unterstützung der Außen- und Sicherheitspolitik, es wäre kontraproduktiv. Herr Merz, ich habe nicht die Zeit, Ihre einzelnen Aussagen von heute Morgen zu analysieren. Aber ich habe das Gefühl, dass die frühere Regierungsfraktion der CDU/CSU einem Trauma verhaftet ist, weil Sie sich heute noch irgendwo innerlich gezwungen sehen, die jahrelangen Fehler in Ihrer Regierungsverantwortung heute noch zu rechtfertigen. Diesem Trauma verhaftet, sind Sie politisch völlig handlungsunfähig geworden. ({0}) Sie sind nicht einmal in der Lage, über Ihre eigene Vergangenheitsbewältigung hinaus zu denken. In Ihrem Antrag - der heute abgestimmt und natürlich abgelehnt werden wird - lautet die Kernaussage: Sie lehnen den Entwurf des Ressortkonzepts „Feinausplanung und Stationierung der Bundeswehr“ ab. Sie fordern: Erstens. Alles bleibt, wie es war. Zweitens - das muss man sich wirklich einmal reinziehen - „den Umbau der Bundeswehr für Soldaten und Zivilpersonal, an den Modellen der ehemaligen Bundesregierung orientiert, sozialverträglich zu gestalten“. Sie haben doch dafür gesorgt, dass die Bundeswehr nur noch ein Ersatzteillager ist. Sie haben dafür gesorgt, dass alle Reformen vorher nicht umgesetzt worden sind. Und jetzt sagen Sie: „Weiter so!“ und fordern noch mehr Geld. Ja, wo bin ich denn hier? ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir werden das Reformkonzept weiter unterstützen. Ich sage Ihnen auch, wie wir Reform verstehen, nicht als Schieben, Strecken, Streichen, sondern als Wandel. Wandel heißt Bewegung. Das heißt, die Bundeswehrreform ist auch so etwas wie ein „work in progress“. Dieser Prozess ist nicht statisch, ist nicht festgeschrieben bis auf den letzten Tag. Aber wir wollen ihn zügig umsetzen. Wenn es sein muss, werden wir auch bereit sein, im Rahmen dieser Reform Nachbesserungen vorzunehmen, um allen Interessen gerecht zu werden. Wir haben uns vorgenommen und sind dabei - der Minister hat das heute deutlich gemacht -, als rot-grüne Koalition nicht nur die Defizite, die Versäumnisse, vor allem die politischen Versäumnisse, der letzten zehn Jahre aufzuholen, sondern wir wollen auch gemeinsam mit unseren europäischen Partnern nach vorne gehen. Ich glaube, es ist richtig - das möchte ich hier noch einmal unterstreichen -, dass wir die Reform der Bundeswehr in ein Finanzierungskonzept der Bundesregierung eingepasst haben, das mit der gesamten Haushaltskonsolidierung kompatibel ist. Dass sich an dieser Konsolidierung auch das Verteidigungsressort beteiligt, ist eine Selbstverständlichkeit. Das ist schwierig, aber diesen Weg gehen wir. Sie haben sich heute aus dem Dialog verabschiedet. Das ist bedauerlich, aber es passt in die Planlosigkeit der Opposition, wofür ich mich eigentlich zu bedanken habe. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich nacheinander dem Kollegen Austermann und dem Kollegen Börnsen das Wort. Zunächst Herr Kollege Austermann.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Die Kollegin Beer hat behauptet, sie treffe gelegentlich klare Aussagen. Das mag in der Vergangenheit gegolten haben. ({0}) - Natürlich Schleswig-Holstein. - Sie hat heute sehr verschwommene Aussagen gemacht, ({1}) entgegen der Aussage kurz nach Veröffentlichung des Strukturkonzepts des Verteidigungsministers, als sie davon sprach, dass noch viel zu wenig Standorte geschlossen werden. Jetzt frage ich Sie, Frau Kollegin: Ist es wirklich viel zu wenig - der Minister sprach von „nur vereinzelten Standortschließungen und -reduzierungen“ -, wenn Glückstadt, Großenbrode, Hohenlockstedt, Leck, List, Pinneberg und Westerland mit 4 000 Soldaten geschlossen werden? In meinem Wahlkreis sind 2 000 Soldaten betroffen. Die ganze Westküste mit ihren Bundeswehrstandorten wird ausgedünnt. Hinzu kommen Neumünster, Eckernförde, Schleswig und Rendsburg, wo drastisch reduziert wird. Aus diesen Städten sollen 4 000 Soldaten abgezogen werden. Wenn man die zivilen Mitarbeiter einrechnet, sind es mehr als 10 000 Bundeswehrbeschäftigte. Wenn man den Anteil Schleswig-Holsteins an Bundeswehrfachschulen berücksichtigt, der 3 Prozent beträgt, haben wir am Ende eine Kürzung von 17 Prozent. Halten Sie das für eine bescheidene Kürzung? Halten Sie das für vertretbar? ({2}) - Es ist völlig richtig, was der Kollege Braun sagt. Sie hat in der Vergangenheit ein bundeswehrfreies SchleswigHolstein gefordert. ({3}) Wie passt das zu der Position, die jetzt von den Grünen vertreten wird? - Ich kann Ihnen das Zitat aus dem Jahr 1995 vorlegen. Sie haben von einem „bundeswehrfreien Schleswig-Holstein“ gesprochen. Sie wollen jetzt die Westküste bundeswehrfrei machen. Auch bei den Heeresfliegern in Schleswig-Holstein soll reduziert werden. Es gibt in absehbarer Zeit nördlich der Elbe bei der Bundeswehr keine Hubschrauber mehr. Dies ist ein unverantwortliches Vorgehen. Jetzt komme ich zur Präsenz der Landesregierung, weil dies vorhin ein Thema gewesen ist. Ich habe gedacht, der Innenminister des Landes Schleswig-Holstein, Herr Buß, der heute anwesend ist - er ist der Beauftragte der Ministerpräsidentin für Bundeswehrfragen -, würde Gelegenheit nehmen, hier zu reden. Nachdem die Ministerpräsidentin eingetroffen ist, bin ich davon ausgegangen, dass sie sprechen wird. Aber auf der Rednerliste stehen sie beide nicht. Ihre Namen erscheinen erst bei dem nachfolgenden Tagesordnungspunkt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass wir bereits im Herbst des letzten Jahres - Kollege Koppelin hat darauf hingewiesen - gesagt haben, dass die Existenz des Heeresfliegers „Hungriger Wolf“ und mit ihm andere Standorte gefährdet sind. ({4}) Wir wurden in diesem Punkt aber nicht unterstützt. ({5}) - Ich weiß nicht, warum der ehemalige Polizistentreter dauernd dazwischenreden muss. Das war bisher nicht üblich. Es werden nicht vereinzelt Standorte geschlossen, sondern es kommt zu drastischen Einschnitten. Das muss deutlich gesagt werden. Der letzte Punkt, den ich erwähnen möchte, ist die Finanzsituation.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Austermann, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mein letzter Satz, Herr Präsident.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, keinen Satz mehr.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Okay.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Börnsen, bitte schön.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Beer, Sie haben sich für die Stärkung von Hannover ausgesprochen und deutlich gemacht, dass nicht parteipolitisch vorgegangen wurde. Damit haben Sie sich aber gegen Kiel ausgesprochen. Ihre eigene Landtagsfraktion in Kiel hat sich vehement für die Stärkung und nicht für die Schwächung von Kiel eingesetzt. Ihre Landtagsfraktion hat sich auch für die Beibehaltung des Standortes Neumünster eingesetzt. Sie halten es für gut, dass der Standort der Bundeswehr dort geschlossen wurde. Sie haben deutlich gemacht, dass Sie sich weder für Hohenlockstedt noch für andere Standorte einsetzen. Ist es immer noch Ihre Auffassung, dass in Schleswig-Holstein keinerlei Bundeswehrstandorte mehr sein sollen? Von Ihnen gibt es mehrere Belege dafür, dass Sie für ein bundeswehrfreies Schleswig-Holstein sind. Sie haben unterstrichen, dass Sie zu dem Konzept des Bundesverteidigungsministers stehen. Die Kommunen vor Ort haben nur die nackten Zahlen darüber bekommen, wie viel reduziert und was geschlossen werden soll keine Begründung. Halten Sie das für ein vernünftiges Konzept? In drei Wochen müssen Stellungnahmen erstellt werden. Niemand weiß, wofür oder wogegen eine Stellungnahme erstellt werden soll. Ist das Ihre Bereitschaft zum Dialog, Frau Beer? Ist das vertretbar? Alle unsere Bürger sind in Unruhe und Sorge. Man muss ihnen doch Argumente dafür geben, warum Soldaten aus Schleswig, aus Tarp, aus Flensburg, aus Hohenlockstedt und aus vielen anderen Städten und Kreisen unserer Republik abgezogen werden sollen. Es reicht nicht aus, Zahlen zu nennen. Halten Sie es für richtig, dass vor Ort der Eindruck erweckt wird, der Bundesverteidigungsminister sei bereit, über jedes Problem mit Bürgermeistern zu sprechen, während sie in Wirklichkeit vor Ort abgefertigt werden? Die Hohenlockstedter sind hier gewesen, aber sie haben mit dem Bundesverteidigungsminister nicht sprechen können. Auch die Schleswiger sind hier gewesen, aber der Bundesverteidigungsminister war nicht da. Die Staatssekretäre haben sich große Mühe gegeben, aber vor Ort wird der Eindruck erweckt, der Bundesverteidigungsminister selbst werde den Dialog führen. Dann muss er auch Termine nennen. Ich hoffe sehr, dass er einen Termin für die Standorte nennt, auf deren Rückzug wir ihn angesprochen haben. Bisher haben wir von seiner Seite nicht einmal eine Antwort bekommen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Beer, Sie haben das Wort zur Erwiderung.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrte Kollegen aus Schleswig-Holstein! Worum geht es hier eigentlich? Wir diskutieren heute die Feinplanung. Es geht um eine Vorlage des Bundesministers der Verteidigung, die in den Ländern und Kommunen sowie im Parlament zur Debatte gestellt wird. Der Minister hat signalisiert, dass bis zum 15. Februar Gespräche stattfinden und dass er die endgültige Entscheidung am 16. treffen wird. Der Verteidigungsminister setzt damit eine Koalitionsvereinbarung zwischen Rot und Grün um, die besagt, dass wir die Bundeswehr reformieren wollen. Wir haben beschlossen, dass wir das Personal der Bundeswehr reduzieren wollen. Das bedeutet - das ist die Logik dieses Reformprozesses -, dass Standorte geschlossen werden. Nun ist es - das habe ich vorhin bereits gesagt - durchaus verständlich, dass alle Gemeinden quer durch die Republik - von Ost nach West, von Nord nach Süd - erst einmal aufschreien und sagen: Okay, eigentlich ja, aber nicht bei uns! Als verteidigungspolitische Sprecherin unterstütze ich das Konzept des Bundesministers der Verteidigung, jedenfalls weitestgehend. Insofern vertrete ich auch die Strukturmaßnahmen, die notwendig sind. Ich habe vorhin gesagt - ich vertrete das auch zu Hause, obwohl ich Neumünsteraner bin -: Wenn man Geld sparen muss und die Bundeswehr wirtschaftlich gestalten will, damit sie für die Zukunft fit ist, dann muss man Strukturveränderungen vornehmen. Deswegen ist es erstens sinnvoll, Teile der 18. Panzerbrigade von Neumünster nach Boostedt zu verlegen, wo die Kaserne, wie Wirtschaftlichkeitsprüfungen erwiesen haben, sehr viel günstiger als der Standort in Neumünster arbeitet. Zweitens ist es im Rahmen dieser Umstrukturierung - das betrifft ja nicht nur Schleswig-Holstein - sinnvoll, die Wehrbereichsverwaltungen in der geplanten Form zusammenzulegen. Ich nehme durchaus zur Kenntnis - ich habe das übrigens auch mit den Grünen diskutiert -, dass man das vor Ort etwas anders sieht. Das geht Ihnen ja in Ihren Parteien genau so; wir wissen das aus allen Diskussionen. Diese Koalition hat aber noch ein zweites Vorhaben klar definiert: Wir sehen Konversion und die Reform als Schritt nach vorne. Das heißt - da stimme ich mit dem Sprecher des Konversionsinstituts in Bonn überein -, dass es gut ist, wenn die Kommunen nicht in den Fehler verfallen, Ihrer Kampagne gegen die Regierung zu folgen und immer nur Nein zu schreien, sondern die Chancen einer langfristigen Konversion wahrnehmen. Wir wissen aus der ersten Konversionsphase in Schleswig-Holstein, dass dies manchen inzwischen geschlossenen Standorten durchaus gut getan hat. Wir werden uns bemühen - das ist die Verantwortung einer Bundespolitikerin; ich hoffe, Sie kommen bald wieder ins gemeinsame Boot zurück -, mit den Kommunen konzeptionelle Vorschläge zu erörtern und da, wo es möglich ist, mit regionaler Strukturunterstützung auch umzusetzen. Wir haben das Dilemma, dass - das ist nicht nur in Schleswig-Holstein so, aber bei uns ganz besonders - die Bundeswehr aus struktur- und wirtschaftspolitischen Aspekten überproportional ins Land geholt worden ist. Die Bundeswehr ist aber ein sicherheitspolitisches Instrument. Da die letzte Regierung die Reform verschlafen hat - ich habe das vorhin ausgeführt -, ({0}) sind wir jetzt in der schwierigen, aber handhabbaren Situation, diesen Reformprozess regional, kommunal, landespolitisch und bundesweit umzusetzen. Ich glaube, dass die Kriterien, die der Verteidigungsminister zugrunde gelegt hat, weitestgehend berücksichtigt worden sind. Deswegen kann ich mich Ihrem Geschrei, das wirklich nur parteipolitisch motiviert ist und nichts mit dem Interesse der Bundeswehr zu tun hat, nicht anschließen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wegen des Zeitablaufs werde ich in dieser Debatte keine Kurzinterventionen mehr zulassen. ({0}) Die nächste Rednerin ist jetzt die Kollegin Ursula Mogg von der SPD-Fraktion.

Ursula Mogg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002739, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde versuchen, die Debatte in aller Sachlichkeit auf den Kern zurückzuführen. ({0}) Die Würfel sind gefallen. Nach der Erarbeitung aller Grundlagen für die Vorlage einer Konzeption für die Bundeswehr der Zukunft herrscht jetzt bei allen am Prozess Beteiligten Klarheit: bei den Soldaten, bei den Zivilbeschäftigten, bei den Kommunen und Regionen. Wir wissen jetzt, wohin die Reise gehen wird. Minister Scharping unterstreicht zu Recht, dass Änderungen nur noch in gut begründeten Einzelfällen möglich sein werden. Für die sozialverträgliche Umgestaltung ist es hilfreich, dass jetzt eine weitgehende planerische Sicherheit besteht. Seit damit begonnen wurde, Überlegungen über die sicherheits- und außenpolitisch unbestritten notwendige Reduzierung der Bundeswehr anzustellen, ist Wolfgang Börnsen ({1}) klar: Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Überlegungen. ({2}) Lassen Sie uns also dem Vorschlag des Ministers folgen und mehr über Arbeitsplätze, aber weniger über Standorte diskutieren. Ich kenne kein Unternehmen, das eine Reduzierung und Modernisierung mit einem solchen Anspruch - betriebsbedingte Kündigungen sind ausgeschlossen, der Umbau erfolgt sozialverträglich - eingeläutet hätte, wie es der Verteidigungsminister, wie es diese Bundesregierung, getan hat. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?

Ursula Mogg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002739, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das erlaube ich jetzt nicht. ({0}) Es gilt jetzt, diesen Anspruch zu konkretisieren. Die Koalitionsfraktionen bekennen sich ausdrücklich zu ihrer sozialen Verantwortung bei der Umgestaltung der Bundeswehr. Ich bin mir ganz sicher, die betroffenen Menschen werden erkennen, dass Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, zurzeit nicht dieses Interesse im Auge haben, sondern eine kurzatmige parteipolitische Effekthascherei betreiben. ({1}) Es ist festzuhalten, dass genügend Zeit vorhanden ist, um geeignete Maßnahmen für die betroffenen Menschen zu entwickeln. Sowohl beim militärischen als auch beim zivilen Personal sind Übergangszeiten von mehreren Jahren eingeplant. Viele werden in dieser Zeitspanne aus Altersgründen den Arbeitgeber Bundeswehr verlassen und in den regulären Ruhestand eintreten. Darüber hinaus wird jetzt selbstverständlich darüber nachgedacht, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen Formen der Altersteilzeit und des Vorruhestands erwünscht, notwendig und realisierbar sind. Es wird Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die den Arbeitsplatz innerhalb der Bundeswehr wechseln oder bei einer anderen Verwaltung neu beginnen werden. Es wird Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben, die zu anderen Arbeitgebern wechseln werden. Kalte Übernahmen werden dabei ausgeschlossen. Niemand muss befürchten, dass die Zusage der Sozialverträglichkeit unterlaufen wird. ({2}) Wir werden dabei auch nicht vergessen, Herr Kollege Nolting, dass es Festlegungen bezüglich der Zusage von Versorgungsleistungen geben muss. In einigen Fällen gibt es heute schon nicht nur die Zusage eines privaten Arbeitgebers, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu übernehmen, sondern dies auch zu günstigeren Konditionen zu tun, als dies bei der Bundeswehr der Fall ist. Auf jeden Fall aber muss gelten: Die erforderliche Beendigung des Arbeits- oder Dienstverhältnisses bei der Bundeswehr bedarf der Zustimmung des betroffenen Mitarbeiters.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, galt Ihre Ablehnung von Zwischenfragen grundsätzlich oder gestatten Sie nun eine Zwischenfrage des Kollegen Adam?

Ursula Mogg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002739, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte grundsätzlich keine Zwischenfrage zulassen. Bei der Bundeswehr entstehen neue, moderne und attraktive Arbeitsplätze. Die Reform der Bundeswehr wird vielen verbesserte Perspektiven bringen. Sie wird auf mittlere Sicht neue Aufstiegs- und Beförderungsmöglichkeiten eröffnen. Das ist selbstverständlich auch eine Herausforderung für die Bereitschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sich auf Neues einzulassen. Auch dazu stehen die Angebote: gute Ausbildung, Fort- und Weiterbildung und zivilberufliche Qualifizierung; in Kooperation mit den Kammern. Ich bin mir sicher: Diese Reform wird bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundeswehr einen neuen Motivationsschub erzeugen, da wir alle wissen, dass der Prozess der Erneuerung unumkehrbar ist. Die Zusage der Sozialverträglichkeit gilt in jeder Konsequenz. Jeder und jede wird die Chance haben, eine Antwort auf die ganz persönliche Lebens- und Berufsplanung zu finden. ({0}) - Herr Kollege, ich gehöre zu der kleinen Zahl privilegierter Abgeordneter, die ein hartes Jahr der Diskussion vor Ort hinter sich haben. Ich sehe an dem Standort in Koblenz viele strahlende Gesichter, weil klar ist, welche Perspektiven diese Bundeswehr bietet. ({1}) Der Blick zurück macht Mut. In der Vergangenheit ist es gelungen, Erneuerungsprozesse sozialverträglich zu gestalten. Das wird auch in der Zukunft gelingen. Eine herausfordernde Aufgabe zur Gestaltung der Bundeswehr der Zukunft liegt vor uns. Das ist ganz unbestritten. Ich fordere Sie alle auf: Arbeiten wir gemeinsam daran! ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Paul Breuer von der CDU/CSU-Fraktion.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man die Debatte hier verfolgt, auch gerade den letzten Redebeitrag von Frau Mogg, hat man den Eindruck, die Bundeswehr sei ein Feld für Betriebswirtschaftler oder Sozialpolitiker. Ich sage Ihnen eines: Die Bundeswehr ist ein wichtiges verteidigungsund sicherheitspolitisches Instrument. ({0}) Wir werden niemanden in Deutschland und darüber hinaus überzeugen können, wofür wir diese Bundeswehr brauchen und haben, wenn wir nicht primär eine sicherheits- und verteidigungspolitische Debatte darüber führen. ({1}) Diese sicherheits- und verteidigungspolitische Debatte, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist nicht hinreichend geführt worden. Das ist auch das Hauptproblem, das Verteidigungsminister Scharping hat. Sein Hauptproblem ist, dass er sagt, er wolle eine große Reform machen. Schaut man aber genau hin, stellt man fest: Er hat nicht das Geld dafür, die Reform nach vorne zu bringen, keine Anschubinvestition, keine Möglichkeit zu modernisieren, weder inhaltlich noch personell. Ich sage Ihnen, warum er es nicht hat: Er hat die Fraktionen in der Regierung, SPD und Grüne, nicht davon überzeugen können, dass es wichtig ist, das zu tun, weil sie die sicherheitspolitische Debatte unterlassen haben. ({2}) Den Vorwurf, wir hätten die Bundeswehr in den 90erJahren nicht modernisiert, ({3}) muss man sich einmal genau anschauen. Die Entwicklung in den 90er-Jahren, in den letzten zehn Jahren, ({4}) war insbesondere natürlich zunächst dadurch geprägt, dass der Warschauer Pakt zusammenbrach und die Sowjetunion von der Bildfläche verschwand. Das hat uns einen Sicherheitszugewinn hier in Mitteleuropa gebracht. Auf der anderen Seite hatten wir die Entwicklung, dass eine diffuse Sicherheitslage in Europa selbst - siehe Balkan - entstanden ist und dass Konflikte am Rande Europas - Kaukasus, Nordafrika, Naher Osten - aufgetreten sind, die uns in Europa nicht ruhig lassen können. ({5}) Wir müssen Sicherheit exportieren, wir müssen Stabilitätspolitik betreiben. Als diese Debatte in der Sicherheitspolitik in den 90erJahren in Deutschland geführt wurde, haben Sie, SPD und Grüne, zunächst jämmerlich versagt, weil Sie glaubten, dass eine deutsche Verantwortungskultur, zusammen mit unseren Partnern mit Streitkräften ins Ausland zu gehen, ungefähr mit dem Imperialismus zu vergleichen war. ({6}) Das war doch Ihre Position in der damaligen Zeit. ({7}) Wir haben begonnen, im Übrigen gegen Ihren Willen, die Bundeswehr zu reformieren. ({8}) Wir haben zunächst einmal zahlenmäßig eine große Anpassung vorgenommen. Die Bundeswehr ist fast halbiert worden. Wir haben die Krisenreaktionskräfte aufgebaut. Jetzt geht es darum, diesen Reformprozess fortzusetzen. ({9}) Wir wissen sehr genau, dass dieser Reformprozess fortgesetzt werden muss, weil zwischen die Vereinigten Staaten von Amerika und Europa eine Lücke gekommen ist, eine Lücke der Investition, eine Lücke der Technologie. Wer nicht bereit ist, in Deutschland diese Verantwortung zu erkennen und als wesentliches Land in Europa und in der NATO hier etwas zu tun, der versagt in diesem Prozess. ({10}) Dieses Versagen, Herr Kollege Erler, werfe ich Ihnen und Ihrem Minister Scharping vor. Scharping ist ein Reformversager. ({11}) Das, was Sie hier als größte Reform aller Zeiten für die Bundeswehr vorgeben, ist in meinen Augen eine Mogelpackung. ({12}) Es ist auch in der Art, wie es präsentiert wird, eine Mogelpackung. Heute soll über Standorte diskutiert werden. Wir kennen die Realität. ({13}) 60 Standorte werden komplett geschlossen, an die 100 insgesamt massiv betroffen. Wie hat der Verteidigungsminister Scharping die deutsche Öffentlichkeit, die Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr auf diese Diskussion vorbereitet? In der „Süddeutschen Zeitung“ vom 18. April des letzten Jahres - das ist noch kein Jahr her wird Herr Scharping mit folgender Aussage zitiert: Ich glaube nicht, dass wir mit Standortschließungen wirklich weiterkommen, denn das heißt ja immer auch, in die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Angehörigen der Bundeswehr einzugreifen ... Das hat er damals gesagt und heute sind 100 Standorte in Deutschland von Schließungen betroffen. Sie machen sich unglaubwürdig. ({14}) Gemessen an dem Anspruch, der vertreten worden ist, sind die vorgelegten Pläne eine Mogelpackung. ({15}) - Sparen Sie Ihre Luft! Sie brauchen sie noch. Eggesin in Mecklenburg-Vorpommern wurde hier als Beispiel genannt. Ministerpräsident Ringstorff, SPD, wird im „Nordkurier“ der letzten Tage zitiert: „Scharping hat falsche Hoffnungen geweckt.“ Der „Wiesbadener Kurier“ aus Hessen schreibt am 30. Januar - es ist also nur ein paar Tage her -: Ringen um den Standort Wiesbaden Das Bundesverteidigungsministerium hat gestern der Darstellung von Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul widersprochen. Der Hintergrund war, dass Frau Wieczorek-Zeul - sie ist hier anwesend und sitzt im Übrigen auf der Regierungsbank; Herr Scharping hat sich wieder irgendwohin verdünnisiert; ({16}) ich weiß nicht, wo er gerade ist - in Wiesbaden gesagt hat, sie habe die Zusage, die Wehrbereichsverwaltung Wiesbaden bleibe erhalten. Die Realität heute sieht so aus, dass die Wehrbereichsverwaltung Wiesbaden geschlossen wird, nur die Außenstelle bleibt. So sieht die Glaubwürdigkeit von Verteidigungsminister Scharping und dieser Bundesregierung aus. ({17}) Die Art, wie dieses Standortkonzept präsentiert wird, ({18}) ist stellvertretend für das gesamte Reformkonzept. Sie erheben hier den Anspruch, die Ausrüstung der Bundeswehr zu modernisieren. Die Rede ist von großen Investitionen. Die Realität in der Bundeswehr ist völlig klar. Ich sage Ihnen eines: Die Rechnungen für die Reparaturen der Luftfahrzeuge und für andere Fahrzeuge der Bundeswehr aus dem vergangenen Jahr sind heute, Anfang Februar, noch nicht bezahlt. ({19}) Die Realität hinsichtlich der Planungen im Bundesverteidigungsministerium über die Abwicklung des Haushaltes 2001 - nennen Sie mich einen Lügner, wenn es nicht stimmt - sieht derzeit so aus, dass die Planer dazu aufgefordert werden, dieses Haushaltsjahr mit Tricksereien zu gestalten. Sie müssen schon jetzt zugeben, dass sie die Reparaturen des laufenden Jahres in diesem Jahr nicht bezahlen können. Die Planer fordern die Industrie dazu auf, die Rechnungen im November zu stellen, damit man sie im März oder im April des kommenden Jahres bezahlen kann. Ich sage Ihnen voraus: Der Haushalt ist so knapp, dass Sie in diesem Jahr nicht dazu in der Lage sind, ein einziges größeres Beschaffungsprojekt auf den Weg zu bringen. Der Anspruch, den Sie hier erheben, hat mit der Wirklichkeit einer echten Reform zum Zwecke der Modernisierung der Bundeswehr nichts zu tun. Der Schaden für Deutschland in Bezug auf seinen Beitrag zur europäischen und zur nordatlantischen Sicherheit wird leider massiv werden. ({20}) Ändern Sie diese Politik! Es ist dringend notwendig. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner in dieser Aussprache hat der Kollege Manfred Opel von der SPD-Fraktion das Wort.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich darüber, dass diese Debatte im Hohen Hause so viel Aufmerksamkeit findet. Ich begrüße die sehr zahlreich vertretene Delegation aus Schleswig-Holstein ganz besonders. Das ist mustergültig für die Landesregierungen. Ich begrüße ausdrücklich Heide Simonis und Klaus Buß. ({0}) Der Kollege Schmidt hat versucht, sachlich zu bleiben. Er sagte, die Bürgermeister hätten nichts Offizielles bekommen. ({1}) - Jetzt warten Sie eine Sekunde; dann kommt das alles schon noch im Detail. - Sämtliche Bürgermeister und sämtliche Landräte sind zum Beispiel am Mittwoch, dem 31. Januar, von der Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein - übrigens zum wiederholten Male zu einer Konferenz eingeladen worden. Dort haben wir die Stellungnahme, die wir dem Bundesminister der Verteidigung geben werden - übrigens eine sehr konstruktive -, besprochen. Wir haben dort einvernehmlich beschlossen, was zu tun ist. ({2}) Außerdem sind die Bürgermeister in Schleswig-Holstein moderner Technik gegenüber aufgeschlossen: ({3}) Sie haben Zugang zum Internet und konnten sich von dort das gesamte Konzept des Verteidigungsministers besorgen. - Verehrte Kollegin Lippmann, Sie verwechseln im Moment Intranet und Internet. Da Sie für Ihre Technologiefeindlichkeit bekannt sind, ist das auch nicht verwunderlich. ({4}) Ich will, weil der Kollege Austermann meinte, er könne die Anwesenheit hochrangiger Vertreter der Landesregierung herunterspielen, ein wenig zur Aufklärung beitragen. Im Moment finden Protestkundgebungen und -versammlungen statt. Zum Beispiel wurde die Ministerpräsidentin wie auch ich eingeladen, aus diesem Grunde nach List auf Sylt, der nördlichsten Gemeinde Deutschlands, zu kommen. Wir haben es vorgezogen, hier zu sein und uns hier für unsere Standortgemeinden einzusetzen. Betroffen sind zum Beispiel auch Schleswig oder Hohenlockstedt. Gemeinsam werden wir für Schleswig-Holstein Forderungen stellen. Das verstehen wir unter einer vernünftigen Politik im Sinne des Ganzen. Herr Breuer hat gesagt, man würde jetzt so unglaublich viel abbauen und alles sei doch so schlimm. Ich möchte daran erinnern, dass beispielsweise für die Dasa ein Konzept mit dem Namen Dolores erstellt wurde. Demnach sollten die Arbeitsplätze von 60 000 Beschäftigten dieser Firma auf einmal abgebaut werden, um ein einziges Ziel zu verfolgen. Dieses Ziel hieß Shareholder-Value. ({5}) Hinterher wurden aufgrund der Konjunkturlage nur 40 000 Arbeitsplätze abgebaut. Es ist aber so, dass Sie hier im Hause überhaupt kein Wort des Bedauerns für diese Menschen, die sofort entlassen wurden, geäußert haben. Hier sprechen Sie angesichts der Tatsache, dass der Bundesminister der Verteidigung den zivilen Bereich bis 2010 insgesamt an die Notwendigkeiten angleichen will, von unsozialen Maßnahmen. Dies ist nicht der Fall. ({6}) Herr Breuer, Sie haben zu Recht gesagt, dass die Debatte der sicherheitspolitischen Grundlage entbehre. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass Sie eine Debatte darüber nie geführt haben. Wir waren immer dazu bereit, diese Debatte zu führen. Sie haben es jahrelang versäumt. Seitdem es eine rot-grüne Regierung gibt, wurde wenigstens versucht, hier im Hause - wie heute - und auch in den Ausschüssen diese Debatte zu führen. Das werden wir auch weiterhin tun. Deutsche Sicherheitspolitik ist zugleich immer europäische und atlantische Sicherheitspolitik. Das darf man nie aus dem Auge verlieren. Wenn wir die Bundeswehr der Zukunft schaffen wollen, dann muss sie folglich auch ihren europäischen und atlantischen Aufgaben uneingeschränkt nachkommen können. Nationale Sicherheitspolitik, wie sie manchmal gefordert wird - und auch heute gefordert wurde -, hat sich überlebt. Die Bundeswehr muss in das Bemühen eingebunden werden, Europa zu einigen, und zugleich gegenüber den USA ein ebenso eigenständiger wie verlässlicher Partner sein. Weiterhin muss sie in die Bemühungen um Rüstungskontrolle und Abrüstung eingebunden werden. Das muss gerade heute deutlich gesagt werden. ({7}) Es ist unsere politische Hauptaufgabe, unser Land durch eine Reduzierung der Bedrohung sicherer zu machen und nicht über Aufrüstung. Auch das muss man sehr deutlich sagen. ({8}) Wir wollen eine Welt frei von Massenvernichtungswaffen - das hat jüngst auch der Bundeskanzler deutlich gemacht - und frei von ihren Trägern. Dann erübrigen sich nämlich teure Abwehrsysteme, die viel Geld verschlingen und deren Nutzen zumindest zweifelhaft ist. Hier möchte ich dem Kollegen Gehrcke auch etwas sagen, was ich kürzlich schon Frau Lippmann gesagt habe. Wenn er behauptet, die Bundeswehr werde zu einer weltweiten Interventionsarmee umgebaut, ({9}) dann entgegne ich ihm darauf, dass er entweder nicht weiß, was eine weltweite Interventionsarmee ist - das nehme ich einmal an -, oder er behauptet etwas wider besseres Wissen. Die Bundeswehr beschränkt sich auf das, was sie ist, nämlich eine Stütze der gemeinsamen Verteidigung des Bündnisses - sonst nichts. ({10}) Unsere Bundeswehr muss zusammen mit den Armeen der europäischen Partner die Fähigkeit besitzen, eigenständig auf krisenhafte Entwicklungen aller Art zu reagieren. Deswegen muss sie umgebaut werden. ({11}) Das haben die Regierungschefs in Nizza beschlossen. Die Struktur der Bundeswehr muss selbstverständlich auf diese Aufgaben ausgerichtet werden. Der Kollege Merz - er war gerade noch da ({12}) hat heute den dritten Versuch unternommen, sich als Sicherheitspolitiker zu profilieren. Es ist, um es vornehm auszudrücken, bei dem Versuch geblieben. ({13}) Er hat sich zum Beispiel über Neumünster geäußert. Er hat bloß eines vergessen - die Kollegin Beer hat darauf hingewiesen -: Neben Neumünster liegt Boostedt. Wenn man das nicht als Einheit sieht, dann kommt man natürlich zu den Fehlschlüssen, die er hier vorgetragen hat übrigens auch der Kollege Börnsen; aber ihm sehe ich das nach. So viel Ahnung von den Interna der Bundeswehr hat er nicht. ({14}) Dann hat Herr Merz noch gesagt, der rot-grünen Koalition sei ein gut bestelltes Haus übergeben worden. Jetzt möchte ich aus einer Zeitung zitieren. Dort heißt es: Vor diesem Hintergrund warnte der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Paul Breuer ... davor, daß Deutschland nur noch „eine Sicherheitspolitik nach Kassenlage“ betreibe ... Als Folgen einer solchen Sparpolitik befürchtet Breuer: Der ... festgelegte Bundeswehr-Umfang wäre „nicht zu finanzieren“. Eine weitere Absenkung des Personalumfangs dürfte nicht zu umgehen sein. ({15}) Eine „erneute Standortdebatte mit Standortauflösung“ würde notwendig. Das hat der Kollege Breuer am 30. Juni 1996 in der „Welt am Sonntag“ gesagt. ({16}) Wenn Herr Merz dann sagt, Sie hätten ein gut bestelltes Haus übergeben, dann leidet er entweder unter Wahrnehmungsstörungen oder er hört nicht auf Sie, Herr Breuer. ({17}) Da müssen Sie sich schon entscheiden. Dann hat Herr Merz - das muss ich hier einfach sagen, weil das auch qualifiziert - davon gesprochen, dass 30 000 Schülerstellen mitgezählt worden sind. Er weiß wahrscheinlich gar nicht, was das ist. Die Schülerstellen sind derzeit in die Dienstposten integriert, die im Haushalt ausgewiesen sind; das können Sie jederzeit nachlesen. Wir machen endlich das, was die Truppe und übrigens auch der Bundeswehr-Verband seit langem fordern: Wir weisen die 22 000 Schülerstellen gesondert aus. Das ist eine vernünftige Maßnahme. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Opel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer?

