Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht,
({0})
aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich gehöre zu den Menschen - davon gibt es in der Bundesrepublik Deutschland
viele -, die sowohl den Aussagen der alten als auch der
neuen Bundesregierung geglaubt und darauf vertraut haben, dass Deutschland BSE-frei ist. Ich habe das als Politikerin und als Verbraucherin getan. Deshalb war für mich
wie für viele andere der 24. November ein Tag, der mich
schockierte. Es war ein Schock, weil der erste BSE-Fall
uns alle, wenn wir ehrlich sind, plötzlich und unvorbereitet getroffen hat. Der 24. November hat uns damit auf den
Boden der Tatsachen zurückgebracht.
Ich sage deshalb auch: Wenn wir als Politiker in der
Vergangenheit Fehler gemacht haben und Dinge, die wir
vielleicht hätten tun müssen, nicht getan haben, dann sollten wir - ich spreche dabei für meine Partei und richte
mich an die Bundesregierung - wenigstens heute das
Richtige tun und den ersten BSE-Fall als die letzte Warnung an uns wahrnehmen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich weiche politischem
Streit nicht aus, manchmal bin ich sogar böse, wenn er in
diesem Hause verhindert werden soll, wie das zum Beispiel bei der Debatte um die deutsche Einheit der Fall war.
({2})
Bei der Frage nach der Ursache und der Bekämpfung
von BSE ist es richtig, dass die Menschen von uns erwarten, dass wir dieses Thema nicht zum parteipolitischen
oder ideologischen Streit benutzen und dass wir nicht
besserwisserisch - obwohl wir es nicht besser wissen übereinander herfallen. Wir müssen uns stattdessen alle
Mühe geben, das Problem in den Griff zu bekommen, und
zwar so schnell wie möglich.
({3})
Es war für mich schon recht bitter, dass Bundeskanzler
Schröder, der noch vor wenigen Wochen die Currywurst
als das Zeichen der Volksverbundenheit verstanden hat,
({4})
der selbstverständlich zu Holzmann und seinen Arbeitern
gelaufen ist, als es dort Schwierigkeiten gab, und zwar zusammen mit der Interessenvertretung der Bauarbeiter, mit
der zuständigen Gewerkschaft, angesichts des ersten
BSE-Falls die Bauern zu Sündenböcken gemacht, die
Vertretung der Bauern beschimpft und anschließend von
„Agrarfabriken“ gesprochen hat.
({5})
Herr Bundeskanzler, wir haben uns dann - leider vergeblich - die Mühe gemacht, herauszufinden, was eine
„Agrarfabrik“ ist. Auch eine Anfrage bei der Bundesregierung hat nicht geholfen. Uns wurde in der Antwort der
Bundesregierung vom 17. Januar 2001 gesagt:
Da eine Definition industriell geführter landwirtschaftlicher Betriebe nicht existiert, können hierzu
keine Daten erhoben werden.
So ist das, Herr Bundeskanzler, mit den Agrarfabriken!
({6})
Deshalb stelle ich fest: Streichen Sie dieses Wort! Denn es
bringt nichts im Zusammenhang mit der Bekämpfung von
BSE.
({7})
Es hat keinen Sinn, so zu tun, als ob die Bauern Täter
seien. Die Bauern sind in ihrer großen Mehrzahl Opfer.
Dies sind sie im Übrigen - wie viele andere Menschen
auch - ebenso als Verbraucher. Deshalb müssen wir uns
als Erstes überlegen: Wie können wir BSE als Krankheit
bekämpfen? - Ich sage: Wir brauchen eine intensivere
Forschung. Bitter ist, dass die Bundesregierung im Jahre
1999 die Prionenforschung eingestellt hat.
({8})
Ich bin sehr dankbar, dass sie sie wieder hat aufleben lassen. Denn das beruht auf einer besseren Einsicht und die
benötigen wir.
({9})
Bundesministerin Renate Künast
Wir brauchen eine internationale Vernetzung. Wir brauchen aus unserer Sicht eine internationale Forschungskonferenz. Wir brauchen auf Bundesebene einen wissenschaftlichen Beirat, der koordiniert, und wir brauchen
selbstverständlich Regelungen auf europäischer Ebene.
Meine Damen und Herren, wenn wir über Solidaritätsfonds und Unterstützungen sprechen, geht es ja nicht nur
um die Landwirte, sondern auch um 40 000 Arbeitsplätze
in der Nahrungsmittel- und Ernährungsindustrie, um das
Schicksal von Banken, Sparkassen, Volksbanken und
Raiffeisenbanken sowie um den ländlichen Raum und
seine Zukunft an sich. Darum haben wir uns zu kümmern.
({10})
Frau Künast, selbstverständlich brauchen wir eine gläserne Produktionskette. Auch wir unterstützen die Entwicklung von Qualitätssiegeln. Wir brauchen eine Verschärfung der Produkthaftung, damit diejenigen, die an
den Gesetzen vorbeiarbeiten, auch wirklich dingfest gemacht werden.
({11})
Wir brauchen natürlich vermehrt Klarheit darüber - auch
das ist in der Vergangenheit nicht ausreichend gelungen -,
was in den Futtermitteln ist, also eine Deklarationspflicht
und eine Positivliste über das, was in die Futtermittel
hineingehört. Das ist gar keine Frage.
({12})
Aber wir sollten den Menschen auch ehrlich sagen,
was wir können und was wir noch nicht wissen. Das
gehört ebenso zur Wahrheit und Klarheit. Auch wenn Sie,
Frau Künast, gestern gesagt haben, die Kuh sei umzingelt,
so ist das Prion in seiner Wirkungsweise eben immer noch
nicht erkannt. Deshalb sollten wir alles tun, was möglich
ist, aber den Menschen ansonsten keine falschen Versprechungen machen.
({13})
Auch ich sage: Das Auftreten von BSE in der Bundesrepublik Deutschland ist Anlass, die Zukunft der Landwirtschaft insgesamt zu betrachten. Der 24. November
2000 war in dieser Hinsicht sicherlich eine Zäsur. Aber,
Frau Künast, es geht nicht um 20 Prozent der Landwirtschaft und ausschließlich um den ökologischen Landbau,
sondern um 100 Prozent der Landwirtschaft und deren
Zukunft.
({14})
Wir sollten ehrlich miteinander sein und politische
Maßnahmen nicht aus Selbstzweck oder irgendwelchen
ideologischen Gründen treffen. Wir sollten vielmehr das
tun, was angebracht ist, und zwar weder in blindem Aktionismus und hektischer Betriebsamkeit noch dadurch,
dass wir uns in eine Wagenburg zurückziehen und einfach
nicht weiterdenken.
Die CDU/CSU will den Erhalt der ländlichen
Räume. 50 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland leben in ländlichen Räumen.
Wir wollen nicht nur die Entwicklung der städtischen Ballungsgebiete, sondern auch die Zukunft der ländlichen
Räume sichern.
({15})
CDU und CSU wollen unsere bäuerliche Landwirtschaft in allen Betriebsformen, in den Familienbetrieben
ebenso wie in den Agrargenossenschaften, erhalten. Wir
wollen, dass unsere Ernährungs- und Nahrungsmittelindustrie in Deutschland weiter in der Lage ist, Exporteur
von Nahrungsmitteln zu sein. Wir wollen eine gesunde
Nahrungsmittelproduktion. Denn gerade die Menschen in
den Städten sind darauf angewiesen, auch außerhalb ihres
eigenen Zuhauses auf gesunde Nahrung vertrauen zu können. Das ist unsere politische Aufgabe.
Deshalb bin ich der Verbraucher- und Landwirtschaftsministerin auch dafür dankbar, dass sie manches, was am
Anfang sehr pauschal dargestellt wurde, heute etwas differenzierter dargestellt hat. Aber ich sage auch, liebe Frau
Künast: Wir fangen doch nicht bei null an.
({16})
Sie wissen doch, dass beispielsweise schon in Agrarverhandlungen im Jahre 1992 und auch bei der Agenda 2000
ein Stück weit mit der Überproduktion Schluss gemacht
wurde.
({17})
Es gibt doch heute nicht deshalb Überschüsse, weil eine
Überschussproduktion in der EU verordnet wird, sondern
weil sich das Verbraucherverhalten abrupt verändert hat.
Sagen Sie doch den Menschen, dass man Kühe nicht so
schnell „abstellen“ kann, wie man den Verzehr von Rindfleisch abstellen kann.
({18})
Sagen Sie den Menschen auch, dass die Höhe der Milchproduktion etwas mit der Zahl der Kälber zu tun hat, die
in Deutschland geboren werden. Das gehört zur Wahrheit
und Klarheit dazu.
({19})
Wenn in diesen Tagen so viel von „Wende“ die Rede
ist, dann muss ich Sie ganz einfach darauf hinweisen, dass
es sich im Wesentlichen um eine Wende Ihrer eigenen
Agrarpolitik handelt.
({20})
- Ja, ich muss das ganz klar sagen.
Als der Herr Bundeskanzler 1999 auf dem Kongress
des Bauernverbandes in Cottbus war, hat er dem staunenden Publikum gesagt:
Die teilweise Absenkung der Agrarpreise in der
Agenda 2000
({21})
ist ein Erfolg, weil jeder sich im Klaren sein musste,
dass wir näher an die Preise des Weltmarktes heran
müssen.
Das waren die Aussagen des Bundeskanzlers damals.
({22})
Genau aus diesem Grunde hat EU-Kommissar Fischler
am 12. Dezember im „Handelsblatt“ dieser rot-grünen
Bundesregierung ins Stammbuch geschrieben:
Es war die heutige rot-grüne Regierung, die im letzten Jahr auf dem Berliner EU-Gipfel die von der
Kommission gewünschten Akzente abgelehnt hat.
({23})
Ich sage das, damit keine Märchen verbreitet werden.
Was Sie in Ihrer Regierungszeit bislang gemacht haben, das ist im Wesentlichen, die Bauern zusätzlich zu
dem Preisdruck, dem sie unterworfen sind, noch stärker
zu belasten.
({24})
Die ganze Sache hat, nachdem Sie schon Belastungen in
Höhe von 2 Milliarden DM auf die Bauern abgewälzt haben, gestern ihren Höhepunkt erfahren, als Sie nämlich im
Haushaltsausschuss beschlossen haben, dass die schon
vereinbarte Absenkung der Steuer auf den Agrardiesel
auf 47 Pfennig rückgängig gemacht und sie wieder erhöht
wird.
({25})
Sie müssen doch einmal bedenken: Der französische
Bauer hat eine Belastung von 11 Pfennig pro Liter Agrardiesel; der deutsche hatte bis jetzt eine Belastung von
47 Pfennig. Ab jetzt hat er wieder eine von 57 Pfennig,
wenn es nach Ihnen geht. Angesichts dessen können Sie
doch nicht erwarten, dass die Bauern überhaupt den Spielraum dafür haben, das zu leisten, was Sie von ihnen erwarten.
({26})
Deshalb: Auch wir sagen, wir brauchen ein Umdenken;
wir brauchen neues Denken.
({27})
Aber neues Denken heißt, dem Verbraucher Sicherheit
und den ländlichen Räumen eine Zukunft zu geben. Beides zusammen muss geleistet werden.
({28})
Das heißt, dass wir einer von den Bauern getragenen
nachhaltigen Landwirtschaft eine Perspektive geben, dass
wir hochwertige Nahrungsmittel produzieren, dass wir
die Konflikte, die es zwischen Naturschutz, Tourismus,
Flächenverbrauch und Landwirtschaft natürlich gibt, vernünftig zum Ausgleich bringen, dass die standortangepasste Landnutzung und - das betone ich - die artgerechte Tierhaltung eine Zukunft haben müssen - hier ist
sicherlich vieles zu tun - und dass die land- und forstwirtschaftliche Nutzung als wesentliche Grundlage der
wirtschaftlichen Entwicklung des ländlichen Raums erhalten bleibt. Die Landwirte sorgen für unsere Kulturlandschaft, die für alle Bürgerinnen und Bürger dieser
Bundesrepublik von größter Bedeutung ist.
({29})
Ehe wir uns, Frau Künast, darüber unterhalten, wie wir
im Detail vorgehen, wäre es schon wichtig, zu wissen, ob
wir im Grundsatz diese Ziele gemeinsam verfolgen:
({30})
Zukunft für den ländlichen Raum und Verbraucherschutz
für alle Verbraucherinnen und Verbraucher.
({31})
Dazu gehören für mich vier Punkte.
Erstens. Die gute fachliche Praxis muss weiterentwickelt werden, keine Frage. Die gute fachliche Praxis ist
im Übrigen weiterentwickelt worden, wenn ich nur an das
Bodenschutzgesetz aus der letzten Legislaturperiode
denke, dem selbstverständlich auch rot-grüne Landesregierungen zugestimmt haben.
Artgerechte Tierhaltung kann nur verbessert werden,
wenn wir dies europaweit tun. Denn wir können nicht mit
einer Produktionsverlagerung deutsche Probleme beseitigen; wir brauchen insgesamt artgerecht hergestelltes
Fleisch, auch wenn es importiert wird. Deshalb helfen uns
nur europaweite Regelungen. Da wird die Probe aufs
Exempel gemacht, Frau Künast.
({32})
Wir wollen, dass die Weiterentwicklung der guten
fachlichen Praxis in einem Landwirtschaftsgesetz festgeschrieben wird. Wir glauben auch, dass das Gesetz von
1955 einer grundlegenden Überarbeitung bedarf.
Zweitens. Wir wollen wirtschaftliche Freiräume für die
Landwirtschaft, damit sie Qualität produzieren kann.
Aber ich sage Ihnen auch: Stellen Sie das Miteinander und
nicht das Gegeneinander in das Zentrum Ihrer Arbeit.
Deshalb ist zum Beispiel der Vertragsnaturschutz und
nicht die enteignungsgleiche Behandlung von Naturschutztatbeständen die Antwort auf die Gegebenheiten.
({33})
Meine Damen und Herren, wir leben nicht isoliert.
Deshalb können - drittens - europäische Standards im
Tierschutz, im Verbraucherschutz und im Umweltschutz
nur dann realisiert werden, wenn sie auch in den WTOVerhandlungen als Standards sozialer und umweltfreundlicher Art anerkannt werden.
({34})
Hier liegt eine riesige Aufgabe vor der Bundesregierung.
Da helfen auch keine Worte, da helfen nur Taten.
({35})
Ich kann nur hoffen, dass bei den WTO-Verhandlungen
das, was wir in Europa brauchen, um unserer Landwirtschaft eine Zukunft zu geben, mit der nötigen Verve eingeklagt wird.
({36})
Das hat dann mit dem zu tun, was wir so oft theoretisch
diskutieren, nämlich ob Politik in der heutigen Zeit angesichts der globalen wirtschaftlichen Beziehungen die
Chance hat, das Leben der Menschen im Lande zu gestalten, oder ob Politik nur zuschaut. Wir wollen gestalten;
das bedeutet dann aber auch den energischen Einsatz bei
den WTO-Verhandlungen.
({37})
Viertens. Natürlich müssen - mit Ablauf der Agenda
2000 sicherlich noch verstärkt - die Direktzahlungen
schrittweise von der Produktionsbindung gelöst werden.
Natürlich können Leistungen für die Umwelt eingearbeitet werden. Der saarländische Landwirtschafts- und Umweltminister hat hierfür eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht. Aber diese neue Prioritätensetzung
darf nicht die Vernichtung ganzer Kategorien von Bauernbetrieben bedeuten.
Sie sagen so allgemein - jeder, der sich noch nicht so
tief eingearbeitet hat, stimmt dem zu; mir hat es auch
zunächst eingeleuchtet -, man müsse die Tierhaltung an
die Fläche koppeln. Das ist wunderbar und klappt in
Mecklenburg-Vorpommern hundertmal besser als im
Badischen oder im Allgäu. Sie müssen eine Antwort darauf finden, wie die bäuerlichen Betriebe mit kleinen
Flächen weiterhin existieren können. Wir erwarten von
Ihnen eine Antwort auf diese Frage und da helfen keine
Sprüche.
({38})
Es wird sich zeigen, dass die Antwort auf alle Fragen der
Landwirtschaftspolitik in Wahrheit verdammt konkret ist.
({39})
Wir werden Sie an den Taten messen.
Frau Künast, Sie wissen sehr wohl, wie viele Bauern
heute schon Windkrafträder haben und wo es überall Biomassekraftwerke gibt. Dies ist nun wirklich nicht erst seit
September 1998 entstanden.
({40})
Die Klage über zu viel Windkraft haben wir schon gehabt,
als Sie den Konflikt zwischen Naturschutz und Windkraftenergie noch überhaupt nicht richtig bewältigt hatten.
({41})
Als der erste BSE-Fall aufgetreten ist, hat die nordrhein-westfälische Umweltministerin Höhn diesen Vorfall mit Tschernobyl verglichen und gesagt: Das ist das
Tschernobyl der Landwirtschaft. Ich denke, wir sollten
neu nachdenken.
({42})
Welche Lehre wurde damals aus Tschernobyl gezogen?
Wir haben damals das Bundesumweltministerium gegründet und seitdem dem Umweltschutz ein wichtiges
Standbein in der Bundesregierung gegeben.
({43})
Ich sage Ihnen: Die Bündelung von Verbraucherschutzinteressen in einem Ministerium ist sicherlich
richtig. Für mich ist das allerdings nur der halbe Weg auf
der richtigen Strecke, weil aus meiner Sicht - daneben ein
zweites Ministerium als wesentliches Standbein für den
ländlichen Raum und die Landwirtschaft dienen sollte,
wie es in Baden-Württemberg der Fall ist, die hierbei Vorreiter sind.
({44})
Ich bin - hier unterstütze ich Frau Künast sehr wohl für eine unabhängige, schlanke und mit großen Kompetenzen ausgestattete Kontrollbehörde, die sich mit der
Futtermittelherstellung und der Nahrungsmittelüberprüfung befasst. Hier sind wir eins und können gemeinsam in diesem Hause vorangehen.
Aber wenn es um die Lehren aus Tschernobyl geht,
geht es auch um die Frage, wie wir die Dinge anpacken.
Wir haben damals als CDU und CSU gemeinsam mit der
F.D.P. Lösungen gefunden, um internationale Umweltschutzverhandlungen in Gang zu bringen, um den RioProzess voranzubringen. Heute sind Verhandlungen über
Arten- und Klimaschutz im Umweltgeschäft Normalität
geworden.
Wir haben es geschafft, den Rhein so sauber zu machen, dass der Lachs wieder im Rhein schwimmt, aber
nicht, indem wir die Industrie aus Deutschland vertrieben,
sondern indem wir mit der Industrie zusammengearbeitet
haben.
({45})
Deshalb, meine Damen und Herren, erwarte ich, dass
Sie das Problem des Verbraucherschutzes nicht so lösen,
wie Sie den Ausstieg aus der Kernenergie gelöst haben:
dass am Schluss die Energie sonst woher kommt. Vielmehr müssen sie dieses Problem so lösen, dass die Landwirtschaft in diesem Lande eine gute Chance hat.
({46})
Und zu guter Letzt: Wir wollen, dass die Politik das regelt, was zu regeln ist. Wir geben aber auch freiwilligen
Maßnahmen eine wichtige Rolle und wollen die Mündigkeit des Bürgers. Deshalb sage ich: Verbraucherschutz zu
stärken heißt auch, die Verbände zu stärken. Wir brauchen
im Verbraucherschutz so etwas wie das, was der ADAC
für die Autofahrerinnen und Autofahrer ist. Wir müssen
die Menschen zu mehr Selbstständigkeit in diesem Land
bringen.
Es war ein Fehler - auch diesen Vorwurf müssen Sie
sich noch einmal gefallen lassen; das Parlament hat eine
sehr viel bessere Rolle gespielt als die Regierung -, dass
die Bundesregierung die Finanzmittel der Stiftung Warentest erst einmal von 13 auf 8 Millionen DM kürzen
wollte.
({47})
Das war die Politik dieser Bundesregierung. Nur durch
gemeinsame parlamentarische Anstrengungen ist es gelungen, diesen Fauxpas wieder gutzumachen.
Deshalb sage ich: Wir geben Ihnen alle Chancen. Handeln ist dringend erforderlich; bei vernünftigen Maßnahmen machen wir mit. Es soll einen Konsens der Demokraten zur Bekämpfung von BSE und zur Sicherung der
Zukunft der Landwirtschaft geben, aber mit vernünftigen
Mitteln und Methoden sowie mit einem mündigen Bürger.
Herzlichen Dank.
({48})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Struck, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst, Frau Ministerin Künast, gratuliere ich
Ihnen zu Ihrer tatkräftigen und entschlossenen Rede und
zu der Politik, die Sie mit dieser Rede dargestellt haben.
({0})
Sie können sich auf die Unterstützung der SPD-Fraktion
verlassen. Wir werden gemeinsam das Ziel erreichen, das
Sie dargestellt haben.
Nun zu Kollegin Merkel. Im Vorfeld habe ich erfahren,
dass der Fraktionsvorsitzende der CDU große Bedenken
hatte, Frau Merkel reden zu lassen.
({1})
In einigen Punkten waren die Bedenken berechtigt, auf
andere möchte ich gern eingehen, Frau Kollegin Merkel.
({2})
Sie haben in vielen Punkten das angesprochen - ich begrüße das -, was unserem gemeinsamen Ziel, wieder Vertrauen bei den Verbrauchern in die Produkte unserer
Landwirte zu erreichen, dient. Ich stimme ausdrücklich
zu, dass dies eine Aufgabe ist, die alle Fraktionen in diesem Hause angeht. Auch Ihr Hinweis darauf, dass wir
keine einseitigen Schuldzuweisungen, beispielsweise gegenüber den Landwirten in unserem Lande, vornehmen
sollten, war berechtigt. Aber das hat auch niemand von
uns getan. Sie haben einen hier unnötigerweise Popanz
aufgebaut.
({3})
Was soll denn, Frau Kollegin Merkel, der Satz: „Es geht
um den Erhalt der ländlichen Räume.“?
({4})
Das ist eine Selbstverständlichkeit. Natürlich wollen wir
die ländlichen Räume erhalten. Wer will denn die ländlichen Räume abschaffen? Frau Künast will es nicht, Herr
Schröder nicht und auch ich will es nicht. Wir werden die
ländlichen Räume erhalten. Darauf können Sie sich verlassen.
({5})
Sie haben zwei Punkte angesprochen, die inhaltlich
falsch sind. Ich finde es nicht in Ordnung, hier so etwas
vorzutragen. Wir werden das aufklären. Erstens. Sie haben gesagt, die Bundesregierung habe Forschungsmittel
gekürzt. Ich habe mich informiert: Diese Behauptung ist
falsch.
({6})
- Nein, Sie haben eine falsche Behauptung aufgestellt.
Zweitens. Sie haben behauptet, der Haushaltsausschuss
habe einen Beschluss zum Agrardiesel gefasst. Auch das
ist falsch.
({7})
Die Entscheidungen über die Besteuerung des Agrardiesels werden wir in den Fraktionen treffen. Diesbezüglich
hat es noch keine Beschlussfassung gegeben. Gehen Sie
nicht so unvorsichtig mit der Wahrheit um, Frau Merkel.
({8})
Schauen Sie sich genau an, was Ihnen Ihre Leute aufschreiben!
({9})
- Der Haushaltsausschuss hat einen Bericht der Bundesregierung zur Kenntnis genommen, Herr Kollege Glos.
Das ist keine Beschlussfassung. Zum Thema Agrardiesel
werden die Koalitionsfraktionen Entscheidungen treffen
und hier im Deutschen Bundestag zur Abstimmung bringen. Bitte argumentieren Sie nicht mit solchen Unwahrheiten. Das ist nicht in Ordnung, das gehört sich nicht.
({10})
Kollege Struck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Austermann?
Nein, Herrn Austermann gestatte ich keine Frage; dem nicht.
Ich möchte noch einige Anmerkungen in Ergänzung zu
dem machen, was die Ministerin Künast vorgetragen hat.
Wir sind uns alle darüber im Klaren, dass die Verbraucher,
der Handel, die Verarbeiter und die Erzeuger die Nahrungsmittel nur gemeinsam zu einem gesunden Genuss
machen können. Nur wenn wirklich alle an einem Strang
ziehen, haben wir die Chance, dass unsere Landwirtschaft, aber auch die Verarbeiter wieder zu einem wirtschaftlichen Erfolg kommen. Mir geht es vor allen Dingen darum - ich hatte gestern ein Gespräch mit dem
Vorsitzenden der Gewerkschaft NGG -, auch die Arbeitsplätze in der Nahrungsmittelindustrie im Auge zu behalten. Wir haben gegenüber diesen Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer eine Verantwortung.
({0})
Auch ist klar, dass wir nur mit der Landwirtschaft und
nicht gegen die Landwirtschaft eine neue Politik erreichen können. Aber ich will an dieser Stelle ein Wort an
Herrn Sonnleitner richten.
({1})
- Halten Sie sich einmal mit Ihren Zwischenrufen zurück!
({2})
- Ich sage das deshalb, weil der Kollege, der immer dazwischenruft, für eine verstaubte und veraltete Agrarpolitik steht und sich jetzt hier als Erneuerer aufspielen will.
({3})
Herr Sonnleitner tritt bei Demonstrationen auf - ich
habe ihn erst gestern in München gesehen -, in denen
Landwirte gegen die Schlachtung der 400 000 Tiere demonstrieren.
({4})
Ich kann das nicht verstehen. Wenn wir intern, aber auch
öffentlich von Herrn Sonnleitner und seinem Verband
hören, diese Maßnahme sei unumgänglich, dann darf man
solche Demonstrationen nicht unterstützen. Das ist unanständig. Das ist unehrlich.
({5})
Ich kann dem Deutschen Bauernverband, mit dem wir
konstruktive Gespräche geführt haben, nur raten, keine
Politik zu betreiben, die sich gegen die Bundesregierung
richtet.
({6})
Sie sind auf die Bundesregierung und auf die sie tragenden Fraktionen angewiesen. Das sollten Sie bei dem, was
Sie tun, berücksichtigen!
Niemand von uns, auch nicht die Ministerin Künast,
will, dass in Deutschland nur noch ökologischer Landbau betrieben wird. Jeder von uns ist Realist genug, um
zu sehen, dass wir in den nächsten Jahren höchstens Zielmarken von vielleicht 10 bis 20 Prozent erreichen können.
Ich komme aus einem ländlichen Wahlkreis, wo die
Durchschnittsgröße eines bäuerlichen Betriebes 100 Hektar beträgt. Ich weiß also, wovon ich rede. Aber die Zielsetzung ist richtig: Die alte Agrarpolitik ist in eine Sackgasse geraten. Wir müssen eine neue Agrarpolitik
machen. Darum geht es.
({7})
Erlauben Sie mir noch einige Anmerkungen zu finanziellen Fragen. Zunächst komme ich zur gestrigen Konferenz der Agrarminister von Bund und Ländern. Ich kann
verstehen, dass die Länder zunächst einmal auf den Bund
verweisen, wenn es um die Kosten im Zusammenhang
mit BSE geht. Das ist normal. Keiner gibt gern Geld aus.
Aber nach dem, was der Bund bereit ist, zu leisten, will
ich an die Adresse der Länder - auch an die Adresse
meiner Parteifreunde in den Ländern, Kollege Backhaus deutlich sagen, dass ich kein Verständnis dafür habe, dass
wegen dieser Streitigkeiten die Angelegenheiten nur langsam vorankommen. Auch die Länder müssen ihren finanziellen Beitrag leisten. Das ist überhaupt keine Frage.
({8})
Ein weiteres Thema: Es ist diskutiert worden, ob es
eine Sonderabgabe für die Vernichtung von Rindfleisch
geben soll. Die Ministerin hat es bereits klargestellt und
auch ich erkläre hier klipp und klar für die SPD-Bundestagsfraktion: Eine solche Sonderabgabe wird es nicht geben, genauso wie es keine Steuern auf Fleisch oder Ähnliches geben wird.
({9})
Ein Letztes: Sie haben von einem Gegeneinander gesprochen, Frau Kollegin Merkel. Ich kann aus der Regierungserklärung von Frau Ministerin Künast überhaupt
kein Gegeneinander erkennen. Sie hat von einem magischen Sechseck und an anderer Stelle von einem runden
Tisch gesprochen. Das Modell, das sie dargestellt hat,
stellt in der Tat die einzige Chance dar, wie wir aus dieser
Krise, die es zweifellos gibt, herauskommen können.
Meine Damen und Herren, wir werden unseren Beitrag
dazu leisten, dass die Verbraucher in Deutschland wieder
Vertrauen in die Produkte der Landwirte haben und die
Landwirte in Deutschland eine gesicherte Existenzgrundlage behalten werden.
Schönen Dank.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass ein
so großes Interesse an der Verbraucher- und Agrarpolitik
besteht. Das kann nur gut sein: gut für die Landwirtschaft,
gut für die Verbraucher und auch gut für die Wirtschaft,
denn hier ist Gemeinsamkeit gefordert. Wenn ich heute
Morgen aber Bilanz ziehe, muss ich zunächst einmal feststellen, dass Frau Ministerin Künast verkündet hat, dass
sie eine Politik betreiben will, die das genaue Gegenteil
dessen ist, was ihr Vorgänger, Herr Funke, gemacht hat
und was auf dem Berliner Gipfel in der Agenda 2000 verabschiedet worden ist. Der Herr Bundeskanzler hat sich
selbst und seinen Landwirtschaftsminister dafür gelobt,
dass die Agenda 2000 so erfolgreich, gut und richtig sei.
Wir stellen fest, dass die Agenda 2000 nicht einmal
14 Monate nach ihrem Inkrafttreten hundertprozentig
überholt ist und die Regierung eine völlig neue Agrarpolitik ankündigt.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
damals schon gesagt, dass mit Dirigismus, zusätzlicher
Bürokratie und verschwendeten Steuergeldern, was alles
auch Inhalt der Agenda 2000 ist, die Zukunft nicht zu gewinnen sei und dass diese Fehlentwicklung korrigiert
werden müsse. Diese Fehlentwicklung darf aber jetzt
nicht durch einen neuen staatlichen Dirigismus, der in
Richtung Ökologisierung der Landwirtschaft geht, wiederholt werden.
({1})
Der Markt lässt sich nicht von der Politik bevormunden;
denn sonst werden Abhängigkeiten vom Staat manifestiert, die systematisch die Freiheit des Unternehmers einschränken und das Eigentum zunehmend infrage stellen.
({2})
Der ökologische Landbau leistet einen wichtigen Beitrag für die Angebotspalette an Nahrungsmitteln. Auch
war die F.D.P. schon immer der Auffassung, dass der ökologische Landbau aus Gründen des Umweltschutzes, Naturschutzes und Tierschutzes von Bedeutung ist
({3})
und dass wir die derzeitige Sensibilisierung der Verbraucher nützen müssen, um die Durchsetzung solcher Produkte am Markt tatsächlich zu erreichen.
({4})
Da komme ich aber zu einem Punkt, an dem wir völlig
anderer Meinung als die Bundesregierung sind: Es bedarf
keinesfalls einer Förderung der Produktion, sondern einer
modernen Marktstrategie, verbunden mit einer verbesserten Angebotsinfrastruktur und einer besseren Logistik.
Eine durch die Agrarpolitik herbeigeführte Ausweitung
der Produktion würde die Preise für die Bioprodukte nach
unten bringen, was zur Folge hätte, dass die Produktionskosten von den Marktpreisen nicht mehr gedeckt würden.
Die Konsequenz wäre, dass der Staat mit Dauersubventionen das Überleben der betroffenen Unternehmen sichern müsste.
({5})
Die F.D.P. möchte demgegenüber erreichen, dass sich
die Ökoprodukte am Markt durchsetzen können. Dazu
gehört ein einheitliches Ökoprüfzeichen, das ÖPZ, das einen klaren Wiedererkennungswert bekommen muss. Bis
jetzt hat es das noch nicht und die Ökoverbände sind bis
heute leider Gottes noch nicht einer Meinung, dass dies
wichtig für ihre Marktstrategie ist.
Lassen Sie mich noch auf ein weiteres Marktsegment
eingehen, nämlich auf das der regionalen Produktion.
Die Nähe zwischen Landwirt und Verbraucher muss
durch ein neues Qualitätsverständnis gestärkt werden.
Durch die gläserne Produktion und durch besondere Produktionsweisen, die höhere Umwelt- und Qualitätsstandards in besonderem Maße beinhalten, wird die regionale
Herkunft auch mit den Zielen der Agenda 21 verbunden.
So hat zum Beispiel Baden-Württemberg bereits seit
10 Jahren gute Erfahrungen mit der gläsernen Produktion
gemacht und wird die Anforderungen an das HQZ - Herkunfts- und Qualitätszeichen - weiter erhöhen und alles
unternehmen, damit dieses Zeichen durch die BSE-Krise
nicht unberechtigt in Misskredit gerät. Die regionale Produktion mit dem HQZ wird in der Zukunft deutschlandweit und EU-weit zunehmend an Bedeutung gewinnen
und seine Marktberechtigung ausbauen. Im Prinzip sollen
bei dieser Produktionsmethode die gleichen Förderungsgrundsätze gelten wie beim ökologischen Landbau: also
keine Förderung der Produktion; der Schwerpunkt muss
vielmehr im Marktbereich gesetzt werden.
({6})
Man muss heute ganz klar sagen: Grundsätzlich ist jede
Form der Landwirtschaft dem Verbraucherschutz, dem
Schutz des Bodens, der Pflanzen, der Tiere und der Umwelt verpflichtet.
({7})
Voraussetzung dafür ist aber, dass damit ein wirtschaftlicher Erfolg verbunden ist, der es verhindert, dass die Betroffenen dauerhaft am Subventionstropf hängen.
({8})
Die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft muss
im Rahmen der Europäischen Union - wegen der Multifunktionalität auch auf WTO-Ebene - sichergestellt werden. Deutschland befindet sich nun einmal nicht auf einer
Insel. Die Landwirte, die konventionell produzieren
- derzeit sind das 97 Prozent aller Landwirte -, werden
auch in Zukunft den Löwenanteil an der landwirtschaftlichen Produktion ausmachen. Deshalb ist es besonders wichtig, dass Verbrauchersicherheit und Nachhaltigkeit die Grundlagen für die Produktion sind. Dazu
gehört auch - ich sage das ganz klar und deutlich der technische Fortschritt, insbesondere im Bereich der
grünen Gentechnik, der zu den Grundlagen nicht im Widerspruch steht.
Lassen Sie es sich gesagt sein: Wenn derzeit die Konjunktur nach der Meinung des Kanzlers nicht positiv für
die Gentechnik ist,
({9})
sage ich Ihnen voraus, dass Deutschland einen wesentlichen Standortvorteil verlieren wird, den es bisher durch
kompetente Forscherpersönlichkeiten noch einigermaßen
halten kann, wenn wir im Bereich der grünen Gentechnik
eine Kehrtwende um 180 Grad vornehmen.
({10})
Dem Verbraucherschutz und der Landwirtschaft ist
nicht damit gedient, dass der Anteil des ökologischen
Landbaus erhöht wird. Wichtig sind vor allem verlässliche Rahmenbedingungen für die gesamte Landwirtschaft,
die auch mittelfristig Bestand haben.
Ich habe schon 1999 anlässlich der Beschlüsse zur
Agenda 2000 gefordert, dass als Ziele einer liberalen
Agrarpolitik die kostenträchtige Überproduktion, vor allem bei Milch und Rindfleisch, abzubauen ist, um Angebot und Nachfrage im europäischen Binnenmarkt ins
Gleichgewicht zu bringen und schrittweise einen geordneten Ausstieg aus den Marktordnungen für Milch und
Fleisch auf den Weg zu bringen. Ich bin in meiner Argumentation - im Gegensatz zur Bundesregierung - schlüssig geblieben.
({11})
Das Gegenteil ist geschehen: Im Rahmen der Agenda
2000 wurde eine zusätzliche Milchmenge von 1,4 Millionen Tonnen beschlossen; offensichtlich wusste die Bundesregierung damals noch nicht, dass infolge der Erhöhung der Milchmenge zwangsläufig mehr Kälber
geboren werden.
({12})
Heute stehen wir vor einem Chaos am Rindfleischmarkt. Heute tut man so, als wäre das alles nicht vorauszusehen gewesen. Es war in weiten Bereichen vorauszusehen; denn es gab schon damals eine Überschussproduktion im Rindfleischbereich von 15 bis 20 Prozent,
Frau Ministerin Künast.
({13})
Die Halbwertzeit der auf fünf Jahre angelegten Agenda
2000 ist bereits nach einem Jahr erreicht und weder Landwirtschaft noch Verbraucher noch Steuerzahler können
mit diesem Ergebnis zufrieden sein. Dies war keine Meisterleistung dieser Regierung.
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Punkte ansprechen, die derzeit besonders in der Diskussion stehen.
Die totale Keulung in Betrieben, in denen die BSE-Krankheit aufgetreten ist, halte ich für nicht akzeptabel. Ich
halte auch unterschiedliche Regelungen in der Bundesrepublik Deutschland für nicht akzeptabel. Wir brauchen
ein bundeseinheitliches Gesetz, das sich an dem Schweizer Modell orientiert, nach dem die Anonymität der Betriebe gesichert ist, damit nach der Sanierung der Bestände die Produkte wieder verkauft werden können.
({14})
Meine Damen und Herren, die derzeitige Verunsicherung, Angst und Existenznot in den landwirtschaftlichen
Betrieben spotten jeder Beschreibung. Hier muss man ein
bisschen sensibler vorgehen und kann nicht nur mit der
Keule wie wild um sich schlagen.
({15})
Die Schlachtung von 400 000 Rindern - eventuell werden es mehr oder weniger - ist eine freiwillige Aktion.
Wir befürworten, dass wir als Bundesrepublik Deutschland uns daran beteiligen. Aber wir befürworten nicht die
Vernichtung des Fleisches. Wir wollen das Fleisch vielmehr über Konserven für Notgebiete, für Hungersnöte,
für Katastrophen verwerten. Wer sieht, wie in Zentralasien und Zentralamerika tagtäglich Menschen verhungern, der darf in dieser Frage mit einer marktwirtschaftlichen Argumentation à la Ministerin Künast nicht
kommen. Hier ist vielmehr Nothilfe gefragt.
({16})
Wir können es uns nicht leisten, dass das Fleisch hier vernichtet wird, während dort die Menschen verhungern
müssen.
({17})
Meine Damen und Herren, zehn Minuten sind schnell
vorüber. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und
hoffe, dass auch in Zukunft die Agrarpolitik so aufmerksam verfolgt wird und wir dann ein ordentliches Ergebnis
bekommen können, vielleicht ein besseres, als wir derzeit
vonseiten der Regierung vorzuweisen haben.
({18})
Ich erteile dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Heinrich, ich glaube, es ist eine sehr schwere Entscheidung, die in der Frage der Keulung bzw. Verwertung von
400 000 Rindern zu treffen ist. Immerhin haben Sie dazu
Stellung genommen.
Frau Merkel, von einer Parteivorsitzenden erwarte ich,
dass sie zu dem dringendsten und wichtigsten aktuellen
Problem, das sehr schwer zu behandeln und zu entscheiUlrich Heinrich
den ist, Stellung nimmt. Davor haben Sie sich aber elegant
gedrückt.
({0})
Herr Heinrich, ich kann Ihrer Meinung nicht folgen,
wenn Sie sagen, dass dieses Fleisch in Notgebiete exportiert werden soll. Das klingt gut, nur können Sie heute beispielsweise lesen, dass die Vorsitzende der Welthungerhilfe, Frau Schäuble, klar sagt, dass ein Export von hier
produziertem Fleisch in Notgebiete dortige Märkte zusammenbrechen lässt und es eben nicht möglich ist, dadurch Not zu lindern. Er würde die dortige bäuerliche
Landwirtschaft, die zur Sicherung der Ernährung dringend notwendig ist, in Schwierigkeiten bringen, gefährden und auch kaputtmachen.
({1})
Frau Merkel, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede zur
Agrarwende sehr wohl Stellung genommen. Sie sagten,
es sei notwendig, dass man sich neu orientiert. Vor der
Antwort auf die Frage, wie die Neuorientierung aussehen
soll, haben Sie sich gedrückt. Ich muss Sie fragen: Wie
sah die von Ihnen angesprochene Vorreiterrolle von Baden-Württemberg oder von Bayern - das haben Sie nicht
erwähnt - aus? Die Vorreiterrolle Baden-Württembergs
sieht so aus, dass die dortige Ministerin für Landwirtschaft und den ländlichen Raum noch im Oktober im Zusammenwirken mit dem Bauernverband dafür gekämpft
hat, dass Risikomaterial weiter verwendet wird. Eine solche Vorreiterrolle wollen wir nun wirklich nicht!
({2})
Die Melodie des weiteren Verlaufs Ihrer Rede war: Wir
wollen das alte System weiter stützen. Sie haben hier einen nicht verabschiedeten Beschluss des Agrarausschusses angeführt. Wenn wir jetzt einen Neuanfang machen,
dann müssen wir natürlich sehr genau aufpassen, dass die
Zahlung von Subventionen, die in großem Umfang in die
Agrarwirtschaft fließen, an bestimmte Produktionskriterien - Transparenz der Produktion: vom Futtermittel über
den Stall bis hin zur Verarbeitung der Lebensmittel - gekoppelt wird, sodass derjenige, der sich nicht an die Einhaltung dieser Produktionskriterien hält, keine Subventionen bekommt.
({3})
Die Politik hat jahrzehntelang - es geht nicht um die
letzten zwei oder die letzten vier Jahre - eine Entwicklung
honoriert und forciert, deren Motto „Immer mehr und immer billiger“ lautete. An diesem Punkt muss endlich
Schluss gemacht werden.
({4})
Denn die Logik des „Immer mehr und immer billiger“ ist
genau der Boden, auf dem sich die Strukturen entwickelt
haben, die wir heute beklagen, und der die BSE-Krise
überhaupt erst möglich gemacht hat.
({5})
- Ach, Herr Börnsen, bitte schön.
({6})
Eine Debatte wie die heutige sollte Gelegenheit dafür
bieten, nicht die alten Strukturen und die alten Systeme zu
verteidigen, sondern - Frau Merkel, dazu habe ich zu wenig von Ihnen gehört - für die notwendige Aufklärung der
Verbraucher zu sorgen. Es geht nicht mehr so wie in früheren Zeiten, als man sich im Supermarkt ein Schnitzel - sozusagen einen Lockvogel - kaufte, dessen Verkaufspreis
unter den Gestehungskosten lag. Da hilft weder Jammern
noch eine Aktion wie die des neuen bayerischen Verbraucherschutzministers, der gesagt hat: Liebe Leute, esst alle
wieder Rindfleisch und damit wird alles gut! Das hilft
kein Jota weiter. Jegliche Energie, die darauf verwandt
wird, Rindfleisch derzeit wieder unter die Verbraucher zu
bringen, ist verschwendet.
Jede Mark, die die CMA für entsprechende Plakate und
Werbeaktionen vergeudet, sollte sie besser in die Bereiche
investieren, für die wir gemeinsam neue Qualitätskriterien für die Produktion von Nahrungsmitteln entwickeln
wollen. Auch in dieser Hinsicht habe ich von Ihnen, Frau
Merkel, heute leider sehr wenig gehört.
({7})
In dieser Diskussion ist es notwendig, dass wir die
Agrarpolitik aus der Ecke einer reinen Fachfrage herausbringen. Niemand weiß nämlich, wohin die Milliarden an
Subventionen geflossen sind. Meistens sind sie nicht zu
den Bauern geflossen, sondern eher in die verarbeitende
Industrie. Deshalb glaube ich, dass zukünftige Agrarpolitik Gesellschaftspolitik sein wird. Das heißt, wir alle müssen uns darüber verständigen, unter welchen Bedingungen und Kriterien Nahrungsmittel produziert werden
sollen. Die zukünftige Entwicklung wird eine Ausweitung
des ökologischen Bereichs bringen, Herr Heinrich, ob Ihnen das passt oder nicht, und im konventionellen Bereich
werden harte Produktions- und Qualitätskriterien angelegt werden. Selbstverständlich nur dann, wenn die bäuerliche Landwirtschaft gesunde und gute Nahrungsmittel
produziert, ist es legitim, dass sie weiterhin öffentliche
Gelder erhält.
Danke schön.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst möchte ich Ihnen, Frau Bundesministerin Künast, meinen Respekt für Ihr beherztes Agieren aussprechen. Sie können bei einer ganzen Reihe von Einzelschritten auf die Unterstützung der PDS-Fraktion im
Bundestag zählen.
({0})
Dennoch meint die sozialistische Opposition im Bundestag, dass der Ansatz, den Sie hier wählen, falsch ist.
Man muss allerdings sagen, dass Sie in der falschen Spur
richtig gut sind.
({1})
Sie haben hier Ihre Agrarwende beschrieben. Bei Ihnen
und bei Herrn Schlauch habe ich so ein wenig die Hoffnung herausgehört, dass die Agrarwende dann vollzogen
ist, wenn der letzte Bauer im Lande grün geworden ist.
({2})
Da ich daran nicht glaube, glaube ich auch nicht an den
Vollzug dieser Wende.
Wir haben es hier aus unserer Sicht mit einem gigantischen Staatsversagen zu tun aufgrund des Rückzuges des
Staates aus Kernbereichen seiner Verantwortung. Ich habe
mit Interesse und Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass Frau Merkel hier davon gesprochen hat, der
Staat müsse das Gestalten wieder an sich ziehen und wieder Politik betreiben. Von wem habe ich denn die letzten
zehn Jahre nichts anderes gehört, als dass der Staat sich
zurückziehen müsse, staatliche Kontrolle ein Standortnachteil sei, wir weniger staatliche Regulierung brauchten? Das passt nicht zusammen.
({3})
Der blinde Glaube an eine Marktwirtschaft, die längst
keine mehr ist, hat uns in dieses Dilemma geführt. Nun
- auch hier haben Sie sich gebeugt, Frau Künast - frage
ich Sie: Was fällt Ihnen in dieser Situation ein? - Nichts
anderes, als als Hauptschritt eine Marktbereinigung vorzunehmen. Hier geschieht der nächste Kniefall, hier wird
wiederum blinder Glaube an die Marktwirtschaft praktiziert. Es handelt sich um den Versuch, den Teufel mit dem
Beelzebub auszutreiben.
({4})
Erst subventionieren Sie die Mast, dann subventionieren
Sie die Tötung. Dabei wird Ihre Rechnung nicht aufgehen; das wissen Sie. Bei der jetzigen Marktbereinigung
wird von einem 10-prozentigen Rückgang des Rindfleischverbrauches ausgegangen. Real verzeichnen wir
jetzt Einbrüche in Größenordnungen von 30 bis 50 Prozent. Sie wissen, dass dieser Weg so zu keinem Erfolg
führen wird. Sie wissen auch, dass sich diese Politik nicht
mehr vermitteln und erklären lässt. Auch aus Erfahrung
sage ich Ihnen: Wenn sich Politik und Wirtschaft nicht
mehr erklären lassen, dann sind Politik und Wirtschaft
auch nicht gut.
({5})
Der Staat erweist sich als unfähig, mit seinem eigenen
Versagen umzugehen. Deshalb, so meinen wir, sind Sie
auf der falschen Spur.
Meine Damen und Herren, nahezu jeder Bauernhof,
auf dem es einen BSE-Verdachtsfall gibt, kommt heute in
das Fernsehen. Von den Futtermittelkonzernen kennen
selbst wir hier im Bundestag noch nicht einmal die Namen.
({6})
Da fällt mir wirklich nur das Zitat ein: „Die im Dunkeln
sieht man nicht.“ Ich wundere mich ein bisschen, dass die
Medien sich das gefallen lassen.
({7})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie haben, obwohl Sie es immer abstreiten und nicht
wahrhaben wollen, gewissermaßen die Schuld bei den
Bauern abgeladen. Es ist bei den Bauern so angekommen
und Sie erfahren es doch selbst, wenn Sie unterwegs sind:
Wohin auch immer man kommt, die Bauern fühlen sich
aufgrund Ihrer öffentlichen Äußerungen in die Rolle der
Schuldigen gedrängt.
({8})
Mir fehlt das Verständnis für die von Ihnen jetzt beschlossenen Massentötungen. Ich frage mich: Wo bleibt
die öffentliche Auswertung der Testergebnisse nach diesen Schlachtungen? Ich glaube, dass auch das Wort von
den Agrarfabriken dazu beigetragen hat, Bäuerinnen und
Bauern, gerade in den neuen Bundesländern, zu diskriminieren. Das ist ein Unwort gegen die Agrarunternehmen
im Osten.
({9})
Das wissen Sie alles sehr wohl. Sie können es sich nicht
aussuchen. Eine Botschaft erklärt sich nicht dadurch, dass
der Absender sagt: „Ich habe es nicht so gewollt“; entscheidend ist vielmehr, wie es bei denen, in deren Richtung es gesagt wurde, angekommen ist. Auch die Logik
„Klasse statt Masse“ ist keine Erklärung.
Wir fordern deshalb die Einrichtung eines Hilfsfonds
für von BSE betroffene Agrarunternehmen. Wir haben Ihnen das im Zusammenhang mit dem Haushalt 2001 vorgeschlagen. Wir fordern, dass es eine öffentliche Aufklärung über die Verantwortung der Futtermittelkonzerne
gibt und dass bei Verstößen gegen gesetzliche Regelungen
Sanktionen verhängt werden.
({10})
Wir brauchen eine Haftung der Verantwortlichen in der
Futtermittelindustrie gegenüber den Verbraucherinnen
und Verbrauchern, aber auch gegenüber den Bauern; denn
die Bauern können es sich nicht aussuchen, ob sie Futtermittel zusetzen oder nicht.
({11})
Es muss Schluss sein mit dem Monopoly auf dem Lebensmittelmarkt. Die Wirtschaft darf der Gesellschaft
nicht entzogen werden. Das darf die Gesellschaft nicht
hinnehmen. Wenn die Wirtschaft das weiterhin versucht,
dann muss die Gesellschaft das Grundgesetz anwenden.
Ich zitiere jetzt aus Art. 15 des Grundgesetzes und nicht
aus dem Parteiprogramm der PDS:
Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung ...
in Gemeineigentum ... überführt werden.
({12})
Auch das steht in unserem Grundgesetz.
Alle Politik ist eine Frage der Balance. Die Verneigung
vor dem Markt ist falsch. Nach meiner Auffassung
braucht Rindfleisch zwar einen Markt, aber keinen Weltmarkt. Wir müssen zu regionalen Kreisläufen in der
Nahrungsgüterwirtschaft zurückkehren.
Ich sage noch einmal, Frau Ministerin: Sie können in
vielen Einzelfragen auf uns zählen. Aber die Logik, mit
der Sie an das Problem herangehen, ist für uns nicht zukunftsfähig.
({13})
Vergessen wir eines nicht: Wir brauchen die Natur,
doch die Natur braucht uns nicht.
({14})
Ich erteile das Wort
Till Backhaus, Minister für Ernährung, Landwirtschaft,
Forsten und Fischerei des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Till Backhaus, Minister ({0}):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich als
Minister für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten, Fischerei und für den Verbraucherschutz hier heute reden darf.
Sehr geehrte Frau Bundesministerin, ich bin Ihnen dankbar für das, was Sie hier gesagt haben. Wir werden Sie
konstruktiv begleiten, wir werden aber auch nicht unkritisch sein.
Ich möchte am Anfang meiner Rede hervorheben, dass
ich aus Mecklenburg-Vorpommern komme, einem Bundesland, in dem die Landwirtschaft, die Ernährungswirtschaft, die Forstwirtschaft und die Fischerei strukturbestimmende Faktoren darstellen. Im Zusammenhang mit
der Diskussion um eine neue Agrarpolitik ist der heutige
Tag für mich ein Gemisch aus Sorge, aber auch Gelassenheit; Sorge deshalb, weil bei der heutigen Richtungsentscheidung über die künftige deutsche Agrarpolitik - es
sind einige neue Argumente angeführt worden, die ich inhaltlich voll unterstütze - die Besonderheiten der ostdeutschen Landwirtschaft angemessen berücksichtigt werden
müssen. Ich bin Ihnen insbesondere dankbar dafür, Frau
Ministerin, dass Sie nicht auf die Größendiskrepanz oder
die unterschiedlichen Unternehmens- und Betriebsstrukturen abgestellt haben, sondern dass es in der Zukunft eine
Chancengleichheit und Gerechtigkeit geben wird. Das
ist für uns außerordentlich wichtig.
({1})
- Herr Carstensen, darauf komme ich noch.
({2})
Die Gelassenheit kommt daher - das will ich deutlich
herausstellen -, dass die agrarstrukturellen Tatsachen in
Mecklenburg-Vorpommern bereits die Basis für das
sind, was wir in der Zukunft an Umstrukturierung erreichen wollen. Wir meinen, dass wir diesen Wandel bereits
seit einiger Zeit eingeleitet haben. Wir im Nordosten lieben die Klarheit. Das hat den Vorteil, dass man einen
klaren Blick hat. Im Übrigen weise ich ausdrücklich darauf hin - Sie wissen es alle -: Im Osten geht die Sonne
auf.
({3})
- Ich habe mich mit Ihren Problemen in Bayern auseinander gesetzt. Ich komme zu dem Schluss, dass es ein
Segen ist, dass wir im Norden diese Verhältnisse, insgesamt gesehen, nicht haben.
({4})
Wir leben nicht auf einer agrarpolitischen Insel der
Glückseligen. Aus diesem Grunde wird uns das Wort
„Wettbewerbsfähigkeit“ weiter begleiten, wenn wir uns
mit der sozialen Marktwirtschaft auseinander setzen, uns
zu ihr bekennen wollen und wenn wir uns in Europa nicht
abschatten wollen.
Bei der Neuausrichtung der Agrarpolitik muss in
Deutschland die Gleichbehandlung der verschiedenen
Betriebsformen auch in Bezug auf die Größe gewahrt
bleiben. Ich betone in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass die regionalen Besonderheiten der unterschiedlich strukturierten Agrarregionen und der ländlichen Gebiete beachtet werden müssen.
Wie stellt sich nun die Situation in MecklenburgVorpommern dar? Sie müssen wissen, dass wir in den
letzten zehn Jahren eine Umstrukturierung der Landwirtschaft und der ländlichen Räume in Mecklenburg-Vorpommern eingeläutet haben, die einen enormen Strukturwandel mit sich brachte. Vor der Wiedervereinigung
waren bei uns 190 000 Menschen in der Landwirtschaft
und in den Veredlungsbereichen beschäftigt. Heute gibt
dieser Bereich leider nur noch 24 000 Menschen Arbeit
und Einkommen und stellt damit ihre zukünftige Lebensgrundlage dar.
Ich bin der Bundesregierung wirklich dankbar, dass die
Umsteuerung zugunsten der ländlichen Räume - darüber
ist schon oft gesprochen worden - im Rahmen der
Agenda 2000 schon erfolgt ist. Das haben wir in dieser
Koalition zustande gebracht.
({5})
Ich sage aber auch, dass wir für die wettbewerbsfähigen Strukturen einen verdammt hohen Preis in Bezug auf
die Arbeitsplätze zu zahlen hatten. Im Vergleich zu anderen Bereichen der Volkswirtschaft haben aus meiner
Sicht die Agrarwirtschaft und die ländlichen Räume, aber
auch die Veredlungswirtschaft zusammen mit der Ernährungswirtschaft den Übergang in die Marktwirtschaft am
besten vollzogen. Die Agrarwirtschaft ist in unserem
Lande nach wie vor einer der strukturbestimmenden Wirtschaftszweige. Das ist auch der Grund, warum ich hier bin.
Diese Entwicklung war das Ergebnis unserer guten
Rahmenbedingungen, ob es die saubere Luft, der saubere Boden, das saubere Wasser oder - das betone ich
ausdrücklich - der Sachverstand der Landwirte in Mecklenburg-Vorpommern ist. Pauschal die Landwirte in
Deutschland an den Pranger zu stellen, was nach meiner
Kenntnis noch nicht geschehen ist, ist mit mir - ich bin
selber Landwirt - nicht zu machen.
({6})
Im Übrigen weise ich ausdrücklich auf folgenden Punkt
hin: Mehr als 3 000 landwirtschaftliche Unternehmen in
unserem Bundesland haben Fördermöglichkeiten in Anspruch genommen. Dadurch wurden Investitionen von
über 3 Milliarden DM ausgelöst.
Es ist auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass unsere
Betriebe größer strukturiert sind als Betriebe in anderen
Agrarregionen. Genauer gesagt: In unserem Bundesland
wirtschaften die Betriebe im Durchschnitt aller Unternehmensformen auf 272 Hektar. Angesichts der Tatsache,
dass der Bundesdurchschnitt bei 39 Hektar liegt, wird
deutlich, wo die Diskrepanzen zum Teil zu finden sind.
Hinter dieser Größe steckt nicht nur die wirtschaftliche Stärke und damit die Möglichkeit des Broterwerbs für
viele Familien, sondern auch eine Zukunftsperspektive.
Ich will Ihnen gerne sagen, warum. Das Wort Verbraucherschutz - damit sind wir bei der BSE-Diskussion - hat
in den letzten Wochen und Monaten eine wichtige neue
Qualität erfahren, was gut so ist. Wir brauchen geschlossene Systeme und mehr Transparenz. Mecklenburg-Vorpommern wird als erstes Bundesland damit beginnen,
komplette landwirtschaftliche Unternehmen zu zertifizieren. Das gibt es in der Bundesrepublik Deutschland bisher noch nicht. Wir fangen damit an und werden damit die
gläserne Produktion vom Stall bis zur Theke einführen.
({7})
Genau das können die Landwirte in Mecklenburg-Vorpommern mit den vorhandenen Strukturprofilen leisten.
Ich finde es gut, wenn die Bundesregierung einen runden Tisch einsetzen will. Im Osten haben wir Erfahrungen mit runden Tischen. Diese sind gut; aber man muss
beachten, dass durch die runden Tische die Situation oftmals nicht unbedingt unkomplizierter wird.
Ein weiteres Kennzeichen der Landwirtschaft in
Mecklenburg-Vorpommern ist der außerordentlich geringe Viehbesatz. Frau Ministerin, ich stimme Ihnen zu,
dass wir insgesamt in der Bundesrepublik Deutschland
von dem überhöhten Tierbesatz herunter müssen. Aber ich
sage auch: Mit 0,4 GV je Hektar in Mecklenburg-Vorpommern haben wir die Norm, die Sie anstreben, längst
erfüllt. Deswegen dürfen in Mecklenburg-Vorpommern
nicht weitere Bestände abgebaut oder die neuen Bundesländer zur veredlungsfreien Zone werden. Das müssen
wir gemeinsam verhindern.
({8})
Zu dem, was Mecklenburg-Vorpommern erreicht hat,
gehört auch, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland
führend im ökologischen Landbau sind.
({9})
8,6 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe arbeiten
nach den ökologischen Kriterien. Ich betone: In Bayern
sind es ganze 1,7 Prozent, in Nordrhein-Westfalen
0,7 Prozent.
({10})
Insofern stelle ich Ihnen die Frage: Wo gibt es denn da
Nachholbedarf? Machen Sie das Mecklenburg-Vorpommern erst einmal nach!
({11})
Außerdem, Frau Ministerin, liegen wir im Bereich der
Rinderproduktion bei der Mutterkuhhaltung mittlerweile bei 15 Prozent. Insofern werden vermutlich diejenigen, die aus der DDR stammen, demnächst anfangen, einen Gegenplan zu entwickeln. Vielleicht führt das ja auch
zu mehr Motivation.
({12})
Aber auch der gute Wert in Mecklenburg-Vorpommern
darf den Blick nicht verstellen, dass die überwiegende Anzahl der landwirtschaftlichen Unternehmen nach wie vor
im konventionellen Bereich tätig ist. Gerade dort brauchen wir noch mehr Nachhaltigkeit.
Wir haben vor anderthalb Jahren ein Agrarkonzept 2000 entwickelt und vorgelegt und damit den Dreiklang von Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Multifunktionalität als den Weg Mecklenburg-Vorpommerns
beschrieben. Ich glaube, unsere Agrarpolitik liegt in der
Vision und in der Umsetzung sehr dicht beieinander.
({13})
Dass die Landwirte in Mecklenburg-Vorpommern für
die Zukunft aufgeschlossen, modern und naturverbunden
sind, können Sie sich täglich bei uns anschauen. Hier
wurde viel investiert. Hier gibt es keine Verkrustungen,
sondern es gibt zum Glück noch - das muss man immer
Minister Till Backhaus ({14})
wieder anerkennen - Unternehmergeist, ja sogar Pioniergeist, die Aufgaben immer wieder neu anzugehen und
gute Voraussetzungen für eine dynamische Entwicklung
zu schaffen.
({15})
Es darf jedoch nicht passieren, dass die hohen Investitionen, die Aufbauarbeit sowie die zahlreichen Innovationen und deren Entwicklung durch kurzsichtige Entscheidungen ins Leere laufen. Im Klartext heißt das: Eine
weitere Verringerung der Veredlungsproduktion darf in
Mecklenburg-Vorpommern nicht stattfinden, denn damit
würden die ländlichen Räume stark in Mitleidenschaft gezogen. Ich nehme zur Kenntnis, dass wir uns in dieser
Frage einig sind.
Selbstverständlich sind wir auch bereit, bei der Finanzierung - das ist hier angesprochen worden - und Bewältigung der BSE-Krise mitzuwirken. Ich betone dies ausdrücklich. Die Länder sind bereit, sich an den Kosten der
BSE-Bewältigung zu beteiligen.
({16})
Sie machen das schon heute, zum Beispiel bei der Lebensmittelkontrolle, der Futtermittelkontrolle, der Tierkörperbeseitigung, den BSE-Tests und der Ausreichung
von Liquiditätshilfen, bis hin in den Bereich der Forschungsleistungen, die die Länder erbracht haben.
Insofern setze ich auf eine Kompromisslösung. Ich
wünsche mir, dass wir jetzt sehr schnell zu handeln beginnen. Auch ich sehe es so, dass insbesondere die tiermehlhaltigen Futtermittel schnell von den Höfen herunter müssen. Wir müssen hier umgehend handeln.
({17})
Dazu gehört für mich in gleicher Weise, dass wir die Produkthaftung in Richtung der Futtermittelindustrie ausdehnen müssen. Ebenso brauchen wir geschlossene Systeme
der Nachhaltigkeit und der Multifunktionalität sowie eine
solide Basis in dieser Richtung.
Ein Wort zu Modulation und „cross compliance“.
Diese Mechanismen sind nicht die von uns bevorzugte
Variante. Das habe ich in den Agendadebatten immer wieder zum Ausdruck gebracht. Aber wir werden uns dieser
Entwicklung nicht verschließen können und werden uns
auch nicht verschließen. Besonders der Verknüpfung von
Flächenausgleichszahlungen mit Umweltauflagen stehen wir aufgeschlossen gegenüber, wenn diese Auflagen
nicht an die Betriebsgröße gekoppelt werden und wenn
sie innerhalb der Bundesländer einheitlich festgelegt werden.
Zur Modulation. Ich bin Realist genug, um zu erkennen, dass wir an diesem Thema in der Zukunft nicht vorbeikommen werden. Entscheidend ist also für uns die gemeinsame Ausgestaltung. Dabei sollte besonderer Wert
auf folgende Punkte gelegt werden:
Erstens muss Leistung sich auch in der Landwirtschaft
und für die ländlichen Räume lohnen, wobei man in der Tat
darüber diskutieren muss, was man überhaupt unter Leistung versteht. Da müssen Kriterien entwickelt werden.
Zweitens dürfen Betriebe nicht wegen ihrer Größe benachteiligt werden, wenn sie Qualitätslebensmittel - ich
betone: Mittel zum Leben - produzieren.
({18})
Drittens müssen wir die bei der Anwendung der Modulation frei werdenden Mittel innerhalb der Länder weiterverwenden dürfen. Es darf uns nicht passieren, dass wir
Mittel in Richtung Süden ablaufen lassen und damit der
Osten zur veredelungsfreien Zone wird. Das verstehen
wir unter regionaler Gerechtigkeit.
({19})
Abschließend noch eine Bitte. Das BSE-Maßnahmengesetz wird dieses Haus in den nächsten Tagen intensiv
beschäftigen. Viele Menschen stellen die ethisch berechtigte Frage nach dem Sinn einer Tötung von Gesamtbeständen. Ich bitte Sie, hier umgehend klare gesetzliche
Grundlagen zu schaffen. Das derzeit praktizierte Verfahren ist nach meiner Auffassung fachlich nicht ausreichend
begründbar und im Moment nur deshalb nicht zu vermeiden, weil die nachfolgenden Wirtschaftsbereiche keine
Tiere oder auch Produkte aus BSE-Beständen nachfragen.
Hier müssen wir gemeinsam mit den Verbraucherinnen
und Verbrauchern vorankommen. Wir dürfen uns die
Wege nicht verbauen.
Noch ein Wort an Frau Merkel. Sie kommen aus dem
schönsten Bundesland der Bundesrepublik Deutschland,
aus dem ja auch ich komme. Sie sind dort Parteivorsitzende gewesen. Ich habe die Entwicklung sehr genau miterlebt. Haben Sie nicht als dortige CDU-Vorsitzende
dafür geworben, in Mecklenburg-Vorpommern industriemäßige Anlagen mit bis zu 20 000 Schweinen zu
installieren?
({20})
Genau das verstehen wir unter den industriemäßigen Anlagen, die der Bundeskanzler angesprochen hat.
Diskriminieren Sie nicht die Landwirte, die flächendeckende landwirtschaftliche Urproduktion betreiben!
Unter flächendeckender Landwirtschaft verstehen wir
und auch das neue Papier des Bundeskanzleramtes eine
Produktionsweise, bei der der Tierbesatz an die Fläche gebunden ist.
({21})
In der Vergangenheit haben Sie von der CDU sogar
schwarze Listen von Gemeinden entwickelt, die nicht bereit waren, solche Investitionen aufzunehmen, und diese
von Programmen zur Dorferneuerung und Dorfentwicklung ausgeschlossen. Das war der Geist der CDU.
({22})
Minister Till Backhaus ({23})
Aber Sie haben sich gewandelt; das will ich Ihnen zugestehen.
Vielen Dank.
({24})
Das Wort zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dietrich
Austermann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kollegen! Der Kollege Struck hat vorhin in seinem
kurzen Debattenbeitrag die Behauptung aufgestellt, unsere Rednerin Frau Dr. Merkel habe unzutreffend über die
Beschlussfassung des Haushaltsausschusses gestern berichtet. Ich stelle dazu Folgendes fest: Es hat gestern im
Haushaltsausschuss eine Drucksache der Bundesregierung vorgelegen, Datum: 5. Februar 2001. In dieser
Drucksache wird über die Gegenfinanzierung außerplanmäßiger Ausgaben berichtet. Es heißt dort:
Zur Vermeidung einer weiteren Belastung der
Haushaltseckwerte wird auf eine weitere Steuersenkung für Agrardiesel verzichtet.
({0})
Hier wird von einer Entscheidung Abstand genommen,
die den Bauern versprochen war, von einer Entscheidung,
die die Grundlage für die Beschlussfassung zur Entfernungspauschale im Bundesrat war, von einer Entscheidung, die seit längerer Zeit fällig ist, weil die Bauern
durch Agrardiesel in besonderem Maße belastet sind.
Der zuständige Staatssekretär aus dem Finanzministerium hat dies erläutert und dabei deutlich gemacht, dass
dies 200 Millionen DM bedeutet.
({1})
Das heißt, die Bauern sollen auf der einen Seite 200 Millionen DM finanzieren, damit auf der anderen Seite BSESchäden beseitigt werden. Dies ist ein Vertrauensbruch
und ein Verstoß gegen die Haushaltsregeln.
Dass der Herr Kollege Struck die Unwahrheit gesagt
hat, dürfte damit offenkundig sein.
({2})
Bedauerlicherweise
konnte diese Kurzintervention nicht unmittelbar auf die
Rede des Kollegen Struck folgen, sodass jetzt die missliche Situation entstanden ist, dass der Kollege Struck nicht
antworten kann.
({0})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinrich-Wilhelm
Ronsöhr.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetzt
wird gewendet, was schon einmal gewendet war.
({0})
- Ja, Ulrike, ich sage dir jetzt, was zum Beispiel im Verbraucherschutz gewendet wird. Frau Künast hat angekündigt - ich finde die Ankündigung gut -: Lebensmittel und
Futtermittel sollen rückstandsfrei sein. Vor einem halben
Jahr haben wir den Lebensmittelbericht 2000 dieser Bundesregierung zur Kenntnis genommen, in dem steht: Futtermittel und Lebensmittel sind rückstandsfrei.
({1})
- Das steht da drin. Ich kann den Bericht jedem vorlegen,
ich habe ihn gelesen und offenbar nicht so ein Kurzzeitgedächtnis wie manch anderer hier im Hause.
Ich finde, dass der Bericht den Futtermitteln ein
falsches Testat ausgestellt hat. Wenn wir eine Konsequenz
aus der BSE-Krise für den Verbraucherschutz ziehen
- auch die Landwirte sind Verbraucher, sie verbrauchen
beispielsweise Futtermittel, die in die Lebensmittelproduktion einfließen -, dann sollten wir gemeinsam eine
Grundbedingung aufnehmen: Verbraucherschutz hat immer unbequem zu sein und darf nie in Routine einmünden. Er ist aber in Routineaussagen eingemündet. Ich
glaube daher, dass wir daraus gemeinsame Rückschlüsse
ziehen müssen.
Ich finde, dass Frau Merkel hier zu Recht angesprochen hat - ich wundere mich, dass keine weitere Rednerin oder kein weiterer Redner darauf eingegangen ist -,
dass es ein Produkthaftungsrecht geben muss. Das ist
etwas, was wir jetzt unbedingt in den Verbraucherschutz
integrieren müssen. Das ist ungemein wichtig;
({2})
denn wenn es ein Fehlverhalten Einzelner gab, dann müssen diejenigen, die sich fehlverhalten haben, durch ein
Produkthaftungsrecht auch in Haftung genommen werden
können. Das ist eine weitere Konsequenz, die wir aus der
BSE-Krise zu ziehen haben.
({3})
Nun wird nicht nur der Verbraucherschutz gewendet,
die Bundesregierung wendet auch die Agrarpolitik.
Manches, was hier genannt worden ist, kann ich für die
CDU/CSU-Fraktion nachvollziehen. Herr Backhaus, es
geht nicht um eine Agrarindustrie, aber es gibt eine agrargewerbliche Produktion, die keine Flächenbindung hat.
({4})
Minister Till Backhaus ({5})
Dazu möchte ich Ihnen etwas sagen: Im letzten Jahr ist
die agrargewerbliche Produktion gegenüber der bäuerlichen Landwirtschaft durch die rot-grüne Koalition steuerlich sehr viel günstiger gestellt worden.
({6})
Frau Künast, ich fordere Sie auf, die Besserstellung der
flächenunabhängigen agrargewerblichen Produktion in
der Bundesrepublik Deutschland rückgängig zu machen
und die bäuerliche Landwirtschaft mit der agrargewerblichen Produktion wenigstens gleichzustellen.
({7})
Auch bei der Ökosteuer - ich meine nicht den Agrardiesel oder die Mineralölsteuer, ich meine die Ökosteuer,
soweit sie sich auf Strom und Gas bezieht - ist zumindest
die größere Produktion, auch die agrarbewerbliche Produktion, gegenüber den bäuerlichen Betrieben einseitig
begünstigt worden. Stellen wir das in der Agrarpolitik
wieder richtig! Damit leisten wir für die Landwirte in diesem Land eine verdienstvolle Arbeit.
({8})
Wenn uns das gemeinsam gelingen würde, wäre das doch
schon etwas.
Es geht aber weiter: Jetzt wurde angekündigt, man
wolle unbedingt Agrarumweltmaßnahmen fördern. Ich
finde das interessant. Ich habe Herrn Funke einmal danach gefragt, warum er in seinem Bundesland weniger
Agrarumweltprogramme gefördert hat, als das beispielsweise in Sachsen, Bayern, Thüringen oder BadenWürttemberg der Fall war. Da hat er mir gesagt, in Niedersachsen gebe es nicht so viele erhaltenswerte Landschaftsteile. Aufseiten der Koalitionsfraktionen führte das
auch noch zu einem Gelächter. Wir sollten ein solches
Verhalten aufgeben und uns auf den Level einiger Bundesländer einpendeln, die meist unionsregiert waren, wobei manchmal die F.D.P. mit an der Regierung beteiligt
war. Wenn das geschehen würde, wäre ich sehr dankbar.
Jetzt wird geäußert, man wolle die alternative Produktion bzw. die Ökobetriebe besonders fördern. Herr
Backhaus, Sie haben dazu etwas gesagt, was ich gut fand.
Im Übrigen war Ihre Rede sehr viel sachgerechter als
manche Rede, die hier heute Morgen schon gehalten worden ist.
({9})
Nur, ich habe den Eindruck, Sie befinden sich da ein
Stück weit in innerer Opposition zur Bundesregierung.
Das wird jetzt manchmal deutlich. Im Hinblick auf die
Förderung von Ökobetrieben wurde in Mecklenburg-Vorpommern Gutes geleistet. Ich glaube allerdings, daran
waren wir beteiligt.
({10})
- Das ist so. Man kann doch nachvollziehen, wann die
entsprechenden Zahlen entstanden sind. - Ausdrücklich
will ich hier auch das früher allein von der SPD regierte
Brandenburg loben.
Aber betrachten wir einmal die Situation in den westdeutschen Bundesländern - dies ist schon von Herrn
Backhaus angesprochen worden, obwohl ich die im Hinblick auf Nordrhein-Westfalen genannte Zahl nach oben
korrigieren muss -: In Nordrhein-Westfalen wird 1,4 Prozent der Landesfläche durch Ökobetriebe bewirtschaftet,
in Baden-Württemberg fast 5 Prozent.
({11})
Wenn man jetzt die Ökoproduktion auf 10 Prozent der
Landesfläche ausweiten will, dann muss man in BadenWürttemberg die Ökoproduktion nur verdoppeln. Bei
Frau Höhn muss man sie versiebenfachen.
Jetzt komme ich auf Trittin und Schröder zu sprechen
- die haben ja einmal in Niedersachsen regiert -:
({12})
In Niedersachsen ist 0,9 Prozent der Landesfläche durch
Ökobetriebe bewirtschaftet.
({13})
Das heißt, wenn man eine Ökoproduktion auf 10 Prozent
der Landesfläche erzielen will, dann muss dort verelffacht
werden.
Hier wird immer wieder das Gegenteil von dem verkündet, was man zuvor gesagt hat. Herr Backhaus, an dieser Stelle hat mir Ihre Rede gefallen. Sie haben gesagt, die
Landwirte müssten ihr investives Verhalten auf bestimmte
agrarpolitische Rahmenbedingungen einstellen können. Aber angesichts der ständigen Wendungen in der Politik können die das doch gar nicht, und zwar weder die
alternativ ausgerichtete Landwirtschaft noch die konventionell ausgerichtete Landwirtschaft. Ich habe den Eindruck, dass es einigen im Grunde genommen gar nicht darum geht, die alternativ ausgerichtete Landwirtschaft
besonders zu fördern. Vielmehr geht es darum, die konventionelle Landwirtschaft auf die Anklagebank zu bringen. Etwas anderes will man häufig gar nicht.
({14})
Meine Damen und Herren, ich mache dafür nicht die jetzige Koalition verantwortlich, obwohl sie sich ja immer
wieder in die Verantwortung für das Marktgeschehen hineingeredet hat.
Wir sollten uns einmal anschauen, wie sich in den letzten Wochen die Märkte in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt haben - zu dieser Entwicklung haben einige Redereien beigetragen; ich will gar nicht das Wort
„Eierkocher“, das Frau Künast im Zusammenhang mit der
Viehhaltung verwendet hat, kritisieren; denn ich glaube,
dass sie das nicht wiederholen wird -: Immer mehr
Fleisch kommt zurzeit aus dem Ausland auf den hiesigen
Markt. Ich frage mich, wieso für dieses Fleisch nicht die
qualitativ gleichen Bestimmungen gelten wie für die deutsche Fleischproduktion.
({15})
Wir haben noch immer nicht europaweit die Verwendung
von Separatorenfleisch verboten. Wenn aufgrund des
Verbraucherschutzes dieses in Deutschland bestehende
Verbot richtig ist - ich habe keinen Zweifel daran, dass
wir übereinstimmend der Auffassung sind, dieses Verbot
müsse sein -, dann muss es aber auch für Importware gelten. Es kann ja nicht zweierlei Maß geben. Angesichts
dessen, dass immer mehr Fleisch aus dem Ausland zu uns
kommt, müssen wir darüber nachdenken, ob wirklich eine
Produktionsverlagerung das richtige Mittel ist und ob es
nicht sehr viel mehr auf eine höhere Lebensmittelsicherheit ankommt. Dies gilt es als eine der entscheidenden Voraussetzungen sowohl für einen offensiven Verbraucherschutz wie auch für ein offensives Eintreten für
eine Landwirtschaft in Deutschland und für den ländlichen Raum zu begreifen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass wir manchmal im Grunde genommen an der
eigenen Thematik vorbeireden.
({16})
Ich erteile dem Kollegen Peter Struck das Wort, damit er die Kurzintervention
des Kollegen Dietrich Austermann beantworten kann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kollege Austermann. Ich hatte einen dringenden anderen Termin; deshalb konnte ich Ihre Kurzintervention nicht
verfolgen.
Ich will noch einmal politisch Folgendes klarstellen:
Die Bundesregierung hat offenbar die Absicht, die Kosten, die durch BSE entstanden sind, unter anderem auch
dadurch aufzufangen, dass die beabsichtigte Senkung bei
der Steuer für den Agrardiesel in der Größenordnung von
200 Millionen DM nicht vorgenommen wird und dadurch
ein Teil der Kosten gedeckt wird.
({0})
- Moment, langsam. Immer schön ruhig. Frau Merkel hat
gesagt, der Haushaltsausschuss habe das beschlossen. Ich
habe dargestellt - nachdem mir die Kollegen aus dem
Haushaltsausschuss über die Sitzung berichtet haben -:
Der Haushaltsausschuss hat diese Absicht der Bundesregierung zur Kenntnis genommen.
({1})
- Immer ruhig.
Selbst wenn es so sein sollte, dass eine solche Kenntnisnahme, wenn nicht etwas anderes passiert, rechtliche
Wirkungen entfaltet - ({2})
- Moment. Dazu komme ich noch.
({3})
- Interessiert es Sie nun, was wir machen wollen, oder interessiert es Sie nicht? Dann bringen Sie doch einmal Ihre
Leute ein wenig zur Ruhe, Herr Kollege Glos.
Selbst wenn das die Absicht der Bundesregierung sein
sollte - ich wiederhole das, was ich vorhin vom Rednerpult gesagt habe -: Es gibt eine Erklärung der beiden Koalitionsfraktionen im Zusammenhang mit der Regelung
bei der Entfernungspauschale; es gibt eine Erklärung des
Bundesfinanzministers gegenüber dem Bundesrat; es haben sich SPD-Ministerpräsidenten für die Senkung der
Belastung beim Agrardiesel ausgesprochen.
({4})
Die Koalitionsfraktionen werden zusammen mit der Bundesregierung eine Entscheidung darüber treffen.
({5})
Ich sage Ihnen: Ich werde mich in meiner Fraktion dafür
einsetzen, dass es zu dieser Senkung der Belastung beim
Agrardiesel kommt, weil ich glaube, dass wir hier in einer
besonderen Verantwortung stehen.
({6})
Ich will überhaupt nicht verschweigen, dass ich auch Verständnis für die Sorgen und Nöte des Bundesfinanzministers habe.
({7})
Allerdings will ich hier schon klar Position beziehen: Die
Senkung der Belastung beim Agrardiesel haben wir im
Zusammenhang mit der Diskussion bei der Ökosteuer beschlossen und wir werden das, jedenfalls wenn es nach
mir geht, auch umsetzen.
({8})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der BSE-Skandal hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Aber das ist exemplarisch für Defizite im Bereich
des Verbraucherschutzes. Bei den Lebensmitteln, aber
auch in vielen anderen Bereichen gibt es Probleme mit Intransparenz, mit mangelnder Verbraucherinformation, mit
mangelndem Verbraucherschutz, sei es der Handel mit
Aktien, die Altersvorsorge, die Telekommunikation, sei es
die Strahlenbelastung durch Handys. Der globale Markt
und der Binnenmarkt in der EU stellen erhöhte und neue
Anforderungen an den Verbraucherschutz, qualitativ
ebenso wie quantitativ.
Die an die Politik gerichtete Anforderung heißt: Vorsorge als wichtigstes Prinzip verankern. Das ist auch aus
ökonomischen Gründen sinnvoll. Nehmen Sie einmal das
Beispiel Asbest. Asbest wurde schon 1936 als gesundheitsschädigend erkannt und es dauerte 60 Jahre, bis es
vom Markt genommen wurde. Die Folgekosten seitdem
betragen 10 Milliarden DM. Die Folgekosten bei BSE
werden sicher viel höher sein. Die Bundesregierung hat
sich entschlossen, hier zu handeln. Vorsorge als wichtigstes Prinzip zu verankern heißt, in diesen Bereichen auch
neue Strukturen zu schaffen. Das ist mit dem Ministerium
für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft
unter der Leitung von Ministerin Renate Künast geschehen, die für eine solche Entwicklung steht. Damit ist ein
großer, qualitativ neuer Schritt zur Verankerung des Verbraucherschutzes gemacht worden.
({0})
- Ruhe!
({1})
Wir werden auch weiterhin solche Schritte unternehmen, und zwar nicht nur in Form der Umwandlung des
Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
in einen Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft. Vielmehr zeigt der Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Offensive für den Verbraucherschutz - Perspektiven für die Landwirtschaft“, der Ihnen heute vorliegt, dass diese Neuorientierung in der
Gesellschaft, aber auch unter den Abgeordneten und in
den Fraktionen auf breiter Ebene getragen wird. Der Wandel zu einer modernen Gesellschaft im Bereich Agrarpolitik soll hiermit verankert und vorangetrieben werden.
Wir folgen damit einem Modell, das auch Vertreter des
Kanzleramts in die Öffentlichkeit getragen haben, nämlich dem Modell der Marktspaltung. Das Modell hat drei
Säulen: gewerbliche Produktion, multifunktionelle Produktion und ökologische Produktion. Die Entwicklung einer solchen Marktspaltung im Bereich der Produktion
gibt es schon seit längerem, aber wir werden sie mit Blick
auf die multifunktionelle und die ökologische Produktion
weiter vorantreiben.
({2})
Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
haben sich zum Ziel gesetzt, Lebensmittelsicherheit wieder herzustellen und das Vertrauen der Verbraucher wieder
zu gewinnen, Landwirtschaftsbetrieben und Lebensmittelwirtschaft bezüglich Arbeitsplätzen und Einkommen wieder Perspektiven zu bieten, die Verschwendung von Steuermitteln für falsche Agrarpolitik zu beenden und Folgekosten im Gesundheitswesen und in der Volkswirtschaft
für Umweltreparaturmaßnahmen zu vermeiden. Diese
Ziele werden mit folgenden vier Schwerpunkten umgesetzt: Verbraucherschutz und Transparenz, Förderung
umwelt- und tiergerechter Landwirtschaft im konventionellen Bereich, Förderung von ökologischer Produktion
und neue Perspektiven für die Landwirtschaft im Bereich
neue Dienstleistungen, zum Beispiel erneuerbare Energien.
({3})
Zum ersten Schwerpunkt, Verbraucherschutz und
Transparenz, möchte ich noch einmal hervorheben - das
ist eine wichtige Aussage auch im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit künftiger qualitativ hochwertiger Produkte - : Wir möchten Qualitätszeichen verankern, um
die Orientierung der Verbraucher zu erleichtern, und zwar
sowohl im Bereich der ökologischen Produktion als auch
im Bereich der konventionellen Produktion. Den Verbrauchern muss ermöglicht werden, zu identifizieren, was
unter hohen Standards erzeugt worden ist, und auch über
den Verbraucherpreis die Mehrleistungen, die damit verbunden sind - kostenintensivere Produktion durch mehr
Artgerechtigkeit; mehr Platz in den Ställen, wie Frau
Künast sagt -, zu honorieren. Dies gilt auch für eine Verteuerung, indem man auf bestimmte Rationalisierungsmaßnahmen wie das Verfüttern von Tiermehl oder das
Verabreichen antibiotischer Leistungsförderer in einem
positiven Sinne zum Wohle der Gesundheit der Verbraucher verzichtet.
({4})
Verbraucherschutz und Transparenz haben natürlich
auch viel mit den BSE-Schutzmaßnahmen zu tun, die in
unserem Antrag ausführlich beschrieben sind, über den
wir heute auch beraten. Für uns sind in den letzten Wochen und Monaten natürlich zwei Bereiche in der Diskussion gewesen. Frau Ministerin Künast hat sehr viel Mut
bewiesen und sich in dieser sehr kontroversen und emotionalisierten Debatte durch eine pragmatische Herangehensweise behauptet und diesen Vorsorgegedanken verankert.
Ich glaube, dieser Vorsorgegedanke muss im Bundestag insgesamt verankert werden. Man kann nicht durch
ständig neue Vorschläge und unterschiedliche Vorgehensweisen - auch in einzelnen Ländern, Herr Backhaus - die
Menschen weiter verunsichern. Wir müssen uns zunächst
einmal an den Erkenntnissen orientieren, die wir im Moment haben. Das heißt für uns - so steht es auch in unserem Antrag -, dass wir zunächst einmal die Herdenschlachtung betreiben müssen.
Hier wird immer auf die Schweiz mit dem Kohortenmodell verwiesen. Dazu muss man ehrlicherweise sagen,
dass die Schweiz schon seit zehn Jahren eine solche BSEBekämpfung betreibt. Fast vier Jahre lang hat sie ganze
Herden geschlachtet. Wenn wir dahin kommen, können
wir auch darüber reden; ebenso - das hoffe ich -, wenn
wir zu neuen Erkenntnissen kommen, beispielsweise im
Bereich der Lebendtests.
Das Zweite ist das Marktentlastungsprogramm. Wir
haben keine Alternativen. Es ist jedem freigestellt, jedem
Bundesland, auch Bayern, andere Vermarktungsmöglichkeiten für die Rinder und die Milchkühe, die älter als
30 Monate sind, zu suchen und wahrzunehmen. Es ist den
Verbrauchern, es ist den Gruppen freigestellt, die sich engagieren möchten, das zu tun. Es ist selbstverständlich
auch möglich, in die Dritte Welt zu exportieren. Es findet
sich dafür bloß keiner, wie Herr Schlauch schon gesagt
hat, und das werden wir auf keinen Fall unterstützen. Aber
alle diese Möglichkeiten haben sich bisher nicht gezeigt.
Insofern gibt es nur diesen einen Weg. Das ist für den Tierschutz und für die ethische Betrachtung wichtig: Wir werden dafür sorgen, dass sich eine solche Entwicklung nicht
wiederholt, indem wir die artgerechte Tierhaltung in Zukunft massiv unterstützen und eine Entwicklung dieser
Art nicht mehr zulassen.
({5})
Die Altlastenverwaltung ist einfach nötig, ebenso eine
umwelt- und tiergerechte Produktion im konventionellen
Bereich. Es ist eine Qualitätskennzeichnung notwendig,
um auch im konventionellen Bereich eine neue Wertschätzung und Wertschöpfung dieser Produkte zu ermöglichen. Es ist aber auch wichtig, die Förderung im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit anders zu gestalten.
Bisher erhalten industrialisierte und gewerbliche Formen
nahezu die gleiche Unterstützung. Wir möchten darauf
hinwirken, dass die artgerecht und umweltgerecht ausgerichtete, aber auch die arbeitsplatzorientierte Produktion
neue Chancen erhält. Ich habe mich über Ihre Ausführungen, Herr Backhaus, zur Modulation und zu den Möglichkeiten, die wir im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe
im Bereich der Agenda 2000 haben, gefreut.
Zur Agenda 2000 noch eine kurze Anmerkung: Frau
Merkel hat hier ein Scheitern festgestellt und dabei BSE
und die Milchquote miteinander in Verbindung gebracht.
Aber mit Verlaub: Wir hatten bislang kein Problem mit
der Milcherzeugung in diesem Land, wir hatten auch kein
Problem beim Fleischabsatz. Insofern hat das eine mit
dem anderen weiß Gott nichts zu tun. Wir haben durchaus
sehr positive Entwicklungen im Bereich der Agenda 2000
zu verzeichnen. Eine Weiterentwicklung ist in diesem Fall
auch nur konsequent und wird von der EU- und der WTOEbene abgestützt.
({6})
Zur ökologischen Produktion: Wir haben uns vorgenommen, in zehn Jahren 20 Prozent der Agrarprodukte
ökologisch zu erzeugen. Hier möchte ich noch einmal auf
das von Frau Merkel und Herrn Ronsöhr Gesagte eingehen. Sie haben wieder einmal eine absolute Ideologisierung betrieben. Man muss sich doch an den Kopf fassen
angesichts der Tatsache, dass ökologische Produkte in
Deutschland bislang keine Marktchance hatten - im Gegensatz zu Österreich, zu Dänemark, zu Italien oder der
Schweiz.
({7})
Sie haben die Entwicklung der ökologischen Produktion
massiv verschlafen und verhindert. Das hat im Übrigen
zum Teil auch der Deutsche Bauernverband getan, bis er
sich ein Stück weit revidiert hat.
Frau Kollegin Höfken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr?
Ja,
wenn ich diesen Satz beendet habe.
Die Nachfrage wird zu 50 Prozent aus dem Ausland gedeckt. Es ist keinesfalls so, dass die Betriebe in die Enge
getrieben würden. Notwendig ist, die Logistikstrukturen
zu verbessern, den Absatz zu unterstützen, eine Imagekampagne zu fahren und Verbraucherinformation zu
betreiben. Dann haben diese Produkte eine sehr große
Chance auf dem Markt, im Übrigen auch zugunsten der
konventionellen Produktion, die ja bestehen bleibt.
Herr Ronsöhr.
Frau Kollegin Höfken, würden Sie anerkennen, dass ich mich nicht
gegen den ökologischen Landbau ausgesprochen, sondern lediglich festgestellt habe, dass in Baden-Württemberg der ökologische Landbau offensichtlich auf dem
Markt und auch bei der Politik eine andere Akzeptanz gefunden hat als in Nordrhein-Westfalen,
({0})
obwohl die Regierung von Nordrhein-Westfalen immer
etwas anderes sagt? Ich glaube, dass Herr Minister
Backhaus für das Land Mecklenburg-Vorpommern eine
ähnliche Erklärung abgegeben hat.
Wir
sehen den Wandel der CDU/CSU mit Freuden und warten
darauf, dass sich dieser auch in entsprechende Taten umsetzt.
({0})
Es ist die Aufgabe des Bundes, die Rahmenbedingungen
so zu gestalten, dass die Länder in die Lage versetzt werden, eine solche Strategie mitzumachen. Das werden wir
tun.
({1})
Wir haben - das ist schon angesprochen worden - ein
Finanzierungsproblem. Der Bund leistet einen großen
Beitrag, indem er knapp 1 Milliarde DM zur Unterstützung der unmittelbaren BSE-Bekämpfung und der Folgekosten zur Verfügung stellen wird. Das ist etwas, das
man würdigen muss.
Ich spreche hier als Abgeordnete und möchte dem
Hause insgesamt ein Problem aufzeigen, das mich beunruhigt. Ich möchte aus unserem Antrag zitieren, der Ihnen
vorliegt:
Der Einsatz von Mitteln zur akuten Krisenbewältigung darf nicht zulasten der Förderung der Neuausrichtung der landwirtschaftlichen Betriebe gehen.
Das ist ein wichtiger Ansatz. Selbstverständlich verstehen
wir die Situation der Haushälter. Jeder Finanzminister
muss klebrige Finger haben. Aber es ist unser Wunsch und
es besteht auch die Notwendigkeit, dass die Finanzierung noch einmal überprüft wird und vielleicht neue
Möglichkeiten geschaffen werden.
Die Betriebe, die tatsächlich in Schwierigkeiten sind,
sollten eine Unterstützung erhalten. Ich habe niemals von
einer Steuer geredet. Das haben andere in vielleicht eindeutiger Absicht getan. Aber es ist notwendig, sich darüber Gedanken zu machen, wie der Finanzierungsstau aufzulösen ist, der sich gerade bei den Milchviehbetrieben
ergibt. Die Betriebe haben Mehrkosten durch die Tests und
das Futter. Hinzu kommen die Kosten für die
Tierkörperbeseitigung. Inzwischen muss man für 1 Kilo
Knochen 80 Pfennige bezahlen. Die Betriebe haben die
Kosten für die Folgen von BSE zu tragen. Sie haben keinerlei Absatz mehr. Der Kilopreis ist um mehr als 50 Prozent
gesunken.
Ich nenne Ihnen die Zahlen in dieser Ausführlichkeit,
um deutlich zu machen: Es gibt für die Betriebe keine
Möglichkeit, diese Kosten zu verlagern. Ein Drittel ihres
Einkommens ist in Gefahr. Wenn wir nicht helfen, werden
sie nicht überleben. Mein Kollege Reinhard Schultz von
der SPD-Fraktion sagte: Wenn wir möchten, dass landwirtschaftliche Betriebe mit artgerechter Rindviehhaltung, die gute Produkte erzeugen, die Agrarwende überstehen, stehen wir vor großen Herausforderungen. Ich
hoffe, dass auch Sie sich, werte Kollegen von der
CDU/CSU und der F.D.P., dieser Aufgabe stellen.
Danke schön.
({2})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Marita Sehn von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grüne Woche hat es auf eindrucksvolle Weise belegt: Die Versorgung mit hochwertigen Nahrungsmitteln ist in Deutschland eine Selbstverständlichkeit
geworden.
Ich möchte Sie daran erinnern: Die Intensivierung in
der Landwirtschaft entstand aus dem gesellschaftlichen
Auftrag heraus, Nahrungsmittel in ausgezeichneter Qualität, in ausreichendem Maße und zu vernünftigen, verbraucherfreundlichen Preisen zu erzeugen.
({0})
Unsere Bäuerinnen und Bauern haben diesen Auftrag in
hervorragender Weise erfüllt. Dafür ist ihnen die Gesellschaft zu Dank verpflichtet.
({1})
Es war die konventionelle Landwirtschaft, die dafür gesorgt hat, dass meine Generation keinen Hunger mehr leiden musste.
({2})
Auch wenn es nicht in das Denkschema der Regierung
passt: Dass sich ökologisch erzeugte Produkte nicht am
Markt durchsetzen konnten, ist nicht auf die Unsensibilität der Verbraucher in Bezug auf ökologische Sachverhalte zurückzuführen. Es liegt unter anderem an der
hervorragenden Qualität der konventionell erzeugten
Nahrungsmittel.
({3})
Der Verbraucherschutz ist als Vehikel für agrarpolitische Ideologien ungeeignet. Wir Liberalen wollen den
mündigen, informierten Bürger und nicht den bevormundeten Bürger. Frau Ministerin, dazu gehört auch
({4})
- das ist leider so -, dass in der BSE-Debatte nicht nur die
Zahl der positiv getesteten Tiere, sondern auch die der insgesamt durchgeführten Tests genannt wird.
Die Bauernversammlungen in Bitburg, in Bad Kreuznach, aber auch in anderen Orten in Deutschland vermitteln das gleiche Bild.
({5})
- Das ist bei dieser Regierung leider so. - Die Landwirte
fühlen sich an den Pranger gestellt, diffamiert und von der
Bundespolitik im Stich gelassen. Während der Bundeskanzler auf seiner Reise durch Rheinland-Pfalz die Landwirte beleidigt und verunglimpft, hat das F.D.P.-geführte
Ministerium in Mainz schnell und unbürokratisch reagiert.
({6})
Ich möchte hier, liebe Frau Höfken, nur auf die Übernahme der Kosten für die BSE-Schnelltests und die zusätzlichen finanziellen Mittel für die Verbraucherzentralen hinweisen.
Mir fehlt in der Bundesregierung die Sensibilität, die
Situation auch aus Sicht der betroffenen Betriebe zu sehen, die sich schutzlos einer Vorverurteilung ausgesetzt
sehen. Deshalb fordere ich, dass die Anonymität der Betriebe gewahrt bleibt.
({7})
Herr Berninger, die Auskunft, die Sie gestern im Ausschuss gegeben haben, dass eine Anonymisierung der Betriebe aufgrund der Medienhysterie nicht durchführbar
sei, ist mehr als unbefriedigend.
({8})
Ich fordere Sie auf, sich nicht der Medien als Vorwand für
Ihre Tatenlosigkeit zu bedienen.
({9})
Meine Damen und Herren, ich muss mich schon sehr
wundern, was den Verbrauchern in den letzten Wochen so
alles zum Verzehr angeboten worden ist: von der Klapperschlange bis zum Straußensteak. Mich stimmt das alles sehr nachdenklich und ich halte dies für nicht mehr
normal.
({10})
Sehr geehrte Frau Ministerin, bevor Sie von einer
Neuausrichtung der Agrarpolitik reden, sollten Sie erst
einmal die „alte“ Agrarpolitik kennen. Als Einstiegslektüre empfehle ich Ihnen die Abschiedsrede vom 18. Juni
1998 meines Kollegen Günther Bredehorn, des ehemaligen agrarpolitischen Sprechers der F.D.P.-Bundestagsfraktion vor diesem Haus. Viele Gedanken, die Sie heute
als neu deklarieren, werden Sie dort wiederfinden. Sie
sind nicht neu.
Es ist die Aufgabe der Politik, also unsere, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass Landwirtschaft in
Deutschland auch weiterhin eine Zukunft hat. Diese Regierung hat bisher das Gegenteil getan. Die Landwirte
brauchen uns, aber wir brauchen auch die Landwirte.
Danke.
({11})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Kersten Naumann von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Künast hat uns nun ihr
Wunschprogramm vorgestellt. Doch Tatsache ist, dass
Fleischberge wachsen, Fleischpreise sinken, Landwirte
und Verbraucher nach wie vor verunsichert sind. Tatsache
ist ferner, dass betroffene Landwirte in den Ruin getrieben
werden, aber ein BSE-Folgekostenkonzept immer noch
aussteht und das bisher geplante wie ein Konzept aus dem
Tollhaus anmutet. Tatsache ist auch, dass die Schuldigen
aus der Futtermittelbranche nach wie vor nicht benannt
und zur Verantwortung gezogen werden.
({0})
In Europa gibt es schon seit fast zwei Jahrzehnten Erfahrungen mit BSE. Die Erfahrungen in der Schweiz, wo
seit 1990 vorsorgend an BSE gearbeitet wird, besagen,
dass ein wirklich durchdachtes zucht- und veterinärhygienisches Programm in Zusammenhang mit einem Hilfsprogramm für die Betroffenen diese dann auch zur Mitwirkung motiviert. Ich denke hierbei an die Zusicherung
von Milchgeld, von Ausgleichszahlungen und Entschädigungen. Doch an all dem fehlt es in Deutschland.
Wir haben in Deutschland über 14 Millionen Rinder; es
gibt über 218 000 Rinderhalter, davon 203 000 in den alten Bundesländern und über 15 000 in Ostdeutschland.
Selbst wenn in diesem Jahr möglicherweise „nur“ bis zu
500 Betriebe eine Bestandskeulung durchführen müssen,
sind alle Rinder- und Milchproduzenten davon betroffen.
Frau Künast, Sie setzen auf eine Reduzierung der
Produktion und sagen, es dürfe nur noch so viel Rindfleisch produziert werden, wie die Verbraucher essen. Das
ist richtig, aber in der Tierproduktion nicht kurzfristig
machbar. Die Nachfrage ist bis auf 50 Prozent gesunken.
Da die Reproduktion der Bestände aber nicht wie eine
Maschine von heute auf morgen abstellbar ist, wird es
vorerst noch zur Anhäufung entweder von Rindern beim
Landwirt oder von Rindfleisch in den Lagern, beim
Schlachter oder im schlechtesten Fall in Form von Tiermehl auf Deponien kommen.
Das Herauskaufprogramm rettet die verlorene Nachfrage nicht; sie wird sich nur schrittweise erholen. Das
heißt, Landwirte wie Politiker werden ohnehin auch in
Zukunft vor dem Problem überschüssiger Fleischberge
stehen. Eine Herodes-Prämie zur Vernichtung von Kälbern lehnen wir jedoch ab.
({1})
Es sollte aber darüber nachgedacht werden, ob nicht vermehrt auch Kalbfleisch angeboten wird. Damit würde
nicht nur relativ kurzfristig der Rindernachwuchs reduziert, sondern es könnte gleichzeitig die künftige Produktion gedrosselt werden. Ich halte es deshalb für geboten,
sowohl mehr Kälberfleisch und Fleisch von Jungbullen
anzubieten als auch gleichzeitig den Bauern eine Perspektive anzubieten, wie sie mit verringerter Produktion
überleben können. Das kann aber nur mit einer Umschichtung der Fördermittel funktionieren.
Meine Damen und Herren, in der gestrigen Sitzung des
Haushaltsausschusses hat die Bundesregierung die Katze
aus dem Sack gelassen: Die Landwirte sollen von den
425 Millionen DM, die zur Mitfinanzierung des Herauskaufs älterer Rinder und der Kosten der Entsorgung der
Altbestände an Tiermehl und Tierfetten gebraucht werden, indirekt 325 Millionen DM, also rund drei Viertel der
Mittel, selbst aufbringen. Im Klartext heißt das: Erstens.
Die mit dem Agrardieselgesetz verbundene Mehrbelastung der Landwirtschaft wird nicht um 200 Millionen DM
reduziert; vielmehr werden die finanziellen Belastungen
aus der BSE-Krise voll den Bauern übergestülpt.
({2})
Herr Kollege Struck, zwischen dem Unterstützen einer
Sache und dem Beschließen von Maßnahmen klafft in Ihrer Fraktion oft eine große Lücke.
({3})
Zweitens. Die Verminderung des Bundesanteils an der
Gemeinschaftsaufgabe um 125 Millionen DM bedeutet
praktisch 208 Millionen DM weniger Fördermittel für
Agrarbetriebe und ländliche Räume, da die meisten Länder nicht dazu in der Lage sein werden, ihren frei werdenden Landesanteil für landeseigene Programme einzusetzen. Vielmehr werden sie daraus Hilfsmaßnahmen für
existenzbedrohte Betriebe finanzieren. Das wäre jedenfalls die Konsequenz der Position der Bundesregierung,
die sich an keinen weiter gehenden Hilfen für Agrarbetriebe beteiligen will.
Ich fordere Sie, Frau Ministerin Künast, auf, diese unhaltbare Position zu korrigieren; denn so kann ein agrarpolitischer Neuanfang nicht gelingen.
Danke schön.
({4})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Heidi Wright von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Viele Menschen werden heute diese
Debatte über das Fernsehen verfolgen und morgen die
Zeitungsberichte darüber lesen. Bauern, Metzgereien,
aber auch Millionen von Verbraucherinnen und Verbrauchern hoffen auf ein konsequentes Vorgehen und auf die
Bewältigung der größten Landwirtschafts- und Lebensmittelkrise, die sich nicht auf Deutschland beschränkt.
Ich wollte mich eigentlich gar nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen und fragen: Warum, woher,
wieso? Ich habe mich aber gestern geärgert: Ich komme
in mein Büro und lese in der Zeitung, dass der Bauernverband zu einer Demonstration aufruft.
({0})
Es werden Schilder hoch gehalten, die sich gegen die Herauskaufaktion richten. Ich habe daraufhin sofort beim
Präsidenten des Bauernverbandes in Bonn angerufen. Er
war nicht da, er war beim Demonstrieren in München. Ich
habe gefragt: Was wollen Sie denn? Wollen Sie eine Herauskaufaktion oder sollen die Rinder in den Ställen stehen bleiben? Wollen Sie auf den Appell aus Bayern warten, dass die Menschen ein Kilo mehr verzehren sollen?
Wollen wir darauf warten oder wollen wir handeln? Wir
wollen handeln und wir handeln, und zwar jetzt.
({1})
Zunächst ein Lob an die Ministerin. Ihre Präsenz - in
der Öffentlichkeit, den Arbeitsgruppen, den Gesprächskreisen, auf der Grünen Woche und natürlich bei den Verbänden, den Bauern sowie den Verbrauchern - weckt Vertrauen. Hier steht eine - ich meine, fast Tag und Nacht; ich
sehe sie, wenn ich das Fernsehen einschalte, und ich sehe
sie, wenn ich hier bin -, die es anpackt, und zwar in Berlin, im Land und in Brüssel. Glauben Sie mir: Die Menschen spüren, dass da eine steht, mit der wir es packen
können.
({2})
Ich verrate Ihnen auch, warum: weil sie nicht zudeckt
und nicht zaubert, weil sie nicht schon immer alles gewusst hat, sondern weil sie weiß, dass wir jetzt handeln
müssen, und weil sie alle in einen Prozess einbindet.
({3})
Frau Kollegin Wright, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hinsken?
Nein.
Im Gegensatz zum Bund wird im BSE- und Schweinemastskandalzentrum, in der Bayerischen Staatsregierung und im dort neu zusammengebastelten Ministerium,
wie aus einer Wurfbude heraus auf alles Mögliche gezielt.
({0})
Alle ducken sich und keiner weiß mehr, wo es langgeht.
Wo geht es lang? Wir müssen uns an den Verbraucherbedürfnissen und der Verbrauchersicherheit orientieren.
Gerade im Bereich der Lebensmittelproduktion darf es
bei der Sicherheit keine Abstriche geben. Jeder wird das
unterstreichen und unterschreiben. In diesem Zusammenhang will ich aber deutlich sagen: Sicherheit ist eine Leistung, die ihren Preis hat. Diese einfache Wahrheit müsste
eigentlich nicht betont werden und dennoch wissen wir,
dass genau dies - die Honorierung der landwirtschaftlichen Leistung, die Honorierung der Sicherheit des Produktes - immer mehr marginalisiert wurde. Wir machen
Schluss mit dieser Marginalisierung. Deshalb werden wir
einen Weg hin zu einem ordentlichen Preis-LeistungsVerhältnis gehen.
({1})
Wenn nicht jetzt, wann dann müssen wir in der Politik für
die landwirtschaftlichen Urproduzenten zusammen mit
dem Handel diese Chance ergreifen? Fleisch darf nicht
mehr zum Lockangebot, sondern muss zum Toppangebot
gemacht werden, topp in Qualität und Sicherheit.
({2})
Weil zwar alles in der Lebensmittelproduktion gut
sein muss, darf dennoch einiges und immer mehr besser
sein. Ich spreche hier die verstärkte Orientierung zum
ökologischen Landbau an. Tatsache ist: Hier sind wir
längst nicht so weit, wie wir es sein könnten. 2,6 Prozent
der landwirtschaftlichen Fläche werden in Deutschland
im ökologischen Landbau betrieben. In Mecklenburg
sind es 6,4 Prozent, in Hessen 6 Prozent und in Bayern
klägliche 1,8 Prozent, also unter dem deutschen Durchschnitt.
({3})
- In Bayern, Herr Kollege, 1,8 Prozent. Ich bin aus Bayern. Ich kehre vor der eigenen Haustür. Da ist zu kehren
und aufzuräumen.
({4})
In Dänemark haben wir 6 Prozent, in Österreich
10 Prozent.
({5})
Da will ich hinkommen - und weiter. Der politische Wille
ist da und viele in der Landwirtschaft kapieren, dass das
eine Chance ist. Schön, dass eine Meinungsumfrage im
Auftrag von n-tv sagt, dass 82 Prozent der Bevölkerung
eine ökologische Ausrichtung der Betriebe wollen und
dass 67 Prozent auch 25 Prozent mehr bezahlen wollen.
Ich spreche hier die Verbraucherinnen und Verbraucher
an. Diesen Umfrageergebnissen müssen natürlich Einkaufstaten folgen; auch das gehört zur Aussage.
Die neue Landwirtschaftspolitik wird mit einem offensiven Aktionsprogramm und mit einer Imagekampagne
vorangehen. Unser Ziel ist, in zehn Jahren den Anteil der
ökologischen Produktion auf 20 Prozent auszudehnen
und leistungsfähige Vermarktungsstrukturen aufzubauen.
Alle, die da tönen - gerade aus Bayern -, das gehe nicht,
sollten einmal die „Süddeutsche Zeitung“ von gestern lesen: Raus aus der Nische und rein in den Bio-Boom, so
steht es in der „Süddeutschen“ auf einer ganzen Seite.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss: Ich
weiß, dass das nur ein, aber ein wichtiger Part in der neuen
Landwirtschaftspolitik ist. Förderung regenerativer Energien, Landwirt als Energiewirt, verstärkte Einbindung der
Landwirtschaft in Naturschutz, Kulturlandschaftspflege all das hat Zukunft, denn all das gehört zu einer Nachhaltigkeitsstrategie, die wir bereits in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt haben. Den entsprechenden
Antrag beraten wir heute ebenfalls. Es ist gut, ihn zusammen mit dem Antrag zur Neuausrichtung der Agrarpolitik
zu behandeln. Eine Neuausrichtung der Agrarpolitik muss
sich am Leitbild der Nachhaltigkeit - ökologisch, ökonomisch und sozial - ausrichten. Wir haben die ganze Zeit
das Ökonomische definitiv zu stark betont.
Letzter Satz: Hätten wir früher die Kriterien der Nachhaltigkeit als wichtige Grundlage der Fortentwicklung
von Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik anerkannt und
angewandt, wäre - das ist die spannende Frage - es dann
nicht zur BSE-Krise gekommen? Wäre, würde, hätte - all
das ist spekulativ. Heute gilt: Wir packen es an!
({7})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Albert Deß von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine ganze Reihe von Fragen sind
heute angesprochen worden, Vorwürfe sind wieder vorgebracht worden. Ich wundere mich schon, dass das Thema
Ökolandwirtschaft jetzt so eine große Rolle spielt. Es war
bisher niemandem verboten, Ökoprodukte zu kaufen. Ich
wundere mich aber, dass nur 2,5 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche für die Ökolandwirtschaft benötigt
werden. Die Bauern würden gerne Ökoprodukte verkaufen, wenn der Absatz dafür vorhanden wäre.
({0})
Auf diesen 2,5 Prozent der Fläche werden 2 Prozent
der Menge erwirtschaftet. Ich gehe davon aus, dass die
Hälfte der Käufer von Ökoprodukten keine Wähler der
Grünen sind. Wenn alle Wähler der Grünen Ökoprodukte
kaufen würden - ich lasse die SPD ganz außen vor -, dann
hätten wir schon 400 Prozent mehr Ökoanbau als heute.
({1})
Ich weise die Vorwürfe, die hier im Zusammenhang
mit dem Thema Risikomaterialien immer wieder erhoben werden, auf das Entschiedenste zurück. Die alte Bundesregierung hat der neuen Bundesregierung eine in Kraft
befindliche Verordnung übergeben, in der stand, dass Risikomaterialien ab dem 1. Januar 1999 nicht mehr verwendet werden dürfen.
({2})
Eine der ersten Maßnahmen der neuen Bundesregierung
bestand darin, diesen Stichtag auf den 1. Oktober 2000 zu
verschieben.
({3})
Frau Kollegin Wright sollte mit ihren Vorwürfen sehr
vorsichtig sein. Ich habe hier ein Programm der SPD mit
dem Titel „Sicheres Fleisch“, das die Kollegin Wright
1997 an den Bayerischen Bauernverband geschickt hat.
Ich zitiere daraus wortwörtlich:
Jedes Jahr fallen in Deutschland etwa 1,8 Millionen Tonnen Schlachtabfälle an. Dieses Material
stammt von Tieren, die für den menschlichen Verzehr
bestimmt sind. Es enthält wertvolle Rohstoffe, die für
die Fütterung von Fleisch- und Allesfressern sinnvoll
verwendet werden können.
({4})
Es wäre ökologisch verantwortungslos und - weil es
sich um Reste von bereits verzehrten Tieren handelt auch kaum rational erklärbar, diese Rohstoffe im
Rahmen einer Risikominimierung zu beseitigen.
Hört doch bitte mit der Heuchelei auf, die hier dauernd betrieben wird!
({5})
Im Agrarbericht 2000 der rot-grünen Bundesregierung
heißt es:
Das in der EU und in Deutschland erreichte Qualitätsniveau der Lebensmittel kann generell als gut
bezeichnet werden.
Diese Aussage der Bundesregierung zeigt, dass wir alle
einer gewissen Fehleinschätzung unterlegen sind. Ich
kann mich nicht erinnern, dass jemand in der Debatte zum
Agrarbericht dieser Fehleinschätzung widersprochen hat.
Diese Tatsache spricht dafür, dass das Thema BSE-Ursachen für Schuldzuweisungen und für parteipolitische
Auseinandersetzungen sehr wenig geeignet ist.
({6})
Ich sage es ganz offen: Weder Verbraucher noch Bauern oder gar die Betroffenen in der Verarbeitungswirtschaft haben Verständnis für oberflächliche parteipolitische Auseinandersetzungen, welche die notwendigen
Entscheidungen nur verzögern. Es wäre für die von der
Krise Betroffenen besser gewesen, wenn die rot-grüne
Bundesregierung nicht über zwei Monate benötigt hätte,
um die dringend notwendigen Hilfsmaßnahmen auf den
Weg zu bringen.
({7})
Das, was gestern beschlossen worden ist, reicht in keiner Weise aus, Betrieben, die unverschuldet in Schwierigkeiten geraten sind, zu helfen. Die Bauern sind durch die
rot-grüne Bundesregierung schon bisher in Milliardenhöhe einseitig benachteiligt worden. Die gestrigen Beschlüsse sind ein weiterer Tiefschlag, der viele Landwirte
und Betroffene in den vor- und nachgelagerten Bereichen
entmutigt. Die Bundesregierung handelt verantwortungslos, wenn Gesetze mit massiven finanziellen Auswirkungen erlassen werden, die die Betroffenen dann weitgehend alleine tragen müssen.
Zum Thema Agrardiesel kann ich nur sagen: Es ist
nicht reif für eine Kabinettsentscheidung; vielmehr ist
das, was im Hinblick auf Entscheidungen bisher in der
Regierung und in der SPD abgelaufen ist, ein Stück für
das Kabarett, es ist kabarettreif.
({8})
Aufgrund der Ereignisse sind wir uns in diesem Haus
einig, dass der Verbraucherschutz im Bereich Nahrungsmittel verbessert und neu gestaltet werden muss. Ich sehe
in diesem Punkt auch keinen Widerspruch zwischen den
Interessen der Landwirtschaft und denen der Verbraucher.
({9})
Bitte sehr.
Herr Kollege, das Wort erteilt der Präsident, nicht der Redner.
Entschuldigung, Herr Präsident!
Aber ich
entnehme Ihrer Gestik, dass Sie bereit sind, eine Frage des
Kollegen Hinsken zu beantworten. Bitte schön, Herr
Hinsken.
Verehrter Herr Präsident, ich bin sehr dankbar dafür, dass der Kollege Deß im
Gegensatz zur Vorrednerin bereit ist, eine Frage von mir
zu beantworten.
Herr Deß hat eben den vor- und nachgelagerten Bereich angesprochen. Frau Wright wies darauf hin, dass
Frau Minister Künast viele Gespräche mit unmittelbar
Betroffenen geführt hat. Herr Kollege Deß, halten Sie
meine Feststellung für nachvollziehbar, dass es skandalös ist, dass Frau Bundesminister Künast in den drei
Wochen ihrer Tätigkeit nicht eine Stunde erübrigen
konnte, um mit dem Deutschen Fleischer-Verband über
seine Probleme zu sprechen? Gerade in diesem Bereich
stehen 5 000 Arbeitsplätze auf der Kippe. Beim Verkauf
von Rindfleisch muss zum Teil ein Minus von 80 Prozent
und beim Verkauf von anderem Fleisch von 20 Prozent
verzeichnet werden. Man ringt um die nackte Existenz.
Den betroffenen Menschen schenkt die Bundesministerin kein Gehör. Würden Sie deshalb die Bundesministerin auffordern, dieser Verpflichtung endlich nachzukommen und diesen wichtigen Verband auch einmal
anzuhören, um dessen Probleme und Sorgen kennen zu
lernen?
({0})
Ich gebe dem Kollegen
Hinsken in Bezug auf seine Bewertung Recht und komme
gerne der Aufforderung nach, die Bundesregierung zu bitten, endlich auch einmal mit den betroffenen Betrieben im
Verarbeitungsbereich zu reden. Anscheinend spricht diese
Bundesregierung aber nur mit Betrieben, wenn sie eine
Größenordnung wie Holzmann erreicht haben; mit
kleineren spricht sie nicht.
({0})
Die deutschen Bauern - hier muss ich auch einmal mit
der immer wieder vertretenen Meinung aufräumen, dass
die Qualität erst jetzt erfunden worden sei - haben in ihrer
großen Mehrzahl alle vorgegebenen Qualitätsanforderungen erfüllt.
({1})
Am Beispiel Milch kann man das am besten darstellen.
Ich selbst war lange genug Milcherzeuger. Die Qualitätsnormen wurden in der Vergangenheit laufend verschärft;
innerhalb kürzester Zeit haben die Milchbauern immer
wieder diese neuen Qualitätsnormen erreicht. Sich heute
hinzustellen und so zu tun, als hätte es bisher kein Qualitätsbewusstsein gegeben, ist eine Beleidigung für alle
Bauern, die bisher Qualität produziert haben.
({2})
Für unsere Landwirte und ihre Familien ist es auch kein
Problem, weitere neue, sachlich begründete und sinnvolle
Qualitätsvorschriften einzuhalten. Frau Ministerin, damit
haben unsere Bauern keine Probleme. Eines aber können
unsere Bauern nicht: Sie können keine weiteren Belastungen, die im nationalen Alleingang durchgesetzt werden, auf sich nehmen, wenn sie zugleich auf einem freien
Markt einem europa-, ja weltweiten Wettbewerb ausgesetzt werden. Hier setzt meine Kritik an der rot-grünen
Bundesregierung an. Es war die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder, die beim Abschluss der Agenda 2000 eine falsche Weichenstellung
vorgenommen hat.
({3})
Es ist eine Verdrehung der Tatsachen, wenn man jetzt
so tut, als ob andere oder die frühere Bundesregierung
dafür die Verantwortung tragen. Die Agenda 2000 wurde
unter deutscher sozialdemokratischer Präsidentschaft
beschlossen. Bei den Verhandlungen zur Agenda 2000
bestand die Möglichkeit, notwendige Veränderungen
durchzusetzen. Der Bundeskanzler hatte daran anscheinend kein Interesse.
({4})
Beim Deutschen Bauerntag in Cottbus hat der Kanzler
das Ergebnis der Agenda ja zusammengefasst; Frau
Merkel hat es bereits angesprochen. Er hat gefordert, dass
wir uns weiter den Agrarpreisen des Weltmarktes annähern müssen. Dem Bundeskanzler werfe ich vor, dass es
sich doch wohl nur um eine medienwirksame Inszenierung
handelt, wenn er im Zusammenhang mit BSE einerseits
gegen Agrarfabriken in der Landwirtschaft wettert und
andererseits für Weltmarktagrarpreise eintritt.
({5})
Leider ist er nicht da, ich gebe ihm da aber gerne Nachhilfeunterricht: Weltmarktagrarpreise führen zwangsläufig zu Agrarfabriken. Seine beiden Aussagen passen nicht
zusammen.
({6})
Es ist unverantwortlich, angesichts der Rinderhaltung
in Deutschland von Agrarfabriken zu sprechen. Dadurch
werden die Bauern diskriminiert und die Verbraucher
verunsichert. Wenn schon solche Schlagworte verwendet
werden, muss er auch definieren, was eine Agrarfabrik ist.
Er hat es uns bis heute nicht gesagt.
({7})
Ab welcher Tierzahl beginnt denn nach Meinung des
Bundeskanzlers die Massenproduktion? Hier muss man
Ross und Reiter nennen und nicht nur Schlagworte, damit
unsere Bauern wissen, woran sie sind. Denn unsere
Bauern wollen nicht in den Verdacht kommen, Agrarfabriken aufzubauen.
Hier gäbe es noch viel anzusprechen, aber leider läuft
die Zeit davon.
({8})
Ich kann nur darum bitten, dass wir alle einen Beitrag
dazu leisten, dass die Verbraucher wieder Vertrauen auch
in unser deutsches Rindfleisch erhalten.
Sie, Herr Präsident, möchte ich bitten, dass Sie einmal
mit dem Betreiber des Restaurants hier sprechen, damit er
statt argentinischem wieder deutsches Rindfleisch anbietet.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Ich
möchte ganz kurz darauf eingehen: Der Präsident hat
nicht das Recht, den Wirt anzuweisen, Fleisch anzubieten.
Sie als Kunde haben aber die Möglichkeit, den Wirt aufzufordern, Ihnen deutsches Rindfleisch anzubieten.
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Steffi Lemke
von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Verehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Thema der heutigen Debatte ist die Neuorientierung in der
Verbraucher- und Agrarpolitik. Aus den Reihen der
CDU/CSU und der F.D.P. haben zwar mehrere Redner
Beiträge geleistet,
({0})
aber genau zu diesem Punkt haben sie leider nichts gesagt.
Ich habe von ihnen wieder nichts Konzeptionelles für eine
Neuorientierung in der Agrarpolitik gehört. Ich bedaure
das; das meine ich ehrlich. Denn angesichts der Umwälzungen, die vor uns stehen, könnten wir eine gute Opposition, die eigene Ideen in die Debatte einspeist, durchaus
gebrauchen. Sie haben sich jedoch wieder bei Kritik und
Vergangenheitsbewältigung aufgehalten. Es kam nichts
Neues von CDU/CSU und F.D.P.
({1})
Wir haben in der Debatte skizziert, wie wir uns die
zukünftige Orientierung in der Landwirtschaft vorstellen.
Es geht dabei nicht darum, eine vollständige Kehrtwende
zu machen; denn viele der Bestandteile sind in der heutigen Agrarpolitik sehr wohl verankert.
Wir wollen, dass die Agrarwirtschaft in Zukunft auf
drei Säulen steht. Wir wollen, dass es eine - das werden
zunächst 80 Prozent der Landwirte sein - multifunktionale Landwirtschaft gibt. Das ist das, was viele Landwirte heute schon betreiben. Sie sind durch die offizielle
Politik bei der Förderung jedoch zu wenig darin unterstützt worden, die multifunktionalen Bestandteile ihres
Wirtschaftens - damit meine ich Leistungen für die Umwelt, für den Wasserhaushalt, für den Naturschutz, für die
biologische Vielfalt - auszubauen. Zu wenig Fördermittel
sind dafür ausgegeben worden und zu viele Fördermittel
sind in die Produktion von Masse geflossen. Das wollen
wir in Zukunft als die Hauptsäule der Landwirtschaft behalten und weiterentwickeln.
Daneben wird es zu einem gewissen Prozentsatz - man
muss seitens der Politik nicht definieren, wie viel das genau
sein soll; da redet man über Zielvorstellungen - den ökologischen Landbau geben. Unterhalb der multifunktionalen Landwirtschaft wird es gewerbliche Landwirtschaft
geben, die wir meiner Meinung nach nicht so intensiv fördern dürfen, wie es in der Vergangenheit geschehen ist.
({2})
Wir wollen einen Verlagerungsprozess innerhalb dieses Drei-Säulen-Modells. Wir wollen weg von dem gewerblichen Anteil hin primär zum multifunktionalen - die
Bestandteile innerhalb des multifunktionalen Anteils sollen stärker gefördert werden - und auch zum ökologischen Landbau.
Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Wir werden uns
von Ihnen nicht in eine Kontroverse „konventionell gegen
öko“ treiben lassen.
({3})
Das sage ich auch den Landwirten draußen. Wir werden
auch für die konventionelle Landwirtschaft Politik betreiben. Herr Ronsöhr, das, was Sie heute an Rechenmodellen dazu vorgetragen haben, wer heute bereits wie viel
Landbau im Ökobereich hat, ist nicht die Debatte, die wir
führen wollen. Wir wollen, dass der ökologische Landbau
als Leitbild angesehen wird. Sie hatten einmal einen Bundeslandwirtschaftsminister, der schon so weit gewesen
ist, dass er dies akzeptiert hat.
Mit Leitbildfunktion meine ich, dass der ökologische
Landbau für die gesamte Landwirtschaft eine Vorbildfunktion hat. Hätten wir uns damit schon in der Vergangenheit beschäftigt, hätten wir uns gefragt, warum im
Rahmen des ökologischen Landbaus kein Tiermehl verfüttert wird, warum er auf das sehr billige und durchaus
viel Protein enthaltende Futtermittel verzichtet, dann
müssten wir heute nicht über BSE diskutieren.
({4})
Frau Kollegin Lemke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?
Bitte
sehr.
Bitte,
Herr Heinrich.
Frau Kollegin Lemke,
wären Sie bitte so gut, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich
die beiden Beispiele, in denen sich die ökologische Landwirtschaft von der konventionellen Landwirtschaft in
ihrem Verhalten unterscheidet, nicht ausschließlich auf
die Ökolandwirtschaft beschränken, sondern dass sich
viele Erzeugergemeinschaften freiwillig an dieser Art des
Wirtschaftens, nämlich Anwendung von Produktionsmethoden unter Verzicht auf die Dinge, die Sie gerade eben
genannt haben, schon beteiligen, dass das also kein Synonym für ökologische Landwirtschaft ist?
({0})
Sehen
Sie, Herr Heinrich, Sie verfallen wieder in den gleichen
Fehler. Sie fangen wieder an, eine Konfrontation zwischen öko und konventionell aufzubauen.
({0})
- Nein, das habe ich nicht getan. Ich habe diese Konfrontation nicht aufgebaut, sondern ich habe von einer Leitbildfunktion und von einer Vorbildfunktion gesprochen.
Wenn ich von Vorbildfunktion spreche,
({1})
dann meine ich doch nicht, dass diejenigen Betriebe, die
nicht selber dieses Vorbild sind, nur schlechte Arbeit leisten und nichts Positives tun. Darin liegt Ihr Denkfehler.
Sie versuchen immer wieder, zwischen ökologische und
konventionelle Landwirtschaft einen Keil zu treiben.
({2})
Ich möchte im Zusammenhang mit dem Ökolandbau
zu einem zweiten Beispiel kommen. Wer heute über Verbraucherschutz redet, der muss auch klipp und klar sagen,
dass die Verbraucher keine gentechnisch veränderten Bestandteile in den Lebensmitteln haben wollen. Über folgende Frage wurde schon im Zusammenhang mit der
Agrarpolitik der alten Regierung von CDU/CSU und
F.D.P. immer wieder diskutiert: Soll die zukünftige Agrarpolitik auf Gentechnik ausgerichtet sein? In dieser Diskussion ist die Tatsache sträflich vernachlässigt worden,
dass die Verbraucher keine Gentechnik in ihren Lebensmitteln haben wollen. Sie haben immer wieder Zahlen aus
Umfragen präsentiert. Sie können doch nicht ernsthaft in
Abrede stellen, dass die Mehrheit der Verbraucher - mich
interessiert dabei nicht, ob 60 oder 90 Prozent - keine
Gentechnik in den Lebensmitteln wollen. Die Menschen
wollen diese Produkte nicht verzehren!
({3})
- Es ist Unsinn, zu sagen, dass der Kanzler das wollte. Das
wissen Sie ganz genau.
Es gibt keine Unbedenklichkeitserklärung für gentechnisch veränderte Lebensmittel.
({4})
Deswegen dürfen wir an dieser Stelle nicht den gleichen
Fehler machen wie bei BSE. Ich komme da wieder auf die
Vorbildfunktion des ökologischen Landbaus
({5})
und seine Leitbildwirkung zu sprechen. Seine Anhänger
erklären seit Jahren, dass sie definitiv auf Gentechnik verzichten. Es hat auf EU-Ebene eine harte Auseinandersetzung darüber gegeben, ob Gentechnik für den Ökolandbau
zukünftig für zulässig erklärt werden sollte. Die Ökolandbauverbände haben sich aber durchgesetzt und gesagt:
nein, keine Gentechnik in unseren Ökolebensmitteln!
Es geht nicht darum, die gesamte Landwirtschaft zu bekehren und von den Landwirten zu erwarten, dass sie den
Verbänden des ökologischen Landbaus beitreten. Darum
geht es wirklich nicht. Aber man sollte sich am ökologischen Landbau orientieren und sich zum Beispiel fragen,
warum er sich in Bezug auf die Tierbesatzzahlen und die
Futtermittel sehr strenge Kriterien auferlegt hat. Diese
Vorstellungen sollten von der konventionellen Landwirtschaft adaptiert werden, ohne dass sie 100-prozentig ökologisch arbeiten müsste. Das ist die Zielvorstellung, die
wir für die zukünftige Agrarpolitik haben.
Ich will noch einmal auf den Einwand zurückkommen,
alles müsse sich ökonomisch rechnen. Sie konnten ja in
den letzten Wochen und Monaten verfolgen, dass die
Wirtschaftsblätter, die Banken und die Wirtschaftsverbände von der grünen Gentechnik Abstand genommen haben und selbst die Empfehlung ausgesprochen haben:
Lasst die Finger davon! Es ist ökonomisch gesehen Unsinn. Das rechnet sich nicht.
Ich bin der Meinung, dass es nicht um eine ideologische Auseinandersetzung zwischen ökologischer und
konventioneller Landwirtschaft oder zwischen kleinen
und großen Betrieben geht. Es geht vielmehr um eine
Diskussion zwischen Verbrauchern und Produzenten, wie
in Zukunft Lebensmittel produziert werden sollen, die die
Verbraucher in dem Glauben abnehmen, dass auch darin
ist, was darauf steht.
Danke sehr.
({6})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette WidmannMauz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn man die
heutige Debatte verfolgt, dann hat man schon den Eindruck, dass die Bundesregierung der Meinung sei, die
deutsche Landwirtschaft habe bis zum Ende des letzten
Jahres nur ungesunde Lebensmittel produziert, habe die
Tiere in den Ställen gequält und es habe keinerlei Regeln
und Standards gegeben.
({0})
Frau Künast, ich sage Ihnen ganz deutlich: Sie müssen
nicht die Bauern, sondern BSE bekämpfen! Es wird endlich Zeit.
({1})
Verbraucherschutz muss Gesundheitsschutz sein, und
zwar vorsorgend und nachhaltig.
({2})
Er darf nicht als Privileg für wenige, sondern muss als
Notwendigkeit für alle gesehen werden.
Frau Künast, die BSE-Krise darf nicht auf dem Rücken
der Verbraucherinnen und Verbraucher ausgetragen werden. Die Ängste und Sorgen der Menschen dürfen von Ihnen nicht als Spielball für grüne Politikstrategien missbraucht werden.
({3})
Wir werden es nicht zulassen, dass BSE von Ihnen instrumentalisiert wird, sozusagen als ideologischer Tschernobyl-Ersatz. Jetzt, da Ihnen die Themen Kernkraft und Castortransporte wegen der Gewaltdebatte nicht so recht
schmecken, sind Sie bei BSE auf den Geschmack gekommen. Das, was wir heute zu Quotierungen im Stall gehört
haben, zeigt eine neue Verirrung innerhalb der grünen
Ideologie.
({4})
Verbraucherschutz darf nicht auf BSE und eine neue Utopie im Inselformat reduziert werden.
Wenn man von dem magischen Sechseck hört, könnte
man meinen, es handele sich um das Bermudadreieck;
denn nicht mit Magie, mit Beschwörungsformeln von
Laienspielern, sondern mit realitätsbezogenen, fachlich
begründeten Konzepten müssen Sie den Deutschen Bundestag überzeugen.
({5})
Aber ich sage Ihnen auch: Sie haben den Verbraucherschutz nicht neu erfunden. Quer durch alle gesellschaftlichen Schichten sind die Menschen verunsichert. Sie haben Angst, aber diese Angst ist orientierungslos. Angst
war noch nie ein guter Ratgeber auf dem Weg aus der
Krise. Nur weil zurzeit so gut wie kein Rindfleisch geSteffi Lemke
gessen wird, sind die Deutschen noch lange nicht alle Vegetarier. Es gibt zwar jetzt bei allen Beteiligten, den Produzenten, den Verbrauchern und den Politikern, die Bereitschaft, aus der Krise Konsequenzen zu ziehen. Das
heißt politisch auch, dass wir Handlungsspielraum gewonnen haben, den wir jetzt nutzen müssen.
Die Menschen erwarten von uns, dass endlich mit klaren Konzepten gehandelt wird. Frau Lemke, es stimmt
nicht, dass wir heute keine Konzepte präsentiert hätten.
Wenn Sie das sagen, können Sie nicht lesen, haben den
Antrag, den wir eingebracht haben, nicht zur Kenntnis genommen und bei der Rede von Angela Merkel nicht zugehört.
({6})
Wir haben klare Maßstäbe, an denen sich vorsorgender
Verbraucherschutz orientieren muss. Die Kernpunkte
sind: Transparenz, Eigenverantwortung und Nachhaltigkeit. Aber realistisch ist eine Neuorientierung der Verbraucher- und der Agrarpolitik nur, wenn das, was ökologisch
notwendig ist, auch ökonomisch und sozial ist.
Ich möchte an dieser Stelle einen wichtigen Bereich
herausgreifen, den Sie heute fast überhaupt nicht angesprochen haben, nämlich die Rolle und die Bedeutung Europas in Verbraucherschutzfragen. Verbraucherschutz im
Europa ohne Grenzen erfordert Überzeugungskraft und
Durchsetzungsfähigkeit im Ministerrat.
Frau Künast, Sie zeigen sich ja durchaus bemüht. Doch
was haben Sie auf europäischer Ebene im Agrarrat bisher
eigentlich erreicht? Was Sie aus Brüssel mitgebracht haben, sind bisher nur Prüfaufträge, zu Deutsch: substanziell nichts.
Es wird geprüft, das derzeit bis zum 30. Juni 2001 befristete Tiermehlverfütterungsverbot zu verlängern eventuell. Keine Rede von Fetten oder Tiermehl wie bei
uns in Deutschland!
Die Produktion von Separatorenfleisch soll verboten
werden - noch kein Muss. Das gilt allerdings nur für Rinder. Wo bleiben die Schweine? Davon ist keine Rede.
Es soll geprüft werden, wie die Einstufung der Wirbelsäule von Schlachtrindern als Risikomaterial technisch
umgesetzt werden kann.
Die derzeitige Altersgrenze von 30 Monaten für die obligatorischen BSE-Tests soll überprüft werden. Aber nach
wie vor haben wir keine einheitliche Testung in Europa,
geschweige denn bei unseren Nachbarn außerhalb der Europäischen Union, zum Beispiel in den Beitrittsstaaten.
Was ist mit den Fleischimporten aus Ländern, in denen
kein Tiermehlverfütterungsverbot besteht?
Wo, liebe Frau Ministerin, bleiben eigentlich die angekündigten Konsequenzen aus der Tatsache, dass Rindfleisch auch nach dem 1. Januar dieses Jahres nicht EUweit lückenlos gekennzeichnet wird?
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Ich komme
zum Schluss.
Verbraucherschutz ist eine europäische Herausforderung. Hier sind Sie in erster Linie gefordert. Aber ohne ein
klares Konzept für die Durchsetzung auf europäischer
Ebene bleiben Sie ein Papiertiger.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Heino Wiese von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Sie haben, werte Kollegen von
der CDU/CSU, wieder versucht, eines deutlich zu machen: dass die SPD etwas gegen die deutschen Landwirte
hätte. Ich will das noch einmal ganz klar bestreiten. Wir
sind auf der Seite der deutschen Bauern und Bäuerinnen.
({0})
- Bei den Fakten, die Sie nennen, verschweigen Sie, dass
in den Jahren Ihrer Regierungszeit über 200 000 deutsche
Landwirte aufgeben mussten. Wir haben heute noch
190 000 Vollerwerbslandwirte, also ungefähr so viele
Landwirte, wie während Ihrer Regierungszeit aufgeben
mussten. Es ist also nicht neu, dass sich Landwirtsfamilien überlegen müssen, ob ihre Betriebe noch überlebensfähig sind.
({1})
- Sie hätten weiter auf Masse statt auf Klasse gesetzt, wie
die Ministerin gesagt hat. Wir setzen auf Klasse und geben den Landwirten neue Perspektiven. Ich glaube, es ist
sinnvoll, das zu tun.
({2})
Herr Kollege Wiese, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Deß?
Bitte.
Bitte
schön, Herr Deß.
Herr Kollege Wiese, sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die SPD bereits
vor den letzten GATT-Verhandlungen - da waren Sie noch
nicht dabei - einen Antrag in den Bundestag eingebracht
hat, in dem es heißt:
Von der allgemeinen Zielsetzung, einen freien Welthandel mit offenen Grenzen zu schaffen, darf der
EG-Agrarbereich nicht ausgenommen werden.
Weiter wird die Bundesregierung - damals von Union und
F.D.P. gestellt - aufgefordert, von dem „falschen ... Konzept der Mengenregulierung“ wegzukommen. Dann wäre
noch mehr produziert worden. Geben Sie mir Recht, dass
noch mehr Bauern hätten aufhören müssen, wenn dies befolgt worden wäre?
Erstens kenne ich
den Antrag nicht. Wie Sie schon sagten, war ich damals
noch nicht im Deutschen Bundestag.
Darüber hinaus kann ich Ihnen sagen, dass wir - da
gebe ich Herrn Heinrich ausnahmsweise Recht - den
Welthandel brauchen und dass wir uns dem Welthandel
nicht verschließen können. Das heißt aber doch nicht,
dass wir in Deutschland nicht Qualität erzeugen und damit Maßstäbe setzen könnten, die auch die anderen erreichen müssten.
({0})
Die BSE-Krise war nur der letzte Anlass dafür, das
Umsteuern in der Landwirtschaft endlich zu beginnen.
Es ist doch nicht in Ordnung, dass so genannte Sofamelker Milchquoten besitzen und damit indirekt Fördergelder kassieren, obwohl sie gar nicht mehr landwirtschaftlich tätig sind.
Ein zweites Beispiel: Es ist auch nicht in Ordnung, dass
die Schweine ihren täglichen Dopingmix bekommen, damit sie schneller wachsen. Auch das können wir für die
Zukunft nicht wollen.
({1})
- Das ist alles legal. Daran ist nichts Illegales.
Wir können auch nicht wollen, dass Büsumer Krabben
erst über Marokko gefahren werden, bevor sie als Krabbenfleisch auf Sylt ankommen.
({2})
Das sind alles Beispiele dafür, dass wir in der Landwirtschaftspolitik so nicht weitermachen können. Wir
wollen etwas dagegensetzen.
Wir können hierfür natürlich nicht die Bauernfamilien
verantwortlich machen. Vielmehr setzen wir als Politik
die Rahmenbedingungen. Dies dürfen wir nicht nur über
Ordnungsrecht tun. Vielmehr müssen wir auch Anreize
und neue Perspektiven schaffen.
({3})
Der permanente Druck zu ständiger Leistungssteigerung und Kostensenkung ohne kritische Beleuchtung der
Mittel und Methoden hat zu dieser Sackgasse, in der wir
uns im Moment befinden, geführt.
Schon vor einem Jahr hat die Katholische Landjugendbewegung ein Leitbild für die Landwirtschaft der
Zukunft herausgegeben. Ausgehend vom Begriff der
Schöpfung, haben die Jugendlichen eine Skizze entwickelt, die nahezu deckungsgleich mit den Plänen der
neuen Landwirtschaftsministerin ist. Ich empfehle allen
dieses Papier der Katholischen Landjugendbewegung und
kann Ihnen nur raten, daraus zu lernen. Ich danke den Jugendlichen für ihre hervorragende Arbeit.
({4})
Neben den bereits genannten Anforderungen aus Sicht
der Verbraucher ist für mich das wichtigste Ziel einer
neuen Landwirtschaftspolitik die Sicherung von Leben
und Arbeit im ländlichen Raum. Der ländliche Raum
braucht eine integrierte Politik, in der Landwirtschaft
nicht mehr isoliert betrachtet wird und in der ihre besondere Rolle zum Ausdruck kommt.
({5})
Länder und Kommunen müssen ab sofort eine aktivere
Strukturpolitik betreiben, um die Veränderungsprozesse,
die wir uns vorgenommen haben, zu bewältigen.
({6})
- Rheinland-Pfalz hat ja auch einen sozialdemokratischen
Ministerpräsidenten.
({7})
Hierzu gehört für die Landwirte eine deutliche Steigerung der Erzeugerpreise und die Sicherung von Einkommensalternativen. Eine noch erweiterte Förderung von
nachwachsenden Rohstoffen und erneuerbaren Energiequellen gehört für mich genauso dazu wie ein zielorientierter und bezahlter Vertragsnaturschutz.
({8})
Die Pflege von Landschaft und Wäldern muss eine Aufgabe werden, die der Landwirtschaft ein regelmäßiges
Einkommen sichert.
Ich weiß, dass das einige Kolleginnen und Kollegen
anders sehen. Ich bin aber der Meinung, dass wir nicht nur
mit dem Ordnungsrecht agieren dürfen, sondern dass wir
auch dort neue Anreize schaffen müssen.
({9})
Gepflegte ländliche Räume, in denen die Tiere gelegentlich auf der Weide zu sehen sind, muss man auch bezahlen.
({10})
Das eröffnet im Übrigen auch neue Perspektiven für den
Tourismus und gibt uns Möglichkeiten, neue Einkommensformen für die Landwirte zu schaffen.
Ich möchte mich besonders für regionale Vermarktungskonzepte einsetzen. Ich halte es nicht für sonderlich
erstrebenswert, dass die Milch, die ich trinke, zweimal
durch die Republik geschaukelt wird: von der Großmolkerei zum Vertrieb und dann in den Laden. Ich möchte
nicht, dass Milch, die im Umland von Hannover gemolken wurde, über Lüneburg wieder zurück nach Hannover
kommt. Ich glaube, dass wir die regionalen Vermarktungskonzepte viel stärker brauchen. Ich will eines ganz
deutlich sagen: Wenn die CMA das nicht leistet, müssen
wir uns nach anderen Konzepten umsehen und das Agrarmarketing anders organisieren.
({11})
Es wird schwer werden, neue Ideen umzusetzen, auch
weil wir nicht einzelstaatlich agieren können. Wir brauchen im Hinblick auf den internationalen und europäischen Wettbewerb tragfähige Lösungen auf EU-Ebene
und im Welthandel. Die Belange des Verbraucher- und
Umweltschutzes müssen viel stärker in die gemeinsame
europäische und die nationale Agrarpolitik integriert werden.
Dazu müssen wir eine intensivere Zusammenarbeit mit
den Parlamentariern des Europäischen Parlaments erreichen. Strenge Kontrollen und vor allem Transparenz und
Offenheit bei der Erzeugung und Produktion von Lebensmitteln sind die Voraussetzungen für eine neue Landwirtschaftpolitik. Wir können den Wechsel übrigens nicht ausschließlich - ich sage noch einmal deutlich: Wir haben das
auch nie behauptet - durch Ökolandbaukonzepte erreichen, wir brauchen hierzu die verantwortungsvolle und
nachhaltige konventionelle Landwirtschaft als Hauptträger dieser Erneuerung.
Ich will noch einen Satz anfügen: Dazu müssen auch
wir unseren Teil leisten. Um das deutlich zu machen, fordere ich die Bundesregierung auf, das, was wir den Landwirten hinsichtlich des Agrardiesels versprochen haben,
auch einzulösen. Nur so können wir verantwortungsvolle
und vertrauenswürdige Partner der Landwirte werden.
({12})
Danke schön.
({13})
Als letzte
Rednerin in dieser Aussprache hat das Wort die Kollegin
Christel Deichmann von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr
verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Widmann-Mauz,
ich finde es schon mehr als eigenartig, dass Sie hier gefordert haben, die Ministerin solle in drei Wochen in Brüssel
und anderswo all das erledigen, was Sie in 16 Jahren nicht
geschafft bzw. vermasselt haben.
({0})
Das musste einmal gesagt werden.
Eigentlich wollte ich mich nicht mit Vergangenheitsbewältigung beschäftigen; denn es ist jetzt wirklich
wichtig, nach vorn zu sehen. Die Zeit für die Umorientierung in der Agrarpolitik ist mehr als reif ({1})
- er hat nicht 16 Jahre lang regiert; ich glaube, Sie waren
dabei -, Umorientierung nicht nur in der Agrarpolitik,
sondern in der gesamten Politik für den ländlichen Raum.
Die Frau Ministerin hat für diesen schwierigen, aber
bedeutungsvollen Weg die Richtung aufgezeigt und sie
hat dabei - das haben meine Vorredner schon bestätigt die volle Unterstützung unserer Fraktion. Die Neuorientierung der Agrarpolitik darf sich aber nicht allein von der
BSE-Krise leiten lassen. Sie ist nur der äußere Anlass gewesen; denn die Neuorientierung ist, wie bereits gesagt,
überfällig.
Der Neuanfang ist viel weiter zu fassen: Es geht nicht
um groß oder klein, um alternativ oder konventionell oder
was man sonst noch gegenüberstellen mag, es geht um die
Integration der gesamten Kette der Agrar-, Verbraucherund Umweltpolitik, einschließlich der vor-, neben- und
nachgelagerten Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion.
Um es ganz deutlich zu sagen: Wir wollen dem ökologischen Landbau,
({2})
obwohl er - auch das ist hier zum Ausdruck gekommen ein wichtiges Leitbild ist, nicht einseitig neue Produktionsprämien gewähren, sondern insgesamt bessere soziale und ökologische Rahmenbedingungen im Hinblick
auf Produktion, Absatz und Vermarktung schaffen. Auch
die konventionelle Landwirtschaft muss sich zukünftig
stärker an den Kriterien des Umwelt-, Verbraucher- und
Tierschutzes sowie an einer Sicherung von Arbeitsplätzen
messen lassen.
({3})
- Ik weet Bescheid; ik kamm von Land. ({4})
Gemeinsam mit den Landwirten sind hierfür Kriterien zu
entwickeln und fortzuschreiben.
Jetzt gilt es, das Leitbild einer nachhaltigen Landwirtschaft konkret auszugestalten und auf einen möglichst breiten Konsens zu stellen. Die drei Säulen der
Nachhaltigkeit, Ökonomie, Ökologie und Soziales, wollen wir auch für den ländlichen Raum zur Geltung bringen. Wir wollen für die Menschen in diesen Regionen
Perspektiven schaffen.
Wie können wir dieses Ziel erreichen? Die fast unüberschaubare Arbeitsteilung zwischen Bauern, Tiermedizin,
Chemie, Futtermittelherstellern, Vermarktung, Handel
und Banken und zwischen wem auch immer hat bislang
Innovationen erschwert. Die immer weiter wachsende
Bürokratie - auch das muss betont werden - tut ein
Heino Wiese ({5})
Übriges. Alle Bereiche gehören auf den Prüfstand: angefangen bei der Agrarsozialpolitik, über die Grundsätze der
Förderpolitik bis hin zum Zusammenspiel mit anderen
Politikbereichen. Also: Abschied von der Ausrichtung auf
Mengenwachstum und von einem ruinösen Preiswettbewerb und Orientierung auf eine Landwirtschaftspolitik,
die die Ökologie nicht als Bedrohung, sondern als Partner
sieht, die sich in die Natur und in die Landschaft einfügt
und die die natürlichen Lebensgrundlagen schützt.
Der Bauernverbandspräsident von Schleswig-Holstein
hat im Fernsehen gesagt, die Bauern hätten sich aufgestellt. Ich frage mich natürlich, wozu sie sich aufgestellt
haben. Ich hoffe sehr: zu einer anderen Arbeitsweise. Vor
allen Dingen meine ich damit die Spitze der Verbände.
Auf den im Fernsehen gezeigten Bildern aus München
war gestern zu sehen: „Grün-Rot ist Bauerntod“. Damit
eines klar ist: Der jetzige Schlamassel ist nicht von RotGrün zu verantworten. Rot-Grün ist gemeinsam mit den
Landwirten und allen anderen, die willens sind, dies zu
tun, bereit, die Probleme zu lösen.
({6})
Wir steuern um, indem wir die überfällige Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes nutzen, um eine
naturschutzfachliche Definition der guten fachlichen Praxis einzuführen.