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, mit größtem Vergnügen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Breuer.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Opel, könnte der Unterschied zwischen der Zeit Ende der 90er-Jahre und heute möglicherweise erstens darin liegen, dass die Kassenlage wirklich besser geworden ist? Das ist, glaube ich, eindeutig. ({0}) Könnte der Unterschied in der verteidigungspolitischen Debatte, was die Finanzen angeht, zweitens möglicherweise darin liegen, dass es damals innerhalb der Koalition von CDU/CSU und F.D.P. Politiker gab, die gesagt haben: „Wir müssen in der Finanzpolitik Verantwortung zeigen“, und es heute möglicherweise in Ihren Reihen niemanden gibt, der Verantwortung zeigt? Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen mache. ({1})

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Kollege Breuer, es hat niemand behauptet, dass wir im Geld schwimmen; am wenigsten der Bundesminister der Verteidigung. Er hat die tatsächliche Lage immer sehr deutlich gemacht. Ich möchte Sie nur daran erinnern, dass wir jedes Jahr 82 Milliarden DM nur für Zinszahlungen für die Schulden, die Sie uns hinterlassen haben, ausgeben. Das ist fast das Doppelte des Verteidigungshaushalts. ({0}) Das ist Ihre Erblast, die wir heute auch zusammen mit der Bundeswehr abarbeiten müssen. Ich bin stolz darauf, dass die Bundeswehr das mitmacht und darunter nicht zu sehr zu leiden hat. Ich möchte schließen mit drei Bitten. Erstens. Ich bitte die Landesregierungen und die Kolleginnen und Kollegen, die Stellungnahmen, die Minister Scharping erbeten hat, mit Augenmaß abzugeben und nicht öffentlich großen Wind zu machen. Es sollte tatsächlich versucht werden, einen konstruktiven Beitrag zu leisten. Der Bundesminister der Verteidigung hat angeboten, dass er konstruktive Vorschläge entsprechend aufnimmt. Zweitens habe ich die Bitte, nicht etwas zu fordern, was ganz offensichtlich unsinnig ist. Das ist hier heute mehrfach geschehen. Herr Breuer, ich habe Sie zitiert; Sie haben es in Ihrer Zwischenfrage sogar verteidigt. Sie haben sehr deutlich gemacht, dass die Bundeswehr den neuen Gegebenheiten angepasst werden muss. Helfen Sie also mit, sie anzupassen. ({1}) Die dritte Bitte richte ich an den Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping. Ich bitte ihn, die Stellungnahmen, die zum Teil mit viel Herzblut geschrieben worden sind, ernst zu nehmen - auch in Ihrem Stab - und sie in das Konzept einzuarbeiten. Ich gehe davon aus - das haben Sie zugesagt, Herr Bundesminister der Verteidigung -, dass Verbesserungsvorschläge aufgenommen werden und Verbesserungen auch möglich sind. Darauf vertrauen wir; darauf vertraut die Bundeswehr. Wir sind sehr dankbar dafür, dass wir einen Minister haben, der in der Lage ist, die Gefühle der Menschen, der Familien und auch der Standortgemeinden aufzunehmen. Das hat er immer wieder bewiesen. Darauf sind wir stolz. Wir hoffen, dass diese Reform über diesen Weg zu einem guten Ende kommt. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Entschlie- ßungsanträge auf Drucksachen 14/5220 und 14/5236 zur federführenden Beratung an den Verteidigungsausschuss und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Haushaltsausschuss und den Ausschuss für die Angele- genheiten der Europäischen Union zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a bis 15 c sowie Zusatzpunkt 8 auf: 15 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({0}), Gunnar Uldall, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Die Ostseeregion - Chancen und Risiken ei- ner Wachstumsregion von zunehmender weltweiter Bedeutung - Drucksachen 14/2293, 14/4460 - b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({2}), Gunnar Uldall, Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Initiative zur Stärkung der Ostseeregion - Drucksachen 14/3293, 14/4573 Berichterstattung: Abgeordnete Margareta Wolf ({3}) c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Jürgen Koppelin, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Ostseepolitik der Bundesregierung - Drucksachen 14/3424, 14/4026 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Franz Thönnes, Dr. Margrit Wetzel, Dr. Ditmar Staffelt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz ({4}), Kerstin Müller ({5}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Die Entwicklung der Ostseeregion nachhaltig stärken - Drucksache 14/5226 Zu der Großen Anfrage der Fraktion der CDU/CSU liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Weiterhin liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. zu ihrer eigenen Großen Anfrage vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Margrit Wetzel von der SPD-Fraktion das Wort.

Dr. Margrit Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Debatte über die Ostseeregion. Ich denke, es ist wichtig, zunächst einen Schwerpunkt bei der wirtschaftlichen Entwicklung zu setzen. Handel und wirtschaftliche Entwicklung sind nämlich eine der wichtigsten Grundlagen auch für Frieden und Sicherheit, für soziale und kulturelle Achtung sowie für politische Stabilität. Deutschland ist für einige Länder der wichtigste Handelspartner im Netzwerk der Ostseeanrainerländer. Damit sind wir auch Motor in den anderen uns verbindenden Sektoren; denn in Länder, mit denen wir handeln, reisen wir. Das fördert nicht nur den beidseitigen Tourismus mit seinen positiven wirtschaftlichen Begleiterscheinungen, sondern auch das Verstehen der vielfältigen Kulturen und Sprachen, die sich rund um die Ostsee begegnen. Frieden und Sicherheit, kulturelle Beziehungen und soziale Entwicklung aber sind wesentliche Voraussetzungen für die Verfestigung der regionalen Identität, die wir gemeinsam als Wachstumsregion Ostsee entwickeln wollen. Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU - ich darf in diesem Zusammenhang an die Einbringung Ihrer Große Anfrage erinnern -, nicht um eine deutsche Strategie für die Ostseeregion, sondern darum, gemeinsam in guter Kooperation eine europäische Politik der aktiven Gestaltung des Nordens mit unseren Partnerländern voranzutreiben. Das ist es, wozu unsere Regierung den Vorsitz im Ostseerat aktiv nutzt; das ist es, woran die nördlichen Bundesländer - Frau Simonis wird uns noch Beispiele dafür geben - in täglicher Praxis arbeiten. Wir wollen die Ostsee selbst als das pulsierende Herz der Region begreifen. Lebensader der Wirtschaft sind die Verkehrswege. Die Straßenverbindungen sind durch die großen Brückenbauwerke erheblich verbessert worden. Aber wir brauchen Straßen und vor allem Schienenwege rund um die ganze Ostsee als leistungsfähiges Verkehrsnetz, das die Schnitt- und Umschlagsstellen der Ostseehäfen verbindet und schnelle Anschlüsse der Verkehrswege ins Hinterland ermöglicht. Übrigens nicht nur das Hinterland, auch der Nord-Ostsee-Kanal verdient hier Erwähnung, ist er doch schließlich eine der Hauptschlagadern des Handels zwischen der Ostseeregion und Übersee. Die Ostsee hat nichts Trennendes mehr. Sie ist ein verbindendes Meer, das der ökologisch unbedenklichste und sicherste Verkehrsweg überhaupt ist. Für Handel und Tourismus quer über die Ostsee und an den Küsten sind und bleiben die Schiffe mit ihren vielfältigen Möglichkeiten des Massentransports, der Spezialtransporte, der High-Speed-Beförderung, der Fähren, aber auch der komfortablen Kreuzfahrt im touristischen Bereich unverzichtbar. Deshalb sind wir froh darüber, dass die Regierung erfolgreich beim Einsatz für mehr Schiffssicherheit war. Wir unterstützen sie energisch darin, die weitere Förderung des europäischen Schiffbaus voranzutreiben. Dies ist für die gesamten Ostseeanrainerländer wichtig. Es läuft schon so viel anderes: beispielsweise der Austausch von Studenten und die Kooperation von Forschungseinrichtungen als Teil der Wissensgesellschaft. Im Zeitalter der elektronischen Kommunikation geht es um internationale Kompatibilität von Geodaten und um die Erfassung hydrographischer Daten. Wir freuen uns über die Unterstützung der Institutionen der Wirtschaft beim Aufbau der kleinen und mittelständischen Unternehmen in Osteuropa und Kaliningrad. Aber das reicht noch nicht. Die Unternehmen der verschiedensten Ostseenationen können untereinander auch jungen Berufstätigen die Chance geben, für eine gewisse Zeit in den Nachbarländern zu arbeiten. Das erweitert ihren Horizont, fördert das Verständnis für verschiedene Kulturen, Arbeits- und Lebensweisen sowie für soziale Zusammenhänge und ist auch Inbegriff des lebenslangen Lernens. An der Stelle fällt mir ein: Haben wir uns eigentlich schon einmal über gemeinsame Frauenförderung in der Ostseeregion unterhalten? Ich glaube, nicht wirklich. ({0}) - Schön, dass Sie darauf warten, Herr Koppelin; das habe ich mir gedacht. Die Ostseeregion bietet Chancen über Chancen. Wir sollten sie annehmen und täglich weiter ausbauen. Umweltschäden halten sich nicht an nationale Grenzen. Hier bestehen ebenfalls Chancen, sie zu bewältigen. Ich denke, die Ostseeregion ist das beste Beispiel für ein echtes gemeinsames Küstenzonenmanagement - nicht so, wie es auf EU-Ebene diskutiert wird, sondern wirklich im Hinblick auf ein gemeinsames Verstehen und Begreifen der Zusammenhänge von Natur-, Umwelt-, Küsten- und Klimaschutz. ({1}) Die Nutzung gemeinsam vorangebrachter umweltschützender Technologien, die auch den in ihrer wirtschaftlichen und technischen Entwicklung hinterherhinkenden Ländern sofort zur Verfügung stehen müssen, kann den Begriff der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung zur Leitidee der großen europäischen Wachstumsregion Ostsee machen, sozial, ökonomisch und ökologisch stark. ({2}) Deshalb danken wir - wenn ich das an dieser Stelle sagen darf - Franz Thönnes als dem unheimlich aktiven Vorsitzenden der Deutsch-Skandinavischen Parlamentariergruppe für seine Aktivitäten in diesem Zusammenhang. ({3}): Wieso eigentlich „unheimlich“?) Regierung und Koalitionsfraktionen sagen Ja zur Wachstumsregion Ostsee. Ich bedanke mich fürs Zuhören. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Wolfgang Börnsen von der CDU/CSU-Fraktion hat das Wort.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich anerkenne, dass heute, bei der dritten Debatte um die Ostseeregion, zum ersten Mal der Vorsitzende des Ostseerates, der Außenminister, persönlich anwesend ist. Ich habe zweimal seine Abwesenheit kritisiert und will deshalb ausdrücklich anerkennen, dass er heute mit dabei ist, was mich aber nicht daran hindern wird, zu der bisherigen Ostseepolitik kritisch Stellung zu nehmen. ({0}) - Das ist prima; er wird auch darauf antworten. Die augenblickliche Ostseepolitik gleicht, ob man will oder nicht - wir kennen uns ja beide aus in dem Bereich, Franz Thönnes -, eher einem kastrierten Kater: Der wird immer dicker und was ihm fehlt, ist die Potenz. ({1}) Seit dem 1. Juni 2000 hat Deutschland die Präsidentschaft im Ostseerat. Ich wünschte, ich könnte sagen, Herr Außenminister, Sie hätten die Aufgabe mit Kraft und Kreativität angetreten. ({2}) Aber Fehlanzeige. Es gibt keine Ostseekooperation mit einem Konzept. ({3}) Es gibt wenig Pläne, viel Lyrik und keine genaue Ausrichtung der Ostseepolitik. Jetzt, acht Monate später, kann man das feststellen. Die Administration hat gewollt, doch der politische Wille hat gefehlt. Es ist klargeworden, dass man keine Vision hat, diesen geteilten Musterraum in Europa in eine Vorzeigeregion umzuwandeln. ({4}) Fünf Punkte hat Außenminister Fischer den Parlamentariern der 9. Ostseekonferenz in Malmö vortragen lassen. Er selber hat absagen müssen, war nicht anwesend - das erste Mal, dass der Vorsitzende des Ostseerates nicht anDr. Margrit Wetzel wesend war. Das war ein Affront gegenüber elf Parlamenten. Darüber kann ich nicht lachen. Meine Freunde in Dänemark, Schweden und Norwegen haben das als ausgesprochen unpassend empfunden. Deren Außenminister waren da. ({5}) Das wirtschaftliche Gefälle zwischen Ost und West, so hat er mitteilen lassen, wolle man abbauen. Das war die Ankündigung. Tatsächlich ist die Schere zwischen Reich und Arm im Ostseeraum weiter aufgegangen. Das Bruttoinlandsprodukt steigt im Westen und stagniert im Osten. In Lettland verdient ein Arbeitnehmer im Jahr durchschnittlich 3 800 DM, in Finnland 40 000 DM. Das ist mehr als zehnmal so viel. ({6}) Das bedeutet, dass wir mit der Wirtschaftsförderung im Osten ansetzen müssen. Es gibt von uns kein Direktprogramm zur Förderung des Ostseeraumes. Schweden investiert dafür 1 Milliarde DM im Jahr. ({7}) Bei uns: Fehlanzeige. In der Antwort auf unsere Große Anfrage sagt die Bundesregierung sogar, sie erwäge derzeit nicht, ein eigenes Regionalprogramm für die Ostseekooperation aufzulegen. Franz Thönnes, Sie und viele andere haben das gewollt und gewünscht. Wir sind Haupthandelspartner aller Länder. Aber um es auch in Zukunft zu bleiben, wird derzeit nichts getan. Das ist kurzsichtig. ({8}) Die überwiegende Zahl der Programme zur Stärkung der jungen Demokratien in diesem Raum - von INTERREG bis TACIS - kommt aus Brüssel, nicht aus Deutschland. Aber die östlichen Ostseeanrainer kommen damit nicht aus. Wir müssen selbst etwas tun. Aber es geht nicht nur um die finanzielle Förderung. Wir sind leider auch bei der strukturellen Förderung passiv. Der Ausbau der Verkehrswege rund um die Ostsee stagniert: bei der Straße, bei der Schiene, beim Flugverkehr. Dies gilt auch für unsere gemeinsame Forderung, mehr Verkehr von der Straße auf das Wasser zu bringen, „From Road to Sea“ umzusetzen. ({9}) Bei der Fehmarnbelt-Querung gilt das Gleiche. Unser nördlicher Nachbar Dänemark schafft in einem Jahrzehnt den Bau zweier großer Brückenprojekte, über den Großen Belt und über den Oeresund. Wir schaffen Sprechblasen. ({10}) Von der jetzigen Regierung ist nicht einmal die Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplans in die Tat umgesetzt worden und es kommt auch nicht dazu. Der Bundesverkehrswegeplan wäre wirtschaftlich und rechtlich notwendig und international geboten. Der Plan wird bis nach der Bundestagswahl ausgesetzt und damit herrscht auch Stillstand bei dringenden Strukturmaßnahmen für die Ostseeregion. Oder wird es noch zu einem Bundesverkehrswegeplan kommen? Alle Informationen sagen: Nein. Stillstand herrscht in der Ostseeregion hinsichtlich dringender Strukturmaßnahmen. Das ist das eigentliche Problem. ({11}) Ein weiteres Beispiel für eine Ostseepolitik im Rückwärtsgang ist, Herr Außenminister - auch wenn Sie sich darüber amüsieren -, Ihr Programm „Zwei Stunden in 2000“, das Sie zur Grenzabfertigung aufgelegt haben. Damit soll die Grenzproblematik - an den östlichen Grenzen gibt es lange Staus - gelöst werden. Was hat man jetzt gemacht? Das Programm ist geblieben, aber statt „Zwei Stunden in 2000“ hat man es nunmehr „Zwei Stunden in 2001“ genannt. Es wurde zwar das Datum geändert, damit aber nicht die Bürokratie bei der Grenzabfertigung abgebaut. 40 Stunden stehen Brummis an der Grenze. ({12}) Das ist für Menschen und Wirtschaft eine Zumutung. Nicht das Datum ist zu ändern, sondern die Grenzbürokratie gilt es abzubauen. Da ist mehr zu tun, als nur darüber zu reden. ({13}) Ich spreche in diesem Zusammenhang auch die Hilfsorganisationen an. Viele, die hier sitzen, sind selbst engagiert, den baltischen Staaten wirklich Hilfe zukommen zu lassen. Weder Kirchen noch Jugendverbände haben zurzeit Chancen, ihre Hilfsgüter über die Ostsee zu bringen. Es wird ihnen immer schwerer gemacht, die Bürokratie zu überwinden. ({14}) Damit wird Hilfsbereitschaft unterbunden. Wir appellieren, das Gegenteil umzusetzen, nämlich die gute Tat Tausender von Menschen zu fördern, damit Hilfsmaßnahmen auch an ihrem Ziel ankommen. Gut 160 Milliarden DM umfasst der durchschnittliche jährliche Handel Deutschlands mit dem Ostseeraum. Er hat den gleichen Umfang wie der Handel mit den Vereinigten Staaten und Japan zusammen. Dies ist ein Riesenpotenzial. ({15}) Das Entwicklungspotenzial wird von den Experten für die nächsten zehn Jahre auf 100 Prozent bis 250 Prozent geschätzt. Das heißt, es ergeben sich große Chancen für Betriebe in unserem Land und damit auch für unsere Arbeitsplätze. Wolfgang Börnsen ({16}) ({17}) Deutschland muss als Drehscheibe zwischen Nordostund Mitteleuropa eine aktive Rolle in der Ostseeinfrastrukturpolitik einnehmen. Ich will Ihnen zeigen, wie aktiv Ihre Rolle dagegen ist: Sie lassen es zu, dass ein Gütertransport per Bahn von Kopenhagen nach Berlin 18 Stunden und per LKW 8,5 Stunden dauert. ({18}) Das ist ökonomisch und ökologisch unvertretbar. Da muss man ansetzen. Sie wollten das umsetzen, haben das bisher aber nicht erreicht. ({19}) Anerkennung sollte man den IHK rund um die Ostsee zollen, ({20}) die in Eigeninitiative einen Wirtschaftsring um die Ostsee errichten. Die IHK Kiel ist wesentlicher Motor im Rahmen dieser Initiative. Der Außenminister hat versprechen lassen, die Wissensgesellschaft in der Ostseeregion zu stärken. Es hat in den letzten acht Monaten keine wirkliche Initiative dazu gegeben. Nicht einmal die Eurofakultät in Kaliningrad ist zu nennen, deren Grundstock bereits 1992 gelegt worden ist. Nein, wir fordern eine wirkliche Bildungsoffensive für den Ostseeraum, für die Universitäten im Ostseeraum. Dort gibt es über 100 Hochschuleinrichtungen, deren Vernetzung ebenso notwendig ist wie ein Ostseehochschulgipfel. Die Anerkennung von privaten Initiativen wie der Professor-Petersen-Stiftung, die junge Wissenschaftler in die Lage versetzen, im Ostseeraum aktiv zu sein, ist wichtig. Der Außenminister hat im Ostseerat versprechen lassen, die Ostseeländer zu stärken. Er hat auf der Konferenz mitteilen lassen, er hoffe, dass der EU-Beitritt der ersten Gruppe der Kandidaten am 1. Januar 2005 vollzogen werde. Das kann man wörtlich nachlesen. Er soll nicht hoffen, er soll handeln. Vielleicht wird er es heute korrigieren und sagen, wie er sich das Konzept für alle Ostseeanrainer vorstellt. Nach unserer Auffassung, Herr Außenminister, gehören die baltischen Staaten gemeinsam in die Europäische Union und nicht, wie es Ihr Vertreter gesagt hat, in unterschiedlichem Tempo. Wir sind auf jeden Fall dafür, dass die Ostseeländer gemeinsam Mitglieder der Europäischen Union werden. Sie haben mitteilen lassen, dass der Ostseeraum zu einer Modellregion der Nachhaltigkeit werden soll. In Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage steht das Gegenteil. Die Ostsee ist leider fern davon, ein ökologischer Modellraum zu sein. Zunehmende Planktondichte, ein sinkendes Artenspektrum und hohe Schadstoff- und Nährstoffeinträge sind nur ein paar der Probleme, die in der Ostsee wieder mehr und nicht weniger werden. So steht es in der Antwort auf unsere Anfrage. Wir sind der Auffassung, dass man nicht von dem Ziel, eine saubere Ostsee zu erreichen, abrücken darf. Darum müssen wir uns gemeinsam bemühen. ({21}) Der Außenminister hat in Malmö versprechen lassen, dass es zu einer Stärkung der Zivilgesellschaft kommen wird. Er hat ausdrücklich betonen lassen, es müsse eine Beteiligung der Parlamente geben. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Bis auf die jährliche Ostseeparlamentarierkonferenz gibt es für die 100 Parlamentarier aus elf Ländern wenig zu sagen im Ostseeraum. Während die Europäische Kommission am Tisch des Ostseerates sitzt, ist die Parlamentarierkonferenz ausgeklammert. Ich habe den Eindruck, dass es alle Beteiligten - dazu gehört auch Franz Thönnes ({22}) für nötig halten, dass die Ostseekonferenz auch Sitz und Stimme im Ostseerat erhält. Wenn es nicht nach zehn Jahren zu einer Reform kommen kann, dann frage ich: Wann denn sonst? Es ist jetzt an der Zeit, das umzusetzen, was der Außenminister selbst wünscht. Die Regierung lässt sich bei der Ostseepolitik leider vertreten: in der Finanzierung durch Programme der Europäischen Union; ferner verlegt sie eine Reihe von Aufgaben auf Nichtregierungsorganisationen, ohne selbst zu gestalten, und sie delegiert die Ostseearbeit mehr und mehr auf die norddeutschen Bundesländer. Die norddeutschen Bundesländer waren zwar schon immer aktiv - hier möchte ich den Kollegen Walter ganz besonders nennen -, doch die Kompetenz der Länder reicht nach unserer Verfassungslage dafür nicht aus. Schleswig-Holstein ist nun wirklich kein gleichberechtigter Partner von Russland, Polen und Schweden. Die Bundesrepublik ist es. Deswegen ist es hier nicht möglich, Aufgaben zu delegieren. Es ist falsch, dass die Bundesregierung außen- und wirtschaftspolitische Belange auf die Schultern der Bundesländer abwälzt. Das ist zwar vor Ort eine prima Sache, aber es geht nicht an, dass man die Aufgaben trennt. Die Ostseepolitik bleibt eine nationale Aufgabe. So wird sie von allen Ostseeanrainern praktiziert. Sie alle wissen, dass die existenziellen Herausforderungen wie Sicherheitspolitik, Ökologie, Demokratieförderung, Aufbau von Verkehrsinfrastruktur, Bekämpfung organisierter Kriminalität und Menschen- und Minderheitenrechte für alle Staaten Themen sind, die von den nationalen Regierungen und ihren Parlamenten angepackt werden müssen, aber nicht von Landesregierungen. Auch der Sachverhalt, dass die Lebenserwartung in Skandinavien durchschnittlich bei 80 Jahren liegt - in Russland liegt sie bei 57-, muss uns einen Anstoß geben, darüber nachzudenken, weil dieser Unterschied auch Wanderungsbewegungen auslösen könnte. Wer das nicht will, muss zu einer aktiven Ostseepolitik kommen, muss dazu beitragen, dass die Probleme gerade bei den östliWolfgang Börnsen ({23}) chen Ostseeanrainern abgebaut werden, dass die jungen Demokratien gefördert werden. Die Bundesregierung ist dabei, der Ostseepolitik den Rang einer Regionalpolitik zuzuweisen. ({24}) Das geht nicht; sie darf nicht degradiert werden. Damit verfährt die rot-grüne Bundesregierung nach der Devise, Schecks auf eine Bank zu ziehen, bei der sie kein Konto hat. Danke. ({25})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Für die Bundesregierung hat jetzt der Bundesminister Joseph Fischer das Wort.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Börnsen, wir haben es heute und auch in den vergangenen Tagen mehrfach erlebt, dass Opposition weiß Gott ein schwieriges Geschäft ist, dass man verzweifeln kann und das Gedächtnis ausschalten muss. ({0}) Denn Sie haben ja sehr lange regiert. Man könnte geradezu meinen, Sie hätten an die rotgrüne Bundesregierung den Vorwurf gerichtet, dass es uns in zwei Jahren nicht gelungen sei, im Norden ein europäisches Brückenbauprojekt hinzubekommen. Wenn ich mich richtig entsinne - es tut mir Leid, dass ich Ihnen dieses banale Argument entgegenhalten muss -, hat Ihre Partei 16 Jahre regiert. Sie haben gesagt, die Dänen hätten es in zehn Jahren geschafft, zwei herausragende Projekte von europäischem Rang - ich selbst hatte die Gelegenheit, über eines, die Oeresund-Brücke, zu laufen - hinzubekommen. ({1}) Wenn ich mich richtig entsinne, haben Sie, Herr Börnsen, das nicht geschafft. Sie haben das Problem der Verkehrsanbindung Schleswig-Holsteins erwähnt. Wir alle haben das ja erlebt, dass wir in Hamburg-Altona umsteigen mussten, weil Strecken nicht elektrifiziert waren; ich selber habe das x-mal auf dem Weg in den Wahlkampf, zu politischen Veranstaltungen, bei privaten Besuchen oder Urlaubsfahrten erlebt. Das liegt doch nicht an der rot-grünen Bundesregierung. Vielmehr stellen Sie sich hier mit einem Wunschkatalog hin und vergessen, dass Sie die Verantwortung in den vergangenen 16 Jahren hatten. Dieser Verantwortung müssen Sie sich stellen. ({2}) Im Übrigen finde ich, Sie machen einen Riesenfehler. Sie tun gerade so, als wenn es sich bei der Ostseeregion ich meine nicht nur die deutschen Bundesländer; ich meine nicht nur Ihr eigenes wunderbares Bundesland Schleswig-Holstein; ich meine auch unsere skandinavischen Nachbarn - um die Problemregion in der EU handeln würde. Das ist doch nicht der Fall. ({3}) Vielmehr ist es eine Region mit enormen Chancen und mit einem enormen Wachstumspotenzial. Es ist eine der zukunftsfähigsten und wird in Zukunft auch eine der reichsten Regionen in der Europäischen Union sein. Ich wollte, wir hätten in den anderen Regionen die Probleme, die wir im Ostseeraum haben - mit einigen Ausnahmen; darauf komme ich gleich zu sprechen -, ({4}) dann hätten wir wenig Probleme. ({5}) Herr Kollege Börnsen, Sie haben auch dem Kollegen Scharping vorgehalten - ich sage Ihnen, ich weiß, wie schwer das Oppositionsgeschäft ist; ich fordere Sie aber auf: Seien Sie nicht so ministerfixiert -, dass die Parlamentarische Staatssekretärin die Bürgermeister empfangen habe; mir werfen Sie vor, dass ich bei der von Ihnen erwähnten Konferenz nicht gewesen bin. Sie sagen, das sei eine Missachtung gewesen. ({6}) - Das war es natürlich nicht. Ich habe doch nicht zu Hause gelegen und war der Meinung: Ich muss mir den Börnsen nicht anhören. - Vielmehr hatte ich dringende andere Verpflichtungen. Darüber hinaus möchte ich Ihnen sagen: Die Parlamentarischen Staatssekretäre sind ja Kolleginnen und Kollegen von Ihnen. Es wird ja immer so getan, als wären sie Vertreter minderen Ranges. Diese Institution ist aus der Mitte dieses Hauses eingerichtet worden. ({7}) Es handelt sich dabei um Kolleginnen und Kollegen, die selbstverständlich die Politik des Hauses vertreten. Das hat doch mit Missachtung nichts zu tun. Der Staatsminister muss mich ja auch an anderer Stelle vertreten. ({8}) Wolfgang Börnsen ({9}) - Ich bekenne offen, Herr Kollege Börnsen: Es ist mir in den zwei Jahren bisher nicht gelungen, das alte theologische Problem der Ubiquität zu lösen. Deswegen werde ich auch in Zukunft dann und wann vertreten werden müssen. Zur Sache: Ich warne davor, die Ostseeraumpolitik zu überladen. Wir werden die bestehenden Probleme, zum Beispiel das Sozialgefälle und das Gefälle im Hinblick auf die Lebenserwartung der Bevölkerung von Russland und der Bevölkerung der skandinavischen Länder, nicht zuerst über die Ostseeraumpolitik lösen können. ({10}) Das wäre eine völlige Überfrachtung dessen, was ein solcher regionaler Ansatz leisten kann. Wir sind sehr der Meinung, dass dieser Ansatz eine große Zukunft hat. Allerdings sollten wir dabei, Herr Kollege Börnsen, nicht als Erstes nach neuen Regionalprogrammen rufen. Wenn ich mich richtig entsinne, hat die neue Bundesregierung kein nationales Regionalprogramm vorgefunden und dann eingestellt. Mitnichten! Nachdem Sie jetzt in der Opposition sind, fordern Sie plötzlich nach dem Motto „Opponieren kostet nichts“ ein zusätzliches Regionalprogramm, wobei Sie genau wissen, dass die dazu erforderlichen nationalen Mittel angesichts der von uns zu leistenden Haushaltssanierung nicht vorhanden sind. Das ist eine Form von, wie ich finde, sehr billiger Oppositionspolitik. Bei der Bundeswehr, die man zum Ersatzteillager denaturiert hat, ruft man jetzt nach mehr Geld. Gleichzeitig fordert man, für den Ostseeraum und die Landwirtschaft sollten nationale Zusatzmittel zur Verfügung gestellt werden, das Wunder Steuersenkung sollte finanziert werden und am Ende sollte auch noch eine Sanierung der Staatsfinanzen herauskommen. Das kann man im Parlament von Wolkenkuckucksheim realisieren, aber nicht in diesem irdischen Jammertal. Auch wenn man der CDU/CSU angehört, wird man das nicht schaffen. ({11}) Ich will Ihnen sagen, warum ich nicht auf dieser Ostseekonferenz war. Ich habe mir die Termine heraussuchen lassen. Gleichzeitig war die erste Botschafterkonferenz - sie war seit langem festgelegt -, die die Bundesrepublik Deutschland abgehalten hat. Sie hat am 4. und 5. September 2000 stattgefunden. Es war unverzichtbar, dass der Bundesaußenminister in Person an dieser Botschafterkonferenz teilgenommen hat. Das wollte ich hier nur einmal betonen. Daran kann man sehen, wie haltlos Ihre Vorwürfe sind. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Börnsen?