({7})
- Das werden Sie erleben. - Daran - davon bin ich fest
überzeugt - führt kein Weg vorbei. Es hat lange gedauert;
aber jetzt werden Vorgaben für eine standortangepasste,
naturverträgliche Bewirtschaftung gemacht. Das ist überfällig. Die Länder werden - auch davon bin ich überzeugt ihren Teil dazu beitragen, um den regionalen Besonderheiten gerecht zu werden. Die in diesem Zusammenhang
ebenfalls notwendige Orientierung der Tierhaltung an den
betriebseigenen Futterflächen ist heute bereits angesprochen worden.
({8})
Wir groß das Arbeitspotenzial im ländlichen Raum
ist, zeigen Ergebnisse von Modellprojekten, die die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht hat. Ich nenne
zum Beispiel das nachhaltige Tourismusangebot und den
bevorstehenden Durchbruch bei den erneuerbaren Energien. Gerade auf dem landwirtschaftlichen Sektor gibt es
bereits energieautarke Betriebe. Ich denke, solche Beispiele sollten Schule machen.
({9})
Wir begrüßen ausdrücklich, wenn die Ministerin sagt:
Die Natur ist der potenzielle Verbündete der Landwirtschaft. Wir begrüßen auch, dass die Ministerin einen runden Tisch für Verbraucherschutz und Landwirtschaft
initiieren will. Wir sind sicher, dass ökologische Belange
und die Frage der Nachhaltigkeit eine herausragende
Rolle spielen werden. Wir brauchen dieses Bündnis zwischen Ökologie und Landwirtschaft, um der rein ökonomischen Globalisierung eine umweltverträgliche und verbraucherfreundliche Politik für den ländlichen Raum entgegenzusetzen.
Vielen Dank.
({10})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen und den Überweisungen, zunächst zu Tagesordnungspunkt 3 a: Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/5230. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich?
({0})
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 3 b bis 3 e: Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4544,
14/3498, 14/4472 und 14/4855 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 3 f: Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/5237. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen
mit Ausnahme der Stimmen der PDS abgelehnt.
Zusatzpunkte 2 bis 4: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5219, 14/5228
und 14/5222 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Zusatzpunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 14/5234. Zunächst zu dem Antrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/4778 ({1}) mit dem Titel
„Sofortprogramm zur Abwehr von Gefahren durch BSE“:
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung von
F.D.P. und PDS angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/4852 mit dem Titel „Vorrang für
einen vorsorgenden Verbraucherschutz bei der Bekämpfung von BSE“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der KoalitiChristel Deichmann
onsfraktionen bei Gegenstimmen von F.D.P. und PDS und
Stimmenthaltung der CDU/CSU angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
PDS auf Drucksache 14/4924 mit dem Titel „Soforthilfsprogramm für durch die BSE-Krise betroffene Kommunen und Landwirte einrichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
PDS und bei Enthaltung von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/5079 mit dem Titel „Klares Konzept zur Bekämpfung von BSE notwendig“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
bei Gegenstimmen von CDU/CSU und bei Enthaltung
von F.D.P. und PDS angenommen.
Unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
14/5085 mit dem Titel „BSE-Bekämpfung konsequent
ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Gegenstimmen von CDU/
CSU und F.D.P. angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 6 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/5097 mit dem Titel „Verbraucher vor BSE schützen - Landwirten helfen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der PDS gegen die Stimmen der
F.D.P. angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Pläne der Bundesregierung zum Aufbau Ost
angesichts der Kontroverse innerhalb der SPD
zur Situation in den neuen Bundesländern
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
der Kollege Günter Nooke von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte
Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
fordert mit dieser Aktuellen Stunde von der Bundesregierung Klarheit über ihre Pläne für die östlichen
Bundesländer: Soll der Aufbau Ost weitergehen und
wollen Sie etwas dafür tun? Oder ist aus Ihrer Sicht alles
auf bestem Wege und Bundestagspräsident Wolfgang
Thierse, immerhin der Ostdeutsche mit dem höchsten
Staatsamt, auf dem völlig falschen Dampfer? Er ist ja
nicht nur hier kein Hinterbänkler, sondern auch Stellvertreter des Bundeskanzlers in der SPD.
Es ist offensichtlich Zeit für eine Klarstellung: Steht
der Osten nun auf der Kippe oder ist, wie der zuständige
Staatsminister sagt, der Befund schlichtweg falsch?
({0})
Auch wenn wir mit dem Bundestagspräsidenten nicht
in allen Punkten übereinstimmen können: Wir verstehen,
dass Wolfgang Thierse angesichts der Nichtaktivität der
Bundesregierung in Sachen Aufbau Ost die Reißleine gezogen hat. Kompliment auch an Herrn Thierse, dass er
sich durch das Kanzlerwort nicht hat einschüchtern lassen; denn die Zahlen, von denen er ausgeht, sind richtig.
Da wirkt es schon ziemlich jämmerlich, wenn die SPDFraktionskollegen angesichts dieser Gemengelage nicht
wissen: Sollen sie dem Kanzler zustimmen, weil sie noch
etwas werden oder bleiben wollen, oder sollen sie Thierse
zustimmen, weil sie in ihren ostdeutschen Wahlkreisen
wieder aufgestellt werden wollen?
({1})
Der „Tagesspiegel“ hat das heute noch einmal schön ausgedrückt:
Viele SPD-Abgeordnete aus den neuen Ländern neigen Thierses Aufbau-Thesen zu - doch sie fürchten
den Konflikt mit dem Kanzler
({2})
Wann - liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern Sie
sich einmal - hat sich eine Bundesregierung je zuvor von
dem Bundestagspräsidenten der eigenen Fraktion sagen
lassen müssen - als Opposition haben wir darauf hingewiesen -, dass die regierungsoffizielle Bestandsaufnahme
zu dem wichtigen Thema, zur nationalen Herausforderung Aufbau Ost, unehrlich ist?
({3})
Was bisher dazu gesagt wurde, hat das Chaos im Koalitionslager nur vermehrt. Ich will das kurz anführen: Die
stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Frau Kaspereit,
warnt vor Panik, räumt aber anhaltende Probleme ein. Der
nunmehr entlassene sachsen-anhaltinische Wirtschaftsminister, Herr Gabriel, will die Wirtschaftsförderung Ost
beenden, was aus der Fraktion mit den Worten dementiert
wird: Wir brauchen auf absehbare Zeit eine spezielle Ostförderung und auch in Zukunft einen Ostbeauftragten im
Kanzleramt.
Schließlich stellt Frau Eichstädt-Bohlig von den Grünen zunehmende statt entfallende Probleme fest und fordert ein neues Leitbild für den Osten, was aber bei den
Menschen im Osten so ankam, dass man der Probleme
nicht mehr Herr wird und deshalb die Maßstäbe ändern
muss. Bevor man die Latte also reißt, wird sie niedriger
gelegt.
Der Sprecher der SPD-Fraktion im Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder legt nach und fordert eine
neue und klare Strategie für den Aufbau Ost, sagt aber, in
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
der Infrastruktur sei man schon relativ gut vorangekommen. Dagegen haben die Gutachten, die wir für den Solidarpakt II in Auftrag gegeben haben, einen teilungsbedingten Nachholbedarf in Höhe von 300 Milliarden DM
festgestellt, der von der Bundesregierung als Grundlage
für die Verhandlungen zum Solidarpakt anerkannt wurde.
({4})
Thierse stellte richtig fest, auf dem Arbeitsmarkt gebe
es ein starkes Gefälle zwischen West und Ost und die positiven Wirtschaftsdaten, auf die die Regierung stolz sei,
stammten alle aus dem Westen.
Aber die Arbeitslosen im Osten sind eben auch die Arbeitslosen des Bundeskanzlers, an denen er sich messen
lassen wollte, und im Osten wird er eindeutig als zu klein
befunden.
({5})
Die Lage ist angesichts der Wirtschaftsdaten und des
weiter dramatisch auseinander gehenden Arbeitsmarktes
alles andere als beruhigend. Bevor der Osten kippt, müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Stimmung nicht
kippt und sich nicht noch mehr Resignation bei den Menschen in den entlegenen Regionen des Ostens breit macht.
Wir können uns durchaus darüber verständigen, dass wir
auch im Osten weniger Leute fürs Nichtstun bezahlen
sollten, aber dann müssen wir diesen Menschen auch
Chancen bieten, Arbeit zu finden und sich einzubringen.
Das aber ist etwas völlig anderes, als wenn Herr Gabriel
den Eindruck vermittelt, im Osten gebe es mehr Faulpelze
als Arbeitsuchende.
Dabei ist es doch gar nicht so kompliziert: Im Spannungsfeld zwischen Abschaffung des Ostbeauftragten
und Streichung des Themas Aufbau Ost von der Tagesordnung und dem Gegenpol, der Pflege des Jammer-OssiImages, der immer nur Geld haben will und jedem Fass
den Boden ausschlägt,
({6})
sollten wir gemeinsam endlich mehr für die Menschen in
den östlichen Bundesländern tun, die wirklich existenzielle Sorgen und Nöte haben.
({7})
Dafür bieten wir unsere konstruktive Mitarbeit an, selbst
wenn der Kanzler nicht will. Der hat sich übrigens mit
seinem Schweigen zu dieser Debatte als Chefsachenkanzler verabschiedet. Aber selbst das scheint ja nicht so
ganz klar zu sein; denn aus der SPD-Fraktion stellte jemand fest:
Letzten Endes hat immer der Kanzler das Sagen.
Wenn wir den nicht gewinnen, ist alles umsonst. Er
muss erkennen, dass er bald Wahlen hat. Nur mit einem freundlichen Besuch gewinnt Schröder den
Osten nicht.
So Edelbert Richter.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, wenn der Kanzler nicht will, dann lassen Sie
uns doch wenigstens hier im Parlament einmal darüber reden. Sie haben ja jetzt einen profunden Ostbeauftragten
aus den Reihen Ihrer Fraktion. Selbst wenn Herr Eichel
nicht will und sich als Sparminister auf Kosten des Ostens
profiliert
({8})
und Sie, Herr Staatsminister Schwanitz, sich auf ihre eigene Fraktion nicht verlassen können: Auf die größte Oppositionsfraktion in diesem Haus können Sie sich verlassen. Sagen Sie einfach, was Sie wollen, und dann
beginnen wir gemeinsam damit.
Danke schön.
({9})
Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Sabine Kaspereit
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Nooke, ich könnte
sagen, diese Aktuelle Stunde ist so unnötig wie ein Kropf.
({0})
Sie ist nämlich nur ein weiterer Teil Ihrer durchsichtigen
Strategie, die Bundesregierung vor allem über Personaldiskussionen zu diffamieren, weil Sie keine Sachargumente anzubieten haben. Die Leute draußen bemerken
das.
({1})
Die Aussprache über den Aufbau Ost gehört in die Debatte über das Sachverständigenratsgutachten und den
Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, die Anfang März ansteht. Dennoch bin ich dankbar für die Gelegenheit, diese Diskussion hier zu führen - wenn auch
eine Aktuelle Stunde denkbar ungeeignet dafür ist -, und
zwar aus zwei Gründen:
Erstens. Das, was Sie sich von der Aktuellen Stunde erhoffen, wird nicht eintreten, dass nämlich die Regierungsparteien untereinander und vor allem mit der Bundesregierung im Streit über den weiteren Aufbau Ost
liegen. Dies wäre eigentlich die Aufgabe der Opposition,
aber von ihr höre ich keinen einzigen Vorschlag.
Zweitens. Diese Aktuelle Stunde gibt uns Gelegenheit,
erneut über den derzeitigen Stand des wirtschaftlichen
Aufbaus in den neuen Ländern zu sprechen. Es existiert
offensichtlich ein erhebliches Wahrnehmungsdefizit zwischen dem, was an Informationen aller Art zum Aufbau
Ost zur Verfügung steht, und dem, was tatsächlich in der
Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird.
Mich hat schon erstaunt, dass das von Ihnen, Herr
Nooke, bereits erwähnte Papier in der Öffentlichkeit eine
solch große Resonanz gefunden hat.
({2})
Denn es gibt darin keine einzige Erkenntnis, die nicht
schon längst bekannt gewesen und in unzähligen Publikationen, die ich wegen der Kürze der Redezeit nicht alle
aufzählen kann, verbreitet worden wäre.
({3})
Nichts ist wissenschaftlich so gut dokumentiert wie der
Aufbau Ost, übrigens eine Fundgrube für Interessierte,
Experten und Historiker.
Zu den Erkenntnissen gehört zum Beispiel, dass eine
Angleichung der Wirtschaftskraft der neuen Länder an die
Wirtschaftskraft des schwächsten alten Bundeslandes
frühestens in einem Zeitraum von 20 Jahren vorstellbar
ist.
({4})
Deshalb sagen wir: Der Aufbau Ost ist eine Generationenaufgabe. Das haben Sie verschleiert.
Wir sagen weiter: Der Aufholprozess Ostdeutschlands
bleibt noch für lange Zeit auf der Tagesordnung. Die
neuen Länder sind auf absehbare Zeit auf die Solidarität
der alten Länder sowie des Bundes elementar angewiesen.
Insofern bin ich Wolfgang Thierse dankbar, dass er mit
seinen Thesen eine breite Öffentlichkeit hergestellt hat.
Das kann bei der Bewältigung der Probleme beim Aufbau
Ost nur nützlich sein, weil die Menschen die Zusammenhänge verstehen müssen.
Allerdings will ich eines klarstellen: Wenn die Wirtschaft in den neuen Ländern nicht mehr wie in der ersten
Hälfte der 90er-Jahre zweistellig wächst, sondern langsamer - auch langsamer als in Westdeutschland -, dann
stagniert der Aufholprozess. Aber die ostdeutsche Wirtschaft steht nicht vor einem Absturz, sondern sie kommt
nur nicht schnell genug aus dem Tal heraus. Die Talsohle
hatten wir 1998 nach Ihrer Regierungszeit erreicht;
({5})
das hat uns die Politik der alten Bundesregierung beschert.
Das zentrale Problem ist die Bildung eines ausreichenden Kapitalstocks, vor allem im verarbeitenden Gewerbe.
Das verarbeitende Gewerbe bildet heute den Motor des
Angleichungsprozesses zwischen Ost und West. Zu Beginn der 90er-Jahre war es die Bauwirtschaft. Wir löffeln
die Fehlentscheidungen der alten Bundesregierung aus.
Eines ist jedoch klar - das wissen die Bürgerinnen und
Bürger in den neuen Ländern -: Wir lassen die Menschen
mit den Folgen dieses Strukturwandels nicht allein. Wir
begleiten ihn sozialverträglich mit arbeitsmarktpolitischen und regionalpolitischen Maßnahmen. Das geschieht in den neuen Ländern in einem Maß, von dem die
Menschen in den ehemaligen RGW-Ländern nur träumen
können.
Wenn wir schon die Fehler der alten CDU/CSU-F.D.P.Regierung ansprechen, dann darf ich Sie, Herr Nooke, daran erinnern, dass diese Bundesregierung nicht die rasche
Angleichung der Lebensverhältnisse versprochen hat.
Diese Bundesregierung hat von Beginn ihrer Regierungstätigkeit an die Menschen darauf hingewiesen, dass wir
beim Aufbau Ost noch eine lange Wegstrecke vor uns haben und dass dies allen Deutschen in Ost und West noch
erhebliche - auch finanzielle - Opfer abverlangen wird.
({6})
Die Wirtschaftspolitik braucht Verlässlichkeit, Stetigkeit und einen klaren Kurs. Ich kenne in der wirtschaftspolitischen Diskussion über den Aufbau Ost niemanden,
der die Politik der Bundesregierung vom Grundsatz her
infrage stellt. Ich kenne kein ernst zu nehmendes Alternativkonzept zu dieser Politik: weder von der CDU/CSU
noch von der F.D.P. oder der PDS.
({7})
Zum Solidarpakt vernehme ich aus den Oppositionsreihen einen vielstimmigen und übrigens sehr dissonanten
Chor.
({8})
Machen Sie doch Ihre Vorschläge, wie wir es machen, und
werten Sie die Diskussion darüber nicht als Streit in der
SPD ab! Über einzelne Stellschrauben in der Politik kann
und muss man sprechen. Auch die Bundesregierung wird
nicht umhinkommen, dies zu tun; das wird sie nicht in Abrede stellen. Doch die Grundausrichtung dieser Politik
stimmt. An ihr werden wir festhalten.
({9})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Cornelia Pieper von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Rot-Grün hat beim Aufbau Ost versagt. Wie versteht diese Bundesregierung die „Chefsache
Aufbau Ost“? Auch am heutigen Tag ist zur Aktuellen
Stunde kein Bundesminister des Kabinetts von Rot-Grün
anwesend.
({0})
- Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
Regierungskoalition, es ist verständlich, dass Sie sich
aufregen, aber das hilft den neuen Bundesländern nicht.
Das, was Wolfgang Thierse als Thesenpapier für Ostdeutschland vorgelegt hat, ist eine Kritik an seiner eigenen Fraktion. Aber das hilft uns allen nicht weiter. Es ist
imageschädigend, wenn sich ein Parteifreund aus Ihren
Reihen zur Entwicklung in den neuen Bundesländern negativ äußert und die Entwicklung auf der Kippe sieht. Sie
steht gar nicht auf der Kippe, aber Sie tragen dazu bei,
dass die Entwicklung stagniert.
({1})
Staatsminister Schwanitz kritisiert das Papier von
Thierse. Der scheidende Wirtschaftsminister Gabriel aus
Sachsen-Anhalt fordert zu Recht eine radikale Überprüfung der Förderprogramme Ost und ein Zurückführen der
ABM zugunsten des ersten Arbeitsmarktes. Dafür wird er
vom Ministerpräsidenten Höppner entlassen. Aber dieser
hat für die Wirtschaftspolitik in seinem eigenen Bundesland sowieso kein Verständnis.
({2})
Dies ist ein heilloses Chaos der rot-grünen Bundesregierung zum Aufbau Ost: drei Genossen und mindestens fünf
Meinungen.
({3})
Die neuen Länder sind für Sie schon lange nicht mehr
Chefsache oder Herzensangelegenheit, sie sind für Sie nur
noch Streitsache. Genau dies brauchen wir aber für den
wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern
nicht.
({4})
Wir brauchen keine Schwarzmalerei à la Thierse und auch
keine rosarote Brille à la Schwanitz, sondern eine differenzierte Betrachtungsweise.
({5})
40 Jahre Bundesrepublik lassen sich eben nicht in zehn
Jahren aufholen. Natürlich gibt es die Leuchttürme in den
neuen Bundesländern: erfreuliche Zuwachsraten bei den
Exporten und in der Industrie. Nichtsdestotrotz ist die
industrielle Basis im Osten viel zu schwach, um einen
Beschäftigungszuwachs zu erreichen. Dank Ihrer mittelstandsfeindlichen Gesetze - Stichwort Ökosteuer, Stichwort Steuerreform, die Kapitalgesellschaften bevorteilt kann es in den neuen Bundesländern natürlich auch nicht
vorwärts gehen.
({6})
Wir sehen bis heute kein schlüssiges Gesamtkonzept
für einen wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Ländern. Wir sehen nur einen „Schweigeminister“ namens
Schwanitz. Aktuelles Beispiel dafür ist die Schließung
von Bundeswehrstandorten; darüber werden wir morgen
diskutieren. Das Personal der Bundeswehr soll in Ostdeutschland um 12 Prozent und in der Bundesrepublik
insgesamt um 14 Prozent reduziert werden. Dies bedeutet, dass Sie den Osten, bezogen auf die dortige Bevölkerungszahl, bei der Schließung von Bundeswehrstandorten
wieder einmal doppelt benachteiligen.
({7})
Die Bundeswehr ist gerade für die kleinen und mittelständischen Unternehmen in den neuen Ländern ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und hat auch eine soziale Integrationsfunktion.
({8})
Wo ist denn die Stimme von Herrn Schwanitz zu diesen Themen, die uns allgemein beschäftigen? Herr
Gabriel, Ihr ehemaliger Wirtschaftsminister aus SachsenAnhalt, meinte, Ziel eines Ostbeauftragten müsste es sein,
sich aufgrund einer Angleichung der Lebensverhältnisse
spätestens nach 2005 selbst überflüssig zu machen.
({9})
Herr Schwanitz hat sich heute schon überflüssig gemacht.
Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen, das Budget des Ostbeauftragten in Höhe von 2 Millionen DM für
Investitionen für den Aufbau Ost zu verwenden. Davon
hätten wir im Moment mehr als von seinem Schweigen.
({10})
Wir sind ein Land; Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und die anderen neuen Bundesländer sind gleichberechtigt. Das Verfassungsgebot, einheitliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu verwirklichen, ist
zentrale Aufgabe aller Bundesministerien. Als Ostdeutsche brauchen wir kein Nischendasein. Vielmehr
brauchen wir neue Ansätze in der Förderpolitik sowie
Zielgenauigkeit und mehr Effizienz bei den Sonderprogrammen. Wir verlangen, dass alle Förderprogramme auf
den Prüfstand kommen und auf ihre Effizienz überprüft
werden. Wir brauchen die Konzentration auf die Verkehrsinfrastruktur und die wissenschaftliche Infrastruktur
und wir brauchen eine neue Existenzgründeroffensive gerade für die neuen Bundesländer.
({11})
Ein Letztes: Herr Bundeskanzler - bitte übermitteln
Sie es ihm, ebenso meine besten Genesungswünsche -,
machen Sie endlich die Standortfrage in den neuen Bundesländern zur zentralen Frage! Die Airbus-Produktion
findet schon nicht in Rostock statt. Sorgen Sie wenigstens
dafür, dass das neue BMW-Werk in die neuen Bundesländer kommt. Die Standortfrage ist unter einem F.D.P.-Wirtschaftsminister immer eine zentrale Frage beim Aufbau
Ost gewesen.
({12})
Zu Ihren Zeiten ist das leider verloren gegangen.
({13})
Als nächster Redner hat der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wie kommt es eigentlich normalerweise zu einer Aktuellen Stunde? - Eine Fraktion beantragt sie, wenn sie ein aktuelles Problem erkennt, wenn
es ein brisantes Problem gibt, über das man kurzfristig reden muss. Aber der Aufbau Ost
({0})
- Paul Krüger, das weißt du aus der Zeit, als du innerhalb
der CDU/CSU-Fraktion vergeblich darum gekämpft hast
({1})
- ist ein Dauerthema, das im Deutschen Bundestag nicht
gerade unterbelichtet behandelt worden ist.
({2})
Wir haben dazu permanent Diskussionen. Im Frühjahr
und im Herbst vergangenen Jahres haben wir anlässlich
der Jahresberichte 1999 und 2000 der Bundesregierung
zum Stand der deutschen Einheit erneut über dieses
Thema diskutiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
wir kommen überhaupt nicht weiter, wenn wir uns derart
im Kreise drehen und diese Debatten allein unter Ostdeutschen führen. Ich erlebe das zum wiederholten Male,
es ist im Grunde genommen ein altbekannter Schlagabtausch.
({3})
Wenn Sie diese Debatte aufwerten wollen, dann reden Sie,
Herr Hirche, dann reden auch Sie, Herr Merz. Damit machen Sie dann deutlich, dass der Aufbau Ost eine Gemeinschaftsaufgabe ist.
Wenn Sie den Bundeskanzler angreifen, würde mich
im Übrigen interessieren, was Sie von der Sache verstehen.
({4})
Von Ihnen, Herr Merz, habe ich noch keine relevante Aussage gehört. Das Thema liegt bei Ihnen völlig brach.
({5})
Nun gibt es einen sehr interessanten Aufhänger: Sie sagen, Bundestagspräsident Thierse habe ein paar kontroverse Thesen in die Öffentlichkeit gebracht und darüber
sollte man diskutieren. Präsident Thierse hat diese Thesen
als stellvertretender Parteivorsitzender in die Öffentlichkeit gebracht. Zwischen den Funktionen Präsident und
stellvertretender Parteivorsitzender sollte man unterscheiden, auch wenn das manchmal schwierig sein mag. Ich
will das gern zugeben.
({6})
Seine Thesen werden innerhalb der SPD momentan
sehr kontrovers diskutiert. Das ist gut; so sollte es jedenfalls in einer Partei, die offen und kontrovers diskutieren
kann, sein.
({7})
Ich weiß nicht, warum der Deutsche Bundestag diese Diskussion hier nachvollziehen will.
In diesem Zusammenhang können wir ja über innerparteiliche Probleme diskutieren.
({8})
Wir könnten darüber diskutieren, was sich im Augenblick bei Ihnen ereignet, zum Beispiel die Kritik der
Ministerpräsidenten an Merz und Merkel, die offensichtlich außer den drei Anfangsbuchstaben ihres Familiennamens überhaupt keine Gemeinsamkeiten mehr
aufzuweisen haben.
({9})
Wenn wir hier über die Entlassung von Gabriel in
Sachsen-Anhalt reden, sollten wir vielleicht auch über die
Entlassung von Herrn Milbradt in Sachsen durch Ministerpräsident Biedenkopf sprechen, der sich langsam als
Kohl-Kopf gebärdet, weil er das nachvollzieht, was
Helmut Kohl vorgemacht hat. Herr Biedenkopf erkennt
überhaupt nicht, wann die Übergabe an einen Nachfolger
zu geschehen hat, und bringt damit ein Land zu Schaden.
Die Kritik an ihm kommt aus den eigenen Reihen.
({10})
- Das ist ein Thema. Wenn man einen Finanzminister entlässt, und zwar nicht wegen sachlicher Auseinandersetzungen, ist das ein Thema.
({11})
- Ich rede zum Aufbau Ost.
Bei Gabriel lag eine Fehleinschätzung vor und deswegen hat es dort geknirscht. Bei Biedenkopf liegt ein anderes Problem vor: Hier wird einer nicht damit fertig,
dass er irgendwann einmal das Zepter übergeben muss. Er
entlässt deshalb einen Finanzminister in einer Situation,
in der der Länderfinanzausgleich und die Ausgestaltung
des Solidarpakts verhandelt werden, und schwächt damit
im Grunde genommen ein neues Bundesland in seiner
Verhandlungsposition. Wenn das ein Beitrag zum Aufbau
Ost ist, dann gute Nacht!
({12})
- Ich weiß, bei Ihnen sah alles sehr viel besser aus. Ich
verstehe dann nur nicht, wieso Sie heute eine solche Pauschalkritik üben, wenn es damals alles besser aussah. Ich
freue mich über Ihre rege Beteiligung und darüber, dass
ich Sie so aufwecken kann. Ich hätte mich noch mehr gefreut, wenn Sie ein Konzept vorgelegt hätten.
({13})
- Ich würde mich sehr freuen, wenn endlich das kommt,
worauf wir acht Jahre lang, von 1990 bis 1998, gewartet
haben. Wir haben darauf gewartet, dass endlich einmal ein
Ansatz dazu vorgelegt wird.
Das Konzept der Bundesregierung liegt vor; es ist mit
dem Bericht zum Stand der deutschen Einheit an alle gegangen. Das sind die Prämissen, auf die wir immer wieder setzen müssen. Es wird kein Sofortprogramm „Aufbau Ost“ geben. Es gibt keinen sofortigen Durchbruch.
Wir müssen im Grunde genommen die Innovationsfähigkeit der Unternehmen stärken.
({14})
Das macht diese Bundesregierung erstmals; sie hat das
Problem erkannt und in mehrfacher Hinsicht neue Konzepte entwickelt. Wir müssen die Entwicklungsfähigkeit
der Regionen sowie die Wirtschaftspotenziale in den Regionen stärken. Auch hierzu gibt es neue Programme, zum
Beispiel Inno-Regio, das hervorragend läuft. Wir müssen
Industrieansiedlungen forcieren. In diesem Zusammenhang lässt sich die Chip-Fabrik in Frankfurt/Oder als hervorragendes Beispiel für eine erfolgreiche Ansiedlungspolitik anführen.
({15})
Wenn Sie die vorausgegangene Debatte über die Chancen der ostdeutschen Landwirtschaft verfolgt haben, haben
Sie mitbekommen, dass Chancen für Betriebe, die naturnah
und in Einheiten produzieren, die rentabel sind, bestehen.
({16})
- Herr Merz, Sie grinsen so überheblich. Wenn Sie nur
halbwegs von diesem Thema Ahnung hätten!
({17})
Ich würde mir wünschen, noch ein paar Minuten Redezeit zu haben, weil ich die Debatte darüber, was wir hier
übernommen haben und wie weit wir gekommen sind,
gern mit Ihnen führe.
({18})
Zum Schluss sage ich Ihnen, worin die Chefsache Aufbau Ost besteht. Wir hatten nämlich 1997 einen Absturz
auf 0,7 Prozent Wirtschaftswachstum; wir hatten Nullwachstum. Es erforderte einen Riesenkraftakt, das umzudrehen und eine Trendwende einzuleiten. Dass wir heute
2 Prozent Wachstum haben, haben Sie dieser neuen Bundesregierung zu verdanken.
({19})
Das ist noch nicht genug, aber das ist eine Trendwende.
Damals war der Absturz. Insofern kommt die Kritik etwas
verspätet.
({20})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Christa
Luft von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Kaspereit, Kollege
Schulz, ich habe Ihre Reden zum Thema Aufbau Ost bis
in den Herbst 1998 hinein noch ganz gut im Ohr. Die hörten sich damals ganz anders an.
({0})
Das haben vermutlich auch viele Menschen, die uns
zuhören und zuschauen, noch in Erinnerung.
({1})
Sie hätten damals Herrn Wolfgang Thierse für eine so
pointierte Formel, wie er sie jetzt gefunden hat, laut Beifall gezollt. Heute kann er sich der Kritik nicht erwehren.
({2})
Das ist das Dilemma, in dem Sie sich befinden.
Niemand, der mit offenen Augen durch den Osten geht,
kann leugnen und wird leugnen, dass sich dort in den vergangenen zehn Jahren vieles zum Positiven entwickelt
hat. Aber niemand, der mit offenen Augen durch den
Osten geht, sollte auch leugnen, dass auch im dritten Jahr
rot-grüner Regierungspolitik der Osten immer noch an einer Wegscheide steht, und zwar an der Wegscheide zwischen einem beschäftigungspolitisch weiter abschüssigen
Pfad mit dauerhafter Verfestigung von Massenarbeitslosigkeit, mit Angewiesensein auf Alimentierung, vielleicht
mit Altenheimperspektive und einer anderen Strecke, die
gerichtet ist auf einen sozialökonomisch nachhaltigen,
selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung mit Chancen für
Jung und Alt im Osten und mit vielen Vorteilen für das
vereinte Land. Auch das will ich einmal sagen.
({3})
Wir sollten nicht immer so tun, als sei der Osten nur eine
Sache des Ostens. Nein, wie es dort vorangeht, das ist eine
Sache des vereinten Landes.
({4})
Werner Schulz ({5})
Eine Entscheidung darüber, wohin es nun gehen soll an
dieser Wegscheide, die Wolfgang Thierse eine „Kippe“
genannt hat, steht bislang aus. Es wäre dazu ein neuer politischer Anlauf erforderlich und der ist leider, obwohl der
Osten zur Chefsache erklärt und ein Ostbeauftragter bestallt worden ist, nicht zu erkennen. Der Aufschwung Ost
ist eines der schwächsten Glieder in der Arbeit der rotgrünen Bundesregierung. Das möchte ich aus meiner
Sicht ganz deutlich unterstreichen.
({6})
Wer das nach den niederschmetternden jüngsten Arbeitsmarktzahlen zu leugnen wagt, dem ist wahrlich nicht zu
helfen. Da können Sie sich auch nicht auf den Winter oder
auf die immer noch lahmende Bauwirtschaft zurückziehen. Es gibt ganz viele andere Ursachen dafür, dass wir
die Talsohle bisher nicht verlassen haben.
Die Arbeitslosenrate betrug im Osten bei Antritt der
neuen Regierung offiziell das 1,8fache der Rate in den alten Bundesländern. Heute beträgt die Rate das 2,3fache
dessen, was wir in den alten Bundesländern haben. Das ist
doch eine Besorgnis erregende Tendenz. Allein im Jahre
2000 zogen 14 000 Jugendliche einer Lehrstelle wegen in
die alten Bundesländer.
({7})
Ein von der PDS geforderter Fahrplan für die Angleichung der Löhne, Gehälter und Renten wird, so wie von
der Kohl-Mannschaft, auch von der neuen Regierung abgelehnt. Sind denn das alles, wie Sie, Herr Bundeskanzler, meinen, nur Empfindungen? Oder sind dies nicht ganz
handfeste Daten?
({8})
Es ist natürlich richtig, dass Rot-Grün eine böse Hinterlassenschaft von Schwarz-Gelb übernommen hat,
keine Frage. Aber es mangelt an neuen konzeptionellen
Ansätzen. Es reicht auch nicht, allein über Geld und mehr
Geld zu reden, so wichtig das ist. Hohe Zeit ist es aus unserer Sicht, endlich eine seriöse Evaluierung der überkommenen Wirtschaftsförderpraxis vorzunehmen. Üppige öffentliche Gelder dürfen nicht weiter als verlorene
Zuschüsse ohne Beschäftigungs- und Ausbildungsplatzeffekte in der privaten Industrie versickern.
({9})
Die PDS wird dazu Vorschläge vorlegen.
Zur Erschließung bzw. zur Wiedergewinnung von
Märkten für ostdeutsche Produzenten überregional handelbarer Güter muss eine Offensive gestartet werden.
Wenn die neuen Länder auf die eigenen Füße kommen,
also wirtschaftlich gesunden sollen, dann brauchen sie einen Zugewinn an Marktanteilen. Beispielsweise stünde
ein Bündnis für Aufträge aus Russland zur Modernisierung der Gas- und Ölindustrie an. Infolge der BSE-Krise
muss eine beschäftigungsstimulierende, transportsenkende Regionalisierung der Nahrungsgüterversorgung
sofort in Angriff genommen werden. Das Gebiet zwischen Elbe und Oder hätte davon seit Jahren profitieren
können, wenn gerade die regionale Nahrungsgüterversorgung mehr gefördert worden wäre.
Das gut qualifizierte, aber brachliegende Arbeitskräftepotenzial mittleren Alters in den neuen Bundesländern
braucht andere Antworten als die Aussicht auf einen Niedriglohnjob und ein Ehrenamt. Die PDS will zum Beispiel,
dass Projekte mehrjährig öffentlich geförderter, gemeinwohlorientierter Arbeit endlich auf die politische Agenda
kommen. Chancen und Risiken der Osterweiterung der
Europäischen Union zwingen in ihren Wirkungen auf
Ostdeutschland zu haushalts- und finanzpolitischen
Schlussfolgerungen. Was nützt es uns denn eigentlich,
wenn die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2006
zwar die Neuverschuldung auf null gesenkt hat, aber der
Osten in Agonie verfallen ist, weil bei öffentlichen Investitionen gespart worden ist?
({10})
Das sind nur einige wenige Überlegungen, die in einem
Aktionsprogramm für den Osten, das der Bundestagspräsident angeregt hat, Platz haben könnten.
Lassen Sie mich zum Abschluss Folgendes sagen:
Wenn all das, was der Bundestagspräsident angesprochen
hat, nicht in wahltaktischem Aktionismus enden, sondern
tatsächlich zu substanziellen Folgen führen soll, dann
brauchen wir - sowohl bei der Regierung als auch bei den
Koalitionsabgeordneten - ein Umdenken, was die Art und
Weise des Herangehens an den Osten angeht. Die Neubundesbürger müssen endlich als Ideenträger und Akteure
im Vereinigungsgeschehen, nicht immer nur als dessen
Objekte wahrgenommen werden. Innovative Lösungen
ostdeutscher Probleme können zugleich ein Beitrag zu alternativen Reformen im ganzen, im vereinten Land sein.
Danke schön.
({11})
Das Wort
hat jetzt für die Bundesregierung Staatsminister Rolf
Schwanitz.
({0})
Warten wir es einmal ab, Herr Kollege. - Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Frau Luft, Sie haben gerade
von einem sehr pointierten Analyse- und Vorschlagspapier gesprochen. Ich erinnere mich noch daran, dass der
Kollege Claus in einer ersten Reaktion auf dieses Papier
sagte, es habe eine Nähe zu alten PDS-Diagnosen und
-Vorschlägen. Auch Sie haben das sehr differenziert gesehen. Ich glaube, ein Hauch von Wahlkampf weht schon
durch diesen Saal. Das tut der ganzen Angelegenheit nicht
gut.
({0})
Herr Nooke, Sie haben eine stolze Zahl von Zitaten
vorgetragen. Was darin zum Ausdruck kam, ist richtig.
Aber ich sage ausdrücklich: Es tut einer großen Volkspartei gut, wenn sie über die größte innenpolitische Herausforderung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg - es
geht um die Entwicklung des seit 1990 vereinten Deutschlands - kontrovers diskutiert; das ist alles andere als ehrenrührig. Diese Debatte findet bei Ihnen nicht statt.
({1})
Ostdeutschland befindet sich nicht am Ende eines
Weges, sondern in der Mitte einer Wegstrecke. Die
schweren strukturellen Umbrüche sind noch nicht geschafft. Es vollzieht sich ein Wechsel der Wachstumskräfte. In der ersten Hälfte der 90er-Jahre boomte die Baubranche; dann ging die Entwicklung hin zu dem, was
eigentlich eine moderne Ökonomie ausmachen muss,
nämlich eine starke Industrie und vor allen Dingen ein
starker Dienstleistungsbereich. Ein solcher Wandel vollzieht sich in einem mehrjährigen Prozess.
Übrigens - Herr Schulz hat darauf hingewiesen -, sind
die volkswirtschaftlichen Auswirkungen eines solchen
Prozesses sehr wohl positiv und die heutigen Resultate
sind anders als diejenigen, die zu dem Zeitpunkt vorlagen,
als wir die Regierungsverantwortung übernommen haben. Während der letzten Legislaturperiode gab es einen
Absturz der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten: von
11 Prozent 1994 bis auf 0,7 Prozent 1998.
({2})
Dass seit dem Regierungswechsel die Bruttoinlandsproduktionsraten wieder wachsen - um 1,5 Prozent 1999 und
um etwa 2 Prozent 2000, wie ich annehme - und dass sich
das auch fortsetzen wird, ist ein gutes Zeichen für eine
Trendwende. Darauf können die Menschen in Ostdeutschland stolz sein.
({3})
Dass Sie überhaupt kein Interesse daran haben, über
diesen Strukturbruch zu reden, ist mir ja völlig klar.
Natürlich steht die schwierige Situation durch die aufgeblähte Baubranche in Ostdeutschland im Zusammenhang
mit Ihrer politischen Tätigkeit in den zurückliegenden
Jahren. Das geht auf die Förderkulissen zurück. So wurden zum Beispiel jahrelang undifferenzierte Sonderabschreibungsregelungen ermöglicht.
({4})
Deswegen sage ich ausdrücklich, dass uns Bilder wie „auf
der Kippe stehen“, wie „Absturz“ oder - wie von Ihnen,
Herr Nooke, gestern noch einmal im „Tagesspiegel“ zu lesen war - “abgekoppeltes Gebiet“ nicht weiterhelfen. Das
wird auch der Realität nicht gerecht.
({5})
Was muss geschehen? Welche Förderkonditionen sind
notwendig? Der sehr angesehene Leiter des Instituts für
Wirtschaftsforschung Halle, Herr Professor Pohl, hat gestern in der „Lausitzer Rundschau“ eine interessante Antwort auf die Frage gegeben: Bedarf es zusätzlicher Programme für den Osten? Er hat geantwortet: Nein, ich kann
mir auch keines mehr vorstellen. Er hat weiter geantwortet: Der Aufbauprozess muss so weitergeführt werden,
wie er angelegt ist, mit einem zweiten Solidarpakt, dem
Abbau der Infrastrukturlücke und einer hohen Priorität
bei der Ausbildung.
({6})
Meine Damen und Herren, so weit, dass ich sage, wir
denken nicht kritisch über Förderprogramme nach, will
ich nicht gehen. Es geht aber in der Tat genau um diese
Themen.
({7})
Es war richtig - wir werden diesen Weg auch fortsetzen -,
dass wir im Rahmen dieses Aufbaukonzeptes die
Innovationsförderung in Ostdeutschland ausbauen und
dabei helfen, Netzwerke zwischen den kleinen Unternehmen, den Forschungseinrichtungen, den Hochschulen und
der unternehmerischen Basis zu knüpfen.
({8})
Dabei müssen wir auch die Grundlage für eine neue Qualität bei den Investitionen schaffen.
Ein Beispiel dafür stellt ja das gestern bekannt gegebene Investitionsvorhaben in Frankfurt/Oder dar. Intel ist
nicht nur aufgrund hochattraktiver Investitionsförderungskonditionen nach Frankfurt/Oder gegangen, sondern auch deswegen, weil im Umfeld eine Verknüpfung
von hochwissenschaftlicher Innovationstätigkeit auf der
einen Seite mit industrieller Verwendung auf der anderen
Seite möglich ist. Diese Leistungen konnten Ostdeutsche
erbringen. Darauf können die Menschen stolz sein.
({9})
Es ist richtig, dass wir Differenzierungen bei der Förderung vorgenommen haben und die Investitionszulagen
nicht flächendeckend gewähren, so wie es zu Ihrer Zeit
der Fall war.
({10})
Vielmehr haben wir sie zusätzlich auf Erstinvestitionen
ausgerichtet und regional differenziert auf das Grenzland
fokussiert. Diese Differenzierung ist notwendig und entspricht der Entwicklung in Ostdeutschland.
({11})
Ausdrücklich möchte ich sagen, dass es nicht möglich
ist, in fünf Minuten über die ganze Bandbreite des Aufbaus Ost zu sprechen. Wenn Sie eine ernsthafte Ost-Debatte führen wollen, stellen Sie einen Antrag und verlanStaatsminister Rolf Schwanitz
gen Sie hier eine Debatte. Dazu bin ich herzlich gern
bereit.
({12})
Schließlich steigt die Bundesregierung in Themen ein, die
von Ihnen immer als Tabuthemen behandelt wurden. Ich
greife einmal das Thema Wohnungsleerstand heraus. Dieser ist bei den ostdeutschen Wohnungsunternehmen ja
nun wirklich nicht in den letzten zwei Jahren entstanden.
Das glauben Sie doch ernsthaft - mit Verlaub - selber
nicht. Wir müssen in zentrale Themen einsteigen, die Sie
früher ausschließlich als Angelegenheiten der Länder definiert haben. Das ist ein wirklich wichtiger und richtiger
Schritt, der übrigens auch dringend notwendig ist.
Zum Schluss sage ich Ihnen,
({13})
meine Damen und Herren, ganz klar: Eines werden wir
nicht machen. Wir werden den Menschen nicht einreden,
dass man - wir reden jetzt vom Solidarpakt II und einer
Finanzverfassung, die bis in das Jahr 2015 reicht, um die
Dimension der Wegstrecke einmal deutlich zu machen wie Harry Potter mit einem Zauberstab über diese Landschaften fliegen und den Weg auf drei bis fünf Jahre verkürzen könne. Das wäre unredlich.
({14})
Das und übrigens auch das permanente Bild von einem
Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse - als
ginge es darum, dass sich die Politik mit der Trillerpfeife
in der Hand hinstellt und den Zug abfahren lässt - führt zu
einer Schädigung der Situation, weil der Weg, der gegangen werden muss, nicht mehr wahrgenommen werden
kann.
Wir decken nicht zu, was geleistet werden muss, und
zwar gesamtdeutsch; denn die Westdeutschen müssen die
Solidarität für diesen Weg aufbringen. Das ist nicht nur
ein Thema für Ostdeutschland. Der Weg muss wahrhaftig
beschrieben werden, anstatt in einen investiven Attentismus zu verfallen, mit der Folge, dass Erwartungshaltungen produziert werden und die Investoren sich zurückhalten in der Hoffnung, es werde noch eine Superwurst
kommen. Wir werden dies auch nicht auf Ihren Wunsch
hin ins Werk setzen; denn wir sind der Interessenlage der
Menschen verpflichtet und nicht einer parteipolitischen
Ausrichtung.
({15})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Ulrich Klinkert von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Er wolle die neuen Bundesländer zur Chefsache machen und sich an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen, tönte Gerhard
Schröder kurz vor und nach der Wahl 1998. Zwei Jahre
nach diesen Ankündigungen mehren sich deutlich die Zeichen, dass nicht nur die Ernsthaftigkeit der Versprechen
und die Durchsetzungskraft des Kanzlers zu hinterfragen
sind, sondern dass es am ehrlichen Willen der rot-grünen
Bundesregierung fehlt, die notwendigen Kraftanstrengungen aufzubringen, um die neuen Bundesländer nach
vorne zu bringen.
({0})
Die nüchterne Analyse, die nicht von Herrn Thierse
stammt - er hat sie nur aufgegriffen und dankenswerterweise publik gemacht -, zeigt, dass die Arbeitslosigkeit
im Osten in den zwei Jahren rot-grüner Regierung auf das
fast Zweieinhalbfache der Arbeitslosigkeit im Westen gestiegen ist. 200 000 Arbeitsplätze wurden in den neuen
Ländern abgebaut. Mit weniger als fünf Millionen Arbeitsplätzen haben wir in den neuen Ländern so wenig
Arbeitsplätze und so viel Arbeitslose wie noch nie zuvor.
Das ist eine Entwicklung, die die Bundesregierung offensichtlich tatenlos hinnimmt.
Seit Kanzler Schröder den Aufbau in den neuen Bundesländern zur Chefsache erklärt hat, ist die Abwanderung vom Osten in den Westen auf das Vierfache angestiegen. Herr Schwanitz, auch das ist eine Erklärung
dafür, warum der Wohnungsleerstand in den neuen Bundesländern in den letzten zwei Jahren drastisch zugenommen hat.
({1})
Die Analysen sind so ernüchternd und entlarvend, dass
der Bundeskanzler, aber auch sein ostdeutsches Feigenblatt Schwanitz dazu noch nicht verbindlich Stellung genommen haben. Das, was Herr Schwanitz heute geboten
hat, ist alles andere als ein Fahrplan für eine bessere Entwicklung in den neuen Bundesländern.
({2})
Auch zehn Jahre nach der deutschen Einheit kranken
die neuen Bundesländer nach wie vor an dem riesengroßen Rückstand bei der Infrastruktur. Aber statt die Anstrengungen zu verstärken oder den Ausbau der Infrastruktur wenigstens auf dem bisherigen Niveau weiter zu
fördern, hat die rot-grüne Bundesregierung gerade hier
den Rotstift angesetzt. Sie haben mehrere 100 Millionen DM beim Ausbau der Bahn und des Straßenverkehrsnetzes gekürzt. Die UMTS-Milliarden, die Sie für
das Anti-Stau-Programm eingesetzt haben, werden vorrangig in den Westen umgeleitet. Sie haben die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ um mehrere 100 Millionen DM pro Jahr
reduziert und Sie haben drastische Einschnitte bei den
Forschungsmitteln vorgenommen.
Das in meinem Wahlkreis gelegene Arbeitsamt
Hoyerswerda weist in diesem Monat eine sprunghafte Zunahme der Arbeitslosigkeit auf fast 25 Prozent aus. Dieser
Anstieg hat seine Ursache unter anderem in der vertragswidrigen Kürzung der Braunkohlesanierungsmittel. Im
Jahre 2001 stehen mehr als 100 Millionen DM weniger
zur Verfügung als im Jahr zuvor, und das angesichts
eines gültigen Vertrages, den Sie - wie ich bereits
sagte - vertragswidrig geändert haben. Dies führte in den
Sanierungsbetrieben zu Entlassungen in dramatischer
Höhe.
Gleichzeitig führen Sie einen Globalangriff gegen den
wichtigsten ostdeutschen Wirtschaftszweig, nämlich gegen den Bereich der aktiven Braunkohlenförderung und
-verstromung. Die Grünen haben nach der Kernenergie
jetzt die Braunkohle zu ihrem Hauptfeind erklärt.
({3})
Trittin droht mit Sanktionen, um von seinem nationalen
und internationalen Versagen in der Klimaschutzpolitik
abzulenken. Die rot-grüne Koalition verlangt vehement
eine planwirtschaftliche KWK-Quote, die Tausende
Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern und sicher zum
Teil auch in den alten Bundesländern kosten würde, falls
sie umgesetzt wird.
({4})
Ein weiterer Ausdruck der Vernachlässigung der neuen
Bundesländer ist die überproportionale Kürzung bei den
Militärstandorten.
({5})
Es ist geradezu zynisch, wenn der Bundesverteidigungsminister sagt, er könne an Schneeberg nur dann festhalten,
wenn die Sachsen einen gleichwertigen Standort zur Disposition stellen. Man muss Herrn Schwanitz dazu sagen:
Es gibt kaum einen gleichwertigen Standort; denn
Schneeberg ist einer der ganz wenigen Standorte in strukturschwachen Regionen, die geschlossen werden sollen.
({6})
Die Bundesregierung reduziert mit ihren Beschlüssen
zusätzlich die Kaufkraft der Bürger in den alten, aber insbesondere auch in den neuen Bundesländern, was sich
dann auf die Entwicklung der mittelständischen Industrie
auswirkt. Ein Ehepaar mit einer durchschnittlichen Rente
bekommt aufgrund der Ökosteuer und des Rentenbetrugs
rund 1 000 DM weniger im Jahr. Das macht bei einer Stadt
von 50 000 Einwohnern circa 6 bis 7 Millionen DM
Kaufkraftverlust im Jahr aus. Das ist die Realität beim
Aufbau Ost à la Schröder.
({7})
Wir brauchen eine bessere Entwicklung der Infrastruktur, eine deutliche Exportförderung und eine Entbürokratisierung der Wirtschaft. Bei all diesen Problemfeldern haben Sie bisher völlig versagt. Wie hat Herr Thierse in
seinem Brief richtig zum Ausdruck gebracht: Anders als
1998 wird man uns bei der nächsten Wahl nicht an unseren
Versprechungen, sondern an unseren Leistungen messen.
({8})
Dies, meine Damen und Herren von der SPD, sollten Sie
sich eingerahmt in Ihren Fraktionssaal hängen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich gebe
das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Franz
Thönnes.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Die Situation im Osten wird
nicht wahrer und klarer, wenn alle möglichen Problemfelder so zu einem Brei vermischt werden, wie das gerade
mein Vorredner gemacht hat.
({0})
Es ist einfach die Wahrheit, dass Sie blühende Landschaften versprochen haben, obwohl den Menschen klar war
und auch heute noch klar ist, dass eine marode Wirtschaft
nicht innerhalb von zehn Jahren auf Vordermann gebracht
werden kann, sondern dass dies Schritt für Schritt erfolgen muss. Man muss den Menschen Mut machen. Und
statt zu jammern „Das Glas ist halb leer!“ muss man sagen: Das Glas ist halb voll.
({1})
Man sollte deswegen auch über die positiven Signale
sprechen, die uns erreichen: Die Arbeitslosenquote ist im
Zweijahresdurchschnitt von 18,2 auf 17,4 Prozent
zurückgegangen. Die industrielle Produktion hat kräftig
zugelegt. Wir spüren zwar deutlich, dass das nicht ausreicht, um den Beschäftigungsrückgang im Baugewerbe
und im öffentlichen Dienst auszugleichen. Wir wollen
auch gar nicht die dadurch entstehende kurzfristige Belastung leugnen. Aber wenn wir genau hinschauen, dann
können wir erkennen - das hat auch der Präsident der
Bundesanstalt für Arbeit, Herr Jagoda, festgestellt -, dass
sich die Struktur der Beschäftigung verbessert hat.
Auch in den neuen Ländern gibt es regionale Unterschiede, die man zur Kenntnis nehmen muss. In Dresden, Gera, Suhl und Potsdam lag die Arbeitslosenquote
im Dezember zwischen 13 und 14 Prozent. Damit haben
wir eine vergleichbare Situation wie in den strukturschwachen Regionen im Westen, zum Beispiel wie in
Emden, Dortmund und Gelsenkirchen. Wir brauchen erfolgreiche Beispiele, an denen deutlich wird, dass die industriellen Arbeitsplätze sicher sind und neue nach sich
ziehen.
Ein ganz wichtiger Bereich, der hier bislang keine
Rolle gespielt hat, ist das Engagement dieser Koalition für
die jungen Menschen in diesem Land mit dem Sonderprogramm JUMP, das mit 2 Milliarden DM in unveränderter Höhe fortgesetzt wird. Davon werden aber im Jahr
2001 50 Prozent statt 40 Prozent in den Osten fließen.
({2})
Allein im letzten Jahr haben durch dieses Programm
34 600 junge Menschen eine Perspektive erhalten. Wenn
sich das nicht im gleichen Umfang auf den Arbeitsmarkt
auswirkt, hat das etwas damit zu tun, dass wir bewusst solche jungen Menschen ansprechen, die bisher nicht bei den
Arbeitsämtern registriert waren.
Dies ist die zentrale Herausforderung: jungen Menschen eine Perspektive zu geben. Denn jede Mark, die hier
investiert wird, ist sinnvoller investiert, als wenn sie in
Resozialisierungsmaßnahmen oder Jugendstrafanstalten
investiert werden muss.
({3})
Hinzu kommt, dass die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik gestiegen sind. So erhält der Osten Deutschlands mit 13,8 Milliarden DM 50 Prozent der Mittel des
Eingliederungstitels. Wenn man sich anschaut, wie sich
der Anteil der aktiven Arbeitsmarktpolitik insgesamt entwickelt hat, stellt man fest, dass er sich mittlerweile in einer Größenordnung von 53 Prozent bewegt.
({4})
Wir haben jetzt zu hinterfragen, warum die 3 Milliarden DM, die für Strukturanpassungsmaßnahmen vorgesehen waren, nicht abgeflossen sind. Das merken wir durchaus kritisch an. Das darf nicht noch einmal passieren.
Gerade Strukturanpassungsmaßnahmen können gut mit
der örtlichen Infrastrukturförderung kombiniert werden.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ein besonders
für den Osten positives Beispiel nennen. Die Existenzgründer im Osten hatten in den Jahren 1999 und 2000 einen größeren Anteil an dem Förderbetrag in Höhe von
1,4 Milliarden DM als die Existenzgründer im Westen.
Wir können zufrieden zur Kenntnis nehmen, dass der
Bundesanstalt für Arbeit zufolge von den ostdeutschen
Jungunternehmen stärkere Beschäftigungsimpulse ausgehen als von den westdeutschen Unternehmen; in den
neuen Ländern hätten durch diese Maßnahmen nicht nur
mehr Ausbildungsplätze, sondern auch mehr reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze als im Westen
geschaffen werden können. Das ist ein Erfolg. Dadurch
zeigt sich ganz deutlich, dass die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik sinnvoll eingesetzt werden können.
Ich möchte einen weiteren Faktor nennen, von dem ich
glaube, dass er in der Zukunft zentral ist, wenn es darum
geht, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Wir werden einen
Antrag in den Deutschen Bundestag einbringen, mit dem
wir die Jobrotation fördern wollen. Das heißt, wir wollen
Arbeitslosigkeit und Weiterbildung sinnvoll so verknüpfen, dass die Betriebe und die Mitarbeiter qualitativ auf
den Stand der Zeit kommen und gleichzeitig Stellvertreter, die vom Arbeitsamt gefördert werden, in die Lage versetzt werden, einen Arbeitsplatz zu erhalten.
({5})
Ich glaube, dass wir bei den Maßnahmen der Wirtschaftsförderung sehr genau hinschauen müssen. Die
Norddeutsche Landesbank hat gerade eine Studie vorgelegt, in der die Gründe für die Produktivitätslücke im
Osten genannt werden: Branchenstruktur, Mangel an Unternehmenszentralen, Niedrigpreisstrategien und Managementdefizite. Das heißt, mit Geld allein ist es nicht getan, sondern es geht auch um qualitative Förderung und
darum, Zeichen zu setzen.
Deswegen möchte ich abschließend meinen Glückwunsch an die Stadt Frankfurt/Oder aussprechen. Mit der
Investition, die jetzt dort im Mikroelektroniksektor getätigt wird - mit 3,15 Milliarden DM die größte innerhalb
der letzten zehn Jahre -, werden 3 500 Arbeitsplätze entstehen. Angefangen hat man mit einem Forschungsinstitut, um das herum sich nun wirtschaftliche und industrielle Kraft ansiedelt.
Das ist die zentrale Perspektive für die Zukunft. Deswegen sage ich Ihnen mit einem alten chinesischen
Sprichwort: Es ist besser, ein Licht in der Dunkelheit anzuzünden, als dauernd über die Finsternis zu klagen.
({6})
Für die
Fraktion der CDU/CSU spricht nun der Kollege Peter
Rauen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Thönnes, ich bin sehr
dafür, dass wir auch über das reden, was gut läuft. Das
führt zur Ermunterung und begegnet Defätismus.
Ich muss schon sagen: Was der Beauftragte der Regierung für die neuen Bundesländer, Herr Schwanitz, hier gesagt hat, war ohne jegliche Perspektive. Das war die personifizierte Perspektivlosigkeit. Da hätte ich von Ihnen,
Herr Schwanitz, einiges mehr erwartet.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns schon
Gedanken machen, wenn wir in den neuen Bundesländern
einen negativen Wanderungssaldo feststellen. Das geht
uns alle an, erst recht, wenn junge Leute weggehen und ältere zurückkommen. Langfristig hat das verheerende Folgen. Das kann uns nicht kalt lassen. Das zeigt mir, dass
wir zwar vieles, insbesondere im Sozialbereich, mit staatlichen Mitteln klären können, aber letztendlich einen
selbst tragenden Aufschwung brauchen, um in den neuen
Bundesländern langfristig die Arbeitsplätze zu haben, die
wir brauchen.
({1})
Das ist einfach eine Tatsache. Es besteht eine Produktivitätslücke, die seit etwa sechs Jahren zwischen 24 Prozent und 26 Prozent verharrt. Diese Lücke müssen wir
schließen. Wir wissen auch, dass alleine 15 Prozent der
Produktivitätslücke darauf zurückzuführen sind, dass es
noch nicht genügend Verkehrswege gibt. Hier versagt die
neue Regierung.
({2})
Wirtschaftliche Verkehrswege sind Voraussetzung für
Prosperität und wirtschaftliches Wachstum. Es kann nicht
angehen, dass man Pläne für moderne Verkehrsmittel
nicht weiterverfolgt hat und dass man nicht stärker versucht, die Lücke bei der Infrastruktur zu schließen. Hier
muss wesentlich mehr getan werden, als zurzeit getan
wird.
({3})
Meine Damen und Herren, ich fürchte, im Rahmen der
Finanzierung über den normalen Haushalt wird dies nicht
möglich sein. Wir müssen nach neuen Finanzierungswegen suchen, um die Infrastruktur in den neuen Bundesländern viel schneller zu verbessern, als wir dies mit
den üblichen Haushaltsfinanzierungsmitteln könnten.
({4})
Darüber hinaus muss uns eines zu denken geben: Ich
habe zur Kenntnis zu nehmen, dass in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren fast genauso viele Firmen
Konkurs gegangen wie neue geschaffen worden sind.
({5})
Aber ohne Unternehmen gibt es keine Arbeitsplätze. Die
Kollegin der F.D.P. hat Recht:
({6})
Die Verschlechterungen, die den Mittelstand treffen, treffen natürlich die Schwächsten und umso mehr die jungen
Firmen in den neuen Bundesländern, die noch keine Substanz, noch kein Eigenkapital haben. Ich sage das auch
aus ganz persönlicher Sicht. Seit 35 Jahren bin ich selbstständig. Ich habe noch nie so viele Sorgen gehabt, für
meine Mitarbeiter Arbeit zu finden, wie zurzeit. Wir bieten teilweise, um die Beschäftigung zu halten, unter den
Gestehungskosten an.
({7})
Das geht aber nur, wenn Substanz da ist - Substanz, die
junge Firmen in den neuen Bundesländern überhaupt
noch nicht haben können. Deshalb haben wir zu beklagen,
dass die Firmen den Druck nicht aushalten und wieder liquidiert werden. Meine Damen und Herren, in diesem
Punkt müssen wir ganz entscheidend verbessern.
Ich habe mir einmal angeschaut, was wir den Firmen in
den neuen Bundesländern alles zumuten. Viele der Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt, die heute in den alten
Ländern gelten, sind nach 1970 erlassen worden: als nach
dem Wiederaufbau die Substanz vorhanden und das Wesentlichste geschafft war. In den neuen Bundesländern
aber haben wir den Firmen diese Regelungsdichte sofort
auferlegt und erwarten, dass sie automatisch damit zurechtkommen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir
dies ändern können.
({8})
Ich nehme sehr bewusst die Wirtschaftsminister der
neuen Länder wahr, die eigentlich im Vergleich der Bundesländer relativ gute Ergebnisse vorweisen können.
Wenn zum Beispiel Minister Fürniß aus Brandenburg im
Hinblick auf den Arbeitsmarkt sagt, er brauche ein Experimentierfeld für Deregulierungen, dann könne er vieles
lösen, wenn der Minister für Wirtschaft und Arbeit in
Sachsen, Herr Schommer, sagt, er brauche mehr Gestaltungsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt, man müsse sich von
den verkrusteten westdeutschen Strukturen lösen und
benötige eine arbeitsmarktpolitische Experimentierwerkstatt, so sollte man dies sehr ernst nehmen und insgesamt
wieder einmal fragen, wo wir hinsichtlich des Funktionierens unserer sozialen Marktwirtschaft vielleicht übertrieben haben. Wir müssen uns fragen: Können wir automatisch verlangen, dass Firmen im Aufbau, die einen
Nachholprozess zu durchlaufen haben, sich all das leisten,
was uns im Westen in 40 Jahren lieb und teuer - vor allen
Dingen teuer - geworden ist?
({9})
Ich rufe uns alle dazu auf, darüber nachzudenken, wie
wir deregulieren können, um sowohl für die neuen als
auch für die alten Bundesländer Chancen für eine bessere
Zukunft des Arbeitsmarktes zu schaffen. Das sollte uns
alle berühren. Darüber nachzudenken - ohne Streit - lohnt
sich für uns alle.
Danke schön.
({10})
Für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin
Antje Hermenau.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt sind wir
in der Debatte über den Aufbau Ost genau da, wo sich
auch der Aufbau Ost befindet, nämlich in den Mühen der
Ebene. Sie merken, die Beiträge werden technokratischer und es gibt keinen Befreiungsschlag, stattdessen
reden wir über die vielen Details des mühsamen Geschäfts.
Ich glaube, Herr Schwanitz, der Bundeskanzler hat Ihnen keinen Gefallen getan, als er den Aufbau Ost zur
Chefsache erklärt hat.
({0})
Dies hatte dieselbe Wirkung auf die Menschen wie das
Versprechen von den blühenden Landschaften. Eigentlich
müssen diejenigen, die den Aufbau Ost ernsthaft betreiben, zugeben: Es ist ein mühsames Geschäft, das sich über
Jahre und Jahrzehnte hinziehen wird; wir werden dabei
eine Menge zu leisten haben.
Deswegen sollten wir jetzt über das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen reden. Wenn etwas in dem
Streit der letzten Tage und Wochen klar geworden ist,
dann dies: Eigentlich müsste in jeder Partei genau der
Streit stattfinden, der jetzt in der SPD stattfindet. In der
CDU zum Beispiel höre ich davon nichts.
({1})
Wir arbeiten noch daran, von der F.D.P. habe ich nur eine
Stimme gehört und die PDS ist sowieso außen vor.
({2})
- Lassen wir diese Frage einfach offen!
Es gibt flotte Sprüche von Herrn Gabriel und Pathos
von Herrn Thierse. Daneben gibt es eine Gruppe in der
CDU/CSU-Fraktion, die sich seit zehn Jahren mit gleich
bleibendem Erfolg darum bemüht.
({3})
Wir Ostdeutschen haben das gleiche Problem, wir sind in
jeder Partei in der Minderheit. Das sage ich Ihnen ganz
nüchtern aus der Erfahrung in der politischen Arbeit der
letzten Jahre.
({4})
Nun gibt es einen Ausschuss, in dem die Ostdeutschen die
Mehrheit haben. Ist das deswegen ein revolutionäres Gremium geworden? Davon höre ich nichts.
({5})
Wo ist das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen?
Ich habe mich das die ganze Zeit, in der ich diese Debatte
hier verfolgte, gefragt. Es hat eine Debatte darüber gegeben, die deutlich gemacht hat, dass wir für den Solidarpakt auch beim Länderfinanzausgleich kämpfen müssen.
Von Herrn Stoiber höre ich ständig, die Bayern hätten in
kurzer Zeit aus dem Geld, das sie aus dem Aufbau Süd bekommen haben, richtig etwas gemacht. Wenn ich mir das
genau ansehe, stelle ich fest, das ist nicht in zehn Jahren
passiert und es ist auch nicht flächendeckend passiert.
({6})
Für mich heißt das: Lernen aus dem Aufbau Süd! Auch
der Aufbau Ost wird länger als zehn Jahre dauern und
wird nicht flächendeckend sein. Das muss man ehrlich
zugeben.
Ich komme nun zum Länderfinanzausgleich. Die Steuerkraft der ostdeutschen Kommunen liegt bei einem Drittel des durchschnittlichen Westniveaus. In dieser Situation wollen Sie beim Länderfinanzausgleich darauf
achten, dass der Osten nicht zu viel bekommt. Er kann gar
nicht zu viel bekommen, diese Gefahr gibt es gar nicht.
Ich bin dafür, so viel wie möglich im normalen Gefüge
des Länderfinanzausgleichs zu regeln und so wenig wie
möglich durch Sonderprogramme umzusetzen, aber ich
sage auch: Um den Solidarpakt II kommen wir nicht
herum. Auch das ist ein ehrliches Fazit dieser Debatte.
({7})
Wir werden sehen, ob alle Ostdeutschen in diesem Bundestag gemeinsam um diese „Ressourcen“ kämpfen werden, wie es Herr Thierse so schön, wenn auch ein wenig
pathetisch, wie ich meine, formuliert hat.
Ich komme nun zu meinem letzten Punkt. Warum streiten wir uns eigentlich so heftig bei dieser Debatte? Das ist
ganz klar: Es geht um die gefühlte Temperatur im Osten.
Wenn Sie eifrige Wetterberichthörer sind, dann wissen
Sie, dass es die objektive und die gefühlte Temperatur
gibt. So ähnlich ist es auch beim Aufbau Ost. Die wirkliche Temperatur ist ein bisschen besser als die gefühlte,
weil uns ein kalter Wind entgegenbläst oder wir uns falsch
angezogen haben.
Im Prinzip haben wir eine ganze Reihe von Instrumenten im Osten, die sich als untauglich erweisen, weil sie
nicht auf Dauer angelegt worden sind. Das ständige Lamento über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gehört
dazu. Wir reden seit Jahren darüber, dass sie nicht zureichend sind. Das wissen wir. Wir Ostdeutsche befinden uns
inzwischen in einer würdelosen Diskussion, weil wir Jahr
für Jahr um ABM betteln müssen, welche für diejenigen,
die in einer solchen Maßnahme sind, gar nicht das Beste
ist, was man ihnen anbieten konnte.
Wollten wir mehr Würde in der Debatte über die Arbeitsmarktpolitik im Osten, dann müssten wir ehrlich zugeben: Es gibt eine Reihe von Menschen, die Opfer der
Umstrukturierung im Osten sind. Diesen Menschen ist
mit einer ABM oder einer Fortbildung nach dem 55. Lebensjahr auch nicht mehr geholfen; mitunter ist es eher
eine entwürdigende Prozedur für diese Menschen, nur um
ein bestimmtes finanzielles Einkommen zu erreichen. Ich
bin der Auffassung, dass wir uns um diesen Streitpunkt im
nächsten halben Jahr kümmern müssen, damit wir hier
vorankommen. Es geht um die Würde derjenigen, die an
der Umstrukturierung im Osten nicht mehr beteiligt werden können, weil es sich wirtschaftlich nicht machen
lässt.
({8})
Diese Instrumente haben damals, als die blühenden
Landschaften verkündet wurden und alle noch den Aufbau Ost geübt haben und keiner wusste, was daraus wird,
sicherlich getaugt. Aber inzwischen ist deren Tauglichkeit
durch die Praxis mehr als infrage gestellt. Wir müssen uns
da auf etwas Neues besinnen.
Deswegen habe ich heute angefangen, von einem
neuen Selbstbewusstsein des Ostens zu sprechen. Dazu
gehört: Ich bestehe darauf, dass man uns in Würde mit der
notwendigen Umstrukturierung umgehen und uns in
Würde unsere eigenen Vorschläge dazu entwickeln lässt.
Man sollte endlich aufhören, im Zuge von Feuerwehraktionen alle zwei Jahre zu postulieren zu versuchen: Jetzt
gibt es im Aufbau Ost einen Sprung. - Die Würde besteht
auch darin, zu erkennen, dass der Umstrukturierungsprozess lange dauern wird, mühsam ist und wir uns alle an
ihm beteiligen müssen.
Danke schön.
({9})
Ich gebe
dem Kollegen Dr. Paul Krüger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren
heute über die Thesen des SPD-Vizevorsitzenden
Wolfgang Thierse. Herr Schulz, wir sollten uns darüber
nicht so sehr ereifern, auch wenn der Streit darüber in der
SPD offensichtlich relativ hohe Wellen schlägt.
({0})
Wir sollten vielmehr sachlich darüber sprechen und Herrn
Thierse im Rahmen der Bilanz, die wir heute ziehen, nicht
Unrecht tun.
Die Frage, über deren Beantwortung in der SPD gestritten wird, lautet: Ist die Bilanz von Herrn Thierse überhaupt richtig? Dazu kann ich nur sagen: Vieles von dem,
was Herr Thierse aufzählt, ist Fakt. Recht hat er insbesondere dann, wenn er von der Stagnation des Bruttoinlandsproduktes und der Arbeitsproduktivität sowie vom Arbeitsplatzabbau spricht. Das alles ist heute schon erörtert
worden. Noch nicht gesagt wurde, dass die Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Ländern, seitdem die jetzige Koalition an der Regierung ist, um 15 Prozent gestiegen ist.
({1})
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist in den neuen Bundesländern um 10 Prozent gestiegen.
Herr Thierse stellt die Frage: „Steht der Osten auf der
Kippe?“ Ich würde sagen: Er steht nicht auf der Kippe, allerdings ist seit 1998 - und zum Teil schon davor - ein
kontinuierlicher Trend zu verzeichnen. Herr Thierse bezeichnet diesen Trend in seiner zweiten These als Abwärtstrend. Wir müssen aufpassen - deshalb ist diese Debatte hier sehr wichtig -, dass dieser Abwärtstrend nicht
fortgesetzt wird.
Auch wenn es keine weiteren Gründe gäbe, über dieses Thema zu diskutieren, so gibt es doch einen wichtigen
Grund: die Abwanderung aus dem Osten. Das ist das zentrale Problem, das wir zurzeit in Ostdeutschland haben.
Diese Abwanderung ist bis 1997 drastisch zurückgegangen. Seit 1998 steigt sie wieder. Sie hat sich bis heute pro
Jahr vervierfacht. Dieses Problem müssen wir ernst nehmen, weil durch diese Abwanderung die Substanz in den
neuen Bundesländern verloren geht.
({2})
Diese Abwanderung hat eine Menge wirtschaftlicher und
sozialer Folgen, mit denen sich die neuen Bundesländer
und mit denen auch wir uns auseinander zu setzen haben.
Eine weitere Frage, über deren Beantwortung Sie in
der SPD streiten, ist die, ob das Ziehen einer solchen Bilanz überhaupt zweckmäßig ist. Dies kann natürlich auch
gefährlich sein; das ist heute schon angesprochen worden.
Zum einen ist es immer gut, wenn man eine klare Situationsanalyse vornimmt, wie es Herr Thierse getan hat. Zum
anderen ist es insofern gefährlich, als wir aufpassen müssen, dass die Menschen durch eine Offenlegung der im
Osten bestehenden Probleme nicht noch deprimierter
werden und nicht noch stärker in ein Abhängigkeitsgefühl, in Perspektivlosigkeit und Resignation verfallen.
Dies könnte letztlich dazu führen, dass die Aktiven daraus
den Schluss ziehen, die Emigration zu suchen, weil sie
keine Zukunftsfähigkeit mehr sehen, und dass diejenigen,
die nicht so aktiv sind, innerlich emigrieren - und das ist
eine echte Gefahr. Deshalb sollten wir über diese Probleme sehr ernsthaft sprechen. Insofern ist die heutige Debatte gut. Wir brauchen kein Gejammer und keine Larmoyanz - das ist richtig festgestellt worden -, aber wir
brauchen sehr wohl richtiges Handeln.
Eine weitere Frage, über deren Beantwortung Sie und
auch wir streiten, lautet: Was ist und was bleibt zu tun? Wie
viel Förderung brauchen wir denn noch im Osten? Ich
sage: Wir brauchen nach wie vor relativ viel Förderung.
Wir müssen sie differenzierter nach Wirtschaftsbereichen
und Regionen einsetzen; auch darüber sind wir uns einig.
Wir müssen aber auch davon wegkommen, immer zu
betonen, wir hätten schon so viel erhalten. Von den durchschnittlich 140 Milliarden DM, die jährlich nach Ostdeutschland fließen, sind 75 Prozent für Sozialleistungen
und Zuweisungen an die Länder vorgesehen. Ganze
25 Prozent betreffen die Ostförderung. Das heißt, von
140 Milliarden DM werden 35 Milliarden DM für die Ostförderung ausgegeben. Wenn ich das mit der Steinkohleförderung vergleiche, dann muss ich sagen, dass die Leistung für die neuen Bundesländer sehr relativ ist. Insofern
sollten wir nicht darüber nachdenken, sie zu kürzen.
Wenn man sich anschaut, wie die Infrastruktur in den
neuen Ländern ausgebaut ist, stellt man sofort fest, dass
wir im Infrastrukturbereich - das ist hier sehr richtig bemerkt worden - mehr tun müssen als bisher. In viele Bereiche in den neuen Bundesländern, vor allen Dingen auch
in immaterielle Bereiche - ich denke an Forschung und
Entwicklung, an das, was wir heute als weiche Faktoren
bezeichnen, an Bildung und Innovationsprozesse -, müssen wir viel mehr investieren, was diese Bundesregierung
nicht in ausreichendem Maße tut.
Ich denke, wir sollten beachten, dass das Ganze eine
mentale Dimension hat. Wir sollten die Maßnahmen wirklich nicht zurückfahren und wir sollten den Menschen klar
machen, dass in den neuen Bundesländern enorme Potenziale liegen, auf die wir bauen können.