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Börnsen.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich, dass ich dazu eine Zwischenfrage stellen kann. Herr Minister, ist Ihnen anhand Ihres Terminkalenders auch deutlich geworden, dass Sie der Landtagspräsident von Schleswig-Holstein bereits neun Monate vor Beginn dieser Konferenz angeschrieben und gebeten hat teilzunehmen? Er hat sechs Monate auf die Antwort gewartet. Auch in der ersten Antwort hat er keinen Hinweis auf die Botschafterkonferenz bekommen. Erst nachdem er noch einmal nachgefragt hat - Herr Arens ist ein engagierter Ostseevertreter -, hat er den Bescheid bekommen, dass Sie sich vertreten lassen würden. Das ist, so finde ich, ein Zeichen dafür, dass Sie sich als Vorsitzender nicht um die Belange dieser Konferenz gekümmert haben. ({0})

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Herr Kollege Börnsen, Sie interessiert wohl die Botschafterkonferenz nicht sonderlich. Ich will Ihnen die Gründe nennen, warum ich an der Ostseekonferenz nicht teilgenommen habe: ({0}) - Nein, hätte sie nicht. Sie war langfristig geplant. Das ist keine Kleinigkeit. - Angesichts der geplanten umfassenden Reform des Auswärtigen Dienstes war es erstens unverzichtbar, diese Konferenz durchzuführen, und zweitens unverzichtbar, dass ich anwesend war. Also, akzeptieren Sie das doch einfach! Lassen Sie uns an diesem Punkt keinen Scheinkonflikt führen oder eine Herabstufung vornehmen! Das Gegenteil davon ist richtig. ({1}) Die EU-Osterweiterung bietet eine gewaltige Chance. Es wird jetzt zu einer Zwischenphase kommen; danach wird die Ostsee faktisch zu einem EU-Binnenmeer werden. Ganz entscheidend wird es dabei darauf ankommen, dass wir Russland in seinen regionalen Interessen, und zwar vor allen Dingen unter den Gesichtspunkten der Wirtschafts-, Wissenschafts- und Infrastrukturförderung, aber auch der Sicherheitspolitik - dies ist für mich ein sehr wichtiger Gesichtspunkt; Rüstungsfragen, Abrüstungsfragen und regionale Stabilitätsfragen spielen dabei eine große Rolle -, unterstützen. Wie vorsichtig wir dabei allerdings sein müssen, zeigt sich daran, dass die in der britischen Presse erschienene Zeitungsente, Deutschland wolle die Region Kaliningrad/Königsberg zurückhaben, dazu führte, dass mich verschiedene Kollegen am Rande des Allgemeinen Rates sofort darauf angesprochen haben, nach der Devise: Ist denn da was dran? Das heißt, gerade die Region Kaliningrad/Königsberg müssen wir bei unseren Nachbarn mit der notwendigen historischen Sensibilität behandeln, ohne uns gleichzeitig zurückzuhalten, wenn es um gemeinsame Entwicklungschancen und um die Integration dieser Region in den Ostseeraum geht. ({2}) Für uns ist aber folgender Punkt ganz entscheidend - ich möchte die Kollegen darauf hinweisen -: Wir erleben natürlich gegenwärtig, dass die nordischen EU-Mitgliedstaaten gleichzeitig mit der Frage der nördlichen Dimension ernst machen. Das sind im Grunde genommen zwei parallele Ansätze. Das heißt, wir müssen verhindern, dass hier Doppelstrukturen entstehen, die sich dann gegenseitig blockieren, und dass es zu einer Überfrachtung kommt. Aus meiner Sicht wird die Ostseekooperation erst dann wirklich anlaufen, wenn die Ostsee faktisch ein EUBinnenmeer sein wird. Dies wird im Zusammenhang mit dem Beitritt von noch größerer Bedeutung sein. Eine EU der 27 wird natürlich für die regionale Kooperation eine ganz andere Bedeutung haben. Herr Kollege Börnsen, ohne dass wir uns als Bund verabschieden wollen, sehe ich den Regionalansatz der Bundesländer als ganz entscheidend an. Das heißt nicht, dass wir uns aus der Verantwortung zurückziehen, im Gegenteil. Aber es ist doch unsere Stärke, dass wir Bundesländer mit höchst unterschiedlichen Interessenausrichtungen haben. Bayern interessiert sich dafür weniger als Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und andere nördliche Bundesländer. Dies ist ein großer Vorteil, weil wir dadurch bei der Kooperation flexibler sind und gleichzeitig im EUVerbund in Verkehrsfragen, Bildungsfragen, Fragen der Wissenschaftskooperation, der Wirtschaftsförderung und Wirtschaftskooperation eine ganz andere Flexibilität haben als etwa Berlin oder - wenn Sie noch höher gehen Brüssel. Ich finde, hierin liegt eine große Chance. Im Übrigen geht es auch um Organisationsgrößen. Sie haben die baltischen Staaten und Dänemark erwähnt. Dies sind Staaten, die von der Größenordnung her durchaus in der Lage sind - auch was die Wirtschaftskraft betrifft -, mit unseren Bundesländern zu kooperieren. Ich sehe hierin keine Alternative, sondern eine hervorragende Ergänzung. Ich kann nur nochmals betonen, dass die Bundesregierung hierin einen ganz entscheidenden Punkt für unsere Außen- und vor allen Dingen für unsere Europapolitik sieht. Hinsichtlich der Erweiterung um die baltischen Staaten stimme ich Ihnen zu. Entscheidend wird aber sein, dass sie die Kriterien von Stockholm erfüllen. ({3}) Jetzt geht es aber weiter: Es gibt einen noch wichtigeren Ostseeanrainer, den Sie nicht erwähnt haben, und zwar Polen, der auch wirtschaftlich und politisch für uns von überragender Bedeutung ist. Das dürfen wir nicht vergessen. ({4}) Damit ich nicht missverstanden werde: Für mich ist das kein Entweder-oder zwischen baltischen Staaten und Polen. Ich möchte hier wirklich nicht missverstanden werden. ({5}) - Ja, da kann ich Ihnen nur zustimmen. Es geht um alle vier. ({6}) - Gemeinsam, wenn sie die Kriterien, die wir in Helsinki festgelegt haben, erfüllen. Es darf keine politische Kulanzentscheidung geben. Daran arbeitet die Bundesregierung. Gegenwärtig liegt unser eigentlicher Schwerpunkt auf der EU-Osterweiterung. Die EU-Osterweiterung wird der wichtigste Beitrag auch für Schleswig-Holstein, für Mecklenburg-Vorpommern und die anderen ostdeutschen Bundesländer sein. Hierin liegt für unsere neuen Bundesländer und übrigens auch für die Grenzregionen in Bayern und für Schleswig-Holstein die große Chance. Dies wird eine erhebliche Entwicklungsdynamik auslösen. In diesem Zusammenhang brauchen wir dann nicht mehr groß über neue Strukturfonds, regionale Fördermittel oder Ähnliches zu diskutieren. Diese brauchen wir im Zusammenhang mit den Grenzgebieten. Hier hat es diese Bundesregierung durchgesetzt, dass im Zusammenhang mit der Erweiterung für die neuen Bundesländer und Bayern als Beitrittsgrenzland ein neuer Fonds aufgelegt wird, um eine regionale Strukturanpassung und um für einen bestimmten Zeitraum eine, was die regionale Wirtschaft betrifft, nicht konfrontative, sondern kooperative Lösung zu ermöglichen. Die Bundesregierung ist bereit, diese Chancen umfassend zu nutzen. Aber ich sage auch ganz offen: Schwerpunkt ist für uns jetzt wirklich, im Interesse aller Beteiligten die Erweiterung zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. ({7}) Dennoch ist die Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in dieser Region die große Zukunftschance. Zu den Infrastrukturprojekten hat auch gerade der Bundeskanzler klargemacht, dass wir ein Interesse daran haben, die Verkehrsanbindung und hier vor allen Dingen die Nord-Süd-Anbindung zu verbessern. Dagegen wird man wenig sagen können. Sie fordern, es solle mehr Verkehr auf die Schiene kommen. Meine Güte! Wir haben die Bundesbahn nun einmal so vorgefunden, wie sie ist. Wenn das jemand bedauert, dann diese Bundesregierung. Das können Sie glauben. Aber wir können die Dinge nicht schönzeichnen. Sie sind lange genug schöngerechnet worden. Uns sind doch allen die Augen übergegangen, als wir von den Defiziten erfahren haben. Zu Großprojekten: Dort, wo ich zu Hause bin, in Frankfurt am Main, wurde ein milliardenschweres Großprojekt geplant. Es hieß „Frankfurt 21“. Diese gab es auch noch woanders. ({8}) Dies war alles nicht bezahlbar. ({9}) Dies ist alles nicht bezahlbar, wenn Sie gleichzeitig die Verschuldung betrachten und auch noch die Dinge geleistet werden sollen, von denen Sie gesprochen haben. Auch ich würde mir wünschen, dass die Schiene als Verkehrsträger beim Gütertransport heute schon wettbewerbsfähig wäre und nicht erst wettbewerbsfähig gemacht werden müsste. All das sind Dinge, die wir vorgefunden haben; die können Sie uns nicht anlasten. Die „Wissensregion Ostsee“ ist ein weiterer ganz entscheidender Punkt, an dem wir arbeiten wollen. Dazu wird es an der Humboldt-Universität in Berlin und an der Universität in Kiel im Mai entsprechende Tagungen geben. Die Intensivierung der Kooperation spielt dabei ebenfalls eine Rolle. Dasselbe gilt für die Zusammenarbeit der Nichtregierungsorganisationen. Auch hier liegt eine große Chance. In Bezug auf praktische Fortschritte in der Umweltpolitik, hier vor allem in Verbindung mit den skandinavischen Staaten würde ich mir wünschen, dass Sie als Angehörige der Unionsfraktion einmal Ihre Position bezogen auf die Ökosteuer etwas „skandinavisieren“ würden. Dann wäre die Kooperation wesentlich einfacher. ({10}) Wenn Sie Dänemark diesbezüglich als Beispiel nehmen, kann ich Ihnen nur sagen: Nähern wir uns doch den Dänen und ihren entsprechenden Vorstellungen an! Das ist etwas, was ich ausdrücklich begrüßen würde. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Minister, Sie haben natürlich unbegrenztes Rederecht; aber Sie haben bereits vier Minuten auf Kosten der Fraktion der SPD geredet.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Das tut mir Leid. Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Ich möchte hier nochmals versichern, dass die Bundesregierung alles tun wird, um die Kooperation im Ostseeraum, aber in enger Einbindung in die sich entwickelnde nördliche Dimension, voranzubringen. Ich glaube, Frau Ministerpräsidentin Simonis, die nördliche Dimension in der EU wird immer wichtiger werden. Der Ostseeraum ist gegenwärtig sozusagen das Forum. Bei der schwedischen EU-Präsidentschaft werden wir wieder sehen, was wir bei der finnischen Präsidentschaft damals festgestellt haben und was wir vermutlich auch feststellen werden, wenn wir neue Mitglieder haben: dass, vor allem wenn die Balten noch hinzukommen werden, die nördliche Dimension innerhalb der Europäischen Union immer wichtiger werden wird. Das heißt, die Integration dieser Staaten wird von großer Bedeutung sein. Ich glaube, das Regionalinstrument der Ostseekooperation wird in der Außen- und Sicherheitspolitik und in all den anderen Fragen immer wichtiger. Die Bundesregierung wird das Ihre dazu beitragen, aus der Präsidentschaft einen Erfolg zu machen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Jürgen Koppelin von der F.D.P.-Fraktion.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland ist wie kaum ein anderer Anrainerstaat von der Entwicklung im Ostseeraum unmittelbar betroffen. Stabilität und Sicherheit in der gesamten Region liegen vorrangig im deutschen Interesse. Insofern wäre es mir lieber - das sage ich ganz offen -, wenn wir versuchten, Vergangenes etwas weiter nach hinten zu schieben, mehr die Gemeinsamkeiten zu suchen und auch in dieser Diskussion herauszufinden, wo wir uns gemeinsam engagieren können. Ich werde nachher noch auf einen Punkt zurückkommen, bei dem wir vielleicht sogar als Deutscher Bundestag eine Vorbildwirkung hätten. Die seit nunmehr zehn Jahren unternommenen Bemühungen um die Ostseekooperation haben - so meinen wir als Freie Demokraten - leider zu einem kaum übersehbaren Gestrüpp von Gremien und Organisationen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene sowie auf staatlicher und nichtstaatlicher Ebene geführt. ({0}) Die einzelnen Aktivitäten sind sicher positiv; aber ich meine, hier fehlt die Koordinierung. Eine britische Zeitschrift hat vor einiger Zeit geschrieben, das Ganze sei Aktionismus, der nur Papierberge und heiße Luft hervorbringe. Ich meine, diesen Spiegel müssen wir uns schon vorhalten lassen. Das einzige politische Gremium, in dem alle OstseeAnrainerstaaten sowie Norwegen, Island und die EU zusammenarbeiten und das in der Lage wäre, eine vernünftige Struktur in das heillose Durcheinander der diversen Kooperationsbemühungen zu bringen, ist der Ostseerat. Aber auch acht Jahre nach der Gründung ist der Ostseerat trotz aller Bemühungen heute immer noch weit davon entfernt, seine Koordinierungsrolle effektiv wahrzunehmen. Das kreide ich nicht unbedingt der Bundesregierung allein an; es sind ja noch mehr Partner dabei. Aber eines steht fest: Seit Juli letzten Jahres haben wir den Vorsitz, Herr Bundesaußenminister. Da wäre es mir schon lieber gewesen, wenn Sie, statt noch ein bisschen auf die alte Koalition zu schimpfen - aber das ist selbstverständlich Ihr gutes Recht - und statt uns zu sagen, was Sie alles noch tun wollen, einmal konkret benannt hätten, was Sie bisher in diesen acht Monaten bewegt haben. ({1}) Ich habe nicht erkennen können, dass Sie gesagt hätten: Hier und da und dort haben wir Aktivitäten entfaltet. Vielleicht lag es an der Kürze der Zeit, dass Sie nicht in der Lage waren, diese Punkte zu nennen. Wir als Freie Demokraten sind jedenfalls daran interessiert, dass in der Zeit, in der wir den Vorsitz noch innehaben, massiv etwas getan wird. Herr Bundesaußenminister, Sie müssen sich schon den Vorwurf gefallen lassen, dass Ihre Bilanz bisher - ich drücke es einmal vorsichtig aus - mager ausfällt. Ich habe das vor Ihrer Rede schon geahnt und habe mich hinterher bestätigt gefühlt. Sie haben zwar - ich möchte es einmal so formulieren - so manchen Stein in die Ostsee geworfen. Diese haben mir mehr als die früheren Steine gefallen. Aber ich kann nicht erkennen, dass man auf diese Steine bauen kann. ({2}) Mein Vorschlag ist, dass Sie wirklich einmal darüber nachdenken: Was können wir in der kommenden Zeit unternehmen, damit der Ostseerat wirklich der Ort wird, in dem wir für diese Region alle gemeinsam an einem Strang ziehen? Es ist schon angesprochen worden: Es gibt ein Projekt, das man als durchaus positiv ansehen kann, die Euro-Fakultät in Königsberg. Aber das allein reicht nicht. Kürzlich hat der „Focus“ zur Kooperation im Ostseerat geschrieben: „Deutschland muss aus seiner Mitläuferrolle herausfinden.“ Auch das kann ich nur unterschreiben. Die Perspektiven für diese Region sind glänzend. Es ist auch von anderen Rednern darauf hingewiesen worden: Nirgendwo in Europa gibt es bessere Voraussetzungen für eine positive Zukunft als dort. Doch die politische Bedeutung dieser Region fällt im Augenblick, wie ich finde, eher dürftig aus. Ich will diesen Vorwurf nicht nur an die Bundesregierung richten. Mein Eindruck ist, dass das Thema Ostseeregion bisher in Brüssel leider nicht die Rolle gespielt hat, die diese Region verdient hätte. ({3}) Wenn wir mit Vertretern in Brüssel - egal, ob das die Regierung oder das Parlament ist - in den entsprechenden Gremien Gespräche führen, dann sollten wir etwas mehr Dampf machen und dafür sorgen, dass diese Region in Brüssel ernst genommen wird. ({4}) Es wird immer gerne aus Zeitungen zitiert. Erlauben Sie mir, dass auch ich zitiere, nämlich aus der „Neuen Zürcher Zeitung“. Sie hat sich vor einiger Zeit intensiv mit dem Ostseeraum beschäftigt. Dazu hat sie geschrieben: In deutschen Städten und Regionen, bei Wirtschaftsund Kulturkreisen mag der Ostseeraum ein gewisses partnerschaftliches Interesse wecken. In der Berliner Außenpolitik hingegen existiert er nicht, zumindest nicht als Teil der europäischen Idee. Das könnte sich später einmal bitter rächen. Ich finde, das ist sehr sachlich dargestellt. Aber über dieses Thema sollten wir uns alle Gedanken machen. Ich sage noch einmal: Ich will nicht allein der Bundesregierung diesen Vorwurf machen. Wir alle sind hier zum Handeln aufgefordert. Ich weiß, dass wir viele Partner haben. Kaum eine Region in Europa hat sich in der letzten Zeit zu einem so dynamischen Handelsraum entwickelt wie die Ostseeregion. Aber innerhalb dieses Konglomerats aus EU- und Nicht-EU-Staaten, aus beitrittswilligen Staaten und einer kontinentalen Macht wie Russland sind die Unterschiede in Bezug auf Wirtschaftspotenzial, technische Entwicklung, Infrastruktur und Umweltstandards dramatisch. Diese Unterschiede sind einfach zu groß. Hier liegt die große Herausforderung für den Ostseerat. Deswegen sage ich: Bis zu unserer nächsten Sitzung - ich glaube, sie ist in Hamburg - im Juni sollten sich die Außenminister wirklich überlegen, was sie für diesen Bereich tun können und wie die ganzen Probleme zu meistern sind oder wie zumindest einiges auf den Weg gebracht werden kann. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat verschiedene Initiativen ergriffen. Ihnen liegt heute ein Antrag von uns vor. Weil wir wissen, wie wichtig diese Region ist, haben wir entsprechende Anträge eingebracht. Ich will einen Punkt nennen, bei dem sich die deutsche Seite in positiver Weise engagiert. Ich sage dies als Mitglied des Aufsichtsrats der GTZ. Auch in anderen Fraktionen gibt es Mitglieder, die im Aufsichtsrat der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit sind. Ich will ein ganz großes Lob für die Arbeit der GTZ aussprechen, die sich in dieser Region unglaublich engagiert. Ich weiß, Frau Ministerpräsidentin Simonis, dass Sie mit Vertretern der GTZ gesprochen haben. Dazu können wir nur sagen: Hut ab. Ich will noch etwas zu den politischen Stiftungen sagen, die sich in diesem Bereich ebenfalls engagieren. Ich denke, auch sie haben ein Lob verdient. ({5}) In diesem Zusammenhang will ich ein Vorbild nennen. Ich finde es ausgesprochen positiv, dass sich alle Fraktionen des Schleswig-Holsteinischen Landtages einschließlich der Landesregierung - erlauben Sie mir, Frau Ministerpräsidentin Simonis, dass ich meinen Parteifreund und Ihren Staatssekretär Klaus Gärtner besonders hervorhebe - in diesem Bereich besonders engagieren. Davon könnte sich der Bundestag noch so manche Scheibe abschneiden. Hier ist dieser Landtag wirklich ein Vorbild. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Ostseeraum hat es verdient, dass wir uns für ihn engagieren. Wir sollten - über Parteigrenzen hinweg - nicht bei diesem KleinKlein bleiben, sondern wir sollten alle zusammen das Ziel im Auge behalten. Wenn sich der Deutsche Bundestag zusammen mit der Bundesregierung den Landtag und die Landesregierung von Schleswig-Holstein - bei allen Unterschieden, die man bei einzelnen Punkten haben kann zum Vorbild nehmen, dann bin ich sicher, dass wir in dieser Sache sehr erfolgreich sein werden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen ein schönes Wochenende, falls wir uns nicht mehr sehen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Rolf Kutzmutz von der PDS-Fraktion das Wort.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ostseeraum ist von enormer wirtschaftlicher und politischer Bedeutung: Hier wurde und wird Kulturgeschichte geschrieben und hier treffen sich West- und Osteuropa. Darin besteht große Übereinstimmung, übrigens auch in der Einschätzung der Lage. Daher begrüßt meine Fraktion das Bekenntnis zur nachhaltigen Stärkung der Entwicklung in dieser Region. Wir erwarten, dass dies über den zu Ende gehenden Vorsitz im Ostseerat hinaus andauert. Wir erwarten auch, dass den wohlwollenden Worten noch mehr als bisher konkrete Taten folgen. ({0}) Der CDU/CSU gebührt das Verdienst, mit einem eigenen Antrag als Erste in diesem Haus frühzeitig die Diskussion angestoßen zu haben. Deshalb, aber auch wegen vieler inhaltlicher Übereinstimmungen werden wir nachher einer Ablehnung Ihres Antrags nicht zustimmen. Wir werden ihn also durchaus unterstützen. ({1}) - Das lag daran, dass ich mich schon auf Sie konzentriert habe. Auch die F.D.P. unterbreitet heute viele bedenkenswerte Vorschläge, insbesondere zur Qualifizierung der Arbeit des Ostseerats. Nur eines, verehrte Kollegen Liberale, scheinen Sie übersehen zu haben: Russland grenzt nicht nur in Kaliningrad, sondern auch um Sankt Petersburg an die Ostsee. Auch dort sollen in einigen Jahren künftige EU-Außengrenzen - neben der von Finnland die von Estland - nicht ausgrenzen, sondern verbinden. Eine von Ihnen hoffentlich unbeabsichtigte Fokussierung ausgerechnet der Bundesrepublik auf das frühere Königsberg könnte allzu leicht jahrzehntelang durchaus berechtigte Ängste von neuem schüren. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kutzmutz, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kutzmutz, ich nehme durchaus ernst, was Sie hier vortragen. Aber darf ich Ihnen einmal unsere Sorge nennen? Unsere Sorge ist, dass Königsberg allein schon durch seine Lage eine Armutsregion an der Ostsee werden könnte. Deswegen haben wir Königsberg besonders herausgestellt. Es ist nicht das, was Sie hineininterpretieren.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Nein, Herr Kollege Koppelin, ich habe ausdrücklich von „unbeabsichtigt“ gesprochen. Ich habe auch den Artikel Ihres Kollegen Kinkel in der „Welt“ gelesen; ich bereite mich also durchaus auf solche Diskussionen vor. ({0}) Ich sehe Ihre Sorge. Aber ich sage zugleich: Mich bewegt die Sorge, dass es auch passieren kann, dass sich Russland, das wir bei der EU-Erweiterung gedanklich einbeziehen müssen, gerade angesichts der Fokussierung darauf vor den Kopf gestoßen fühlt. Nur deshalb habe ich das angesprochen, nicht, um Ihnen irgendetwas zu unterstellen. Gerade in diesem sensiblen Punkt dürfen sich Deutsche aber auch nicht der Spur eines Verdachtes aussetzen. Am Antrag der Koalition verblüfft mich zweierlei: Erstens scheint Abrüstung kein Thema zu sein; denn mit „Ausbau der Sicherheitskooperation“, wie es in den Forderungen der Koalition heißt, wird dieses wichtige Anliegen, wenn es denn eines ist, wohl arg verschleiert. Zweitens beginnt Hilfe bei regionaler Kooperation offenbar erst außerhalb der Bundesgrenzen. Ich zitiere auch dazu: „enge Zusammenarbeit und Abstimmung mit den norddeutschen Ländern“. Das ist das eine. Aber wie steht es mit aktiver Unterstützung, beispielsweise bei der Vorbereitung angrenzender Staaten auf den EU-Beitritt? Ich will an dieser Stelle nicht erneut das leidige Thema der Haltung der Bundesregierung zu Mecklenburg-Vorpommern beim neuen Airbus 380 thematisieren; wir haben oft genug darüber gesprochen. Der Bundeskanzler hat aber mehrfach, beispielsweise auf seiner Sommerreise, die Hoffnung auf eine besondere Förderung der Regionen an der heutigen EU-Außengrenze genährt. Nun enttäuscht schon, dass sich die Koalition dazu nach wie vor keine Aussage entlocken lässt, zumal diese Frage mit der absehbaren stärkeren Ausrichtung Vorpommerns auf Szczecin gerade auch an der Ostsee akut wird. ({1}) In diesem Zusammenhang stelle ich - besonders nach der einhelligen Ablehnung durch die anderen Fraktionen im Wirtschaftsausschuss - noch einmal unsere Haltung zum so genannten integrierten Küstenzonenmanagement klar. Natürlich kann es nicht um zusätzliches Berichtsunwesen Richtung Brüssel und muss es auch um Geld für eine neue Politik gehen. Wir befürchten aber, dass über die Ablehnung der Berichte auch der zugrunde liegende Ansatz gleich mit beerdigt wird. Aber ohne eine ganzheitliche Analyse der Situation und der Potenziale sowie eine Entwicklung darauf aufbauender Strategien, wie von der Kommission vorgeschlagen, können keine tragfähigen politischen Leitbilder für die Region geschaffen werden. ({2}) An dieser Stelle sind wir nicht so weit auseinander; jedenfalls habe ich Sie so verstanden, Frau Kollegin Wetzel. Ohne solche Leitbilder, an deren Umsetzung dann auch alle Politikbereiche miteinander und nicht gegeneinander arbeiten, lassen sich aber weder Investoren locken noch qualifizierte und mobile junge Menschen halten. Deshalb ist ein solcher Ansatz überall im Land - auch in Schleswig-Holstein, besonders aber in MecklenburgVorpommern - wichtig, da die übrige Republik an einer sich dort sonst zwangsläufig weiter vollziehenden Abwanderung junger und der Zuwanderung älterer Menschen kein ernsthaftes Interesse haben kann. Kurzum: Auch wenn das Thema Ostsee zum politischen Blick auf ferne Gestade geradezu einlädt, darf das eigene Ufer nicht vergessen werden. Zu beidem legt die PDS-Fraktion mit ihrem Antrag nicht nur eine politische Willensbekundung vor, sondern unterbreitet auch ergebnisorientierte Vorschläge. Wie schon im Vorjahr bekennt sich die Koalition zum Ostseeraum als einem Modell für wirtschaftlichen Wohlstand, nachhaltigen Umgang mit der Natur, kulturellen Reichtum und soziale Verantwortung. Wir hoffen sehr, dass in der Region wirklich spürbar Aktivitäten in diesem Sinne ausgelöst werden. Gerade Mecklenburg-Vorpommern hängt sehr direkt und unmittelbar von der Ostseeregion ab. Damit ist die Entwicklung dieser Region nicht allein ein Gebot des europäischen Einigungsprozesses, sondern zugleich ein wichtiger Beitrag zur Vollendung der inneren Einheit der Bundesrepublik Deutschland. Danke schön. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Ministerpräsidentin des Landes Schleswig-Holstein, Heide Simonis. Heide Simonis, Ministerpräsidentin ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Herr Kollege Börnsen, ich habe mich über einige Passagen Ihrer Ausführungen wirklich gewundert. Wenn man den Regionen, von denen Sie gesprochen haben, Hilfe geben will, weiß man, was Bürokratie bedeutet. Wir haben uns im Namen der Nördlichen Dimension bereit erklärt, zusammen mit Mecklenburg-Vorpommern in Kaliningrad und Sankt Petersburg vor allem humanitäre Aufgaben zu übernehmen. ({2}) Wir wissen, dass die betroffenen Helfer teilweise acht Stunden an der Grenze warten. Das ist aber doch keine Folge der deutschen Bürokratie, sondern diese Bürokratie geht von der anderen Seite aus. Was soll die Bundesregierung in diesem Fall tun? Soll sie mit einem Panzer vorneweg fahren und eine Schneise schlagen? Man kann das Problem doch nur auf diplomatischem Wege lösen. Mit dem Anklageton, den Sie angeschlagen haben, als Sie forderten, die Bundesregierung solle etwas unternehmen, kommt man nicht weiter. Ich habe das Gefühl, da haben Sie auf dem falschen Bein Hurra geschrien. ({3}) Aus der Sicht der schleswig-holsteinischen Landesregierung - die anderen norddeutschen Länder sehen das genauso - können wir jedenfalls feststellen: Wir werden von der Bundesregierung in unseren Aufgaben für die Ostseeregion so unterstützt wie noch nie zuvor. ({4}) Es war Bundeskanzler Gerhard Schröder, der zum ersten Mal die drei Staaten im Baltikum besuchte und ihnen somit das Gefühl gab, dass sie zu Europa gehören und von uns wahrgenommen werden. Diese Staaten haben durch diesen Besuch zum ersten Mal eine Antwort auf ihre großen Hoffnungen bekommen. Einen solchen Schritt hat es vorher noch nicht gegeben. ({5}) Es hat sehr viele Entschließungsanträge gegeben, für die ich mich ausdrücklich bedanke. Die heutige Debatte zeigt, dass sich auch der Bundestag für diese Region interessiert. Die Norddeutschen sind Ihnen für dieses Interesse dankbar, da wir in der Tat Hilfen benötigen, und zwar sowohl im Kleinen als auch im Großen. Wir wollen gerne, dass die Ergänzung und die Erweiterung der Europäischen Union von uns mitbegleitet wird, weil wir darin eine Chance sehen und bereit sind, dafür gewisse Investitionen vorzunehmen. Es gibt allerdings Probleme, die wir selbst dann, wenn wir die Nebenaußenpolitik bis zum Gehtnichtmehr ausdehnen, alleine nicht lösen können. Dazu gehört, dass das, was unter Region Building - als neudeutsches Wort - eingeführt worden ist, stärker durch die Bundesregierung unterstützt wird. Neben den wesentlichen Elementen, die Außenminister Fischer in seiner Rede in der Humboldt-Universität angesprochen hat, braucht Europa auch Bildung von handlungsfähigen Großregionen, die sich nicht im Klein-Klein vertrödeln, sondern mit großen, nachvollziehbaren Projekten in Brüssel als Ansprechpartner stärker wahrgenommen werden als Einzelne. Wir brauchen in diesen neuen territorialen Gruppierungen Bindungen und Formen, die über die alten Grenzen hinausgehen und neue Elemente von Bindung, Wiedererkennung und Sichwohlfühlen in einer Region ermöglichen. Dazu brauchen wir Flechtwerke, die diese Zusammenarbeit tragen. Eine dieser Großregionen ist die Ostseeregion, die schon jetzt sehr erfolgreich ist und in der Zukunft noch erfolgreicher werden wird. Es ist eine Region, die ein Musterbeispiel an Nachhaltigkeit abgeben kann, weil sie durch die neuen Wege in die Informationsgesellschaft einige der Fehler, die wir in unserer Entwicklung gemacht haben, überspringen kann und offensichtlich auch bereit ist, sie zu überspringen. ({6}) Die Länder um die Ostsee haben es sich zur Aufgabe gesetzt, den Aufbau der Zivilgesellschaften in den Beitrittsländern und in Russland - nicht nur in Kaliningrad, sondern zum Teil auch in Sankt Petersburg; mehr können wir nicht schaffen - mit zu unterstützen. Wir wollen, dass sich Bürgerinnen und Bürger treffen. Wir wollen, dass die Universitäten und Technikzentren sowie die Kammern noch stärker zusammenarbeiten, und haben deshalb Vertreter vor Ort. Wir wollen, dass unsere Universitäten sich das zunutze machen, was man unter einer virtuellen Hochschule versteht. Wir haben zum Beispiel mit Polen einen Windenergiepark für die EXPO konzipiert, wir haben in Estland eine Kläranlage mitfinanziert, wir machen Stadtentwicklungsprojekte in Estland, Litauen und Kaliningrad. Wir arbeiten bei der inneren Sicherheit zusammen mit den baltischen Staaten - dahin darf der Bund übrigens keine Polizei schicken, das möchten die Länder schon gerne alleine machen, darauf bestehen wir -, wir haben ein Molkereiprojekt in Estland für die EXPO mit entwickelt. Wir tun also schon eine ganze Menge. Unter anderem wird die Landesregierung in diesem Mai mit rund 60 Jugendlichen aus Schleswig-Holstein über Krakau und Auschwitz nach Danzig fahren, wo diese jungen Leute mit polnischen Jugendlichen einen großen Kongress über die Zukunft Europas gestalten werden und - das ist bemerkenswert - privat in polnischen Familien untergebracht sein werden. Das ist das Neue an diesem Projekt. ({7}) Wir tun alles, bis wir an unsere äußerste Grenze kommen. Nun habe ich drei Wünsche an Sie: Ich verstehe ja, dass die südlichen Mitgliedstaaten jedes Mal, wenn die Ostseeregion auf die Tagesordnung der Europäischen Union kommt, die Ohren dicht machen und anfangen zu rechnen, was das wohl kosten könnte. Hier brauchen wir Ihre Hilfe, zum Beispiel bei der Integration von Verkehrsprojekten in die großen europäischen Netze. ({8}) - Wir bestreiten gar nicht, dass da großer Bedarf besteht. Wir brauchen eine ganze Menge. Ich wäre schon froh gewesen, Herr Kollege Börnsen, wenn Sie das früher einmal gesagt hätten, als wir das gefordert haben, als wir das dringend brauchten. ({9}) Jetzt kriege ich langsam einen Adrenalinstoß! Was haben Sie uns durch den Kakao gezogen, als wir von der festen Fehmarn-Belt-Querung gesprochen haben! Wer hat denn in Fehmarn angefangen zu zündeln und von den Arbeitsplätzen zu sprechen? ({10}) - Doch, die wollten wir. ({11}) Wir waren schon viel weiter als ihr. ({12}) - Alles Unsinn. Ich erinnere mich ziemlich genau daran, wer vor Ort den Fehmeranern erzählt hat, dass jetzt das Ende der Insel Fehmarn eingeläutet werde, weil wir eine feste Beltquerung haben wollten. ({13}) Das ist nicht fair, was Sie uns jetzt vorwerfen. Aber ich will mich wieder abregen, man soll ja Parlamentarier anständig behandeln. ({14}) Wenn wir von Ihnen und durch Ihren Beitrag eine Zusicherung bekommen, dass Sie uns dabei helfen, dass diese Netze ausgebaut werden - es ist vor allem europäisches Geld, was dort gefordert ist, gar nicht so sehr bundesrepublikanisches Geld -, dann kann man über Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten. ({15}) - Auf die Diskussion will ich mich jetzt nicht einlassen. Wir hätten gerne von Ihnen Unterstützung für einen „Baltic Sea Desk“ in Europa, an den sich die einzelnen Regionen sofort wenden können. Wir hätten gerne, dass Sie die vier Staaten, die beitreten wollen, unterstützen. Sie können Polen nicht von Litauen abspalten und Sie können auch die beiden anderen baltischen Staaten nicht von Litauen abspalten. Sie müssen also für alle vier reden, damit sie, wenn sie die Kriterien erfüllt haben, in die Europäische Union aufgenommen werden als die guten Nachbarn, als die sie sich in der Vergangenheit für uns erwiesen haben. ({16}) Ministerpräsidentin Heide Simonis ({17}) Wir sind der Meinung, dass der Vorsitz des Ostseerates bei der Bundesrepublik Deutschland gut aufgehoben war. Wir bedanken uns dafür, dass wir nicht ans Gängelband gelegt worden sind, sondern weiter das machen durften, was wir für richtig empfunden haben. Wenn Herr Fischer da gewesen wäre, hätten wir uns gefreut. Wir haben aber auch ohne ihn gute Politik gemacht. Das ist überhaupt nicht unser Problem. Herr Bundesaußenminister, wir schaffen es ganz allein, uns dort für die Interessen der Region, unserer Länder und der Bundesregierung einzusetzen. ({18}) Wir sind auch durchaus in der Lage, egal welcher Partei diese Bundesregierung angehört, sie zu loben, wenn sie Gutes tut, und sie zu tadeln, wenn sie nichts Gutes tut. Wir haben das Gefühl, ihre Arbeit im Ostseerat war sehr hilfreich für die Region. ({19}) Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken, auch im Namen meiner norddeutschen Ministerpräsidentenkollegen, die gestern mit mir zusammen über dieses Thema gesprochen haben. Für alles Weitere, was Ihnen noch einfällt, sind wir dankbar und offen. Zeigen Sie ein bisschen Kreativität auch für die nördliche Region. Sie ist eine wunderschöne, eine spannende Region. ({20}) Sie ist es immer wert, eine Reise dorthin zu machen, Herr Bundesaußenminister. ({21}) Vielen herzlichen Dank. ({22})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Ulrich Adam.