Aber auch darüber wird in der SPD gestritten. Wer eigentlich - fragt Herr Thierse - vertritt die ostdeutschen Interessen? Thierse fordert die SPD in seiner letzten These
auf, diese besser zu vertreten. Ich zitiere:
Wenn wir die Wahl gewinnen wollen, müssen wir
uns stärker den Interessen des Ostens zuwenden. Wir
müssen sie stärker durchsetzen.
Das heißt, er konstatiert, dass bisher zu wenig in der SPD
getan wurde.
Ich will noch einmal Beispiele für das anführen, was
nach 1998 von der SPD veranlasst wurde. Als Erstes
nenne ich den Transrapid,
({3})
der gecancelt wurde, obwohl das Planfeststellungsverfahren abgeschlossen war - ein ganz schlechtes Signal. Für
den Bau des A3XX am Standort Rostock hat sich niemand
in dieser Bundesregierung stark gemacht.
({4})
Die Menschen wandern jetzt mit ihren Familien aus Rostock nach Hamburg ab, um dort Arbeit zu finden.
Ich verweise auch auf die aktuelle Diskussion über die
Bundeswehrstandorte. In dem Bundesland, aus dem ich
komme, sind die zwei Landkreise mit der höchsten Arbeitslosigkeit quasi zielgerichtet ausgesucht worden, um
dort zwei Standorte zu schließen, Eggesin und Basepohl obwohl dort gerade erst in Größenordnungen von mehreren 100 Millionen DM investiert worden ist. Das Gleiche
trifft für Schneeberg in Sachsen zu.
Herr Kollege
Krüger, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss Ihrer Rede.
Ich könnte noch
eine ganze Reihe von Maßnahmen anführen. Hier sind genannt worden: Rentenangleichung, Reduzierung der Sonder-AfA, die Steuerreform, die die ostdeutschen Länder
besonders trifft. Bei vielen Maßnahmen haben Sie Reduzierungen der eingesetzten Mittel vorgenommen, was die
neuen Ländern in besonderer Weise trifft.
Deshalb kann man Herrn Thierse nur wünschen, dass
er es schafft, dass diese Bundesregierung die Interessen
des Ostens endlich stärker durchsetzt.
({0})
Nach dem Motto „Im Osten nichts Neues“
Herr Kollege Krüger, ich muss Sie jetzt wirklich bitten, zum
Schluss zu kommen. Es ist eine Aktuelle Stunde und es
hilft nichts: Sie müssen sich an die Regeln halten.
- wie Herr
Schwanitz verkündet hat, werden wir die Probleme des
Ostens jedenfalls nicht lösen.
({0})
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Dr. Mathias Schubert für die Fraktion
der SPD.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von
der CDU, Sie haben in dieser Aktuellen Stunde ein gewisses Problem: Sie wollen eine Strategiediskussion führen;
um diese Strategiediskussion führen zu können, müssen
Sie zunächst einmal den Standort Ost schlecht reden.
({0})
Genau das brauchen wir nicht. Das nächste Problem ist:
Sie haben überhaupt keine Antworten. Sie reden hier wie
der Blinde von der Farbe. Herr Klinkert tritt hier sozusagen als verletzter Jammer-Ossi auf. Sie tun hier so, als kämen Sie aus einer anderen Welt und hätten nie etwas mit
dem Aufbau Ost zu tun gehabt.
({1})
Sie haben wohl vergessen, dass Sie den Transformationsprozess eingeleitet und die Weichen acht Jahre lang gestellt haben, übrigens mit einer ganzen Reihe von unumkehrbaren Grundsatzentscheidungen - das wissen Sie
genau -, die also heute nicht mehr rückgängig gemacht
werden können.
({2})
- Herr Nooke, aus dieser Verantwortung können auch Sie
sich nicht stehlen, selbst wenn Sie gern von sich behaupten, Sie seien damals nicht dabei gewesen und deshalb für
den damaligen Zustand im Osten nicht verantwortlich.
Das ist eine besonders subtile Form von Verantwortungslosigkeit.
({3})
Nun stellen Sie hier fest: Die Sozis streiten sich über
das Thierse-Papier und über die Strategie. Ich bin froh,
dass wir dialogfähig sind,
({4})
ja, dass wir auch diskurs- und streitfähig sind. Worüber
sollen wir als Ostdeutsche denn streiten und leidenschaftlich debattieren, wenn nicht über die Zukunft Ostdeutschlands und über alle die Probleme, die zum Beispiel die
Kollegin Hermenau aufgeführt hat?
({5})
Hier geht es eben nicht um Marginalien, wie Sie sie laufend vorbringen und sie sich aus den Fingern saugen; hier
geht es nicht, wie Ihre Parteivorsitzende etwa zum Tagesordnungspunkt vorher vorgeschlagen hat, um die Schaffung eines allgemeinen deutschen Verbraucherklubs.
Wenn das die Innovationen sind, die Sie in diesem Haus
einbringen, dann Gute Nacht! Vielmehr geht es um die
langfristig zu sichernde Zukunft von 16 Millionen Menschen.
({6})
Das heißt eben auch, wir brauchen langfristig wirkende
Maßnahmen statt Aktionismus.
Ganz im Gegensatz dazu erinnert Ihre Kritik an unserem Dialog an jene unseligen Zeiten der gleichgeschalteten Meinung, als die CDU der DDR noch Kaderpartei im
Schlepptau der Mutter SED gewesen ist.
({7})
- Natürlich. - Ich frage noch einmal: Wo sind denn eigentlich Ihre Konzepte für Ostdeutschland? Ihr letzter
Redner kann vielleicht noch etwas dazu sagen. Dazu
herrscht großes Schweigen im Walde.
Ich würde auch gerne Ihre Parteivorsitzende daraufhin
ansprechen; denn sie kommt ja wohl aus dem Osten: Frau
Merkel, meine Landsfrau mit einer lupenreinen ostdeutschen Biografie, die FDJ-Sekretärin an der Uni war, als
ich FDJ-Sekretär an der Schule war.
({8})
Wo bleibt denn ihr ostspezifisches Engagement? Das ist
gleich null.
({9})
Deshalb ist der Osten zurzeit auch höchst beglückt darüber, dass in Frankfurt eine Chipfabrik entsteht, dass der
Flughafen Berlin-Brandenburg entsteht. Wir alle freuen
uns auch über die Union, aber über den 1. FC und nicht
über Sie.
({10})
Es ist leicht, sich darüber zu mokieren, dass das Thema
Aufbau Ost zur Chefsache erklärt worden ist. Bei Ihnen
jedoch weiß zurzeit niemand so richtig, wer überhaupt
Chef ist.
({11})
Natürlich ist die Situation im Osten ambivalent. Das
reden wir auch nicht schön. Dort gibt es eine ganze Reihe
von Firmengründungen. Wir fördern - was Sie übrigens
seit 1995 nicht gemacht haben, aber hätten machen sollen;
denn damals knickten die ganzen harten Daten ein - Investitionen. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit zu hoch.
Natürlich geben wir uns damit nicht zufrieden. Wir haben
Inno-Regio aufgelegt. Wir fördern Netzwerke. Wir stärken die eigenen Kräfte. Dennoch sind noch keine selbst
tragenden Wirtschaftsstrukturen mit all den Folgen bis hin
zu den Kommunalfinanzen vorhanden. Es ist völlig klar,
dass wir darüber debattieren müssen und uns damit nicht
zufrieden geben können. Wir dürfen aber den Standort
Ostdeutschland nicht schlecht reden, wie Sie das machen;
denn dann können wir einpacken. Damit würden wir sagen: Der Osten hat keine Zukunft. - Das ist allerdings die
Botschaft, die Sie rüberbringen.
({12})
Wir setzen uns mit der Situation auseinander. Ein großer
Teil der Auseinandersetzungen betrifft aber die Beseitigung des durch Ihre Politik entstandenen Restmülls.
({13})
Während Ihre Parteivorsitzende in Aktuellen Stunden
wie der über die Biografie des Außenministers ein kryptostalinistisches Staatsverständnis vertritt, bündeln wir
den Sachverstand, und zwar den Sachverstand der ganzen
Koalition, für den Aufbau Ost der nächsten 15 Jahre.
({14})
Die Zeit des Ostens beginnt jetzt - mit uns, nicht mit
Ihnen!
({15})
Nun gebe
ich dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Siegmar
Mosdorf, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich neulich wieder
einmal in meiner Geburtsstadt Erfurt war und mit Mittelständlern, Freiberuflern und Handwerkern zusammensaß,
habe ich gemerkt, dass die Menschen in dieser Stadt eine
Identität haben, wissen, dass sie Ziele persönlich umsetzen müssen, und dafür unglaublich arbeiten: die Facharbeiter, die Ingenieure, die Techniker, die Meister, die
Handwerker. Ich sage Ihnen: Die haben für alles Verständnis, nur nicht für eine platte parteipolitische Auseinandersetzung, wie wir sie heute hier führen.
({0})
Es gibt viele Entwicklungen, die wir sehr aufmerksam
verfolgen müssen. Ich will das auch noch einmal an Herrn
Klinkert gerichtet sagen: Im Jahre 1994 erreichte das
Wirtschaftswachstum einen Spitzenwert von 11,3 Prozent. Dieser beruhte auf dem Vereinigungsboom. Wir waren alle froh über diese hohe Wachstumsrate. Dann ging
der Wert bis 1998 immer weiter herunter - das hat Werner
Schulz richtig gesagt -, und zwar auf 0,7 Prozent. Dies
war keine weiche Landung, wie wir sie jetzt für die USA
erhoffen. Das war eine sehr harte Landung, weil man mit
falschen Instrumenten gearbeitet hat. Das wissen wir auch
alle; ich will jetzt keine Vergangenheitsbewältigung betreiben.
Danach gab es wieder einen langsamen Anstieg auf
1,5 Prozent im Jahre 1999 und auf 2 Prozent im Jahre
2000. Für dieses Jahr erwarten wir ein Wachstum in Höhe
von 2,6 Prozent. Über dieses zu erwartende Wachstum
gibt es unter den Sachverständigen keine Differenzen.
Es tut sich jetzt eine ganze Menge. Natürlich gibt es in
der Baubranche - das wissen wir alle - große Probleme.
Dies hat auch etwas mit den falschen Förderinstrumenten
der Vergangenheit zu tun. Hier gibt es einen Normalisierungsprozess. Aber wir wissen auch eines: Das verarbeitende Gewerbe in den neuen Bundesländern hatte allein
im letzten Jahr eine Wachstumsrate von 13 Prozent, deutlich über der im Westen. In den neuen Bundesländern baut
sich also eine Substanz auf. Dies sollten wir positiv beDr. Mathias Schubert
werten und wir sollten nicht so tun, als sei das alles nichts.
Mein Eindruck, auch von meinem Besuch in Jena, ist,
dass sich da von unten her - das ist ein Bottom-up-Prozess - langsam Substanz aufbaut und dass die hektischen
Aktionismen - wir machen mal schnell ein Aktionsprogramm - nicht helfen, sondern dass wir eine kontinuierliche, langfristige Arbeit brauchen.
Das ist der Grund, warum wir in der Bundesregierung
entschieden haben, eine Reihe von Weichenstellungen,
durchaus in Kontinuität der Vorgängerregierung verstärkt
fortzusetzen oder anders zu akzentuieren. Ich freue mich,
Ihnen mitteilen zu können, dass wir in diesem Jahr
500 Millionen DM allein für Innovationsprogramme in
den neuen Bundesländern vorsehen. Das ist eine wichtige
Entscheidung. Ich hoffe, dass Sie alle diese mittragen.
({1})
Das ist eine Fokussierung, die gerade in den neuen Bundesländern wichtig ist.
Es gibt in den neuen Bundesländern das Phänomen hoher Qualifikationen gerade um altehrwürdige Universitäten herum, Qualifikationen in Naturwissenschaften, die
ich mir manchmal auch im Westen wünschen würde. Es
gibt Cluster in den neuen Bundesländern, die erstklassig
sind. - Ich komme darauf gleich noch zu sprechen, weil
sie Entscheidungen für Frankfurt/Oder und Dresden betreffen. - Es gibt Grundqualifikationen, die wir teilweise
im Westen so nicht haben. Das Entscheidende ist, dass wir
diese Qualifikationen, diese enormen Fähigkeiten mit
dem zusammenbringen, was es an industriellen Erfordernissen gibt. Dann haben wir auch eine Chance, nachhaltiges Wachstum zu generieren und nicht nur ein kurzfristiges Wachstum, das morgen wieder zusammenbricht.
Ich lese heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“:
Die neuen Bundesländer erfreuen sich bei in- und
ausländischen Investoren ... nach wie vor einer
großen Beliebtheit. Die Ansiedlung von knapp einem halben Dutzend großer Chipfabriken in den vergangenen Jahren ist Beweis dafür. Grund dafür ist
nicht zuletzt der hohe naturwissenschaftliche Ausbildungsstandard, den die Universitäten und Hochschulen auch schon vor der Wende hatten.
Meine Damen und Herren, das ist, wie man auf Neudeutsch so schön sagt, der Secret Code, der interessant ist:
die Qualifikationen, die Fähigkeiten, die vielleicht vernachlässigt worden sind, die wir nicht so gewürdigt haben, wie sie eigentlich gewürdigt gehörten, und die jetzt
zu einem spielentscheidenden Faktor werden können, da
wir in eine neue volkswirtschaftliche Phase kommen, in
der Informations- und Kommunikationstechnik genau
diese naturwissenschaftlichen Grundqualifikationen
braucht. Das ist der Grund, warum AMD sich in Dresden
ansiedelt. Das ist der Grund, warum Infineon sich für
Dresden entschieden hat. Das ist der Grund, warum gestern in Frankfurt/Oder die wichtige Entscheidung gefallen
ist, dort eine Chipfabrik zu bauen.
Es gibt so etwas wie ein - man nennt es in der Ökonomie Leap frogging - Überspringen von Entwicklungen.
Es gibt zwar durchaus Nachholbedarf in herkömmlichen
Strukturen der Volkswirtschaft; aber es gibt auch ein
Überspringen von Entwicklungen, hinein in völlig neue
Entwicklungen. Das ist eine große Chance für uns.
({2})
Deshalb meine Bitte: Lassen Sie uns versuchen, diesen
Prozess der Erneuerung, der an der Spitze der Technologie und der Innovation ansetzt, gemeinsam zu verstärken
und nicht parteipolitisch darüber zu streiten.
({3})
Herr Krüger, meine herzliche Bitte ist: Wir haben sehr
um die Airbusansiedlung gekämpft. Sie wissen, dass ich
mich auch persönlich dafür sehr einsetze.
({4})
Ich finde es auch gut, dass Herr Krüger mich bei dem
Kampf unterstützt. Ich weiß nicht, ob das hilft; aber es ist
gut, dass er sich bemüht.
({5})
Herr Krüger, seien Sie einmal fair: Wir haben organisiert,
dass Airbus jetzt Lieferantenforen in Ostdeutschland
macht. Sie wissen, dass zwei Drittel der Wertschöpfung
bei den Zulieferern stattfinden. Wir haben organisiert,
dass diese Lieferantenforen jetzt - ({6})
- Entschuldigung, das ist nicht nur richtig, das haben wir
auch selber organisiert, und zwar der Kanzler an der
Spitze.
({7})
Als er mit Airbus über die Darlehen gesprochen hat, hat er
gesagt: Ich möchte, dass in Ostdeutschland etwas passiert. Bleiben Sie bei der Wahrheit! Unterlassen Sie es, Dinge
zu verbreiten, die Ihrer Region nicht helfen, weil sie nicht
wahr sind.
({8})
Das Gleiche gilt für die Frage: Wenn wir mit Airbus darüber reden, dass Antriebstechniken und Turbinen in Zukunft auch teilweise bei Rolls-Royce in Brandenburg gebaut werden, was meinen Sie, warum wir das tun? Weil
wir wollen, dass dort Arbeitsplätze entstehen. RollsRoyce wird dort neue Arbeitsplätze schaffen. Ich war neulich mit dem Kollegen Danckert bei Rolls-Royce. Dort ist
uns erzählt worden, wie die Investitionsplanung aussieht.
Meine herzliche Bitte ist: Unterscheiden Sie zwischen
platten Auseinandersetzungen und konkreten Hilfen, die
wir tatsächlich leisten. Wir strengen uns an, wirklich etwas zu erreichen.
({9})
Wir haben auch sonst eine Reihe von wichtigen Entscheidungen getroffen. Das Inno-Regio-Programm ist angesprochen worden. Auch mit dem Altschuldenhilfe-Gesetz haben wir eine wichtige Entscheidung getroffen. Wir
haben bei der Bekämpfung des Leerstandes
({10})
jetzt eine Einigung mit den Ländern erzielt. 700 Millionen DM haben wir zusätzlich gegeben. Das Programm
„Die soziale Stadt“ haben wir um 100 Millionen DM aufgestockt. Wir haben eine ganze Menge gemacht.
Ein Letztes, Herr Präsident, wenn Sie es mir gestatten.
Es ist jetzt endgültig, dass die IIC, die für die Industrieansiedlung in den neuen Bundesländern ganz wichtig ist
- Frau Kaspereit hat sich dafür sehr stark gemacht -, von
2002 bis 2004 bleiben wird. Dies ist zusammen mit den
Ländern unter Dach und Fach gebracht worden. Das ist
eine wichtige Entscheidung gewesen, weil die Möglichkeit, Direktinvestitionen nach Ostdeutschland zu holen,
für den Aufbau der Volkswirtschaft spielentscheidend
sein wird. Deshalb freue ich mich, dass wir in den letzten
Tagen die Fortsetzung der Aktivitäten der IIC bis zum
Jahr 2004 sichern konnten.
Man kann also sagen: Wir kommen voran. Dies geschieht zwar schrittweise und ohne große Sprünge. Aber
man kann und muss mit den Menschen in den neuen Bundesländern rechnen. Wir müssen vor allen Dingen eines beachten: Die Menschen wollen, dass wir zu ihnen ehrlich
sind, ihnen keine Illusionen machen und mit ihnen gemeinsam die weitere Strecke des Weges gehen. Dazu ist die
Bundesregierung nicht nur bereit, sondern entschlossen.
({11})
Für die CDU/
CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Manfred Grund.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wer heute von dieser
Aktuellen Stunde Visionen, Perspektiven und neue Lösungswege erwartet hat, musste ziemlich enttäuscht sein.
({0})
Das, was wir bisher gehört haben - einschließlich des Beitrags des Staatssekretärs Herrn Mosdorf - war: Im Osten
nichts Neues und bei der Bundesregierung nichts Neues.
({1})
Ich gehe einmal die einzelnen Redner durch. Dabei
fange ich mit Werner Schulz an, der hier als Allzweckablenkungswaffe aufgetreten ist. Lieber Werner Schulz,
im Vergleich zu den Reden, die du vor zwei Jahren gehalten hast, hast du eine Bäumchen-wechsel-dich-Veranstaltung aufgeführt. Das bringt aber den Menschen und den
Problemen in den neuen Bundesländern relativ wenig.
({2})
Frau Kollegin Kaspereit, Sie haben festgestellt, man
müsse zwar noch an ein paar Stellschrauben drehen, aber
der Weg sei richtig und die Richtung stimme. Das klingt
ein wenig wie: Wir sind auf dem richtigen Weg, auch
wenn wir noch 20 Jahre bis ans Ziel benötigen.
({3})
Aber 20 oder 30 Jahre sind für die Menschen in den neuen
Bundesländern keine Perspektive. Sie laufen uns regelrecht davon; darauf komme ich noch zu sprechen.
Frau Kollegin Kaspereit, Sie haben Herrn Thierse unterstellt, er habe ein Wahrnehmungsdefizit, weil er viel zu
schwarz sehe.
({4})
Die genannten Zahlen sind nicht unsere Zahlen, auch
wenn sie uns häufig zugeschrieben wurden. Diese Zahlen
haben sich in den letzten beiden Jahren dramatisch
verschlechtert. Selbst wenn wir wieder regierten, müssten
wir zu neuen Antworten kommen, damit die Lage nicht
nur nicht kippt, sondern die Menschen in den neuen Bundesländern nicht in Scharen davonlaufen.
({5})
Herr Kollege Schwanitz, Sie haben gesagt, Sie seien
sehr froh, dass in Ihrer Partei über dieses Thema eine strittige Debatte geführt werde. Aber offensichtlich reicht es
Ihnen, sich ein wenig zu streiten und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen. Sie haben auf die Frage hingewiesen: Was haben wir für Perspektiven? Das Inno-Regio-Programm wurde genannt. Das sind Projekte, die in
unserer Regierungszeit auf den Weg gebracht worden
sind. Das ist nichts substanziell Neues.
({6})
Wie wird der Beauftragte der Bundesregierung für die
neuen Bundesländer wahrgenommen? Entweder indem er
sich - farblos wie er ist - hinter dem Bundeskanzler versteckt oder indem er Verkehrsprojekte übergibt und nur
Dinge zu Ende bringt, die in unserer Regierungszeit auf
den Weg gebracht worden sind.
({7})
Was wollen Sie denn tun, Herr Kollege Schwanitz, wenn
alle Bändchen zur Einweihung durchschnitten sind? Wollen Sie sich dann nur noch hinter dem Bundeskanzler verstecken? Wo sind denn Ihre Perspektiven?
Das, was ich sage, ist nicht sehr weit hergeholt. Herr
Kollege Schubert, auch auf Sie möchte ich gerne eingehen. Haben Sie nicht vor einem Jahr dem Bundeskanzler
nahe gelegt, Herrn Schwanitz gegen jemand Geeigneteren
auszutauschen? Hat nicht der Kollege Weißgerber von der
SPD Sie deshalb als Pappnase bezeichnet?
({8})
- Das stimmt; also kann unsere Kritik nicht allzu weit hergeholt sein.
Ich will aber gar nicht bei der Polemik, die auch heute
dabei gewesen ist, verharren, sondern auf zwei ökonomische Werte hinweisen, die sich wirklich dramatisch verändert haben. Frau Kollegin Kaspereit, ein Wirtschaftswachstum in den neuen Bundesländern von 4 Prozent und
in den alten Bundesländern von 2 Prozent würde bis zum
Jahr 2030 zu einer Angleichung der Einkommen, auch der
Einkommen der Rentner, und der Lebensverhältnisse
führen. Das ist eine sehr weite Perspektive; das muss man
den Menschen in den neuen Bundesländern in aller
Deutlichkeit sagen. Aber erzählen Sie uns doch bitte einmal - da war bis jetzt Fehlanzeige, da war überhaupt
nichts zu hören -, mit welchen Instrumenten Sie das jetzige Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent verdoppeln
wollen, damit überhaupt bis zum Jahre 2030 eine Angleichung erfolgen kann.
({9})
Der zweite Punkt, der äußerst besorgniserregend ist:
({10})
Die Abwanderung aus den neuen Bundesländern hat in
den letzten beiden Jahren dramatisch zugenommen. Wir
haben seit zehn Jahren insgesamt 1 Million Einwohner
verloren. Es gibt Hochrechnungen über die Abwanderung
und den Rückgang der Geburtenrate, die besagen, dass im
Jahre 2050 auf dem Territorium der neuen Bundesländer
- das ist ein Drittel des gesamtdeutschen Territoriums noch 10 Prozent der gesamtdeutschen Einwohner leben
werden. Das bedeutete einen Rückgang auf 7,5 Millionen
Einwohner bis zum Jahr 2050. Dies ist tatsächlich ein dramatischer neuer Befund.
Es gehen diejenigen weg - das ist heute bereits gesagt
worden -, die jung, leistungsfähig, ausgebildet und innovativ sind, die Kinder bekommen wollen, die ein Haus
bauen wollen und die genau in den Chipfabriken, die Gott
sei Dank jetzt in Frankfurt an der Oder aufgebaut werden sollen, Arbeit suchen und finden müssen. Aber ein
Projekt in Frankfurt an der Oder reicht nicht aus. Wo sind
Ihre Perspektiven, damit diese Leute sagen können, es
lohne sich, in den neuen Bundesländern zu bleiben? Dass
es geht, zeigt die Perspektive, die die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion 1990 bot, die gegen alle Bedenkenträger eingeführt wurde und den Menschen zumindest
über einige Jahre die Hoffnung gegeben hat, sie seien auf
dem Weg der Annäherung und Angleichung an die Wirtschafts- und Lebensverhältnisse in den alten Bundesländern.
({11})
Warum, Herr Kollege Schwanitz, geben Sie nicht einmal eine Studie in Auftrag oder lassen darüber nachdenken oder denken selber einmal darüber nach, ob es nicht
möglich ist, in einer kollektiven Kraftanstrengung die Einkommensverhältnisse in den neuen Bundesländern in fünf
bis acht Jahren auf das Niveau der alten Bundesländer zu
heben? Wäre das nicht, wenn auch nicht für morgen oder
übermorgen, aber für die Zeit in fünf bis acht Jahren eine
realistische Perspektive, bevor der Osten tatsächlich leer
läuft und die Situation auf der Kippe steht?
({12})
Als letzter
Redner spricht in dieser Aktuellen Stunde der Kollege
Wilhelm Schmidt für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Genau das ist es, Herr von
Klaeden: Sie haben die gesamte Debatte von Anfang an
darauf angelegt, den Präsidenten zu diffamieren und dafür
zu sorgen, dass wir Personalauseinandersetzungen führen.
({0})
Das ging durch jeden Ihrer Redebeiträge. Sie haben nicht
in einem einzigen Falle im Laufe dieser Aktuellen Stunde
dafür gesorgt, dass wir von einem Ihrer Redner oder einer
Ihrer Rednerinnen den Eindruck bekommen könnten, Sie
hätten ein Konzept für den Aufbau Ost. Nicht ein einziges
Mal haben Sie das geschafft. Sie wollten es auch gar nicht;
denn Sie haben nichts zu bieten.
({1})
Aber wenn ich einmal in Ihre Reihen schaue, dann sehe
ich einige von denjenigen dort sitzen - Herr Nooke, Sie
sind ja einer der neueren CDU-Abgeordneten; weswegen,
wollen wir hier nicht beleuchten -, die in den letzten acht
Jahren, in denen Sie noch die Regierung gestellt hatten,
die Gelegenheit hatten, auf diesem Gebiet etwas zu tun.
Herr Krüger, ich schaue Sie jetzt einmal an: Warum sind
Sie denn als Minister abgelöst worden? Ich will mich ansonsten überhaupt nicht auf dieses Niveau begeben. Aber
wenn Sie bei diesem Thema polemisieren, dann ist genau
der Punkt erreicht, an dem wir sagen müssen, dass wir das
nicht mitmachen.
({2})
Wenn Sie beispielsweise reklamieren, dass diese Debatte Bestandteil einer wichtigen Auseinandersetzung sei,
dann frage ich Sie einmal, nachdem Sie uns diese Frage
auch gestellt haben, wo denn Herr Merz, Frau Merkel und
viele andere eben waren.
({3})
- Ach, „bis eben“? Hören Sie doch auf, das ist doch Unsinn. Seit einer Dreiviertelstunde ist er weg.
({4})
Dies zeigt, dass Ihr Gerede von der Chefsache auch völlig danebengegangen ist. Sie haben diese Aktuelle Stunde
reklamiert, nicht wir.
Meine Damen und Herren, wir nehmen die Sache ganz
bewusst sehr ernst. Wir wollen an dieser Stelle erreichen,
dass wir stärker als in den vergangenen Jahren einen Umsteuerungsprozess in Gang setzen. Sie haben doch in den
vergangenen Jahren die falschen Instrumente auf den Weg
gebracht, unter denen die Menschen in Ostdeutschland
und die Einrichtungen in der Gesellschaft heute noch leiden. Wir müssen endlich anpacken und etwas unternehmen. Das tut die Bundesregierung, das tut der Bundeskanzler, das tut Staatsminister Schwanitz und das tun die
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen.
({5})
Wenn wir uns in diesen Tagen sehr nachdrücklich darum bemühen, den Solidarpakt II auf die Beine zu stellen
und den Länderfinanzausgleich zu stabilisieren, ist das
auch eine Frage der Solidarität gegenüber Ostdeutschland. Sie haben das Problem in den vergangenen Jahren
vernachlässigt und keine Lösungsansätze auf die Beine
gestellt. Wir werden es schaffen.
({6})
Als Sie hier zu einzelnen Themen Stellung genommen
haben, sind Sie zu einem nicht unbeträchtlichen Teil an
der Wahrheit vorbeigegangen. Herr Klinkert ist dafür ein
gutes Beispiel. Wenn Sie uns vorwerfen, von der Braunkohleförderung für Hoyerswerda in Ostdeutschland würden 100 Millionen DM abgeschmolzen, so muss man feststellen, dass das völlig falsch ist. Wir haben jeweils
50 Millionen DM für die Jahre 2001 und 2002 abgeschmolzen, weil die Ziele, die erreicht werden sollten, erreicht worden sind. Wir haben die 100 Millionen DM für
das Jahr 2003 und die folgenden Jahre oben draufgepackt,
damit wir umsteuern und mit zielgenaueren Instrumenten
operieren können. Das ist die Botschaft. Verunsichern Sie
doch die Menschen in Hoyerswerda nicht noch mehr, als
sie das ohnehin schon sind.
({7})
Wir wollen und müssen neue Instrumente auf den Weg
bringen - das ist ja auch in den Redebeiträgen von Rednern unserer Fraktion zum Ausdruck gebracht worden -,
die die Industrielücke schließen können und helfen, den
Mittelstand sowie Forschung und Wissenschaft nach
vorne zu bringen. Eines ist schon angeklungen: Die Ansiedlung der Chipfabrik in Frankfurt/Oder ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die Umsetzung der Ziele
schrittweise gelingt. Auf diesem Wege wollen wir fortfahren.
Wir wollen uns auch die Aufgabe, die Situation und die
Zukunft junger Menschen zu verbessern, angelegen sein
lassen, da wir finden, dass die Abwanderung viel zu groß
ist, und weil wir ihnen eine Perspektive geben müssen.
Dies ist ein Ziel, das wir - wie es auch Herr Thönnes mit
Recht betont hat - mit Arbeitsmarkt- und Jugendpolitik
verfolgen. Diese Politik ist ganz wichtig, weil wir damit
einen großen Beitrag zur Bekämpfung von Gewalt und
Rechtsextremismus in Ostdeutschland leisten.
({8})
Herr Grund, da von Ihnen die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ angesprochen worden sind, kann ich Ihnen
nur sagen: Es ist sehr vordergründig, wenn Sie das hier in
der Weise, in der Sie das getan haben, präsentieren. Sie
waren es doch, die uns mit den Verkehrsministern Ihrer
Regierung mit einer Fülle von Spatenstichen auf der einen
Seite einen hoffnungslos unterfinanzierten Verkehrshaushalt hinterlassen haben und auf der anderen Seite dafür
gesorgt haben, den Menschen in Ostdeutschland Sand in
die Augen zu streuen.
({9})
Die Hoffnungen, die den Menschen vermittelt worden
sind, können wir nicht sofort erfüllen.
In der Sache ist es eindeutig: Sie haben nichts zu bieten,
meine Damen und Herren von der Opposition - das zieht
sich durch alle Ihre Redebeiträge -, sondern Sie versteigen
sich wieder einmal in Polemik gegenüber Personen. Das
verfängt nicht und das merken die Menschen. Deshalb
sage ich für uns: Die Sache Aufbau Ost ist bei dieser Bundesregierung und ihrer Koalition in guten Händen.
({10})
Die Aktuelle
Stunde ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 d auf.
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Türk, Walter Hirche, Dr. Heinrich Kolb, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F. D. P.
Existenzbedrohung des Handwerks unterbinden
- Drucksache 14/4413 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidemarie
Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen
- Drucksache 14/4882 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Wilhelm Schmidt ({2})
c) Beratung der Unterrichtung durch die Präsidentin
des Bundesrechnungshofes als Vorsitzende des
Bundesschuldenausschusses
Bericht des Bundesschuldenausschusses über
seine Tätigkeit sowie die Verwaltung der Bun-
desschuld im Jahre 1999
- Drucksache 14/5059 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Europäischen Sozialcharta
- Drucksache 14/4671 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sechzehnten
Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 14/4497 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({5})
- Drucksache 14/5202 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Harald Friese
Cem Özdemir
Ulla Jelpke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Ergänzender Bericht der Wahlkreiskommission für die 14. Wahlperiode des Deutschen
Bundestages gemäß § 3 Abs. 4 Satz 3 Bundeswahlgesetz ({7})
- Drucksachen 14/4031, 14/4169 Nr. 1, 14/5202 Berichterstattung:
Abgeordnete Harald Friese
Cem Özdemir
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie
sind damit einverstanden.
Nun möchte ich die Kolleginnen und Kollegen, die dieser Debatte nicht folgen möchten, bitten, ihre Gespräche
nicht hier fortzusetzen, sondern in der Lobby.
Ich eröffne die Aussprache und gebe für die SPD-Fraktion dem Kollegen Harald Friese das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag genau
vor drei Jahren hat dieser Bundestag eine grundlegende
Wahlkreisreform beschlossen.
({0})
Dafür hat er einen zwingenden Grund gehabt, weil der
Bundestag von 656 Abgeordneten auf 598 Abgeordnete
verkleinert wurde. Damit war eine Reduzierung der Zahl
der Wahlkreise von 328 auf 299 verbunden. Keiner hätte
gedacht, dass wir nach drei Jahren wieder eine Wahlkreisreform diskutieren. Aber ich will die Feststellung
treffen: Nichts ist beständiger als der Wandel.
({1})
Was in unserem Land geschieht, ist wirklich ein ständiger
Wandel, zum einen eine Bevölkerungswanderung in einem erstaunlich großen Umfang, zum anderen kommunale Gebietsreformen, die uns dazu zwingen, die Wahlkreisgrenzen an diese neuen Entwicklungen anzupassen.
Wir waren gezwungen, eine Wahlkreisreform vorzunehmen, weil die Bevölkerungswanderung von den
neuen Bundesländern in die alten Bundesländer nicht zum
Stillstand gekommen ist, mit der Folge, dass das Land
Sachsen
({2})
- lassen Sie mich „Land“ sagen, Herr Marschewski - und
das Land Sachsen-Anhalt je einen Wahlkreis verlieren
und das Land Schleswig-Holstein und das Land BadenWürttemberg je einen Wahlkreis gewinnen.
({3})
Ich will hier nichts dramatisieren; aber ich glaube,
diese Entwicklung muss man ernst nehmen. Diese Entwicklung hat Konsequenzen für die politische Repräsentanz der neuen Bundesländer in diesem Parlament. Das
Parlament wird um insgesamt 56 Mandate verkleinert und
von dieser Last - so möchte ich es formulieren - tragen
die neuen Bundesländer fast die Hälfte, nämlich 26.
Sie hat auch Auswirkungen auf die politische Repräsentanz vor Ort. Im Land Sachsen gibt es nicht mehr
21 Wahlkreise, sondern nur noch 17, und im Land Sachsen-Anhalt nicht mehr 13, sondern nur noch 10. Es hat
auch Auswirkungen auf die politische Arbeit vor Ort.
Wir haben jetzt in den neuen Bundesländern Wahlkreise
mit einer Größe über 5 000 Quadratkilometer. Wir haben
in den neuen Bundesländern Wahlkreise mit einem
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Durchmesser von bis zu 131 Kilometern. Wir haben eine
Fülle von Wahlkreisen, die drei Landkreise umfassen.
Ich will hinzufügen: Ich habe Respekt vor den Kolleginnen und Kollegen, die diese Wahlkreise vertreten. Ich
frage mich, wie sie es überhaupt schaffen, in solchen
Flächenwahlkreisen politisch vor Ort präsent zu sein. Es
geht auch um das Geld. Woher sollen sie es nehmen? Sie
müssen in einem Wahlkreis mit drei Landkreisen drei
Bürgerbüros unterhalten. Wir müssen uns über diese Konsequenzen klar sein.
Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass die Forderungen nach mehr Effektivität, Verschlankung und Verkleinerung des Bundestages oder demokratischer Gremien insgesamt vielen ganz leicht über die Lippen
kommen. Diese vielen denken überhaupt nicht darüber
nach, welche Konsequenzen das für die politische Repräsentanz vor Ort hat.
({4})
Ich glaube, dass in politisch bewegten Zeiten die politische Repräsentanz vor Ort wichtig ist, damit Politik dem
Bürger vermittelt werden kann.
Wir haben das alles gesehen und mussten aus Rechtsgründen trotzdem diesem zusätzlichen Wahlkreistransfer
von Ost nach West zustimmen und ihn vollziehen. Das
liegt erstens an der klaren gesetzlichen Regelung des
Bundeswahlgesetzes, wonach die Zahl der Wahlkreise in
den einzelnen Bundesländern deren Bevölkerungsanteil
nach Möglichkeit entsprechen muss. Das ist eine klare
Verschärfung im Bundeswahlgesetz; wir haben keinen
Spielraum.
Der zweite Grund ist: Das Bundesverfassungsgericht
hat zwar erklärt, dass Überhangmandate als Folge unseres
Wahlsystems hinzunehmen sind; aber der Gesetzgeber
muss alles tun, um Überhangmandate auf ein Minimum
zu reduzieren. Der erste Schritt zur Reduzierung der Zahl
und damit der - so will ich es formulieren - Gefahr von
Überhangmandaten besteht darin, dafür zu sorgen, dass
die Zahl der Wahlkreise den Bevölkerungsanteilen entspricht. Deshalb mussten wir in den vier genannten Bundesländern die Wahlkreise in den Ländern neu einteilen.
Die Reform ist daher umfangreicher als geplant geworden.
In Bezug auf Sachsen-Anhalt war dieses Vorgehen
unstrittig. Was Sachsen angeht, folgte unsere Koalition
nicht dem Vorschlag der Wahlkreiskommission. Um einer
Legendenbildung schon im Vorfeld vorzubeugen, füge ich
ausdrücklich hinzu: Wir haben einen eigenen Vorschlag
nicht aus wahlarithmetischen Gründen gemacht.
({5})
Wir sind deshalb so vorgegangen, weil wir meinen, dass
unser Vorschlag den regionalen Identitäten und den regionalen Verflechtungen besser als der Vorschlag der Wahlkreiskommission entspricht.
({6})
Auch im Hinblick auf Schleswig-Holstein haben wir
nicht die Vorschläge der Wahlkreiskommission übernommen. Wir sind ebenfalls nicht dem Vorschlag der CDU gefolgt. Wir haben etwas getan, was nahe liegend war: Wir
haben auf der Grundlage der Wahlkreise der Bundestagswahl 1998 durch gewisse Korrekturen sichergestellt, dass
wir im Jahre 2006 oder im Jahre 2010 in Schleswig-Holstein nicht erneut eine Abgrenzung der Wahlkreise vornehmen müssen. Wir haben die Wahlkreise mit einer unterdurchschnittlichen Bevölkerungszahl, zum Beispiel
Lübeck und Kiel, mit Gemeinden verstärkt; damit haben
wir dem Gesichtspunkt der Wahlkreiskontinuität auf eine
absehbare Zeit Rechnung getragen.
Hinsichtlich Baden-Württemberg sind wir dem Vorschlag der Wahlkreiskommission - es geht um den zusätzlichen Wahlkreis in Nordbaden - gefolgt, mit einer
Ausnahme: Wir haben die Gemeinde Eppelheim dem
Wahlkreis Heidelberg zugeschlagen.
({7})
Wir wussten, dass wir damit dem Kollegen Niebel etwas
Gutes tun.
({8})
- Was heißt „das Minimum“? - Wir sind in diesem Punkt
also dem Vorschlag der Wahlkreiskommission gefolgt.
Es gab einen zweiten Grund für die Wahlkreisneueinteilung: die Abwanderung ins Umland der Städte. Die
Großstädte verlieren und die Gemeinden im Speckgürtel
der Großstädte gewinnen an Einwohnern. Ich will zwei
Beispiele nennen. Das eine Beispiel ist der Wahlkreis 216,
Freising; er war am 31. Dezember 1999 mit einem jährlichen Wachstum von 1,9 Prozent um 24 Prozent größer
als ein durchschnittlicher Wahlkreis. Wir mussten also
handeln und konnten deshalb dem CDU/CSU-Antrag
nicht folgen; sonst hätten wir zum Zeitpunkt der Bundestagswahl 2002 die gesetzlich zwingend vorgeschriebene
Grenze überschritten, dass ein Wahlkreis nicht mehr als
25 Prozent von der durchschnittlichen Wahlkreisgröße
abweichen darf.
Dies gilt auch für den Wahlkreis 36, Soltau-Fallingbostel - Winsen L. Dort lag am 31. Dezember 1999 eine
Überschreitung von 22 Prozent mit einem jährlichen
Wachstum von 1,2 Prozent vor. Auch in diesem Fall mussten wir handeln und konnten deshalb dem Antrag der
CDU/CSU nicht zustimmen.
Der dritte Grund für die Wahlkreisreform besteht darin,
dass wir die Konsequenzen aus den kommunalen
Neugliederungen in Berlin und Brandenburg ziehen
mussten.
Der vierte Grund - für uns wichtig -: Wir haben mit
diesem Gesetzentwurf die von der CDU/CSU und der
F.D.P. 1998 beschlossenen willkürlichen Wahlkreiseingrenzungen rückgängig gemacht.
({9})
Dies haben wir 1998 angekündigt und wir tun es jetzt. Bei
der Wahlkreisabgrenzung von 1998 musste man in der
Tat den Eindruck gewinnen, dass auf der Grundlage von
Wahlergebnissen so lange zurechtgeschnippelt wurde, bis
die Wahlkreise nicht mehr nach räumlichen Größen aussehen, sondern Schnittmusterbögen gleichen.
({10})
Dies halten wir nicht für korrekt; deshalb haben wir das
rückgängig gemacht.
({11})
Wir machen die Wahlkreiseinteilung von München, von
Köln, von Mülheim - Essen und von Coesfeld - Steinfurt II
rückgängig.
Um auch in diesem Fall einer Legendenbildung vorzubeugen: Unsere Vorschläge entsprechen den Vorschlägen des Leiters des Statistischen Bundesamtes, wie sie
sich im Schlussbericht der Reformkommission wiederfinden.
({12})
Wir haben also politische Willkür durch eine sachbezogene Wahlkreiseinteilung ersetzt. Das will ich hier feststellen.
({13})
Es gibt noch einen fünften Grund. Wir haben die Änderung von Wahlkreisgrenzen vorgesehen, um die Grenzen kommunaler Gebietskörperschaften nicht zu zerschneiden. Als Beispiel möchte ich einmal den Bereich
Oberfranken/Bamberg/ Bayreuth/Hof/Kulmbach nennen.
Wir haben hier den Vorschlag der Wahlkreiskommission
weiterentwickelt
({14})
mit dem Ergebnis, dass von den neun betroffenen Gebietskörperschaften nur noch zwei geteilt, dagegen sieben ungeteilt sind. Wir sind verpflichtet, die klare gesetzliche Vorgabe im Bundeswahlgesetz, die Grenzen
kommunaler Gebietskörperschaften einzuhalten, soweit
es geht, zu berücksichtigen. Es ist auch eine richtige und
kluge Vorgabe, dass Bundestagswahlkreise mit den
Grenzen kommunaler Gebietskörperschaften übereinstimmen sollen.
({15})
Das gilt auch für den Bereich Südbaden, wo wir den
Landkreis Lörrach nicht mehr teilen, sondern ungeteilt
dem Wahlkreis Lörrach-Müllheim zuordnen.
({16})
Schließlich gab es eine öffentliche Auseinandersetzung
im Bereich Freiburg, aber wir hielten die Einhaltung der
Grenzen der kommunalen Gebietskörperschaften für
wichtiger als die räumliche Zuordnung der Gemeinden
um Freiburg zum Wahlkreis Freiburg. Das ändert ja nichts
an deren tatsächlichen Beziehungen zum Oberzentrum
Freiburg.
Lassen Sie mich noch einige Sätze zu Krefeld sagen.
Die Diskussion darüber ist ein Dauerbrenner. Wir haben,
wie alle Fraktionen, intensiv geprüft, ob wir den Zustand,
dass die Stadt Krefeld wahlkreismäßig geteilt ist, was wir
alle nicht für gut halten, nicht ändern können.
({17})
Nach intensiver Prüfung kamen wir aber zu dem gleichen
Ergebnis wie die Wahlkreiskommission, die in ihrem
Schlussbericht empfohlen hat, es bei der Einteilung nach
dem Wahlkreisneueinteilungsgesetz zu belassen,
da alle Varianten ihrerseits mit ganz erheblichen
Nachteilen für den Zuschnitt anderer benachbarter
Wahlkreise verbunden wären, ...
Das ist auch der Grund, warum wir dem Antrag der F.D.P.Fraktion nicht zustimmen konnten. Die F.D.P.-Fraktion
hat den Antrag eingebracht, die Stadt Krefeld zu einem
einheitlichen Wahlkreis zusammenzufassen. Diese Lösung ginge aber zulasten des Landkreises Neuss, der dann
plötzlich dreigeteilt worden wäre. Gleichzeitig wollten
Sie einen Wahlkreis Oberhausen schaffen, der bei sinkender Einwohnerzahl eine Abweichung vom statistischen
Mittel um 22,3 Prozent aufwiese.
({18})
- Das ist zulässig. - Daran wird deutlich, dass der Vorschlag der F.D.P.-Fraktion auf Dauer gesehen nicht
tragfähig gewesen wäre. Wir haben ihn deshalb abgelehnt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte
ausdrücklich der Wahlkreiskommission und ihrem Vorsitzenden, dem Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, Herrn Hahlen, meinen Dank aussprechen.
({19})
Diese Wahlkreiskommission hat vorzügliche Arbeit geleistet, die, wie ich glaube, allen Fraktionen als Grundlage
für sehr sachbezogene Diskussionen und Auseinandersetzungen diente. Die Arbeit war vorzüglich, auch wenn wir
in Einzelfällen von den Empfehlungen der Kommission
abgewichen sind.
({20})
Ich möchte auch den Mitarbeitern des BMI und des Statistischen Bundesamtes danken, die ja nicht nur von mir,
sondern sicher auch von den anderen Fraktionen um Auskünfte und Hilfestellungen gebeten wurden. Dieses hat
hervorragend funktioniert.
({21})
Meine Damen und Herren, wir als Regierungskoalition
haben die Oppositionsfraktionen sehr frühzeitig in den
Abstimmungsprozess einbezogen.
({22})
- Ich will die Debatte aus dem Innenausschuss nicht wiederholen. Es gab drei Gespräche. Aber lassen wir das dahingestellt sein. - Wir haben auch festgestellt, dass es
weitgehende Übereinstimmung zwischen unserem
Gesetzentwurf und Ihren Vorschlägen gibt. Meiner Meinung nach rechtfertigen die unterschiedlichen Auffassungen, die noch in einzelnen Wahlkreisfragen vertreten werden, nicht die Ablehnung dieses Gesetzentwurfes. Das ist
zwar Ihre Entscheidung, ich möchte Sie aber bitten und
auffordern: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu!
({23})
Es würde dem Parlament gut tun, Herr Marschewski,
wenigstens in grundlegenden Fragen unserer Verfassung - dazu gehört auch das Wahlrecht - Übereinstimmung zu dokumentieren.
Vielen Dank.
({24}) - Günter Graf [Friesoythe]
[SPD]: Ein sehr guter und sehr sachlicher Bei-
trag! - Dr. Michael Bürsch [SPD]: Es ist fast al-
les gesagt!)
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Erwin Marschewski.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Das Wichtigste an Gesetzentwürfen ist manchmal das,
was nicht drin steht. So wird mit diesem Gesetz die Parlamentsreform fortgesetzt, die zwei wesentliche Elemente
hatte: erstens die Verkleinerung des Deutschen Bundestages ab 2002 auf noch 299 Wahlkreise und zweitens
die Anpassung derAbgeordnetenentschädigung an den
gesetzlich vorgegebenen Richtwert R 6. Das Jahresgehalt
eines Bundesrichters sollte der Maßstab sein. Da dies
nicht verwirklicht wird, sollte man eigentlich auf die
Wahlkreisverringerung ebenfalls verzichten.
({0})
Wir hätten den Mut dazu. Wenn wir als Parlament allgemein den Mut dazu hätten, würden wir dies hier und heute
tun.
({1})
Wir sind jedoch gezwungen, zu diesem Gesetzentwurf
zu reden. Herr Kollege Friese, es gibt wahrlich keinen
Grund, diesen Entwurf zu feiern. Er ist vergleichsweise
schlecht.
({2})
Als wir 1998 die Wahlkreise komplett neu schneiden
mussten, sind am Ende weniger als zehn Entscheidungen
strittig geblieben.
({3})
Unser Anliegen war es, einen Konsens herzustellen.
Denn Wahlrecht sollte natürlich - da haben Sie Recht gemeinsame Sache sein. Das gilt insbesondere für die
Einteilung der Wahlkreise.
Deswegen habe ich damals sehr viele Gespräche - Herr
Staatssekretär Körper wird dies bestätigen - mit der Opposition geführt. Sie hatten eine viel leichtere Ausgangslage und trotzdem haben Sie eine ungleich höhere Zahl an
streitigen Entscheidungen produziert. Sie wollen mehr als
80 Wahlkreise verändern.
({4})
Dabei lassen Sie sich von sachfremden Motiven und von
parteipolitischen Erwägungen leiten.
({5})
Unsere sachlich begründeten Vorschläge sind leider
kaum auf Gegenliebe gestoßen. Jedoch haben Sie unseren
Antrag aufgegriffen, in Hessen den Landkreis GroßGerau nicht mehr auf verschiedene Wahlkreise aufzuteilen. Das hat den Vorteil, dass es im Landkreis DarmstadtDieburg nur noch zwei statt drei Wahlkreise gibt. Das ist
gut so.
Sie haben Ihre wirklich verrückte Idee aufgegeben
- ich müsste eine Karte haben, um dies zu zeigen -, in
Nordrhein-Westfalen Horstmar dem Coesfelder Wahlkreis zuzuordnen.
({6})
Mit diesem Trick wollten Sie vermeiden, dass zwei SPDAbgeordnete um denselben Wahlkreis kämpfen. Das ist
ehrenwert für die SPD-Abgeordneten, aber in jeder Hinsicht sachfremd. Sie haben dies später als Redaktionsversehen beseitigt und dies ist gut so.
Im Unteren Geiseltal in Sachsen-Anhalt haben Sie
Ähnliches getan. Auch die Zuordnung von Winsen ({7})
in Niedersachsen ist positiv.
Aber für die meisten Ihrer Vorschläge haben wir kein
Verständnis. Zum Beispiel Sachsen: In 13 von 17 Wahlkreisen folgen Sie nicht dem sachlich begründeten Vorschlag der Wahlkreiskommission. Meine Damen und Herren, das ist pure Selbstbedienung.
({8})
Da vorne sitzt mein Freund Günter Baumann, ein sachlicher Mensch.
({9})
Sie haben es nicht einmal für nötig befunden, diese Problematik mit den Kollegen aus Sachsen zu erörtern. Das
ist nicht in Ordnung. Ich rüge dies.
({10})
Sie wollten eine Zuordnung zu Chemnitz durchführen
und rechnen sich dort bessere Wahlkreischancen aus, wobei ich hoffe, dass der Wähler Ihre Fummelei durchkreuzen wird, meine Damen und Herren der SPD.
({11})
Hierauf trifft zu, was Staatssekretär Körper, damals innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, in Bonn im
Bundestag gesagt hat:
Das hat mit objektiven Kriterien und deren Einhaltung absolut nichts zu tun; das ist ausschließlich parteipolitisch motiviert.
Recht hatte er, der jetzige Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper.
({12})
Nächstes Beispiel: Schleswig-Holstein. Da gibt es
eine rot-grüne Landesregierung
({13})
und die Landesgruppe der SPD Schleswig-Holstein hat
sämtliche Vorschläge der rot-grünen Landesregierung verworfen. Meine Damen und Herren, das ist Selbstbedienung potenzieller Wahlkreiskandidaten. Das geht so nicht.
({14})
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Sie haben den ungeteilten
Kreis Rendsburg-Eckernförde durch Herausnehmen
zweier CDU-Hochburgen, Kronshagen und Altenholz,
SPD-fest gemacht.
({15})
Wären wir 1998 so rigoros vorgegangen, dann hätte die
Aussage unseres Kollegen und jetzigen Staatssekretärs
Fritz Rudolf Körper wirklich gepasst. Er sagte damals:
„Das ist Willkür.“ - Recht hat er, der jetzige Staatssekretär.
({16})
Drittes Beispiel: Nordrhein-Westfalen. In Köln zerstören Sie ohne Not die Identität zwischen zwei Bundestagswahlkreisen mit jeweils zwei Landtagswahlkreisen.
Was aber noch eigenartiger ist: Sie trennen die Kreishauptstadt Schwelm vom Ennepe-Ruhr-Kreis ab und
schlagen sie Hagen zu. Die Hauptstadt des Kreises gehört
zum Kreisgebiet. Ihre Regelung ist völlig sachfremd.
({17})
Weiteres Beispiel: Bayern. In München pfuschen Sie
ebenfalls völlig sachwidrig an der Wahlkreiseinteilung
herum. Hierzu und zu Oberfranken wird mein Freund
Hartmut Koschyk gleich ein paar Worte sagen, weil er die
Gegend ein bisschen besser kennt als ich, der ich aus dem
Ruhrgebiet komme. Aber Hagen, Schwelm und den
Ennepe-Ruhr-Kreis kenne ich natürlich sehr gut.
({18})
- Lieber Kollege Kemper, wir können noch nachher darüber sprechen. Wir sehen uns so oft - fünfmal die Woche -; da können wir diese Fragen auch beim Bier erörtern.
Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, es ist
Ihnen nicht gelungen, gemeinsame Empfehlungen auf
den Tisch des Hauses zu legen. Ich weiß, Herr Kollege
Friese, dass es ein Berichterstatter in Sachen Wahlkreiseinteilung nicht immer leicht hat.
({19})
Ich weiß es genau, weil ich auch diesmal wie beim letzten
Mal Berichterstatter meiner Fraktion bin. Ich sage herzlichen Dank für Ihre Arbeit. Wir haben ein paar Gespräche
geführt. Sie haben es nicht immer leicht gehabt. Auch ich
konnte damals nicht all das billigen, was man durchsetzen
wollte.
Ich komme zum Schluss. Ich halte es für keine gute
Entscheidung der Koalition, fast ausschließlich auf die
Mehrheit zu setzen, anstatt mit Argumenten zu überzeugen. Sie werden deswegen verstehen, dass wir Ihrem
Gesetzentwurf nicht zustimmen können.
({20})
Sie werden verstehen, dass wir Ihre sachwidrigen und unplausiblen Entscheidungen bei veränderten Mehrheiten in
diesem Hause wieder zurücknehmen werden. Wir müssen
dies im Interesse der Wähler und im Interesse der Abgeordneten tun.
({21})
In dem Fall, dass ich meine Arbeit noch weitermachen
werde, verspreche ich Ihnen, genauso wie in der Vergangenheit auf Dialog zu setzen.
Herzlichen Dank.
({22})
Ich gebe das
Wort für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen dem
Kollegen Cem Özdemir.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Auch schwere Geburten sind irgendwann einmal vorbei. Die Wahlkreisneueinteilung war eine solch schwere Geburt.
({0})
- Meinen Sie?
Ich kann sagen, dass meine Fraktion - ich glaube, das
gilt auch für die Fraktion der F.D.P., obwohl der Kollege
Stadler im Innenausschuss eigene Interesse angesprochen
hat - nun wirklich keine eigenen Aktien in dieser Frage
hatte. Umso sachlicher konnten wir über die Wahlkreisneueinteilung debattieren.
Erwin Marschewski ({1})
Ich möchte die Gelegenheit nutzen - wir haben dies
schon im Innenausschuss getan; auch der Kollege
Marschewski hat dies trotz seiner Kritik fairnesshalber
gemacht -, demjenigen zu danken, der am meisten dazu
beigetragen hat, dass das Gesetz in der gegenwärtigen
Fassung vorliegt, nämlich dem Kollegen Friese.
({2})
Der Kollege Friese hat wirklich in sehr fairer Weise die
Anliegen der Opposition einbezogen und das Gespräch
mit allen Beteiligten gesucht. Ich kann das bestätigen,
weil ich an einigen Gesprächen beteiligt war. Er hat eine
sehr undankbare Aufgabe übernommen. Man kann es in
dieser Frage nicht allen recht machen. Trotzdem hat er
versucht, die Interessen der einzelnen Fraktionen angemessen zu berücksichtigen. Wenn man das Gesetz objektiv bewertet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass es
ihm gut gelungen ist. Deswegen ein herzlicher Dank von
meiner Fraktion an den Kollegen Friese.
({3})
Ich möchte aber in meinen Dank auch diejenigen mit
einbeziehen, die sehr viel Arbeit geleistet haben. Dazu
gehören die Mitglieder der unabhängigen Wahlkreiskommission und die zuständigen Beamten aus dem
Bundesinnenministerium und vom Statistischen Bundesamt. All denen möchte ich bei dieser Gelegenheit danken.
({4})
Sie wissen, wir haben sehr viele Gespräche mit den Gemeinden, mit Vertretern von sehr vielen Wahlkreisen, die
auf uns zugekommen sind, und mit unseren Landesverbänden geführt. Auch deren Interessen galt es abzuwägen,
was sicherlich nicht ganz einfach war.
Wir stehen zu dem Kompromiss, der damals gefunden
wurde, dass wir das Parlament verkleinern wollen. Sie
wissen, dass damit eine Verringerung der Zahl der Wahlkreise einhergeht. Das ist gerade für die kleinen Fraktionen - ich nehme an, dass die kleinen Fraktionen darauf
noch eingehen werden - eine sehr schwierige Situation.
({5})
- Ich glaube, ihr werdet auch in Zukunft eine kleine Fraktion bleiben, wenn ihr so weitermacht.
({6})
Trotz dieser schwierigen Situation ist es im Zuge einer
Gesamtkonzeption für einen schlanken Staat richtig gewesen, die Zahl der Abgeordneten zu reduzieren.
Das heißt allerdings auch, dass wir schauen müssen,
wie wir künftig den Kollegen helfen, die riesige Wahlkreise haben, gerade im Osten der Bundesrepublik
Deutschland. Ich habe mir diese Wahlkreise angesehen.
Man fragt sich wirklich, wie künftig Bürgernähe geleistet
werden soll, wenn zum Teil mehrere Landkreise abgedeckt werden sollen. Auch das muss man in diesem Zusammenhang betrachten. Ich rege an, dass wir uns bei anderer Gelegenheit in entspannter Atmosphäre überlegen,
wie wir die Abgeordneten in die Lage versetzen können
- Stichwort: Ausstattung von Abgeordneten -, ihre Aufgaben als Wahlkreisabgeordnete angemessen zu erfüllen.
Das gilt gerade bei den großen Fraktionen für diejenigen,
die ihre Wahlkreise direkt gewonnen haben, in verstärktem Maße. Mir ist völlig klar, dass sie vor riesigen Aufgaben stehen, die kaum zu erfüllen sind.
Herr Kollege Marschewski hat ein bisschen durchblicken lassen, dass er selber weiß, dass wir hier sehr fair
gearbeitet haben, und dass er anerkennt, dass wir uns um
das Gespräch mit der Opposition bemüht haben. Ich
kann Ihnen - Sie haben ja davon gesprochen, dass Demokratie vom Wechsel lebt - nur eines sagen: Eines Tages
- möglicherweise eines sehr fernen Tages - werden Sie
wieder regieren und dann werden wir - Sie wissen, modernes Papier ist säurefrei, sodass es mehr als 20 Jahre
hält - uns sehr genau anschauen, wie Sie mit dem Anspruch an Fairness, den Sie heute erheben, umgehen werden. Wir haben Ihnen vorgemacht, wie man das kann. Ich
hoffe, Sie werden unserem Beispiel folgen.
Ich will zum Abschluss - da sich das Thema nicht dazu
eignet zu polemisieren - auf eines hinweisen: Wir müssen
uns - das hat mit der Debatte von vorhin zu tun - auch Gedanken darüber machen, ob wir den Bevölkerungswandel
in der Bundesrepublik Deutschland nur nachvollziehen
wollen, indem wir die Wahlkreise neu einteilen, oder ob
wir nicht auch schauen müssen, wie wir die unterschiedliche Entwicklung im Osten und im Westen auffangen
können; denn im Osten, insbesondere in Sachsen und in
Sachsen-Anhalt, hat die Bevölkerungszahl dramatisch abgenommen, wodurch sich die Zahl der Wahlkreise in
Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg um jeweils
einen erhöht. Darum müssen wir uns überlegen, wie wir
da gegensteuern können; denn diese Situation ist für die
Bundesrepublik Deutschland nicht positiv. Auch Abwanderungen sind ein Demokratieproblem, über das wir uns
Gedanken machen müssen.
Lassen Sie mich zum Abschied
({7})
- so schnell geht es nicht, Kollege Koschyk; Sie haben ja
nachher noch Zeit zu reden, keine Sorge - bzw. zum Abschluss noch auf einen Punkt zu sprechen kommen. Zu
Krefeld sage ich nichts mehr; dazu ist genug gesagt worden. Aber ich möchte ein anderes Beispiel nennen, das
wahrscheinlich niemand ansprechen wird. Sie wissen, unweit, direkt vor unserer Nase, wurde von Ihnen damals der
Wahlkreis Berlin-Mitte/Prenzlauer Berg aufgelöst. Wir
bleiben dabei, um das gleich vorweg zu sagen. Ich erwähne das nur, um zu zeigen, wie fair wir Ihnen gegenüber sind. In diesem Wahlkreis holte die CDU 12 Prozent,
die F.D.P. - Stichwort: Projekt 18 - 2,2 Prozent, zusammen also unter 15 Prozent. Wir haben diesen Wahlkreis,
obwohl die Versuchung groß war, nicht wieder eingerichtet. So fair sind wir gegenüber der heutigen Opposition.
Sie sehen: Wir haben uns die Mühe gemacht, eine Lösung zu finden, die für alle tragbar ist. Es wird nie so sein,
dass alle zufrieden sind. Wir haben aber alles in allem einen guten Gesetzentwurf vorgelegt und ich glaube, dass
jetzt kein Hindernis mehr für die Wahl der Wahlkreiskandidaten besteht. Der Bundeswahlleiter wird sehr zügig
darangehen und alle Parteien in die Lage versetzen, Kandidaten aufzustellen. Dann steht einem hoffentlich fairen
Bundestagswahlkampf nichts mehr entgegen.
({8})
Der Kollege
Dr. Max Stadler spricht nun für die F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über die Lex Friese.
Ich will Ihnen kurz erläutern, warum die F.D.P.-Fraktion
sich bei diesem Gesetz enthalten wird. Eine Ablehnung
wäre nicht sachgerecht, weil wir die gefundenen Lösungen hinsichtlich der Wahlkreisneueinteilung im Großen
und Ganzen akzeptieren können.
({0})
Insbesondere die Zusammenarbeit mit dem Kollegen Friese war durchaus erfreulich und gut. Er hat das
Gespräch mit uns nicht nur gesucht,
({1})
wie der Kollege Özdemir sagte, sondern sogar gefunden.
Er war Argumenten durchaus zugänglich.
({2})
So konnte zum Beispiel unser Kollege von der F.D.P. Dirk
Niebel durchaus mit Erfolg Überzeugungsarbeit leisten,
sodass am Ende die Stadt Eppelheim im Wahlkreis
Heidelberg bleiben kann.
({3})
Das ist für die dortige Situation bedeutsam und ein Zeichen für die gute Zusammenarbeit, die wir in dieser Frage
hatten.
({4})
Meine Damen und Herren, natürlich sind Wahlfragen
Machtfragen. Jetzt wird gegenseitig der Vorwurf erhoben,
dass solche Einteilungen von Wahlarithmetik geprägt
seien. Die Redner der jetzigen Koalition bringen das
gegenüber unserer Entscheidung vor, die wir in der letzten Wahlperiode getroffen haben, und umgekehrt hat die
Union dies jetzt der SPD und den Grünen entgegengehalten. Es wäre blauäugig, würde man sagen, der
Verdacht, dass geschaut wurde, wie denn bei einem Neuzuschnitt am Ende die Ergebnisse in den Wahlkreisen aussehen werden, sei völlig unberechtigt. Aber das Verhältniswahlrecht, das wir ja in verbesserter Form haben,
setzt Manipulationsmöglichkeiten sowieso von vornherein Grenzen. Denn am Ende orientiert sich die Zusammensetzung des Bundestages, wenn ich einmal Überhangmandate beiseite lasse, an dem prozentualen Anteil,
den die Parteien an den Zweitstimmen haben, und nicht an
der Einteilung der Wahlkreise.
({5})
Trotzdem ist die Wahlkreiseinteilung natürlich von
großer Bedeutung für die Repräsentanz der Regionen in
der Volksvertretung. Deswegen wäre es schon angebracht
gewesen, Fehlentscheidungen aus der Vergangenheit, die
wir selber jetzt als solche erkennen müssen, zu korrigieren. Ich nenne daher noch einmal das Beispiel Krefeld. Es
kann doch nicht sein, dass eine Großstadt mit
240 000 Einwohnern Gefahr läuft, keinen örtlichen Abgeordneten oder keine örtliche Abgeordnete im Bundestag zu haben. Wir haben daher vorgeschlagen, dass Krefeld ungeteilt einem Wahlkreis zugeordnet wird.
({6})
Dieser Vorschlag der F.D.P. wäre umsetzbar gewesen. Ich
verstehe nicht, warum nicht nur SPD und Grüne, sondern
leider auch CDU und CSU unserem Antrag nicht gefolgt
sind.
({7})
Da dies nicht geschehen ist und da es wichtig gewesen
wäre, die Situation Krefelds bei dieser Gelegenheit zu bereinigen, können Sie verstehen, dass wir dem gesamten
Gesetzesvorschlag nicht zustimmen können. Daher enthalten wir uns.
({8})
Für die
PDS-Fraktion gebe ich der Kollegin Petra Pau das Wort.
({0})
Und für Berlin-Mitte, nicht zu vergessen, Herr Kollege Özdemir. - Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu: Bis gestern
Abend habe ich gedacht, zu diesem Thema sei alles gesagt
und ausgetauscht.
({0})
Nach einem Blick in die Presse und nach der Rede des
Kollegen Marschewski weiß ich: Es ist noch nicht alles
gesagt und vor allen Dingen noch nicht von allen. Deswegen will auch ich sprechen und Ihnen drei Gedanken
mit auf den Weg geben.
({1})
Die PDS-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf - zumindest mehrheitlich - zustimmen, denn unter Abwägung
aller Konflikte haben wir keine rationale, nachvollziehbare Alternative anzubieten. Ich kann mich dem Lob für
den Kollegen Friese nur anschließen: Das, was möglich
war, haben wir zumindest hierbei gemeinsam miteinander
besprochen.
Es bleiben aber Probleme. So wird zum Beispiel der
Wahlkreis Teltow-Fläming in drei Wahlkreisteile zerschnitten. Das heißt, Abgeordnete haben dort nicht das
Problem, dass sie womöglich Bürgerbüros in drei Wahlkreisen aufbauen müssen, sondern dieser Landkreis wird nunmehr mit drei Bundestagsabgeordneten beschenkt werden.
Ich denke, wenn von den im Lande Brandenburg selbst
politisch Verantwortlichen, meine Partei eingeschlossen,
in den Verhandlungen eine Lösung gesucht worden wäre,
hätte man vielleicht auch eine gefunden. Das war aber offensichtlich ebenfalls nicht mehr zu reparieren.
Aber es bleiben auch andere Probleme. Auch diese
wurden bereits angesprochen. Sie sind nicht über das Gesetz zu regeln, aber wir werden uns über sie Gedanken
machen müssen. Was ist denn mit den Kolleginnen und
Kollegen, die in den flächenmäßig sehr großen Wahlkreisen im nächsten Jahr gewählt werden, die entsprechende Arbeitsbedingungen brauchen, die aber einen unverhältnismäßig hohen Aufwand haben, zumindest im
Vergleich zu den Kolleginnen und Kollegen in den
kleinen, bevölkerungsreichen Wahlkreisen haben? Das
muss geregelt werden, darüber müssen wir gemeinsam
nachdenken.
Damit komme ich zum dritten Punkt: Es ist hier schon
viel von Parteitaktik geredet worden, die man sich gegenseitig unterstellt. Wir werden diesem Gesetzentwurf ausdrücklich zustimmen, obwohl wir zum Beispiel wissen,
wie die Wahlkreiseinteilung im Lande Berlin zustande
gekommen ist, Kollege Marschewski.
({2})
Diese ist bei Planspielen unter Leitung Ihres Parteifreundes Klaus Landowsky mit dem Ziel, die PDS erst einmal
aus den Berliner Rathäusern rauszuhalten, zustande gekommen. Vor zwei Jahren wurde der Berliner Bezirkszuschnitt völlig sachfremd verändert, in der Hoffnung, dass
die PDS auf diese Art und Weise nach der Wahl 1999 nicht
mehr in die Rathäuser einziehen würde. Die Wählerinnen
und Wähler dieser Stadt haben aber den Beweis erbracht,
dass sie sich nicht am Schreibtisch vorschreiben lassen,
wen sie zu wählen haben.
({3})
Nun gibt es als Ergebnis die erste Bürgermeisterin mit
PDS-Mandat in einem Westbezirk, in Kreuzberg.
({4})
Ich gehe davon aus, dass sich die Wählerinnen und
Wähler auch nach dieser Wahlkreiseinteilung nicht vorschreiben lassen, wen sie 2002 für die Hauptstadt wählen
werden. Ich setze auf die Wählerinnen und Wähler in den
neuen Wahlkreisen. Wir werden zustimmen.
({5})
Für die CDU/
CSU-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Hartmut
Koschyk.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wahlgesetzgebung
gehört sicher zu den sensibelsten Bereichen der Gesetzgebung unseres Landes. Von ihrer Transparenz und
Nachvollziehbarkeit hängt es ab, wie die Bürgerinnen und
Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen.
Der rot-grüne Gesetzentwurf zur Änderung des
Bundeswahlgesetzes enthält neben den vielen Ungereimtheiten, auf die der Kollege Marschewski schon hingewiesen hat, vor allem für den Freistaat Bayern eine Reihe von
Ungereimtheiten.
({0})
Dagegen hat sich in den betroffenen Regionen zu Recht
entschiedener Protest der Bevölkerung erhoben. Doch
dieser Protest wird von der rot-grünen Parlamentsmehrheit einfach beiseite geschoben.
({1})
Sie von Rot-Grün müssen sich schon fragen lassen:
Wie verträgt es sich, dass Sie auf der einen Seite plebiszitäre Elemente auf Bundesebene neu einführen wollen,
auf der anderen Seite aber bei einem Bereich, in dem es
um die unmittelbare Mitbestimmung des Bürgers geht,
bei der Zuschneidung von Wahlkreisen, kaltschnäuzig
über das hinweggehen, was die Bürgerschaft will, und
sich in keiner Weise gesprächs- und kompromissbereit
zeigen?
({2})
Für die Verringerung der Zahl der Wahlkreise in
München von bislang fünf auf vier geben Sie in Ihrem
Gesetzentwurf keinerlei inhaltliche Begründung.
({3})
Auch lassen Sie völlig unberücksichtigt - hören Sie zu,
Herr Friese; darauf kommt es an -, dass sich seit der Neueinteilung 1998 die Einwohnerzahlen in den Regierungsbezirken Bayerns erheblich verändert haben. Es wäre jetzt
Ihre Pflicht gewesen, diese veränderten Einwohnerwerte
zu berücksichtigen und in einem Abwägungsprozess zu
gewichten.
Unser Münchener Kollege Singhammer hat in seiner
Eingabe an den Innenausschuss zu Recht darauf hingewiesen, dass die Zahl der Wahlberechtigten im Regierungsbezirk Oberbayern seit 1998 gegenüber dem Regierungsbezirk Oberfranken gewachsen ist. Deshalb dürfen
Sie nicht, obwohl Sie es tun, begründungs- und abwägungslos die kreisfreie Stadt München aus dem Regierungsbezirk Oberbayern einfach herausgreifen, um den
einzigen in Bayern einzusparenden Wahlkreis in München einzusparen.
Herr Kollege Koschyk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Singhammer?
Sehr gerne.
({0})
- Wenn Sie Fragen stellen, stehe ich auch Ihnen zur Verfügung.
Herr Kollege
Koschyk, nachdem Sie mich angesprochen haben,
möchte ich Sie fragen, ob Sie mir zustimmen können, dass
die jetzige Mehrheit des Bundestages gegen die Empfehlung der unabhängigen Wahlkreiskommission für die
Landeshauptstadt München
({0})
neue Grenzziehungen vorschlägt, die in keiner Weise gewachsenen Stadtvierteln entsprechen und ausschließlich
das Ziel haben, günstigere Voraussetzungen für die nächsten Wahlen zu erreichen? Können Sie mir zustimmen,
dass man diese Regelung mit Fug und Recht als Pfuscherei bezeichnen kann, die dem inneren Frieden in dieser
Region nicht dienen wird?
Herr Kollege
Singhammer, ich kann Ihnen da nur voll und ganz zustimmen.
({0})
Denn es ist so: Sie haben die Neuzuschnitte der Wahlkreise in München ohne Beachtung der Vorschläge der
Wahlkreiskommission vorgenommen.
({1})
Herr Parlamentarischer Geschäftsführer Küster, auch ein
notwendiger Abwägungsprozess zwischen den unterschiedlichen Regierungsbezirken in Bayern ist nicht vorgenommen worden.
({2})
Kollege Friese selbst hat in der diesbezüglichen Beratung
des Innenausschusses eingeräumt, dass auch er aufgrund
der unterschiedlichen Entwicklung der Wahlbevölkerung
in Oberbayern und Oberfranken der Auffassung ist, dass
im Jahre 2006 wieder Veränderungen in Bezug auf die
Wahlkreiszuschnitte in Oberbayern und Oberfranken vorgenommen werden müssen.
({3})
Die Veränderungen, die Sie jetzt sowohl in München
als auch in Oberfranken vornehmen, sind unnötig. Auch
übergehen Sie bei Ihren konkreten Zuschneidungen
sozioökonomisch gewachsene Strukturen. Deshalb hat
übrigens die Bayerische Staatsregierung Ihre Vorschläge
rundweg abgelehnt. Das, was Sie jetzt im Bereich
Oberfranken, in Bezug auf Bayreuth, Forchheim und
Bamberg, vorhaben - Herr Friese hat das ja ausdrücklich
verteidigt -, tun Sie gegen den entschiedenen Widerstand
des betroffenen Landrates, der in einer entsprechenden Eingabe an den Innenausschuss zum Ausdruck kommt, und gegen den Widerstand aller betroffenen Gemeinden. Jeder der
betroffenen Bürgermeister hat sich an den Innenausschuss
gewandt. Das Schönste ist - daran sieht man, wie bei Ihnen
innerparteiliche Demokratie funktioniert -:
({4})
Dies ist auch gegen das ausdrückliche Votum Ihrer
Parteifreunde beschlossen worden.
Ich wiederhole: Dass Sie nicht einmal vor Ort mit der
betroffenen Bürgerschaft und den Kommunalpolitikern
sprechen, zeigt, dass es Ihnen nicht darum geht, den Bürgerwillen und gewachsene Strukturen zu berücksichtigen.
({5})
Gestatten
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kemper?
Herr Kollege
Kemper, bitte schön.
Kollege
Kemper bekommt das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Koschyk, jetzt kann
ich Ihnen die Frage stellen, die ich eigentlich Herrn
Marschewski stellen wollte. Aber auch Sie waren ja schon
in der letzten Legislaturperiode im Innenausschuss und
haben die damalige Wahlkreisreform mit beschlossen.
Würden Sie, genauso, wie Sie Ihrem Kollegen Singhammer
zugestimmt haben, auch mir zustimmen, wenn ich feststelle, dass Sie in der letzten Legislaturperiode im Münsterland zwei Wahlkreise geschaffen haben, die etwa
100 Kilometer lang und 20 Kilometer breit sind,
({0})
die über Kreisgrenzen hinweg gehen, überhaupt nicht
durch gewachsene Strukturen gerechtfertigt sind
({1})
und deren Zuschnitt mit Ausnahme des betroffenen Bundestagsabgeordneten Karl-Josef Laumann
({2})
niemand befürwortet hat? Der wollte das gerne und das
haben Sie dann auch getan.
Erstens glaube ich,
dass sich der Sachverhalt nicht ganz so darstellt, wie Sie
ihn, Herr Kollege Kemper, geschildert haben.
({0})
Zum anderen sind auch wir zur Selbstkritik fähig. Kollege
Marschewski hat vorhin eingeräumt, dass es auch bei unserer Reform von 1998 einige Punkte gab, zu denen wir
gesagt haben: Jawohl, darüber muss man hinterher noch
einmal sprechen.
({1})
Ich will zusammenfassen: Nicht nur das, was ich gerade für Bayern, also für Oberfranken und für Oberbayern
bzw. München, gesagt habe, ist wichtig. Auch der Verweis
auf Sachsen ist notwendig, wo Sie entgegen dem Votum
der Wahlkreiskommission ganz gravierende Änderungen
vornehmen.
Ich finde, Ihre Reform ist unausgegoren. Sie geht an in
vielen Regionen gewachsenen historischen und kulturellen Strukturen vorbei. Sie werden dafür ein Stück weit die
Quittung bekommen; denn die Bürgerinnen und Bürger in
bestimmten Regionen werden es Sie in den Wahlen merken lassen, mit welcher Willkür Sie Wahlkreise neu eingeteilt haben.
({2})
Zu einer
Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Harald Friese
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Diese Wahlkreisreform ist ausgewogen und
wohlüberlegt. Sie ist sachlich begründet.
Wenn Sie, Herr Koschyk, darauf hinweisen, dass in
Bayern die Bevölkerungsentwicklung in den Regierungspräsidien anders verläuft, dann will ich Sie auf das Bundeswahlgesetz hinweisen. Es sieht nur vor, dass die Zahl
der Wahlkreise der Bevölkerung der Bundesländer entsprechen muss, aber nicht, dass das auf einzelne Regierungspräsidien bezogen werden kann.
Wenn Sie sagen, dies wolle niemand und wir würden
hier gegen den Wunsch der Bayerischen Staatsregierung
verstoßen, dann möchte ich Sie an die Drucksache
14/2597 erinnern. Die Wahlkreiskommission zitiert dort
die Bayerische Staatsregierung, die sich in ihrer abschließenden Stellungnahme vom 12. November 1999 gegen jegliche Änderung des Zuschnitts der Wahlkreise in
Bayern ausgesprochen hat. Als Begründung hat sie ausgeführt, dass keine Veranlassung bestehe, an der vom Gesetzgeber durch das Wahlkreisneueinteilungsgesetz für
Wahlen ab dem Jahre 2002 vorgesehenen Regelung für
Bayern Änderungen vorzunehmen. Das ist die Position
der Bayerischen Staatsregierung. Wir mussten aber teilweise in Bayern handeln, weil wir sonst gegen das Gesetz
verstoßen hätten; denn es lagen Entwicklungen vor, die
die durch das Bundeswahlgesetz gesetzten Schranken
überschritten hätten.
({0})
Zur Frage Oberfranken. Herr Koschyk, es ehrt uns,
wenn Sie uns ein falsches innerparteiliches Demokratieverständnis vorwerfen. Wir haben die Wahlkreisreform
eben nicht nach den Vorstellungen der Partei, sondern
nach objektiven Grundsätzen gemacht.
({1})
Offensichtlich haben Sie Wahlkreisreform nach den Vorstellungen Ihrer Partei vor Ort gemacht. Es gibt aber objektive Kriterien, die im Gesetz niedergelegt sind. Die haben wir einzuhalten.
Zu diesen objektiven Kriterien gehört, dass die Grenzen von kommunalen Gebietskörperschaften eingehalten
werden sollen, soweit dies möglich ist. Lesen Sie das im
Bundeswahlgesetz nach! Genau dies haben wir in Oberfranken getan; es sind nämlich die Grenzen der Gebietskörperschaften fast vollständig erhalten geblieben. Wenn
Sie jetzt argumentieren - das haben Sie im Innenausschuss getan -, damit würden gewachsene Strukturen zerstört werden, entgegne ich: Es kann nicht Aufgabe des
Bundesgesetzgebers sein, eine falsche kommunale Gebietsreform - sofern Sie Recht haben, dass hier gewachsene Strukturen zerstört werden - durch eine Wahlkreisreform zu korrigieren.
({2})
Zu einer
kurzen Erwiderung der Kollege Singhammer.
({0})
- Das Präsidium hat die Kurzintervention des Kollegen
Friese so interpretiert, dass beide Kollegen angesprochen
waren.
({1})
Deswegen bekommt der Kollege Singhammer jetzt das
Wort zu einer kurzen Erwiderung. Ich glaube, das rechtfertigt überhaupt keine Aufregung. Wir führen hier eine
vernünftige Debatte und sollten auch so verfahren.
({2})
Herr Präsident!
Ich möchte auch ganz konkret auf den Kollegen Friese
eingehen.
Die SPD hat in ihrem Katalog, den sie als Fahrplan für
Änderungen genommen hat, eine Reihe von Kriterien
aufgestellt. Alle vier Kriterien, die in Ihren Augen für eine
Änderung maßgeblich waren, sind in der Landeshauptstadt München bei der internen Neukonstituierung der
Wahlkreise nicht gegeben. Ich stelle weiterhin fest, dass
die unabhängige Wahlkreiskommission im Gegenteil von
einer Änderung abgeraten hat.
({0})
Ich darf zitieren - das können Sie im Bericht der unabhängigen Wahlkreiskommission nachlesen -: Insbesondere spricht eine geringfügige Überschreitung der Grenze
von 15 Prozent in einem Wahlkreis, also 0,5 Prozent, nicht
für eine Änderung. Weiter heißt es: Der Grundsatz der
Wahlkreiskontinuität spricht gegen Neuabgrenzungen.
({1})
Das ist ein ganz klarer Hinweis. Diesen Empfehlungen
sind Sie nicht gefolgt und deshalb sage ich, dass Ihr Vorschlag eben andere und keine sachlichen Gründe hat. Deshalb lehnen wir ihn ab.
({2})
Ich schließe
die Aussprache. Allerdings hat der Abgeordnete des
Wahlkreises 79, Krefeld, Bernd Scheelen, darum gebeten,
eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben zu dürfen. Das geschieht sicherlich mit
dem kollegialen Verständnis des ganzen Hauses. Sie
haben das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich möchte gerne gemäß § 31 der
Geschäftsordnung mein Abstimmungsverhalten erläutern. Der Bundestagswahlkreis Krefeld wird zerschlagen.
({0})
- Es ist nun wirklich nicht angebracht, dass Sie „Hört!
Hört!“ rufen. Sie haben doch nichts dagegen getan. Sie
haben das doch 1998 auch so beschlossen. Seien Sie mal
ganz ruhig!
({1})
Wenn dies aus den Reihen der F.D.P. käme, hätte ich dafür
großes Verständnis, denn die hat sich für Krefeld eingesetzt.
({2})
Der Wahlkreis wird zerschlagen. Er wird geteilt. Er
wird von Ost nach West durchtrennt. Die Hälften werden
- im Norden - Teilen des Kreises Wesel und - im Süden Teilen des Kreises Neuss zugeschlagen. Ich bedaure sehr,
dass die Chance, die die erneute Beschlussfassung über
die Wahlkreiseinteilung bietet, heute nicht genutzt wird,
um die Fehlentscheidung, die schon am 13. Februar 1998
vom damaligen Bundestag getroffen wurde, zu korrigieren. Deswegen lehne ich diesen Gesetzentwurf und die
Beschlussempfehlung des Innenausschusses ab.
Die Zerschlagung des Wahlkreises ist erstens willkürlich. Wären in Krefeld nur wenige Hundert Einwohner am
Stichtag mehr gezählt worden, hätte es das Gesetz überhaupt nicht hergegeben, den Wahlkreis zu zerschlagen.
({3})
Erst wenn Krefeld mehr als 20 000 Einwohner weniger
gehabt hätte, wäre Handlungsbedarf gegeben gewesen.
Die Zerschlagung des Wahlkreises Krefeld ist zweitens
ungerecht; denn für alle anderen kreisfreien Städte in der
Republik bleibt der eigenständige Wahlkreis erhalten. Immerhin steht Krefeld auf der Hitliste der Großstädte in
Deutschland nach der Bevölkerungszahl auf Platz 31.
Die Zerschlagung des Wahlkreises ist drittens unhistorisch. Die Geschichte der Stadt reicht weit über 2 000 Jahre
zurück. Die Römer haben dort gesiedelt. Die Stadt besitzt
seit über 600 Jahren Stadtrechte.
({4})
- Ja, ihr könnt noch etwas über Krefeld lernen. - Schon
1826 wurden die ersten Abgeordneten in Parlamente entsandt, damals in den rheinischen Provinziallandtag.
1848 war Krefeld in der deutschen Nationalversammlung vertreten, seit 1867 im Reichstag des Norddeutschen Bundes, seit 1871 im Deutschen Reichstag und
seit 1949, seit Gründung der Bundesrepublik, im Deutschen Bundestag.
Meine Heimatstadt Krefeld ist - das wird Sie auch interessieren; vielleicht wissen das viele nicht - die Geburtsstätte des parlamentarischen Patenschaftsprogramms.
({5})
- Herr Börnsen, Sie wissen das. - Ausgangspunkt war die
Tatsache, dass im Jahre 1683 16 Krefelder Familien als
Erste aus Deutschland nach Amerika auswanderten. Dies
war vor 18 Jahren Anlass einer großen Feier in Krefeld.
Anlässlich dieses Ereignisses wurde das parlamentarische
Patenschaftsprogramm zwischen dem amerikanischen
Kongress und dem Deutschen Bundestag beschlossen.
Mit dem heutigen Beschluss wird Krefeld keinen eigenen, ausschließlich von Krefelder Bürgerinnen und Bürgern gewählten Abgeordneten mehr direkt in den Bundestag entsenden. Mit der Bundestagswahl 2002 wird
Krefeld in beiden neuen Wahlkreisen nur noch Juniorpartner sein. Kein Krefelder Abgeordneter wird mehr in
der Lage sein, die Interessen der Stadt und der Krefelder
Bürger in ihrer Gesamtheit zu erfassen
({6})
und in den politischen Beratungen und Entscheidungen so
zur Geltung zu bringen, wie es Grundgesetz und Wahlgesetz vorsehen.
({7})
Die Krefelder Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht darauf, von Abgeordneten vertreten zu werden, die
in Krefeld verwurzelt sind,
({8})
die die Mentalität und Besonderheiten der Krefelderinnen
und Krefelder kennen. Nicht umsonst sagt der Volksmund
am Niederrhein: Es gibt Gute, Böse und Krefelder.
({9})
Krefeld braucht Abgeordnete, die mit der Lage und
Entwicklung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten der Stadt vertraut
sind. Dies ist nicht gegeben, wenn wir als Krefelder in den
beiden neu zugeschnittenen Wahlkreisen nur noch die
Minderheit bilden.
Deshalb lehne ich den vorliegenden Gesetzentwurf ab
und unterstütze die kommunale Verfassungsbeschwerde
der Stadt Krefeld gegen das Gesetz zur Neueinteilung der
Wahlkreise für die Wahl zum Deutschen Bundestag, die damit verbundenen Organklagen der im Rat der Stadt Krefeld
vertretenen Parteien - das sind CDU, SPD und Grüne -,
({10})
die von der damals im Rat nicht vertretenen F.D.P. unterstützt werden,
({11})
und die sechs Verfassungsbeschwerden von Krefelder
Bürgern.
Ich hoffe sehr, dass das Bundesverfassungsgericht unseren Argumenten folgt und wir uns im Bundestag in naher Zukunft erneut mit der Neueinteilung der Wahlkreise
beschäftigen werden. Wir Krefelder warten jetzt gespannt
auf die Entscheidung in Karlsruhe.
Der heutige Beschluss, meine sehr geehrten Damen
und Herren, reißt auseinander, was zusammengehört, und
kann deshalb keinen Bestand haben.
Vielen Dank.
({12})
Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Drucksachen 14/4497 und 14/5202. Der
Innenausschuss empfiehlt unter Nummer 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Gesetzentwurfs in
der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, PDS und einzelnen Stimmen der
CDU/CSU gegen die Mehrheit der Fraktion der CDU/
CSU und die Stimme des Kollegen Scheelen bei Enthaltung der F.D.P. angenommen.
({0})
- Also bei mehreren Neinstimmen aus der Fraktion der
SPD, aber insgesamt mit Mehrheit angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich muss ergänzen,
dass es auch noch eine Enthaltung aus den Reihen der
PDS gibt. Der Gesetzentwurf ist unter Berücksichtigung
dieser kleinen Änderung mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen.
Der Innenausschuss empfiehlt unter Nummer 2 seiner
Beschlussempfehlung die Kenntnisnahme des ergänzenden Berichts der Wahlkreiskommission für die 14. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, Drucksache 14/1431.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Beschlussentwurf ist einstimmig angenommen.
Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 6 sowie Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Klaus Hofbauer, Dirk Fischer
({2}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
A 6 als wichtige europäische West-Ost-Straßenverbindung vorrangig fertig stellen
- Drucksachen 14/2910, 14/4090 Berichterstattung:
Abgeordnete Heide Mattischeck
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({3}), Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
A 6 modellhaft ausbauen - Deutschlands Fernstraßennetz für Europa fit machen
- Drucksache 14/5229 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Reinhold Strobl für die Fraktion der SPD
das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihnen liegt ein Antrag
der CDU/CSU vor, dem sich auch die F.D.P. angeschlossen hat.
({0})
- Sie haben einen eigenen Antrag eingebracht, aber Sie
haben sich an dieses Thema sozusagen angehängt.
({1})
- Diese Bemerkung hätten Sie sich sparen können. Aber
das sind wir ja bei Ihnen gewohnt.
({2})
In diesem Antrag wird die vorrangige Fertigstellung
der A 6 als wichtige europäische West-Ost-Straßenverbindung gefordert. Wir könnten uns die heutige Diskussion ersparen, da der Weiterbau der A 6 für uns beschlossene Sache ist und Bundeskanzler Gerhard
Schröder in seiner viel beachteten Rede am 18. Dezember 2000 in Weiden klargestellt hat, dass die Autobahn
A 6 bis 2008, spätestens 2009 fertig gestellt ist. Eigentlich könnten wir hinausgehen und eine Tasse Kaffee
oder ein Bier miteinander trinken; das Thema ist abgehakt.
({3})
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
Ihr Antrag vom 14. März 2000 ist überholt. In diesem Antrag fordern Sie nämlich,
die bereits begonnenen Maßnahmen, insbesondere
den Lückenschluss bei der Bundesautobahn A 6,
zeitlich vorzuziehen und die bisher eingeplanten
Mittel so aufzustocken, dass die Fertigstellung der
gesamten Baumaßnahme A 6 in den nächsten 10 Jahren sichergestellt wird.
Würden wir Ihrem Antrag zustimmen, würde dies bedeuten: Der Bundestag beschließt heute, dass die A 6 bis
zum Jahr 2011 fertig gestellt wird. Wir aber wollen - wir
haben das Wort unseres Bundeskanzlers -,
({5})
dass die Autobahn, welche Tschechien und Deutschland
miteinander verbindet, bereits in sieben Jahren, also im
Jahr 2008, spätestens aber 2009 fertig gebaut ist und so
die Bürger der mittleren Oberpfalz von dem unerträglichen Durchgangsverkehr und den damit verbundenen
Lärmbelästigungen befreit werden.
Übrigens wird immer verbreitet, die Autobahn in
Tschechien sei fertig. Das stimmt gar nicht; denn Pilsen
muss man immer noch umfahren.
({6})
Ich darf mich als Oberpfälzer Abgeordneter auch im
Namen meiner Kollegin Erika Simm und meiner Kollegen Georg Pfannenstein und Ludwig Stiegler für die Unterstützung und das Verständnis unseres Bundeskanzlers
bedanken.
({7})
- Wenn Sie nichts anderes können als immer nur „Oh“ zu
rufen, dann kann ich Ihnen nicht helfen.
({8})
Der Lückenschluss zwischen Amberg-Ost und Waidhaus hat für die wirtschaftliche Entwicklung der Oberpfalz, nicht zuletzt wegen der bevorstehenden EU-Osterweiterung, eine große Bedeutung.
({9})
Die Oberpfalz - sie lag früher am Rand der Europäischen
Union - wird in Zukunft mitten in Europa liegen. Wir sind
uns bewusst, dass diese zentrale Lage Probleme, aber
auch Chancen mit sich bringt.
Seit Dezember vorigen Jahres ist die A 93 zwischen
Regensburg und Hof fast durchgängig befahrbar.
({10})
Die Kosten - teils vorfinanziert - belaufen sich auf circa
800 Millionen DM. Die A 6 zwischen Amberg-Ost und
Waidhaus wird etwa 783 Millionen DM kosten, sodass
der Bund in den Autobahnbau in dieser Region insgesamt
fast 1,6 Milliarden DM investiert. Auch dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, muss einmal gesagt
werden, weil durch Ihre Mandatsträger vor Ort und auch
durch Sie selbst der Eindruck erweckt wird, als ob die
Bundesregierung und Kanzler Schröder den Süden der
Republik langsam, aber sicher ausbluten ließen.
({11})
Sie müssen uns schon sagen, was Sie wollen. Erst fordern Sie den Ausbau der Autobahn in den nächsten zehn
Jahren. Dann erklärt Ihnen der Bundeskanzler höchstpersönlich, dass die A 6 nicht in zehn, sondern bereits in
sieben Jahren fertig sein wird. Wieder sind Sie nicht zufrieden. Die Bevölkerung der Oberpfalz hat längst mitbekommen, dass Sie das Thema A 6 nur für Ihre parteipolitischen Ziele benötigen.
({12})
Sie, meine Damen und Herren von der CSU, haben nämlich sonst kein Thema. Ich sage Ihnen: Die A 6 wird
schneller fertig sein, als Ihnen lieb ist.
Viele Bürgerinnen und Bürger in der Oberpfalz fragen
sich: Warum hat die frühere Bundesregierung den Weiterbau nicht schneller vorangetrieben? Warum geschah in
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
der Zeit, in der die Oberpfälzer CSU den Vorsitzenden im
Verkehrsausschuss und einen Staatssekretär stellte - soviel ich weiß, wird er nach mir sprechen -, nicht mehr?
Warum sind erst jetzt die CSU-Abgeordneten so aktiv?
Wo waren Sie denn, als Sie damals noch die Regierung
stellten? Herr Hofbauer, wo war denn früher der Druck
der CSU, den Sie angeblich jetzt ausüben wollen, wie ich
es heute in der Zeitung gelesen habe?
Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, zitiere ich aus
der Rede des Bundeskanzlers in Weiden:
Die wirtschaftliche Integration Europas kann überhaupt nur gelingen, wenn die erforderliche Verkehrsinfrastruktur ausgebaut wird.
({13})
Das ist gerade in Grenzregionen wie dieser eine unabdingbare Voraussetzung.
({14})
Hier in der Oberpfalz - ich bin darüber nicht überrascht - hat die Lückenschließung der A 6 Vorrang.
Im Rahmen unseres Zukunftsinvestitionsprogramms - also jenes Programms, das wir aus den ersparten Zinsaufwendungen speisen, die entstanden
sind, weil wir mit den erlösten UMTS-Milliarden
Schulden getilgt haben, was dringend notwendig
war - schaffen wir es nun, das Teilstück zwischen
Pfreimd und Waidhaus erheblich früher als geplant
fertig zu stellen. Dies wird bis 2005, spätestens 2006
geschehen, also in vier Jahren. Ursprünglich war
2010 geplant.
Aber das ist, wie Sie wissen, nicht die einzige Lücke
in der Oberpfalz. Das ist ja das Problem ... Es gibt
noch eine Lücke zwischen Pfreimd und Amberg-Ost,
eine, die die Menschen dort sehr belastet. Das muss
man einfach so sehen.
Ich komme aus einer Stadt, die vom Durchgangsverkehr
sehr belastet ist.
Über die konkrete Finanzierung dieses Lückenschlusses müssen wir noch entscheiden. Sie wissen,
dass die öffentlichen Kassen auch nicht prall gefüllt
sind. Wir müssen mit der Haushaltskonsolidierung
weitermachen.
({15})
Das ist ein ganz wichtiger Punkt für unsere zukünftige Entwicklung.
Aber ich habe mit dem Bundesverkehrsminister gesprochen.
({0})
- Es ist wirklich lächerlich, was Sie da aufführen.
({1})
- Geht es Ihnen um das Thema oder wollen Sie hier polemisieren?
Ich führe das Zitat zu Ende:
Wir haben uns darauf verständigt, dass wir gemeinsam, zusammen mit den Abgeordneten dieser Region, mit Ludwig Stiegler und seinen Mitstreitern, alles tun wollen, damit die A 6 bis 2008, spätestens
2009 wirklich durchgehend fertig gestellt sein wird.
({2})
Trotz dieser eindeutigen Aussage werden die CSUMandatsträger in der Oberpfalz nicht müde, weiter zu polemisieren. Da bezeichnete der eine den Besuch des Bundeskanzlers in Weiden bezüglich der A 6 als „LarifariVeranstaltung“ und der anwesende MdB Rudolf Kraus
bezeichnete das A-6-Angebot von Schröder als lächerlich
und sprach der Bundesregierung sogar den politischen
Willen ab, was den Bau der A 6 angeht.
Meine Damen und Herren, für solche Äußerungen
fehlt mir jegliches Verständnis.
({3})
Ich frage mich nur, wann Sie kapieren, dass Ihnen diese
Art der Auseinandersetzung nichts einbringen wird. Jeder
weiß doch, dass auch hier Versäumnisse der früheren
Bundesregierung vorliegen. Wertvolle Zeit ist verloren
gegangen. Erst Mitte vorigen Jahres wurde von der Regierung der Oberpfalz der Planfeststellungsbeschluss für
das letzte Teilstück herbeigeführt. Dieser wird zu allem
Leidwesen auch noch beklagt.
Welcher Ablauf ist nun vorgesehen? Der westliche Abschnitt Pfreimd/Woppenhof ist im Bau und soll bis 2004
fertig gestellt werden. Wer mit offenen Augen durch die
Landschaft fährt, wird feststellen, dass bei Pfreimd mit
Nachdruck gebaut wird. Wer aber beim Autofahren bewusst die Augen zumacht, weil er dies einfach nicht zur
Kenntnis nehmen will, der sollte Acht geben, dass er nicht
vom rechten Weg abkommt.
Der Abschnitt Lohma/Waidhaus wurde bereits für den
Verkehr freigegeben. Entsprechend der Baureife soll bei
den Zwischenabschnitten Kaltenbaum/Lohma und Woppenhof/Kaltenbaum in diesem und im kommenden Jahr
mit dem Bau begonnen werden. Die gesamte Teilstrecke
Ost soll 2005 durchgängig befahrbar sein. Mit dem Bau
der derzeit noch beklagten Teilstrecke West, also des
Lückenschlusses zwischen Amberg-Ost und Pfreimd, soll
möglichst noch 2005, also bereits in vier Jahren, begonnen werden. Diese Teilstrecke wird 2008, spätestens 2009
fertig gestellt sein.
Erlauben Sie mir, noch etwas zu den immer wieder ins
Gespräch gebrachten EU-Mitteln zu sagen: Es soll ja Abgeordnete geben, die bis heute noch nicht mitbekommen
haben, dass die A 6 als Projekt der Transeuropäischen
Netze gefördert wird. Brüssel hat bis jetzt 6,5 Millionen
ECU bewilligt. Das erste Drittel für den Abschnitt
Lohma/Waidhaus wurde bereits abgerufen, die übrigen
zwei Drittel für die derzeitigen Bauabschnitte werden
noch abgerufen. Der Folgeantrag wurde bei der EU-KomReinhold Strobl ({4})
mission bereits gestellt. Das Ministerium beurteilt, ebenso
wie unser Europaabgeordneter Dr. Gerhard Schmid, die
Chancen dafür positiv. Unser Ziel ist es, den Rahmen auszuschöpfen, das heißt 10 Prozent der Investitionskosten
aus EU-Mitteln zu bekommen. Sie können sicher sein,
dass wir dieses Geld nicht verschenken werden.
Die Diskussion um den Weiterbau der A 6 offenbart
auch ein eigenartiges Eigentumsverständnis der CSU.
({5})
Am besten sollten bereits morgen die Bagger anrollen, obwohl der Autobahndirektion Nordbayern noch nicht einmal
der gesamte Grund für das Teilstück West gehört. Benötigt
werden 217 Hektar, davon 139 Hektar für die Trasse selbst
und 78 Hektar für Ausgleichsmaßnahmen. Bisher wurden
von der Autobahndirektion aber nur 107 Hektar, also rund
50 Prozent, erworben. Kein Mensch kann ein Haus auf einem Grundstück errichten, das ihm noch nicht gehört. Genau dies verlangt die CSU jetzt von uns.
Aufgrund meiner Nachfrage bei der Autobahndirektion hat auch die CSU das Problem der noch nicht erworbenen Grundstücke erkannt. Jetzt stellt doch tatsächlich
ein CSU-Landratskandidat die Frage, warum mit dem
Aufkauf noch fehlender Grundstücke nicht begonnen
worden sei. Er müsste doch wohl mitbekommen haben,
dass es dort so genannte Sperrgrundstücke gibt.
Des Weiteren wird der Verdacht geäußert, dass deshalb
kein weiterer Grund gekauft werden kann, weil für das
letzte Teilstück noch keine Finanzierung vorgesehen ist.
Denjenigen, die solches verbreiten, kann ich nur empfehlen, sich besser zu informieren.
({6})
Ich denke, der Fortschritt beim Grundstückserwerb für
diesen Abschnitt spricht für sich. Der Ankauf kann nämlich immer nur dann beginnen, wenn der Sichtvermerk für
den jeweiligen Autobahnabschnitt im Bundeshaushalt
vorliegt. Das ist für den Abschnitt der A 6 AmbergOst/Pfreimd der Fall. In der Regel steht der gesamte Baugrund im Eigentum des Bundes, wenn das Baurecht
vorliegt und die Klagen erledigt sind. Jede Autobahndirektion wird Ihnen dies gerne bestätigen.
Erlauben Sie mir im Zusammenhang mit Bayern noch
einige allgemeine Ausführungen zu dem Bereich Autobahn- bzw. Straßenbau.
({7})
Zunächst erinnere ich daran, dass die Regierung
Kohl/Waigel bei der Verkehrspolitik der Regierung
Schröder ein Stückwerk hinterlassen hat. Der letzte Bundesverkehrswegeplan der Regierung Kohl/Waigel wies
eine Unterdeckung von 90 Milliarden DM auf. Nicht einmal ein Drittel der im Plan aufgeführten Projekte wurde
tatsächlich verwirklicht.
({8})
- Wenn man Ihnen die Wahrheit sagt, wollen Sie es nicht
hören. Wenn Sie reden wollen, melden Sie sich zu Wort.
Von einer Benachteiligung Bayerns durch die SPD-geführte Bundesregierung, wie sie von der CSU oft behauptet wird, kann keine Rede sein. Der Freistaat Bayern
nimmt unter den alten Bundesländern einen Spitzenplatz
ein und profitiert zudem von den Verkehrsprojekten
„Deutsche Einheit“.
({9})
Dies geschieht, obwohl der Bund überschuldet ist und
die alte Regierung zur Haushaltskonsolidierung unfähig
war.
({10})
Übrigens könnte die A 6 mit dem Geld fertig gebaut werden, das der Bund an drei Tagen für die von Ihnen vererbten Staatsschulden zahlen muss.
Der Wegfall der globalen Minderausgabe im Haushaltsjahr 2000 - ein Erfolg der bisherigen Haushaltskonsolidierung - brachte Bayern weitere 143 Millionen DM.
Mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm der Bundesregierung werden auch in Bayern Ortsumgehungen finanziert. 12 Millionen Tonnen Kraftstoff wurden bisher pro
Jahr infolge von Verkehrsstaus vergeudet. Das Engpassbeseitigungsprogramm wird mit dazu beitragen, dass
unnötiger Kraftstoffverbrauch reduziert wird. Mit unseren
Investitionen in die Schiene wollen und werden wir erreichen, dass in Zukunft ein Teil des weiter ansteigenden
Verkehrs auf die Schiene verlagert wird.
({11})
Im Vergleich der Bundesländer bekommt Bayern den
größten Geldbetrag vom Bund und gibt selbst sehr wenig
für den Staatsstraßenbau aus.
({12})
Es ist ein schlechter Faschingsscherz, wenn sich der
bayerische Innenminister Beckstein hinstellt und verkündet, Bayern werde 4,1 Milliarden DM für den Staatsstraßenbau ausgeben, aber - man höre und staune - in einem Zeitraum von 20 Jahren. Das sind pro Jahr gerade
einmal 200 Millionen DM. Dies geschieht, obwohl sich
die bayerischen Staatsstraßen in einem äußerst schlechten
Zustand befinden. Aber gleichzeitig hat die bayerische
Staatsregierung eine Wunschliste in Höhe von 25 Milliarden DM an den Bund aufgestellt.
({13})
Im Fordern sind also die CSU und die Bayerische Staatsregierung Weltmeister.
({14})
Ich kann nur sagen: Beckstein ist nicht nur der Herr der
Schlaglöcher der bayerischen Staatsstraßen, sondern auch
der Herr der Seifenblasen. Die Strategie der CSU ist es, so
zu tun, als ob man mit den politischen Altlasten nie etwas
zu tun gehabt hätte
Reinhold Strobl ({15})
({16})
und auch nie an der Bundesregierung beteiligt gewesen
wäre. Es werden unsinnige Behauptungen aufgestellt,
weil Sachargumente fehlen. Wir dagegen haben die Zeit
genutzt und für den Weiterbau geworben. Wäre die
CDU/CSU weiter an der Regierung, würde die A 6 zur
ersten deutschen Autobahn mit Lücke.
Allerdings - das muss ich gestehen - beweist
Beckstein auch Realitätssinn. So hat er im Januar an den
Bürgermeister von Sulzbach-Rosenberg geschrieben,
nach Auffassung der bayerischen Staatsregierung wäre
ein Lückenschluss der A 6 zwischen Amberg-Ost und
Pfreimd bis 2008 möglich, wenn der Bund in Fortsetzung
des von 2001 bis 2003 laufenden Zukunftsinvestitionsprogramms ab 2004 weitere ausreichende Mittel für den
Straßenbau zur Verfügung stellen würde.
Genau dies, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU, werden wir tun. Die abschließende Finanzierung der A 6 wird in den Verkehrshaushalten der kommenden Jahre sichergestellt werden. Wir lassen uns nicht
von Ihnen, weder von der CDU/CSU noch von der F.D.P.,
in neue Schulden treiben, sondern werden das, was wir für
unser Land tun, seriös finanzieren. Wir tun es schneller,
als Ihr Antrag es verlangt, und deshalb brauchen wir auch
keine Finanzierung über die Europäische Investitionsbank.
Im Antrag der CDU/CSU von heute steht: „Der Bundestag stellt fest: ... Dies bedeutet, dass ein so wichtiges
überregionales Projekt mit Bedeutung für Europa wie die
A 6 in den nächsten zehn Jahren keine Realisierungschancen hat.“ Diesen Satz können wir so nicht unterschreiben, weil er nachweislich falsch ist.
({17})
Wir werden uns hüten, heute so zu beschließen, wie in
Ihrem Antrag gewünscht. Ich empfehle Ihnen, sich bereits
jetzt auf die Suche nach neuen Themen zu machen. Das
Thema A 6 wird mit zunehmendem Baufortschritt für Sie
unattraktiver werden. Sie haben vom Weiterbau der A 6
immer nur gesprochen; wir werden sie bis zum Jahr 2008,
also bereits in sieben Jahren, fertig bauen.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn
Sie wirklich die schnelle Fertigstellung der A 6 wollen,
nämlich bereits in sieben und nicht erst in zehn Jahren,
dann müssen Sie konsequenterweise Ihren eigenen Antrag ablehnen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Hofbauer.
Frau Präsidentin!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr
Kollege Strobl, ich verwahre mich gegen die Behauptung,
dass wir nicht ehrlich und offen für die Oberpfalz eintreten. Es ist eine unverantwortliche Politik von Ihnen, dass
Sie nur Versprechungen machen und unseren Antrag nicht
unterstützen.
({0})
- Was er vorgelesen hat, ja. Ich weiß nicht, wer ihm die
Rede aufgeschrieben hat.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht um
zwei grundsätzliche Fragen. Zunächst geht es um folgende klare und deutliche Aussage: Wir hatten vor zehn
Jahren die Wiedervereinigung Deutschlands. Damals
hat die ehemalige Bundesregierung ein Projekt „Deutsche
Einheit“ aufgelegt. Das war richtig, das war zukunftsweisend, das war eine Perspektive für die neuen Länder.
({1})
Jetzt kommt die nächste Herausforderung, die Osterweiterung der EU. Ich stelle hier ganz einfach und bescheiden fest, dass diese Bundesregierung für die Osterweiterung kein Verkehrskonzept hat,
({2})
dass sie ohne jegliches Konzept in die Zukunft geht. Es
wurden vor wenigen Monaten verschiedene Programme
aufgelegt. Zum Teil fehlt die Finanzierung dieser Programme und für die Osterweiterung ist hier nichts enthalten.
({3})
Deswegen besteht die zentrale Forderung der CDU/CSUFraktion darin, nunmehr - vergleichbar den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ - Verkehrsprojekte „europäische Einigung“ zu konzipieren und konsequent
umzusetzen.
({4})
Zwei dieser Projekte - dies steht in unserem Antrag - sind
die A 6 und die B 85.
Es ist klar, dass vor dem Besuch des Herrn Kanzlers in
Ostbayern die Staatssekretäre immer wieder gesagt haben, lediglich ein Teilstück werde bis 2010 fertig, das andere später. Erst nachdem die CDU/CSU dadurch Druck
gemacht hat, dass sie diesen Antrag eingebracht hat, hat
der Bundeskanzler seine Aussage dazu gemacht.
({5})
Eines muss ganz klar sein: Der Herr Bundeskanzler hat
sein Versprechen, das er in Weiden gemacht hat, finanziell nicht untermauert. Wir stehen ohne Finanzen da.
({6})
Reinhold Strobl ({7})
Das ist der entscheidende Punkt. Dieser Antrag muss angenommen werden, damit die von uns angeregte Maßnahme bevorzugt umgesetzt wird. Die Finanzierung ist
nicht gesichert. Die Aussage des Bundeskanzlers in Weiden von Dezember letzten Jahres ist nur dann glaubwürdig, wenn Sie unserem Antrag auf rasche Finanzierung
der Baumaßnahme zustimmen.
({8})
Ich bitte Sie sehr herzlich darum, dafür zu sorgen, dass
europäische Gelder für dieses Projekt beantragt werden.
Nach meiner Auffassung hat die Bundesregierung das
Angebot der Europäischen Investitionsbank, 300 Millionen DM für 15 Jahre zinslos als Darlehen zu gewähren,
leichtfertig ausgeschlagen. Mit diesem Geld könnten wir
einen ganz gewaltigen Schritt nach vorne machen.
({9})
Ich möchte eine weitere Bemerkung zur A 6 machen.
Die Planfeststellungsvoraussetzungen bzw. der Planfeststellungsbeschluss bestehen. Wir könnten auf der ganzen
Strecke bauen, wenn die Voraussetzungen da wären.
In diesem Sinne darf ich zusammenfassend feststellen:
Stimmen Sie unserem Antrag zu! Wenn das geschieht,
dann werden wir dieses Projekt sehr rasch beenden.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Strobl
ist hier sehr vollmundig angetreten und hat das Wort des
Kanzlers hochgehalten. Vielleicht wäre es besser gewesen, Herr Kollege Strobl, wenn Sie einmal einen Blick in
die vorliegenden Ausbauprogramme geworfen hätten.
({0})
In dem von Ihnen aufgestellten Investitionsprogramm
der Jahre 1999 bis 2002 taucht der Lückenschluss der A 6
von Amberg-Ost bis Pfreimd gar nicht auf. Im so genannten Zukunftsinvestitionsprogramm - es ist aus gutem
Grund ebenfalls bis 2002 befristet - taucht der Lückenschluss der Strecke Amberg-Ost bis Pfreimd überhaupt
nicht auf.
({1})
Im Anti-Stau-Programm, das erst ab 2003 gilt, und zwar
nur unter der Bedingung, dass bis dahin die LKW-Maut
von der Zeit- auf die Streckenbezogenheit umgestellt ist,
taucht der Lückenschluss der Strecke Amberg-Ost bis
Pfreimd - zumindest bis jetzt - ebenfalls nicht auf; aber
dieses Programm ist schon abschließend festgestellt.
Sie spucken große Töne, ohne hier konkret zu sagen,
wann und wie Sie dieses Projekt finanzieren wollen. Man
kann Ihnen eigentlich nur sagen: Besorgen Sie sich einen
Spaten und einen Helm - vielleicht bei OBI -, damit Sie
vor Ort rechtzeitig mit dem Baggern anfangen können.
({2})
Der Ansatz, den der Antrag der CDU/CSU zur A6 exemplarisch nennt, ist richtig. Wir leben in einem Land, in
dem die Verkehrsentwicklung seit 1960 um 900 Prozent,
der Infrastrukturausbau aber nur um 50 Prozent zugenommen hat und in dem die EU-Osterweiterung für offensichtlich wesentlich mehr Verkehr sorgt, als Kapazitäten auf den Straßen bestehen. Dennoch scheuen Sie sich
nicht, einen Antrag von uns, in dem steht, dass wir ein
grenzüberschreitendes Sonderprogramm ähnlich den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ brauchen, um die
Osterweiterung und die Erweiterung Europas insgesamt
zu finanzieren, ohne jede Begründung abzulehnen.
({3})
Wir haben dazu nicht nur Forderungen gestellt, wir haben sogar aufgezeigt, wie Sie es finanzieren können.
Warum fangen Sie nicht mit der Zweckbindung der Einnahmen aus der Lkw-Vignette an, nachdem Sie so viele
andere Möglichkeiten aufgrund der hohen UMTS-Erlöse
haben? Es handelt sich zwar bei jenen nur um 850 Millionen DM, aber die würden schon ausreichen, um zum
Beispiel die Lücke zu schließen. Das kostet knapp
500 Millionen DM, Herr Kollege Strobl. Mir kommen
fast die Tränen, wenn Sie sagen, aus Europa bekommen
wir 6,5 Millionen DM dazu. Donnerwetter, kann ich da
nur sagen. Damit können Sie locker einen Autobahnkilometer bauen. Aber was ist dann? Danach geht es wieder
auf einem zweistreifigen Feldweg weiter. Sie sollten sich
selber um ein bisschen mehr Realitätssinn bemühen, bevor Sie andere kritisieren.
Wir haben Ihnen den Antrag heute noch einmal vorgelegt; Sie haben noch einmal die Gelegenheit, in seriöser
Weise auf die Themen einzugehen, die wirklich anstehen,
nämlich eine Umstellung der Finanzierung der Infrastruktur in Deutschland. Gehen Sie einmal in sich,
schauen Sie einmal in das von Herrn Pällmann vorgelegte
Konzept. Sie werden dann sehen, was wirklich nötig ist.
Auf dieser Basis können wir uns einigen. Alles, was Sie
jetzt im Hinblick auf die Finanzierung der A 6 versprechen, reicht nicht aus. Das Problem beschränkt sich ja
nicht auf den Lückenschluss zwischen Pfreimd und Amberg-Ost; es kommt ja noch das Problem dazu, dass die
A 6 jetzt schon eine der am stärksten belasteten zweistreifig ausgebauten Autobahnen ist.
({4})
Diese Autobahn müsste ja bereits jetzt, da der LKW-Anteil bei über 30 Prozent liegt, von Nürnberg über Heilbronn bis zum Autobahnkreuz Walldorf eigentlich durchgehend sechsspurig ausgebaut werden. Darauf sind Sie
überhaupt nicht eingegangen.
({5})
Dieses Problem stellt sich ja auch noch, und nicht nur bei
der A 6; das Gleiche gilt für die A 8, für die A 3 und in Baden-Württemberg sicher auch für die A 7 und die A 5.
({6})
Alles, was Sie hier vorschlagen, ist eigentlich Stückwerk. Gehen Sie in sich, überwinden Sie sich, schließen
Sie Frieden mit sich und stimmen Sie unserem Antrag,
den wir heute vorgelegt haben, zu. Dann können Sie all
die Fehler, die Sie sonst wahrscheinlich machen, vermeiden. In diesem Sinne hoffe ich auf fröhliche Beratungen
im Ausschuss.
Herzlichen Dank.
({7})
Wie ich sehe,
kommt auch der nächste Debattenredner aus der Oberpfalz. Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Wilhelm.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU! Mit dieser Debatte bewegen wir uns
voll im oberpfälzischen Raum. Als unmittelbarer Anlieger
eben dieser A 6 - ich komme bekanntlich aus Amberg freue ich mich natürlich sehr, dass auch Sie jetzt die A 6
als wichtige europäische Ost-West-Straßenverbindung vorrangig ausgebaut wissen wollen.
({0})
- Ich gebe Ihnen doch absolut Recht: Tschechien wird
demnächst der EU beitreten, auf seinem Staatsgebiet ist
diese Straße bis Prag nahezu fertig gestellt, die letzte
Lücke bei Pilsen wird in diesem Jahr geschlossen sein. Es
ist auch richtig, auf deutschem Gebiet sieht es wesentlich
schlechter aus; da klafft noch eine große Lücke zwischen
Amberg-Ost und Lohma.
({1})
Schauen wir uns das Ganze vielleicht doch etwas näher
an: 1989 öffnete die damalige CSSR ihre Grenze nach
Westen, der Reiseverkehr stieg stark an und steigerte sich
in den Folgejahren immer mehr.
({2})
Was geschah? Nichts!
({3})
Wissen Sie, wer damals die Bundesregierung stellte? Ich
glaube, wir alle wissen es. Die Planung war nicht fertig
gestellt, es war kein Pfennig im Bundeshaushalt vorgesehen,
({4})
durch den in Auftragsverwaltung tätigen Freistaat Bayern
kein Baurecht erteilt, weil kein Planfeststellungsbeschluss vorlag.
({5})
Zur Erinnerung: Die Planfeststellungsbeschlüsse für die
Abschnitte zwischen Kreuz Pfreimd und Lohma ergingen
erst 1997 und 1998, für den Abschnitt Amberg-Ost bis
Kreuz Pfreimd erst im Juli 2000.
Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU und der F.D.P., pressiert es Ihnen auf einmal
ganz fürchterlich.
({6})
Wie ein Regierungswechsel Ihnen doch Beine machen
kann!
({7})
Aber ich möchte hier nicht in der Vergangenheit umherschweifen. Das nützt nämlich niemandem, nicht den
Einwohnern der Städte Hirschau und Schnaittenbach, des
Marktes Wernberg sowie der nördlichen Stadtteile von
Amberg entlang den Bundesstraßen 299 und 14, die mehr
als erträglich von Lärm und Emissionen betroffen sind,
und auch nicht den Verkehrsteilnehmern.
({8})
Herr Kollege
Wilhelm, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
({0})
Herr Kollege Wilhelm,
Sie haben ein sehr detailliertes Wissen zum Thema A 6.
({0})
Ist Ihnen aber auch bekannt, dass die CDU/CSU vor zehn
Jahren größte Anstrengungen unternommen hat,
({1})
um die Planfeststellung der A 6 zu erreichen, damit diese
Straße gebaut werden kann? Ist Ihnen bekannt, dass die
damaligen SPD-Abgeordneten aus unserer Region die
CSU für verrückt gehalten haben, da sie eine „Straße ins
Niemandsland“ baue?
Horst Friedrich ({2})
So steht es oft in Arbeitszeugnissen: „Er hat
sich immer sehr bemüht“,
({0})
was üblicherweise heißt: Es ist nichts passiert. - So war
es doch auch.
({1})
- Sie behaupten immer, dass der Landtagsabgeordnete
Nentwig das gesagt habe.
({2})
Er erklärt aber sehr glaubwürdig, das nie getan zu haben.
({3})
Jetzt handelt die neue Bundesregierung.
({4})
Die bereits in die Haushalte 1999 und 2000 eingestellten
Baumittel wurden noch deutlich aufgebessert.
({5})
Aus den Mitteln zur Verringerung der globalen Minderausgabe gab es Verstärkungsmittel für den Abschnitt
Pfreimd/Woppenhof und außerdem Mittel für den Baubeginn auf dem Abschnitt Kaltenbaum/Lohma.
({6})
Noch einen Nachschlag gab es aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm - zusätzlich zu den bereits zur Verfügung
stehenden Mitteln - für die Ortsumgehung Vohenstrauß,
also den Abschnitt Woppenhof/Kaltenbaum.
({7})
Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht.
({8})
Der Bundeskanzler hat bei seinem jüngsten Besuch in der
Oberpfalz die Fertigstellung dieses Abschnittes bis 2005,
spätestens bis 2006 zugesichert. Schneller kann man nun
wirklich nicht bauen.
({9})
Es bleibt noch der Abschnitt Amberg-Ost/Kreuz
Pfreimd. Hier haben betroffene Grundstückseigentümer
mit Unterstützung des Bundes Naturschutz den gerade
erst erlassenen Planfeststellungsbeschluss vor dem
Bayerischen Verwaltungsgerichtshof beklagt. Das ist das
gute Recht der Planbetroffenen. Es ist keine Frage, dass
dies in einem Rechtsstaat akzeptiert werden muss. Daher
wundere ich mich schon sehr, liebe Kollegen von der
CDU/CSU, dass Ihre Repräsentanten vor Ort nichts unterlassen, um diese Kläger unter moralischen Druck zu
setzen, und sie zur Aufgabe der Klage zu bewegen versuchen.
({10})
Seien wir einmal ganz ehrlich: So Unrecht haben die
Kläger ja nun wirklich nicht. Bereits in der Umweltverträglichkeitsprüfung wurde die hier ausgewählte und
planfestgestellte Trassenvariante aus ökologischen Gründen als die schlechtestmögliche eingestuft.
({11})
Bessere, schonendere und auch kostengünstigere Trassenvarianten hätten zur Verfügung gestanden. Hier aber
helfen keine Parlamentsbeschlüsse, keine Haushaltsmittel. Hier müssen wir ganz einfach Respekt vor dem
Rechtsstaat und seinen Gerichten haben und das Urteil abwarten.
({12})
Nun zum Antrag der F.D.P.
({13})
Für eine Privatfinanzierung - wie auch immer man zu ihr
stehen mag; ich bin da sehr skeptisch - eignet sich der einzig noch nicht durchfinanzierte Abschnitt AmbergOst/Kreuz Pfreimd nun wirklich nicht.
({14})
Auf eine private Vorfinanzierung und die damit geschaffenen Schattenhaushalte sollten wir uns nun wirklich
nicht mehr einlassen.
({15})
Und bei einer Mautfinanzierung verlässt jeder, aber auch
wirklich jeder Autofahrer die Autobahn, wenn die Lücke
nur 14 Kilometer lang ist und, wie hier, genügend gute
Umfahrungsmöglichkeiten vorhanden sind.
({16})
Dazu, den Bundesverkehrswegeplan noch in dieser
Wahlperiode zu novellieren, brauchen Sie uns nun wirklich nicht aufzufordern. Das haben wir schon in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben.
({17})
Sie können sich darauf verlassen: Das machen wir auch.
({18})
Eines sollte man in diesem Zusammenhang aber ebenfalls sehen: Die Deutsche Bahn AG stellt im Juni die Interregiolinie 25 mit den beiden Flügelzügen nach Prag
ein.
Ein privater Betreiber, die britische Firma National
Express, wäre bereit, diese Linie im Fernverkehr, jedenfalls in der Relation München-Regensburg-Leipzig, zu
übernehmen,
({19})
wenn der Freistaat Bayern auch den Regionalverkehr und
die ohnedies bisher gezahlten Regionalisierungsmittel auf
diesen Betreiber übertragen würde. Der zuständige Minister heißt, nebenbei bemerkt, Wiesheu. Falls Sie es nicht
wissen, liebe Kollegen von der CSU: Er gehört der CSU
an.
Liebe Kollegen von der CSU, bitte übernehmen Sie
hier die Initiative! Hier ist sie besser aufgehoben!
({20})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU
hat 16 Jahre lang die Verkehrsminister gestellt; sie ist erst
im Jahre 1998 ausgebremst worden. Sie legt jetzt sozusagen einen misslungenen Kavalierstart an der roten Ampel
hin, indem sie in ihrem Antrag feststellt:
Das deutsche Fernstraßennetz ist nicht europatauglich.
({0})
Man sollte diesen Antrag schon allein deswegen ablehnen, weil er vielleicht demagogisch, aber ganz sicher
unsachlich ist und weil er von den Kollegen auf der rechten Seite des Hauses kommt, die Verantwortung für diese
Entwicklung getragen haben.
({1})
Erstens. Wenn man den Antrag näher betrachtet, Kollege Goldmann, dann muss man feststellen, dass sich dieser Antrag mit einem typischen Lückenschluss beschäftigt,
der teuer ist. Richtig ist, dass zuvor zehnmal mehr ausgegeben wurde. Deswegen gibt es gute Argumente, die letzte
Lücke zu schließen. Man muss aber auch sagen, dass damit nicht nur Verkehr verlagert wird. Es wird ganz sicherlich auch zu einem sprunghaften Anstieg des Kfz-Verkehrs - das ist der induzierte Verkehr - kommen, der die
Straßen weiter füllen wird. Deswegen spricht die F.D.P.
nicht ganz zufällig von einem sechsspurigen Ausbau.
Zweitens sollten die Kosten in Relation zum Nutzen
stehen. Man muss feststellen - das ist schon am Anfang
richtig gesagt worden -, dass nicht nur ein paar 100 Millionen DM, sondern ungefähr 1,5 Milliarden DM für den
Schluss einer sehr kleinen Lücke investiert werden. Dieser Betrag entspricht dem Zuschuss für die Bahn aus den
UMTS-Erlösen für ein Jahr. Die F.D.P. will für diese
Strecke noch mehr Geld ausgeben, indem sie privat vorfinanzieren will.
({2})
Drittens sage ich an die Adresse des Kollegen
Goldmann, der hören will, was ich dazu zu sagen habe,
dass dies nach meiner Ansicht ein Beispiel für die Problematik der gesamten Verkehrspolitik und der EUVerkehrspolitik ist. Zum einen wurden nach 1989/90 massiv Mittel ausgegeben, damit in Tschechien die Autobahn
mit Ausnahme der Umfahrung von Pilsen gebaut wird.
Zum anderen gibt es eine Bahnreform in Tschechien,
durch die der Bahnverkehr in Tschechien massenhaft
weggebrochen ist. Daneben wird die „rollende Landstraße“ von Dresden nach Tschechien eingestellt. Da
braucht man sich nicht zu wundern, dass Verkehr massenhaft auf die Straße kommt und sechsspurige Autobahnen hinterher nicht mehr ausreichen.
Der Kollege Strobl, der behauptet hat, dass Verkehr
verlagert werden würde, sollte sich doch einmal das Gesamtergebnis anschauen. Drei bis fünf Lückenschlüsse in
einem Straßennetz können einen erheblichen Sprung für
das gesamte Netz bedeuten. Zehn bis 20 Langsamfahrstellen mehr bei der Bahn können aber eine Abkehr
vom Bahnverkehr bedeuten. Wenn dazu noch zwei Regionalflughäfen mit ein bis zwei Landebahnen kommen,
dann darf man sich über das Ergebnis nicht wundern.
({3})
Wir sollten deshalb feststellen: Mit Blick auf den einzelnen Lückenschluss kann man hinsichtlich der Ziele
von SPD und Grünen - aber nicht hinsichtlich des von der
CDU/CSU vorgebrachten Arguments bezüglich der Beschleunigung - Ja sagen. Mit Blick auf die gesamte Verkehrspolitik muss man jedoch weiterhin Nein sagen.
({4})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rudolf Kraus.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Wilhelm, Sie haben sich heute als ein wohlwollender Befürworter der A 6 präsentiert.
({0})
- Es mag ja sein, dass Sie das jetzt sind. Es ist aber interessant, festzustellen, dass die Tatsache, nicht mehr in der
Opposition zu sein, den Willen, in diesem Bereich etwas
Helmut Wilhelm ({1})
anderes zu sagen als früher, offensichtlich sehr befördert
hat.
({2})
Herr Wilhelm hat sich immer verbal dafür eingesetzt,
dass die A 6 gebaut werden soll. Aber er hat die Hürden,
die genommen werden müssen, um all seinen ökologischen Forderungen gerecht zu werden, so hoch gemacht,
dass ein Bau dieser Autobahn praktisch nicht möglich ist.
({3})
Jetzt redet er einem Provisorium, das möglicherweise sehr
lange dauert, das Wort.
Aber zurück zu Herrn Strobl. Herr Strobl hat heute eine
bescheidene Rede gehalten,
({4})
bescheiden vor allem hinsichtlich der Wünsche, die die
Wähler in dieser Gegend haben. Vor der Wahl war man
der Meinung, dass jetzt alles viel schneller gehen müsste.
Vor der Wahl hat man gesagt: Wenn das Baurecht besteht,
dann ist auch das Geld da. Jetzt ist man bescheiden und
sagt: In sieben Jahren ist es noch früh genug.
({5})
Die Leute sollen doch tun, was sie wollen. Sie sind selber
schuld, wenn sie an diesen Straßen wohnen.
Die Situation hat sich grundlegend verändert. Heute
wird deutlich, dass der politische Wille fehlt, diese Lücke
zu schließen. Das Geld wäre da - die Kollegen haben es
ausgeführt - und das Baurecht ist da. Die peinliche hartnäckige Suche nach Ausreden und Argumenten, warum
etwas nicht geht, missachtet nach meiner Auffassung die
Interessen unserer Region auf das Gröblichste.
Da kommen Argumente wie Eigentumsvorbehalt.
Gott der Gerechte! War es denn nicht immer so, dass Baumaßnahmen dieser Größenordnung begonnen wurden,
auch wenn noch nicht alle Grundstücke im Eigentum des
Bauherrn waren?
({6})
Oder es wird gesagt, dass man Klagen zu beachten hat.
Wie läuft denn das praktisch? Es gibt das Baurecht und die
Gerichte werden erst dann entscheiden, wenn ein Auftrag
- sei er auch noch so klein - erteilt wird und man zu bauen
beginnt. Wenn man will, dass dieses Argument, diese Ausrede erhalten bleibt, wird man nicht den kleinsten Bauauftrag erteilen.
({7})
In der Vergangenheit ist es richtig gelaufen. Da war es
so: Wenn das Baurecht da war, hat man innerhalb eines halben Jahres mit den Vorbereitungen der Bauarbeiten, Abholzarbeiten usw., begonnen. Jetzt hört und sieht man weit
und breit nichts außer diesem Suchen nach Argumenten.
Es gibt viele Gründe, warum jetzt gebaut werden soll.
({8})
- Sie bauen nicht die Strecke, um die es mir vor allem
geht, nämlich zwischen Amberg-Ost und Pfreimd. Man
will es nicht, obwohl es aus volkswirtschaftlichen und
konjunkturellen Gründen sinnvoll wäre. Die Bauwirtschaft wartet auf Aufträge. Der Menschenschutz ist
natürlich das Allererste, aber er wird missachtet.
Es ist blamabel, was passiert. Es ist blamabel, dass sich
tschechische Politiker veranlasst sehen, deutschen Politikern spöttischerweise zu sagen: Sollen wir euch einmal
helfen? Sie, die Tschechen, wollen der großen Bundesrepublik Deutschland helfen. Sie werden innerhalb kürzester Zeit fertig. Auch der Bauabschnitt Pilsen-Süd wird in
absehbarer Zeit, in wenigen Monaten oder spätestens in
einem Jahr oder in anderthalb Jahren, fertig.
1989 wolltet ihr die Autobahn nicht.
({9})
Die Politiker aus der Oberpfalz haben damals nicht gewusst, was Sie wollen. Das betrifft übrigens alle, da mache ich gar keine Ausnahme. Das war ein großer Fehler.
Man hat die Planungen sicher zu spät begonnen. Aber jetzt
sind sie fertig und die Entwicklung ist viel rasanter, als damals vorausgesehen. Es gibt jetzt sehr viel mehr Lastwagen, die durch die Dörfer donnern.
Lassen Sie uns, bitte schön, alles tun, um diese Lücke
zu schließen und anzufangen zu bauen. Für mich ist das,
was Sie vorhaben, nicht „jetzt“. Ich sagte Ihnen vorhin
schon: Wenn in der Vergangenheit das Baurecht vorhanden war, beispielsweise bei den Abschnitten östlich der
Naab, hat man innerhalb eines halben Jahres zu bauen begonnen. Sie wollen in vier Jahren anfangen. Selbst der
Bundeskanzler wäre gnädiger gewesen.
Herr Kollege
Kraus, ich muss Sie auf die Zeit hinweisen.
Sofort. Wenn er die Rede,
die er vorbereitet hatte, wirklich in Weiden gehalten hätte,
wäre das deutlich geworden. Ich habe hier den Text. Übrigens garantiert er den Zeitpunkt nicht, sondern sagt nur,
er möchte sich darum bemühen. Das ist ja schön, aber es
ist halt auch „basta“.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Thomas Strobl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf den
ersten Blick mag es für den einen oder anderen vielleicht
ein wenig unverständlich sein, weshalb der Ausbau einer
Bundesautobahn alleiniger Bestandteil eines Tagesordnungspunktes einer Debatte des Deutschen Bundestages
ist. Aber nachdem der Bundeskanzler dieses Thema jetzt
offensichtlich zur Chefsache gemacht hat, verdient es
wohl auch eine Behandlung hier im Plenum.
Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, die Regierung nimmt den Mund immer dann sehr
voll, wenn die Fernsehkameras eingeschaltet sind, schaut
man aber hinter die Kulissen, schaut man auf die nackten
Zahlen und Fakten, dann sieht es ganz anders aus. So ist
es auch hier. Das vollmundige Versprechen lautet: 2008.
Wir wollen einmal sehen, ob das nicht bedeutet, dass diese
Autobahn auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben
werden soll. Wir wollen sehen, wie es mit der Prioritätensetzung im Bundesverkehrswegeplan steht, etwa was den
Abschnitt zwischen dem Weinsberger Kreuz und dem
Kreuz Feuchtwangen angeht. Und - von den Kollegen ist
schon darauf hingewiesen worden - wir wollen sehen, wie
es mit konkreten Finanzierungsmaßnahmen aussieht, und
wollen keine großen Sprüche.
({0})
Insgesamt ist es um die Verkehrsinvestitionen und um
den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in der Bundesrepublik Deutschland nicht gut bestellt. Die Mittel werden zunehmend zusammengestrichen. Hier sind wir generell anderer Auffassung. Für CDU und CSU ist es eine wichtige
Aufgabe der Politik, der Bevölkerung eine intakte und gut
ausgebaute Infrastruktur bereitzustellen. Das ist kein
Selbstzweck, sondern zentraler Bestandteil einer richtigen und wichtigen Politik zur Förderung auch der Wirtschaft unseres Landes. Deswegen muss die Parole lauten:
Straßenbau statt Autostau.
Aber diesbezüglich macht die Bundesregierung nicht
ihren Job. Sie kürzt vielmehr bei den Verkehrsinvestitionen. Gegenüber dem Bundesverkehrswegeplan 1992
wurde von Rot-Grün eine Senkung der Investitionsquote
von 11,3 Prozent auf 5,9 Prozent im Jahre 2002 vorgenommen. Die Mittel für Baden-Württemberg werden in
dieser Legislaturperiode mehr als halbiert, und dies bei einem Investitionsvolumen von 4 Milliarden DM planfestgestellter Straßen. Mit dem, was der Bund für das Land
Baden-Württemberg im Moment zur Verfügung stellt,
kann dort in der gesamten Legislaturperiode kein einziges
neues Verkehrsinfrastrukturprojekt angefangen werden.
Richtig ist, dass Sie mit dem Anti-Stau-Programm
weitere Mittel für den Straßenbau zur Verfügung stellen.
Auch dies verkaufen Sie vollmundig. In Wahrheit werden
nicht einmal die Kürzungen, die Sie zuvor vorgenommen
haben, kompensiert. Das Anti-Stau-Programm bedeutet
letztlich keine nennenswerte reale Steigerung der Mittel
für die Verkehrsinfrastruktur. Zudem ist zu bedenken,
dass die rot-grüne Bundesregierung mit der Ökosteuer
beim Autofahrer und bei der Bevölkerung gnadenlos abkassiert
({1})
und dass von diesen vielen Milliarden nicht ein Pfennig in
die Infrastruktur fließt. Sie sollten sich gegenüber den Autofahrern eigentlich schämen.
({2})
Vor diesem Hintergrund steht es auch um den Ausbau
der A 6 nicht gut. Dabei ist der Ausbau dieser Bundesautobahn ein außerordentlich wichtiges Projekt. Diese Autobahn stellt eine wichtige West-Ost-Verbindung dar. Die
Verkehrszunahme der vergangenen Jahre ist dramatisch;
es ist eine 30-prozentige Steigerung zu verzeichnen. Insbesondere der Anteil an Lastkraftwagen nimmt dramatisch zu. Allein im Schwerlastverkehr hat die A 6 schon
jetzt in Teilabschnitten das im Bundesverkehrswegeplan
1992 für das Jahr 2010 prognostizierte Aufkommen von
12 000 bis 18 000 LKW pro Tag erreicht. Allein mit der
Fertigstellung des Teilabschnitts Amberg-Waidhaus würden weitere 1 000 LKW täglich hinzukommen.
Zwischen 1985 und 1995 hat sich das Verkehrsaufkommen auf der A6 verdoppelt. Nahezu täglich stehen die
Menschen im Stau und es gibt unzählige Unfälle. Deswegen: Handeln Sie! Straßenbau statt Autostau!
({3})
Schon jetzt führt der extrem hohe Schwerverkehrsanteil besonders werktags zu dramatischen Verkehrsbehinderungen. Das Straßen- und Verkehrsplanungsbüro
Bender und Stahl hat in einer von der Landesregierung
Baden-Württembergs in Auftrag gegebenen Studie errechnet, dass das Gesamtverkehrsaufkommen um weitere
27 Prozent steigen wird. Dabei ist insbesondere der Anteil
des Schwerlastverkehrs am Zuwachs in Höhe von 42 Prozent augenfällig. Damit ist die A 6 die Autobahnstrecke in
Deutschland, die mit Abstand den höchsten Zuwachs des
Verkehrsaufkommens verzeichnen wird. Nehmen Sie
doch wenigstens diese Fakten zur Kenntnis!
Beim Ausbau der A 6 ist ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis zu erwarten. Nach dem im Bundesverkehrswegeplan
1992 festgeschriebenen Verfahren zur Berechnung der
Kosten-Nutzen-Verhältnisse von Verkehrsinfrastrukturprojekten ergibt sich für die A 6, errechnet anhand der aktuellen
Verkehrsdaten, ein Verhältnis von 4,2. Das ist außerordentlich hoch. Zum Vergleich: Nur 23 Prozent der positiv bewerteten Neu- und Ausbauprojekte erreichen ein KostenNutzen-Verhältnis mit einem Wert über 3.
Daraus folgt für uns: Der Ausbau der A 6 ist zukunftsweisend und zwingend notwendig. Zwingend notwendig
ist auch, dass die genannten Abschnitte in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufgenommen werden. Ein Kollege hatte bereits ausgeführt, dass
der Bundesverkehrswegeplan noch in dieser Legislaturperiode überarbeitet wird; das werden wir uns gut merken
und wir werden Sie an Ihren Taten messen.
({4})
Meine Damen und Herren, nach Berechnungen des
Landesamtes für Straßenwesen Baden-Württemberg
würde ein in ökologischer und verkehrstechnischer Hinsicht modernster Ausbau der A 6 vom Weinsberger Kreuz
bis zur Landesgrenze Baden-Württemberg rund 420 Millionen DM kosten. Das ist nicht zu viel für eine so wichtige Infrastrukturmaßnahme. Dies gilt natürlich auch für
den entsprechenden Ausbau auf dem Gebiet Bayerns.
Wenn hier nicht in naher Zukunft konsequente Entscheidungen für den Ausbau gefällt werden, kann von
fließendem Verkehr auf dieser Strecke nicht mehr gesprochen werden. Dann werden sich die Räder an noch mehr
Stunden pro Tag nicht mehr drehen. Dies wäre für
Deutschland als Haupttransitland in Europa, aber auch für
die Wirtschaftskraft in den betroffenen Regionen ein nicht
zu unterschätzender Standortnachteil.
({5})
Achten Sie bitte
auf die Zeit.
Ich komme
zum Schluss: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Sorgen Sie
zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes
für einen zügigen Ausbau der A 6! Beweisen Sie, dass in
dieser Bundesregierung neben engagierten Straßenkämpfern auch engagierte Straßenbauer vertreten sind!
({0})
Nehmen Sie dieses konkrete Projekt zügig in Angriff! Ich
kann Ihnen vonseiten der CDU/CSU versichern, dass Sie,
wenn Sie es denn endlich täten, dafür unseren uneingeschränkten Beifall hätten.
({1})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zum Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „A6 als wichtige eu-
ropäische West-Ost-Straßenverbindung vorrangig fertig-
stellen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck-
sache 14/2910 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. ange-
nommen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5229 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Annette Faße, Ulrike Mehl,
Anke Hartnagel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Gila
Altmann ({1}), Albert Schmidt ({2}),
Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Sicherung der deutschen Nord- und Ostseeküste vor Schiffsunfällen
- Drucksachen 14/2684, 14/3294 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({3})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Ulrike Flach, Birgit Homburger,
Hildebrecht Braun ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Nordseeküste schützen, Küstenwache einrichten, international besser zusammenarbeiten
- Drucksachen 14/548, 14/3414 Berichterstattung:
Abgeordnete Annette Faße
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Annette Faße.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Die Havarie des Holzfrachters „Pallas“ vor der Insel Amrum im Herbst 1998
hat uns allen drastisch den erheblichen Optimierungsbedarf bei der Bekämpfung von Schiffsunfällen vorgeführt.
Die Bundesregierung hat aus dem Unglück unmittelbar
Konsequenzen gezogen
({0})
und bereits Anfang 1999 nach einer ersten Analyse des
Unfallhergangs konkrete Verbesserungen am Notfallkonzept für Nord- und Ostsee realisiert.
({1})
- Herr Goldmann, dazu zählen die Überarbeitung der bestehenden Alarmpläne, die Definition von Entscheidungskriterien für den Notschleppereinsatz,
({2})
die Verlängerung des Chartervertrages bezüglich der
„Oceanic“, das Aufstellen klarer Regeln zur Bestimmung
der Vor-Ort-Einsatzleitung und die Ausrüstung der Mehrzweckschiffe „Mellum“ und „Neuwerk“ mit hochfesten
Kunststoffschleppleinen. Das alles erfolgte schnell und
umgehend.
({3})
Thomas Strobl ({4})
- Herr Goldmann, nun geht es weiter: Darüber hinaus hat
der Bund durch vertragliche Bindung allwettertaugliche
Hubschrauber für Personal- und Materialtransporte für
den Seenoteinsatz bereitgestellt und auch für die entsprechende Personalschulung gesorgt. Außerdem ist im
vergangenen Sommer eine neue gemeinsame Dienstvorschrift „Küstenwache“ in Kraft getreten, die die Zusammenarbeit der zuständigen Stellen bereits weiter konzentriert hat.
Sie mögen ja sagen, dass Ihnen das alles nicht ausreicht.
({5})
Da gebe ich Ihnen Recht. Aber es geht weiter: Noch bevor die Expertenkommission „Havarie Pallas“ ihren Bericht vorgelegt hat, haben wir die Umsetzung internationaler Abkommen in Angriff genommen. Siehe da, was
fanden wir vor? - Nicht umgesetzte Übereinkommen:
Erstens. Das seerechtliche Haftungsübereinkommen,
das schon 1996 von der IMO überarbeitet worden ist, verschwand in Schreibtischschubladen. Wir haben mit Gesetz vom 27. Juni 2000 gemeinsam die Voraussetzung geschaffen. - Dann geht es munter weiter.
Zweitens. Das Internationale Bergungsübereinkommen von 1989 ist bereits 1996 völkerrechtlich in Kraft getreten. Auch hier bestand die gleiche Situation: Dieses internationale Übereinkommen hatte in Deutschland
keinerlei Geltung. - Vollkommen klar ist, dass wir uns
dafür einsetzen, dass diese beiden Übereinkommen sehr
schnell von den anderen Ländern ratifiziert werden.
({6})
Klar und deutlich gehandelt hat die Regierung - und
das nicht allein, sondern gemeinsam mit den Franzosen nach der Havarie des Tankers „Erika“. Die gemeinsame
deutsch-französische Initiative zur Verbesserung der
Sicherheit auf See ist ein ganz markantes Zeichen der
deutsch-französischen Zusammenarbeit. Hier geht es um
mehr Sicherheit nicht nur im Hinblick auf die Tankschifffahrt, sondern auch auf alle Bereiche der Schifffahrt.
Diese Initiative war ein bedeutender Schritt, der neue
Wege bei der Sicherheit des Seeverkehrs und für die europäischen Küsten aufgezeigt hat.
Meine Damen und Herren, die bilaterale und internationale Koordinierung ist äußerst wichtig, wenn wir
an die Schiffssicherheit denken. Die Vereinbarungen, die
getroffen werden müssen - das ist vollkommen klar -,
sind bilateral, aber auch weltweit zu betrachten.
Das alles geschah, bevor die Empfehlungen der Expertenkommission vorlagen. Diese Expertenkommission
hat 30 ganz konkrete Vorschläge erarbeitet. Jetzt geht es
Stück für Stück um die Umsetzung oder auch Nichtumsetzung - so ist das bei einer Kommissionsarbeit - dieser
Vorschläge.
Um diese Vorschläge zu bewerten, wurde eine interministerielle Projektorganisation eingesetzt. Hier arbeiten
alle beteiligten Ressorts, die nachgeordneten Bereiche des
Verkehrsministeriums, die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und die Küstenländer zusammen.
Nach der vorgesehenen Zeitplanung soll die konzeptionelle Phase in den acht Teilprojekten noch vor der Sommerpause abgeschlossen sein. Das alles mag Ihnen zu
lange dauern. Aber ich meine, der Zwischenbericht, der
am 1. November 2000 vorgelegt wurde, weist klar und
deutlich einen Weg auf, den wir nur gemeinsam gehen
können. Ehe wir hier im Hauruckverfahren kurzfristig
handeln, sollten wir uns intensiv mit den Inhalten beschäftigen.
Ein Vorschlag der Kommission betrifft das Havariekommando. Dieses soll
({7})
die bisherigen Einrichtungen ersetzen.
Die Vermeidung von Havarien steht natürlich im Zentrum unseres Sicherheitskonzeptes.
({8})
Daher haben wir die Einführung eines Havariekommandos mit einheitlicher Einsatzstruktur ausdrücklich begrüßt, zumal keine Grundgesetzänderung notwendig ist.
Bund und Küstenländer haben sich bereits auf eine Grobstruktur geeinigt. Im Mittelpunkt steht ein „Maritimes Lagezentrum“, das rund um die Uhr einsatzbereit sein soll.
Beim Vorliegen von komplexen Schadenslagen wird der
Leiter des Havariekommandos alarmiert. Dieser setzt
dann die einheitliche Einsatzleitung in Gang, die mit einem Durchgriffsrecht auf alle erforderlichen Einsatzkräfte des Bundes und der Küstenländer ausgestattet wird.
Dies ist ein großer Fortschritt angesichts der unterschiedlichen Kompetenzen der einzelnen Bundesministerien sowie des Bundes und der betreffenden Länder. Das Grobkonzept steht also. Sie sollten sich erst einmal ein wenig
schlauer machen, ehe Sie die Ansicht vertreten, in dieser
Hinsicht passiere nichts.
({9})
Mit der Reform der Seeunfalluntersuchung nach dem
Vorbild der Flugunfalluntersuchung greift die Bundesregierung einen weiteren Vorschlag auf. Künftig wird der
Schwerpunkt noch stärker auf die Vermeidung von Unfällen gelegt. Erstmals soll die objektive Ursachenfeststellung von der Untersuchung individueller Fehler und
dem Patententzug getrennt werden. Es wird erwartet, dass
die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf zur Reform
umgehend vorlegen wird. Dann sind wir in den Fachausschüssen gefordert.