Ulrich Adam (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000005, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir haben es von vielen heute schon gehört: Die Ostseeregion entwickelt sich mehr und mehr zu einem Gebiet von wachsender Bedeutung, und dies im ökonomischen, aber auch im politischen und kulturellen Sinne. Ich möchte an dieser Stelle speziell auf einige Beispiele für Chancen, aber auch für Chancenverwertung meines Heimatlandes Mecklenburg-Vorpommern eingehen. Bisher haben wir sehr viele Beispiele der anderen Anlieger, zum Beispiel Schleswig-Holsteins, gehört. Wie bei allen Ostseeanliegerstaaten ist die Tourismusbranche ein wichtiges Standbein. Wir sind deswegen besonders stolz, dass wir in Mecklenburg-Vorpommern auf diesem Gebiet sehr hohe Steigerungsraten erreicht haben. Die Antwort der Bundesregierung zeigt uns aber, dass große Chancen bestehen, gerade den Anteil ausländischer Touristen am Übernachtungsaufkommen noch zu steigern. Ich fordere meine Landesregierung auf, insbesondere im Hinblick auf die Außenwirkung mehr zu unternehmen. Es wäre schön, wenn der Bund mein Land dabei unterstützte. Insofern begrüße ich natürlich, dass auf der Bundesratsbank die zuständige Referentin der Landesvertretung sitzt. Ich hätte mir aber gewünscht, dass unser Land bei dieser wichtigen Debatte, wie Schleswig-Holstein, auch durch den Ministerpräsidenten vertreten wäre. ({0}) Wir haben bei Tourismus diese Steigerungsraten deswegen erreicht, weil wir an die Bäderarchitektur der 20er-Jahre angeknüpft haben. Damit wurde den Gästen ein sehr willkommenes Angebot gemacht. Rostock-Warnemünde gilt zudem als ein attraktives Ziel für Kreuzfahrten, mit wachsender Tendenz. Daraus lässt sich die Idee entwickeln, dort einen zweiten Standort anzubieten. Aus historischer Sicht, liegt der Vorschlag nahe - das wurde auch schon in den Gemeinden überlegt -, in Zusammenarbeit mit der Entwicklung der Museumslandschaft die Region Peenemünde als neues, interessantes Ziel gerade für Kreuzfahrer aus Übersee anzubieten. Der Flughafen Peenemünde würde zudem die Chance einer guten Anbindung für Auflüge in große Zentren Deutschlands, zum Beispiel Berlin, bieten. Meine Vorredner haben schon die wichtige Rolle von Verkehrsverbindungen hervorgehoben. Dabei spielen die Fährhäfen eine besondere Rolle. Bei uns sind das im Speziellen Rostock und Mukran. Deswegen ist es mir unverständlich - das geht an die Adresse der jetzigen Regierung -, dass die Deutsche Bahn AG als hundertprozentige Tochter des Bundes eine erhebliche Ausdünnung bei den Interregioverbindungen vornimmt, wodurch es zu einer starken Beeinträchtigung der Anbindung von Mecklenburg-Vorpommern und damit auch der Universitäts- und Hansestadt Greifswald zu den anderen Ostseeanrainern kommt. Dem muss dringend Einhalt geboten werden. ({1}) Ich möchte auf die Antwort der Bundesregierung zurückkommen. Dort wurde festgestellt, dass gerade die Transrapidtechnik für den Industriestandort Deutschland einen hohen Stellenwert hat. Deshalb ist mir die Streichung der Transrapidstrecke Hamburg-SchwerinBerlin unerklärlich. ({2}) Es ist für mich, gelinde gesagt, erstaunlich, dass sich der Ministerpräsident Ringstorff für dieses Projekt nicht eingesetzt hat, sondern sich dagegen ausgesprochen hat. Dem Land hätte es viele Arbeitsplätze, vor allen Dingen im Bauwesen - laut IHK Schwerin rund 4 000 -, gesichert. Was die sicherheitspolitische Situation in der Ostseeregion angeht, so ist vor allem die Rolle des trinationalen Korps zwischen Dänemark, Deutschland und Polen Ministerpräsidentin Heide Simonis ({3}) hervorzuheben. Mit der Unterzeichnung einer Absichtserklärung zum Aufbau dieses Korps am 28. Oktober 1997, bereits vor dem Eintritt Polens in die NATO, wurde unter dem damaligen Minister Rühe sehr vorausschauend gehandelt. Das dann 1999 in Dienst gestellte multinationale Korps Nordost mit Sitz in Stettin ist derzeit der einzige multinationale Großverband von Heereskräften in dieser Region. Dort leistet er einen großen Beitrag zu Sicherheit und Stabilität. In ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage betont die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Arbeit des Stabes bei Rettungs- und humanitären Einsätzen, einschließlich der Katastrophenhilfe. Gerade dies ist eine Besonderheit dieses multinationalen Korps; schließlich ist die Katastrophenhilfe in der Regel eine rein nationale Angelegenheit. Umso unverständlicher ist für mich daher die geplante enorme Reduzierung des angrenzenden Bundeswehrstandortes Eggesin. Minister Scharping hat sich bei seinen Plänen offensichtlich ohnehin nicht von seinen selbst vorgegebenen Kriterien leiten lassen. Schließlich hat er im Vorfeld die internationale Einbindung als wichtigen Faktor für seine Entscheidungen benannt. Nun schließt er Eggesin beinahe komplett. Das passt nicht zusammen, Herr Scharping. Ich fordere Sie daher eindringlich auf, Ihre Entscheidung noch einmal gründlich zu überprüfen. ({4}) Nun zu Ihnen, Herr Bundesaußenminister: Durch das schon eben beschriebene trinationale Korps wurde gerade auch aus unserer Sicht die Stellung von Stettin aufgewertet. Umso unverständlicher ist von daher die Schließung des dortigen Generalkonsulates. ({5}) Bislang gibt es zudem auch keinerlei Maßnahmen, die diesen Wegfall kompensieren würden, was Sie ja eigentlich zugesagt haben. Ich fordere Sie daher auf, endlich in diesem Sinne zu handeln, damit der Prozess der Erweiterung der Europäischen Union auch zukünftig entsprechend begleitet wird. Vorbilder in diesem Zusammenhang - das sollten Sie sich einmal genau anschauen - sind die IHK Neubrandenburg und der Unternehmerverband Vorpommern, die beide bereits Kontaktbüros in Stettin eingerichtet haben. ({6}) Damit haben sie nämlich genau das Gegenteil von dem getan, was Sie getan haben. Meine Damen und Herren, es ist hervorzuheben, dass im Bereich der Bildungspolitik durch die CDU/CSU-geführte Bundesregierung die Ständige Konferenz der Historiker des Ostseeraumes ins Leben gerufen wurde. Ganz besonders freue ich mich, dass das Koordinierungsbüro an meiner Heimatuniversität Greifswald angesiedelt wurde. Es wurde ja schon die Bedeutung der Universitäten Berlin und Kiel hervorgehoben. Ich denke, hier reiht sich Greifswald besonders gut ein. Bislang gibt es für dieses Projekt nationale Förderung der zehn beteiligten Ostseeanrainerstaaten. Der zuständige Leiter der Konferenz, Professor Wernicke, hat vorgeschlagen, sich nun auch international auf eine Förderung zu verständigen. Ich halte dies für eine ausgesprochen gute Idee. Damit könnte das weitere Bestehen des Begegnungs- und Diskussionsforums auf eine neue Grundlage gestellt werden. Es muss in unser aller Interesse liegen, die Ostseeregion auch zukünftig weiter zu unterstützen und zu fördern, damit sie sich zu einem europäischen und globalen Motor für Wachstum und Wohlstand entwickelt. Es wurde ja hier schon der Vergleich zum Mittelmeer gezogen. Gerade vor diesem Hintergrund ist die stark angespannte wirtschaftliche Situation in Mecklenburg-Vorpommern von besonders großer Bedeutung. Hier sind sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregierung gefordert. Abschließend möchte ich festhalten: Ich sehe für alle Anrainer der Ostsee große Entwicklungspotenziale. Deshalb muss es vor allem darum gehen, die bisherige Zusammenarbeit fortzuführen, um gerade auch die Staaten Osteuropas weiter einzubinden. Der Transformationsprozess der osteuropäischen Staaten bietet auch für uns enorme wirtschaftliche Chancen. Das Beispiel der Kommunalgemeinschaft Europaregion Pomerania im Bereich Pommern dies- und jenseits der deutsch-polnischen Grenze ist ein gutes Vorbild dafür, wie multinationale Zusammenarbeit gefördert werden kann. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Franz Thönnes für die SPD-Fraktion.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Mare Balticum, die Ostsee, als Region einer aufblühenden wirtschaftlichen und kulturellen Begegnung ist eine unserer großen Visionen - so 1988 der ehemalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins Björn Engholm. Die Anwesenheit der heutigen Ministerpräsidentin des nördlichsten Bundeslandes, Heide Simonis, unterstreicht die gute Kontinuität dieser Auffassung. ({0}) Aus der Vision ist inzwischen ein vielfältiges Netz praktischer Zusammenarbeit entstanden. Insgesamt ist die Ostseekooperation eine faszinierende Erfolgsgeschichte. Vor 50 Jahren herrschten Krieg und Zerstörung, vor 10 Jahren gab es noch eine Konfrontation der Blöcke, heute gibt es Zusammenarbeit und Verständigung. Die Ostsee trennt nicht mehr, die Ostsee verbindet. ({1}) Keine andere Region hat den Übergang aus den Zeiten der Konfrontation in die Gegenwart so gut und so friedlich bewältigt. Alte Verbindungen lebten wieder auf, neue Demokratien entstanden, Handel und Verkehr entwickelten sich enorm. Mit Russland entsteht ein neues nachbarschaftliches Verhältnis, ebenso mit Polen, und die baltischen Staaten sind wie Polen auf dem Weg in die EU. Kein Zweifel: Diese Region gehört zu den Zukunftsregionen eines größeren Europas. ({2}) Ich sage aber auch: Alle Regierungen sollten die sich daraus ergebenden Chancen noch viel stärker als bisher nutzen. ({3}) Von der Bundesregierung erwarten wir - das ist die Absicht unseres Antrages -, dass sie gegenüber der EU für die weitere Ausgestaltung einer eigenständigen EU-Ostseepolitik eintritt. Darunter fallen sowohl eine bessere Koordinierung der EU-Förderinstrumente im Ostseeraum als auch die Vereinheitlichung der Zuständigkeiten innerhalb der Kommission. Die Kooperation zwischen der EU und Russland und die regionale Zusammenarbeit mit den Regionen Nordwestrusslands unter Einbeziehung von Kaliningrad sind weiter zu fördern. Mit den Partnern des Ostseerates gemeinsam sollte über den EU-Gipfel in Göteborg hinaus an den Projekten zur weiteren Umsetzung des Aktionsplans zur Nördlichen Dimension gearbeitet werden. Dabei geht es insbesondere um die Weiterentwicklung der transeuropäischen Netze für Transport, Energie, Verkehr und Kommunikation, den Ausbau der Sicherheitskooperation in der Ostseeregion, die Entwicklung zur Wissensgesellschaft und den Ausbau der Zivilgesellschaft mit kultureller Zusammenarbeit, mit Jugendbegegnungen und der Kooperation von und mit Nichtregierungsorganisationen. Gerade am Komplex der Jugendbegegnungen will ich mit einem besonderen Anliegen anknüpfen. In der Schlussresolution der 9. Ostseeparlamentarierkonferenz haben 116 Parlamentarier der Ostseeanrainerstaaten im September 2000 einstimmig angeregt, zur Förderung des Austausches und des Tourismus in der Ostseeregion eine Ostseejugendstiftung zu bilden. Sie sollte auf den guten Erfahrungen des Ostseejugendsekretariats in Kiel aufbauen. Das Ostseejugendforum, die Plattform der nationalen bzw. regionalen Jugendringe in der Region, hat den Bedarf für die Ostseejugendstiftung bestätigt. Unterstützung hat man von der Konferenz über die Ostseejugendzusammenarbeit erhalten. Gleiches gilt für die Konferenz der Subregionen. In einer Studie zu Finanzierungsmöglichkeiten von Jugendprojekten im Ostseeraum haben die nationalen Jugendministerien und Jugendringe sowie die Subregionen im Ostseeraum festgestellt, dass gerade Förderprogramme für Langzeit- und für Folgeprojekte fehlen. Ich glaube, dass es notwendig ist, diese Stiftung bald auf den Weg zu bringen; denn sie wäre eine gute Hilfe, Hindernisse für Jugendmobilität im Ostseeraum zu beseitigen. ({4}) Die Ostsee verbindet. Brücken verbinden. Brücken brauchen Pfeiler. Eine Ostseejugendstiftung könnte einer der tragenden Pfeiler für eine gute und friedliche Zukunft im Norden Europas sein. Was den zweiten wichtigen Pfeiler angeht, so sollten wir Parlamentarier uns aus meiner persönlichen Sicht die Frage stellen: Wie halten wir es mit der Stärkung der parlamentarischen Demokratie in der Ostseeregion? Sollten wir angesichts der Herausforderungen und der Chancen in dieser Region nicht auch der jährlich und diesmal in Greifswald stattfindenden Ostseeparlamentarierkonferenz mehr Kontinuität, mehr Verantwortung und mehr Verbindlichkeit zubilligen als bisher? Wenn sich das Europa der Regionen entwickelt, dann wäre auch die Frage nach regionalen parlamentarischen Strukturen, vielleicht mit dem Fernziel einer parlamentarischen Versammlung, zu stellen. Ich meine, wir sollten in den Parlamentariergruppen dieses Hauses darüber diskutieren und die Einladung der finnisch-deutschen Parlamentariergruppe in Helsinki dazu nutzen, mit den Freundinnen und Freunden dort zu sprechen. Wir sollten dies auch mit der erstmals gebildeten schwedisch-deutschen Abgeordnetengruppe aus dem Riksdag in Stockholm erörtern. Eine engagiert aktive Bundesregierung in Ostseefragen, eine Initiative für die Ausweitung der Jugendkontakte in der Region und eine Stärkung des Parlamentarismus im Mare Balticum, das wären drei starke Pfeiler für Brücken, die verbinden, Brücken zur nachhaltigen Gestaltung einer friedlichen Zukunft in der Ostseeregion. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Dr. Christine Lucyga für die SPD-Fraktion.