Der flexible Einsatz der Kräfte kann aber nur sichergestellt werden, wenn auch die Verantwortlichen für das Unfallmanagement und alle Einsatzkräfte umfassend ausgebildet und ständig geschult werden.
({10})
Wir wissen, dass das ein ganz wichtiger Faktor ist, und wir
werden dem auch gerecht. Sie wissen, dass dazu an der
Küste die verschiedensten Übungen stattgefunden haben.
Dazu gehört auch die Frage der Ausrüstung. Auch dies
ist nicht nur national, sondern weltweit zu regeln.
Ein zweiter großer Komplex, der in diesem Jahr zur
Entscheidung ansteht, betrifft die ausreichende Notschleppkapazität und die Kapazität für Feuerlöschschiffe und Schadstoffunfallbekämpfungsschiffe. Auch
hier - das sage ich ganz deutlich - geht es uns nicht darum, ganz schnell zu sagen, was notwendig ist, sondern es
geht uns darum, dass wir inhaltlich korrekt argumentieren. Darum hat das Ministerium Gutachten in Auftrag
gegeben. Die Ergebnisse der Studien sowie einer Computersimulation beim Amt für Seeschifffahrt und Hydrographie in Hamburg müssen abgewartet und ausgewertet
werden.
({11})
So lange wird der Chartervertrag mit der „Oceanic“
verlängert werden. Die „Oceanic“ bleibt weiter vor Ort,
bis entschieden ist, welche Kapazitäten wir genau benötigen.
({12})
Auch die Diskussion um ein so genanntes Sicherheitsschiff, die wir jetzt führen, nehmen wir sehr ernst. Angesichts der Tatsache, dass die „Oceanic“ über 30 Jahre alt
ist, müssen wir uns mit der Frage auseinander setzen, ob
wir ein anderes Schiff benötigen. Es ist noch nicht entschieden, ob das sein muss oder ob unser altes Konzept,
das auf einer Kombination von Aktionen der Deutschen
Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, der durchgehenden Schifffahrt und der vorhandenen Mehrzweckschiffe beruht, ausreicht.
Diese Regierung und wir als Parlament sind sehr wohl
gefordert, die Sicherheit an Nord- und Ostsee ernst zu
nehmen. Wir tun dies. Wir haben nicht nur auf die Vorschläge der Expertenkommission gewartet, sondern bereits gehandelt. Wir werden die vorliegenden 30 Vorschläge erörtern und wir werden das diesbezügliche
Vorgehen im Gesetzgebungsverfahren oder gemeinsam
mit den betroffenen Ländern abstimmen. Wir sind hier
sehr viel konsequenter, als Sie es in der Vergangenheit gewesen sind. Unser gemeinsames Anliegen, denke ich, ist
eindeutig: Die Sicherheit muss erhöht werden. Unfälle an
der Küste können wir uns nicht erlauben.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Börnsen.
Frau
Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Die Änderung von Dienstvorschriften als einzige aus der
„Pallas“-Katastrophe zu ziehende Konsequenz reicht
wirklich nicht aus.
({0})
Die Bundesregierung handelt in Sachen Seesicherheit
nach der Devise: Wer am Ruder ist, reißt selten das Steuer
herum. Dabei wäre ein Kurswechsel das Gebot der
Stunde. Käme es heute in deutschen Gewässern zu einer
Schiffskatastrophe, würde nur Beten helfen. Trotz aller
technischen und organisatorischen Änderungen seit dem
„Pallas“-Desaster 1998 ist bei einem Super-Ölgau derzeit
kein erfolgreicher Katastrophenschutz gewährleistet.
Noch diskutiert man ein Havariekommando,
({1})
noch brütet man über gemeinsamen Einsatzplänen von
Bund und Ländern, noch ist man dabei, Kompetenzen neu
zu bestimmen. Aber nicht Reden, Handeln ist bei Katastrophen angesagt!
({2})
Jeden Tag könnte man vor einer extremen Notlage stehen.
Nicht nur die Frühjahrsstürme stehen bevor.
Der Schiffsverkehr in der Deutschen Bucht nimmt immer mehr zu. Jährlich zählt man in der Nordsee 160 000
Schiffe, 438 täglich. An der Ostseeküste sind es noch
mehr, 227 000 Schiffe jährlich, täglich 621. Havarien sind
nicht ausgeschlossen. Doch diese Feststellungen reichen
für ein Katastrophen-Szenario nicht aus.
Die Schiffseinheiten werden immer größer. Das heißt,
Riesentanker mit mehr als 100 000 Tonnen Öl sind jetzt
auch in der Ostsee täglich unterwegs. Jeden Tag fahren
fünf große Massengutfrachter durch die Enge zwischen
Fehmarn und Lolland. Allein in diesem Seegebiet sind
Jahr für Jahr 50 000 Boote unterwegs. Es gibt weder eine
Radarüberwachung noch eine Verkehrslenkung.
({3})
Es gibt höchstens den Wunsch nach einem Lotsen. Er ist
dort keine Pflicht. Jeden Tag kann es zu einer Gefährdung
von Mensch, Küste und der Umwelt kommen.
({4})
Dies gilt nicht nur für diesen Teil der Ostsee, sondern
genauso für die Nordsee. Seit 1994 haben wir eine Küstenwache, zwei Küstenwachzentren, in Neustadt und in
Cuxhaven. Ausbaupläne dieser begonnenen Konzentration lagen bei Ihrem Regierungsantritt vor. Sie sind von
Ihnen aber nicht aufgegriffen worden, obwohl unsere
Bundestagsfraktion darauf gedrängt hat. Erst nach der
„Pallas“-Havarie begann der damalige Bundesverkehrsminister - wie hieß er noch? - Franz Müntefering,
({5})
die Vorlagen aufzugreifen. Doch statt sie in die Tat umzusetzen, wurden Gutachteraufträge vergeben. Mit dem
Wechsel zu Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt
änderte sich die Arbeitsmethode, jedoch nicht die Handlungsaktivität.
({6})
Es wurde die Grobecker-Kommission eingerichtet,
allerdings mit der falschen politischen Vorgabe, Verbesserungen für ein Notfallkonzept vorzuschlagen, ohne jedoch Grundgesetzänderungen diskutieren zu dürfen.
({7})
In diesem Gremium wurden See- und Sicherheitsfachleute von Beginn an eingeengt. Ihnen blieb nur ein Weg:
Schwachstellen bei Technik und Organisation zu benennen. Deren bürokratische Aufarbeitung wird jetzt als Jahrhundertreform gefeiert.
Experten von der Küste, Kapitäne, Fachleute für Seeverkehr, bezeichnen das jetzt in Rede stehende Havariekommando als gerade noch „ammerseetauglich“, als Beibehaltung eines Flickenteppichs,
({8})
als nicht geeignet für den Katastrophenfall. Es fehlt an einem Bekenntnis und an Taten, um zu einer einheitlichen
nationalen Küstenwache zu kommen. Es fehlt ein Seekatastrophenschutz aus einem Guss, nicht getrennt nach
Bundes- und Landeskompetenzen.
({9})
Wenn Staatsverträge ein solches einheitliches Krisenkonzept nicht sichern, muss es zu einer Grundgesetzänderung kommen.
({10})
Wenn ideologische Scheuklappen ein Bündnis von zivilen
und militärischen Seekatastrophenkräften ausschließen,
ist Regierungshandeln erforderlich. Wenn es zwischen vier
Bundesministerien, die alle für Seeaufgaben zuständig
sind, und fünf Bundesländern mit jeweils drei Ministerien
nicht zu einer Einigung kommt, muss die Bundesregierung
endlich handeln.
({11})
Noch immer gibt es eine geteilte Zuständigkeit: Die
BGS-Boote unterstehen dem Bundesinnenminister, die
Zollboote dem Bundesfinanzminister, Fischereischutz der
Ministerin für Verbraucherschutz und weitere Schiffe
dem Bundesverkehrsminister. Noch immer sind die Boote
der Wasserschutzpolizeien der Länder im Normalfall
scharf getrennt von den gut 100 Schiffen der Bundesarmada. Das ist eine gemischte Raubtiergruppe und nichts
anderes.
({12})
Noch immer ignoriert die politische Leitung den militärischen Seeschutz, die kompetenten Katastrophenfachleute der Bundesmarine. Im Glücksburger Flottenkommando - einige wissen, wovon wir hier sprechen sorgt der Duty Commander dafür, dass seit mehr als
40 Jahren die Marine 24 Stunden am Tag in einem Notoder Katastrophenfall sofort mit Booten, Hubschraubern
und Flugzeugen eingreifen kann.
({13})
Doch diese Erfahrung wird nicht genutzt.
Die Grobecker-Kommission war nicht beim Flottenkommando; sie durfte, konnte oder wollte nicht. Das sind
ideologische Scheuklappen. Die muss man ablegen, wenn
man zu einem Katastrophenschutz aus einem Guss kommen will.
({14})
Für mehr Seesicherheit zu sorgen ist ökonomisch sinnvoll und international geboten. Dänemark, Schweden,
Frankreich und Norwegen praktizieren es, die Vereinigten
Staaten seit über 200 Jahren. Nur wir dümpeln in KleinKlein, vermerken mit Besorgnis, dass wir möglicherweise
Abteilungen reduzieren müssen.
Alles drängt auf einen Kurswechsel. Aber jetzt sperrt
sich leider auch der dritte Bundesverkehrsminister und
das ist das eigentliche Problem. Ein ständiger Wechsel,
drei Bundesminister in 24 Monaten - wie kann man da zu
einer Kontinuität kommen? Jeder Bootsbesitzer weiß,
man kann nur steuern, wenn das Boot in Fahrt ist. Die
Chance zum Kurswechsel hat der neue Bundesverkehrsminister Bodewig, doch er paddelt nur. Er sorgt
nicht dafür, dass es zu einer Kursänderung kommt.
({15})
Es bleibt Aufgabe des gesamten Parlaments, darauf zu
dringen, dass wir endlich zu einem einheitlichen Katastrophenschutz auf See kommen. Es ist unsere Aufgabe,
das umzusetzen, was der Schleswig-Holsteinische Landtag unter Einbindung von Sozialdemokraten, Christdemokraten, Bündnisgrünen und Freien Demokraten vor
knapp zwei Jahren beschlossen hat. Dort wurde eine
Grundgesetzänderung, eine einheitliche Lösung beim
Seekatastrophenschutz gefordert. Diese Aufforderung des
Schleswig-Holsteinischen Landtags ist nicht aufgegriffen
worden.
({16})
Sie war wegweisend und sollte nun endlich vom neuen
Bundesverkehrsminister umgesetzt werden.
({17})
Der Bundesrechnungshof hat für eine solche Einheit
plädiert. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages und jetzt auch die EU-Kommission haben ein einheitliches nationales Konzept in allen Ländern gefordert.
({18})
Das muss jetzt sein. Dafür können wir gemeinsam in diesem Parlament sorgen, wenn Sie unserer Initiative zustimmen. Wir brauchen eine Leitstelle für SeesiWolfgang Börnsen ({19})
cherheit aus einem Guss und nicht Kompetenzen nebeneinander. Das muss das Ziel sein. Wir sind aufgerufen, für diesen gemeinsamen Seekatastrophenschutz zu
sorgen.
({20})
Herr Kollege,
denken Sie bitte an die Redezeit!
Das
jüngste Beispiel, das Tankerunglück vor den Galapagosinseln, sollte uns allen zu denken geben und uns veranlassen, wirklich zu handeln und darüber nicht immer nur
zu reden.
Danke schön.
({0})
Ich erteile jetzt
das Wort der Kollegin Gila Altmann in ihrer Funktion als
Abgeordnete.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Börnsen,
ich kann nur sagen: Gut gebrüllt, Löwe! Hat man Sie endlich von der Kette gelassen! In den Zeiten, als wir noch in
der Opposition waren, habe ich immer ein bisschen Sympathie für Sie gehabt;
({0})
denn Sie waren damals der einsame Rufer in der Wüste
und hatten ein halbwegs offenes Ohr. Aber ansonsten waren Sie ziemlich ignorant.
Sie haben die Galapagosinseln angeführt. Welche Konsequenzen hat denn die damalige Regierung aus dem Unglück der „Amoco Cadiz“ oder der „Exxon Valdez“ gezogen? Hier herrschte bei Ihnen Schweigen im Walde.
({1})
- Das wollen wir besser machen. Herr Börnsen, Ihre
Wünsche werden erfüllt. Sie rennen bei uns offene Türen
ein.
({2})
Aber was man auch einmal klarstellen muss: Ihre Regierung hat den Bereich Sicherheit links liegen gelassen.
Das Gewürge um den Sicherheitsschlepper „Oceanic“
füllt inzwischen ganze Aktenordner.
({3})
Aber auch für die Ostsee gab es weder ein Sicherheitskonzept noch Daten über Verkehrsaufkommen und Gefährdungspotenziale.
({4})
Die internationalen Übereinkommen, die Frau Faße angesprochen hat, wurden einfach ignoriert und vergessen. In
den letzten zwei Jahren, Herr Goldmann, haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen Liegengelassenes mit einer Reihe von Maßnahmen aufgeholt.
({5})
- Diese Maßnahmen hat Frau Faße sehr ausführlich erklärt.
({6})
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Nein, ich gestatte sie nicht.
({0})
Nach der Ölkatastrophe durch die „Erika“ vor der französischen Küste hat endlich auch die EU-Kommission
reagiert.
({1})
- Wir haben schon nach dem Unglück der „Pallas“ reagiert, das genau in den Regierungswechsel gefallen ist.
Die Hafenstaatkontrolle soll verschärft werden.
({2})
Es soll strengere Bestimmungen für die Klassifikationsgesellschaften geben. Auch die „Großvaterregelung“ soll
verschärft werden.
({3})
Weltweit gibt es zurzeit 6 400 Tanker. Davon sind
40 Prozent älter als 20 Jahre. 80 Prozent aller Tanker haben keine Doppelhülle.
({4})
Je nach Tonnage sollen diese „Eierschalentanker“ zwischen 2005 und 2015 endlich ausgemustert werden. Sollte
dieser Vorschlag auf der IMO-Konferenz im April dieses
Jahres nicht zufriedenstellend angenommen werden, will
die EU diese Regelung im Alleingang beschließen.
Das heißt, 80 Prozent aller Tanker müssen bis 2015
ausgemustert werden. Das wird noch einen erheblichen
Sturm im Wasserglas verursachen. Die Reeder werden
Wolfgang Börnsen ({5})
sich natürlich dagegen sperren; denn das Ganze hat auch
eine wirtschaftliche Seite. Ich bin gespannt, wie Sie sich
in dieser Situation verhalten und auf wessen Seite Sie sich
schlagen werden.
({6})
Das zweite Maßnahmenpaket der EU - Erika II - soll
strengere Kontrollen des Seeverkehrs mit der Erweite-
rung der Melderichtlinien auf alle Schiffe statt wie bisher
nur für Gefahrguttransporte durchsetzen. Auch geht es um
die Ausrüstung von genügend Häfen als Schutzhäfen. Bei
der „Erika“ hätte das Einlaufen in einen Schutzhafen,
wenn es ihn denn gegeben hätte, mit großer Wahrschein-
lichkeit das Auseinanderbrechen verhindert.
Aber wir haben uns noch mehr vorgenommen. In der
Deutschen Bucht gibt es pro Jahr 160 000 Schiffsbewe-
gungen. Unfälle in diesem Seegebiet bedrohen das ein-
zigartige Wattenmeer. Nach einem Ölunfall - das ist uns
allen klar - wäre eine Regeneration ausgeschlossen. Diese
Landschaft wäre dann vollständig zerstört. Deshalb wol-
len wir das Wattenmeer als besonders sensibles Seegebiet
im Sinne der IMO-Regelung ausweisen. Außerdem müs-
sen wir die Einrichtung küstenferner Schifffahrtswege
prüfen. Das wird genauso wie die Zusammenarbeit und
Koordination mit den übrigen Anliegerstaaten im Falle ei-
nes Schiffsunfalls ein Thema auf der 9. Trilateralen
Wattenmeerkonferenz im Oktober in Esbjerg sein. Auch
das hat uns die „Pallas“ gelehrt.
Bei der Ostsee gibt es weiteren Handlungsbedarf. Der
massive Neu- und Ausbau von Ölverladeterminals in
den NUS-Staaten, also den Nachfolgestaaten der UdSSR,
führte in den letzten Jahren zu einem wachsenden Tan-
kerverkehr zu und von diesen Häfen. In der Ostsee - ich
hoffe, Herr Börnsen, Sie stimmen darin mit mir überein -
gibt es zurzeit jährlich 227 000 Schiffsbewegungen, also
mehr als in der Deutschen Bucht. Hinzu kommt der jähr-
lich anwachsende Querverkehr durch Fähren.
Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ja und?)
In den letzten zwei Jahren gab es aber auch in der Kadetrinne - das ist das nur wenige hundert Meter breite Nadelöhr zwischen der Insel Darß und der dänischen Insel
Falster - zehn Beinahe-Katastrophen. Die letzte war vor
knapp zwei Wochen. Dabei lief ein Massengutfrachter auf
Grund.
({7})
- Herr Goldmann, Sie sind einfach nur ignorant. Das steht
Ihnen als Politiker nicht besonders gut, muss ich sagen.
Ein Schiffsunfall würde sich dort nicht nur auf den
Tourismus auswirken, sondern wäre für das EU-Vogelschutzgebiet „Vorpommersche Boddenlandschaft“ ein
vergleichbares ökologisches Desaster wie im sensiblen
Wattenmeer. Deshalb, Herr Goldmann, sind wir dabei,
vergleichbare Sicherheitskonzepte für die Nordsee und
die Ostsee aufzustellen.
({8})
- Sie hatten 29 Jahre Zeit; wir arbeiten seit zwei Jahren
auf Hochtouren.
({9})
Es geht jedoch nicht nur um Tanker, sondern um alle
Schiffe. Zur Erinnerung: Die „Pallas“ war ein Holzfrachter. Deshalb müssen unbedingt alle Schiffstypen in Maßnahmen zur Verbesserung der Schiffsicherheit einbezogen werden. Auch geht es nicht nur um Katastrophen.
({10})
Ich rede auch von Verschmutzungen betrieblicher Art, wie
sie durch das Reinigen von Tanks und das Ablassen von
Ladungsresten entstehen. Dadurch gelangt jährlich mehr
Öl ins Meer als durch Havarien. Hier wird es zukünftig
um andere Antriebsstoffe und -techniken gehen müssen,
die solche Aktivitäten überflüssig machen.
Zum Schluss möchte ich noch auf einen Punkt hinweisen: Die meisten Schiffsunfälle sind auf menschliches
Versagen zurückzuführen. Maschinen können auch in Zukunft die Arbeit von Menschen nur unterstützen, nicht
aber vollständig übernehmen. Deshalb wollen wir eine
bessere Qualifizierung der Seeleute vorantreiben und
vorhandenes Know-how sichern.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir können - das
gilt auch für eine rot-grüne Regierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen - Schiffsunfälle künftig nicht
verhindern. Aber wir können die Wahrscheinlichkeit eines
Unfalls minimieren und Konzepte für den Notfall erarbeiten. Wie viel hier international, aber auch national
noch zu tun ist, haben die Katastrophen vor der französischen Küste und vor den Galapagosinseln sowie der Untergang eines Tankers vor Taiwan gezeigt.
Letztendlich geht es aber auch um eine neue Energiepolitik, wie sie die Bundesregierung eingeleitet hat, die
vom Öl unabhängig macht
({11})
und viele dieser Transporte überflüssig machen könnte.
Vielen Dank.
({12})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Koppelin das Wort.
Ich hätte natürlich gern der
Kollegin Altmann eine Frage gestellt. Da sie sie nicht zuGila Altmann ({0})
gelassen hat, muss ich zum Mittel der Kurzintervention
greifen.
Die Kollegin Altmann hat selbstverständlich das
Recht, als Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu
sprechen. Aber die Kollegin Altmann ist auch Parlamentarische Staatssekretärin im Umweltministerium. Das
Umweltministerium ist gerade bei dieser Frage entscheidend tangiert. Nach unserer Auffassung haben bei diesem
Thema in der Vergangenheit - ich nenne nur das Stichwort
„Pallas“ - mehrere Umweltministerien entscheidend versagt; das gilt auch für das Bundesumweltministerium. Es
ist unsere Aufgabe als Abgeordnete, egal ob wir auf der
Regierungsseite oder in der Opposition sind, die Regierung zu kontrollieren. Wir haben neuerdings allerdings
den Zustand, dass die Abgeordnete Altmann die Parlamentarische Staatssekretärin Altmann kontrolliert. Das ist
zwar zulässig, widerspricht aber eindeutig meinem Parlamentsverständnis.
({1})
Zur Erwiderung
gebe ich der Kollegin Altmann das Wort.
Herr Kollege Koppelin, Sie werden es nicht glauben; aber ich bin Ihnen für die Möglichkeit sehr dankbar,
hier eines klarstellen zu können: Sie verbreiten das Märchen von der Federführung, obwohl Sie es eigentlich besser wissen müssten. Sie wissen, dass das Umweltministerium in diesem Bereich nicht die Federführung hat,
sondern vom Verkehrsministerium beteiligt wird. Sie wissen auch - ich glaube, das stört Sie am meisten -, dass gerade ich in meiner Funktion als Verkehrspolitikerin in der
letzten Legislaturperiode den Bereich Schiffssicherheit
sehr intensiv bearbeitet habe und Ihnen in Punkt und
Komma immer vorgeführt habe, wo die Schwächen Ihrer
Politik gewesen sind. Gerade das, was Herrn Börnsen
heute angemahnt hat, könnte aus den Reden von Frau
Faße und mir zusammengeschrieben worden sein. Ihren
Scherbenhaufen und Ihre Altlasten im Bereich des Küstenschutzes, die wir beim Regierungswechsel übernommen haben, haben wir zunächst einmal zu beseitigen versucht, und das in einer Situation, in der wir auch den
Unfall der „Pallas“ zu regeln hatten.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Michael Goldmann.
({0})
Sie meinen, ich
bin schon erschöpft. Frau Kollegin Faße, Sie werden sich
wundern, ich bin noch lange nicht erschöpft.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am 25. Oktober 1998
({0})
- du wolltest mich nicht unterbrechen, hast du mir vorhin
versprochen - geriet der Holzfrachter „Pallas“ in dänischen Gewässern in Seenot;
({1})
es gab ein tagelanges Kompetenzwirrwarr; vor Amrum
kam es zu einer bösen Strandung mit großen Umweltschäden. Wir alle waren uns darin einig: Schnell, ganz
schnell sollte möglichst viel getan werden.
({2})
Heute, über zwei Jahre später, liebe Kollegin Faße,
müssen wir gemeinsam feststellen: Auf nationaler Ebene
hat sich im Kern nichts getan.
({3})
Liebe Kollegin Faße, Sie müssen einmal mit Ihrer Kollegin Janz sprechen. Sie kennt sicherlich den Bericht, der
im „Weser-Kurier“ erschienen ist. Er ist mit der Überschrift „Küstenschutz in der Flaute“ überschrieben. Weiter heißt es: „Auch über zwei Jahre nach Pallas-Havarie
fehlt Leitstelle für den Katastrophenfall“. Der Kommentar ist mit „Gefährliche Dümpelei“ überschrieben. Nach
dem Bericht reagierte Ihre Kollegin Janz mit Kopfschütteln und Entsetzen auf die Ankündigung von Gert-Jürgen
Scholz von der Projektgruppe „Maritime Notfallvorsorge“ des Bodewig-Ministeriums, erst im Frühjahr mit
Lösungen zu kommen.
({4})
Wer hat denn nun Recht? Ich denke, in diesem Falle habe
ich Recht.
({5})
Ich will noch eines nachlegen: Wenn Sie erklären, es
habe sich etwas getan, muss ich Ihnen sagen: Am 7. Dezember 2000 hat der Kollege Koppelin zusammen mit anderen Abgeordneten der F.D.P.-Fraktion eine Kleine Anfrage gestellt. Was ist aus den 30 Empfehlungen
geworden? Sie haben vorhin gesagt, daraus sei etwas Tolles geworden. Bis in der Antwort das erwähnt wird, was
Sie vorhin ansprachen, muss man immerhin bis Punkt 6
lesen. Ich will Ihnen das einmal vorlesen:
Zu nennen sind hier die Ausrüstung der Mehrzweckschiffe der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des
Bundes „Mellum“ und „Neuwerk“ mit
- man höre und staune hochfesten Kunststoff-Schleppleinen und zusätzlichen Draggen für die Aufnahme eigens ausgebrachter Anker.
Das ist passiert.
Für die übrigen Empfehlungen, die gegeben werden,
lauten die Antworten: „Mitte 2001“, „Anfang 2001“, „Wir
prüfen“, „Wir überprüfen“, „Wir sprechen miteinander“.
Es ist überhaupt nichts passiert, was dazu beitragen
könnte, den Küstenschutz zu verbessern.
({6})
Auf nationaler Ebene ist nichts passiert, was die Seeschifffahrt betrifft.
Ich will Ihnen noch etwas sagen, da Sie die IMO so
sehr herausheben. Immerhin haben wir, liebe Kollegin
Faße - Sie sind auch Mitglied der Binnenschifffahrtsgruppe; Sie sollten einmal zuhören -, im Dezember 2000
eine dicke Überschrift „Durchbruch bei weltweitem
neuen Schiffssicherheitssystem“ in einem Bericht der
IMO lesen können. Das war auch wichtig. Nachdem die
„Erika“ koppheister gegangen war und nachdem ein italienischer Chemietanker koppheister gegangen war, ist auf
europäischer Ebene etwas passiert; aber national ist nichts
passiert.
Die Dinge, die Sie hier ansprechen - Sie wissen das
auch -, sind in dem Bericht erwähnt. Es heißt dort, sogar
dick gedruckt, dass ab 2004 - man höre und staune - die
bisher nur auf nationaler Ebene angewandten Regeln
weltweit gelten sollen, die sich aber nur darauf beziehen,
dass eine Blackbox bei den Schiffen eingerichtet werden
soll, um Kollisionen zu vermeiden. Das ist die internationale Antwort, die richtig und notwendig ist; aber
im nationalen Bereich hat sich überhaupt nichts getan. In
den Bereichen, in denen Sie national tätig sind - wenn es
zum Beispiel um die Auflösung der Seeämter geht -, beschreiten Sie einen Weg, den jeder Fachmann als völlig
falsch bezeichnet.
Man kann kurz und gut ein relativ simples Fazit ziehen:
Nach den Anträgen, die im Oktober 1998 auf den Weg gebracht worden sind - wir waren ja damals ziemlich
schnell -, ist eindeutig nichts getan worden; es ist nichts
zum Schutz der Küste getan worden und es ist nichts getan worden, um die im Grunde genommen wunderbare
Ressource Meer für unser Land zu nutzen. Das muss man
Ihnen ganz massiv vorwerfen.
({7})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Janz?
Gerne.
Herr Kollege Goldmann, da Sie eben
einen Artikel des „Weser-Kurier“ benutzt und behauptet
haben, das sei mein Zitat: Würden Sie mir bitte bestätigen,
dass das, was Sie eben vorgelesen haben, die Rhetorik des
Journalisten war und nicht meine? Das sind nicht meine
Worte. Sie müssen, wenn Sie schon zitieren, bitte auch
richtig zitieren
({0})
und sollten hier nicht mit falschen Behauptungen eine
Differenz innerhalb der SPD-Fraktion unterstellen.
Liebe Kollegin,
ich kann den Artikel relativ gut lesen. Ich habe ihn grün
angestrichen,
({0})
damit ich ihn hier gut vorlesen kann. Da heißt es:
Und so löste die Ankündigung von Gert-Jürgen
Scholz von der Projektgruppe Maritime Notfallvorsorge des Bodewig-Ministeriums, erst im Frühjahr
einen Konzept-Entwurf vorzulegen, bei den Abgeordneten der so genannten SPD-Küstengang Kopfschütteln aus. Deren Sprecherin Ilse Janz sowie
Ulrich Gudat vom Kieler Innenministerium hielten
Scholz vor, dass es „politischer Wille“ sei, die nötigen Konsequenzen aus der Pallas-Havarie zu ziehen
und dass man das auch schnell könne, wenn man „es
wirklich will“.
({1})
Im Januar 2001 stellen Sie fest, dass das Ministerium
es ganz offensichtlich nicht will, weil es ja wohl ganz offensichtlich nicht schnell und qualifiziert auf das reagiert
hat, was hier in Anträgen aller Fraktionen im Deutschen
Bundestag zum Ausdruck gebracht wurde.
({2})
Herr Kollege,
gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen
Koppelin?
Ich gestatte auch
eine Zwischenfrage meines Kollegen Koppelin.
Lieber Herr Kollege
Goldmann, wie bewerten Sie es denn nach dieser Frage,
dass bei diesem wichtigen Thema die norddeutschen Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen,
Bremen, die ja alle SPD-regiert sind, heute nicht auf der
Bundesratsbank vertreten sind und das Wort ergreifen?
({0})
Das ist etwas, was
mich im Kern trifft - bei aller Diskussion um bestimmte
Dinge und auch der einen oder anderen hektischen Auseinandersetzung. Es ist wirklich so, liebe Kollegen von der
Küste: In Deutschland gibt es kein Bewusstsein für die
Küste, auch bei vielen Vertretern hier im Bundestag nicht.
({0})
- Liebe Kollegin, wir nutzen die Chancen des Meeres
nicht nur im Hinblick auf Verkehr, sondern auch im HinHans-Michael Goldmann
blick auf Meerestechnologie, im Hinblick auf Gesundheit
aus und mit dem Meer, im Hinblick auf die Ernährungsbasis Meer, im Hinblick auf die globalen Entwicklungen,
die wir vorhaben, völlig unzureichend. Sie wissen das
ganz genau. Wir sollten uns in solchen Fragen, wie sie
heute hier zur Beantwortung anstehen, schlicht und ergreifend einig sein. Sie sollten ganz simpel sagen: Wir
sind maßlos enttäuscht vom Verkehrsminister und vom
Ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.
Herr Goldmann,
Sie müssen dem Kollegen Koppelin antworten und nicht
der Kollegin Janz. Sonst ist es einfach nur eine Verlängerung Ihrer Redezeit.
Ich will ganz persönlich noch ein Wort zu Frau Altmann sagen.
({0})
- Ich habe doch mitgekriegt, dass er noch steht.
Frau Altmann, ich habe Sie als Kämpferin erlebt für
Dinge, die ich nicht richtig fand. Aber wenn Sie hier anderen vorwerfen, man habe sie sozusagen an die Kette genommen, dann kann ich nur sagen: Sie sind an der Kette
und haben auch noch einen Maulkorb.
Das ist schon wirklich schlimm. Damals sind Sie in
Schleswig-Holstein auf der „Pallas“ herumgehüpft.
({1})
Allen haben Sie signalisiert, was Sie tun wollten und was
Sie tun könnten.
({2})
Ich kann nur sagen: Lesen Sie sich bitte noch einmal die
Empfehlungen durch und vergleichen Sie sie mit dem,
was Sie erreicht haben! Dann können Sie in dieser Frage
nur noch in Schutt und Asche gehen.
({3})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Faße das Wort.
Sehr geehrter Herr Goldmann!
Die Vorwürfe, die Sie hier erhoben haben - Sie haben
mich ja auch zitiert und gesagt, dass ich das alles nicht
richtig sehe -, weise ich ganz energisch zurück.
({0})
In Oppositionszeiten haben wir, die Grünen und die SPD,
hier ganz einsam und verlassen für jede einzelne Position
gekämpft, die mit Schiffssicherheit zu tun hatte,
({1})
vom Lotsenwesen bis zur Zusammenarbeit an der Küste.
Das war ein ganz mühsamer Kampf und in der Regel
haben wir keine Mehrheit gefunden.
Glücklicherweise hatte diese Regierung das Sagen, als
das bereits erwähnte Unglück geschah. Durch diesen Fall
wurde klar, dass es in vielen einzelnen Bereichen große
Mängel gab. Das ist nicht zu leugnen. Diese Mängel haben nicht wir, sondern Sie zu verantworten; denn sie stammen aus Ihrer Regierungszeit.
({2})
Wir haben sehr schnell ganz deutlich erkannt, dass
diese Mängel nicht behoben werden können, wenn wir
nur eine Expertenkommission einsetzen; vielmehr
mussten im Vorfeld viele Punkte abgearbeitet werden.
Heute mögen Sie das als „Minipunkte“ bezeichnen und
als nicht ausreichend empfinden. Nur: Sie haben in der
Vergangenheit noch nicht einmal diese kleinen Probleme
gelöst.
Der Schritt, eine Expertenkommission einzusetzen,
war richtig. Richtig war es auch, anschließend zu überprüfen, ob man tatsächlich alle 30 Vorschläge umsetzen
sollte. Vieles davon ist bereits - auch national - realisiert.
Sie wissen genauso gut wie wir alle hier, dass die Seeschifffahrt ein internationales Geschäft ist. Das heißt: Was
wir national machen können, haben wir en gros erledigt.
Ich habe auch darauf hingewiesen, was noch in diesem
Jahr abzuschließen ist. Das, was EU-weit thematisiert
worden ist, ist während der deutschen und der französischen Ratspräsidentschaft hervorragend bewältigt worden. Wir haben in diesem Bereich in Europa einen Verbündeten gefunden. Außerdem haben wir die internationalen Regeln eindeutig ein ganzes Stück vorangebracht.
Wenn Sie meinen, dass das alles nichts war, dann halte
ich Ihnen entgegen: Für diese zwei Jahre war das sehr
viel; denn all das haben Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit nicht geschafft.
Zur Erwiderung
hat der Abgeordnete Hans-Michael Goldmann das Wort.
Liebe Kollegin
Faße, wir haben Gemeinsamkeiten: Wir arbeiten nicht nur
in der Arbeitsgruppe „Binnenschifffahrt“ zusammen, sondern kommen auch beide aus der Gegend, über die wir
hier sprechen: von der Küste. Deswegen sollten wir gemeinsam darüber traurig sein, dass das, was Sie eben gesagt haben, schlicht und ergreifend nicht stimmt. In der
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage
können Sie nachlesen, was bei den 30 Empfehlungen bis
jetzt herausgekommen ist.
Wenn Sie das gelesen haben, dann werden Sie zum
Beispiel zu dem Ergebnis kommen: Es gibt immer noch
kein Havariekommando - obwohl dies eine rein nationale Aufgabe wäre. Wir waren uns hier einig, dass wir
diese nationale Aufgabe in eine internationale einbinden
wollen. Aber wir brauchen doch erst einmal eine nationale
Lösung - Sie wissen, dass die Engländer so etwas schon
haben -, um internationale Koordination vornehmen zu
können. Wir müssen erst einmal Aufbauarbeit leisten.
({0})
Es gibt auch immer noch keine einheitliche Einsatzstruktur mit Weisungsrecht - auch dies eine rein nationale
Aufgabe. Das hat nichts mit der IMO zu tun, sondern
muss hier von uns geleistet werden.
({1})
- Das gibt es nicht.
Darüber hinaus gibt es keine Seewache; das wissen
auch Sie. Es gibt für die mit dem Teilprojekt „Technik,
Meldewesen, Ausbildung“ verbundenen Probleme keine
Lösung; Technik, Meldewesen, Ausbildung - alles nationale Dinge! Es gibt für die mit dem Teilprojekt „Umwelt“ - das ist eigentlich der dramatischste Bereich - verbundenen Probleme ebenfalls keine Lösungen. Vielleicht
ist die schwierige Koordination der Ministerien bis jetzt
einige Male sozusagen gekreißt; aber außer einem Wasserfloh ist dabei nun wirklich nichts herausgekommen.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Ereignisse
um die „Pallas“ bedeuteten ein schweres Unglück, eine
Katastrophe: Tausende von getöteten Vögeln, Umweltverschmutzung. Vor allem haben wir feststellen können,
dass die Konzepte für die Sicherheit an der Küste unzureichend sind. Ich glaube, dass vor diesem Hintergrund jedes Hickhack über die Frage, wer verantwortlich war, wer
damals schlecht gearbeitet hat und wer heute schlecht arbeitet, kein richtiger Ansatzpunkt ist. Trotzdem muss man
feststellen, dass wir auch in der heutigen Debatte kein
qualitativ neues Sicherheitskonzept erkennen können.
({0})
Das „Pallas“-Unglück hat massive Sicherheitsrisiken
an der Nordseeküste und auch an der Ostseeküste deutlich
gemacht. Die „Pallas“ selber war ein relativ kleines Schiff
mit einer relativ ungefährlichen Ladung. Dennoch gab es
massive Schäden und der Schutz war völlig unzureichend.
Vor allem aber taten sich fatale Kostendimensionen und
groteske Versicherungsrelationen auf. Die Kosten des Unglücks werden heute auf 25 Millionen DM beziffert, die
Versicherung der „Pallas“ zahlte gerade einmal 3,5 Millionen DM. Solch eine Unterversicherung wäre beim KfzVerkehr gar nicht vorstellbar.
Dabei handelt es sich noch um ein relativ kleines Unglück. Im Bericht der Expertenkommission liest man auf
Seite 62, dass Unglücke mit Schäden bis zu 250 Millionen DM vorstellbar sind. Danach kommt der Satz, dass
dabei zwar massenhaft der Tourismus an der gesamten
Küste kaputtgehen würde, erstaunlicherweise heißt es
aber dann:
Es kommt zu keiner Zeit zu einem totalen Nachfrageeinbruch, da ein erheblicher Teil der Nachfragenden
({1}) nicht flexibel genug
reagieren kann und außerdem Neugier und Sensationslust ein nicht zu unterschätzendes Besuchsmotiv
sind.
Das heißt, auf absehbare massenhafte Schäden wird mit
etwas Zynismus und Ironie reagiert.
Meine Erkenntnis lautet, dass die Sicherheitsmaßnahmen insgesamt unzureichend sind, auch die jetzt vorgeschlagenen. Zwar könnte eine zentrale Küsten- und
Meeresüberwachungsstelle einen Fortschritt darstellen,
aber weiterführende Maßnahmen müssen diskutiert werden. Die Antwort der Kommission auf den Vorschlag des
NABU, dass küstenfernere Reise- und Transportrouten
notwendig wären, lautete lapidar, dass das Umwege bedeuten, wirtschaftliche Schwierigkeiten und Mehrkosten
mit sich bringen würde, ohne dabei zu berücksichtigen,
was das für die Umwelt bedeuten würde.
Vor allem aber ist festzustellen, dass es an der Küste
weiterhin völlig unzureichende Schlepperkapazitäten
gibt. Das galt sowohl während der Amtszeit der alten Regierung wie auch jetzt unter der neuen. Ich erinnere nur an
die ganze Dramatik um die „Oceanic“. In diesem Zusammenhang ist ein Brief der Stadt Norderney interessant.
Dort steht Folgendes:
Die Stadt Norderney, die Gemeinschaft der Ostfriesischen Inseln ... fordern seit geraumer Zeit, dass im
Bereich der Deutschen Bucht dauerhaft ausreichende Hochseeschlepperkapazität stationiert wird
... So diskutiert man über das Einsatzvermögen der
bundeseigenen Mehrzweckschiffe „Mellum“ und
„Neuwerk“, obwohl in einem Gutachten des Bundesministers des Verkehrs aus dem Jahre 1996 bereits beschrieben steht, dass es sich dabei wohl nicht
um die günstigste Schlepperkonfiguration handelt.
({2})
- Vom Januar 2000, Herr Goldmann.
Längst wurde - das hat Frau Faße angeschnitten - darüber diskutiert, ob neue Schiffe entwickelt werden müssten, zum Beispiel das so genannte „Emergency Tower
Vessel“, also ein Sicherheitsschlepper, und dafür entsprechende Mittel bereitgestellt werden müssten.
Daraus ergibt sich auch, dass die gesamte Debatte, die
hier stattfindet, zwar einen Anfang darstellen kann und
man dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen
auch zustimmen kann, aber dieser zugleich als Ausgangspunkt für weitere Arbeit in diese Richtung dienen müsste.
Zum Schluss möchte ich mich, Herr Goldmann, gerne
an Sie wenden, an die Partei der Liberalisierer: Man kann
feststellen, dass es bis zum Jahre 1963 weltweit keine
spektakulären Unfälle zum Beispiel mit Tankern und riesigen Umweltschäden gab, es aber seit dem Jahr 1970 ein
halbes Hundert solcher Unfälle gab und dies vor allem
eine Folge der Liberalisierung der Transportwege war, die
zu Dumpingpreisen für Transporte auf den Weltmeeren
führte.
({3})
Auch Ihre Partei und die CDU/CSU sind also mitverantwortlich dafür, dass diese Entwicklung eingetreten ist.
({4})
- Aber sie unterstützt sie.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Anke Hartnagel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin, ehrlich gesagt, über die Heftigkeit der Beiträge zu dieser Debatte etwas überrascht. Dies
galt insbesondere für Ihren Beitrag, lieber Kollege
Börnsen. Es findet doch im Moment überhaupt kein
Wahlkampf statt. Ich denke vor allen Dingen auch, dass
sich die Problematik von Schiffsunfällen in Nord- und
Ostsee nicht für Polemik eignet.
({0})
- Aber auch nicht für falsche Darstellungen, Herr Kollege
Goldmann.
Ich gehe jetzt vor allen Dingen auf das ein, was Sie zum
Havariekommando gesagt haben. Es gibt eine grundsätzliche Übereinstimmung; die Bundesregierung ist darum bemüht, für alle Probleme, die daran festzumachen
sind, eine Lösung zu finden. Sie wissen aber ganz genau,
({1})
- lassen Sie mich jetzt bitte einmal ausreden -, wie
schwierig es ist, alle Einzelheiten unter einen Hut zu bringen.
({2})
- Doch, es ist schwierig. Das wissen Sie auch ganz genau,
Herr Goldmann.
({3})
Wir sind auf dem besten Wege. Vermutlich im Frühjahr
wird die Entscheidung kommen und wird das umgesetzt
werden.
Jetzt muss ich noch etwas dazu sagen, wie Sie das Problem dargestellt haben. Sie haben in der Tat viel Zeit gehabt, irgendetwas zur Verbesserung der Schiffssicherheit
in Nord- und Ostsee zu tun. Sie haben nichts getan.
({4})
Ich will jetzt nur ein Beispiel herausgreifen - es werden noch einige andere kommen -: das Bergungsübereinkommen. Dies hat bei Ihnen zehn Jahre in der Schublade gelegen, ohne dass es in nationales Recht umgesetzt
wurde. Warum haben Sie das nicht getan? Das ist zugegebenermaßen nur ein kleiner Baustein, aber kein unwichtiger.
({5})
- Wir reden im Moment nicht nur über die „Pallas“. Die
„Pallas“ hat uns gezeigt, welche Lücken in dem System
waren. Die „Pallas“ war der Anlass, darüber nachzudenken.
Sie wissen genau, dass Bergung ein entscheidender
Faktor ist, übrigens auch bei der „Pallas“. Sie wissen genau, dass uns dieses Bergungsübereinkommen ein
Stückchen weiterhilft: Auch wenn die Bergung eines havarierten Schiffes nicht glückt, ist eine Entschädigung
möglich. Auch das ist ein wichtiger Punkt.
({6})
- Wir reden nicht nur über die „Pallas“. Die „Pallas“ war
der Anlass. Das habe ich eben schon einmal gesagt. Jetzt
lassen Sie mich einfach einmal ausreden, Herr Goldmann.
Zur Grobecker-Kommission und der Umsetzung der
Vorschläge. Ich finde, die Einsetzung der GrobeckerKommission war eine gute Entscheidung.
({7})
Sie hat ein vernünftiges Ergebnis vorgelegt. Dieses Ergebnis wird Punkt für Punkt abgearbeitet. Wir können
nicht in zwei Jahren das schaffen, was Sie in den vergangenen Jahren versäumt haben. Das muss ich einfach noch
einmal sagen.
({8})
Nach dem Zuständigkeitschaos sind wir jetzt ein gutes
Stück in Richtung „Land in Sicht“, um es einmal maritim
auszudrücken.
Wir haben einige internationale Abkommen auf den
Weg gebracht. Es wurde gesagt: „Was heißt hier ‚internationale Abkommen‘? Wichtig ist, dass vor Ort etwas getan wird!“ Aber Sie wissen genau, dass auch die internationalen Abkommen uns zu einer Verbesserung verhelfen
können,
({9})
insbesondere was die Schiffstechnik anbetrifft.
Irgendjemand hat hier gesagt - ich weiß nicht mehr,
wer es war -, dass die Technik nicht so wichtig sei. Doch,
sie ist außerordentlich wichtig. Wir hoffen, dass schon
2015 die Schrottkähne von den Weltmeeren verschwunden sind und alle Öltanker Doppelhüllentanker sind. Die
Beinahekatastrophe vor Galapagos - es ist gerade noch
einmal gut gegangen ({10})
wäre nicht so vonstatten gegangen, hätte es einen Zweihüllentanker gegeben. Das ist eindeutige Expertenauffassung.
({11})
Technische Vorschriften können nicht alles verhindern.
Aber sie können uns weiterhelfen.
({12})
- Er war eben nicht doppelwandig.
({13})
- Das war ein ziemlich unqualifizierter Beitrag, Herr
Austermann.
({14})
Sie wissen vielleicht, dass etwa 90 Prozent aller
Schiffsunfälle durch menschliches Versagen passieren,
({15})
das wir leider nicht abstellen können. Wir können aber mit
Verbesserungen in der Schiffssicherheit einiges vermeiden. Dann wäre, wie ich Ihnen schon eben sagte, das Unglück vor Galapagos nicht so schwer geworden und auch
manch anderes Schiffsunglück könnte etwas günstiger ablaufen.
Lassen Sie mich noch etwas zu den Klassifikationsgesellschaften sagen. Auch das ist ein wirkliches Problem, das uns bei der „Erika“ sehr deutlich geworden ist,
das man aber abstellen kann, wenn man die Klassifikationsgesellschaften verstärkt unter die Lupe nimmt und
dort versucht einzugreifen. Es kann nicht angehen, dass
wir aufgrund von Gefälligkeitsgutachten Schrotttanker,
wie wir sie in der letzten Zeit erlebt haben, weiter auf unseren Meeren haben.
({16})
- Ja, ich bin Hamburgerin: nicht von der Küste, aber doch
der Küste sehr nahe.
({17})
- Ja, Hamburg reicht.
({18})
Übrigens hat auch das Bundesamt für Seeschifffahrt
und Hydrographie bestätigt, dass wir auf dem richtigen
Wege sind, was dieses Havariekommando anbetrifft.
Ich möchte noch einmal auf die Haftungssummen
eingehen. Herr Wolf hat schon gesagt, dass die Erhöhung
der Summe um das 2,4fache nicht annähernd ausreicht,
um die Schäden finanziell auszugleichen. Der Schaden
betrug im Fall der Havarie der „Pallas“ ungefähr 28 Millionen DM. 3,3 Millionen DM wurden nach der alten
Regelung erstattet. Nach dem neuen Abkommen würden
es 8 Millionen DM sein. Das heißt, der Bund und die Länder zahlen immer drauf.
Es kann uns nicht nur darum gehen, Schiffe sicher zu
machen und menschliches Versagen auszuschließen. Es
geht in erster Linie darum, dass wir unsere schon außerordentlich belasteten Meere - in diesem Falle Nord- und
Ostsee - davor bewahren, völlig umzukippen. Durch die
Einleitung von landwirtschaftlichen Abwässern und
durch die - man kann schon sagen - kriminelle Einleitung
von Schadstoffen sind die Ozeane außerordentlich gefährdet. Was wir jetzt auf den Weg gebracht haben, ist ein
Schritt in die richtige Richtung. Es ist klar, dass es einige
Zeit dauert, bis die Maßnahmen greifen. Ich verwahre
mich daher außerordentlich gegen die Behauptung, es
werde nichts getan.
({19})
Ich möchte noch ein Thema ansprechen - Herr
Goldmann, hören Sie bitte zu; ich komme zurück auf die
„Pallas“ -, was mir besonders am Herzen liegt. Wir haben
bei der „Pallas“ gesehen, dass Notliegeplätze in Häfen
sehr dringend gebraucht werden. Wäre die „Pallas“ sofort
in einen dänischen Hafen geschleppt worden, hätte die
Katastrophe möglicherweise verhindert werden können.
Es gibt jetzt Bestrebungen, Notliegeplätze vorzuhalten.
Wir müssen dies wenigstens europaweit - wenn es schon
nicht weltweit möglich ist - schaffen.
Ich denke, dass wir auf dem richtigen Wege sind. Auch
hier handelt es sich nicht um Peanuts, sondern es ist ein
wichtiger Beitrag, besser mit Havarien umzugehen und
unsere Meeresumwelt wirkungsvoll zu schützen.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({20})
Zu einer „kurzen Kurzintervention zum Zwecke der Richtigstellung“
erteile ich nun der Kollegin Altmann das Wort.
Ich möchte mich auf den Brief beziehen, den der
Kollege Wolf angesprochen hat. Herr Wolf, dieser Brief
ist in seiner Kritik veraltet, weil der dauerhafte Einsatz der
„Oceanic“ in der Deutschen Bucht faktisch gesichert ist.
Das heißt, dass das Schutzbedürfnis der Norderneyer damit befriedigt wird.
Das Problem war bis dato, dass die Verlängerung des
Einsatzes nicht gesichert war. Das hat sich inzwischen
grundlegend geändert. Ab dem letzten Jahr muss es nur
aus haushaltstechnischen Gründen jedes halbe Jahr eine
Verlängerung geben. Das wird so lange geschehen, bis ein
anderes Gesamtkonzept inklusive Regelungen für den
Einsatz der „Oceanic“ oder für eine andere Konstellation
aufgestellt worden ist.
Bitte, Herr Kollege Wolf.
Werte Kollegin Altmann,
der Brief ist vom 4. Februar des Jahres 2000.
({0})
- Das habe ich nicht gewusst. Es ist aber nett, dass Sie mir
das sagen. - Ich habe heute bei der Zeitschrift „Waterkant“ angerufen, um mir bestätigen zu lassen, dass die
frühere Praxis - sie wurde von Ihnen angedeutet -, nur
kurzfristige Charterverträge über den Einsatz der „Oceanic“ zu schließen, weitergeführt wird. Damit ist die gesamte Situation weiterhin absolut unsicher.
({1})
- Ja, das gab es schon immer. Aber der Punkt ist, dass
nicht haushaltstechnische Gründe eine endgültig Regelung verhindern.
Darüber hinaus argumentieren die Norderneyer, dass
generell zu wenig Schleppkapazitäten vorhanden sind
- das wurde auch in dem Beitrag von Frau Faße aufgegriffen - und dass selbst die Kapazitäten der „Oceanic“
mit einem Pfahlzug von, soweit ich weiß, 165 Tonnen bei
den Unglücken von Containerschiffen mit Gefahrgut
usw., die heute und auch in der Expertenkommission diskutiert werden, nicht ausreichen, sondern weitaus größere
notwendig wären.
Deswegen sagte ich zum Schluss meines Beitrags, dass
man schnelle Lösungen finden muss, um entsprechende
Schleppkapazitäten zu schaffen, die weder durch „Mellum“ noch „Neuwerk“, noch „Oceanic“ heute vorhanden
sind.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dietrich Austermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die Kollegin Hartnagel hat viel Unzutreffendes gesagt. Das fing
an mit der Feststellung, dass Hamburg keine Küste habe.
({0})
Ich würde mich einmal vergewissern, wie das mit „Neuwerk“ so ist.
Aber das war nicht der wesentliche Fehler in Ihrer Aussage. Der eigentliche Punkt ist die Frage - die Sie auch
hören, wenn Sie mit den Bürgern sprechen; mein Wahlkreis liegt direkt an der Nordseeküste -: Was ist eigentlich
seit der Havarie der „Pallas“ tatsächlich geändert worden? Welche konkrete Maßnahme ist getroffen worden,
die heute in einer vergleichbaren Situation wirksam werden könnte und Hilfe brächte? Niemand hier - ich unterstelle einmal, dass alle gutwillig sind, was die Verbesserung des Meeresschutzes betrifft - wird bestreiten, dass
internationale Abkommen keinen einzigen Schritt weiterhelfen, sondern dass es um eine konkrete Entscheidungsbefugnis und um die Frage geht, ob es entsprechende
Schleppkapazitäten gibt und wer an welcher Stelle welche
Entscheidung zu treffen hat.
Damit befassen wir uns jetzt seit 27 Monaten.
({1})
- Frau Kollegin, um damit aufzuräumen: Sie wissen doch
genau, was in Cuxhaven von Bund und Ländern über
viele Jahre gemeinsam eingerichtet worden ist. Sie wissen, dass Schleppkapazität beschafft worden ist. Sie wissen, dass es eine gemeinsame Leitstelle gab. Sie hat bloß
nicht funktioniert, weil ein Parteifreund von Frau
Altmann im entscheidenden Moment, als es um die Katastrophenaufarbeitung ging, das Sagen hatte, nämlich Herr
Steenblock, der inzwischen nicht mehr im Amt ist. Das
war das Problem.
({2})
Aber die Schleppkapazität war nicht deshalb nicht erreichbar, weil es die entsprechenden Zuständigkeiten
nicht gegeben hätte. Dass die Taue gerissen sind, weiß ich
genau wie Sie.
Die Frage, die man heute stellen kann, lautet: Was hat
der jeweilige Bundesverkehrsminister in der Zeit eigentlich gemacht? Es sind inzwischen 27 Monate vergangen.
Bundesverkehrsminister war damals - die Älteren werden
sich noch erinnern - Herr Müntefering. Zu der Zeit, da
dieser Vorfall sich zugetragen hat, war er damit beschäftigt, die Abteilungsleiter auszuwechseln, Sachkunde
durch Parteibuch zu ersetzen.
({3})
Dann kam der zweite Verkehrsminister, Herr Klimmt,
der sich um das Thema Küste überhaupt nicht gekümmert
hat. Das Interessante ist: Auch der dritte hat kein Interesse
daran, an dieser Debatte teilzunehmen; der Verkehrsminister ist wieder nicht da, wenn über dieses Thema gesprochen wird.
Es kann doch nicht angehen, dass wir heute hier Berichte diskutieren, die ein Dreivierteljahr alt sind, und die
Bundesregierung in den Berichten wieder nur aufgefordert wird, Entscheidungen zu treffen, die aber offensichtlich nicht getroffen werden.
Wie gesagt, seit 27 Monaten ist keine einzige geplante
Maßnahme in die Tat umgesetzt worden, aus der man ableiten könnte, dass die Sicherheit der Menschen an der
Küste seit dem 25. Oktober 1998 größer geworden wäre.
({4})
Das ist doch der entscheidende Punkt.
Kreistagsabgeordnete in Dithmarschen/Nordfriesland
haben sich mit dem Thema befasst und Resolutionen verabschiedet - die Qualität war nicht unbedingt schlechter
als die Qualität dessen, was Sie vorgelegt haben -, die
Gila Altmann ({5})
einen eindeutigen Handlungsauftrag an die Regierung
enthalten. Aber die Regierung schweigt,
({6})
um nicht zu sagen: schläft. Es werden keine konkreten
Maßnahmen getroffen. Dabei wären sie ziemlich klar.
Jetzt zitiere ich einmal das Urteil Ihrer eigenen Parteifreunde. Der Kieler Landtag hat sich am 11. November
letzten Jahres mit diesem Thema befasst.
({7})
Dabei hat der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die
Grünen, Karl-Martin Hentschel, die Kritik auf den Punkt
gebracht: Man könne an der Küste nur hoffen, dass nach
Franz Müntefering und Reinhard Klimmt mit dem dritten
Verkehrsminister die Küste besser bedient werde. Er habe
nicht den Eindruck, dass die Arbeit von Berlin jetzt besser laufe.
Der Innenminister, ein SPD-Mann, also kein Parteifreund der Grünen, hat gesagt, es beschäftigten sich zurzeit so genannte Projektorganisationen des Bundes mit
der Schaffung einer einheitlichen Küstenwache. Er
sagte in der Landtagsdebatte, diese Berliner Projektorganisationen seien eine typisch deutsche Erfindung. Zumindest die Bildung des Havariekommandos hätte der Bund
unbedingt vorziehen müssen. Dem Mann ist zuzustimmen.
({8})
Selbst die eigenen Genossen sagen, sie seien unzufrieden
mit dem, was bisher im Hinblick auf die Sicherheit der
Küste passiert ist. Bis heute gibt es nur eine einzige personelle Konsequenz, nämlich dass Herr Steenblock zurücktreten musste. Auch das ist inzwischen schon ein Jahr
her.
({9})
Aber darüber hinaus sind vernünftige Entscheidungen
bisher nicht getroffen worden.
In Vorbereitung auf die Debatte habe ich mir die Mühe
gemacht, die Berichte des Verkehrsausschusses durchzulesen, insbesondere den Bericht zu dem Antrag der SPD.
Da fragt man sich: Was haben die eigentlich beschlossen
und was schlagen die eigentlich vor?
Entsprechend der politischen Grundeinstellung gibt es
natürlich Unterschiede in dem, was vorgeschlagen wird.
Der gute Antrag der F.D.P. wird natürlich abgelehnt, weil
das Vorwort zu polemisch gewesen sei.
({10})
Und Ihre Anträge? - 15 internationale Verträge, Abkommen, Übereinkommen sollen verbessert, erweitert oder
unterzeichnet werden. Sie begrüßen, dass der Abschlussbericht der Grobecker-Kommission noch vor der Landtagswahl im letzten Jahr vorgelegt wurde.
({11})
Toll! Das heißt, er liegt bereits ein Jahr vor, ohne dass inzwischen etwas passiert ist.
({12})
Und dann schlagen Sie vor - das muss man sich einmal
wörtlich vorhalten -, zu prüfen, wie Effizienz und Kompetenz zur Gefahrenabwehr langfristig, gegebenenfalls
durch weitere Kompetenzübertragung vom Bund auf die
Länder, auf die zentrale Überwachungsstelle, gesteigert
werden können. Das verstehe, wer will! Das soll eine
klare Aussage sein und die Menschen an der Küste wissen
lassen, dass jetzt endlich gehandelt wird?
({13})
Weit gefehlt! Es ist immer noch keine Entscheidung getroffen worden.
Der Deutsche Verkehrsgerichtstag hat sich mit dem
Thema befasst, fordert ein maritimes Lagezentrum für
Nord- und Ostsee. Offensichtlich ist auch er der Meinung,
dass endlich etwas getan werden muss. Wir wollen
schnell - das ist innerhalb eines halben, höchstens eines
ganzen Jahres möglich ({14})
eine einzige verantwortliche Leitstelle mit eindeutigen
Kompetenzen im Ernstfall, mit einer Schiffsbewegungskontrolle, mit maritimem Lagezentrum.
Die Kreise an der Westküste fordern vorbeugenden Havarieschutz durch verbesserte Schiffslenkung und Überwachung, Verbesserung der Schleppkapazität und im
Löschwesen, einen Sicherheitshafen, eine einheitliche
Küstenwache, Vereinbarungen mit den Nachbarländern,
die Verbesserung der Forschung. All dies sind Forderungen, die auch von der Union erhoben werden.
({15})
Ich habe festgestellt, dass der Kollege Opel - ich
dachte, er spricht heute - der „Dithmarscher Landeszeitung“, einer an der Küste geschätzten Zeitung, gesagt hat,
es liege ein Gutachten vor, demzufolge im Durchschnitt
in der Nordsee mit sechs Seenotfällen mit Schlepperbedarf im Jahr zu rechnen sei, in der Ostsee sogar mit sieben. Er geht davon aus, dass die Bundesregierung innerhalb des nächsten Vierteljahres eine entsprechende
Stelle einrichtet, sodass zusätzliche Schleppkapazität
zur Verfügung gestellt wird. Insgesamt sagt er, es werde
eine zentrale Einsatzleitung eingerichtet. Er sehe auch die
Tendenz, eine größere Anzahl leistungsfähiger Schiffe
mittlerer Größe für Nord- und Ostsee anzuschaffen oder
zu chartern. 30 Monate nach der Havarie sei es toll, wenn
dies so wäre.
Ich weiß nicht, woher der Kollege Opel seine Kenntnis
hat. Wenn ich in den Haushalt blicke, kann ich nicht feststellen, dass der Verkehrsminister beantragt hätte, Mittel
für die Anschaffung neuer Schlepper bereitzustellen.
({16})
Nicht einmal für die Miete hat er Mittel beantragt. Wir
wissen alle: 20 000 DM kostet die „Oceanic“ am Tag. Das
ist etwa so viel, wie Hans Eichel für einen Flug braucht.
({17})
Es wird kein Geld für zusätzliche Schleppkapazität bereitgestellt. Den Bürgern wird Sand in die Augen gestreut.
Die Menschen an der Küste sind dies leid. Sie erwarten,
dass wir etwas für den Erhalt der Wasserqualität unserer
Meere und für die Sicherheit an der Küste tun. Es reicht
nicht, dass sich die Regierung an der Debatte nicht beteiligt, nichts tut und schläft. Wir fordern engagiertes und
schnelles Handeln.
Herzlichen Dank.
({18})
Ich schließe damit die Aussprache und wir kommen zu den Abstimmungen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Sicherung der deutschen Nord- und Ostseeküste vor
Schiffsunfällen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag
auf Drucksache 14/2684 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. mit dem Titel „Nordseeküste schützen, Küstenwache einrichten, international besser zusammenarbeiten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden, während sich die PDS enthalten hat.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L.
Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Reform des Tarifvertragsrechts
- Drucksachen 14/2612, 14/5214 Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Klaus Brandner.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Bei der Vorlage des Antrags der
F.D.P.-Fraktion „Reform des Tarifvertragsrechts“ muss
man sich fragen, meine Herren, ob Sie sich wirklich für
nichts zu schade sind.
({0})
Denn mit Ihrem Antrag zur Durchlöcherung des Tarifvertragsrechts versuchen Sie scheinheilig, wie Sie sind, Arbeitslose in diesem Land vor Ihren Karren zu spannen, um
Tarifvertragsbrüche zu legalisieren und die Abschaffung
des Tarifrechts zu fordern.
Die aktuellen Meldungen über die Erfolge unserer Politik am Arbeitsmarkt geben uns dagegen Recht.
({1})
Sie zeigen, dass wir den richtigen Weg gehen und Ihr Antrag die Sicherung des sozialen Friedens in unserer Gesellschaft äußerst gefährdet.
({2})
Sie haben wahrscheinlich am Dienstag dieser Woche
die neuesten Arbeitsmarktzahlen gelesen.
({3})
Der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt hält weiter an,
Herr Kolb, das wissen Sie.
({4})
Insgesamt haben fast 550 000 Menschen mehr als vor einem Jahr einen Job.
({5})
Wir haben den niedrigsten Stand an Arbeitslosen in einem
Januar seit 1995.
({6})
Die Arbeitslosenquote ist gegenüber dem Vorjahr von
11 Prozent auf 10 Prozent zurückgegangen.
({7})
Für diese positive Bilanz war es keineswegs notwendig,
das Tarifvertragsgesetz zu zerpflücken und Arbeitnehmer
per Betriebsvereinbarung zu zwingen, ihre Arbeitskraft
unter Wert zu verkaufen.
({8})
Diese Bilanz ist vielmehr das Ergebnis von Maßnahmen und Korrekturen, die wir am Arbeitsmarkt, in der Sozialversicherung und in der Steuerpolitik erfolgreich eingeführt haben. Die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse
ist gestiegen, der Erfolg gibt uns Recht. Wir bleiben bei
diesem Kurs.
({9})
Das von Ihnen geschürte Vorurteil, das Tarifvertragssystem sei die Ursache für die Arbeitslosigkeit, ist
schlichtweg falsch. Gerade angesichts der Arbeitslosigkeit ist der tarifvertragliche Mindestschutz nötig. Verbindliche Tarifverträge bleiben das Stärkste, das die
Schwachen haben.
({10})
Das Bundesverfassungsgericht erkennt in einem Urteil
vom 4. Juli 1995 das Tarifvertragssystem als System kollektiver Sicherheit ausdrücklich an. Ich zitiere:
Das Tarifvertragssystem ist darauf angelegt, die
strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein
annähernd gleichwertiges Aushandeln der Löhne
und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen.
({11})
Das Tarifvertragssystem wird als System kollektiver
Sicherheit für die Arbeitnehmer und für die Arbeitgeber
gesehen. Dies wird durch die amtierende Bundesregierung mit Sicherheit nicht verändert werden. Darauf können Sie sich, meine Herren von der F.D.P., verlassen.
({12})
- Es wird sicher irgendwann wieder andere Bundesregierungen geben, aber darauf - das kann ich Ihnen sagen können Sie noch lange warten. Diese Regierung sitzt fest
im Sattel und ihr Kurs ist stabil. Die Erfolge habe ich Ihnen am Beispiel der Arbeitsmarktzahlen deutlich gemacht.
({13})
Der Antrag, den Sie vorlegen, ist eine Durchlöcherung
des Tarifvertragsrechts und nichts anderes als die Durchlöcherung des Schweizer Käses. Eine solche Forderung
akzeptieren wir nicht und werden wir auch in Zukunft
nicht akzeptieren.
({14})
- Der Schweizer Käse ist besser als der Antrag der F.D.P.
Dem kann ich nur zustimmen.
In der Debatte, hatten Sie, Herr Kolb, am 7. Dezember
gesagt, die F.D.P. fordere nicht die Abschaffung der
Flächentarifverträge, sondern nur gesetzliche Öffnungsklauseln.
({15})
Formal betrachtet mag das sogar stimmen. Führt man sich
aber vor Augen, was dahinter steckt, dann sieht das ganz
anders aus.
({16})
Entgeltverhandlungen gehören nämlich wie die Festlegungen zur Arbeitszeit und zur Urlaubsdauer zu den
Kernbereichen von Tarifverträgen.
({17})
Aber wem sage ich das eigentlich? Ihr Geschrei von zu
hohen und zu wenig differenzierten Tarifstandards sowie
von mangelnder Flexibilität und Überregulierung haben
Sie anscheinend - Sie wissen das - zum Programm erklärt.
({18})
Das gipfelt in der Aussage von Graf Lambsdorff, die Tarifautonomie dürfe nicht länger Bestand haben. Aber
schon damals - um das deutlich zu sagen - standen hinter
dieser abenteuerlichen Idee nicht viele und zurzeit stehen
Gott sei Dank nur Sie von der F.D.P. dahinter.
({19})
Denn wenn es dazu käme, dass Arbeitgeber künftig auf
betrieblicher Ebene mit den Arbeitnehmern über die Höhe
ihrer Entlohnung verhandeln könnten, würden die
Flächentarifverträge systematisch unterwandert und wegen ihrer Unverbindlichkeit wertlos. Damit würde die
Gültigkeit der Tarifverträge faktisch außer Kraft gesetzt.
Dem werden wir nicht zustimmen. Tarifverträge sind für
uns soziale Sicherheit. Deshalb werden wir an der jetzigen Tarifordnung festhalten.
({20})
Wenn Sie hier die Tarifautonomie infrage stellen,
dann rütteln Sie - das muss Ihnen klar sein - an den
Grundfesten unserer demokratischen Ordnung. Ich kann
nur immer wieder darüber staunen, mit welcher Dreistigkeit Sie Verfassungsgrundsätze und auch Individualrechte über Bord werfen, wenn Sie dies gerade für opportun ansehen und deshalb mir nichts, dir nichts die
Tarifvertragsordnung über Bord werfen wollen. Denn Sie
wollen eine Verschlechterung oder Beseitigung tarifvertraglicher Ansprüche immer dann zulassen, wenn mindestens 75 Prozent der Belegschaft dem zustimmt.
({21})
Damit würde ein Viertel der Arbeitnehmer gegen ihren
erklärten Willen zum Verzicht auf ihre auf dem Flächentarifvertrag beruhenden Rechte gezwungen. Ein solches
Betriebskartell zur Aushebelung der von der Verfassung
garantierten Tarifautonomie hat schon BDA-Präsident
Hundt ausdrücklich abgelehnt und zurückgewiesen.
Auch wenn wir Herrn Hundt nicht häufig zustimmen, so
stimmen wir ihm in diesem Punkt schon zu: Er hat
Recht. Wir werden an diesem Punkt in diesem Sinne
festhalten.
({22})
Meine Damen und Herren, auch aus sozialdemokratischer Sicht ist es nicht hinnehmbar, dass beliebige Vereinbarungen getroffen werden können, die zulasten des
schwächsten Gliedes der Kette, der Arbeitnehmer, gehen.
({23})
Es ist schlicht unsozial, dass Arbeitnehmer aus Sorge um
ihren Arbeitsplatz, aus Angst vor dem Verlust ihrer Existenzgrundlage einem Verzicht auf tarifvertragliche Entlohnung zustimmen sollen. Dieser Verzicht führt zu einem
Wettlauf nach unten, zu Dumpinglöhnen.
Die F.D.P. will offenbar mit ihrem Antrag die Angst um
den Arbeitsplatz vorsätzlich nutzen,
({24})
um die Löhne zu drücken und um die Arbeitnehmer verzichtbereit zu machen. Das kann aber nicht im Sinne der
Unternehmen sein. Denn wenn dieser Wettlauf erst einmal
begonnen hat, geraten auch die Unternehmen in immer
stärkeren Preis- und Konkurrenzdruck; Sie wissen das.
Flächentarifverträge sind zu einem unverzichtbaren
Bestandteil der Unternehmensplanung geworden. Aus
Gründen der Planungssicherheit und der Sicherung des
sozialen Friedens in den Unternehmen sind Tarifvereinbarungen auch für die Arbeitgeber sinnvoll.
({25})
Der Tariffrieden in unserem Land ist der wichtigste Standortfaktor; das sollten Sie einmal deutlich zur Kenntnis
nehmen.
({26})
- Nun hören Sie einmal gut zu, meine Herren von der
F.D.P. Sie können noch viel lernen.
({27})
Der soziale Frieden in unserem Land wäre nämlich bei
Umsetzung Ihrer Vorschläge erheblich gefährdet. Von daher lehnen auch weitsichtige Arbeitgeber Ihre unsinnigen
Vorschläge ab.
({28})
Ich empfehle Ihnen dringend, sich einmal mit dem viel
zitierten Mittelstand zu unterhalten. Sprechen Sie doch
einmal mit den Handwerksmeistern und den Chefs von
Kleinbetrieben, was die von Ihren Ideen halten. In der Regel nämlich gar nichts.
({29})
Viele von ihnen sind heilfroh, wenn tarifvertragliche Konflikte aus den Betrieben herausgehalten werden. Gerade
die kleinen und mittleren Betriebe haben sich in Innungen
zusammengeschlossen, um unter anderem verlässliche
Wettbewerbsbedingungen auch auf der Basis von Tarifverträgen zu erhalten.
({30})
In dieser Debatte wird von Ihnen völlig außer Acht gelassen, dass die Lohnkosten eines Betriebes im Durchschnitt - Sie als Unternehmer wissen das - nur einen geringen Teil der Gesamtkosten ausmachen. Das heißt, dass
es nicht maßgeblich ist, wie hoch die Lohnzahlungen
sind. Denn wichtig für die Existenz des Betriebes ist, dass
das Kostengefüge insgesamt stimmt. Wem außer Kostensenkungen, Herr Kolb, nichts mehr einfällt, der entwickelt
sich zurück, macht die Menschen ärmer, die Betriebe aber
nicht wettbewerbsfähiger und produktiver. Genau das
streben wir Sozialdemokraten an.
Herr Kollege
Brandner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Kolb?
Bitte.
({0})
Herr Kollege Brandner,
nachdem Sie hier vorgetragen haben, dass Sie zumindest
gelegentlich im Gespräch mit dem Mittelstand sind,
wären Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass in einem
typischen mittelständischen Unternehmen - ich nenne
einmal einen Handwerksbetrieb - der Anteil der Lohnkosten an den Gesamtkosten nicht selten in einer Größenordnung zwischen 40 und 50 Prozent liegt und dass sich die
von Ihnen angestellten Überlegungen allenfalls auf
Durchschnittswerte oder auf Großunternehmen, die Ihnen
ja, wie wir wissen, näher stehen, beziehen? Die kleinen
Unternehmen haben aufgrund der hohen Lohnanteile ein
signifikantes Interesse daran, dass die Tarifpolitik auf die
Bedürfnisse des Mittelstandes Rücksicht nimmt.
({0})
Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?
Herr Kolb, die Tarifpolitik
nimmt auf die Bedürfnisse des Mittelstands ausdrücklich
Rücksicht.
({0})
Es ist wichtig, dass Unternehmen erkennen, dass sie durch
die Verbesserung der Arbeitsabläufe und der Produktivität
ihre Kosten in den Griff bekommen. Das ist der entscheidende Ansatz für eine vernünftige Unternehmensarbeit.
Man sollte die Ursachen für die Kostensituation also nicht
in den Tarifbedingungen sehen. Man weiß nur zu gut, dass
man, wenn man aktive, motivierte Arbeitnehmer noch mit
niedrigen Löhnen bestraft, genau das Gegenteil erreicht.
({1})
Man wird nicht erreichen, dass diese Arbeitnehmer weiterhin daran engagiert mitarbeiten, Arbeitsabläufe systematisch zu verbessern. Dann würde man einen unternehmerischen Erfolg erzielen. Durch Kostensenkungen
allein wird man dies Problem nie in den Griff bekommen.
({2})
Es gibt den weiteren
Wunsch nach einer Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Dirk Niebel.
Nein, ich möchte jetzt in
meiner Rede fortfahren.
({0})
- Herr Niebel, Sie haben sehr viele Gelegenheiten, darüber zu diskutieren. Ich denke, was Sie sagen wollen, ist
hier hinlänglich bekannt. Lassen Sie mich also meine Gedanken fortsetzen.
Insbesondere bei Insolvenzen und den damit einhergehenden Entlassungen wird doch regelmäßig gefragt,
worin denn die Ursachen für die wirtschaftlich schwierige
Situation liegen. Sie wissen so gut wie ich, dass in erster
Linie schlechtes Management, mangelnde Anpassung an
das Marktgeschehen, verschlafene Innovationen und oft
eine zu geringe Kapitalausstattung
({1})
Ursache für wirtschaftlich schwierige Situationen sind.
Im Übrigen wird das - das wissen Sie - auch von Unternehmensberatungen bestätigt, die regelmäßig festgestellt haben, dass 80 Prozent der Unternehmenskrisen auf
Managementfehler zurückzuführen sind.
Dennoch sollen es die Arbeitnehmer mit Lohnverzicht
ausbaden. Das ist weder sozial noch christlich noch liberal und schon gar nicht fair.
({2})
Deshalb ist der Antrag, den Sie vorgelegt haben,
auch nicht zielführend und deshalb werden wir ihn ablehnen.
({3})
Fest steht, dass mit den von Ihnen geforderten gesetzlichen Öffnungsklauseln und der damit verbundenen Aufweichung der Tarifverträge das Missmanagement der Arbeitgeber quasi auf dem Rücken der Arbeitnehmer und
der Gewerkschaften subventioniert würde.
({4})
Dafür stehen Sozialdemokraten nicht zur Verfügung.
Unverantwortlich ist auch Ihre Forderung, gesetzliche
Öffnungsklauseln vorzusehen und das Günstigkeitsprinzip zu erweitern, also eine Veränderung im Tarifvertragsgesetz herbeizuführen. Im Grunde geht es Ihnen nämlich darum, Vertragsbrüche zu legalisieren, Vertragsbrüche
durch eine gesetzliche Veränderung flächendeckend möglich zu machen. Es kann nicht, Herr Kolb, Aufgabe des Gesetzgebers sein, in die Tarifautonomie einzugreifen. Die
Tarifautonomie ist ein von der Verfassung geschütztes Gut
und deshalb wollen wir auch nicht in diesen verfassungsrechtlichen Anspruch der Tarifpartner eingreifen.
Wenige, aber prominente Repräsentanten der Arbeitgeber wollen über die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes - das ist ja nicht im Verborgenen geblieben - aus dem Flächentarifvertrag aussteigen.
({5})
Die großen Arbeitgeberverbände dagegen wollen den Tarifvertrag im Betriebsverfassungsgesetz erhalten; die Tarifverträge sollten eher reformiert werden. In diesem Dilemma
fordern die Arbeitgeber nun gemeinsam eine Neufassung
des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsgesetz.
({6})
Dabei ist es in Krisensituationen immer möglich - das
wissen Sie auch genau -, mit den Tarifvertragsparteien
eine flexible Anwendung der Tarifverträge zu vereinbaren
oder Haustarifverträge abzuschließen. Öffnungsklauseln
in einigen Flächentarifverträgen ermöglichen dies bereits.
({7})
Die Anpassung der Tarifverträge an betriebliche Bedingungen, wie sie von Arbeitgeberseite verlangt wird, ist
deshalb nicht notwendig und somit überflüssig.
({8})
- Lieber Herr Niebel, Sie haben wirklich saloppe Sprüche
drauf.
({9})
Ich glaube, dass die Arbeitnehmer wissen, wer sich ihren
Arbeitsbedingungen verantwortlich stellt. Mit solchen
Sprüchen wird keinem Arbeitnehmer in diesem Lande geholfen.
({10})
Für den Gesetzgeber besteht daher überhaupt kein
Handlungsbedarf. Weder gesetzliche Öffnungsklauseln
noch das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertragsgesetz sind
zu verändern.
({11})
Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Allein der Rahmentarifvertrag in der baden-württembergischen Metall- und
Elektroindustrie enthält 32 Öffnungsklauseln, um genau
das, was Sie fordern, nämlich passgenaue Veränderungen
bezogen auf die Betriebe, organisieren zu können. Das ist
Ihnen aber unbekannt. Sie beschäftigen sich anscheinend
mehr mit Sprüchen als mit Inhalten.
({12})
Auch die Forderung nach Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung ist aus unserer Sicht nicht
nachvollziehbar. Ich bin mir wirklich nicht sicher - dies
muss man die F.D.P. fragen -, ob Sie wissen, wovon Sie
eigentlich reden. Knapp 500 von 50 000 Tarifverträgen
sind allgemeinverbindlich.
({13})
Sie betreffen nur einen geringen Teil der Beschäftigten.
Schon dies macht deutlich, dass sie zwingend notwendig
sind, da immer dann, wenn in einem Bereich keine tarifvertragliche Durchdringung vorhanden ist und Unternehmen sowie Arbeitnehmer vor Schmutzkonkurrenz bewahrt werden müssen, auf eine solche Allgemeinverbindlichkeit zurückgegriffen werden muss. Es gibt
nach wie vor Berufe und Branchen, in denen gerade einmal 10 DM pro Stunde gezahlt wird. Solche Bedingungen, die trotz eines Arbeitsverhältnisses ein menschenwürdiges Leben und eine freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht ermöglichen, müssen meiner Ansicht
nach der Vergangenheit angehören. Deshalb müssen wir
die Allgemeinverbindlichkeit in den Bereichen erhalten,
in denen sie zwingend zum Schutz von Betrieben und Arbeitnehmern notwendig ist.
({14})
Herr Kollege
Brandner, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
({0})
Tarifverträge haben sich in
über 50 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland bewährt: in der Zeit der großen Nachkriegsarbeitslosigkeit,
beim Wiederaufbau und natürlich auch bei dem so genannten Wirtschaftswunder, bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und als Mindestschutz gegen die
Auswüchse globalisierter Wirtschaft und hoher Arbeitslosigkeit.
Kollege Brandner, ich
würde Sie bitten, nicht noch einen neuen Gedanken anzufangen, sondern wirklich zum Schluss zu kommen. Sie
hatten ausreichend Redezeit.
({0})
Tarifverträge haben in dieser
Gesellschaft für sozialen Fortschritt gesorgt. Sie werden es
auch weiter tun, Stichwort „Altersversorgung“ oder „Recht
auf Weiterbildung“. Ich bin davon überzeugt, die Gewerkschaften werden diese Themen aufnehmen. Wir brauchen
verbindliche Tarifverträge. Sie haben den sozialen Frieden
in unserem Land gesichert. Mit Ihrem Antrag gehen Sie
diesen Weg nicht. Deshalb werden wir ihn ablehnen.
({0})
Nächste Rednerin in
der Debatte ist die Kollegin Dagmar Wöhrl für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Trotz der neuen Zahlen
bleibt die Lage am Arbeitsmarkt bedrückend.
({0})
Wir hatten im letzten Jahr ein Wirtschaftswachstum von
3,1 Prozent, aber nichtsdestoweniger noch immer 4,1 Millionen Menschen bei den Arbeitsämtern als arbeitslos registriert.
({1})
In der Wirtschaftsgeschichte gab es bis jetzt noch nie im
Gefolge eines Wirtschaftsaufschwungs einen derartig
schwachen Zuwachs an Arbeitsplätzen.
({2})
Da stellt man sich die Frage: Wenn schon bei einem
wirklich kräftigen Wachstum von 3,1 Prozent die Arbeitslosigkeit kaum abgebaut wird, wie soll es dann erst
bei einer sich abschwächenden Konjunktur werden, die ja
kommt? Wir wissen ganz genau, dass eine verlangsamende amerikanische Konjunktur auf unsere Konjunktur
Einfluss nehmen wird. Wie soll es dann hier erst ausschauen?
Gleichzeitig haben wir ein Mismatch, das noch nie so
groß war wie zurzeit. Dem Heer der Arbeitslosen auf der
einen Seite steht eine wachsende Zahl von Betrieben auf
der anderen Seite gegenüber, die ihre offenen Stellen nicht
besetzen können. Noch immer sind 1,5 Millionen offene
Stellen gemeldet; es herrscht Fachkräftemangel.
({3})
Was ist der Grund dafür? Schauen Sie einmal in die Papiere der OECD. Die OECD hat einen arbeitsmarktpolitischen Regulierungsindikator entwickelt und an die 23
wichtigsten Industriestaaten der Welt angelegt. Deutschland kommt dabei auf Platz 18. Auf Platz 1 liegen die
USA mit einem Wert von 0,7, auf Platz 2 Großbritannien
mit einem Wert von 0,9. In beiden Ländern liegt die Erwerbstätigenquote wesentlich höher als in Deutschland.
Daraus folgert die OECD zu Recht: Je stärker der Arbeitsmarkt reguliert ist, desto schlechter ist die Beschäftigungssituation.
({4})
Was haben Sie dort, wo Deregulierung geboten wäre,
seit Ihrem Regierungsantritt gemacht? Eine „Reregulierung“ haben Sie betrieben.
({5})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsparteien, Sie schaden der Beschäftigungsquote.
({6})
Sie haben den Kündigungsschutz verschärft und die volle
gesetzliche Lohnfortzahlung wieder hergestellt.
({7})
Man kann es nicht oft genug wiederholen. Sie haben die
geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse durch bürokratische Anforderungen und hohe Abgabenpflichten unattraktiv gemacht.
({8})
Was haben Sie gemacht? Sie haben Existenzgründer und
Handelsvertreter in die Scheinselbstständigkeit getrieben.
Sie haben zum 1. Januar einen Rechtsanspruch auf Teilzeit eingeführt, der die Personalplanung im Mittelstand
massiv einschränkt. Jetzt wollen Sie auch noch die betriebliche Mitbestimmung ausweiten, was zu einer sehr
hohen Kostenbelastung gerade der kleinen und mittelständischen Betriebe führen wird.
Frau Kollegin Wöhrl,
es gibt eine Zwischenfrage der Kollegin Eva BullingSchröter. Lassen Sie diese zu?
Nein, ich möchte jetzt
hier weitermachen.
Ich möchte auf eines hinweisen - damit komme ich auf
meinen Vorredner von der SPD zu sprechen -: Noch viel
schwerer wiegt, dass Sie sich beharrlich weigern, sich an
einer Änderung des Tarifsystems zu beteiligen.
({0})
- Ich glaube, ich bin eine der wenigen Kolleginnen und
Kollegen, die in ihr Unternehmen sehr stark eingebunden
sind, gerade auch mit Betriebsversammlungen, Betriebsräten und vielem anderem mehr.
({1})
- Sie können gern einmal zu einer Betriebsversammlung
kommen. Da werden Sie sehen, wie gut ich mit meinen
Betriebsräten zurechtkomme.
({2})
Aber dieses Tarifsystem - und darum geht es im
Grunde genommen - verhindert eine stärkere Lohndifferenzierung nach Qualifikationen, nach Branchen und
nach Regionen. Wir brauchen eine stärkere Lohnspreizung, um auch für die weniger Qualifizierten und die
Langzeitarbeitslosen zukünftig den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dieses Tarifsystem verhindert
natürlich auch betriebsspezifische Regelungen
({3})
- das muss man hier auch sagen - zu Lohn und zu Arbeitszeit, wodurch Arbeitsplätze gesichert oder geschaffen werden können. Ich glaube, Sie müssen auch sehen,
dass wir in einer veränderten Arbeitswelt leben. Wir brauchen flexiblere Bestimmungen und auch flexiblere Vergütungsmodelle. Wir sind ja nicht die einzigen, die das
anmahnen.
({4})
Lesen Sie die Sachverständigengutachten, die diese Gesetzesreformen dringendst anmahnen.
Ich möchte hier aus einem Brief zitieren, den der Herr
Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf am 2. Mai 2000
an die Abgeordnete Margareta Wolf - sie war damals noch
nicht Staatssekretärin - geschrieben hat:
Die arbeitsplatzrelevanten Entscheidungen wie die
Frage gleichbleibende Arbeitszeit bei niedrigerem
Lohn oder Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichem
Lohn und insbesondere die Frage Lohnverzicht gegen Arbeitsplatzgarantie sind Sache der Tarifparteien. Diese sind am besten in der Lage, die Ernsthaftigkeit der Bedrohung des Arbeitsplatzes und
damit den Wert der Arbeitsplatzgarantie einzuschätzen.
({5})
Was haben Sie denn für Betriebsräte? Sie sind doch
nicht unmündig.
({6})
Die Betriebsräte vor Ort können die Situation eines Unternehmens selbst einschätzen, wenn nicht sogar besser
einschätzen als Gewerkschaftssekretäre und Arbeitgeberfunktionäre am grünen Tisch.
Wir haben heute eine ganz neue Arbeitnehmerlandschaft. Arbeitnehmer sind heute unternehmerisch tätig.
Sie sind schon heute in Entscheidungen eingebunden. Sie
sind keine reinen Befehlsempfänger, wie Sie es als Funktionäre gerne haben möchten.
({7})
Ich darf weiter aus dem Brief von Herrn Mosdorf vorlesen. Er schreibt:
Es ist zu begrüßen, im Rahmen der geltenden Gesetze und Tarifverträge für betriebliche Bündnisse
zur Beschäftigungssicherung und -förderung einzutreten. Jetzt gesetzgeberisch einzugreifen würde
diese tarifpolitischen Reformansätze unterlaufen und
den Tarifvertragsparteien den notwendigen inneren
Handlungsdruck für Reformen nehmen.
Das ist doch Blödsinn, das ist doch reiner Unsinn, was
hier geschrieben wird. Es gibt keineswegs in allen Tarifverträgen Öffnungsklauseln; das wissen Sie genau. Solange durch Reformen kein Handlungsdruck gegeben ist,
wird sich das Tarifkartell nicht bewegen. Alles wird beim
Alten bleiben.
({8})
Deswegen brauchen wir die gesetzgeberischen Reformen.
({9})
Wir brauchen eine Präzisierung des Günstigkeitsprinzips dahin gehend, dass eine Abweichung vom Tarifvertrag als günstig anzusehen ist, wenn sie zur Beschäftigungssicherung beiträgt. Eine längere Arbeitszeit und ein
niedrigerer Lohn können in einer Überbrückungszeit notwendig sein.
({10})
Für mich ist es sehr bezeichnend, wie Sie von RotGrün reagieren, wenn sich eines Ihrer Mitglieder in einer
hellen Stunde einmal Gedanken über die Reform des Tarifsystems macht.
({11})
Ich erinnere an die Aussage des Kollegen Schlauch. Er hat
für sein Plädoyer zum Günstigkeitsprinzip doppelt eines
auf den Deckel bekommen, nämlich einmal vom Bundeskanzler höchstpersönlich und dann von seiner eigenen
Partei.
({12})
Ganz anders war es beim Wirtschaftsminister Müller. Er
sagte dem „Tagesspiegel“ vom 2. Januar dieses Jahres,
eine Änderung des § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes werde von ihm befürwortet.
({13})
Darauf gab es keine Reaktion. Dies lief nach dem Motto:
Lasst ihn einfach reden, er richtet nichts aus. - Diesen
Eindruck gewinnt man jedenfalls.
({14})
Ich bin gespannt, wie sich Frau Kollegin Wolf als
Staatssekretärin zukünftig in ihrem Amt verhalten wird.
Als sie nur Abgeordnete war, war sie in diesem Bereich
sehr vollmundig.
({15})
Wir werden sehen, inwiefern sie ihre Ideen und Gedanken, die sie vor der Presse groß ausgebreitet hat, in
ihrem Amt zukünftig umsetzen wird.
({16})
- Wir machen uns große Sorgen. Es geht um eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Es geht darum, dass unsere Unternehmen in der Zukunft wettbewerbsfähig sind
und bleiben. In den festgefahrenen Strukturen können wir
nicht mehr weiter verharren.
({17})
Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben
Reformen zurückgenommen und sich Reformen verweigert. Das ist - ich glaube, das kann man so sagen - der
größte Negativposten, den Sie in Ihrer wirtschaftspolitischen Bilanz haben.
Vielen Dank.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Wöhrl, ich weiß nicht, in welcher Realität Sie in
dieser Woche gelebt haben. Ich habe am Dienstag die
neuen Arbeitsmarktzahlen studiert. Sie haben zweierlei
gezeigt:
({0})
Erstens. Im Gegensatz zum letzten Jahr ist die Arbeitslosigkeit um 1 Prozent gesunken. Zweitens. Im Gegensatz
zum letzten Jahr ist die Beschäftigung um über eine halbe
Million gestiegen.
({1})
Das sind die Fakten. Sie können hin und her reden, so viel
Sie wollen. Aber Sie machen damit weder die Fakten ungeschehen noch die Erinnerung daran, dass Sie uns eine
Arbeitslosigkeit von über 4 Millionen hinterlassen haben,
die ihresgleichen sucht.
({2})
Lassen Sie mich zu dem Antrag der F.D.P. kommen.
Dieser Antrag und auch die gestrige Debatte über die Mitbestimmung machen eines deutlich - das finde ich sehr
schade -: Die F.D.P. schämt sich offensichtlich dafür, dass
sie im Jahr 1972 ein Mitbestimmungsgesetz mitverabschiedet hat.
({3})
- Aber sicher; denn der Antrag, den Sie heute vorlegen,
hat zum Kern, ein wesentliches Element dieses Betriebsverfassungsgesetzes, nämlich den § 77 Abs. 3, abzuschaffen und auszuhöhlen.
Eigentlich finde ich, dass Sie sich, gerade in der heutigen Debatte um die zukünftige Mitbestimmung, eines
noch einmal zu Gemüte führen sollten: dass sich nämlich
gerade die Balance, die in der Bundesrepublik Deutschland zwischen der Tarifautonomie und der betrieblichen
Interessenvertretung besteht,
({4})
im Wesentlichen auf den Tarifvorrang des § 77 Abs. 3
stützt und dass das Zusammenspiel von Tarifautonomie,
von Tarifvorrang und betrieblicher Mitbestimmung viel
damit zu tun hat, dass wir innerhalb der Betriebe in der
Bundesrepublik Deutschland so etwas wie eine heilvolle,
Frieden stiftende Wirkung bekommen haben.
({5})
Meine Damen und Herren von der F.D.P., das Spannende an dieser Debatte ist,
({6})
dass wir hier über Modernisierung und Reformen sprechen, und zwar auf der Basis einer nun doch allgemein
und übrigens auch international anerkannten spezifischen
deutschen Regelung, nämlich einer bestimmten Kultur
der Kooperation.
({7})
Dazu gehört auch der Tarifvorrang des § 77 Abs. 3.
Denn ich glaube, dass dieser eines der Rückgrate ist, vor
dessen Hintergrund wir darüber diskutieren können und
müssen, wie es uns gelingt, auch in Zukunft mehr betriebliche Bündnisse für Arbeit möglich zu machen.
Diese brauchen wir selbstverständlich.
({8})
Selbstverständlich besteht eine globale wirtschaftliche
Entwicklung, gerade auch regional eine Konkurrenzentwicklung, die betriebliche und regionale Reaktionen auf
veränderte Realitäten auch im Sinne der Beschäftigungssicherung nötig macht. Aber dazu brauchen wir die Möglichkeit - sozusagen das Rückgrat für die Betriebe selber
in Gestalt von Betriebsräten und quasi in Gestalt einer
Rückfalllinie, die der Tarifvertrag liefert -, um betriebliche Bündnisse sicher zu machen.
Ich denke, die Tatsache, dass wir diese spezifische Balance akzeptieren, unterscheidet uns sehr von Ihnen. Sie
benutzen gerade die Diskussion um den § 77 Abs. 3 letzten Endes als Trojanisches Pferd unter der Überschrift
„Beschäftigungssicherung“, um uns hier etwas ganz anderes zu verkaufen.
({9})
- Ich sage Ihnen gern etwas zu den Themen Tarifvorrang
und Günstigkeitsprinzip. Denn natürlich ist es berechtigt,
über diese Fragen zu diskutieren. Aber eines sage ich Ihnen noch einmal - das ist der Unterschied zwischen Ihnen
und uns -: Wir diskutieren die Frage der betrieblichen
Vereinbarung nicht vor dem Hintergrund der Preisgabe
der Tarifautonomie und des Tarifvorrangs.
({10})
Wir diskutieren diese Themen so, wie sie auch im
Rahmen des Bündnisses für Arbeit angelegt sind. Dort
wurde ein Kooperationsvertrag zwischen der BDA und
dem DGB geschlossen, damit auf Basis des bestehenden
Tarifvertragssystems Möglichkeiten gefunden werden,
um mehr betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schaffen.
Dies ist im Bündnis für Arbeit verabredet worden. Das ist
die Basis, auf der wir hier diskutieren. Sie ist eine Basis,
auf der wir versuchen, eine moderne Industriepolitik mit
sozialer Sicherheit zu verbinden.
({11})
- Ganz genau, meine lieben Kolleginnen und Kollegen.
Auch auf Ihren Zwischenruf kann ich nur antworten: Genau das ist modern:
({12})
nicht die Zerschlagung und das Abbauen von sozialen
Strukturen, sondern das Anpassen von sozialen Strukturen, von Partizipation und Mitbestimmung in den Betrieben an die neuen Herausforderungen.
({13})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie hören es: Herr Niebel wirft wieder Nebel.
({14})
Aber trotzdem werde ich noch etwas zu dem Antrag der
F.D.P.-Fraktion sagen. Sie behaupten, dass diese Debatte
unter der Überschrift „Beschäftigungspolitik“ zu führen
sei. Ich möchte Ihnen eines sagen: Diese rot-grüne Koalition nimmt die Beschäftigungspolitik sehr ernst. Das haben wir vom ersten Tag an getan.
({15})
Sie sollten still sein, weil Sie wirklich in dem berühmten
Glashaus sitzen. Ich habe dazu eingangs ein paar Daten genannt. Ihre eigene Hinterlassenschaft ist schlimm genug.
({16})
Gerade der Sachverständigenrat, den Sie beispielsweise als Kronzeugen zitieren, hat zur Wirtschafts- und
Konjunkturpolitik dieser Bundesregierung ganz deutlich
gesagt, dass sie auf der Basis einer Steuer- und Abgabensenkung, einer konsequenten Senkung der Lohnnebenkosten und einer konsequenten Haushaltssanierung eine
stabile und positive konjunkturelle Entwicklung in der
Bundesrepublik Deutschland eingeleitet hat, deren positive beschäftigungspolitischen Effekte sich seit Herbst
1998 deutlich in den Statistiken widerspiegeln.
({17})
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P.: Von Ihnen brauchen wir keine Nachhilfe in Beschäftigungspolitik.
Danke schön.
({18})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe hier im Dezember
die Grundzüge unseres Antrags vorgestellt und damals
auch unseren Leitgedanken deutlich gemacht. Uns geht es
darum, bessere Rahmenbedingungen für mehr Arbeitsplätze in unserem Lande zu schaffen.
({0})
Wir wollen verhindern, dass Arbeitsplätze aufgrund unzureichender Rahmenbedingungen verloren gehen.
({1})
Wir werden in unseren Bemühungen massiv von Ihrem
Sachverständigenrat unterstützt.
({2})
Ich habe im Dezember aus seiner Stellungnahme zitiert und
empfehle Ihnen, das im Protokoll nachzulesen. Sie haben
damals - ebenso wie im Ausschuss und auch heute - mit einer sehr, ich muss das sagen, selbstgefälligen Argumentation, die schon an Arroganz heranreicht, unsere Argumente
weggewischt
({3})
und gesagt: Am Arbeitsmarkt ist alles so toll, es gibt keinen weiteren Handlungsbedarf, wir machen das alles
schon richtig.
({4})
- Und ich will Ihnen noch sagen, Herr Brandner, nach
nunmehr zwei Monaten gibt es erste Anzeichen - ich sage
Ihnen das, damit Sie später nicht behaupten können, Sie
hätten es nicht gewusst - dafür, dass Sie vielleicht das
Glück hatten, noch von den Ausläufern unserer Politik zu
profitieren.
({5})
- Ich denke an UMTS und anderes.
({6})
Es gibt Anzeichen dafür, dass Sie jetzt in eine Phase kommen, in der die Dinge langsam für Sie schwieriger werden.
Ich lese heute in der Zeitung, dass die Insolvenzen in
Deutschland im letzten Jahr um 3,3 Prozent auf 27 500 gestiegen sind.
({7})
Die Prognose von Creditreform - eine ernst zu nehmende
Institution - für das Jahr 2000 sagt einen erneuten Anstieg
um 4 Prozent auf dann 28 600 Insolvenzen voraus. Ich
rede hier nur von den Unternehmensinsolvenzen und
nicht von Privatinsolvenzen, die noch dazukommen.
Die Arbeitslosenzahl - das finden Sie anscheinend gar
nicht so schlimm - ist zwar um 200 000 geringer als im
Januar letzten Jahres; aber das ist noch nicht einmal das,
was sich letztlich durch den demographischen Faktor begründen lässt.
({8})
Das heißt, die Tendenz am Arbeitsmarkt ist mittlerweile
wieder rückläufig.
({9})
- Herr Brandner, der Euro steigt, er ist auf dem Weg zu
einer Parität mit dem Dollar. Das heißt, der Motor der
Exportwirtschaft wird zukünftig nicht mehr so rund laufen, wie das bisher der Fall gewesen ist.
({10})
Das Wachstum schwächt sich ab. Davon geht auch Ihre
Prognose im Jahreswirtschaftsbericht aus.
Die Zahl von Firmenneugründungen - das stimmt
mich besonders nachdenklich - stagniert bzw. ist rückläufig. Auch dazu gibt es im Jahresgutachten Zahlen, die eine
sehr deutliche Sprache sprechen. Danach hat die Zahl der
selbstständigen Erwerbspersonen 1997 noch um 84 000
zugenommen, 1998 nur noch um 19 000, hat sich aber
1999 um 26 000 verringert und im Jahre 2000 um 17 000
zugelegt.
({11})
Das heißt, in diesen zwei Jahren haben Sie per saldo eine
negative Gründungsbewegung. Das sind Indikatoren, die
Sie nachdenklich stimmen sollten. Ich bitte Sie auf jeden
Fall darum.
({12})
- Hochmut, Frau Kollegin Lotz, kommt vor dem Fall.
Sie sollten unsere Vorschläge - eben weil sie der Sachverständigenrat so nachdrücklich unterstützt - wirklich
ernst nehmen. Ich lese Ihnen noch eine Passage vor:
Nach wie vor umstritten ist die in § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz festgelegte Unzulässigkeit
von Betriebsvereinbarungen. Gleichwohl haben sich
in der Praxis betriebliche Lösungen in großem Umfang durchgesetzt.
Herr Kollege Kolb,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Ja, gerne.
({0})
Lieber Kollege Kolb, die Frage,
die mir vorhin nicht beantwortet worden ist, stellt sich
natürlich immer noch. Vielleicht können Sie mir die Frage
beantworten, die ich vorhin schon dem Kollegen
Brandner stellen wollte.
Wir haben ja leider die Situation, dass im letzten Monat die Arbeitslosenzahlen auch saisonbereinigt wieder
gestiegen sind und nicht einmal die demographische Entwicklung am Arbeitsmarkt widergespiegelt wird. Jetzt
fordern Sie in Ihrer Neuregelung des Tarifvertragsrechts
ein Mehr an Flexibilität, ein Mehr an Mitbestimmung der
Belegschaft im eigenen Betrieb.
({0})
Könnte dieser Anstieg der Arbeitslosigkeit auch darin
begründet sein,
({1})
dass die Wirkungen verschiedener Gesetzesvorhaben der
Bundesregierung - von 630 Mark über die so genannten
Scheinselbstständigen, Pflichtteilzeit, Betriebsverfassung
bis hin zur Gängelung im Tarifvertragsrecht - auf die
Wirtschaft psychologisch so negativ gewesen sind, dass
keine Arbeitsplätze mehr geschaffen werden?
({2})
Stimmen Sie mir weiter zu, dass es für einen Arbeitnehmer günstiger sein kann,
({3})
kurzzeitig weniger Arbeitseinkommen zu haben, dafür
aber langfristig einen Arbeitsplatz zu behalten?
({4})
Herr Kollege Niebel,
ich muss Ihnen leider zustimmen. Die zunächst noch positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die aber jetzt
zum Stocken kommt, ist trotz der gesetzgeberischen Maßnahmen der rot-grünen Bundesregierung zu verzeichnen
gewesen. Natürlich hängen diese Gesetze - 630 Mark,
Scheinselbstständigkeit - mit den Zahlen zusammen, die
ich hier zum Existenzgründungsgeschehen vorgetragen
habe,
({0})
weil man in der SPD offensichtlich nicht bereit ist, zur
Kenntnis zu nehmen, dass es ein notwendiger Zwischenschritt von der Beschäftigung als Arbeitnehmer zum
selbstständigen Unternehmer ist, dass man phasenweise
sich so beschäftigt, wie es von Ihnen als Scheinselbstständigkeit diskriminiert wird.
({1})
Das heißt, dass ein Arbeitnehmer zunächst erst einmal für
seinen bisherigen Arbeitgeber tätig ist, auch mit Familienangehörigen, und dann allmählich sein Unternehmen
entwickelt.
Sie haben also vollkommen Recht
({2})
und ich halte es wirklich für Arroganz, wenn die rot-grüne
Koalition nicht bereit ist, diese grundlegenden Fakten zur
Kenntnis zu nehmen, und so tut, als ob das, was sie in der
Vergangenheit gemacht hätte, absolut richtig gewesen
wäre.
({3})
- Herr Dreßen, ich will noch weiter zitieren aus diesem
Sachverständigengutachten. Da heißt es:
Offenbar besteht in den Betrieben in einem beachtlichen Umfang eine Bereitschaft für dezentrale Lösungen. Sonst hätten in den letzten Jahren viele Betriebsräte nicht einer vom Tarifvertrag abweichenden
Betriebsvereinbarung zugestimmt. Man darf davon
ausgehen, dass sie dies nicht gegen die Interessen der
Belegschaft getan haben.
Der Sachverständigenrat sagt weiter:
Betriebsvereinbarungen haben sich in der Praxis bewährt.
Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen und das ist die
Leitlinie unseres Antrages.
({4})
Bei unserem Vorschlag, § 77 Abs. 3 und auch das
Günstigkeitsprinzip zu ändern, knüpfen wir das Ganze an
ein Quorum. Das ist immerhin ein Stück Absicherung.
Anders als bei Ihren Vorschlägen, wie Betriebsräte gewählt werden sollen - da genügt es vollkommen, wenn
man mittags alleine eine Betriebsversammlung durchführt und sich selbst wählt -, schlagen wir vor, dass unsere Regelung nur dann greifen soll, wenn 75 Prozent der
abstimmenden Arbeitnehmer einer solchen Regelung zustimmen.
({5})
Nur dann, Herr Brandner, soll das Verhandlungsergebnis
auch Vertragsinhalt werden.
({6})
Damit ist der einzelne Beschäftigte ausreichend geschützt.
({7})
Unser Entwurf hat auch das Ziel, die Gesetzgebung
wieder der realen Praxis, insbesondere in Ostdeutschland, anzupassen. Die Tatsache, dass man bei den ostdeutschen Arbeitgebern mangels Mitgliedschaft kaum
noch von Tarifpartei reden kann, spricht doch für sich.
Das heißt, wir müssen weg von der Auffassung der Verbandsgeschäftsführer, auch bei der BDA. Wir müssen uns
den Anforderungen des 21. Jahrhunderts stellen. Das
heißt, wir brauchen flexible, unbürokratische, individuelle Tariflösungen.
({8})
Es kommt immer das Argument, das Sie, Herr
Brandner, heute auch vorgetragen haben: Es gibt ja Öffnungsklauseln. Dazu sage ich Ihnen: Die Öffnungsklauseln sind wie ein Konfektionsanzug, bei dem man ein
bisschen Stoff herauslassen kann, wenn er nicht so richtig
passt. Wir wollen aber Maßanzüge für den Mittelstand.
Der Mittelstand ist unser Jobmotor; deswegen braucht er
optimale Rahmenbedingungen.
({9})
Wir sind die einzige Partei - auf das Abstimmungsverhalten der Kollegin Wöhrl bin ich gespannt -, die die notwendigen Veränderungen bisher so klar formuliert hat.
Unsere Vorschläge zur Änderung des Tarifvertragsgesetzes sind nicht isoliert zu sehen; vielmehr stehen sie in einem Gesamtzusammenhang mit unseren Vorschlägen zur
Modernisierung des Kündigungsschutzgesetzes, mit einer an den tatsächlichen Erfordernissen orientierten Weiterentwicklung des Betriebsverfassungsgesetzes, mit
verbesserten Möglichkeiten befristeter Beschäftigung
und mit unserer klaren Ablehnung eines Rechtsanspruchs
auf Teilzeitarbeit.
({10})
Wir wollen eine Entfesselung des Arbeitsmarktes. Wir
wollen mehr Chancen für neue Arbeitsplätze und wir wollen die besten Entwicklungsmöglichkeiten für den Mittelstand. Wer das auch will, den bitte ich um Zustimmung zu
unserem Antrag.
Vielen Dank.
({11})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Klaus Grehn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Kolb, nach so
viel Widerspruch, den Sie erhalten haben,
({0})
will ich Ihnen mindestens in einem zustimmen: Sie
schreiben in Ihrem Antrag: „Nach wie vor herrscht in
Deutschland eine dramatisch hohe Arbeitslosigkeit.“ Ich
glaube, das ist angesichts von über 4 Millionen Arbeitslosen, angesichts der großen stillen Reserve und angesichts
jenes Teils der Arbeitslosen, den ich als „die Teilzeitarbeitslosen“ bezeichne - diese Menschen wollen voll arbeiten, müssen aber aufgrund der prekären Beschäftigungslage Teilzeit arbeiten -, wahr.
Wenn Sie aber diesem Problem mit dem von Ihnen eingebrachten Antrag begegnen wollen, dann bringt das so
viel wie Luftschaufeln.
({1})
Die Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit liegen eben
nicht in dem starren Tarifsystem oder in der Lohnhöhe,
wie Sie behaupten. Lassen Sie mich als Begründung zwei
Tatsachen anführen, die Ihre Formel „Weniger Lohn und
weniger Tarif gleich weniger Arbeitslosigkeit bei mehr
Arbeitsplätzen“ widerlegen.
Erstens. Die Steigerung der Löhne der deutschen Arbeitnehmer in der gewerblichen Wirtschaft um gut 2 Prozent im vergangenen Jahr war geringer als 1999. Seit Beginn der 90er-Jahre sind die Löhne real weniger als die
Arbeitsproduktivität gestiegen. Trotzdem habe ich in keiner der mir zugänglichen Begründungen für das Sinken
von Arbeitslosigkeit die Erklärung gefunden, das liege an
den niedrigen Löhnen.
Zweitens. In der ersten Lesung haben Sie, Herr Kollege
Kolb - Sie werden sich erinnern -, in einem Zwischenruf
gefragt: Was passiert denn in den neuen Ländern?
({2})
Die Antwort auf diese Frage führt Ihren Antrag allerdings
ad absurdum.
({3})
Die Situation in den neuen Bundesländern ist durch einen
hohen Anteil von Betrieben gekennzeichnet - dieser Anteil wächst -, die keinem Tarifvertrag beigetreten sind
oder die sozusagen kalt austreten, und durch einen hohen
Anteil von Betrieben, die trotz der Löhne, die ohnehin
niedriger als in den alten Bundesländern sind, untertariflich bezahlen.
({4})
Nach Ihren Aussagen müssten die neuen Bundesländer
dementsprechend ein Eldorado für Arbeitsplätze sein.
({5})
Aber das Gegenteil ist der Fall, Kollege Kolb - das wissen Sie so gut wie ich -: die höchste Arbeitslosigkeit trotz
wachsender Abwanderungsquote und zunehmende Armut
trotz mehr Erwerbstätigkeit. Das ist die Wahrheit im
Osten.
({6})
Lassen Sie mich zwei weitere grundsätzliche Bedenken anmelden. Zum einen - da stimme ich dem Kollegen
Brandner, wie in anderen Dingen auch, voll zu -: Das Tarifvertragsrecht ist Ausfluss des Sozialstaatsprinzips.
Wer das Sozialstaatsprinzip angreift, der greift das
Grundgesetz an. Mit Ihrem Antrag sind Sie auf dem Weg,
das Grundgesetz zu missachten.
({7})
Wer anfängt, eine tragende Wand einzureißen, der muss
damit rechnen, dass Teile des Hauses einstürzen. Lassen
Sie die Finger von der tragenden Wand!
Zum anderen: Was halten Sie eigentlich von dem Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft und sozialen Lebenslagen? Die Durchsetzung Ihres Antrages würde für den sozialen Zusammenhalt der
Gesellschaft und für den Produktionsstandort Deutschland
eine nicht hinnehmbare Schwächung bedeuten, also genau
das Gegenteil von dem, was Sie eigentlich erreichen wollen, ganz zu schweigen davon, dass eine solche Entwicklung mit einer Politik der sozialen Gerechtigkeit, für die wir
stehen, nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.
Wenn dieses Land neue Regelungen im Tarifrecht
braucht, dann höchstens Regelungen, die das Aushöhlen
und das Unterlaufen des Tarifrechts verhindern. Dagegen
sollen die vorgeschlagenen Regelungen das deutsche Tarifsystem demontieren.
({8})
Es spricht jetzt der
Kollege Olaf Scholz für die SPD-Fraktion.
({0})
Olaf Scholz [SPD]: Liebe Kolleginnen und Kollegen,
der Antrag der F.D.P. bringt große Probleme mit sich, weil
er nicht ganz im Einklang mit unserer Verfassung steht.
({1})
Unsere Verfassung garantiert die Tarifautonomie. Nun
kann man sich die Ausgestaltung der Tarifautonomie
natürlich vielfältig vorstellen. Man kann sich aber nicht
vorstellen, dass es eine Tarifautonomie gibt, bei der diejenigen, die gar keine Tarifpartner sind, nachher beschließen
können, dass alles, was tariflich vereinbart worden ist,
keine Gültigkeit hat. Im Prinzip schlagen Sie das vor.
({2})
Zum einen schlagen Sie vor, dass neben den Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die sich, wie
von unserer Verfassung garantiert, zu Koalitionen zusammenschließen und Verträge miteinander schließen dürfen,
auch ein Gremium, das keiner der beiden Tarifparteien angehört, nämlich die Versammlung der Belegschaft oder
aber der Betriebsrat,
({3})
beschließen darf, dass die Beschlüsse der Tarifparteien
nicht gelten. Auf diese Weise würde die Koalitionsfreiheit
in unserem Lande abgeschafft. Das ist Inhalt Ihres Antrages und das steht nicht im Einklang mit der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland.
({4})
Des Weiteren schlagen Sie vor - das läuft auf die gleiche Sache hinaus -, dass Betriebsräte gewissermaßen einen Tarifvertrag in der Form ändern können, dass anstelle
von tariflich vereinbarten Löhnen eine Beschäftigungsaussicht tritt. Abgesehen davon, dass Sie in dieser Frage
nicht konsequent sind, sonst müssten Sie festlegen, dass
Beschäftigungsgarantie bedeutet, dass man in den nächsten zwei bis drei Jahren nicht gekündigt werden darf - so
ist es eine abstrakte Beschäftigungsgarantie -, ist dieser
Vorschlag identisch mit dem ersten Vorschlag, denn Sie
schaffen die Möglichkeit, dass ein Gremium, das nicht zu
den Tarifparteien gehört, Vereinbarungen der Tarifparteien aussetzen kann.
Damit gefährden Sie sogar die Grundprinzipien unserer sozialen Marktwirtschaft. Diese beruhen unter anderem darauf, dass Betriebsräte in Deutschland von der gesamten Belegschaft gewählt werden und, anders als in
allen anderen Ländern, keine Gewerkschaftsangehörigen
sein müssen. Wenn Ihr Vorschlag durchkommt, führt das
dazu, dass die Betriebsräte unmittelbar
({5})
zu Tarifpartnern werden und es zu Auseinandersetzungen über Gehaltserhöhungen in den Betrieben kommt.
Damit wird ein zentrales Prinzip unserer Sozialordnung
infrage gestellt. Sie sollten die Finger davon lassen.
({6})
Ich glaube übrigens, dass Sie damit auch den Arbeitgebern in unserem Lande keinen Gefallen tun. Natürlich
beruht der Konsens, der unsere Wirtschaft trägt, darauf,
dass gewissermaßen die betriebliche Ordnung vom Tarifkonflikt und von der Auseinandersetzung über Löhne freigehalten wird. Das ist auch der Sinn des Tarifvorranges.
Sie wollen das alles ändern. Im Ergebnis erreichen Sie dadurch nur, dass es überall Auseinandersetzungen über
diese Dinge geben
({7})
und es zu mehr Streit als bisher üblich kommen wird.
({8})
Im Übrigen muss man einen Punkt noch ergänzen; mir
ist es ganz wichtig, das zu sagen. Sie haben eine klare Vorstellung davon, was unserer Wirtschaft nützt: niedrigere
Löhne, nur niedrigere Löhne. Sie haben keine anderen
Ideen; Sie sind überhaupt nicht intelligent und flexibel,
Sie haben nicht viele Einfälle, sondern immer wieder nur
den gleichen Einfall: niedrigere Löhne nützen. Sie irren
sich.
({9})
Herr Kollege Scholz,
es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage vom Kollegen Dr. Kolb. Lassen Sie die zu?
Ja.
Herr Kollege Scholz,
erklären Sie mir doch bitte einmal, warum bei Holzmann
niedrigere Löhne über einen bestimmten Zeitraum offensichtlich nützlich waren und das sogar von Ihrem Bundeskanzler, wenn ich das richtig sehe, toleriert wurde, aber in
anderen Fällen, wenn der Segen des Bundeskanzlers nicht
erteilt wird, das nicht der Fall sein soll.
Können Sie mir vielleicht bei dieser Gelegenheit auch
sagen, wie Sie zu den Vorschlägen von Herrn Müller stehen und wie Sie beurteilen, dass die Bundesregierung
offensichtlich heute hier nicht sprechen will? Liegt das
vielleicht daran, dass es keine zwischen Herrn Riester und
Herrn Müller abgestimmte Meinung gibt?
({0})
Ich möchte gerne zunächst auf
den letzten Punkt antworten. Die Bundesregierung ist sich
bei uns Abgeordneten der SPD und der Grünen so sicher,
dass wir die Tarifautonomie im Gegensatz zu Ihnen wichtig finden, dass nicht sie das sagen muss, sondern wir Abgeordnete das sagen können.
({0})
Es gibt überhaupt kein Mitglied der Bundesregierung, das
in dieser Frage anderer Meinung wäre, als ich hier dargestellt habe.
({1})
Das wünschen Sie sich, aber das wird durch Wünschen
nicht so.
({2})
Das Zweite. Das Beispiel Philipp Holzmann ist ein völlig falsches und wird auch dadurch nicht richtiger, dass
Sie es trotz vielfacher Belehrungen in diesem Haus und an
anderer Stelle immer wieder bringen. Denn bei Philipp
Holzmann hat etwas stattgefunden, was der Kollege
Brandner und auch andere Redner hier schon dargestellt
haben. Natürlich ist es völlig in Ordnung, wenn im Rahmen der tariflichen Ordnung mit Billigung der Tarifparteien Vereinbarungen getroffen werden, die Abweichungen für bestimmte Zeit enthalten. Das gibt es
massenhaft. In Ostdeutschland gibt es lauter solcher Öffnungen.
({3})
Sie setzen sich nur ideologisch mit der Tarifordnung
unseres Landes auseinander, aber nicht mit der Realität,
die flexibler ist, als die F.D.P. überhaupt ahnen kann.
({4})
Es gibt eine weitere
Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb.
({0})
Herr Scholz, wir alle
haben das verfolgt. Man kann nicht sagen, dass insbesondere die mittelständischen Mitglieder des Tarifverbandes
mit besonderer Begeisterung auf den Vorschlag, Erleichterungen für das Großunternehmen Holzmann zu ermöglichen, eingeschwenkt sind.
({0})
Vielmehr ist das offensichtlich auf massiven Druck der
Gewerkschaften hinter den Kulissen geschehen.
({1})
Mein Punkt ist, dass in bestimmten Fällen,
({2})
wenn es den Gewerkschaften ins Konzept passt, von Tarifvereinbarungen abgewichen werden darf und in anderen Fällen, wenn sie glauben, es besser zu wissen, das
nicht geschehen soll. Können Sie mir einmal diesen Widerspruch erklären?
Das ist ganz einfach. Denn es besteht gar kein Widerspruch.
({0})
Das war nicht einmal rhetorisch gelungen. Sie denken
nicht zu Ende. Einerseits werfen Sie den Gewerkschaften,
aber auch den Arbeitgeberverbänden vor, dass die Tarifordnung nicht flexibel sei. Wenn Ihnen dann aber vorgehalten wird, dass es doch Öffnungen und Flexibilität gibt,
dann sagen Sie: Das ist aber nicht konsequent.
Sie stellen sich eine Welt vor, die es gar nicht gibt, und
kritisieren sie dann gewaltig.
({1})
Das sollten Sie ändern. Sie sollten zur Kenntnis nehmen,
dass unsere Wirtschaftsordnung davon lebt, dass wir sehr
flexible Tarifparteien haben. Deshalb gibt es die Schwierigkeiten, von denen Sie sprechen, nicht.
({2})
Zweite Bemerkung. Sie haben vom Mittelstand gesprochen. Er hat das Problem, von dem Sie sprechen, gar
nicht. Das Problem der mittelständischen Bauwirtschaft
hat Herr Möllemann, als er noch Wirtschaftsminister war
- bis zu diesem Chip -, mit eingebrockt, weil er mitgeholfen hat, dass auf der gleichen Baustelle die einen Leute
6 DM kriegen und die anderen Leute 28 DM kosten.
({3})
Wenn ich Sie konsequent verstehe, haben Sie das so gemeint: Löhne von 28 DM sind falsch; 6 DM sind gut. Aber dann sollen die Wähler das auch wissen.
Da fällt mir eine ganz komische Begebenheit ein.
({4})
Mein DGB-Vorsitzender hat mich darüber aufgeklärt,
dass die Hamburger F.D.P. am 1. Mai einen Stand machen will. Will sie da für die Abschaffung der Tarifautonomie demonstrieren, für die Beseitigung der Gewerkschaften? Was ist das für ein komischer Auftritt zum
1. Mai!
({5})
Wir haben eine sehr ordentliche Wirtschafts- und Sozialordnung. Sie hat viele Merkmale, zu denen wir uns bekennen, wenn wir auch Flexibilität und Modernisierung
benötigen. Unsere Wirtschaftsverfassung lebt von freier
Marktwirtschaft, aber auch von Kündigungsschutz, Sozialversicherung, Betriebsrat und Gewerkschaften. Sie
wollen alle Teile außer der freien Marktwirtschaft in
Frage stellen.
({6})
Ich sage Ihnen: Das würde sich bitter rächen, wenn Sie jemals die Chance hätten, so etwas durchzusetzen.
({7})
Wir haben auf dieser Basis eine erfolgreiche Wirtschaftsordnung aufgebaut. Wir werden sie auch in der
neuen Wirtschaft zustande bekommen. Der Stolz jedes
Unternehmens der IT-Branche, das neu entstanden ist,
wird es sein, zum Beispiel einen Betriebsrat zu haben,
endlich in einen Tarifvertrag einbezogen zu sein.
({8})
Das werden wir dann gemeinsam feiern können.
Schönen Dank.
({9})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Heinz Schemken für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen sicherlich
die notwendige Flexibilität, um Arbeitsplätze zu sichern.
Aber wir können nicht zulassen, Herr Kolb, dass das
Recht des Einzelnen, einen Tariflohn zu bekommen,
durch eine Kollektivabstimmung innerhalb eines Betriebes ausgehöhlt wird. Nur der einzelne Mitarbeiter kann
auf seinen Tariflohn verzichten. An dieser Rechtssituation
kommen wir nicht vorbei. Da beißt die Maus keinen Faden ab.
({0})
Der Tarifvertrag ist eine wichtige Voraussetzung für
die Tarifpartnerschaft. Wir wollen diese Partnerschaft erhalten, weil sie den Betriebsfrieden in der Vergangenheit
gesichert hat und ihn auch heute noch sichert. Sie aber
wollen die Flächentarifverträge abschaffen. Sie gefährden
damit die Tarifautonomie und die Tarifpartnerschaft. Wir
können dem nicht zustimmen.
Allerdings sind wir durchaus der Meinung, dass ein
flexibles Handeln auch im Hinblick auf das Günstigkeitsprinzip neue Möglichkeiten eröffnet. Wir sind offen für
eine entsprechende Diskussion.
({1})
- Nein, wir eiern nicht herum. Der Unterschied zu Ihnen
ist - das sage ich ausdrücklich -, dass ich keine Scheuklappen habe.
({2})
An der großen Zahl von fast 50 000 Tarifverträgen
- hinzu kommen noch 6 000 Haustarifverträge - kann
man erkennen, dass wir eine sehr unterschiedliche Landschaft haben, was die Tarifverträge und die sehr spezifische Situation in den einzelnen Branchen angeht. Wir
möchten einerseits die Tarifhoheit aufrechterhalten; wir
müssen aber andererseits über praktikablere Regelungen
nachdenken. Auch Sie werden an solchen Überlegungen
nicht vorbeikommen.
({3})
Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Kernfrage,
({4})
- nein, es geht um eine andere Frage -, wie die Mitwirkungsrechte weiter entwickelt werden können. Wir befinden uns im Moment in der Diskussion um diese Mitwirkungsrechte derArbeitnehmerschaft. Wir werden diese
Diskussion in den nächsten Wochen fortsetzen. Entscheidend ist, dass wir die Mitwirkungsrechte so ausgestalten,
dass die Arbeitnehmer die Möglichkeit haben, einen Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Betriebes
zu erlangen, wenn es um Abweichungen von Tarifverträgen geht. Andernfalls können sie nicht in verantwortungsvoller Weise mitwirken.
Wir lehnen jede kollektive Verantwortung ab und stellen ausdrücklich fest, dass angesichts der fortgesetzten
Entwicklung der Informationsgesellschaft die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mündiger geworden sind. Es
steht außer Frage, dass sie in der Lage sind, mitzuwirken
und Verantwortung zu tragen.
Wir erwarten eine sachliche Diskussion über das
Betriebsverfassungsgesetz. Wir sind der Meinung, dass
ohne einen Anspruch auf Mitwirkung im Betrieb eine Öffnung des Günstigkeitsprinzips nicht verantwortet werden kann. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
müssen die Möglichkeit haben, zur Einsicht zu gelangen,
dass sich der Verzicht auf Lohn oder auf andere Leistungen lohnt, um Arbeitsplätze zu sichern. Das ist für uns der
ganz entscheidende Punkt.
({5})
Wir halten es für erforderlich, dass das Betriebsverfassungsgesetz geändert wird, und werden praxisnahe Lösungen im Hinblick auf die Betriebsverfassung anstreben.
Aber es muss an der richtigen Stelle die richtige Änderung
erfolgen.
({6})
Wir möchten insbesondere der Tatsache Rechnung tragen,
dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie ich es
eben schon gesagt habe, mündiger geworden sind. Wir
treten dafür ein, dass sie im Betrieb mitwirken und die
wirtschaftliche Situation eines Betriebes bewerten können, wenn es in einer schwierigen Situation um die Erhaltung der Arbeitsplätze geht.
Deshalb sind wir für die Tarifautonomie und für die Tarifpartnerschaft. Allerdings sehen wir in der Frage der Betriebsverfassung für die Bundesregierung eine fast unlösbare Aufgabe. Da gibt es ja zwischen Herrn Müller und
Herrn Riester große Unterschiede. Herr Riester hat gestern Herrn Müller einmal die Hand gedrückt. Aber er
müsste das eigentlich 26-mal tun, denn er weicht 26-mal
vom Regierungsentwurf, über den diskutiert wird, ab.
({7})
Im Übrigen möchten wir keine Fremdbestimmung von
außen, sondern, weil es um mündige Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer geht, die Mitwirkung im Betrieb. Auch
die Überwindung des Klassenkampfes zwischen Kapital
und Arbeit ist übrigens ein ureigenes Anliegen der
CDU/CSU, und zwar seit 1952.
({8})
- Die Überwindung des Klassenkampfes zwischen Arbeit
und Kapital war immer ein Anliegen der CDU/CSU und
hat sich durch unsere Gesetzgebung und durch unsere Initiativen durchgesetzt.
({9})
Sie haben jetzt erstmals die Chance, auf diesem Weg der
Tugenden fortzuschreiten.
({10})
Abschließend zu Ihrer Statistik der Arbeitslosigkeit.
({11})
Das muss einmal geradegerückt werden. Wir liegen bei
fast 4,1 Millionen Arbeitslosen.
({12})
Die Witterung draußen ist so, dass ich heute wieder mal
keinen Schal brauchte.
({13})
Was will ich damit sagen? Sie können sich nicht auf die
saisonbereinigten Zahlen von 4,1 Millionen zurückziehen. Sie wären bei 4,6 Millionen Arbeitslosen
({14})
- ich komme gleich dazu -, wenn Sie nicht folgenden Effekt hätten: Die geburtenstarken Jahrgänge bringen es mit
sich, dass Sie jährlich 200 000 Menschen in den verdienten Ruhestand schicken können.
({15})
Hinzu kommen die 630-Mark-Arbeitsverhältnisse, die in
reguläre Arbeitsverhältnisse umgewandelt worden sind.
({16})
Die Frau Staatssekretärin hat diese Zahl mit 0,4 Prozent
angegeben. Das wären dann noch einmal rund 250 000.
({17})
Das bedeutet, 250 000 Arbeitslose weniger aufgrund
der demographischen Veränderung plus 200 000 Arbeitslose weniger aufgrund der 630-Mark-Arbeitsverhältnisse.
Insofern wäre ich etwas vorsichtig mit Ihrer Feststellung,
({18})
dass nur anderthalb Jahre eine SPD-Regierung am Ruder
sein müsste, um die Arbeitslosenzahlen zu verringern.
Ich kann Ihnen nur eines sagen: Bei der nächsten
Konjunkturabschwächung werden wir wieder gemeinsam
an diese Arbeit herangehen. Darüber werden Sie froh sein.
Ich würde mich an Ihrer Stelle zu dieser Frage bescheidener verhalten.
Kollege Schemken, es
gibt den Wunsch des Kollegen Olaf Scholz, eine Zwischenfrage zu stellen.
Bitte schön.
Haben Sie bei der Lektüre der verschiedenen Statistiken jeweils die Fußnote gesehen, in der
steht: Die Veränderung durch die Einbeziehung der geringfügig Beschäftigten ist berücksichtigt, das heißt, die
Zahlen sind insofern bereinigt? Sie sind also herausgerechnet worden, und damit trifft Ihre Aussage, dass die
Umwandlung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse für die Zahl der Erwerbstätigen eine Rolle spielt,
nicht zu.
({0})
Herr Scholz, 4,1 Millionen sind 4,1 Millionen, Fußnote hin oder her.
({0})
Wenn Sie die 200 000, die in den verdienten Ruhestand
getreten sind, nicht als Entlastung hätten und wenn Sie die
630-Mark-Arbeitsverhältnisse nicht eingerechnet hätten,
dann - davon können Sie ausgehen - läge die Arbeitslosenzahl bei über 4,5 Millionen.
Hinzu kommen Ihre hehren Programme, das sage ich
auch noch einmal. Bei aller Liebe zu den Programmen,
die, was die jungen Arbeitslosen angeht, sicherlich hier
und da ein guter Ansatz sind, so sind es eben doch staatliche Programme. Das ist nicht das, was wir alle miteinander wünschen: dass die Wirtschaft ausbildet und dass die
Menschen über die duale Ausbildung in Arbeit kommen.
Es sind staatliche Maßnahmen, die - damit rühmen Sie
sich ja - fast 300 000 Menschen erfassen. Wenn Sie diese
noch hinzurechnen, sieht die Lage noch dramatischer aus.
Was heißt das? Wir müssen gemeinsam daran arbeiten.
Jedes einzelne Arbeitslosenschicksal ist eines zu viel. Darüber sind wir uns alle einig. Dafür wollen wir aber nicht
solche Gesetze schaffen. Wir können nicht zustimmen,
weil es nicht hilft. Dennoch bitte ich Sie, etwas nobler mit
uns umzugehen. Vielleicht haben Sie uns eines Tages bitter nötig.
Schönen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Klaus Brandner das
Wort.
Meine Damen und Herren!
Sowohl Herr Kolb als auch der Kollege Heinz Schemken
haben die Arbeitslosenzahlen und die Arbeitsmarktdaten
angesprochen. Ohne Frage werden wir mit der Opposition
und insbesondere auch mit einem so angenehmen Kollegen wie dem Kollegen Schemken fair und offen umgehen.
Das versteht sich von selbst. Aber zu den Daten möchte
ich doch klar sagen: Erstens drückt sich der positive Trend
am Arbeitsmarkt durch einen deutlichen Zugang von offenen Stellen aus, nämlich durch einen Zuwachs auf
484 000 im Monat Januar. Das ist ein deutlich positives
Ergebnis.
Zweitens haben sich die Erwerbstätigenzahlen mit denen die Arbeitsplatzentwicklung dargestellt werden kann,
({0})
nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes
im November 2000 gegenüber dem Vorjahresmonat ebenfalls deutlich um 549 000 auf 39,08 Millionen erhöht. Ich
bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Daran ist zu erkennen, dass die Arbeitslosigkeit auch durch den Zuwachs an neuen Arbeitsplätzen deutlich reduziert worden
ist.
({1})
Herr Kolb, Sie könnten jetzt nur eine Kurzintervention bezüglich des Beitrages des Kollegen Schemken machen. Eigentlich hätte
jetzt der Kollege Schemken die Möglichkeit zu erwidern.
({0})
Das muss noch einmal geklärt werden. ({1})
Okay. Es ist geklärt. Der Kollege Kolb bekommt jetzt die
Chance, sich zu erklären, weil er in dieser Kurzintervention angesprochen worden ist.
({2})
Frau Präsidentin! Ich
danke für diese Entscheidung, die ich sehr weise finde.
({0})
Ich habe mich nicht gemeldet, weil mich der Kollege
Brandner in seiner Kurzintervention nicht als angenehmen Menschen erwähnt hat. Damit kann ich leben. Ich
habe mich vielmehr gemeldet, weil ich ihm noch einmal
klar vor Augen führen will, wie unsere Einschätzung der
Entwicklung am Arbeitsmarkt ist.
Herr Kollege Brandner, was die Entwicklung der Zahl
der Erwerbstätigen anbelangt, so kennen Sie sie im Moment so wenig wie wir. Wir wissen, dass sie erst mit Verzögerung von der Bundesanstalt für Arbeit bekannt gegeben werden. Wir kennen die Arbeitslosenzahlen und wir
wissen, dass diese - auch nach Aussage der Bundesanstalt
für Arbeit - saisonbereinigt derzeit steigen. Das ist ein
Faktum.
Wir haben als Bundesregierung auch Phasen erlebt, in
denen wir innerhalb kurzer Zeit enorme Beschäftigungszuwächse zu verzeichnen hatten. Einmal waren es 26 Millionen Beschäftigte, kurz darauf 29,5 Millionen Erwerbstätige in Deutschland. Konjunktur ist keine
Einbahnstraße. Auch Sie werden Phasen erleben, in denen
die Erwerbstätigenzahl rückläufig ist. Ich sage Ihnen jetzt
schon: Mit dem Hochmut, mit dem Sie heute argumentiert
haben, wird Ihnen der Arbeitsmarkt um die Ohren fliegen.
Ich will noch eines ergänzend ansprechen, was ich in
meiner Darstellung vorhin nicht erwähnt habe. Das ist die
Investitionsneigung insbesondere des Mittelstandes. Ich
bin öfter vor Ort, spreche mit dem Mittelstand.
({1})
So war ich am Montag dieser Woche bei einer Vertreterversammlung meiner örtlichen Volksbank. Der Vorstandssprecher hat erklärt, dass die Zahl
({2})
- Herr Brandner, hören Sie doch zu; das ist wichtig für
Sie - der Anträge auf Investitionsdarlehen im letzten Jahr
von 2 000 auf 1 400 zurückgegangen sei. Herr Brandner,
das ist ein Erdrutsch. Das heißt, weite Bereiche des
Mittelstandes enthielten sich offensichtlich bereits im
vergangenen Jahr, bedingt durch die Gesetzgebung, die
Sie vorgenommen haben, jeglicher Investitionen. Ich
sage Ihnen: Das wird sich durch die Veränderungen bei
der Abschreibung, die Sie vorgenommen haben, noch
verschärfen.
Wenn Sie sich weiterhin weigern, solche Frühindikatoren zur Kenntnis zu nehmen, dann werden Sie massive
Probleme mit einem sehr hohen Sockel an Arbeitslosigkeit bekommen, sobald wir in die nächste konjunkturelle
Schwächephase eintreten. Und das wird - das ist absehbar - noch zu Ihrer Regierungszeit sein.
({3})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Sozialordnung zum Antrag der Fraktion
der F.D.P. zur Reform des Tarifvertragsrechts. Es handelt
sich um die Drucksache 14/5214. Der Ausschuss emp-
fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2612 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Raumordnungsbericht 2000
- Drucksache 14/3874 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen
({1})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Europäisches Raumentwicklungskonzept
({2}) - Auf dem Wege zu einer räumlich ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung der EU
- zu dem Entwurf der Mitteilung der Kommission an die Mitgliedstaaten über die Leitlinien für eine Gemeinschaftsinitiative betreffend die transeuropäische Zusammenarbeit
zur Förderung einer harmonischen und
ausgewogenen Entwicklung des europäischen Raums
Anlage des Bundesamtes für Bauwesen und
Raumordnung:
Transnationale Zusammenarbeit in der
Raumentwicklung
- zur der Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Entwurf der Mitteilung der
Kommission an die Mitgliedstaaten über
die Leitlinien für eine Gemeinschaftsinitiative betreffend die transeuropäische Zusammenarbei zur Förderung harmonischen und ausgewogenen Entwicklung des
europäischen Raums ({3})
- Drucksachen 14/1388, 14/1616 Nr. 1.4,
14/3207 Nrn. 2.2 und 2.1, 14/3947 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Götz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner spricht
der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung legt dem Parlament heute den Raumordnungsbericht 2000 vor. Dieser neue Raumordnungsbericht legt in mehrerlei Hinsicht neue Grundlagen.
Erstmals seit 1983 haben wir einen Bericht zur räumlichen Situation im vereinten Deutschland, einschließlich
der europäischen Perspektiven, erarbeitet. Damit ist eine
überfällige Bestandsaufnahme der Situation in den Teilräumen des Bundesgebietes und die notwendige Aktualisierung der Daten und Planungsgrundlagen erfolgt.
Der Raumordnungsbericht enthält erstmals als integralen Bestandteil einen umfassenden Überblick über den
Einsatz der raumwirksamen Bundesmittel. Dies ist natürlich besonders im Hinblick auf die neuen Bundesländer
von Bedeutung.
({0})
Weiterhin ist der Raumordnungsbericht 2000 der Bundesregierung entsprechend der Novellierung des Raumordnungsgesetzes erstmalig vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung in enger Abstimmung mit dem
BMVBW erstellt worden. Ich meine, der Bericht ist so gut
geworden, dass man den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung
an dieser Stelle wirklich einmal danken sollte.
({1})
Aus der Fülle der Aussagen, Trends und Analysen des
Berichtes, die wir sicherlich nur im Ausschuss intensiver
diskutieren können, will ich einige Eckpunkte hervorheben.
Erstens. Wir haben in Deutschland hohe Standortqualitäten. Die deutsche Raum- und Siedlungsstruktur hat
auch im internationalen Maßstab eine sehr hohe Qualität.
Natürlich gibt es Defizite, gerade aus der letzten Zeit, was
beispielsweise die Infrastruktur betrifft. Wir müssen daran arbeiten - das zeigt der Bericht -, diese Defizite gerade im Infrastrukturbereich abzubauen. Das tun wir mit
hohen Investitionen insbesondere im Infrastrukturbereich.
Zweitens. Der Bericht zeigt noch einmal die Vorteile
einer dezentralen Raumstruktur. Wir haben in Deutschland eine polyzentrische Entwicklung; wir haben schon
oft darüber gesprochen. Sie ist von Vorteil - das zeigt sich
ganz deutlich -, aber wir müssen aufpassen, dass sich
diese polyzentrische Entwicklung auch bestätigt. Das
heißt, wir müssen stärker als bisher darauf achten und darauf hinwirken, dass Regionen besser zusammenarbeiten.
Drittens. Der Bericht zeigt, dass wir den Aufbau Ost
auf hohem Niveau weiterführen müssen. Wir haben in unserem Hause durch das Vorziehen des Schlussstrichs beim
Altschuldenhilfe-Gesetz, durch die Art und Weise, wie
wir mit den Leerständen umgehen bzw. wie wir den Städten helfen, sich auch unter negativen Gesichtspunkten zukunftsfähig weiterzuentwickeln, aufgezeigt, wie man die
Aufgabe Aufbau Ost innovativ und kreativ weiterführen
kann. Ich denke, auch das zeigt erste gute Ergebnisse.
({2})
Viertens. Es geht um den Ausbau von Zentren. Ich prophezeie - das tue ich nicht zum ersten Mal -, dass sich die
Stadtentwicklungspolitik in Wirtschaftsstandortpolitik
wandeln wird. Nur in Städten, die eine soziale Balance
und eine gute Verkehrsinfrastruktur haben, die Mobilität
sicherstellen und den Alltag der Menschen organisieren
helfen, werden sich auf Dauer Arbeitsplätze schaffen lassen. Wir müssen also weiter großen Wert darauf legen,
solche Zentren zu entwickeln.
Fünftens. Die ländlichen Regionen müssen in ihrer
Leistungskraft erhalten bleiben. Wir stellen aber fest, dass
es d e n ländlichen Raum nicht mehr gibt, sondern dass es
ganz unterschiedliche Entwicklungen gibt. Ziel muss es
sein, die Leistungspotenziale der ländlichen Regionen
auszubauen. Dabei kann es keine Förderung nach dem
Gießkannenprinzip geben. Wir müssen uns vielmehr auf
gezielte Maßnahmen im ländlichen Raum konzentrieren.
Sechstens. Wir müssen die Mobilität erhalten und
ausbauen. Dazu zählen - das habe ich soeben schon erwähnt - hohe Investitionen in die Infrastruktur.
Siebtens. Die europäische Raumordnung gewinnt an
Bedeutung. Das wird evident, wenn man hier in Berlin
Richtung Osten schaut und daran denkt, dass sich die Europäische Union demnächst erweitern wird. Wir müssen
also großen Wert darauf legen, die Raumordnung und
Raumentwicklung über die derzeitigen Grenzen der Europäischen Union hinaus aktiv weiterzuentwickeln. Wir
haben dazu mit EUREK, mit dem Europäischen Raumentwicklungskonzept, beigetragen, das unter der deutschen EU-Präsidentschaft erarbeitet worden ist.
Ein letzter Gedanke: Der Begriff „Raumordnung“ ist
relativ sperrig. Viele können sich darunter nichts vorstellen. Ich habe gestern mit der Staatssekretärin Ines
Fröhlich aus Sachsen-Anhalt über einige landespolitische
Probleme gesprochen. Da ging es um FOC bzw. um FOCähnliche Entwicklungen an der Landesgrenze von Sachsen-Anhalt zu Sachsen, um den Ausbau der Infrastruktur,
also um die Weiterführung der A 14 Richtung Norden, und
Vizepräsidentin Petra Bläss
um die Problematik der Wohnungsleerstände und der
schrumpfenden Städte. All diese Probleme, die im Alltag
sowohl die Landesregierung als auch die Bundesregierung beschäftigen, haben etwas mit Raumentwicklung,
mit Raumordnung zu tun.
Deshalb sollten wir die Chance nutzen, diesen wirklich
sehr guten Raumordnungsbericht im Ausschuss intensiv
zu beraten. Wir können daraus viel für die Sektoren- und
Fachpolitiken lernen, die sich nicht immer der Raumordnungspolitik unterordnen wollen, die es aber zunehmend tun sollten.
Vielen Dank.
({3})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Peter Götz.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Wenn wir heute im Deutschen Bundestag den seit mehr
als sieben Monaten in der parlamentarischen Warteschleife schlummernden Raumordnungsbericht debattieren, so ist dies spät, sehr spät. Es macht deutlich, welchen
Stellenwert letztlich die Raumordnungspolitik und die
Städtebaupolitik bei Rot-Grün haben. Übrigens, der Begriff Raumordnung wurde bei der Neubildung des zuständigen Ministeriums ganz gestrichen. Herr Staatssekretär, Raumordnungsfragen sind für eine nachhaltige
Zukunftspolitik bedeutend und müssen herunter vom Abstellgleis.
Der Raumordnungsbericht setzt nach Auffassung der
CDU/CSU die hohe Qualität seiner Vorgängerberichte
fort. Der letzte stammt übrigens nicht, wie Sie, Herr
Staatssekretär, soeben festgestellt haben, von 1983, sondern von 1993 und war wegen seiner erstmaligen fundierten Aussagen über die raumordnerischen Perspektiven nach der Wiedervereinigung von besonderem
Interesse.
Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung hat
den Raumordnungsbericht 2000 erarbeitet; dafür bedanken auch wir uns.
Die Regierung hat den Bericht nicht nur spät, Herr
Staatssekretär, sondern auch noch mit gleichgültigen Allgemeinplätzen und substanzlosen Ankündigungen kommentiert.
({0})
Ich zitiere zwei Beispiele: „Eine Politik der Innenstadtstärkung und -förderung“ sei notwendig, heißt es da. Dies
ist völlig richtig. Aber wann und mit welchen Inhalten erfolgt dies? Das zweite Zitat lautet: In den neuen Ländern
sind - Sie haben es angesprochen - „die wohnungswirtschaftlichen, städtebaulichen und sozialen Aspekte des
Wohnungsleerstandes gleichermaßen zu berücksichtigen“. Dies ist richtig; aber der bloße Hinweis auf die Berufung einer Expertenkommission offenbart alles andere
als Tatendrang und Entscheidungsfreude.
({1})
Wir sollten uns deshalb auch die von unserer Fraktion
seit langem geforderte und vor kurzem endlich vorgelegte
Raumordnungsprognose bis 2015 anschauen: Dort wird
deutlich angemahnt, dass die Wohnungsbautätigkeit unter rot-grüner Regie „an einem Niveau angelangt ist, das
langfristig nicht unterschritten werden sollte“. Es war persönliches Pech, dass an demselben Tag, an dem der Minister behauptete, die Einbrüche beim Eigenheim- und Mietwohnungsbau seien eine weiche Landung, die Institute
ihm mit weit pessimistischeren Prognosen in die Quere
kamen.
Ich begrüße ausdrücklich, dass wir die nationale und
die europäische Raumordnung zusammen debattieren;
denn der Einfluss Europas auf unsere Entwicklung wird
immer stärker. Wir brauchen dringend mehr Aufmerksamkeit für die Entscheidungen aus Brüssel. Da hat diese
Regierung ein Riesendefizit. Der deutsch-französische
Motor für Europa ist ins Stocken geraten. Wir brauchen
nur heute wieder Zeitung zu lesen. Das kann auch nicht
durch Sauerkrautessen des Bundeskanzlers im Elsass ausgeglichen werden. Hier ist mehr notwendig.
({2})
Schauen wir uns den Raumordnungsbericht an. Europa
kommt ganz am Schluss zur Sprache - auf 15 Seiten von
über 300; das macht gerade einmal 5 Prozent aus.
({3})
Diese Regierung verschläft wichtige Weichenstellungen in der Europapolitik. Die Frage der Zuständigkeiten
und die Frage der Kompetenzen wurden in Nizza auf die
lange Bank geschoben. Wir brauchen, um in der Bevölkerung eine Akzeptanz für Europa zu erreichen, eindeutig
geregelte Zuständigkeiten.
Ferner muss das für Deutschland wichtige Subsidiaritätsprinzip, das von der Kohl-Regierung im Vertrag
von Amsterdam festgeschrieben wurde, weiterentwickelt
werden. Wir brauchen eine Verankerung der kommunalen
Selbstverwaltung auf europäischer Ebene. Es muss
durchgesetzt werden, dass die Zuständigkeiten für die Europäische Kommission abschließend festgeschrieben
werden; dann hört das Kompetenzgerangel zwischen den
Ebenen auf und es gibt klare Verantwortlichkeiten und
Transparenz.
Aber was tut die Bundesregierung auf diesem Gebiet?
({4})
Nichts. Dem Kanzler ist es allemal egal und der Außenminister prüft, ob er Steine auf einen Polizisten oder einfach nur so in die Luft geworfen hat.
({5})
Doch zurück zum Europäischen Raumordnungskonzept, zum EUREK. Für uns ist es wichtig, dass EUREK
kein Dokument der Europäischen Kommission darstellt,
sondern ausschließlich im Sinne der Subsidiarität als Ergebnis mitgliedstaatlicher Zusammenarbeit gesehen wird.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legt Wert auf die
Feststellung, dass EUREK keine neuen Kompetenzen für
die Europäische Union begründen darf. Dabei muss es
bleiben.
({6})
Um negative Auswirkungen auszuschließen, ist darauf
hinzuwirken, dass dort, wo die Rechte der Kommunen aus
Art. 28 unseres Grundgesetzes in Bezug auf ihre Planungshoheit berührt werden, das Subsidiaritätsprinzip auf
keinen Fall ausgehöhlt werden darf. Wir erleben es seit
zwei Jahren in Deutschland, dass sich die Bundesregierung genau umgekehrt verhält: Kosten werden immer
wieder auf die Kommunen und ihre Haushalte geschoben.
Dafür gibt es dort neue Aufgaben ohne Kostenausgleich,
({7})
sei es durch das Umpolen von Rentnern zu Sozialhilfeempfängern oder sei es durch das Einkassieren von
100 Milliarden DM UMTS-Erlösen zulasten der Kommunen und der Länder - um nur einige wenige Beispiele
der jüngsten Zeit zu nennen. Das ist nicht nur unanständig, sondern auch - ich behaupte - verfassungswidrig.
({8})
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich das EUREK
genau anschauen, werden Sie viele der von CDU und
CSU geforderten raumordnungspolitischen Ziele klar und
deutlich wiederfinden.
({9})
Wir haben bis 1998 die Bau- und Raumordnungsgesetze
so novelliert, dass eine nachhaltige Entwicklung möglich
ist. Schon heute gilt die Zeit mit den Bauministern Töpfer
und Oswald als eine große Ära der Städtebau- und
Raumordnungspolitik.
({10})
Mehr denn je ist eine Zusammenarbeit der regionalen
und lokalen Gebietskörperschaften über nationale Grenzen hinweg erforderlich. Die von Klaus Töpfer eingeleitete grenzüberschreitende Kooperation ist in der
Versenkung verschwunden, obwohl dringender Handlungsbedarf besteht. Ich greife das auf, was Sie, Herr
Staatssekretär, gesagt haben. Ich nenne die Stichworte Fabrikverkauf oder FOC - Factory Outlet Center, wie das so
schön neudeutsch heißt. In Grenzregionen spielen Investoren die Gemeinden diesseits und jenseits der Grenze bei
der Ansiedlung großflächiger Einzelhandelsbetriebe,
meist auf der grünen Wiese, gegeneinander aus. Was tut
die Bundesregierung? - Nichts, nur Gespräche, Gespräche, Gespräche. Das ist zu wenig. Es besteht dringender raumordnungspolitischer Handlungsbedarf, der sich
nicht im Schlafwagen erledigen lässt.