Dr. Christine Lucyga (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001381, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerpräsidentin! Die politische und wirtschaftliche Bedeutung des Ostseeraums als Wachstumsregion der Zukunft haben alle Vorredner übereinstimmend hervorgehoben. Sie haben Chancen deutlich gemacht, aber auch einige Risiken aufgezeigt. Der Ostseeraum ist über die wirtschaftliche Dimension hinaus jedoch auch ein Stück Gemeinsamkeit in Kultur, Geschichte und Tradition mit einem starken verbindenden Element; das ist der maritime Charakter. Deshalb wird der Ostseeraum eine gemeinsame maritime Zukunft haben. Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den zusammenwachsenden EU-Mitgliedsländern, aber auch in den künftigen Beitrittsländern macht deutlich, dass die Chancen der Region unser aller Chancen sind, dass aber die Probleme, die in der Region zu lösen sind, auch unsere gemeinsamen Probleme sind, an die wir gemeinsam herangehen müssen. Daher ist es eine lohnende gesamteuropäische Aufgabe, diesen Prozess durch eine langfristige Orientierung, wie im Aktionsprogramm „Zur nördlichen Dimension“ vorgegeben, aktiv zu gestalten. Dieses Konzept zielt auf die Weiterentwicklung des gesamten nordeuropäischen Raumes mit besonderer Zielrichtung auf die EU-Beitrittskandidaten und Russland. Dies nützt letztlich auch ganz Europa. Für die Zusammenarbeit im Ostseeraum bieten sich gerade im Hinblick auf die bevorstehende EU-Osterweiterung umfangreiche gemeinsame Handlungsfelder an, ob es nun die Umwelt-, Gesundheits- und Bildungspolitik, eine gemeinsame Energiepolitik oder Fragen der inneren Sicherheit, aber auch der nuklearen Sicherheit betrifft. Das ökologische Gleichgewicht der Ostsee muss wieder hergestellt werden. Es gilt, gemeinsame Strategien der Kriminalitätsbekämpfung zu entwickeln und Engpässe im Verkehrsbereich zu überwinden. Ein wichtiges verkehrspolitisches Anliegen ist die Erhöhung der Sicherheit auf See. Herr Börnsen, die von Ihnen aufgeführten Defizite haben sich während Ihrer Regierungszeit angesammelt. Wir haben sie erkannt und benannt. Deutschland hat sie im Ostseerat zum Thema gemacht. Wir entwickeln dazu gemeinsame Handlungsstrategien. So weit zu Ihrem Vorwurf, den Sie uns eingangs gemacht haben. ({0}) Unverzichtbar ist auch die weitere Entwicklung der Infrastruktur. Das bedeutet auch die Neuerschließung oder Wiederbelebung von Verkehrskorridoren über die Ostsee. Nachdem die Oeresundquerung Skandinavien ein Stück weiter nach Zentraleuropa bringt, bietet es sich an, bei der anstehenden Neubewertung der Transeuropäischen Netze auch im Interesse des südeuropäischen Hinterlandes die Nord-Süd-Achse über die deutschen Ostseehäfen zu stärken. Denkbar wäre für mich zum Beispiel eine Achse Kopenhagen-Berlin-Prag über den Seehafen Rostock, die kürzeste und schnellste Verbindung; denn bewährte Verkehrswege über die Ostsee müssen ihren Stellenwert zurückerhalten. Während Ihrer Regierungszeit, Herr Börnsen, ist vieles zurückgefahren worden, was nun wieder in Gang gesetzt werden muss. ({1}) Natürlich brauchen wir auch neue und innovative Verkehrslösungen, über die anderenorts, zum Beispiel in Schleswig-Holstein, nachgedacht wird. Die logistischen Stärken der Regionen können sich nämlich nicht im Selbstlauf durchsetzen. Daher gilt es, ihre jeweiligen Vorzüge beweisfähig zu machen. Das Land Mecklenburg-Vorpommern, für das ich hier spreche, wird im Prozess der EU-Osterweiterung eine besondere Funktion haben. Bereits jetzt gibt es exemplarische Formen der Zusammenarbeit mit Skandinavien, aber auch insbesondere mit den osteuropäischen Nachbarn, besonders mit Polen. Beispielhaft ist hier die Modellregion Pomerania zu nennen. Wichtige Ergebnisse wurden unter dem gegenwärtigen deutschen Ostseeratsvorsitz erreicht. Da der Herr Außenminister selbst die Ergebnisse schon ausgiebig dargestellt hat, ({2}) kann ich mich kurz fassen und kann ihn außerdem nicht ganz so ausführlich loben, wie ich es sonst getan hätte. ({3}) Aber immerhin möchte ich erwähnen, dass das Problem der Schiffssicherheit und der maritimen Notfallvorsorge, das aufgrund des zunehmenden Schiffsverkehrs auf der Ostsee an Bedeutung gewinnt, ebenso wie Überlegungen zur Harmonisierung der EU-Förderprogramme und nicht zuletzt auch Fragen der Sicherheitskooperation im Ostseeraum zu Themen des Ostseerats wurden. Das geschah unter deutscher Präsidentschaft. Deutschland bekennt sich zum Ostseeraum. Es gilt nun, dieses Engagement fortzusetzen und finanziell wie personell zu untersetzen. ({4}) Handlungsfelder sind reichlich vorgegeben; Instrumente sind vorhanden. Worauf es jetzt ankommt und wofür wir uns einsetzen müssen, ist, sie flexibel und insbesondere für die lokale Ebene handhabbar zu machen, sie besser zu verzahnen und zu flexibilisieren. Eine letzte Bemerkung. Die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Schweden im ersten Halbjahr 2001 wie auch der ab Juli anstehende russische Vorsitz im Ostseerat werden das gesamteuropäische Bewusstsein für den nordeuropäischen Raum weiter schärfen. Sie werden dazu beitragen, die Ergebnisse der deutschen Ostseeratspräsidentschaft wie auch die Bekenntnisse des Europäischen Rates zur Ostseeregion nachhaltig zu untersetzen. Ich danke Ihnen. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/5235. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU „Initiative zur Stärkung der Ostseeregion“ auf Drucksache 14/4573. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3293 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/5231. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der CDU/CSU abgelehnt. Nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/5226 mit dem Titel „Die Entwicklung der Ostseeregion nachhaltig stärken“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS- und der F.D.P.-Fraktion angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Fünfzehnten Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksachen 14/3764, 14/4265, 14/4647, 14/5238 Berichterstattung: Abgeordneter Ludwig Stiegler Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Wird das Wort zu einer Erklärung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir gleich zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/5238? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({1}) zu dem Gesetz zur Bekämpfung ge- fährlicher Hunde - Drucksachen 14/4451, 14/4920, 14/5052, 14/5239 - Berichterstattung: Abgeordneter Ludwig Stiegler Wird das Wort zur Berichterstattung oder zu einer Er- klärung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Deshalb kommen wir auch hier gleich zur Abstim- mung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfeh- lung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/5239? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P.- Fraktion bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenom- men. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a bis 16 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, Marita Sehn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Innovationspotenzial moderner Technologien für mittelständische Pflanzenzüchter erhalten - Drucksache 14/2297 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Marita Sehn, Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Harmonisierung der Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln auf europäischer Ebene - Drucksachen 14/3054, 14/4136 - c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({3}) - zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf nationaler und EU-Ebene beschleunigen - zu dem Antrag der Abgeordneten Marita Sehn, Ulrich Heinrich, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Wettbewerbsnachteile durch unterschiedliche Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen - Drucksachen 14/3096, 14/3298, 14/3713 Berichterstattung: Abgeordnete. Ulrike Höfken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P. sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Für die F.D.P. spricht der Kollege Ulrich Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe die reizvolle Aufgabe, innerhalb weniger Minuten über die Große Anfrage der F.D.P.-Bundestagsfraktion zum Pflanzenschutz, zur Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln und zur Gentechnik zu sprechen. Ich werde versuchen, das einigermaßen hinzubekommen. In der Bundesrepublik Deutschland ist die F.D.P. eigentlich die einzige Partei, die klare Position ({0}) gegenüber der grünen Gentechnik bezogen hat. ({1}) Vizepräsidentin Petra Bläss Wir sind der Meinung, dass die grüne Gentechnik eine Technik der Zukunft ist. Die Biotechnik und die Gentechnik sind in der Zukunft Wachstumsmotoren in der Welt. Deshalb müssen wir uns - da gibt es gar keine andere Möglichkeit - daran beteiligen. ({2}) Wir werden uns insbesondere mit der zweiten und dritten Generation der grünen Gentechnik, also den maßgeschneiderten Pflanzen mit entsprechenden Inhaltsstoffen, verstärkt auseinander setzen müssen; denn diese gentechnisch veränderten Pflanzen werden dem Verbraucher den tatsächlichen Nutzen deutlicher machen. Das ist dringend nötig; denn die Bevölkerung ist derzeit noch nicht besonders davon überzeugt, dass die grüne Gentechnik notwendig ist und den Menschen Nutzen bringt. In diesem Sinne müssen wir mehr Aufklärungsarbeit leisten. Wir müssen die berechtigten Bedenken abwägen, aber wir dürfen auf keinen Fall die Chancen, die in dieser Gentechnik stecken, verschlafen. ({3}) Insoweit ist es ganz sicher kontraproduktiv, wenn der Bundeskanzler zwar zu Kamingesprächen einlädt, dann aber ganz schnell wieder Ausladungen verschickt, weil er merkt, dass sich die Windrichtung verändert hat und er aufgrund der BSE-Krise in der Bevölkerung derzeit kein geeignetes Klima vorfindet, um diese Gespräche weiterzuführen. Meine Damen und Herren, so kann man keine Politik machen, ({4}) erst recht keine Politik, die sich künftig auf diese wichtige Technologie praktisch auswirkt. Hier kritisieren wir die Bundesregierung nachdrücklich. Sie hat wohl dem grünen Koalitionspartner gegenüber nachgegeben. ({5}) Ich halte das nicht für akzeptabel. Ich halte es auch unserer Wirtschaft gegenüber nicht für akzeptabel. Die Forschung ist das eine, das Umsetzen in die Praxis ist das andere. Beides gehört zusammen. Wir können nicht erwarten, dass die Wirtschaft forscht, wenn sie nicht gleichzeitig Nutzen hieraus ziehen kann. Deshalb muss die Entwicklung weitergehen und deshalb wollen wir auch, nicht zuletzt, um den mittelständischen Pflanzenzuchtunternehmen in der Bundesrepublik klare Rahmenbedingungen vorzugeben, dass die Perspektive klar wird. ({6}) Wenn Sie die grüne Gentechnik nicht wollen, dann sagen Sie das klar und deutlich. Dann wissen die Firmen, was sie von dieser Regierung in Zukunft zu erwarten haben. Aber diese Zickzack-Politik, diese Schaukelpolitik, ist nicht akzeptabel. Hierdurch wird der Standort Bundesrepublik Deutschland in einer Art und Weise beschädigt, die nicht verantwortbar ist. ({7}) Ich habe zu der Großen Anfrage noch einige Anmerkungen zu machen. Einleitend möchte ich sagen: Ich hoffe, dass sich die neue Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft an das erinnert, was in der Antwort auf unsere Große Anfrage steht, dass nämlich der chemische Pflanzenschutz auf absehbare Zeit unverzichtbar ist und zur Produktion qualitativ hochwertiger Nahrungsmittel auch künftig erforderlich sein wird. Wir werden die künftige Politik an dieser Aussage messen. Denn in der Tat gibt es derzeit keine Alternative, die wirtschaftlich vertretbar wäre und die man auch erfolgreich praktizieren könnte. ({8}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, nach wie vor besteht ein großes Problem im Bereich der Lückenindikation. Nach wie vor besteht ein großes Problem bei der Erhaltung von Kleinkulturen im Gartenbaubereich, im Baumschulenbereich. In den letzten Jahren sind wir hierbei wirklich an die Grenze des Zumutbaren gestoßen. Wir haben letztes Jahr einiges geschafft; einige Lücken wurden geschlossen. ({9}) Aber ich bitte doch, dass die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen auf diesem Wege weitergehen und alles unternehmen, damit die Lückenindikation entsprechend weitergeführt wird. Wir brauchen ein vereinfachtes Zulassungsverfahren und eine Lösung hinsichtlich der Altwirkstoffe. Die diesbezüglichen Regelungen laufen ja im Jahre 2003 aus. Wenn dieser Zeitpunkt erreicht ist, sollten wir nicht im Regen stehen, sondern nach wie vor die notwendigen Pflanzenschutzmittel zur Verfügung haben, um die Kulturpflanzen gesund erhalten zu können. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Hinweis geben. Mich hat stutzig gemacht, dass es eine der ersten Reaktionen der Bundesregierung in diesem Bereich war, den Einsatz von Plantomycin zu verbieten. Plantomycin ist notwendig, um den gefährlichen Feuerbrand zu bekämpfen. Der Feuerbrand vernichtet die Bäume ganzer Regionen und es gibt kein Mittel, das so dagegen wirkt wie das Plantomycin. Dieses wird nur sehr vorsichtig verwandt. Der Einsatz erfolgt nur auf Sondergenehmigung und ist auf einen Zeitraum von zwei Jahren begrenzt. Bislang gibt es kein Mittel, das dieses Plantomycin tatsächlich ersetzen könnte. Wir haben gedacht, wir hätten mit ihm ein Mittel, das wir wirklich zwei Jahre lang einsetzen könnten. Nachdem es in zwei oder drei Proben von Honig gefunden wurde, hat man es schlagartig verboten. Das halte ich nicht für akzeptabel; denn das gefährdet unsere Kulturlandschaft und die Existenz unserer Obstbauern. Dies hat eine viel größere Dimension, als man im ersten Augenblick denken mag. Die Streuobstwiesen und die wichtigen ökologischen Nischen, die auch Sie erhalten wollen, werden damit gefährdet. Ich bitte die Bundesregierung eindringlich, den Stopp des Einsatzes von Plantomycin wieder rückgängig zu machen. Denken Sie über Ihre falsche Entscheidung nach! Spätestens bei der Baumblüte, wenn dieses Mittel eingesetzt werden soll, brauUlrich Heinrich chen die Landwirte dieses Mittel, zu dem es keinerlei Alternative gibt. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Heino Wiese.

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Heinrich, die Bundesregierung hat eine ganz klare Meinung zur grünen Gentechnik und die hat sie auch deutlich formuliert. ({0}) - Das ist wohl wahr, Herr Heiderich, auf Sie komme ich gleich auch noch zu sprechen. Herr Heinrich, Sie sind für mich der unglaubwürdigste Politiker, den ich in diesem Bundestag bislang kennen gelernt habe. ({1}) Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die man dafür anführen kann. Auf der einen Seite fordern Sie freien Markt und freien Handel, auf der anderen Seite aber machen Sie den größten Aufstand, wenn Subventionen für die Landwirtschaft gestrichen werden. Daneben sind Sie auch bei BSE nicht ganz ehrlich gewesen. Heute tun Sie fast so, als wären Sie der Mahner in der Wüste gewesen, der gesagt hat: Wir kennen alle die BSE-Gefahren. Ich kann mich noch sehr gut an die Sitzung im Juni des letzten Jahres erinnern. ({2}) - Ja, aber ich möchte deutlich machen, wie Sie agieren. Im Juni haben Sie die Bundesregierung noch schärfstens verurteilt und gesagt, sie würde die Bauern in Brüssel nicht entsprechend vertreten, weil sie den BSE-freien Status Deutschlands nicht durchgesetzt hat. Damals sind Sie nur noch vom Kollegen Heiderich getoppt worden. Herr Heiderich, vielleicht wissen Sie noch, was Sie gesagt haben. Sie warfen der Gesundheitsministerin vor, sie falle der deutschen Landwirtschaft in den Rücken. Heute ist das alles vergessen und Sie tun so, als ob das Thema für Sie schon immer auf der Tagesordnung stand. Herr Heinrich, ich habe in der letzten Woche mit Landwirten aus Ihrer Heimat gesprochen. Diese haben mir doch tatsächlich glaubhaft versichert, Sie hätten dort verkündet, dass Sie gegen die bestehende Nachbauregelung und auch gegen die Patentierung von Pflanzen seien. ({3}) Ob das tatsächlich stimmt? Ich habe von Ihnen bisher immer etwas anderes gehört. ({4}) - Ja, das sagte der Bauer, aber vielleicht reden Sie in der Heimat anders als hier. ({5}) - Vielleicht werden Sie auch nur falsch verstanden. Dann drücken Sie sich aber wahrscheinlich nicht richtig aus. ({6}) Die grüne Gentechnik birgt Risiken; das wissen wir alle. Wir haben noch keine Langzeiterfahrung und wissen nicht, ob nicht zum Beispiel die grüne Gentechnik dazu führen kann, dass bei der Nahrungsaufnahme Allergien entstehen. ({7}) - Ich rede jetzt erst einmal davon, wo die Risiken liegen. Ein zweites Risiko ist: Kann die Artenvielfalt erhalten bleiben? Auch das wissen wir nicht. Wenn man die Risiken aber kennt, dann kann man nicht sagen: Wir fangen erst einmal mit dem Anbau an. Wir werden schon sehen, was dabei herauskommt. Auf der anderen Seite will ich die Chancen nicht verkennen. Natürlich birgt die Gentechnik Chancen, einerseits ökonomische - nämlich für die Saatgutunternehmen -, andererseits aber auch ökologische. So braucht man beispielsweise weniger Düngemittel oder weniger Pflanzenschutz; auch das wäre eine gute Sache. Sie führen immer wieder an, die Entwicklungshilfeländer in der Dritten Welt müssten gefördert werden. Dort müsste die Nahrungsmittelknappheit bekämpft werden. ({8}) - Ja, das ist ein sehr gutes Ziel. - Bisher habe ich immer gesagt: Die Entwicklungshilfeländer können sich das Saatgut von Monsanto und anderen Saatgutunternehmen ohnehin nicht leisten. ({9}) - Hören Sie erst einmal weiter zu! - Ich habe jetzt etwas anderes gesehen. Es gibt ein Entwicklungshilfeprojekt bei Herrn Professor Jacobsen in Hannover, wo junge Nachwuchsforscher aus Entwicklungshilfeländern Praktika machen. Sie könnten die Ergebnisse dann in ihrem Heimatland selbst umsetzen. Das würde ich tatsächlich für eine weitere Chance ansehen. Nur, wir müssen eben beides sehen, die Risiken und die Chancen. Man kann nicht, wie die F.D.P. es tut, sagen: „Wir starten dieses Projekt und alle, die das verhindern wollen, sind Fortschrittsverhinderer“ ({10}) - das werfen Sie uns ja immer gern vor -, aber wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, erklären: Damit haben wir nichts zu tun. Die Bundesregierung sagt: Wir wollen die Chancen nutzen, aber die Risiken vermeiden. Das ist die richtige Strategie. Um herauszufinden, wie groß die Risiken sind und welche Chancen wir haben, muss man Forschung betreiben. Das tun wir in verstärktem Maße. Frau Bulmahn, die Bildungs- und Forschungsministerin, hat 30 Millionen DM jährlich für das GABI-Projekt zur Verfügung gestellt und damit die Fortführung der Grundlagenforschung ermöglicht. Ich sage Ihnen jetzt etwas zu dem runden Tisch beim Bundeskanzler. Dieser runde Tisch ist jetzt erst einmal im Einvernehmen ausgesetzt worden. ({11}) - Aber es hat vorher Telefonate gegeben. ({12}) Sie wollen angeblich einen Erfolg. Wenn Sie das wollen, dann ist es doch sehr fahrlässig, dieses Thema in einer emotional aufgeladenen Situation, wie wir sie im Moment haben, in den Vordergrund zu stellen. Stattdessen sollten Sie konstruktiv mitarbeiten. Zum Schluss will ich Ihnen noch eines sagen: Nur wenn die Landwirte, die Bürger und Verbraucher davon überzeugt sind, dass diese Technologie einen wirklichen Nutzen für sie bringt, werden sie diese Technologie auch anwenden wollen. Ich weise auf Folgendes hin, da ich gerade Herrn Ramsauer sehe: Die CSU hat an dieser Stelle ein ethisches Problem ausgemacht. Ich meine, die ethischen Probleme sind noch nicht zu Ende diskutiert. Wir sollten uns daher an dieser Stelle Zeit nehmen, bis die Bürger und Verbraucher davon überzeugt sind, dass das etwas Gutes ist. Dann werden wir die grüne Gentechnik auch umsetzen. Den Antrag der F.D.P. können wir aber nur ablehnen. Danke schön. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Helmut Heiderich. ({0})

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten verbliebenen Kolleginnen und Kollegen! Gern will ich die Zeit nutzen, Frau Kollegin Wolff, um auf die Themen ein Stück tiefer einzugehen. Es liegt uns ein Antrag zum Pflanzenschutz vor. Ich will festhalten, dass für mich die Möglichkeiten des Pflanzenschutzes ein wesentlicher Bestandteil einer hygienischen, einwandfreien, umweltschonenden und lokal optimierten Erzeugung von hoher Qualität im Pflanzenbau sind. Für dieses Ziel haben wir innerhalb der Europäischen Union bereits vor zehn Jahren den Beschluss gefasst, eine EU-weite Harmonisierung mit einer gleichzeitigen Verschärfung der Zulassungsbedingungen und der Kontrollen herbeizuführen. Hintergrund war damals die Überlegung, gleiche Chancen für alle Bauern in Europa zu bieten. Das war und ist der entscheidende Gesichtspunkt. Deutschland hat in dieser Frage einen nationalen Alleingang unternommen, hat das längst umgesetzt und weitergeführt. Aber auf der europäischen Ebene hinken wir dieser Entwicklung immer noch hinterher. Obendrein kommt es zu Engpässen und Wettbewerbsverzerrungen gerade beim integrierten Pflanzenbau; darauf ist eben bereits hingewiesen worden. Ich denke, es muss an dieser Stelle dafür gesorgt werden, dass es Übergangslösungen gibt und dass die Möglichkeiten, die hier vorgesehen sind, von uns umgesetzt werden. Der zweite Schwerpunkt, der heute zur Debatte steht, betrifft die gentechnische Verbesserung von Pflanzen und den Einsatz dieser Pflanzen in der Landwirtschaft. Wir alle wissen, dass dazu auf europäischer und auch auf deutscher Ebene seit vielen Jahren zahlreiche Versuche stattgefunden haben. Es gibt Hunderte von Freisetzungsversuchen der deutschen Institute. Es gibt vielfältige Versuchsanwendungen der verschiedenen Pflanzenzuchtfirmen und Pflanzenzuchtunternehmen. Wir haben im letzten Jahr einen Schritt nach vorne gemacht, indem sich alle Beteiligten zu einer Initiative verabredet haben. Mit dieser Initiative sollte dafür Sorge getragen werden, dass genau die Aspekte bearbeitet werden, die soeben von Ihnen, Herr Kollege Wiese, angesprochen worden sind: die intensive Prüfung dieser neuen Technologie, die Kommunikation mit der Öffentlichkeit und die Beantwortung der Fragen, was diese neuen Methoden leisten können, wo Chancen liegen, die wir nutzen können, wo noch Probleme und Punkte sind, die nicht entsprechend ausgeschöpft worden sind, und wo noch Forschung und Beobachtungen nachgeschoben werden müssen. Diese Initiative war deswegen sinnvoll, weil sie alle in ein Boot gebracht hat. Man hat über Monate hinweg eine Lösung ausgearbeitet. Diese Lösung stand kurz vor der Verabschiedung. Nun kann man wirklich nicht sagen, dass die Bundesregierung eine geradlinige und zielgerichtete Politik betreiben würde. ({0}) Denn wenige Tage vor der Unterschrift unter dieses gemeinsame Vertragswerk, wenige Tage, bevor man an die Öffentlichkeit gehen wollte, hat das Kanzleramt den soeben von mir in einem Zuruf genannten Eilbrief an alle Beteiligten abgeschickt. Keiner von den Beteiligten wusste vorher, was da auf ihn zukommt. Wir alle hatten wenige Tage vorher auf der Grünen Woche die Gelegenheit, mit den Betroffenen über diese Thematik zu sprechen. Alle sind davon ausgegangen, dass es zu einem Ergebnis kommen wird. Umso überraschender ist es gewesen, dass der Kanzler diese Initiative kurzfristig abgesagt und auf den Kopf gestellt hat. Ich glaube, damit hat er ihr einen Bärendienst erwiesen. Ebenso problematisch ist die nachgeschobene Begründung für dieses Vorgehen. Es wurde erHeino Wiese ({1}) klärt, diese Initiative habe man abgesagt, weil die Situation in der Landwirtschaft im Moment sehr schwierig sei. Dieser möglichen neuen Technologie erweist man einen Bärendienst. Denn wir haben im Hinblick auf den gentechnischen Pflanzenbau - das muss man einmal festhalten - seit vielen Jahren eine intensive Forschung betrieben. Sie haben soeben selbst auf das Projekt GABI hingewiesen, das allerdings nur in indirektem Zusammenhang mit dieser Thematik steht. Wir haben auf europäischer und deutscher Ebene eine intensive Forschung betrieben. Wir haben das berühmte Schritt-für-SchrittPrinzip entwickelt, indem wir gesagt haben: Erst dann, wenn wir auf der einen Stufe sicher sind, gehen wir die nächste Stufe an und gehen aus dem Labor ins Freiland. Dann erfolgt der nächste Schritt. Der Vorteil dieser Initiative war doch, sagen zu können: Wir gehen jetzt großflächig über das gesamte Land hinweg auf den flächenweiten Anbau über. Wir geben der Bevölkerung, jedem Interessenten und der Wissenschaft die Möglichkeit, diese Technologie unter normalen Anbaubedingungen in der Landwirtschaft zu testen und zu sehen, ob es Probleme oder ob es keine Probleme gibt, und zu überprüfen, ob die Ressentiments, die auf den verschiedenen Seiten bestehen, zutreffen oder nicht zutreffen. Es gibt doch niemanden, der sagen würde: Wir wollen diese Technologie auf jeden Fall, auch dann, wenn es keine wissenschaftliche Rückendeckung gibt. Ich greife ein Stückchen voraus - denn Frau Lemke wird gleich in ihrer prophetischen Gabe erklären, dass kein Verbraucher die Produkte der grünen Gentechnik will -: Frau Lemke, fragen Sie doch einmal den Verbraucher! Kein Mensch weiß, was das ist. Wir müssen doch erst einmal mit dem Verbraucher in einen Dialog treten. Wir müssen erst einmal öffentlich klarmachen, was sie bedeutet und worum es hier geht. Wir können doch nicht auf der einen Seite, so wie Sie das tun, kategorisch Nein sagen, bevor wir überhaupt in die Anwendung und in die Prüfung gegangen sind. Auf der anderen Seite erklärt Ihr Bundeskanzler, wenn es um die gentechnische Entwicklung und Forschung am menschlichen Embryo geht, man solle das alles ohne Scheuklappen und etwas lockerer sehen und sich nicht zu viele Gedanken machen. ({2}) Das passt nicht zusammen. Eine solch widersprüchliche Politik kann man nicht vertreten, indem man auf der einen Seite sagt, nicht einmal Forschung und öffentliche Nutzung dürften erlaubt sein, und auf der anderen Seite die Leinen loslässt und erklärt: Lasst uns doch einmal sehen, was da auf uns zukommt! Es ist ganz wesentlich, dass wir die Möglichkeit haben müssen, bundesweit mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Dies hat der Kanzler mit seinem Umfallen, mit seiner 180-Grad-Kehrtwendung ({3}) - ja, im Grunde ist es ein Looping -, verspielt. Ich nehme doch an, dass Sie nach der Absage des Kanzlers die großen deutschen Tageszeitungen gelesen haben. Sie haben quer durch ganz Deutschland lesen können, dass der Kanzler hier wieder eine Kehrtwende gemacht hat. Alle haben geschrieben, dass das wieder einmal Ausdruck des typisch schröderschen Politikstils gewesen sei, von einem Tag auf den anderen die Karre um 180 Grad zu drehen. ({4}) Sie können nun wirklich nicht behaupten, dass Sie hier eine zielgerichtete Politik machen, verehrte Frau Lemke. ({5}) Ich bitte Sie einmal, zu bedenken - das ist Ihnen doch nicht unbekannt -, dass solche Pflanzen weltweit inzwischen auf rund 40 Millionen Hektar angebaut werden. Der Anbau und die Verarbeitung dieser Produkte erfolgen doch nicht unter Inkaufnahme von Risiken. Vielmehr wurde über die Jahre hinweg festgestellt, dass darin Chancen liegen. Wir haben gerade gehört, dass man durch den Einsatz dieser Pflanzen beispielsweise Pflanzenschutzmittel reduzieren und auf diese Art und Weise der Umwelt dienen kann. Schauen Sie sich einmal die Situation in den USA an! Herr Heinrich kennt das aus eigener Anschauung. Dort sind Bodenerosionen verhindert worden, weil man jetzt ohne Pflug anbauen kann. Dadurch hat sich die Umweltbilanz deutlich verbessert. Ich glaube also, hier gibt es große Chancen. Man sollte nicht immer diese unbewiesenen, platten Sprüche von sich geben, das alles diene nur der Großindustrie, den agrarindustriellen Komplexen oder wem auch immer. Dann werden meist noch die einzelnen Firmen aufgezählt. Schließlich wird behauptet, Gentechnik nutze ausschließlich der Firma Monsanto und schon deswegen dürfe man dies nicht machen. ({6}) Verehrte Frau Lemke, das ist genauso wenig haltbar wie Ihre Sprüche, die Sie in den letzten Tagen ständig zu der so genannten Agrarindustrie gemacht haben. Sie sollten sich einmal die Mühe machen und sich, statt von Agrarfabriken zu faseln, die Unterlagen ansehen, und zwar den Agrarbericht 2000, den Sie selbst veröffentlicht haben. Wenn Sie dort nachschauen, stellen Sie fest, dass 95 Prozent der deutschen Agrarbetriebe in den alten Bundesländern eine Fläche von weniger als 100 Hektar haben. Ich frage Sie, ob Betriebe mit weniger als 100 Hektar jetzt von Ihnen als Agrarfabriken angesehen werden. ({7}) Unter Ihrer Regierungszeit, nämlich seit 1999, hat die Anzahl der Betriebe mit weniger als 50 Hektar abgenommen. Sie haben diese Betriebe kaputtgemacht. ({8}) Jetzt, da ich Ihnen Vorwürfe mache, schauen Sie auf die Uhr, Frau Lemke. Sie haben die Landwirte dazu gebracht, ihre Betriebe zu vergrößern. Und dann faseln Sie von Agrarfabriken! Sie klopfen hier Sprüche und machen populistische Aussagen, ({9}) die die Bauern draußen in ein Licht stellen, das sie überhaupt nicht verdient haben. Die landwirtschaftlichen Familienbetriebe werden von Ihnen zwischen die Mühlsteine gebracht. Sie brummen den Bauern neue Kosten auf und senken ihnen über Ihre Agenda-2000-Beschlüsse die Preise. Zwischen den steigenden Kosten und den sinkenden Preisen sind die Bauern quasi wie zwischen Mühlsteinen. Sie haben eigentlich nur noch zwei Chancen, um Ihrer falschen Politik zu entkommen: Entweder müssen die Bauern aufhören - im vergangenen Jahr haben Sie 5,4 Prozent der Bauern zum Aufhören gebracht, nämlich die Familienbetriebe ({10}) oder sie müssen mehr produzieren. Anders können sie Ihrer Politik nicht entkommen. Wenn die Bauern aber mehr produzieren, erklären Sie ihnen, sie hätten Agrarfabriken. Denken Sie doch einmal darüber nach, welche Widersprüche Ihre eigene Agrarpolitik aufweist. Damit helfen Sie niemandem! Schönen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Heiderich, ich freue mich, dass Sie mich in Ihrer Rede so breit gewürdigt haben. Aber auf die Uhr habe ich geschaut, weil ich gewährleisten wollte, dass ich die Redezeit um genauso viel überziehen darf wie Sie. Ich möchte mich zunächst allerdings mit dem Antrag der F.D.P. - Herr Heinrich, ich werde Sie jetzt ausreichend würdigen - befassen, der sich mit den mittelständischen Pflanzenzüchtern beschäftigt oder zumindest vorgibt, sich damit zu beschäftigen. Wenn man sich den Antrag anschaut, stellt man fest, dass er einfach nur eine Ansammlung von Worthülsen ist. Herr Heinrich, Sie haben es nicht geschafft, sich mit dieser Problematik ernsthaft auseinander zu setzen. Ich werde das anhand einiger Beispiele belegen. Zum ersten Stichwort, Gentechnik: In Ihrem Antrag heißt es, der Bericht zur Technikfolgenabschätzung stelle „eindeutig“ fest, dass die gentechnisch unterstützte Pflanzenzüchtung keinen nachweisbaren Einfluss auf die Biodiversität, sprich: die biologische Vielfalt, habe. Das steht zwar so im Bericht zur Technikfolgenabschätzung, aber offensichtlich haben Sie nicht weitergelesen. Das sind so die kleinen Nachlässigkeiten, Herr Heinrich: Sie haben vergessen zu erwähnen, dass die Autoren des Berichts tatsächlich eindeutig feststellen, dass das gesamte Wirkungsgefüge bei der Einführung von Sorten bisher von der Wissenschaft überhaupt noch nicht verstanden wurde. Daher ist die Aussage, es gebe keinen Einfluss auf die biologische Vielfalt, einfach eine Nullaussage. Denn wenn man nichts darüber weiß, kann man auch nicht eine Aussage darüber treffen, ob dies einen positiven oder negativen Einfluss haben wird. ({0}) Aber Sie behaupten schon einmal in vorauseilendem Gehorsam, gentechnisch veränderte Sorten hätten keinen Einfluss auf die Biodiversität. In ähnlicher Manier zieht sich das durch Ihren gesamten Antrag. Das mache ich Ihnen zum Vorwurf, womit ich auch sage: Sie beschäftigen sich nicht ernsthaft mit der mittelständischen Pflanzenzucht. „Gentechnisch veränderte Sorten sichern die Welternährung“, dieses moralische Totschlagargument habe ich inzwischen wirklich satt. In Ihren Forderungen verraten Sie sich dann aber selber. Im Abschnitt zu den nachwachsenden Rohstoffen führen Sie aus, dass sich „mithilfe der Gen- und Biotechnologie ... für den Arznei- und Lebensmittelsektor ... maßgeschneiderte Pflanzen mit den gewünschten Inhaltsstoffen“ herstellen ließen. Weiter heißt es: „Dadurch ergeben sich neue Absatzchancen und -märkte und die Wettbewerbs- sowie Einkommenssituation der betroffenen Wirtschaftsbereiche wird deutlich verbessert.“ Das hat allerdings mit dem Welthunger nichts zu tun, sondern ausschließlich mit wirtschaftlichen Interessen von hier ansässigen Firmen. ({1}) Dies ist vollkommen legitim - ich finde es auch richtig, dies in einem solchen Antrag anzuführen -, aber die moralische Legitimation der Bekämpfung des Welthungers spreche ich Ihnen mit diesem Argument ab. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Lemke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr gern.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass Sie den Welthunger nur auf einer wirtschaftlichen Basis, wenn sich nämlich die Produktion auch rentiert, überwinden können? Die Produktion muss nicht nur hier in Europa, sondern auch in den Anbauländern selber rentabel sein. Das ist der Ansatz, den Sie offensichtlich übersehen haben.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke Ihnen für diese Zwischenfrage, Kollege Heinrich. Zunächst stelle ich fest, dass Sie mich im Ausschuss als „Klugscheißer“ titulieren, ({0}) mich aber dann wiederholt im Parlament befragen. Aber das nur nebenbei. Es ist eine Binsenweisheit, dass sich bestimmte Entwicklungen nur auf ökonomischer Basis verwirklichen lassen. Das ist zwar eine Binsenweisheit, aber eine Erkenntnis, die die Landwirtschaft, wie wir es im Moment gerade erleben, vernachlässigt hat: Dort sind ökonomische Interessen nicht über die Zeitschiene, sondern nur kurzfristig betrachtet worden. Wenn Sie darauf abzielen, den Welthunger mit ökonomischen Instrumenten bekämpfen zu wollen, so ist die Gentechnik im Moment in keiner Weise ein geeignetes Instrument, weil sich diejenigen, die sich in Drittweltländern, wo der Hunger herrscht, als Bauern betätigen, dort Pflanzen anbauen und Tiere halten, das, was bei uns hergestellt wird, überhaupt nicht leisten können. Sie wissen, dass dieses veränderte Saatgut teurer ist als konventionelles Saatgut, das im eigenen Betrieb nachgebaut wird, und dass gerade die gentechnisch manipulierten Sorten dort nicht zu kaufen sind. Deshalb müssten die Ökonomie hier und die Ökonomie in den Drittweltländern voneinander getrennt werden. Aber das ist nicht möglich.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer Frage des Kollegen Heiderich.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da er mich so intensiv in seiner Rede bedacht hat, gestatte ich diese natürlich.

Helmut Heiderich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002946, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Kollegin, darf ich Sie darauf hinweisen, dass der an der ETH Zürich entwickelte „Golden Rice“ jetzt kostenlos abgegeben wird und dass diese Entwicklung insbesondere in vielen asiatischen Ländern begrüßt wird?

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ihre Frage finde ich prima. Wie lange, meinen Sie, wird dieser Reis kostenlos abgegeben werden? Wie lange wird eine Garantie dafür übernommen werden, dass dieses Saatgut kostenlos ausgegeben wird, wenn sich die Bauern jetzt auf diese Sorte einstellen, die Zucht ihrer einheimischen Sorten vernachlässigen und im eigenen Betrieb nicht mehr anbauen? ({0}) - Ich würde Ihre Antwort gerne entgegennehmen. Sie machen es sich zu einfach. Wenn wir über Gentechnik in Lebensmitteln ernsthaft sprechen wollen, dann müssen wir den Welthunger aus dem Spiel lassen. Sie benutzen dies ohnehin nur als moralisches Totschlagargument. ({1}) - Nein, Herr Heinrich, es stört mich überhaupt nicht. Ich setze mich damit ernsthaft auseinander. Aber ich spreche Ihnen bei diesem Thema die Legitimation ab. Sie lehnen in Ihrem Antrag ein Nachzulassungsmonitoring ab und fordern die Deregulierung der Freisetzungsrichtlinie. Wenn Sie sich verantwortlich um die Gentechnik bemühen wollen, dann können Sie nicht gleich zu Anfang die Sicherheitsstandards herabsetzen. Vielmehr muss innerhalb dieser strengen Sicherheitsstandards überprüft werden, was machbar ist. Zudem bleibt die Frage, ob die Verbraucher diese Produkte wollen oder nicht. Sie dürfen die Zustimmung der Verbraucher nicht einfach voraussetzen und, bloß um die Durchsetzbarkeit zu erreichen, gleich auf der ersten Stufe die Sicherheitskriterien absenken. Weil Sie immer darauf pochen, die Partei der Wirtschaft zu sein, sage ich Ihnen eines: Schauen Sie sich einmal um und Sie werden erkennen, dass Sie wahrlich voll im Trend liegen. Schauen Sie sich an, was die „Wirtschaftswoche“ über die grüne Gentechnik schreibt, wie es an der Börse aussieht, was die Firmen Monsanto und Aventis mit ihren Gentechniksparten machen. ({2}) - Das ist eine Langzeitaufgabe. Ich weiß, dass bei gentechnisch veränderten Lebensmitteln auf die zweite und dritte Generation gezielt wird. Jetzt wird versucht, die Verbraucher dadurch zu fangen, dass man ihnen verspricht: Wir machen gesunde Lebensmittel, sogar Fett könnt ihr dann ohne Probleme verzehren. Ich lasse mit mir darüber reden, was es bei der grünen Gentechnik in Zukunft für Entwicklungen geben kann. Ich werde mir das anschauen. Aber erst muss der Nachweis bestimmter Leistungen der gentechnischen Manipulation erbracht werden, ehe man an die Markteinführung denken kann. Ich bin dagegen, die Verbraucher über die offenen Fragen hinwegzutäuschen. ({3}) Zum zweiten Thema der heutigen Debatte, der Zulassung von Pestiziden. Sie haben von der neuen Verbraucherschutzministerin, Frau Künast, ein Bekenntnis zu der Frage gefordert, ob synthetische Pflanzenschutzmittel, auch Pestizide genannt, nach wie vor Bedeutung haben werden. Sie haben es von unserer Fraktion gehört: Natürlich haben sie auch in Zukunft für die konventionelle Landwirtschaft Bedeutung. Natürlich wird jetzt nicht die Keule geschwungen und versucht, alle diese Mittel vom Markt zu drängen. Das hat die Regierung bisher nicht getan und wird sie auch in Zukunft nicht tun. Aber die Zulassung von Pestiziden muss sich unter dem Aspekt des vorbeugenden Verbraucherschutzes bewähren. Es kann deshalb auch in diesem Bereich nicht darum gehen, die Sicherheitskriterien herabzusetzen. Auch hier gilt: kein Risiko für die Verbraucher! Das ist die Priorität beim Einsatz von Pestiziden. Ihnen scheint es - so lese ich es aus Ihrem Antrag heraus, aber ich vermute, dies ist insgesamt die Leitlinie Ihrer Politik - ausschließlich darum zu gehen, möglichst viele Pestizide auf den Markt zu bringen bzw. möglichst viele dort zu halten. Für dieses Ziel wollen Sie möglichst niedrige Zulassungskriterien festlegen. ({4}) Eine verantwortungsbewusste Politik muss sich bei der Zulassung von Pestiziden folgenden Anforderungen stellen, und zwar in der Reihenfolge, in der ich sie vortrage: Erstens. Sie muss die Sicherheit für Verbraucher, Anwender und Umwelt garantieren. Die Sicherheit muss an erster Stelle stehen. Zweitens. Sie muss transparent und überprüfbar sein. Drittens. Sie muss den neuesten Stand der Technik gewährleisten. Viertens. Sie muss anwendungsbezogen und problemgerecht sein. Das ist das Ziel der Bundesregierung und der sie tragenden Koalitionsfraktionen beim Einsatz von Pestiziden. Die Vorwürfe, die Sie im Zusammenhang mit der Harmonisierung auf europäischer Ebene bei der Lückenindikation erheben, weise ich zurück. Wir haben die Harmonisierungsbestrebungen auf europäischer Ebene vorangetrieben, um die im Übrigen auch von der OECD anerkannten Kriterien, die wir in Deutschland für die Zulassung haben, zu verankern. Auch haben wir dafür Sorge getragen, dass dort, wo eine Lücke zu entstehen drohte, diese kurzfristig und sicherheitsorientiert geschlossen werden konnte. Das wird auch weiterhin die Prämisse unseres Handelns sein, was aber nicht dazu führen darf, dass wir immer mehr Anträge auf vereinfachte Genehmigung nach § 18 des Pflanzenschutzgesetzes mit der Begründung bekommen, es liege eine Lückenindikation vor, und damit das reguläre Zulassungsverfahren unterlaufen wird. Diese Entwicklung will ich nicht haben; das Ausnahmeverfahren darf nicht zur Regel werden. Wir werden uns auch weiterhin am vorsorgenden Verbraucherschutz orientieren. Danke. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Eva Bulling-Schröter für die PDS-Fraktion.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Innovationspotenzial moderner Technologien ... erhalten“ - und dann noch für den Mittelstand! -, das klingt eigentlich sehr gut. Dennoch ist der Antrag der F.D.P. nur ein weiterer Baustein Ihrer Lobbypolitik für die Gentechnik: eine Technik, die weder dem Mittelstand noch den Landwirten etwas bieten kann, geschweige denn den Hunger in Teilen der Welt wirklich lindert. Sie ist auch alles andere als der Nachhaltigkeit verpflichtet, wie die F.D.P. vorgibt. Wir sollten uns irgendwann einmal wieder über Nachhaltigkeitsregeln unterhalten; offensichtlich ist das schon zu lange her. Wer profitiert von der gentechnischen Pflanzenzüchtung? Schauen wir in die USA: Diese Technologie im Agro-Business führt zu Kartellbildungen und Fusionen. ({0}) Sie führt zu einer immensen Beschleunigung der Ausbildung monokapitalistischer Strukturen und begünstigt eben nicht den Mittelstand. ({1}) Saatguthersteller wie Monsanto verkaufen ihre eigenen Herbizide und Pestizide. Die Bauern sind nicht nur beim Saatgut, sondern auch bei den Giften von einem Konzern abhängig. Das soll marktwirtschaftlich sein? Herr Hirche, Sie fragen, wem es nützt? Zumindest bestimmt den Großkonzernen. Doch wirklich entscheidend für die PDS sind die Risiken dieser Technologien, die im Gegensatz zu anderen in kürzester Zeit in alle Natur- und Lebensbereiche eingreifen. ({2}) Angesichts des BSE-Dilemmas sollten wir aufmerksam sein. Wir haben hier eine Verantwortung für die Verbraucher und auch für die Landwirte. Prozesse auf der Basis gentechnisch veränderter Organismen bzw. deren Transgene sind bei einer Freisetzung in die Umwelt in der Regel irreversibel, nicht rückholbar. Das kann man gar nicht oft genug sagen, auch wenn es immer wieder anders dargestellt wird. ({3}) Angesichts dessen ist es besonders erschreckend, dass bei der Gentechnik weltweit gerade einmal 1 Prozent für die Risikoforschung ausgegeben wird. Dazu habe ich von Ihnen leider nichts gehört. Die einseitig motivierte Pflanzen- und Tierzüchtung führt zu einer weiteren Sortenverarmung und baut, sollten die Länder des Südens überhaupt das Saatgut bezahlen können, die Abhängigkeiten der Dritten Welt von den Industriestaaten aus. Was den Hunger angeht, so haben wir weltweit eine Überproduktion von Nahrungsmitteln und trotzdem sterben täglich Kinder an Hunger. Vielleicht hat dies auch etwas mit Verteilung und nicht nur mit Technologie zu tun. Im Hinblick auf die Harmonisierung des Pflanzenschutzrechtes in der EU kann ich für die PDS nur wiederholen: F.D.P. und CDU/CSU tun so, als hänge vom Einsatz von Pflanzenschutzmitteln das Wohl und Wehe der Landwirtschaft ab. Dabei ist es noch nicht so lange her, dass landwirtschaftliche Produktion auch ohne die Vielzahl dieser Mittel möglich war; in vielen Ländern ist dies noch immer möglich. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO erleiden jährlich Millionen Menschen schwere Pestizidvergiftungen. Mindestens 40 000 Fälle verlaufen tödlich. ({4}) - Daran kommen Sie nicht vorbei. Noch heute verkaufen Pharmakonzerne, zum Beispiel die Firma Bayer, Wirkstoffe, die von der WHO als „extrem gefährlich“ bezeichnet werden. Eine Harmonisierung der entsprechenden Gesetze nach unten, wie es die Anträge fordern, kommt deshalb für die PDS nicht in Frage. Danke. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Gustav Herzog für die SPDFraktion.

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als die F.D.P. Anfang des vergangenen Jahres ihre Anfrage eingereicht hat, war das allgemeine Lamentieren über die ungleichen Wettbewerbsbedingungen, die schleppenden Zulassungen und die angeblich und zum Teil auch tatsächlich vorhandene Bedrohung durch fehlende Pflanzenschutzmittel noch groß. Es ist still geworden in diesem Bereich und das liegt nicht nur daran - wie sicherlich gleich jemand einwenden wird -, dass wir vor der viel größeren Herausforderung BSE stehen, sondern auch daran, dass ein großer Teil des Zulassungsstaus abgebaut werden konnte. Die konzertierten Bemühungen der letzten zwei Jahre haben Erfolg gezeigt. Daher von dieser Stelle aus ein herzlicher Dank an die beteiligten Ministerien, den Berufsstand, die Industrie, die Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss - auch wir haben Druck gemacht - und vor allen Dingen an die Bundesregierung. ({0}) Die Bundesregierung hat noch im Herbst 2000 ein Memorandum über die Gleichwertigkeit der Wettbewerbsbedingungen im Bereich Pflanzenschutzmittel in Brüssel vorgelegt, da sich die Prüfung von Altwirkstoffen durch die EU extrem verzögert hatte. Nicht zuletzt ging es auch oft wegen von der Industrie unvollständig vorgelegter Unterlagen nicht voran. Das Memorandum ist bei allen anderen Mitgliedstaaten auf große Zustimmung gestoßen und wir sind gespannt auf den Bericht, den die Kommission in wenigen Monaten vorlegen muss. Im Grunde genommen könnte man die heutige Debatte also weitestgehend als Schnee von gestern bezeichnen. Sie bietet aber eine gute Gelegenheit für einen grundsätzlichen Gedankenaustausch über den Pflanzenschutz. Die von CDU/CSU und F.D.P. getragene Bundesregierung hatte Anfang der 90er-Jahre eine Studie über Nutzen und Kosten des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln in Auftrag gegeben, die aber, nachdem sie 1997 vorgelegt worden war, still und heimlich in der Schublade verschwunden ist. Ihre Ergebnisse waren nämlich für den chemischen Pflanzenschutz so unerwartet heikel, dass man eine Diskussion über den prinzipiellen volkswirtschaftlichen Nutzen von Pflanzenschutzmitteln befürchtete. Professor Hermann Waibel musste damals Prügel einstecken, weil er anregte, die deutsche Pflanzenschutzpolitik angesichts des zwar positiven, aber doch recht begrenzten volkswirtschaftlichen Nutzens des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln grundsätzlich zu überdenken, weil er ermittelt hatte, dass der Einsatz chemischer Pflanzenschutzmittel in den weltweit wichtigsten Kulturen überschätzt wird und weil er empfahl, den Einsatz ökonomischer Instrumente wie einer Steuer auf Pflanzenschutzmittel zu erwägen. Eine solche Abgabe wird bereits in Frankreich und Dänemark erhoben und Großbritannien steht nach meinen Erkenntnissen kurz vor einer Einführung. Jetzt ist es Zeit, Studien wie diese hervorzuholen und den Pflanzenschutz daraufhin abzuklopfen, wie Gedanken an eine ganzheitliche Vorsorge, einen umfassenden Verbraucherschutz und eine umweltfreundliche Wirtschaftsweise im gesamten Wirtschaften Eingang finden können. Ich bin mir sicher, dass der Pflanzenschutz prinzipiell sinnvoll ist. Ich sehe allerdings die Notwendigkeit, noch stärker als bisher die Bedeutung des chemischen Pflanzenschutzes zurückzudrängen. Er ist ein Bestandteil integrierten Wirtschaftens, sollte aber auf Dauer seine führende Stellung verlieren.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Herzog, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?

Gustav Herzog (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003148, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, es tut mir Leid. Es hat bereits einige Verzögerungen gegeben. Zudem wartet mein Flugzeug nicht, wohl aber zu Hause die Familie. ({0}) Es gibt genügend praxisreife Ergebnisse, die beweisen, dass es sehr oft auch ohne Chemie geht. Ich bestreite nicht, Herr Heinrich, dass besonders die Hersteller von Pflanzenschutzmitteln eine Menge Arbeit und Geld in die Entwicklung von Wirkstoffen stecken, um diese umweltschonender und anwenderfreundlicher zu machen. Ich sehe auch die Bemühungen vieler Landwirte, Winzer und Gärtner, wirklich nach den Prinzipien des integrierten Anbaus zu arbeiten. Trotzdem werden noch heute 120 bis 180 Millionen DM pro Jahr aufgewendet, um Pflanzenschutzmittelrückstände aus dem Trinkwasser zu entfernen. Nach dem Prinzip „Das Bessere ist der Feind des Guten“ wird sich auch der Pflanzenschutz einer eingehenden Neubewertung zu unterziehen haben. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Überweisungen und Abstimmungen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2297 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Drucksache 14/3713. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3096 mit dem Titel „Zulassung von Pflanzenschutzmitteln auf nationaler und EU-Ebene beschleunigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/3298 mit dem Titel „Wettbewerbsnachteile durch unterschiedliche Zulassungspraxis von Pflanzenschutzmitteln in Europa zügig abbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 sowie den Zusatzpunkt 9 auf: 17. Erste Beratung des von den Abgeordneten Gerda Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Bartholomäus Kalb, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages - Drucksache 14/4938 ({0}) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gerhard Schüßler, Dr. Hermann Otto Solms, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes ({2}) - Drucksache 14/5233 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die CDU/CSU ist der Kollege Klaus Brähmig.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der heutigen Sitzung beraten wir über den Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Erhöhung des Trinkgeldfreibetrages und den F.D.P.-Antrag zur Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung - ein Ziel, zwei Wege. Wenn man die Berichterstattung in der heutigen „BZ“ liest, stellt man fest: Offensichtlich handelt es sich um einen Sachverhalt mit kleiner Ursache, aber großer Wirkung. Zur Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen in Deutschland brauchen wir dringend eine Umorientierung zu einer Dienstleistungsmentalität und eine Qualitätsoffensive im Bereich Tourismus. Als Tourismuspolitiker freue ich mich besonders, dass Praktiker vor Ort wie der DEHOGA Lippe, der DEHOGA-Landesverband BadenWürttemberg und der Tourismusverband meines Wahlkreises sich bereits seit zwei Jahren dem Thema Qualitätssteigerung widmen. Eine Hürde auf diesem Weg zum Dienstleistungsland Deutschland stellt die gegenwärtige Besteuerung von Trinkgeldern dar, die alle im Dienstleistungssektor Tätigen wie beispielsweise Kellner, Pagen, Taxifahrer, Krankenschwestern und Friseure gleichermaßen betrifft. Jeder, der die Situation im Pflegebereich und im Gaststättengewerbe kennt, weiß von den Schwierigkeiten, hochmotivierte und besonders freundliche dienstleistungsbereite Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu finden, die bereit sind, insbesondere außerhalb der üblichen Geschäftszeiten sowie an Wochenenden und Feiertagen zu arbeiten. ({0}) Eine wichtige Voraussetzung für die Motivation und Freundlichkeit des Personals sind Trinkgelder der Gäste als Anerkennung für besonders qualifizierten Service und als Ausdruck der Zufriedenheit mit der in Anspruch genommenen Dienstleistung. Mit unserem Gesetzentwurf zur Anhebung des Freibetrages für Trinkgelder von derzeit 2 400 DM auf 4 200 DM wollen wir in einem ersten Schritt die Rahmenbedingungen für den Dienstleistungssektor verbessern. Die zu erwartenden Steuermindereinnahmen von schätzungsweise 130 Millionen DM werden durch die positiven Auswirkungen für den Tourismusstandort Deutschland mehr als wettgemacht. Motivierte Mitarbeiter und zufriedene Gäste aus dem In- und Ausland sind das beste Marketingkonzept für das Urlaubs- und Reiseland Deutschland. Obwohl auch in anderen Dienstleistungsberufen Trinkgelder die Regel sind, werden sie in erster Linie im gastronomischen Bereich besteuert. Die Gastronomie ist aber wie kaum eine andere Branche zur Erbringung ihrer Leistung auf motiviertes, gut geschultes und freundliches Personal angewiesen. ({1}) Diese Benachteiligung im Vergleich zu anderen Branchen hängt damit zusammen, dass es hier leichter ist, die Höhe des Trinkgeldes in Abhängigkeit vom Umsatz zu schätzen. Mit unserem Antrag bewegen wir uns im Gegensatz zu der Forderung der F.D.P. nach einer völligen Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung im derzeitig rechtlich gültigen Rahmen. ({2}) Die CDU/CSU steht in dieser Frage für seriöse Politik in nachvollziehbaren Schritten und für realistische Ziele mit Augenmaß. ({3}) Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes sind Trinkgelder nun einmal Arbeitslohn und damit der Lohnsteuer unterworfen. Demnach handelt es sich hier nicht um eine vom Dienstverhältnis losgelöste und aus rein privaten Motiven erfolgte Schenkung, sondern um ein zusätzliches Entgelt für die entgegengenommene Dienstleistung. ({4}) Außerdem hat meines Erachtens die Besteuerung von Trinkgeldern möglicherweise auch eine Schutzfunktion für die Arbeitnehmer im Gastgewerbe. Denn sonst wäre zu befürchten, dass Arbeitgeber mit dem Hinweis auf die Steuerfreiheit der Trinkgeldzahlungen ihre eigenen Lohnzahlungen reduzieren. ({5}) Ich möchte aus der „Welt“ von heute Folgendes zitieren - die Überschrift des Artikels lautet „Trinkgeld-Terror“ -: Es ist bekannt, dass gerade in den USA das Servicepersonal in erster Linie vom Trinkgeld lebt - der Stundenlohn ist bescheiden, soziale Absicherung zudem oft ein Fremdwort. ({6}) Es darf nicht so kommen, dass die flexiblen Lohnbestandteile die Tariflöhne ersetzen. Weiterhin gebe ich zu bedenken, dass nominale Werte von Zeit zu Zeit der Realität angepasst werden müssen. Die Anpassung des seit 1990 unveränderten Freibetrages ist angesichts des Anstiegs des allgemeinen Preisniveaus mehr als überfällig. Schließlich und endlich könnte mit der Anhebung des Freibetrages ein Beitrag zur Verwaltungsvereinfachung geleistet werden; denn damit würde verhindert, dass auch bei geringen Trinkgeldbeträgen Steuerfestsetzungen notwendig werden. Trotz dieser schlüssigen Argumente für die Anhebung des Freibetrages wurden bisher alle Vorstöße in diese Richtung von der rot-grünen Koalition niedergestimmt. Wie stimmt diese Haltung mit Ihren Forderungen vom Mai 1998 überein, sehr geehrte Kollegen der SPD? Nicht nur die SPD-Tourismuspolitiker, sondern auch der damalige Ministerpräsident Gerhard Schröder versprachen im letzten Bundestagswahlkampf vollmundig sogar die völlige Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung. Frau Kollegin Irber wiederholte diese Forderung erst heute in der „B.Z.“. ({7}) Ich habe in den letzten Wochen die 16 Finanzminister aller deutschen Bundesländer angeschrieben. Von keinem einzigen Finanzminister habe ich die Zusage bekommen, sich dafür einsetzen zu wollen, die Trinkgeldbesteuerung voll und ganz abzuschaffen. ({8}) - Herr Milbradt hat mir geantwortet, als er noch im Amt war. Aber auch von den anderen Finanzministern, etwa von Herrn Aller aus Niedersachsen, habe ich Antworten bekommen, die in dieselbe Richtung gingen. ({9}) Aber es ist wie so häufig bei rot-grüner Regierungspolitik: Der Berg kreißt und gebiert nicht einmal eine Maus. Wo waren Sie bei der Abstimmung über die beiden Anträge, die der Kollege Burgbacher hier für seine Fraktion im letzten Jahr eingebracht hat? Wir haben zu diesem Thema schon zwei Debatten geführt, am 2. Dezember 1999 und am 29. Juni 2000. Die heutige Debatte ist also die dritte. Lieber Kollege Burgbacher, ich gehe davon aus, dass diese Debatte bis zum Ende der Legislaturperiode garantiert nicht die letzte sein wird. Jetzt ein Appell an meine Nachredner und die zu erwartenden Zwischenrufer: Verschonen Sie mich mit Ihren Hinweisen auf die angeblich so große Entlastung der Arbeitnehmer durch die Steuerreform. Nach Berechnungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, RWI, haben die privaten Haushalte durch die gestiegenen Energiekosten und die Ökosteuer vom zweiten Quartal 1998 bis zum zweiten Quartal 2000 einen Kaufkraftverlust von 37,3 Milliarden DM hinnehmen müssen. Die von der Bundesregierung genannte Entlastung der privaten Haushalte im Zuge der Steuerreform 2000 von rund 33 Milliarden DM ist also bereits mehr als verfrühstückt. Bei anhaltend hohen Energiekosten wird die von der Bundesregierung angegebene Gesamtentlastung von 65 Milliarden DM im Zeitraum von 1998 bis 2005 noch nicht einmal die höheren Energiekosten kompensieren. Neben dieser Problematik hat sich die Bundesregierung aber auch einige gezielte Belastungen für die Unternehmen des Gastgewerbes einfallen lassen. Erinnert sei hier nur an die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse und an die Abschaffung des Vorsteuerabzugs bei geschäftlich veranlasster Bewirtung und Beherbergung. Die Auswirkungen dieser Politik sind offensichtlich. Wir freuen uns mit der Branche über die positive Entwicklung der Gäste- und Übernachtungszahlen im Deutschlandtourismus: Erstmals mehr als 300 Millionen Übernachtungen sind eine beeindruckende Leistung. Aber schlägt sich das auch auf die Umsatzentwicklung und den Arbeitsmarkt nieder? Fehlanzeige! 1999 sank der Umsatz im Gastgewerbe um 1,4 Prozent und im Zeitraum von Januar bis Oktober 2000 stieg er lediglich um 1,1 Prozent. Durchgängig negativ sind die Werte für die Gastronomie, deren Umsatz 1999 um 2,7 Prozent und in den ersten Monaten des letzten Jahres um weitere 1,8 Prozent sank. Es überrascht deshalb nicht, dass die Zahl der Beschäftigten im Gastgewerbe 1999 um 6,4 Prozent und von Januar bis Oktober 2000 noch einmal um 2,7 Prozent zurückging. Das von der rot-grünen Bundesregierung suggerierte Bild der Boombranche Tourismus steht also auf tönernen Füßen. Zu einer ehrlichen volkswirtschaftlichen Analyse gehören eben alle Zahlen und nicht nur eine selektive Betrachtung. Wenn die Bundesregierung, wie Bundeskanzler Gerhard Schröder formuliert hat, ihren Erfolg wirklich daran messen lassen will, inwieweit die Arbeitslosigkeit abgebaut wird, dann können wir für den arbeitsplatzintensiven Tourismus feststellen: Durchgefallen - nicht versetzungsfähig! Meine Damen und Herren, die Unterstützung unseres Gesetzentwurfes wäre ein kleiner, aber nicht zu unterschätzender Baustein, ein auch psychologisch wichtiges Signal für einen Neuanfang in Ihrer bisher verfehlten Tourismuspolitik. ({10}) - Da schauen wir einmal. ({11}) Das von Ihnen auf unseren Vorschlag hin ausgerufene Jahr des Tourismus in Deutschland braucht - dieser Appell richtet sich an die die Regierung tragenden Fraktionen positive Impulse. Wir wollten keine Showveranstaltung für Grüßonkel, sondern eine langfristige Umorientierung zu einer stärkeren Dienstleistungsmentalität. Vielen Dank. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Simone Violka.

Simone Violka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Die CDU/CSU fordert eine Erhöhung des Freibetrages von 2 400 DM auf 4 200 DM und will damit unter dem Deckmantel „Vereinfachung des Steuerrechts“ mal wieder Ausnahmetatbestände schaffen. Die F.D.P. setzt sogar noch einen drauf und fordert die komplette Abschaffung der Besteuerung von Trinkgeldern. ({0}) Doch solche Ausnahmetatbestände und Steuervergünstigungen für eine einzelne Gruppe müssen immer die anderen Steuerzahler tragen. Was das heißt, haben die Menschen in diesem Land vor 1998 deutlich gespürt, indem sie jährlich einen größeren Fehlbetrag in ihrer Geldbörse feststellen mussten. Während der Klein- und Mittelverdiener ohne Kompromisse seine Steuern zahlen musste, erlaubten es in Ihrer Regierungszeit über 70 Sondertatbestände dem Großverdiener, seine Steuerschuld oftmals bis auf Null zu reduzieren. Das war eines der ersten Dinge, die wir nach der Regierungsübernahme abgeschafft haben, und das war gut und richtig so. ({1}) Das hatten wir den Bürgerinnen und Bürger vor der Wahl versprochen und wir haben es auch gehalten, weil wir es wie die Menschen, die wir als Abgeordnete vertreten, als ungerecht empfinden, wenn sich nicht alle nach ihrer Leistungsfähigkeit an dem Steueraufkommen beteiligen. Natürlich wurde das dicke Paket der Steuervergünstigungen nicht auf einmal von Ihnen beschlossen. Da war es mal die eine Gruppe, für die eine Ausnahmeregelung gemacht wurde, mal die andere. Ich will nicht verneinen, dass einige dieser Regelungen den neuen Ländern zugute kommen sollten und auch einige Zeit zugute kamen. Aber irgendwann wurden aus Aufbauprogrammen nur noch Steuersparprogramme und Sie haben durch Ihr Nichts-dagegen-Tun bestätigt, dass Sie darüber entweder den Überblick verloren hatten oder aber dass diese Modelle, von denen nur Großverdiener profitierten, gewollt waren und geduldet wurden. Wir haben damit Schluss gemacht. Anstatt mal die eine, mal die andere Gruppe zu bedienen, haben wir eine Steuerreform auf den Weg gebracht, von der alle profitieren. ({2}) Wir haben den Eingangssteuersatz für das Jahr 2001 auf 19,9 Prozent gesenkt. Nur einmal zur Erinnerung: Im Jahr 1998 lag er noch bei 25,9 Prozent. Das ist eine Absenkung um 6 Prozentpunkte. Bis zum Jahr 2005 wird der Eingangssteuersatz auf 15 Prozent gesenkt. ({3}) Damit entlasten wir vor allem die kleinen Einkommen um insgesamt 10,9 Prozentpunkte. Das ist eine Leistung, die die Menschen spürbar entlastet. Das haben Sie während Ihrer Regierungszeit nie fertig gebracht, ({4}) im Gegenteil: Sie haben hier im Bundestag auch noch gegen diese Steuerreform gestimmt. Zum Glück haben einige Ihrer Parteifreunde in den Ländern die politische Brille abgesetzt und im Bundesrat für diese Steuerreform gestimmt, weil sie erkannt haben, wie richtig und wichtig sie für unser Land ist. ({5}) Aber die Senkung der Steuern ist ja nicht unsere einzige Leistung. Zusätzlich steigt noch der Steuerfreibetrag auf gut 14 000 DM in diesem Jahr und auf gut 15 000 DM im Jahr 2005. Das bringt auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Gastronomiegewerbe mehr Geld ins Portemonnaie. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Violka, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Simone Violka [SPD]: Ja. ({0}) - Ich muss nicht zum Flieger.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich auch nicht, ich fahre mit der Bahn. ({0}) - Dafür bin ich nicht auch noch zuständig, Kollege Ramsauer. Frau Kollegin Violka, sehe ich die Sache richtig, dass es in der SPD-Fraktion zwischen der Arbeitsgruppe Finanzen - Sie halten ja hier ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, den Freibetrag bei 2 400 DM zu belassen ({1}) und der Arbeitsgruppe Tourismus möglicherweise noch Abstimmungsbedarf gibt? Ihre Kollegin und meine geschätzte Mitstreiterin im Tourismusausschuss hat sich nämlich heute in der „B. Z.“ - ich habe darauf hingewiesen - ganz klar und eindeutig für die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung ausgesprochen. Könnten Sie vielleicht dazu ganz kurz Stellung beziehen?

Simone Violka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003250, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich kann ich Ihnen dazu etwas sagen. Ich kann zwar nicht die Aussage eines Mitglieds unserer Fraktion bewerten und ich kenne auch nicht das Originalinterview. Wir alle wissen, wie die Presse mit so etwas umgeht. Aber ich kann Ihnen eines sagen: Wenn Sie uns nicht so riesengroße Haushaltslöcher hinterlassen hätten, dann hätten wir in der Steuerfrage natürlich einen größeren Spielraum. ({0}) - Das meine ich ganz ernst. ({1}) Die Steuerreform, die wir verabschiedet haben, wurde erst möglich, weil wir die Basis der Steuerzahler verbreitert haben und insbesondere Steuervergünstigungen weitgehend abgeschafft haben. Genau das Gegenteil wollen Sie mit Ihrem Gesetzentwurf erreichen. Aber von diesem Weg der politischen Vernunft werden wir nicht abweichen. Darin stimmen uns im Übrigen auch die Wirtschaftssachverständigen zu. Wenn Sie uns aus parteipolitischen Gründen nicht glauben, dann glauben Sie wenigstens den Sachverständigen. Auf diese beziehen Sie sich doch sonst so gern, wenn deren Aussage in Ihrem Sinne ist. Übrigens bin ich bei der Vorbereitung meiner Rede auf einen interessanten Ausspruch gestoßen, den ich Ihnen nicht vorenthalten will. Unter der Überschrift „Anforderungen an eine moderne Steuerreform“ konnte ich lesen: Gleichbehandlung aller Einkunftsarten Ein modernes Steuerrecht basiert auf einem synthetischen Einkommensbegriff: Alle Einkünfte werden in einer Summe zusammengefasst und auf dieses Gesamteinkommen ein einheitlicher Tarif angewendet. ({2}) - Ein Trinkgeld ist keine Schenkung. Das haben wir uns in mehreren Debatten eigentlich schon angehört. Im Übrigen ist dieses Zitat nachzulesen bei: www.cdu.de. Das widerspricht nun völlig dem von Ihnen heute eingebrachten Gesetzentwurf. Im Übrigen haben auch die Petersberger Beschlüsse den Abbau von Steuervergünstigungen verlangt. Aber daran können Sie sich anscheinend nicht mehr erinnern. Das ist eigentlich nicht verwunderlich, wenn man die in Ihren Reihen grassierenden Erinnerungslücken bedenkt, die vor allem immer dann vorhanden sind, wenn es um Geld geht. Nun wieder zurück zu Ihrem Gesetzentwurf. Sie führen in der Begründung aus, die nicht gerade hoch entlohnten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Gastronomiegewerbe sollen nicht durch eine zu rigide Besteuerung geschwächt werden. Ich gebe Ihnen natürlich Recht, dass die Entlohnung dort nicht üppig ist, unter anderem auch deshalb, weil sich der Arbeitgeber auf die Trinkgelder beruft, die den Lohn ergänzen. Aber ich verstehe nicht, weshalb man dieses Phänomen über Steuervergünstigungen lösen soll. Erklären Sie doch bitte einmal einer Angestellten, die an einer Tankstelle in Schichten arbeitet, auch am Wochenende arbeiten muss, auch den ganzen Tag auf den Beinen ist, auch freundlich sein muss und dafür 12 DM die Stunde bekommt, warum sie ihren Lohn voll versteuern muss und jemand anderes, der ähnliche Arbeitsbedingungen in der Gastronomie hat, für einen Teil seines Einkommens keine Steuern zahlen soll. Ein weiterer Grund, den Sie für Ihre Gesetzesinitiative angegeben haben, ist die Motivation für gute Leistungen des Personals. Ich frage Sie: Wollen Sie allen Ernstes Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch einzelne Steuerentlastungen motivieren? In meinen Augen ist das völlig absurd; denn dann müssen Sie auch meiner als Beispiel dienenden Tankstellenangestellten eine Steuerbefreiung einräumen. Auch sie hat keine angemessene Entlohnung und seit mindestens drei Jahren keinen Pfennig Lohnerhöhung gehabt. Oder wollen Sie vielleicht sagen, dass diese Angestellte nicht motiviert ist, nicht freundlich ist? ({3}) Aber das ist nur ein Beispiel. Es ist richtig, die Bezahlung im Dienstleistungsgewerbe ist größtenteils ziemlich gering. Aber für eine angemessene Bezahlung sind immer noch die Tarifpartner verantwortlich. Wer wie Sie die Steuerpolitik zur Nachbesserung magerer Tarifabschlüsse einsetzen will, bürdet dem Steuerzahler eine Last auf, die eigentlich die Branche bzw. der Arbeitgeber zu tragen hat. Mir ist im Übrigen auch nicht klar, wie die CDU mit ihrer Begründung ausgerechnet auf eine Erhöhung des Freibetrages von 75 Prozent kommt. In meinen Augen ist das eine völlig willkürliche Festlegung, der jegliche Grundlage fehlt. 1990 wurde der bis dahin geltende Freibetrag auf 2 400 DM angehoben. Jetzt, zehn Jahre später, soll er um 75 Prozent erhöht werden. Als Begründung führen Sie an, aufgrund des zwischenzeitlich angestiegenen Preisniveaus sei eine Anpassung vernünftig. Wollen Sie damit ausdrücken, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jetzt 75 Prozent mehr Trinkgeld als 1990 bekommen? Aber wäre es, wenn Sie der Meinung sind, das Preisniveau sei so stark gestiegen, nicht logischer, davon auszugehen, dass weniger Trinkgelder gezahlt werden, weil die Gäste weniger Geld zur Verfügung haben? In diesem Fall wäre die bisherige Freigrenze mehr als ausreichend. ({4}) - Die Realität ist so, dass ich sehr lange gekellnert habe. Ich weiß, was an Trinkgeldern gezahlt wird. Ich habe das Trinkgeld übrigens versteuert; denn ich habe das meinem Arbeitgeber vorher mitgeteilt. ({5}) - Das können Sie nachprüfen. Ich habe das sogar nach Steuerklasse 6 versteuert. Es tut mir Leid, aber ich kann Ihre Argumente überhaupt nicht nachvollziehen und erst recht nicht teilen. Im Gegenteil: Die jetzige Regelung der Besteuerung hat durchaus auch problematische Seiten. Sie ist nämlich deshalb problematisch, weil diese Gruppe von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegenüber anderen Beschäftigten bei der Versteuerung des Einkommens schon jetzt bevorzugt wird. Ein Freibetrag von 2 400 DM ist für viele Menschen in meiner Region schon ein Monatslohn. Allerdings kann ich diese Bevorzugung vertreten, weil mit der Abschaffung des Freibetrages der bürokratische Aufwand natürlich immens ansteigen würde. Das ist aber auch das einzige Argument, das ich gelten lasse. Ein weiteres gewichtiges Argument steht Ihrem Entwurf entgegen. Unsere Aufgabe ist es auch, den Steuerzahler gesetzlich vor steuerlichen Missbräuchen zu schützen. Bei einem sehr großen Freibetrag oder bei überhaupt keiner Besteuerung besteht nämlich die Gefahr, dass Lohnbestandteile plötzlich in Trinkgelder umgewandelt werden. Die gegenwärtige Freigrenze von 2 400 DM dient auch als Barriere gegen nicht mehr zu kontrollierende Steueroasen. ({6}) Auch wenn Sie es anders sehen: Wir nehmen die Belange des Gastgewerbes sehr ernst. ({7}) Ihre Zwischenrufe und Ihre Unruhe zeigen mir, dass ich den Nerv getroffen habe. ({8}) Wir haben die Tourismusbranche und das Gastronomiegewerbe mit mehr Haushaltsmitteln ausgestattet, als Sie das je gewollt haben. Im Bundeshaushalt 2000 stiegen die Zuwendungen an die deutsche Zentrale für Tourismus auf rund 42 Millionen DM. Das ist ein Anstieg um 6 Prozent. ({9}) Ich komme zu dem Wachstum, das Sie angesprochen haben. Ich erkenne nicht, wo das geltende Recht dem Wachstum der Branche im Weg stehen soll. Gestern stand in der Zeitung ein interessanter Artikel mit der Überschrift „Gastronomie fordert die Green Card für Kellner“. Tatsache ist aber, dass es nicht zu wenig Stellen, sondern zu wenig Kellner gibt. Da fragt man sich natürlich, woran das liegt. ({10}) In diesem Artikel äußert sich ein Kellner, der einen Job sucht - ich zitiere -: Vor zehn Jahren waren die Arbeitsbedingungen besser. Da wurde gut gezahlt, Festanstellung statt Saisonarbeit. Heute werden wegen der Billiglöhne lieber zehn schlechte Leute als eine gute Fachkraft eingestellt. Genau das ist der Kern des Problems; denn auch vor zehn Jahren wurde das Trinkgeld schon besteuert. ({11}) Man ist in der Gastronomie davon abgekommen, seine Mitarbeiter zu halten. Man ist zu 630-Mark-Jobs und zur Scheinselbstständigkeit übergegangen. Wir wissen doch selbst, welche seltsamen Blüten dieses Vorgehen getrieben hat: Ein Kellner wurde nicht mehr als Kellner beschäftigt, sondern als Selbstständiger. Er musste das Essen an der Theke kaufen und an den Gast weiterverkaufen. Er hatte keinen Handlungsspielraum. Wenn der Umsatz nicht stimmte, bekam er den Vertrag nicht verlängert. Wo, bitte schön, ist das sozial? Dieser Zustand ist nicht hinzunehmen. Solche Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, entsprechende gesetzliche Regelungen zu haben. Wenn wir diese gesetzlichen Regelungen nicht mehr hätten, würde es viele Ausnahmetatbestände geben, sodass jeder Zweite - unabhängig von dem Dienstleistungsgewerbe - zur Hälfte vom Trinkgeld leben müsste, egal, woher es kommt, und nur noch die Hälfte seines Einkommens versteuert. Vielen Dank. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ernst Burgbacher.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass es schon seltsam ist, dass bei dieser Debatte weder ein Vertreter des BMF noch ein Vertreter des BMI anwesend ist. Diese Tatsache mag jeder werten, wie er will. ({0}) Die F.D.P.-Fraktion hat im Oktober 1999 einen ersten Gesetzentwurf zur Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung eingebracht. Er wurde im Juni 2000 abgelehnt. Wir sind an der Sache weiter drangeblieben, weil es um die kleinen Leute geht - es geht nicht um Großverdiener, wie Sie gerade gesagt haben -, für die dies ein Problem ist. ({1}) Wir begrüßen es deshalb, dass dieses Thema heute wieder zur Sprache kommt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie fordern die Erhöhung des Freibetrags. Sie beziffern die Steuermindereinnahmen auf 130 Millionen DM. Ich bitte Sie sehr, das zu begründen. Ich bin der Sache nachgegangen: Diese Zahl ist wirklich durch nichts zu begründen. Wir gehen von einem Nettoaufkommen der gesamten Trinkgeldbesteuerung in Höhe von 3 Millionen bis 4 Millionen DM aus. Woher Sie die Zahl von 130 Millionen DM haben, weiß ich nicht. Sie verfolgen einen falschen Ansatz in dieser Sache. ({2}) Trinkgelder sind für den Dienstleistenden nicht einkalkulierbar. Er hat keinen Anspruch darauf; sie kommen nicht vom Arbeitgeber. Deshalb handelt es sich nicht um Einkommen aus unselbstständiger Tätigkeit, sondern um eine Schenkung des Gastes an den Dienstleistenden. Das sollten wir alle hier begreifen. ({3}) Wenn Sie jetzt den Freibetrag erhöhen würden, würden Sie überhaupt nichts an dem bürokratischen Aufwand der Aufzeichnungspflicht ändern. Sie würden nichts daran ändern, dass Trinkgelder geschätzt werden. So läuft es in der Praxis. Das Finanzamt schätzt, ob das Trinkgeld 2 Prozent, 3 Prozent oder mehr des Umsatzes ausmacht; das geht bis 3,8 Prozent. Dementsprechend fällt der Steuerbescheid aus. Dann geht es weiter. Das Finanzamt gibt dieses Ergebnis der Betriebsprüfung an die BfA weiter. Die BfA schickt einen Bescheid über die Sozialbeiträge an den Wirt. Ich sage Ihnen: Das geht in Dimensionen - ich kann Ihnen das gerne zeigen - bis 40 000 oder 50 000 DM. Das kann doch nicht sein. Dass diese Zahlen auf Schätzungen beruhen, ist doch kein System, das die Menschen überhaupt noch nachvollziehen können. ({4}) Außerdem geht das gegen die Gleichmäßigkeit der Besteuerung, weil nur ein Bereich herausgegriffen wird, nämlich Hotels und Gastronomie. In den meisten anderen Bereichen werden die Trinkgelder überhaupt nicht besteuert. Auch aus dem Grunde geht das nicht. Konsequenz daraus: Dann müssen wir halt - zu den Einwürfen vorhin kann ich nur sagen: wir sind doch der Gesetzgeber - Gesetze ändern. ({5}) Deshalb haben wir unseren Gesetzentwurf eingebracht, in dem steht: Freiwillig gezahlte Trinkgelder gehören nicht zu den Einkünften aus nicht selbstständiger Arbeit. Dann ist alles klar. ({6}) Das können wir als Gesetzgeber natürlich machen. Jetzt lassen Sie mich noch zu der rot-grünen Mehrheit im Hause kommen. Sie haben das Jahr des Tourismus ausgerufen. Sie haben versprochen, gerade die Träger des Tourismus, Hotels und Gastronomie, zu unterstützen. Was haben Sie gemacht? ({7}) Sie haben die 0,5-Promille-Grenze eingeführt, ein Schlag für die Gastronomie. ({8}) - Sie haben halt keine Ahnung, um was es geht, das ist das Problem; deshalb lachen Sie. ({9}) Sie haben eine Änderung des Gaststättengesetzes vorgelegt. Wir haben das diskutiert. Danach gehen Jugendliche mit einem Taschenrechner in die Kneipe und rechnen aus, welches Getränk billiger ist. Das ist völlig realitätsfremd. Außerdem novellieren Sie das Betriebsverfassungsgesetz usw. In der Summe sind das Benachteiligungen von Hotels und Gastronomie. Deshalb sage ich: Überwinden Sie sich doch endlich, an dieser Stelle etwas Positives zu tun. ({10}) Frau Irber hat es gefordert, Herr Hilsberg hat es gefordert, andere haben es öffentlich gefordert und Sie hatten es in Ihrem Wahlprogramm. ({11}) - Aber Sie hatten es in einem Parteiprogramm. - Der heutige Bundeskanzler hat dem DEHOGA nachweislich - ich kann Ihnen das mit Datum sagen - versprochen: Wenn wir an die Regierung kommen, schaffen wir die Trinkgeldbesteuerung ab. Halten Sie endlich Ihre Versprechen! ({12}) Ich verspreche Ihnen: Wir lassen nicht locker und wir werden erreichen, dass ein Beitrag dazu geleistet wird, dass das Lächeln im Service zurückkommt. Ich danke Ihnen. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon überraschend, welche neuen Erkenntnisse man an einem Freitagmittag noch gewinnen kann, zum Beispiel dass die F.D.P.-Fraktion zur Rettung der gastronomischen Wirtschaft mit der Forderung nach der Aufhebung der Promillegrenze einen Appell für Alkohol am Steuer formuliert. Das ist unglaublich. ({0}) Wenn das soziale Gewissen der Nation hier meint, die Koalition auffordern zu müssen, eine Aufhebung der Besteuerung vorzunehmen, dann frage ich mich, warum Sie das eigentlich nicht in den 29 Jahren Ihrer Regierungstätigkeit und auch nicht im Zusammenhang mit der Erhöhung der Freigrenze 1990 getan haben. Sie haben sich anscheinend bei Ihrem Koalitionspartner zum Glück nicht durchsetzen können. ({1}) Auch das haben wir heute eindeutig feststellen können. Es ist vollkommen klar, dass man sich als Opposition hinstellen und, damit es nicht langweilig wird, hartnäckig zwei Varianten fahren kann. ({2}) Die eine Variante ist die der F.D.P. - darauf komme ich noch zurück -: generelle Freistellung. Auch die Variante der CDU/CSU-Fraktion ist interessant. Der letzte Antrag hat sich auf einen Trinkgeldfreibetrag von 3 600 DM bezogen, mittlerweile ist sie bei 4 200 DM gelandet. Das ging relativ schnell, nämlich innerhalb eines halben Jahres. ({3}) Wir wollen dem Hotel- und Gaststättengewerbe unter die Arme greifen. ({4}) Das nehmen wir sehr Ernst. Deshalb sage ich dies ganz bewusst. Das ist sehr sinnvoll. Wir wissen, dass gerade in Gebieten, in denen andere Unternehmen wenig Chancen haben, durch das Hotel- und Gaststättengewerbe Arbeitsplätze und Einkommen gesichert sind und dass wir es hier mit einer sehr arbeitsintensiven Branche zu tun haben, die auch ausbildet. Das muss man an dieser Stelle auch einmal erwähnen. Nach Angaben des DEHOGA waren in diesem Bereich im Jahre 1999 gut 10 Prozent mehr Auszubildende beschäftigt als 1998. ({5}) Es lohnt sich also, diese Branche, die - das muss man auch klar sehen - immer wichtiger wird, zu unterstützen. ({6}) Frau Violka hat angesprochen, wie sich der Haushalt entwickelt hat. Wenn man die jetzigen Zahlen mit denen vergleicht, die im Haushalt verankert waren, als wir die Regierung übernommen haben, so zeigt sich, dass wir den Bundeshaushalt im Bereich des Fremdenverkehrs mit 45,5 Milliarden DM unterstützen. Im Vergleich von 1998 mit dem Jahr 2001 ergibt sich somit eine 8-prozentige höhere Unterstützung für die Tourismusbranche gegenüber Ihrer Regierungszeit - und dies trotz des Sparprogramms, das wir fahren. Dies ist eine ganz klare und gute politische Entscheidung gewesen. ({7}) Die Frage, die sich heute stellt, lautet: Ist die Steuerbefreiung für Trinkgelder oder ein höherer Freibeitrag ein sinnvoller Weg? Bei der Beantwortung des ersten Teils der Frage ist interessant zu wissen, was Bayern flankierend zum Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion in den Bundesrat eingebracht hat. Dort hat Staatsminister Bockelt am 1. Dezember gesagt, warum die Steuerfreiheit für Trinkgelder kein guter Weg ist. Er hat ausgeführt, der Fantasie, neue Direktentlohnungssysteme durch den Kunden zu schaffen, wären dann keine Grenzen gesetzt. Das würde im Endeffekt auch für die dort beschäftigten Arbeitnehmer mehr Unsicherheit schaffen und noch mehr Druck auf die ohnehin niedrigen Löhne ausüben. Ich kann nur sagen: Da hat er Recht. Auch die CSU hat manchmal Recht. ({8}) Ich frage mich, ob auch den Antragstellern der F.D.P. bewusst ist, was sie tun, wenn sie, was die Steuerbefreiung betrifft, ein Scheunentor aufmachen. Wir werden Auswirkungen auf die Steuereinnahmen zu verzeichnen haben. Sie haben es ja gerade selbst angesprochen, Herr Burgbacher. Man kann nicht sagen, welche Zahlen zugrunde gelegt werden müssen. Es gibt nur spekulative Überlegungen. Es liegen keine konkreten Berechnungen vor. Das heißt, Sie gehen damit ein Wagnis ein, ({9}) und zwar nicht nur, was die Steuereinnahmen betrifft, sondern auch im Hinblick auf die Sozialversicherungssysteme. Denn wenn das Ganze ausufert, sodass in allen möglichen Berichten Steuerfreistellung gewährt wird, dann führt dies natürlich auch dazu, dass die Bereitschaft, in die Sozialkasse einzuzahlen, nicht mehr gegeben ist. ({10}) Somit bekämen wir nicht nur bei der Steuer ein Problem, sondern auch bei der Sozialkasse, was sich zulasten der Allgemeinheit durch höhere Sozialversicherungsbeiträge bemerkbar machen würde. ({11}) Auch das wollen wir nicht. Diese Regierung hat einen ganz klaren Weg beschritten. Dieser klare Weg heißt: Senkung der Steuersätze, Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, Senkung der Sozialversicherungsbeiträge und damit höhere Nettolöhne. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Wir haben einen stabilen Haushalt. Wir werden ihn auch weiterhin stabil halten. Deswegen ist es auch gut, dass der Weg in dieser Form gegangen wird. Dabei können wir mit Ihren Lobbyismus-Forderungen relativ wenig anfangen. Danke. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist für die PDS-Franktion die Kollegin Dr. Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich der Kritik an der Regierung durchaus anschließen. Auch ich finde, dass man freitags um 15 Uhr noch Verantwortung auf der Regierungsbank wahrnehmen könnte, sollte und müsste. ({0}) Nach meiner Auffassung lag Herr Brähmig mit seiner Begründung des Gesetzesentwurfes nicht ganz richtig. Herr Brähmig, Sie haben festgestellt, dass in bestimmten Dienstleistungssektoren vielfach hoch motivierte Leute fehlen. Beispiel Pizzadienst in Leipzig: Dieser sucht ständig Leute. 10 DM brutto Stundenlohn, Einsatz des eigenen Autos mit eigenem Benzin. Sie können sich vorstellen, was dabei netto herauskommt. Dies bezeichnet ganz klar, worin das Hauptproblem liegt: Dies sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse, viel zu niedrig bezahlt und zumeist noch mit sehr belastenden Arbeitszeiten verbunden. ({1}) Daran hat sich leider in den letzten Jahren nichts geändert, auch unter Ihrer Regierung nicht. Das Ganze fällt zwar unter die Tarifautonomie, trotzdem liegt es in der Verantwortung der Politik, hier Druck auszuüben, zumindest Zeichen zu setzten. Die Vorschläge in Richtung Steuerpolitik sind durchaus angebracht. Vor diesem Hintergrund möchte ich betonen, dass wir als PDS-Fraktion beiden Initiativen sehr positiv gegenüberstehen. Wir werden uns in den Ausschussberatungen positionieren und entscheiden, ob wir dem F.D.P.-Vorschlag zur Steuerfreiheit oder dem CDU/CSU-Vorschlag zur Anhebung der Freigrenzen zustimmen. ({2}) Ich will es ganz klar sagen: Beides wird nicht das Problem lösen, aber beides sind steuerpolitische Maßnahmen, die zumindest eine gewisse Entlastung für die Beschäftigten bringen können. Der Regierungskoalition möchte ich eine Frage stellen: Steuersystematisch ist es sicher richtig - das meinen auch wir -, dass jede Mark Einkommen besteuert werden muss, wenn ich dann aber Ihre Reform zur Einkommens- und Unternehmensbesteuerung heranziehe, frage ich mich: Wo ist die Logik geblieben? Was ist denn mit den Veräußerungsgewinnen, wenn man Beteiligungen verkauft und dabei Gewinne erzielt? Diese besteuern Sie nicht. Sie haben in der Unternehmensteuerreform Steuergeschenke in Höhe von 14 Milliarden DM jährlich verteilt. Ich frage mich wirklich, warum wir ausgerechnet wieder bei den Niedriglohnbezieherinnen und -beziehern mit einer konsequenten Umsetzung der Steuersystematik anfangen sollten. Das findet nicht unsere Zustimmung. ({3}) Unter steuersystematischem Aspekt kommt noch eines hinzu: Das BVG hat bereits 1991 festgestellt, dass eine Steuerbelastung, wenn sie offensichtlich nur mehr den erklärungsbereiten Steuerbürger betrifft, weil die Erhebungsregelungen für Steuern auf Trinkgelder die Kontrolle der Steuererklärung weitgehend ausschließen - hier ist es ja so, weil man die Höhe der Trinkgelder freiwillig angibt bzw. sie nach dem Umsatz geschätzt werden -, das Gebot der steuerlichen Lastengleichheit verletzt. Ich denke, das ist ein hinreichendes Argument dafür, dass wir über den Vorschlag der F.D.P. sehr gründlich nachdenken müssen. In diesem Sinne ist es notwendig, dass wir als Politikerinnen und Politiker zeigen, dass uns das bestehende Problem nicht gleichgültig ist. Sie hatten schon bei der Steuerreform nicht den Mut, das steuerfreie Existenzminimum wenigstens in notwendiger Höhe anzuheben - das wären mindestens 17 000 DM pro Jahr -, deshalb ist es notwendig, jetzt über die vorgelegten Initiativen positiv zu diskutieren. Wir als PDS sind aufgeschlossen und hoffen, dass die Ausschussberatungen etwas bringen werden. Ich danke Ihnen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/4938 ({0}) und 14/5233 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes - Drucksachen 14/3381, 14/4695 Berichterstattung: Abgeordnete Brigitte Lange Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Brigitte Lange.

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bevor wir in die Debatte selbst einsteigen, erlauben Sie mir eine Vorbemerkung. Pro Asyl hat es für richtig gehalten, ein Fax in die Welt zu schicken, auf dem die Tatsache, dass die Reden heute möglicherweise zu Protokoll gegeben werden, so charakterisiert wird, als seien wir zu feige, hier Stellung zu beziehen. ({0}) Ich schätze die Arbeit von Pro Asyl wie die Arbeit aller Organisationen, die in diesem und anderen sozialen Bereichen arbeiten, sehr hoch ein. Sie tragen eine Menge dazu bei, um Flüchtlingen durch den Alltag zu helfen. Trotzdem bitte ich Herrn Classen, seine Bemerkung, die mich verletzt, noch einmal zu überdenken. Ich will auch erklären, warum. Das ist nämlich etwas, was Herr Classen möglicherweise nicht gewusst hat. Der Ältestenrat hat die Diskussion dieses Tagesordnungspunktes für Donnerstag, 19 Uhr, angesetzt. Zu dieser Zeit geben wir normalerweise keine Reden zu Protokoll. Frau Maier hat mir erklärt, dass am Donnerstagabend um 19 Uhr das Fernsehen nicht mehr übertragen würde, aber am Freitagnachmittag. Das heißt, nicht wir haben diesen Tagesordnungspunkt an das Ende einer Plenarwoche gesetzt, sondern es geschah auf Wunsch der PDS. Bevor Sie jetzt rufen: „Sehr richtig“, erlauben Sie mir, dass ich darauf aufmerksam mache, dass zumindest die Mitglieder großer Fraktionen am Freitagabend sehr oft in ihrem Wahlkreis erwartet werden. Wir gehen zu wesentlich mehr Veranstaltungen hin, als Sie es müssen. ({1}) Deswegen ist die Unterstellung, wir wären zu feige, hierher zu gehen, einfach dreist, zumal man unsere Stellungnahmen ja auch nachlesen kann. So viel zu dieser Thematik. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Lange, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll? ({0})

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, dass wir, die PDS - auch seitdem wir Fraktionsstatus haben - seit Beginn dieser Legislaturperiode noch nicht einen einzigen Tagesordnungspunkt bestimmen konnten, der nicht donnerstags der letzte oder vorletzte oder freitags der letzte war? ({0}) Würden Sie bitte weiter zur Kenntnis nehmen, dass sich in den letzten Sitzungswochen alle anderen Fraktionen dieses Hauses der Diskussion unserer Anträge nicht gestellt haben, egal ob dieser letzte oder vorletzte Tagesordnungspunkt am Donnerstag um 23 Uhr oder um 21 Uhr, wie in der letzten Sitzungswoche, stattfand? Das heißt, dass wir nichts anderes zu erwarten haben, sondern dass es bei Ihnen tatsächlich Usus geworden ist, dass man sich der Diskussion nicht mehr stellt. Würden Sie bitte als Drittes zur Kenntnis nehmen, dass nur aufgrund der Presseerklärung von Frau Maier - das glaube ich schon sehr stark -, wonach Sie nicht bereit sind, sich der Diskussion zu stellen, es heute überhaupt zu einer Debatte kommt? Davon zeugt auch, dass im Verlauf der letzten halben Stunde sich ein Kollege der F.D.P. es überlegt hat und seine Rede doch nicht zu Protokoll gegeben hat, vielmehr jetzt sprechen will. ({1}) Viertens verwahre ich mich dagegen, dass Sie unsere Arbeit beurteilen und Vermutungen darüber anstellen, inwiefern wir im Wahlkreis tätig sind. Es verhält sich nämlich genau umgekehrt: Sie als eine große Fraktion können sich das scheinbar leisten. Bei der Behandlung des vorherigen Tagesordnungspunktes waren Sie angewiesen, Ihre Regierungsmehrheit zu sichern. Sie haben vorher gefragt, ob wir tatsächlich mit Ihnen stimmen. Denn von uns waren wesentlich mehr Abgeordnete da.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Höll, ich bitte Sie, eine Frage zu stellen.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Würden Sie mir Recht geben, dass es Ihnen nicht zusteht, zu bewerten, wie oft wir im Wahlkreis sind? Dadurch dass wir weniger Abgeordnete sind, wird jeder Einzelne von uns wahrscheinlich wesentlich häufiger zu Wahlkreisterminen gebeten. ({0}) Ich danke Ihnen. ({1})

Brigitte Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001282, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie können sich gern hinsetzen; kein Problem. ({0}) Zu Ihrer letzten Einschätzung: Ich habe es nicht bewertet, sondern habe etwas berichtet, was einfach so ist. ({1}) Ob das gut oder schlecht ist, habe ich nicht gesagt. Zu dem ersten Punkt, den Sie, Frau Dr. Höll, angeführt haben: Ich habe zu denen gehört, die gesagt haben: Ich bin nicht einverstanden damit, dass dann, wenn dieser Punkt von uns an das Ende der Tagesordnung gelegt wird, die Reden zu Protokoll gegeben werden sollen. Was ich nicht wusste, war, dass dieser Tagesordnungspunkt auf Ihren Wunsch mit der Begründung „Das Fernsehen ist dann da“ auf diesen Zeitpunkt gelegt worden ist. Ich sage Ihnen auch Folgendes: Wenn alle Kolleginnen und Kollegen nach dem Prinzip „Wir reden nur noch dann, wenn das Fernsehen da ist“ verfahren würden, dann wäre die Tagesordnung nicht mehr zu gestalten. ({2}) - Das haben wir nicht nötig, weil genügend Material von uns dazu vorliegt. Nun zum Thema. Der Vorschlag der PDS, das Asylbewerberleistungsgesetz abzuschaffen und die Leistungen aus der Sozialhilfe zu bezahlen, mag sympathisch klingen, ist aber - wie Sie wissen und wie wir wissen unrealistisch. ({3}) Die PDS weiß es und provoziert damit die Frage nach der Seriosität ihrer Absicht. ({4}) Knapp 4 Milliarden DM gaben 1999 die Länder für rund 429 000 Flüchtlinge aus, die für eine begrenzte Zeit hier leben. Übertrüge man diese Leistungen in die Sozialhilfe, wären es circa 20 Prozent mehr, also ungefähr 4,8 Milliarden DM, die nach dem Vorschlag der PDS vom Bund übernommen werden sollten. Die Fraktion weiß, dass weder der Bundeshaushalt noch der Haushalt der Bundesländer diese Mehrbelastung verkraften könnten, auf absehbare Zeit selbst dann nicht, wenn sich der seit 1996 abzeichnende Trend abnehmender Empfängerzahlen und Ausgaben fortsetzen sollte. ({5}) Waren es 1996 noch fast 490 000 Menschen, die Leistungen in Höhe von 5,45 Milliarden DM bezogen, sank die Anzahl der Empfänger 1999 um rund 61 000 und die Ausgaben um 1,5 Milliarden DM. Die Zahl der insgesamt bei uns lebenden Flüchtlinge ist seit 1993 kontinuierlich zurückgegangen. So auch die Zahl der Asylbewerber: Im Jahr 2000 haben wir 78 564 Personen in Deutschland gehabt, die Asyl beantragten. Das sind 17,4 Prozent weniger als 1999. Das ist der geringste Stand seit 1987. Auf die Einwohnerzahl der Länder bezogen, hat Berlin die höchsten Ausgaben zu verkraften. Bei den absoluten Ausgaben steht Nordrhein-Westfalen an der Spitze. ({6}) - Ich denke, dass es ganz wichtig ist, eine Vorstellung von den genauen Zahlen und auch von den bestehenden Problemen zu haben. Deutschland war bisher das Hauptzielland in Europa. Im ersten Halbjahr 2000 löste Großbritannien Deutschland ab. Setzt man hingegen die Zahl der Asylanträge in Relation zur Bevölkerungszahl, nimmt Deutschland unter 14 europäischen Ländern den zehnten Platz ein. ({7}) Von 1998 bis 1999 haben in Deutschland, in den Niederlanden und in Schweden die Asylbewerberzugänge in absoluten Zahlen abgenommen, in allen übrigen europäischen Staaten jedoch zugenommen. Der prozentuale Anteil an der Gesamtzahl aller in den Staaten gestellten Anträge sank jedoch 1999 in Dänemark, Deutschland, in den Niederlanden und der Schweiz. Sie werden jetzt vielleicht verstehen, dass ich einfach einmal darstellen wollte, zu welcher unterschiedlichen Entwicklung in den einzelnen europäischen Ländern es trotz sehr differenzierter sozialer Leistungen kommt. Man muss sich fragen, ob man die ab- oder zunehmende Zahl der Asylanträge von der Höhe des Geldbetrages für den einzelnen Asylbewerber abhängig machen kann. Offensichtlich nicht. Mit dem Ziel der Abschreckung wurden 1993 zwei Existenzminima etabliert. Das war damals sehr umstritten und das bleibt umstritten. Die Entscheidung fiel unter dem Druck hoher Asylbewerberzahlen und der damit wachsenden Belastung der Kommunen. Trotzdem, so meinen wir, bleibt sie problematisch. Leider hat sich aber die Belastung der Kommunen noch nicht so reduziert, dass wir eine Änderung mit Aussicht auf Erfolg herbeiführen könnten. Der im Bundesrat mit knapper Mehrheit abgelehnte Antrag Hessens, die im Verhältnis zur Sozialhilfe nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geringeren Leistungen nicht mehr auf drei Jahre zu begrenzen, sondern auf Dauer beizubehalten, macht den Widerstand deutlich. Das heißt, man wollte dauerhaft, also für die ganze Zeit, geringere Leistungen zahlen. Wir merken, dass die Bundesregierung mit dem Vorschlag, die monatlichen Grundleistungsbeträge zu erhöhen, nicht gerade offene Türen - dies gilt auch für die Länder - einrennt. Der monatliche Grundleistungsbetrag für den Haushaltsvorstand in Höhe von 360 DM ist seit Einführung des Gesetzes im Jahre 1993 unverändert geblieben. Von diesem Betrag muss der Bedarf an Ernährung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchsgütern des Haushalts bestritten werden. ({8}) Hierzu kommen 80 DM Taschengeld. Einen Ausgleich für Preissteigerungen hat es bisher nicht gegeben. Die Differenz zu den Sozialhilfeleistungen, die 1993 auf 20 Prozent festgelegt wurde, hat sich damit deutlich vergrößert. Eine Anhebung der Leistungssätze ist deshalb dringend notwendig. Ein Verordnungsentwurf des Bundesarbeitsministeriums liegt nun auf dem Tisch. Er befindet sich aber noch in der Abstimmung. Ich hoffe, dass diese bald abgeschlossen ist und die Erhöhung in Kraft treten kann. ({9}) Die Gewährung von Sachleistungen - etwa in Form von Essenspaketen oder in Form des Einkaufes mit Chipkarten in ausgewählten Läden - ist von vielen Seiten als entwürdigend kritisiert worden. Dem stimme ich zu. Eine Versorgung mit Essenspaketen ist nicht zumutbar und bei dezentraler Unterbringung, die möglich ist, überflüssig. Problematisch ist es auch, wenn Flüchtlinge durch diese Gutscheine gezwungen werden, in ausgewählten Läden zum Teil teurer als woanders einzukaufen. Es ist auch nicht mit der Würde des Menschen vereinbar, Leute in dieser Weise zu degradieren. Dies ist auch nicht notwendig. Ich begrüße es deshalb, dass viele Städte und Kreise inzwischen wieder von der Sach- zur Geldleistung übergegangen sind. In Berlin macht man dies übrigens nicht. Aber daran, dass die genannten Probleme in anderen Ländern nicht auftreten, können Sie sehen, dass dies nicht an dem Leistungsgesetz selber, sondern an der Handhabung durch die Länder liegt. Ich hoffe, dass die anderen Länder hier nachziehen. Das Gesetz lässt ihnen diesen Spielraum. Sie können Geldleistungen gewähren und damit den Leistungsempfängern eine größere Selbstbestimmung ermöglichen. Außerdem ist dies nach Erfahrung der Kommunen das kostengünstigere Verfahren. ({10}) Probleme bereitet die medizinische Versorgung. Schon bei der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 war die Beschränkung der medizinischen Behandlung auf akute Erkrankungen und Schmerzzustände ein wesentlicher Kritikpunkt vor allen Dingen der Ärzte, die einen anderen Eid geschworen haben als den, nicht zu behandeln. Arznei- und Verbandmittel sowie sonstige zur Genesung, zur Besserung oder Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderliche Leistungen sind zu gewähren. Es besteht ein Rechtsanspruch auf Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen. Dennoch führt die Regelung im Asylbewerberleistungsgesetz in der Praxis oft dazu, dass chronisch Kranken die Behandlung versagt wird oder zunächst vor Gericht geklärt werden muss, ob eine Leistung zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich ist, obwohl die Verweigerung von Leistungen bei chronischen Erkrankungen durch den Gesetzeswortlaut in der Regel nicht gedeckt ist. Grundsätzlich haben Flüchtlinge wie jeder andere das Recht auf eine angemessene gesundheitliche Versorgung. Ich glaube, dass müssen wir noch eindeutiger regeln. ({11}) Eine entscheidende Verbesserung der Lebenssituation erwarten wir von der Aufhebung des Arbeitsverbots, das die Vorgängerregierung zu verantworten hat. ({12}) Zu Jahresbeginn wurde es per Rechtsverordnung aufgehoben. Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge haben nun nach einer Wartezeit von 12 Monaten Zugang zum Arbeitsmarkt. ({13}) Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge können ohne Wartezeit erwerbstätig sein. Als Voraussetzung für die Gewährung einer Arbeitserlaubnis wird geprüft, ob kein deutscher Arbeitnehmer und kein Arbeitnehmer aus der EU für den Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Traumatisierte Flüchtlinge erhalten eine Arbeitserlaubnis ohne eine solche Vorrangprüfung. Diese sinnvolle, bisher nur für Bosnier geltende Regelung wurde auf traumatisierte Flüchtlinge unabhängig von ihrem Herkunftsland ausgeweitet. Damit bekommen Asylbewerber, Geduldete und Bürgerkriegsflüchtlinge die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Auf diesem Weg der Verbesserungen wollen wir weitergehen und wenn es nicht anders durchsetzbar ist, auch in kleinsten Schritten. Sozialpolitiker haben nie Probleme damit, etwas zu verbessern. Aber Sozialpolitiker können sich auch nicht den Himmel blau malen, sondern müssen mit dem umgehen, was vorhanden ist. Sie dürfen nur nicht in ihrem Bemühen nachlassen. Aber radikale Forderungen haben noch nie weitergeführt. ({14}) Im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern liegen wir mit unseren Sozialleistungen weder so schlecht, dass wir in Panik verfallen müssten, ({15}) noch für unser Selbstverständnis so gut, dass nichts zu verbessern wäre: ({16}) im Leistungsrecht, aber auch im Ausländerrecht, das immer undurchschaubarer geregelt worden ist. Ein Sozialrecht kann klare Regelungen im Ausländerrecht nicht ersetzen. Ergänzend brauchen wir verständliche und handhabbare Regelungen, die Möglichkeiten der Zuwanderung außerhalb des Asylrechts eröffnen. Die Zuwanderungskommission wird hierzu Vorschläge machen. Unabdingbare Voraussetzung für alle Vorhaben ist, dass wir so viele Menschen wie möglich in unserem Land auf diesem Weg mitnehmen und begleiten können. Es wäre erfreulich, wenn es uns allen gemeinsam, abseits vom Wahlkampfgetöse, mit Herz und Verstand, gelingen könnte. Danke. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Karl-Josef Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Jahre 1993 hat der Deutsche Bundestag das jetzige Asylbewerberleistungsgesetz beschlossen. Es war im Grunde ein Teil des Asylkompromisses aus dem Jahre 1992, ({0}) bei dem wir uns darauf verständigt haben, in einem eigenen, aus der Sozialhilfe ausgegliederten Leistungsgesetz Asylbewerbern, die keinen dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, eine gegenüber der Sozialhilfe abgesenkte Unterstützung zukommen zu lassen. Aus damaliger Sicht - die Gründe gelten heute auch noch - war das deswegen notwendig, weil wir die Attraktivität Deutschlands für politisch oder religiös nicht verfolgte Menschen ein Stück weit abschwächen wollten. Ein weiterer Grund war - und auch diesen Grund gibt es heute noch -, dass in den Ländern, aus denen Menschen gern flüchten möchten und Hoffnungen damit verbinden, in Europa oder speziell in Deutschland leben zu können, unsägliche Schlepperorganisationen tätig sind, die den Menschen die Möglichkeit eröffnen, nach Deutschland zu kommen, und anschließend die Sozialhilfe, die sie erhalten, abzocken, um damit schließlich die Kosten für neuen Menschenhandel zu finanzieren. ({1}) Ein Großteil der Unterstützungsleistungen, die wir an Asylbewerber ausgezahlt haben, ist am Ende in die Hände dieser kriminellen Banden gelangt. ({2}) So habe ich - ich bin seit vielen Jahren kommunalpolitisch tätig - oft gedacht: Warum sind diese Unterstützungen eigentlich nicht bei den Kindern der Asylbewerber angekommen, sondern in ganz anderen Kanälen gelandet? Auch aus diesen Gedanken heraus ist das Prinzip der Sachleistungen entwickelt worden: weil diese Banden eben auf diese Sachleistungen keinen Zugriff haben. ({3}) Deswegen bin ich durchaus der Meinung, dass der Vorrang von Sachleistungen vor Geldleistungen seine Begründung haben kann. Ein weiterer Bereich im Asylbewerberleistungsgesetz ist die Einschränkung der Krankenbehandlung auf das medizinisch Notwendige und Unumgängliche. Auf der anderen Seite muss man auch sehen, dass damit nicht nur akute Schmerzbehandlungen gemeint sind. Sie wissen, dass Schwangere, Mütter und Kinder alle Leistungen, die zu diesem Bereich gehören, in vollem Umfang erhalten. Ich glaube auch, dass die örtlichen Sozialämter und die örtlichen Ärzte ganz gut und verantwortungsbewusst mit dieser Einschränkung umgehen können. Aber ich sehe auch nicht ein, dass über die Steuergelder unserer Bürgerinnen und Bürger ein Mensch, der vorübergehend in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist und für den sehr oft die Tatbestände des Asylrechts nicht zutreffen - nach wie vor sind die Ablehnungsquoten nach den Verfahren relativ hoch -, hier eine vollständige Zahnersatzbehandlung bekommt, für die andere Menschen in Deutschland 10 000 DM oder mehr auf den Tisch legen müssen. ({4}) Ich finde, dass diese Eingrenzungen verantwortbar sind und dass sie nichts Inhumanes an sich haben. Zurzeit erfahre ich - das mag Rot-Grün nicht gern hören -, dass viele Ärzte im Übrigen viel lieber Sozialhilfeempfänger behandeln als gesetzlich Versicherte, weil die Leistungen für Sozialhilfebewerber nicht, aber die Leistungen für die gesetzlich Versicherten sehr wohl im Budget sind. Also meine ich, dass wir diesen Bereich weiterhin gut verantworten können. Man sollte als letzten Punkt nicht vergessen, dass für Menschen, die noch kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, auch keine Integrationsleistungen bezahlt werden. Der Integration müssen wir uns erst dann stellen, wenn feststeht, dass diese Menschen ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht bei uns haben. Deswegen würden wir, so finde ich, Asylbewerbern viel mehr helfen, wenn wir den Zeitraum, in dem wir feststellen, ob sie dauerhaft in der Bundesrepublik Deutschland bleiben können, wesentlich verkürzen könnten. ({5}) Es liegt nicht nur an unseren Behörden, sondern auch daran, dass in der Praxis viele Menschen, die zu uns kommen, diese Verfahren aufhalten, indem sie alles tun, damit ihre Identität möglichst lange für unsere Behörden nicht nachvollziehbar bleibt. Wir würden für die Asylbewerber am meisten erreichen, wenn wir diese Verfahren beschleunigen. Dann könnten sie früher höhere Sozialleistungen sowie Integrationsleistungen beziehen, bei uns arbeiten und damit selber für ihren Lebensunterhalt sorgen und sich in Deutschland frei bewegen. Die Position der Union bleibt in der Asylpolitik dieselbe, wie sie seit vielen Jahren ist und wie sie sich aus unserem Menschenbild heraus darstellt: Wir haben vor jedem Menschen Respekt. Jeden Menschen muss man vernünftig behandeln, egal welche Hautfarbe er hat, welcher Religion er angehört oder welche politische Überzeugung er vertritt. Jeder Mensch soll hier ein normales Leben führen können. Aber wir müssen diejenigen, die ohne Notwendigkeit zu uns kommen, in ihre Heimatländer zurückführen, um letzten Endes für die Integration wirklich verfolgter Menschen eine positive Stimmung in unserem Land zu erhalten. Wenn wir über die Integration von politisch Verfolgten hinaus in der Bundesrepublik Deutschland Einwanderung haben wollen, dann ist das Asylgesetz dafür das falsche Gesetz. Dafür muss man andere Kriterien zugrunde legen. ({6}) Diese müssen sich danach richten, was unser Arbeitsmarkt an Zuwanderung braucht. Diese dürfen aber nicht mit den Problemen, die mit dem Asylgesetz zusammenhängen, wie der Verschleierung der Identität, verbunden werden. Deswegen steht meine Partei nach wie vor zu dem Asylbewerberleistungsgesetz, wie es damals von uns mitentwickelt worden ist und das ein Bestandteil des Asylkompromisses von 1992 im Deutschen Bundestag war. Ich glaube, wir sind gut beraten, daran festzuhalten. Schönen Dank. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Marieluise Beck.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Laumann, wenn Sie die Geschichte bemühen, erzählen Sie bitte die ganze Wahrheit. Ein Teil des Asylkompromisses war zwar das Asylbewerberleistungsgesetz, aber ein anderer Teil war die Festlegung im Asylverfahrensgesetz, dass den Asylbewerbern nach drei Monaten der Arbeitsmarkt offen stehen sollte. Von diesem Teil des Asylkompromisses haben Sie sich mit dem Clever-Erlass verabschiedet. Sie haben also mit dieser Überschreitung der gesetzlich eigentlich vorgesehenen Vorgabe das, was nach dem Asylkompromiss möglich sein sollte - dass sich auch ein Asylbewerber um Arbeit bemüht -, zunichte gemacht. Ich möchte Sie bitten, dies auch zu nennen. ({0}) Sie haben die Verfahrensdauer angesprochen. Ich teile Ihre Auffassung, dass wir vor allen Dingen genau hinschauen sollten, wer auf Dauer hier ist, also integriert werden und damit Zugang zum Arbeitsmarkt und allen Sozialleistungen haben sollte, und wer nicht. Aber der Eindruck, der in der politischen Debatte im Augenblick immer erweckt wird, die Verfahren seien so unendlich lang, ist falsch. Die Verfahren beim Bundesamt für Flüchtlinge dauern im Schnitt nicht länger als sechs Monate. Das Problem liegt bei den Verwaltungsgerichten. Das allerdings ist Ländersache. Wenn es Länder gibt, bei denen die Verfahren im Schnitt 29 Monate dauern, weil die Verwaltungsgerichte nicht ausreichend mit Richtern bestückt sind, dann ist das ein Problem, das sich die Justizminister der Länder zu Herzen nehmen müssen. Das ist aber keine Frage des Verfahrens. Auch das sollten Sie sich noch einmal genau anschauen. ({1}) Nun zum Thema von heute. Es gibt Anträge der Opposition, denen man ihre Berechtigung kaum absprechen kann. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es in der Frage der Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes beim Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen Differenzen gab. Wir wissen aber, dass wir für eine Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes keine parlamentarische Mehrheit haben und dafür auch im Bundesrat keine Mehrheit finden. Insofern agieren wir in einem ersten Schritt sehr vorsichtig und versuchen, die lange überfällige Anhebung der Sätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, bei dem sieben Jahre lang nichts passiert ist, voranzutreiben. Es liegt jetzt ein Referentenentwurf vor; er ist an die Länder verschickt. Ich hoffe, dass wir auch die Rückwirkung zum Januar 2001 hinbekommen. Das wäre dann ein winzig kleiner Schritt nach vorne. Es gibt immer zwei Fronten, an denen wir kämpfen. Das ist von der Kollegin Lange schon angesprochen worden. Es gibt von den Ländern Druck, die Bedingungen sogar noch zu verschlechtern. Eine große Auseinandersetzung wurde um die Frage geführt, ob der Dreijahreszeitraum, nach dem die Asylbewerber regulär Sozialhilfe bekommen, gestrichen werden könnte. Wir waren froh, dass wir mit der rot-grünen Ländermehrheit diesen Angriff abwehren konnten. Oftmals besteht ja der Erfolg der Mühsal darin, Verschlechterungen abgewehrt zu haben. Dies ist uns im letzten Jahr gelungen. Für mich ist der zentrale Punkt, dass wir jenseits der Frage der Abschaffung oder Beibehaltung des Asylbewerberleistungsgesetzes Öffnungen herbeiführen, die Flüchtlingen die Chance bieten, überhaupt aus dem Geltungsbereich dieses Gesetzes herauszukommen. Dazu gehören die Lockerung des Arbeitsverbots - das ist nicht einfach und hart umkämpft - und die Erweiterung des Rechtes für Traumatisierte, Zugang zum Arbeitsmarkt zu haben. Ein solches Recht bestand bisher nur für traumatisierte Bosnier und soll jetzt für traumatisierte Menschen aus allen Ländern gelten. Dazu gehört auch die Altfallregelung und ein gewisses Drücken und Schieben, damit bei der Umsetzung durch die Länder möglichst alle Spielräume genutzt werden, damit so viele Menschen wie möglich ihre Existenz mit eigener Hände Arbeit sichern können. Insgesamt gehört dazu eine Neuformulierung der Integrationspolitik, die die Frage klärt, wer vorübergehend und wer auf Dauer hier ist. Die große Auseinandersetzung um § 53 Ausländergesetz müssen wir politisch angehen. Dabei geht es darum, dass Flüchtlinge, denen aufgrund der Europäischen Menschenrechtskonvention Schutz gewährt werden muss, die in der Regel auf Dauer hier bleiben, ausländerrechtlich aber trotzdem nur die Duldung bekommen und ihnen damit der Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Ausbildungsgängen weitgehend versperrt ist. Ich hoffe hier auf Unterstützung durch die Zuwanderungskommission. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom August hat uns da heftig auf die Finger geklopft. Die Strategie, die wir politisch verfolgen, geht also in Richtung Vereinheitlichung des Flüchtlingsstatus für diejenigen, die nach Art. 16 a des Grundgesetzes sowie §§ 51 und 53 Ausländergesetz als schutzwürdig und daher auf Dauer hier lebend angesehen werden müssen. Wenn wir diese Perspektive verfolgen und sie mit der Öffnung des Arbeitsmarkts und anderen sozialen Zugängen zur Gesellschaft verknüpfen, minimieren wir das Problem des Asylbewerberleistungsgesetzes, auch wenn wir es damit nicht beseitigen. Ich habe Ihnen das dargestellt, damit Sie sehen, entlang welcher Vorstellungen und Paradigmen wir unsere Schritte setzen. Man muss sich ja politisch weiterbewegen, auch wenn man nicht ganz durchsetzen kann, was man sich sonst wünscht. Schönen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Art. 1 unseres Grundgesetzes besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ ({0}) Dies gilt für alle Menschen, die sich in unserem Land aufhalten, egal ob Deutsche oder Nichtdeutsche. Darin sind wir uns alle hier einig. ({1}) Alle Gesetze und Regelungen müssen sich an diesem Grundsatz messen lassen. Man kann wohl so weit gehen und sagen, dass dies auch für unsere Gesetze insgesamt zutrifft, also auch, meine Damen und Herren, für das Asylbewerberleistungsgesetz. Der für ein menschenwürdiges Leben notwendige Grundbedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege sowie Haushaltsgegenständen ist gewährleistet. Von einer Kürzung auf null kann daher nicht die Rede sein. Dass die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geringer als die Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz ausfallen, hat aber gute Gründe. Herr Kollege Laumann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass durch die Verringerung materieller Anreize die bei Verabschiedung des Gesetzes im Jahre 1993 das Land überflutende Welle der Asylbewerber etwas eingedämmt werden sollte. Darin war man sich in diesem Hause im Großen und Ganzen auch einig. Dass sich die Situation nun völlig geändert haben soll, vermag zumindest ich nicht zu erkennen. Nach den neuesten Meldungen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge wurden für Januar 2001 7 583 Anträge gestellt. Das sind 27 Prozent mehr als im Dezember 2000 und knapp 15 Prozent mehr als im Januar letzten Jahres. Die im Gesetz vorgesehenen weiteren Absenkungen betreffen unseres Erachtens zu Recht nur solche Menschen, die unser Sozialsystem missbrauchen, indem sie sich einer bestehenden Leistungspflicht beispielsweise dadurch entziehen, dass sie ihre Identität leugnen oder ihre Papiere bewusst vernichten. Aber auch diesen Menschen werden die Leistungen nicht auf null gekürzt. Der Staat stellt auf jeden Fall das Existenzminimum sicher. Es ist im Übrigen besonders der F.D.P. zu verdanken, dass bei der letzten Novelle des Asylbewerberleistungsgesetzes im Jahre 1998 nach langwierigen und schwierigen Verhandlungen der jetzige Gesetzestext verabschiedet werden konnte und die vom Bundesrat angeregten restriktiveren Regelungen verhindert werden konnten. Das betraf damals besonders Kriegsflüchtlinge und geduldete Ausländer. Ich möchte nicht bestreiten, dass es bei der Umsetzung dieses Gesetzes die eine oder andere Unzulänglichkeit gegeben hat und auch heute noch gibt. Auch ich habe von Lebensmittelunverträglichkeiten, besonders bei kleinen Kindern, gehört. Diese Fälle müssen natürlich dringend überprüft werden. Wir sträuben uns nicht gänzlich dagegen, zu prüfen, ob das Sachleistungsprinzip, zumindest teilweise, gelockert werden kann. Im Wesentlichen ließen sich die Probleme, die meist mit der Umsetzung des Gesetzes auf Länderebene zu tun haben, durch eine wesentlich geringere Dauer des Marieluise Beck ({2}) Asylverfahrens und insbesondere durch eine sofortige Erlaubnis zur Arbeitsaufnahme für Asylbewerber vom ersten Tag des Aufenthalts an nahezu ausschließlich lösen. In diesem Zusammenhang will ich Ihnen, Frau Beck, sagen: Die F.D.P. hat sich schon seit langem dafür eingesetzt, dass auch Asylbewerber eine Arbeitserlaubnis erhalten. Es ist nicht einzusehen, warum Asylbewerber nicht in die Lage versetzt werden sollen, ihren Bedarf durch eigenen Verdienst oder Hinzuverdienst zu decken, um nicht an dem Tropf der Sozialleistungen hängen zu müssen. In der Tat stellt sich die Frage, ob ein solches Vorgehen mit der Menschenwürde zu vereinbaren ist. Die Regierung - das muss ich leider feststellen - hat das nur zum Teil eingesehen. Sie hat zwar das seit 1997 geltende generelle Arbeitsverbot für Asylbewerber gelockert, aber es gilt immer noch eine zwölfmonatige so genannte Wartefrist. Die muss endlich weg. ({3}) Das wäre der richtige Ansatz, Asylbewerbern, die sich hier legal aufhalten, wirklich zu helfen und Ihnen einen menschenwürdigen Aufenthalt zu ermöglichen. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Als letzte Rednerin in dieser Debatte spricht die Kollegin Pia Maier für die PDSFraktion.

Pia Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003449, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Trotz der ungewöhnlichen Eröffnung der Debatte möchte ich an meinem ursprünglichen Plan festhalten und Ihnen über die aktuelle Situation einer zwanzigjährigen schwangeren Frau berichten, die in Berlin in dem Flüchtlingsheim in der Fürstenwalder Allee untergebracht ist. Ich denke, niemand wird bestreiten, dass eine schwangere Frau ärztliche Versorgung - erst recht, wenn sie eine Fehlgeburt hatte - benötigt. ({0}) - Sie bekommt keine ärztliche Versorgung. Das Bezirksamt Wedding verweigert ihr die Ausstellung eines Krankenscheins und damit jegliche ärztliche Betreuung. Auch wenn Sie, Herr Laumann, den Kopf schütteln und auch Sie, Herr Kolb, sich bisher nicht mit der Realität in Berlin auseinander gesetzt haben, sind solche Fälle möglich und durch die Umsetzung des Asylbewerberleistungsgesetzes in den Ländern gedeckt. Das hat mit Menschenwürde nichts mehr zu tun. Auch Sie, Frau Lange, kennen solche Fälle. Ich weiß, dass der Text des Asylbewerberleistungsgesetzes, wenn man sich ihn durchliest, noch sehr freundlich klingt. Aber in Berlin wird der Passus „unabweisbare Leistungen“ im Zweifelsfall dahin gehend interpretiert, dass darunter nur das Rückflugticket und das Reisegeld verstanden werden. Wenn die betroffenen Menschen die Rückreise nicht antreten, müssen sie sich wohl als Obdachlose irgendwie am Leben erhalten, bekommen aber keinerlei Leistungen mehr. Das ist leider bittere Realität. Mir ist durchaus bewusst, dass die Praxis in den Ländern unterschiedlich gehandhabt wird. Aber das Asylbewerberleistungsgesetz bietet den Ländern die Möglichkeit, in der geschilderten Weise zu verfahren. ({1}) Solange das so ist, ist die Menschenwürde in diesem Lande leider sehr gefährdet. ({2}) Auch wenn nur einige Länder so verfahren, kann das nicht als Maßstab gelten. Das Asylbewerberleistungsgesetz ermöglicht dieses Verfahren. Man kann sich selbst gegenüber nur ehrlich sein, wenn man zugibt, dass die Menschenwürde allein durch eine Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes gerettet werden kann. Frau Lange, Sie haben bis vor drei Jahren in Marburg immer die Auffassung vertreten, das Asylbewerberleistungsgesetz müsse abgeschafft werden. ({3}) Sie haben in Ihrer heutigen Rede viele gute Gründe dafür genannt, warum dieses Gesetz die Würde eines Menschen verletzt, sind aber am Ende zu dem Schluss gekommen: Abschaffen können wir es leider nicht, weil - dieses Argument klingt mir noch in den Ohren - die Kommunalfinanzen das leider nicht hergeben und sich die Länder deswegen weigern. ({4}) Frau Beck hat die politischen Zwänge, in denen Sie sich hier befinden, wesentlich klarer und differenzierter dargestellt. Dafür bin ich ihr auch sehr dankbar. Ich sehe durchaus, dass Sie sich bemühen. Aber Sie haben hier einen Zusammenhang hergestellt, indem Sie sagten: Ich würde ja gerne das Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen, wenn es die Kommunalfinanzen zuließen. Sie haben die Möglichkeit, die Kommunalfinanzen entsprechend zu ändern und damit die Voraussetzungen für eine Zustimmung der Länder zu schaffen. ({5}) Den Einwand kann ich als Argument gegen ein solch unwürdiges Gesetz wirklich nicht gelten lassen. Sie waren so freundlich, die Regelsätze und die unterschiedlichen Existenzminima schon zu benennen, die beweisen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz ein diskriminierendes Sondergesetz ist. Es schafft Menschenwürde auf Rabatt. In Berlin wird es wirklich restriktiv ausgelegt. Sie kennen die Meldungen, die von den hiesigen Verbänden dazu veröffentlicht werden. Ich habe keinen Grund, an diesen Zuständen zu zweifeln.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Maier, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage der Abgeordneten Beck.

Pia Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003449, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, helfen Sie mir doch bitte einmal mit meinem Gedächtnis - ich weiß es jetzt nicht genau -: Gibt es eigentlich aus dem rot-rot regierten Land Mecklenburg-Vorpommern eine Bundesratsinitiative, das Asylbewerberleistungsgesetz zu streichen?

Pia Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003449, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Nein, soweit ich weiß, nicht. Auch Mecklenburg-Vorpommern mit einer rot-roten Regierung konnte sich dazu bislang nicht durchringen. An dieser Entscheidung sind aber sicherlich beide Koalitionspartner beteiligt. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssen dann bitte zum Schluss kommen.

Pia Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003449, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluss. Ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, dass im November hier in Berlin über 100 000 Menschen auf der Straße waren, um für Toleranz und Menschlichkeit zu demonstrieren. Auch viele Mitglieder dieses Hauses waren bei dieser Demonstration, die sich gegen die aktuellen Ausschreitungen richtete, anwesend. Mit der Kriminalisierung, die das Asylbewerberleistungsgesetz vorantreibt, schaffen Sie weitere Argumente für die Menschen, gegen Ausländer und für rassistische Diskriminierung zu sein. Die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes, das heißt deutliche Schritte in diese Richtung wären sicherlich ein Zeichen, das wirksamer wäre als 100 000 Menschen auf der Straße, die Sie offensichtlich alle schon wieder vergessen haben. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes, Drucksache 14/4695. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3381 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 14. Februar 2001, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.