Nationale Genehmigungsbehörden stoßen an ihre
Grenzen. Wir brauchen keine neuen Behörden. Wir brauchen vielmehr grenzüberschreitende Konsultationsmechanismen; wir brauchen eine gegenseitige grenzüberschreitende Unterrichtung. Der Deutsche Verband für
Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung hat Leitlinien für die Ausarbeitung grenzübergreifender Konzepte
entwickelt. Es lohnt sich, diese Leitlinien aufzugreifen.
Handeln Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank! Unser Land in der Mitte Europas hat Binnengrenzen und räumliche Bezüge wie kein anderes. Das
macht Arbeit. Darin liegen aber auch Chancen für die Entwicklung über die Grenzen hinweg, nun auch nach Polen
und in die Tschechische Republik.
Das alles sind wichtige Aufgaben, um die sich ein Bauund Raumordnungsminister - sofern es ihn geben sollte dringend kümmern sollte. Vielleicht ist die heutige
Debatte dafür ein Anstoß; es wäre gut für die Menschen
in Europa und für die Menschen in unserem Land.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Daten und Prognosen des Raumordnungsberichts zeigen uns, dass wir an zwei Stellen noch Handlungsbedarf haben. Von daher denke ich, dass wir keine
Sonntagsreden halten sollten, sondern uns den Themen
stellen sollten, die uns nicht nur kurzfristig, sondern auch
in den nächsten Jahren herausfordern werden: Das erste
Thema sind die überall im Lande ungebremst fortschreitenden Suburbanisierungstendenzen in den Ballungsgebieten - in West und Ost -, das zweite Thema die anhaltenden Entleerungsprozesse in eigentlich fast allen
Regionen von Ostdeutschland außer dem Umland von
Berlin. Wir sollten uns beiden Themen mit großer Ernsthaftigkeit widmen,
({0})
zumal es da überhaupt keine Schnelllösungen gibt. Daher
werbe ich dafür, dass wir das als gemeinsame Aufgabe betrachten, nicht als Parteiprofilierungsthema.
({1})
Lassen Sie mich ein paar Sätze zur Suburbanisierung,
zur Zersiedlung sagen. Es ist tatsächlich so, dass die Bevölkerungsdynamik in den großen Ballungszentren und
deren Umland inzwischen deutlich zulasten der Kernstädte geht. Wir finden inzwischen selbst in großen
Schwerpunkten wie Hamburg, Frankfurt und München
die Situation vor, dass die Bevölkerung in den Kernstädten deutlich abnimmt, an der Peripherie aber überproportional zunimmt. Neben dieser Entleerung aus den Städten
in den Umlandring gibt es auch eine Entleerung des ländlichen Raumes in das Umland der Ballungszentren. Auch
das wird zunehmend ein Problem werden.
Das ist eine Entwicklung, die zunehmend dramatische
Folgen für unsere Städte hat. Ich klammere wegen der
kurzen Zeit einmal den ländlichen Raum aus, obwohl ich
auch die Diskussion darüber, welche Handlungsschritte
dort nötig sind, für sehr wichtig halte. Die Städte dürfen
nicht weiter geschwächt werden, sondern müssen die
Chance bekommen, ihre Funktion als Wohnstandort neu
und wieder zu gewinnen. Das heißt, wir dürfen nicht immer nur erstens nach mehr Wohnungsbau und zweitens
nach mehr Eigenheimen rufen - das ist die Tendenz, die
bisher die Politik beherrscht hat -, sondern müssen von
der bisherigen grundsätzlichen Orientierung auf Siedlungserweiterung zur Pflege und Weiterentwicklung des
Siedlungsbestandes übergehen.
({2})
Das bedeutet auf der einen Seite Bestandserneuerung,
das bedeutet auf der anderen Seite Neubau im Siedlungsbestand, Aktivierung von Brachen und Lücken und
so weiter. Wir haben das hier schon öfter diskutiert. Es
gibt durchaus Chancen zu diesem Umsteuern, denn wir
haben auch im Bestand Flächenpotenziale. Die Experten
sagen, dass die Siedlungsflächenzunahme durch politisches Handeln von derzeit 17 Prozent auf 7 Prozent gesenkt werden kann, wenn die politischen Parameter
Schritt für Schritt in diese Richtung verändert werden. Ich
denke, das ist die Herausforderung, der wir uns in den
nächsten Jahren stellen müssen.
Wir müssen uns auch den umfangreichen Aufgaben in
der Bestandserneuerung stellen. Wir müssen die Städte familiengerecht ausbauen; sie müssen wieder kinderfreundlich und überschaubar werden. Wenn wir auf der einen
Seite wissen, dass das Einfamilienhaus nicht das Bild der
Zukunft sein kann, mit dem wir unser ganzes Land weiterentwickeln können, müssen wir auf der anderen Seite
sagen: Der Achtgeschosser ist es auch nicht. Wir können
durch Überverdichtung in den Städten kein familiengerechtes Wohnen schaffen. Von daher ist sowohl die planerische als auch die stadtentwicklungspolitische
Konzeption, Idee und Fantasie gefragt, in dieser Form
städtische Wohnungen familien- und kindergerecht zu
entwickeln und auch das Wohnumfeld und die Verkehrspolitik und Verkehrsplanung entsprechend zu entwickeln.
({3})
Lassen Sie mich noch ein zweites Thema ansprechen,
das mir besonders am Herzen liegt.
Frau Kollegin
Eichstädt-Bohlig, bevor Sie das tun, gibt es eine Frage.
Franziska Eichstädt-Boling: ({0}): Okay.
Bitte, Herr Kollege
Goldmann.
Frau Kollegin,
Sie werden im „Weserkurier“ mit einer Aussage zu dem
Bereich zitiert, den Sie gerade angesprochen haben. Es
geht um die Eigenheimzulage. Es wird berichtet, dass Sie
sagen, man solle die Eigenheimzulage nicht mehr für
Bauten im Außenbereich geben, sondern nur noch beim
Bau in innenstädtischen Bereichen. Ist also Ihre politische
Überlegung, den Zuschuss zu kürzen, wenn eine Familie
ein Eigenheim auf der grünen Wiese oder im Außenbereich baut, und eine höhere Förderung für den Eigenheimbau in innenstädtischen Bereichen zu gewähren?
Ich glaube, dass wir es nicht schaffen werden,
in dieser Legislaturperiode die Eigenheimzulage zu reformieren. Aber ich halte es für wichtig, dass wir die Zeit bis
zur nächsten Legislatur nutzen, um die Diskussion darüber zu führen, an welchen Stellen diese gesetzliche Regelung reformiert werden muss, um nachhaltige Siedlungsentwicklungen zu stärken. Dazu gehören aus meiner Sicht
zwei wichtige Parameter, über die wir zunächst diskutieren, bei denen wir dann aber auch politisch handeln müssen. Das ist die Verstärkung der Bestandsorientierung gegenüber der jetzt dominierenden Neubauorientierung. Wir
fördern jetzt den Neubau mit 5 000 DM pro Familie - ohne
Baukindergeld - und den Bestandserwerb mit 2 500 DM.
Es bedarf zumindest einer Angleichung und Verstärkung
der Bestandsorientierung. Das kann man mit Investitionen
verbinden. Ich möchte jetzt nicht ins Detail gehen, obwohl ich es sehr nett finde, dass Sie mir diese Frage gestellt haben.
({0})
Auf der anderen Seite müssen wir aber auch überlegen - denn es geht mir nicht um Neubaufeindlichkeit -,
inwieweit wir eine Regionalisierung in der Neubauförderung oder gegebenenfalls in beiden Ebenen, in
der Bestands- und der Neubauförderung erreichen, indem
wir das Bauen in den Städten verstärkt fördern, aber nicht
die ständige weitere Zersiedelung.
({1})
Im Moment halte ich es für das Allerwichtigste, die Bestandsförderung zu stärken.
Wollen Sie, dass ich die Antwort noch weiter ausführen? Ich kann gern noch einen Vortrag halten.
Wollen Sie die
Eigenheimzulage staffeln, je nachdem, wo derjenige, der
das Geld in Anspruch nehmen will, baut?
Ich finde es nett, dass Sie die Antwort noch
einmal haben wollen. Ich habe Ihnen eben deutlich gesagt,
dass ich in dieser Legislaturperiode keine Veränderung am
Eigenheimzulagengesetz fordern würde, dass ich aber mittel- und langfristig, das heißt für die nächste Legislaturperiode, beide Parameter, den Regionalisierungsfaktor und
die verstärkte Bestandsorientierung, für diskussions- und
entscheidungswichtig halte.
({0})
Gestatten Sie, Herr Kollege Goldmann, dass ich noch
einige Sätze zu dem Thema der Ungleichzeitigkeit der
Entwicklung in West und Ost sage. Ich möchte das hervorheben, weil ich glaube, dass dies vielen gar nicht bewusst ist: Das Raumordnungsgesetz verpflichtet uns
ausdrücklich, auf die räumlichen und strukturellen Ungleichgewichte zwischen Ost- und Westdeutschland
einzugehen, sie auszugleichen, und es verpflichtet uns,
die räumlichen Voraussetzungen für die EU-Erweiterung
zu schaffen. Das beides sind gesetzliche Vorgaben, die an
die Politik die Anforderung stellen, Ostdeutschland zu
stärken. Wir sollten auch bei diesem momentan strittigen
Thema nicht mit Aktuellen Stunden Pingpong zwischen
den Parteien spielen, sondern uns sehr ernsthaft mit der
Entwicklung in Ostdeutschland auseinander setzen, wo
sich zeigt, dass sich seit 1997 die Schere zwischen Ost
und West wieder weiter öffnet, statt dass sie sich Zug um
Zug schließt. Wir haben dort das Problem der extrem hohen Arbeitslosigkeit, das Problem des Bevölkerungsrückgangs, das Problem der Wirtschaftsstrukturschwäche und
das große Problem des Wohnungsleerstands. Das sind
Themen, denen wir uns sehr wohl wiederum nicht im
Schnellschuss, sondern kontinuierlich widmen müssen.
Insofern möchte ich alle Beteiligten bitten, es nicht als
eine gönnerhafte Geste zu sehen, dass wir dem Osten
etwas besonders Gutes tun. Vielmehr ist es unsere gesetzliche Pflicht, in dieser Form zu handeln. Wir müssen erkennen, dass Ostdeutschland die Suburbanisierung, die
Westdeutschland in 30 bis 40 Jahren erfahren hat, im Zeitraffer erlebt, sodass die Kombination von Bevölkerungsrückgang und Zersiedelung zum entscheidenden Problem
wird.
Wir verbinden Zersiedlung immer mit anhaltendem
Bevölkerungswachstum. Vor unserem inneren Auge tauchen München, Stuttgart oder Frankfurt auf. Wir haben es
aber in Ostdeutschland bei dem Thema Zersiedlung mit sinkender Bevölkerungszahl und Überalterung der Bevölkerung zu tun. Im ländlichen Raum haben wir das Problem,
dass die Bevölkerung über kurz oder lang stark überaltert
sein wird, weil die jungen Leute entweder abwandern oder
in die Städte gehen, wo sie Arbeit finden.
Wir müssen uns dem Thema Ostdeutschland in einer
sehr differenzierten Form widmen. Wir müssen zwischen
den Regionen unterscheiden, die als Wachstums- oder Tourismusregionen durchaus gute Chancen zur Entwicklung
haben, und anderen Regionen, bei denen es darum geht, den
Status Quo zu halten, die Bevölkerung - ich meine vor allem junge Menschen - zu halten und die Wirtschaft mit
aller Kraft zu konsolidieren.
Insofern werbe ich dafür, differenzierte Leitbilder zu
entwerfen und den Grenzregionen, die in Hinsicht auf die
EU-Osterweiterung eine neue Verantwortung bekommen,
in besonderer Weise Hilfe zukommen zu lassen. Ich
möchte dafür werben, für Ostdeutschland differenzierte
Leitbilder statt Klischees zu setzen. Man darf den Osten
weder besonders positiv noch besonders negativ sehen.
Man muss genau hinschauen. Dann finden wir auch Lösungs- und Handlungswege.
({1})
Das Wort hat der Kollege Michael Goldmann für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Vorlage des
Raumordnungsberichtes 2000 des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, eines Gemeinschaftswerks mit
dem BMVBW, wird ein neuer und guter Weg beschritten,
der die Wechselwirkung zwischen den bestehenden und
den zukünftigen nationalen und internationalen bis hin zu
den globalen Auswirkungen außerordentlich qualifiziert
darstellt.
Der Raumordnungsbericht ist eine wirklich fundierte
Grundlage, auf der es zukünftig aufzubauen gilt und die
es auch zu nutzen gilt.
({0})
Der Kollege Götz von der CDU hat es schon angesprochen: Der Bericht ist grenzüberschreitend, europäisch
orientiert, berücksichtigt aber auch das Wechselspiel zwischen den Ballungsräumen und dem Umland.
Ich finde es sehr gut, dass das BBR mit neuen Medien
dazu beitragen will, dass die Informationen, die dort vorliegen, jedem für die politische Arbeit zur Verfügung stehen. Das tut der Arbeit im Bund, in den Ländern wie auch
im kommunalen Bereich und dem Zusammenwirken mit
Fachorganisationen nur gut.
Lassen Sie mich nun auf einige Dinge sowohl unterstützend als auch kritisch eingehen. Zur Bevölkerungsentwicklung: Interessant ist die Feststellung, die in dem
Bericht, der in weiten Teilen rückwärts gerichtet ist und
auch noch die Zeit der Vorgängerregierung erfasst, zum
Ausdruck gebracht wird:
Nur durch die natürliche Bevölkerungsentwicklung,
ohne Zuwanderung von Ausländern könnte der Bevölkerungsstand keineswegs gehalten werden.
Deswegen liegt die F.D.P. mit ihrem Zuwanderungssteuerungs- und begrenzungsgesetz hundertprozentig richtig.
Ich glaube, es ist dringend geboten, dies endlich in die Tat
umzusetzen.
({1})
Ich finde es positiv, dass in dem Bericht klar wird, welch
eine enorme und politisch wichtige Aufgabe es für uns ist,
die Integration von Ausländern in Deutschland noch
weiter zu fördern.
Im Bereich von Beschäftigungsentwicklung und
Strukturwandel sind - da bin ich sicher - die Betrachtungen im Bericht zu positiv. Es ist nicht mehr so, dass
eine rege Investitionstätigkeit stattfindet. Gerade die Bauwirtschaft spürt es im Moment sehr deutlich. Die InvestiFranziska Eichstädt-Bohlig
tionen sind auch vor dem Hintergrund falscher politischer
Weichenstellungen durch die Bundesregierung nach unten gegangen.
({2})
Dem muss meiner Meinung nach energisch entgegengetreten werden. Sie sollten darüber nachdenken, ob nicht
zum Beispiel Ihre Mietrechtsvorstellungen in eine völlig
falsche Richtung gehen.
Interessant und überraschend ist der Beschäftigtenbesatz. Das ist ein unglückliches Wort, weil es schließlich
um Menschen geht. Er hat sich zwischen Ost- und Westdeutschland ungefähr angeglichen. Das Verhältnis beträgt
418 zu 427 Erwerbstätige je 1 000 Einwohner.
({3})
- Nein, das hat nichts mit dem Wegsterben zu tun, sondern mit großen Anstrengungen, Frau Ostrowski. Ich
denke, auch Sie haben den Bericht gelesen. Sie können
hier zu keinem anderen Ergebnis kommen. Ich will nachher noch mit einigen Zahlen belegen, dass in diesem Bereich viel getan worden ist.
Der anhaltende Verstädterungsprozess wird beschrieben. Es gibt Empfehlungen, ähnliche Wege wie die
Region Stuttgart oder die Region Hannover zu gehen. Ich
bin dafür, dass man diesen Weg geht. Aber ich bitte auch
sehr nachdrücklich, dass darauf geachtet wird - von uns
allen, aber besonders von der Bundesregierung -, dass die
ländlichen Räume dabei nicht zu kurz kommen.
({4})
Denn ein Ballungsraum an der einen Stelle, sozusagen in
der Stärke der Metropole, hat so viele Vorteile gegenüber
dem ländlichen Raum, dass dieser - wenn man ihn nicht
besonders pflegt - hinten herunterfällt.
Ich bin sowieso der Meinung, dass die Darstellungen
zum ländlichen Raum im Bericht insgesamt zu positiv
sind. Ich finde es nicht gut, dass in diesem Bericht
zwischen ländlichem Raum und peripherem ländlichen
Raum unterschieden wird. Man sollte sehr deutlich sagen,
dass der periphere ländliche Raum enorme Strukturschwächen hat: Er leidet unter Arbeitsplatzmangel sowie
unter unzureichender Infrastruktur und hat, auch für junge
Menschen, zum Teil eine geringe Attraktivität. Dies mindert die Zukunftschancen dieser Räume.
Für mich und meine Fraktion leite ich persönlich daraus eine besondere Verpflichtung der Politik für den
ländlichen Raum ab.
({5})
Ich warte darauf - ich denke, das sollten wir gemeinsam
tun; in diesem Punkt hat der Kollege Götz Recht; denn
diese Sache muss mit mehr Tempo vorangetrieben werden -, dass die Bundesregierung ihrer Koalitionsvereinbarung entsprechend eine integrierte regionale und strukturpolitische Anpassungsstrategie für ländliche Räume
erarbeitet. Zurzeit kann ich hier nicht sehr viel erkennen.
({6})
- Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist einfach
sehr, sehr schwierig: Die Bahn zieht sich aus dem ländlichen Raum zurück, BSE ist für den ländlichen Raum eine
Katastrophe, und die Einrichtungen des Bundes ziehen
sich aus dem ländlichen Raum zurück. Morgen werden
wir ja eine Diskussion darüber führen, inwieweit zum
Beispiel Bundeswehreinrichtungen in den ländlichen
Räumen bleiben, um dort Arbeitsplätze zu sichern.
({7})
- Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Landkreis Emsland verliert mit einem Handstreich 1 500 Arbeitsplätze.
Das hat für den ländlichen Raum enorm große Auswirkungen. Ich denke, in diesem Punkt sollten wir uns im
Grunde genommen einig sein.
({8})
Lassen Sie mich, nachdem ich über den ländlichen
Raum gesprochen habe, ein besonderes Gewicht auf das
legen, liebe Kollegin Ostrowski, was in den neuen Ländern getan worden ist. Auch wenn Sie die Dinge an der
einen oder anderen Stelle manchmal nicht so sehen wollen, wie sie sind, müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen,
dass in Kapitel 8 des Berichtes ganz klar gesagt wird:
Von 1991 bis 1998 sind 1 826 Milliarden DM an
raumwirksamen Mitteln verausgabt worden. Davon
ist der weitaus überwiegende Teil den neuen Ländern
zugute gekommen. Nach der Einbindung der neuen
Länder in den Länderfinanzausgleich - ({9})
- Das steht in dem Bericht. Das ist nicht von mir. Der Bericht ist im Zusammenwirken mit dem Ministerium zustande gekommen.
Zum Beispiel im Jahre 1998 sind von 13,5 Milliarden DM 11 Milliarden DM in die neuen Länder geflossen.
Ich finde, das ist eine großartige Leistung der Politik, eine
großartige Leistung unserer Gesellschaft insgesamt und
zeigt eine hohe Fürsorgehaltung gegenüber den Menschen
in den neuen Ländern. Ich bin stolz darauf und freue mich
darüber. Wir sollten diesen Prozess fortsetzen.
({10})
Ich möchte noch einen Bereich ansprechen, in dem
auch Zahlen genannt werden und der angesichts der aktuellen Diskussion um die Landwirtschaft interessant ist. Es
wird ausdrücklich betont, dass man darauf setzen soll,
eine multifunktionale Landwirtschaft zu erhalten. Hier
fordere ich wirklich etwas mehr Vernunft in der Sache.
Denn ich glaube, nur Dummheit fordert ein Gegeneinander von ökologischer und konventioneller Landwirtschaft.
({11})
Nein, wir brauchen beide Säulen, um im ländlichen Raum
und in der Lebensmittelwirtschaft insgesamt erfolgreich
zu sein.
({12})
Herr Kollege
Goldmann, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.
Ja, Frau Präsidentin.
Eine letzte Bemerkung: Raumordnerische Zusammenarbeit nimmt in Europa einen immer höheren Stellenwert
ein. Ich bin froh, dass auch die Europäische Union das so
sieht. Auch bin ich dafür, dass wir klar sagen, was die Aufgabe Europas ist und was unsere Aufgabe ist. EUREK,
INTERREG und ähnliche Programme helfen, Arbeitsplätze bei uns zu sichern und Zukunftsarbeitsplätze zu
schaffen. Der Bericht ist eine gute Grundlage für gemeinsames Arbeiten in diesen Bereichen. Ich bedanke mich für
diesen Bericht.
({0})
Jetzt spricht die Kollegin Christine Ostrowski für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Den Autoren dieser seriösen Analyse
gilt mein Respekt. Das sage ich aus vollem Herzen. Eigentlich hätten sie es verdient, dass wir diesen Bericht in
der Kernzeit behandeln. Denn das, was sie analysieren
- die Verteilung der Bevölkerung, der Arbeitsplätze und
der Infrastruktur -, sind Bedingungen, die weitaus dominanter sind als so manch anderes Thema, über das hier
sehr heftig und mit tagespolitischem Geschwätz diskutiert
wird.
({0})
Der Bericht soll eine Frühwarnung sein, so schreibt die
Bundesregierung in ihrer Stellungnahme. Sie hat Recht, er
ist eine Frühwarnung. Ich bin mir nur nicht so sicher, ob
er von der Politik tatsächlich als Frühwarnung begriffen
worden ist. Sie gestatten, dass ich das wegen der Kürze
der Redezeit nur an einem Beispiel festmache.
Auch ich rede - ich habe mich gefreut, Frau EichstädtBohlig, dass Sie das angesprochen haben - von der Bevölkerungsentwicklung im Osten Deutschlands, weil
ich der Meinung bin, dass der Politik überhaupt nicht klar
ist, was sich im Osten Deutschlands vollzieht. Ich meine
nicht allein die Abwanderung, die schon für sich genommen schlimm genug ist. Allein die Tatsache, dass der
Osten über eine Million Menschen verloren hat, hat lang
anhaltende und nachhaltige Folgen.
Viel schlimmer ist aber die natürliche Bevölkerungsentwicklung. Sie können in diesem Raumordnungsbericht
nachlesen, dass die Sterberate im Osten derart hoch ist,
dass wir es mit einem rasanten Rückgang der Bevölkerung im Osten zu tun haben werden. Das Land Sachsen
wird im Jahre 2100 noch so viele Einwohner haben wie
Berlin heute. Dieser natürliche Bevölkerungsrückgang ist
durch nichts einzudämmen. Selbst wenn jetzt statistisch
jede Frau zwei Kinder bekäme und die weiblichen Nachkommen wieder je zwei Kinder, würde es mindestens
80 Jahre dauern, den Prozess der Bevölkerungsentwicklung umzukehren.
({1})
Es muss jedem klar sein, was diese Bevölkerungsentwicklung für die Zukunft der Wirtschaft bedeutet. Heute
schon fehlen den Kindergärten die Kinder, den Wohnungen die Mieter und morgen braucht man in einem Ort
nicht mehr zehn Friseure, sondern nur noch fünf, und
nicht mehr acht Bäcker, sondern nur noch vier. Den Einkaufszentren werden die Käufer fehlen.
Die Grafiken des Berichtes machen das in plastischer
Weise klar. Man sieht die Grenze zwischen West und Ost
ganz deutlich. Bei der Darstellung der Bevölkerungsentwicklung sehen Sie ganz Ostdeutschland in Blau, das bedeutet Sterbeüberschüsse. Sie sehen die Arbeitsmarktentwicklung in Ostdeutschland hellbraun herausgehoben.
Das heißt, dort findet man die vielen Arbeitslosen. Sie
sehen bei der Darstellung des Kaufkraftindex Ostdeutschland hellblau hervorgehoben. Selbst der höchste
Kaufkraftanteil in ganz Ostdeutschland liegt noch unter
dem vergleichbaren Wert der Grenzregion in Westdeutschland. In grüner Farbe sehen wir die strukturschwachen ländlichen Räume und können nachvollziehen, dass sie sich in Ostdeutschland konzentrieren. Sie
können Faktor für Faktor in diesem Raumordnungsbericht heranziehen und werden vom Grundsatz her auf jeder Karte die Grenze zwischen West und Ost erkennen
können.
Wir müssen zu einer Politik kommen, die durch zwei
Elemente gekennzeichnet ist: Die Politik, die die Verhältnisse nicht kurzfristig ändern kann, muss zur Kenntnis
nehmen, dass sie es im Osten Deutschlands mit einem Bevölkerungsschwund zu tun hat. Sie muss diesen
Bevölkerungsschwund mit entsprechenden Maßnahmen
begleiten. Das bedeutet, dass es nicht zu Konkursen von
Wohnungsunternehmen kommen darf. Sie muss solche
Brüche und Verwerfungen vermeiden.
Gleichzeitig muss die Politik dafür sorgen, dass die
Kinder, die heute in Ostdeutschland geboren werden, dieses Land so lebenswert finden, dass sie dort ein Leben
lang wohnen bleiben wollen und den Wunsch haben, selber Kinder zu bekommen. Diese Nachkommen müssen
dann wieder Kinder bekommen. Nur darin liegt die
Chance, Ostdeutschland zu einer Zukunft zu verhelfen;
denn Ostdeutschland hat eine Zukunft, doch wird diese
wahrscheinlich anders aussehen, als man es sich vorgestellt hat bzw. heute noch vorstellt.
Die alten Wachstumsphilosophien kann man in den Papierkorb werfen.
({2})
Die Zukunft wird anders aussehen. Aber man muss sich
ihr stellen. Die Politik muss dafür drei Komponenten entwickeln:
Erstens. Man muss wissen, dass es ohne viel Geld nicht
abgehen wird. Ich weiß, wie es sich mit dem Geld verhält.
Aber wenn Sie heute nicht die nötigen Mittel einsetzen,
wird es morgen noch teurer.
Zweitens. Sie werden zur Umsetzung der Maßnahmen
Konzepte brauchen. Einen Großteil davon finden Sie in
dem Bericht.
Drittens. Wir müssen im Zusammenhang mit diesem
Thema auch an Strukturen denken. Ich nenne zunächst ein
kleines Beispiel und komme dann auf einen größeren Zusammenhang zu sprechen.
Frau Kollegin
Ostrowski, es muss nicht nur klein, sondern sogar mini
sein, da Ihre Redezeit vorbei ist.
Ich nenne nur ein kleines Beispiel. Bitte überlegen Sie sich einmal, ob es sinnvoll ist, das Problem des Ostens hier im Bundestag nur
durch einen Unterausschuss abhandeln zu lassen.
Letzte Bemerkung: Stellen Sie sich für einen Moment
vor, Herr Stoiber hätte als Ministerpräsident nicht nur die
Verantwortung für Bayern, sondern für ein Land, das aus
Bayern und Sachsen bestünde. Stehenden Fußes würde
sich radikal alles ändern, und zwar politisch, mental, wirtschaftlich und strukturell.
({0})
Als nächste spricht die
Kollegin Gabriele Iwersen für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ostrowski, dass
Sie hier ständig die Politik ansprechen, die endlich aufwachen soll, wundert mich sehr. Ich dachte, Sie seien auch
politisch tätig. Dass die Welt sich nicht nur in Ost und
West teilt, haben Sie eigentlich auch schon zur Kenntnis
nehmen können; denn die Strukturschwächen und -stärken verteilen sich innerhalb der Bundesrepublik, zu der
auch der Osten gehört, sehr unterschiedlich.
Nun zurück zu dem Bericht, von dem ich nur sagen
kann, dass er vorzüglich ist, und zwar deshalb, weil er
praktisch ein Standardwerk darstellt, das alle, die sich mit
Raum- und Siedlungsstruktur befassen wollen oder müssen, geradezu dazu animiert, endlich einmal über den
Tellerrand zu gucken.
({0})
Besonders positiv ist mir auch der Umgang mit der
deutschen Sprache aufgefallen. Die Erläuterung der Fachbegriffe, um die Diskussion endlich einmal auf eine vernünftige Grundlage zu stellen, halte ich ebenfalls für sehr
gut gelungen.
({1})
Der Bericht zeigt Chancen und Risiken der Bevölkerungs- und Arbeitsmarktentwicklung, der Urbanisierung,
der Suburbanisierung, der wirtschaftlichen Dynamik in
Abhängigkeit von Infrastrukturangeboten, Baulandpreisen, Entwicklungspotenzialen und -engpässen, und das
Ganze teilweise noch im europäischen Vergleich. Keine
Lobhudelei, sondern solide Arbeit und zum Teil richtig
spannend zu lesen! Ich könnte den Bericht jedem empfehlen, auch denen, die schon geredet haben.
({2})
Der Bericht zeigt mit teilweise erschreckender Offenheit, wie allen raumordnerischen Bemühungen zum Trotz
die Siedlungsflächen in Deutschland sprunghaft anwachsen, und das schon seit 40 Jahren oder noch länger. Vor allen Dingen wachsen sie sehr viel stärker an als die Bevölkerung, oder sogar umgekehrt: Die Bevölkerung ist
rückläufig, das Siedlungsflächenwachstum aber immer
weiter positiv. Und sie wachsen stärker an als die Zahl der
Erwerbstätigen.
Diese Siedlungsflächenzunahme in den vergangenen
Jahrzehnten war die Folge des beginnenden Wohlstandes.
Die Wohnfläche stieg im Westen innerhalb von 40 Jahren
von 15 Quadratmetern pro Einwohner auf 38 Quadratmeter. Die Veränderung, die sich anschließend im Osten abgespielt hat, verlief in dem von Frau Eichstädt-Bohlig
schon angesprochenen Zeitraffertempo nicht viel anders.
Die veränderte Haushaltsstruktur mit den Ein- und
Zwei-Personen-Haushalten hat natürlich kräftig dazu beigetragen. Aber dann kam das Auto. Das Auto braucht zu
Hause einen Stellplatz oder eine Garage, es braucht einen
Stellplatz vor dem Arbeitsplatz, einen vor dem Einkaufszentrum, einen vor dem Theater. Überall werden Flächen
gebraucht, nur um dieses verdammte Auto unterzubringen, bis hin zum Waldesrand; und alles muss natürlich
maschinenreinigungsfähig sein.
Die Straßen wurden immer breiter, das weiß jeder. Sie
wurden durch Standspuren und Parkbuchten ergänzt.
Flughäfen streckten ihre Start- und Landebahnen in alle
Richtungen aus. Das ist nichts Neues, das hat sich so ergeben. Im Westen und im Süden ging es schneller los und
hat sich schneller vollzogen, der Norden war immer etwas
langsamer und nun zieht der Osten nach. Die Tendenzen
sind überall gleich und das Ergebnis ist ein geradezu
wahnsinniger Flächenverbrauch, der so einfach nicht
weitergehen kann.
({3})
1950 betrug die Siedlungsfläche pro Bürger noch
350 Quadratmeter - für alles zusammen, für Arbeit, Wohnen, Mobilität und Freizeit - und im Jahre 1997 waren
wir schon bei 500 Quadratmetern pro Bürger, Tendenz
auch hier steigend.
Als die Städte aus den Nähten platzten, setzte die Suburbanisierung ein. Die Umlandgemeinden wuchsen und
wuchsen und wuchsen. Entstanden in den 60er- und 70erJahren die Schlafstädte im Umland der Kernstädte - allen sind wahrscheinlich die grünen Witwen noch im Gedächtnis - , so hat in den 80er-Jahren im Wesentlichen ein
überproportionales Wachstum der Verkehrsflächen stattgefunden.
In den 90er-Jahren dagegen hat sich der Prozess der
Suburbanisierung grundlegend verändert. Da wird es
spannend und da wird es eigentlich auch gefährlich. Trotz
umfangreicher Potenziale an baureifen Flächen in den
Städten, also an innerstädtische Gewerbebrachen, Konversionsflächen, Baulücken und dergleichen, wachsen in
den Umlandgemeinden die Flächen für Arbeitsstätten, für
Handel, für Dienstleistungen, für Industrie bis hin zur öffentlichen Verwaltung auf der bis dahin noch grünen
Wiese.
Bei den grünen Witwen ging es um separate Ringe mit
Wohnbebauung. Jetzt entstehen komplette Städte.
Die niedrigen Baulandpreise, die gute Erreichbarkeit
des Umlandes und zum Teil auch einfachere und schnellere Baugenehmigungen haben zu der für die Kernstädte
geradezu bedrohlichen Entwicklung geführt. Jetzt ist es
nicht mehr nur das Einkaufszentrum auf der grünen
Wiese, das die Kaufkraft aus der Innenstadt abzieht, sondern ein vielfältiges Angebot an Arbeitsplätzen sowie an
Wohn- und Freizeitparks. Die ganze gewerbliche Infrastruktur der Innenstädte droht dabei wegzubrechen.
({4})
Kultur, Bildung und Tourismus allein können die Innenstädte nicht retten. Die Aufgaben der Städte, die ihnen
zum Beispiel im System der zentralen Orte als Ober- oder
Mittelzentrum zugewiesen sind, nämlich gegenüber dem
Umfeld bestimmte Dienstleistungen zu erbringen, sind so
nicht mehr zu erfüllen. Denn diese Kommunen, die Kernstädte, brauchen natürlich auch Bürger, die sich mit ihrem
Wohnumfeld identifizieren und Handel, Wandel sowie
- das ist ganz wichtig - ausreichend Steuerkraft am Leben
erhalten. Das System der Suburbanisierung bewirkt natürlich auch, dass Steuerkraft abwandert.
Das klassische Instrument der Raumordnung, nämlich
die Festlegung des städtischen Siedlungssystems durch
die Landesentwicklungspläne, droht wirkungslos zu
werden. Wir können uns hier über all das vorzüglich unterhalten, was der Bund machen müsste. Die Landesentwicklungspläne sind aber an und für sich die Grundlage
für die Entwicklung im ganzen Lande. Wenn diese Pläne
nicht eingehalten werden, dann nützt das alles überhaupt
nichts.
({5})
Zu viele Abweichungen - natürlich immer wirtschaftlich begründet - torpedieren die Aufgabenverteilung
zwischen den zentralen Orten und ihren Verflechtungsbereichen. Jede Gemeinde schöpft ihre Planungshoheit aus,
wägt sorgfältig ab, vergibt Baurechte über Baurechte, um
steuerpflichtige Neubürger, Gewerbesteuerzahler und
dergleichen zu gewinnen. Im benachbarten zentralen Ort
sieht sie nur den Konkurrenten. Darin scheint einer der
wesentlichen Fehler im augenblicklichen Verhalten der
Kommunen untereinander zu liegen. Die Suburbanisierungswelle verlagert sich immer weiter von den Zentren
weg, weil die Baulandpreise dort immer niedriger sind.
Daraus lässt sich natürlich etwas machen.
Das Beispiel Leipzig ist sehr detailliert beschrieben.
Dass ich das erwähne, heißt nicht, dass ich mich gegen die
im Osten angewandten Regelungen wenden möchte. Das
Beispiel Leipzig veranschaulicht diesen Prozess einfach
sehr plastisch. Im Westen ist es sehr ähnlich abgelaufen;
aber in Leipzig war die Entwicklung noch gravierender.
In Leipzig begann es mit dem Bau von Einkaufszentren
auf der grünen Wiese. Ein Zentrum, der Saale-Park, hat
86 000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Als ich das hörte,
dachte ich: Ich kann es nicht fassen; das ist ja ganz unmöglich. Dieses Einkaufszentrum hat 16 000 Quadratmeter mehr an Verkaufsfläche, als die ganze Innenstadt von
Leipzig zu bieten hatte.
Allein im Zeitraum von 1989 bis 1997 hat die Stadt
Leipzig 83 500 Einwohner verloren. Von Siedlungsdruck,
der mehr Menschen dazu gezwungen hätte, im Umland zu
bauen, konnte wirklich nicht die Rede sein. Die Innenstadt stirbt aus und außen blüht das Leben. Trotzdem wurden im Umfeld von Leipzig noch 1 600 Hektar Gewerbefläche baurechtlich genehmigt. Dazu kamen Projekte wie
Geschosswohnungsbau, Freizeitparks und anderes. Manche Gemeinden im Umland konnten in dieser Zeit ihre
Einwohnerzahlen tatsächlich verdoppeln.
Die förderungs- und abschreibungsabhängige Entwicklung, die vor allem zulasten der Kernstadt geht, widerspricht aber allen in den Landesentwicklungs-, Regional- und Flächennutzungsplänen genannten Zielen der
Innenentwicklung. Durch die Umverteilungsprozesse innerhalb der gesamten Stadtregion müssen Infrastruktureinrichtungen in der Innenstadt schließen - Frau
Ostrowski, Sie haben das schon angesprochen -, während
sie in den Umlandgemeinden fehlen. Um nachzurüsten
- Kindergärten, Schulen und dergleichen -, fehlt das
Geld. In der Kernstadt stagnieren Gebäudesanierung,
Baulückenschließung und Reaktivierung von Brachflächen; denn die Investoren orientieren sich einfach nur
am Baulandpreis - das ist für sie das einzig Wichtige und sehen nicht, dass die Stadtregion auf die Attraktivität
der Kernstadt angewiesen ist.
Dieses Beispiel beweist, dass die Ordnungsstrategien
der durch die Länder zu betreibenden Raumordnung noch
keine volle bzw. zum Teil überhaupt keine Wirkung entfalten. Auch von Nachhaltigkeit kann keine Rede sein,
denn das Ziel heißt eigentlich: Zersiedelung vermeiden
und ungesteuerte räumliche Ausuferungen unterbinden.
Wenn jetzt nicht die Zeit um wäre, würde ich Ihnen
gerne noch etwas über das System selbst erzählen. Wir
verteilen im Vorhinein die einzelnen Aufgaben für die Bereiche: Je nachdem, ob ein Ort Ober-, Mittel- oder Unterzentrum ist, hat er gewisse Leistungen zu erbringen. Dazu
muss er auch in der Lage sein. Wenn aber seine Leistungsfähigkeit durch das eigene Umland zu stark geschwächt wird, kann das System nicht funktionieren.
Trotzdem muss man sagen, dass im Grunde genommen
diese Aufgabenverteilung, wie sie in Deutschland nun
schon seit langem durchgeführt wird, ein wesentlicher
Faktor des Standortes Deutschland ist. Wir sollten diese
nicht aufgeben, sondern darauf achten, dass ihre Möglichkeiten besser zum Zuge kommen.
Ich bedanke mich für Ihre Geduld.
({6})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Gut, dass Sie den Raumordnungsbericht gelobt haben, Kollegin Iwersen, denn die Regierung
Kohl hat zwischen 1982 und 1998 durch ihre weitsichtige
Raumordnungspolitik eine hervorragende Ausgangsposition geschaffen, indem sie sich darum bemüht hat, dem
Leitmotiv allen staatlichen Handelns, nämlich umweltgerechten Wohlstand für Generationen in Deutschland zu
gewährleisten, durch übergeordnete Prinzipien und Konzepte gerecht zu werden und die Raumordnung dementsprechend voranzubringen und umzusetzen.
Dank des hohen Einsatzes an raumwirksamen Mitteln,
die sich im Zeitraum 1991 bis 1998 auf rund 1,8 Billionen DM beliefen und von denen die neuen Bundesländer
einen Anteil von 53 Prozent erhielten, haben sich die
Lebensverhältnisse in den einzelnen Teilräumen des
Bundesgebietes deutlich angeglichen. Maßgeblich beigetragen haben dabei auch die Bereiche „Städtebauförderung und Wohnen“ sowie „Verkehrsinfrastruktur“, für die
91 Milliarden DM bzw. 173 Milliarden DM aufgewendet
wurden, und „Telekommunikation“, in die allein 50 Milliarden DM in den neuen Bundesländern investiert wurde.
Eine stolze Bilanz! Das erkennt auch der Raumordnungsbericht ausdrücklich an und erteilt der Arbeit der alten
Bundesregierung hervorragende Noten.
Meine Damen und Herren, angesichts der rasanten
Veränderungsprozesse in Gesellschaft und Wirtschaft
zu Beginn des 21. Jahrhunderts gilt es mehr denn je,
Chancen zu nutzen und Risiken zu minimieren,
Zukunftsvisionen wie Globalisierung mit Heimat und Sicherung der natürlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Ressourcen zu verbinden und allen Teilräumen in
Deutschland auch zukünftig eine gleichwertige Teilhabe
an den gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen zu ermöglichen. Die Verflechtungen in der Raumund Siedlungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland
nehmen zu und führen dank erleichterter Mobilität und
Kommunikation zur Auflösung des raumordnungspolitischen Gegensatzes zwischen Verdichtungsräumen und
ländlichem Raum. Das Umland großer Städte dehnt sich
räumlich seit Jahrzehnten kontinuierlich aus und verzeichnet nach wie vor überproportional hohe Bevölkerungs- wie auch Beschäftigungszuwächse. Die Funktionen, die das Umland übernimmt, und die Vernetzungsmuster werden zusehends vielfältiger und schließen angrenzende ländliche Räume mit ein.
Daraus ergeben sich unter anderem folgende Fragen
für die Zukunft: Wie können wir angesichts europaweiter Konzentrationstendenzen mit unseren dezentralen ausgewogenen Raumstrukturen bestehen? Was können wir
tun, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken,
die wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen,
Arbeitsplätze zu schaffen und die Vielfalt unseres Landes,
zum Beispiel Kulturlandschaften, Naturräume, Agrarlandschaften usw., zu erhalten? Wie können wir sensibel
bleiben für den Wunsch der Bevölkerung nach mehr Identität im unmittelbaren Lebens- und Wohnumfeld? Was ist
zu tun, um den Wunsch nach Mobilität für die Bürgerinnen und Bürger zu erhalten und zu sichern? Wie ist das zu
erwartende Verkehrswachstum, insbesondere im Güterverkehr, zu bewältigen?
Die rot-grüne Bundesregierung war bisher nicht in der
Lage - vielleicht auch nicht fähig -, zu all diesen Fragen,
die sich aus dem Raumordnungsbericht ergeben, Lösungsansätze aufzuzeigen. Man musste sich ja mit sich
selbst beschäftigen. Der mittlerweile dritte Verkehrs-,
Bau- und Wohnungsminister in zwei Jahren, der sich
gerne als Infrastrukturminister bezeichnet, hat noch keine
Antworten parat. Seine Regierungserklärung vor kurzem
war mehr als dürftig.
Die sich durch permanent steigende Menschen- und
Gütermobilität ergebende Verkehrsproblematik stellt
eine große Herausforderung dar. Dabei wird die Zunahme
des PKW-Bestandes von derzeit 40 Millionen um weitere
10 Millionen in den kommenden zehn bis 15 Jahren nicht
das Dramatischste sein. Weitaus drastischer wird sich für
Deutschland angesichts seiner zentralen Lage der
weiträumige grenzüberschreitende LKW-Verkehr sowohl
in Nord-Süd- als auch in Ost-West-Richtung entwickeln.
({0})
Man geht von einer Verdoppelung der Tonnage in den
nächsten zehn bis 15 Jahren aus. Auch im Bereich des
Ballungsraumverkehrs wird es durch die zunehmende
Mobilität zu einer weiteren Verschärfung kommen.
Was macht die Bundesregierung? Sie stellt ein Investitionsprogramm 1999 bis 2002 vor und weiß dabei nur
zu gut, dass dieses Programm de facto ein Kürzungsprogramm für den Straßenbau ist - von der Wirksamkeit des
Zukunftsinvestitionsprogramms 2001 bis 2003, das den
Namen „Zukunft“ nicht einmal ansatzweise verdient, und
dem groß angekündigten Anti-Stau-Programm, das dringend notwendige Ausbaumaßnahmen auf den Zeitraum
nach 2003 verzögert, ganz zu schweigen.
Es ist unbestritten, dass Standortpolitik etwas mit Verkehrserschließung, nämlich mit Straße, Schiene, Wasserund Flugverkehr, zu tun hat. Standortentscheidungen sind
deshalb auch weiterhin durch Raumordnung beeinflussbar. Aber auch weiche Standortfaktoren wie Umweltqualität, kulturelle Angebote, Freizeitangebote und Sicherheit
gewinnen an Bedeutung.
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie haben
sich durch die entspannten Wohnungsmärkte, die Sie
beim Regierungswechsel vorgefunden haben, zu einer
wohnungs- und städtebaupolitischen Auszeit verleiten
lassen. Dafür stehen zum Beispiel die Abschaffung des
Bauressorts, die Demontage der sozialen Wohnungsbauförderung, die Steinbrüche in der Förderung des frei
finanzierten Mietwohnungsbaus und des selbstgenutzten
Wohneigentums sowie das Absinken der Wohnungsbautätigkeit unter den Bestandserhaltsbedarf. Wohnungspolitisches Umdenken und wohnungspolitische Substanz
sind bei Ihnen nicht zu erkennen. Ich sehe auch keinen
Ansatz dafür, dass Sie sich der zunehmenden Trennung
von Arbeit und Wohnen und der Verödung der Innenstädte
ernsthaft stellen.
Es wird immer deutlicher, dass die Koalition Raumordnungspolitik und Städtebaupolitik trennt. Zur Erinnerung:
Vor der Bundestagswahl haben SPD und Grüne nicht nur
Bundesfinanzhilfen für ein neues Großsiedlungsprogramm, sondern auch eine massive und dauerhafte Aufstockung der traditionellen Städtebauförderung in Aussicht gestellt. Noch für den Bundeshaushalt 1998
beantragten die SPD-Wohnungspolitiker eine Verdoppelung der Städtebaufördermittel von 600 Millionen DM auf
1,2 Milliarden DM und bezeichneten eine Aufstockung
sogar auf 2 Milliarden DM als wünschenswert. Ein mageres Ergebnis ist geblieben: 100 Millionen DM mehr
sind es. Damit hat die Schröder-Regierung erneut ein
Wahlversprechen gebrochen. In einem bemerkenswerten
Akt der Verleugnung vieljähriger Oppositionsgrundsätze
hat Rot-Grün im März 1999 sogar unseren Antrag auf
Aufstockung der Städtebauförderung abgelehnt.
({1})
Die magere finanzielle Ausstattung des Programms
„Soziale Stadt“ muss auch vor dem Hintergrund des erklärten Zieles beurteilt werden, mit dem neuen Instrumentarium „alle stadtentwicklungspolitisch relevanten
Ressourcen, insbesondere Wohnungsbaufinanzierung,
Straßenverkehr, Arbeits- und Ausbildungsförderung, Jugendhilfe, Wirtschaft und Industrie“ zu bündeln. Das ist
wahrhaft ein große Aufgabe bei diesem geringen Mitteleinsatz.
Meine Damen und Herren, wir, die CDU/CSU, bekennen uns zum ländlichen Raum. Wenn ich mich richtig erinnere, dann gab es in den 70er-Jahren eine Auseinandersetzung um die Qualität des ländlichen Raumes. Wir,
insbesondere Bayern, waren für den Eigenwert des ländlichen Raums und für ein flächendeckendes Netz zentraler Orte. Die SPD sprach nur von einem Ausgleichsraum.
Der politische Grundsatzstreit darüber ist bis heute
nicht beendet. Denn im Regierungsprogramm der rot-grünen Bundesregierung von 1998 erscheint der ländliche
Raum nur als Ausgleichsraum mit agrarischer, ökologischer und touristischer Funktion, während wir für eine gezielte Förderung der Regionen als wesentliches Gegengewicht zur Globalisierung sind.
Meine Damen und Herren von der Koalition, es gibt
viel zu tun. Packen Sie es doch endlich an!
({2})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Spanier, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die heutige Debatte zeigt
- auch wenn sie nur 45 Minuten dauert -, dass der
Raumordnungsbericht hervorragend ist. Er ist für uns Veranlassung, über die Kernthemen der Stadtentwicklung
und der Wohnungspolitik in unserem Land zu diskutieren.
Schon das halte ich für wichtig.
Der Raumordnungsbericht zeigt die größten Fehlentwicklungen der letzten Jahre auf, die sich unabhängig davon ergeben haben, wer wo regiert. Diese Fehlentwicklungen sind vorhin schon angesprochen worden.
Deswegen möchte ich sie nur noch einmal aufzählen: eine
weitere kräftige Zunahme des Flächenverbrauchs, die
Suburbanisierung, die Zersiedlung in den Umlandsgebieten der Verdichtungsräume - mit einem geradezu rasanten Tempo in den neuen Bundesländern -, die soziale
Polarisierung und die sich daraus ergebende Segregation
mit all den Spannungen - nicht nur in den großen Städten - und die schrumpfenden Städte.
Besonders dramatisch ist die Entwicklung in den neuen
Bundesländern, aber auch in den Bereichen im Westen,
wo der Strukturwandel besonders tiefgreifend war. Die
Konsequenz ist - auch das ist in den neuen Bundesländern
am deutlichsten zu beobachten - das Ausbluten der Innenstädte. Hinzu kommen höchst unterschiedliche Entwicklungen. Diese gab es zwar schon immer, auch in der
alten Bundesrepublik. Aber jetzt gibt es ein dramatisches
Gefälle, sodass man kaum noch von gleichwertigen Lebensverhältnissen in unserem Land sprechen kann.
Es ist eine Fehlentwicklung, die in diesem Bericht
nüchtern und klar beschrieben wird, dass der ländliche
Raum zunehmend ins Abseits gerät. Auf die demographische Entwicklung wird erst gar nicht eingegangen. All
das, was wir jetzt in Teilen unseres Landes beobachten
können, werden wir nach einiger Zeit in der gesamten
Bundesrepublik erleben.
Es gibt Hinweise im Raumordnungsbericht darauf
- deshalb ist die heutige Debatte zum Einstieg in die Problematik so wichtig -, was zu tun ist. Wenn wir es mit dem
Leitbild der Städtebau- und Wohnungspolitik wirklich
ernst meinen, nämlich mit der Nachhaltigkeit - ich
möchte hier betonen: Es ist ganz wichtig, auch die soziale
Dimension der Nachhaltigkeit im Auge zu behalten -,
dann ist dringender Handlungsbedarf gegeben. Es gibt
schon einige positive Ansätze: Verstärkung der Städtebauförderung und Ausbau des Programms „Soziale
Stadt“. Es gibt auch sehr positive Ansätze im Hinblick auf
die Bestandsförderung innerhalb der Förderung des sozialen Wohnraums. Sicherlich ist auch die energetische
Modernisierung der alten Wohnungsbestände ein wichtiger Punkt. Ich habe mich gefreut, dass Herr Bodewig als
neuer Minister als erstes die Bedeutung der Initiative
„Preiswertes und ökologisches Bauen“ unterstrichen hat.
Das alles wird aber nicht ausreichen. Wir brauchen zumindest eine Neujustierung der Förderinstrumente. In
diesem Zusammenhang sollten wir die Eigenheimzulage
nicht zum Tabu erklären, was auch immer der „WeserKurier“ geschrieben haben mag.
({0})
Ich sage hier frank und frei: Wir werden sicherlich auch
über die Themen Bodenwertsteuer und Grundsteuer diskutieren müssen. Wir werden uns nicht davor drücken
können.
({1})
Die Leerstandsproblematik in den neuen Bundesländern ist geradezu als eine Chance zu verstehen, weil hier
der Problemdruck so massiv ist, dass wir zügig handeln
müssen. Verstehen Sie es bitte nicht als Zynismus, wenn
ich sage: Wir können und werden hier Erfahrungen sammeln, mit welchen Instrumenten und mit welchen Methoden wir diesen Fehlentwicklungen begegnen können. Vor
uns liegt sicherlich sozusagen ein Problemgebirge. Aber
gleichzeitig haben wir die Chance, mithilfe von anderen
städtebaulichen Entwicklungskonzepten Instrumente zu
etablieren, die diese Fehlentwicklungen wenigstens stoppen und vielleicht sogar ein Stück weit zurückdrängen
können.
Deswegen ist es in der Tat wichtig, dass wir hier zügig
zu Entscheidungen kommen. Dabei - ich glaube, das ist
deutlich geworden - geht es auch, aber nicht nur um Geld.
Dies ist sozusagen der Bereich, in dem wir beweisen können, ob wir es mit einer Städtebau- und Wohnungspolitik
ernst meinen, die sich tatsächlich, nicht nur verbal, dem
Leitbild der Nachhaltigkeit verpflichtet fühlt.
Schönen Dank.
({2})
Wir sind damit am
Schluss der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3874 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/3947. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der
Unterrichtung durch die Bundesregierung zum Europäischen Raumentwicklungskonzept, des Entwurfs der Mitteilung der Kommission an die Mitgliedstaaten betreffend
die Zusammenarbeit zur Förderung der Entwicklung des
europäischen Raums und der Entschließung des Europäischen Parlaments zu diesem Entwurf die Annahme einer
Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Peter Letzgus, Dirk Fischer ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibusunternehmen erhalten und sichern
- Drucksache 14/4934 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollegin
Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Bus ist - ich glaube, das ist unbestritten - das Rückgrat des öffentlichen Personennahverkehrs.
({0})
Mit der Ökosteuer verteuern Sie den ÖPNV. Erste Auswirkungen in Form einer Erhöhung der Nutzerpreise gibt
es bereits. Aber nicht nur im ÖPNV, sondern auch in der
Tourismusbranche führt die Ökosteuer zu erheblichen Belastungen und zu einer Schwächung ihrer internationalen
Wettbewerbsfähigkeit. Des Weiteren haben Subventionspraktiken in EU-Nachbarstaaten zu einer ernsten Existenzkrise des deutschen mittelständischen Gewerbes geführt.
Wenn die Bundesregierung es mit der politischen Förderung des ÖPNV ernst meint, dann hat sie nun Gelegenheit, Flagge zu zeigen, indem sie den Bus von der Ökosteuer befreit, ja sogar Verbrauchsteuerermäßigungen
oder Verbrauchsteuerbefreiungen im Rahmen der EWGRichtlinie 92/81 sowie die Mineralölsteuerbefreiung für
den ÖPNV einführt.
Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, Handeln ist gefragt; denn die Rahmenbedingungen
für das deutsche Omnibusgewerbe haben sich gegenwärtig erheblich verschlechtert. Das Gewerbe ist so auf Dauer
weder konkurrenz- noch überlebensfähig. Deshalb müssen die Defizite schnellstmöglich korrigiert werden. In
nahezu allen Ländern der europäischen Mitgliedstaaten,
ausgenommen Deutschland, werden Steuerbefreiung
bzw. Steuererleichterungen gewährt, um die bustouristischen Verkehre und die Buslinienverkehre attraktiver zu
gestalten.
Zwei Drittel aller Fahrgäste im ÖPNV sind auf den Bus
angewiesen. Wir brauchen den Bus; nicht jeder hat einen
Bahn-, S-Bahn-, U-Bahn- oder Straßenbahnanschluss.
Selbst Bahnchef Mehdorn weiß, dass auch die Bahn auf
den Bus angewiesen ist.
({1})
Seine Aussagen und Aktivitäten - siehe Busgesellschaften - weisen deutlich darauf hin.
Der Bus sichert direkt und indirekt rund 750 000 Arbeitsplätze in Deutschland. Die deutsche Automobilindustrie gehört weltweit zu den führenden Omnibusanbietern und auch die Touristikbranche ist auf den Bus
angewiesen. Das alles sind Fakten, die die Bundesregierung nicht außer Acht lassen kann.
Die Bundesregierung muss ordnungs- und finanzpolitische Rahmenbedingungen schaffen, die die Existenz
mittelständischer Strukturen gegenüber dem Verdrängungswettbewerb durch Großkonzerne im Verkehrsgewerbe wirksam sicherstellen; denn nur der Erhalt mittelständischer Strukturen kann eine wirtschaftliche und
funktionsfähige Mobilität und einen bezahlbaren ÖPNV
in Deutschland in Zukunft garantieren.
({2})
Mittelstandsfreundlichkeit darf nicht nur in Sonntagsreden gelten, sondern muss praktische Politik sein. Dazu
gehört auch, dass im Rahmen der EU-Erweiterung und
insbesondere unter Berücksichtigung des Beitritts
osteuropäischer Staaten für Übergangsfristen gesorgt
wird, mit denen die Belange unserer privaten mittelständischen Verkehrs- und Omnibusunternehmen angemessen berücksichtigt werden. Die finanziellen Grundlagen
für den ÖPNV in der Fläche und in den Ballungsräumen
sind langfristig sicherzustellen und es dürfen keine weiteren zusätzlichen steuerlichen oder sonstigen finanziellen
Belastungen für das umweltfreundliche Verkehrsmittel
Bus eingeführt werden. Im Gegenteil müssen, wie ich bereits ausgeführt habe, Entlastungen erfolgen.
Damit das deutsche Omnibusgewerbe im künftigen
Wettbewerb bestehen kann, müssen Fairness und Transparenz gewährleistet sein. Kein Verkehrsbetrieb darf bevorzugt werden und marktbeherrschende Strukturen dürfen nicht zugelassen werden. Die Vorteile des mittelständischen Omnibusgewerbes, nämlich fahrgastorientiertes unternehmerisches Denken, Zuverlässigkeit, Sicherheit, Pünktlichkeit und schlanke Organisationsstrukturen, müssen verstärkt zum Zuge kommen. Wir fordern
die Bundesregierung auch auf, Schieflagen im Wettbewerb - auch im europäischen - zu beseitigen.
Eine Schieflage ist aus meiner Sicht auch die Dumpingpreis-Offensive für Gruppenreisen der Deutschen
Bahn. Die Bahn gewährt Gruppenreisenden bis zu
75 Prozent Rabatt gegenüber dem Regeltarif und macht
kein Hehl daraus, dass sich dieses Preisgebaren in erster
Linie gegen die Reisebusunternehmer richtet. Eigentlich
müsste die Bahn doch wissen - ich sage nur: siehe
EXPO 2000 -, dass sich Dumpingangebote nicht rechnen.
Nötig sind auch mehr Finanzmittel für die Infrastruktur,
damit Investitionen getätigt werden können, um die verkehrspolitische Zielsetzung zu erfüllen, eine möglichst
umweltverträgliche und zugleich möglichst sichere Mobilität für alle Bürgerinnen und Bürger zu erhalten und zu
verbessern.
Das deutsche Omnibusgewerbe braucht eine gute, zuverlässige und zukunftsorientierte Verkehrspolitik. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu!
({3})
Nun hat der Kollege
Hans-Günter Bruckmann, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ziel unserer Politik ist es, die
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Verkehrsunternehmen zu erhalten und auch für die Zukunft zu sichern.
Ich gehe davon aus, dass wir uns alle in diesem Hause
hierüber einig sind.
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition
sind sich der Bedeutung der Omnibusunternehmen als bevorzugter Träger der Alltags- und Freizeitmobilität in
Deutschland sehr bewusst. Die Fakten liegen klar auf der
Hand. Der Omnibus ist nach dem Auto das zweitwichtigste Beförderungsmittel. Im öffentlichen Personennahverkehr ist der Bus sogar die Nummer eins, Frau Blank.
Insbesondere die vielen mittelständisch orientierten
und strukturierten Busunternehmen zeichnen sich durch
Eigeninitiative, Mut, Fantasie und Innovation aus und
schaffen es auf diese Art und Weise, in der Branche sehr
erfolgreich zu sein. Denn eines zeichnet sie aus: Sie sind
anpassungsfähig. So schaffen sie es, allen Unkenrufen
zum Trotz, den veränderten Rahmenbedingungen letztendlich gerecht zu werden.
Meine Damen und Herren, wir alle kennen die verstärkten Tendenzen zur Individualisierung im Verkehr
und wissen, dass die Attraktivität des Autos weiter zunehmen wird und dass dies für die Strukturentwicklung der
Verkehrsnachfrage nicht ohne Folgen bleiben wird. Deshalb müssen Unternehmer und Manager der Verkehrswirtschaft neue Antworten auf die Herausforderungen der
Mobilitätsentwicklung finden.
Eine Antwort hat die Bundesregierung durch das Eckpunkte-Papier zum öffentlichen Personennahverkehr
gegeben. Dies haben Sie, Frau Blank, gerade angesprochen. Darin sind drei Kernbotschaften enthalten: Die erste
Kernbotschaft lautet: Wir geben ein Signal für eine Qualitätsoffensive, um mehr Kunden für Bus und Bahn zu gewinnen.
Die zweite Kernbotschaft ist: Verkehrsunternehmen
und Beschäftigte müssen sich auf mehr Wettbewerb einstellen. Den Ordnungsrahmen dafür müssen wir fair gestalten.
Die dritte Kernbotschaft ist: Gemeinsam mit den Ländern wollen wir effiziente und verlässliche Infrastrukturen und finanzielle Rahmenbedingungen schaffen.
Laut Antrag geht die CDU/CSU davon aus, dass unser
deutsches Omnibusgewerbe auf Dauer weder konkurrenz- noch überlebensfähig ist. Eine Schwächung der
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Omnibusgewerbes
aufgrund der Ökosteuer und der Kraftstoffpreissteigerung
wird geltend gemacht.
Es wird außerdem unterstellt, dass die mittelständischen
Verkehrsunternehmen nach dem Verordnungsentwurf der
Europäischen Kommission über die Liberalisierung des
Öffentlichen Personennahverkehrs einem ruinösen Konkurrenzkampf mit europaweit tätigen Konzernen ausgesetzt
sind,
({0})
während die kommunalen Verkehrsbetriebe aus dem Anwendungsbereich dieser Regelung herausgenommen werden sollen.
Wir nehmen die Sorgen der Betroffenen sehr ernst. Wir
sehen es als unsere Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass der
Innovations- und Jobmotor Mittelstand reibungslos und
auf hohen Touren - wie es die Techniker ausdrücken läuft.
({1})
Das wichtigste Ziel dabei ist, die unternehmerische Eigeninitiative zu fördern. Mit der Steuerreform 2000 - Ihnen ja nicht unbekannt - hat die Bundesregierung hier den
entscheidenden Schritt getan und den Steuerzahler in der
Zeitspanne 1998 bis 2005 um 83 Milliarden DM sowie
den Mittelstand - was von der rechten Seite dieses Hauses immer wieder gefordert wird - um 30 Milliarden DM
entlastet.
({2})
Ein besserer Beitrag zur Mittelstandsförderung findet sich
aus meiner Sicht in der jüngsten Geschichte des Deutschen Bundestages nicht.
Weiter fordern Sie als Problemlösung die Abschaffung
der Ökosteuer. Zielsetzung der ökologischen Steuerreform ist es, Energie über den Preis zu verteuern, um Einsparpotenziale zu aktivieren und mit den daraus erzielten
Mehreinnahmen die Lohnnebenkosten zu senken - ein
Ziel, das eigentlich auch von der rechten Seite dieses Hauses befürwortet wird.
Außerdem verschweigen Sie in Ihrem Antrag, dass bei
der Mineralölsteuererhöhung für den Öffentlichen Personennahverkehr nur der halbe Erhöhungssatz gilt. Dies
unterscheidet sich sehr deutlich von dem, was in den 90erJahren von Ihrer Seite getan worden ist. Sie haben die Mineralölsteuer erhöht, dies aber weder zur Senkung der
Lohnnebenkosten noch zur Entlastung der Verkehrswirtschaft als solcher eingesetzt. Wir haben es mit unserem
Ansatz geschafft, die Wettbewerbssituation für die Omnibusverkehrsunternehmen zu verbessern.
({3})
Die Annahme, dass wegen der Ökosteuer der Anteil der
Auslandsreisen deutscher Urlauber - so steht es in Ihrem
Antrag - zulasten der Inlandsreisen zunehmen werde,
wird durch eine Saisonumfrage des Deutschen Industrieund Handelstages widerlegt, wonach der Deutschlandtourismus an Fahrt gewinnt und für diesen Sektor eine gute
Geschäftsgrundlage ist. Dies ist ein Punkt, den wir zur
Kenntnis zu nehmen haben und der für uns positiv zu werten ist.
({4})
Sie fordern, die finanziellen Grundlagen für den Öffentlichen Personennahverkehr nachhaltig zu sichern.
Dies wird vonseiten der Bundesregierung bereits erfüllt.
Wir setzen 15 Milliarden DM dafür ein. Über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz gewährt der Bund
den Ländern Finanzhilfen, wobei die Länder letztendlich
über die Verteilung dieser Mittel zu entscheiden haben.
Des Weiteren gehen Sie in Ihrem Antrag auf die anstehende Novelle des Regionalisierungsgesetzes ein. Wie
Sie wissen, ist die Verantwortung für den im Gesetz angesprochenen SPNV durch die Bahnstrukturreform wieder auf die Länder übergegangen. Die Verantwortlichen
sind dort. Die Länder erhalten für die Bewältigung dieser
Aufgaben 13,4 Milliarden DM - eine Menge! Im Zuge der
Bahnreform ist gleichermaßen verabredet worden, eine
Revisionsklausel einzuführen. Die Bundesregierung ist
aufgefordert, in diesem Jahr einen Vorschlag zu machen,
wie diese anstehenden Veränderungen geregelt werden
können. Ich bin mir sicher, dass sie das auch tun wird.
In Ihrem Antrag sprechen Sie sich auch für die verstärkte Förderung von erd- und biogasbetriebenen Bussen
aus. Die Regierungskoalition setzt sich ausdrücklich für
die Markteinführung dieser technischen Produkte ein. Als
Techniker muss ich betonen: Die Erdgastechnik ist ausgereift; sie muss nur eingesetzt werden. - Im Rahmen der
Ökosteuer haben wir bei Verwendung dieser Technik in
Bussen bis zum Jahre 2009 eine Mineralölsteuerermäßigung erreicht. Diese Regelung, die bis zum 31. Dezember
2000 galt, ist bis 2009 verlängert worden. Dies ist also ein
richtiger Schritt.
({5})
Dann möchte ich auf den Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission zur Liberalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs zu sprechen kommen. Ich
kann die Bundesregierung nur dafür loben, dass sie bei
den entsprechenden Verhandlungen in Brüssel gesagt hat:
Der Verordnungsentwurf findet in dieser Form nicht unsere Zustimmung.
Ich freue mich, dass wir uns im Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen am Mittwoch der letzten
Woche in dieser Frage darauf geeinigt haben, die Bundesregierung hierbei zu unterstützen. Dabei sind ein paar
Eckpunkte wichtig: Der ÖPNV ist ein Bestandteil der Daseinsvorsorge. Wir haben uns in diesem Bereich für Wettbewerb ausgesprochen. Aber dieser Wettbewerb muss zu
einem hohen Qualitätsniveau im Hinblick auf den ÖPNV
führen. Die Öffnung des Marktes ist ein gewünschtes Ziel.
Arbeits- und Sozialstandards auf hohem Niveau müssen
Bestandteil von Ausschreibungen sein. Wir gehen ein
Stückchen weiter und sagen: Im Rahmen der Neuordnung
dieses Marktes, auf dem 250 000 Menschen tätig sind,
sollen die Verkehrsunternehmen ausreichend lange Übergangsfristen erhalten, damit sie sich auf die in Europa veränderten Rahmenbedingungen einstellen können.
({6})
- Herr Dr. Meister, Sie werden sich daran erinnern können, dass wir in einer Protokollnotiz festgestellt haben: Da
gibt es welche, die sagen, acht Jahre seien ausreichend,
und andere, die sagen, sechs Jahre seien ausreichend. - Wir
meinen, es muss im Zuge der europäischen Harmonisierung möglich sein, eine Struktur zu schaffen, die dazu
führt, dass unser öffentlicher Personennahverkehr in
Europa die Nummer eins ist. Ich denke, das ist ein guter
Ansatz.
({7})
Dann sprechen Sie in Ihrem Antrag ein anderes Thema
an: den Güterkraftverkehr. Mit dem BGL und den anderen, die sich mit diesem Thema - auch mit sehr viel
Sachverstand - auseinander zu setzen haben, haben wir
intensiv diskutiert. Wir haben gesagt: Wir müssen einen
Abbau der Wettbewerbsverzerrungen erreichen. Das Bundeskabinett hat im Januar dieses Jahres einen Vorschlag
gemacht, der davon ausgeht, dass in unserem Güterkraftverkehr keine Billiglöhne gezahlt werden sollen. Wir
müssen sehen, dass wir die europäische Harmonisierung
so weit umsetzen, dass die in diesem Bereich Beschäftigten eine gute und faire Chance haben. Wir werden sehen,
ob das gelingt, wenn wir uns im Ausschuss damit auseinander zu setzen haben. Wir sollten noch in diesem Jahr
einen diesbezüglichen Gesetzentwurf einbringen, um den
Güterkraftverkehr durch Sofortmaßnahmen in Deutschland zu schützen. Ich denke, das werden wir leisten.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss,
obwohl ich noch eine Redezeit von zwei Minuten hätte.
Aus meinen Ausführungen können Sie erkennen, dass die
wesentlichen Teile Ihres Antrages bereits durch Regierungshandeln auf den Weg, auf die Straße bzw. die
Schiene, gebracht worden sind. Ich freue mich, dass wir
in der Frage der EU-Verordnung zur Liberalisierung im
ÖPNV eine gemeinsame Position erzielt haben. Ich
denke, Ihr Antrag ist eigentlich überflüssig. Aber wir werden ihn, wie sich das in diesem Hause so gehört, im zuständigen Ausschuss beraten.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({8})
Nun hat Kollege der
Ernst Burgbacher, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Bruckmann, wenn ich die zwei Minuten von Ihnen jetzt
noch bekommen würde, könnte ich auf einige Argumente
mehr eingehen. Wegen der Kürze der Zeit muss ich mich
auf wenige beschränken. Ich will aber gern das aufgreifen, was Sie gesagt haben.
Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibusunternehmen zu erhalten und zu sichern ist der gemeinsame
Wille in diesem Haus. Nur haben Sie an dieser Stelle einen Punkt zu wenig gewürdigt: Wir haben den Euro und
wir werden insbesondere ab dem 1. Januar des kommenden Jahres vor einer veränderten, verschärften Wettbewerbssituation stehen. Das wird in Ihrer Politik überhaupt
nicht berücksichtigt. In der Praxis benachteiligen Sie die
deutschen Omnibusunternehmen massiv gegenüber denen aus anderen Ländern. Ich werde das gleich anhand eines Beispiels nachweisen.
Was die CDU/CSU hier fordert, geht zum größten Teil
in die richtige Richtung, kein Zweifel. Einiges - lassen
Sie mich das hier sagen - hätte auch schon früher verwirklicht werden können. Es steckte nicht immer der
nötige Drive dahinter. Einiges wollten wir gern haben, haben es aber nicht durchgesetzt. Jetzt gilt es, aus der Politik, die Sie gemacht haben, auszusteigen und die richtigen
Entscheidungen zu treffen.
({0})
Lassen Sie mich das am Beispiel der Ökosteuer klarmachen. Herr Bruckmann, Sie stellen das so dar, als sei
das keine Belastung für die Branche. Tatsache ist: Die
Ökosteuer führt zu einer Belastung von durchschnittlich
4 000 DM pro Bus und Jahr. Tatsache ist, dass zum Beispiel in Frankreich laut höchstrichterlichem Urteil die
Ökosteuer ausgesetzt wurde und darüber hinaus Subventionen gezahlt werden. Fragen Sie doch einmal einen Busunternehmer in Baden-Württemberg - der ja im harten
Wettbewerb mit den Franzosen steht -, was das heißt. Ein
großes Busunternehmen hat schon aufgegeben und andere sind in extremen Schwierigkeiten. Deshalb heißt
Wettbewerbsfähigkeit erhalten: Weg mit dieser Ökosteuer; denn sie schadet unseren deutschen Anbietern.
({1})
Ich möchte einen Bereich herausgreifen, nämlich die
Busunternehmer, die im Tourismus tätig sind. Sie stehen
im knallharten Wettbewerb mit anderen. Das ist halt heute
so. In wenigen Jahren hat es eine Entwicklung gegeben,
wie sie so niemand vorhersehen konnte. Jetzt packen Sie
bei uns die Ökosteuer drauf. Sie novellieren das Betriebsverfassungsgesetz. Das alles führt zu neuen Kosten und zu
neuen Hürden.
({2})
Wenn Sie noch auf die Idee kommen, die Fahrtzeiten- und
Pausenregelungen von Busfahrern auf die Betriebsräte zu
übertragen, dann brauchen wir auch in diesem Bereich
zwei statt einen.
({3})
Wir brauchen keine zusätzlichen Belastungen; wir
brauchen mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt, gerade auch
für mittelständische Unternehmen.
({4})
Ich will an dieser Stelle sagen: Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich der Bundeswirtschaftsminister in dieser
Kontroverse entscheiden wird. Der Mittelstand erwartet
eine klare Entscheidung gegen diese Novellierung. Daran
muss sich der Bundeswirtschaftsminister messen lassen.
({5})
Wir brauchen keine höheren steuerlichen Belastungen;
wir brauchen deutlichere Entlastungen. Deshalb müssen
Sie sich vorhalten lassen: Die Steuerreform ist grob mitHans-Günter Bruckmann
telstandsfeindlich. Sie haben die kleinen und mittleren
Unternehmen eben nicht entlastet. Dazu kommt die Änderung der AfA-Tabellen. Fragen Sie doch die Busunternehmer, was dies konkret für sie heißt! Das heißt: Wir
werden keine so modernen Busse mehr haben. Das bedeutet auch für die Automobilindustrie eine massive Benachteiligung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie auf
der einen Seite hier so tun, als ob Sie durch scheinbar ökologische Maßnahmen sauberere Luft erreichen könnten,
dann sollten Sie auf der anderen Seite denen, die durch ein
ökologisches Verkehrsmittel dazu beitragen, nicht an die
Kehle gehen, sondern sollten ihnen die Luft dafür lassen,
sich im europäischen Wettbewerb behaupten zu können.
Ich danke Ihnen.
({6})
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Ich habe noch gar kein Kabinett. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Busverkehr
steht oft im Schatten der verkehrspolitischen Diskussion.
Es wird sehr viel über die Bahn und über Autobahnen diskutiert. Das ist eigentlich nicht angemessen. Deshalb bin
ich dankbar, dass der Antrag der CSU/CDU - ich sage es
einmal in dieser Reihenfolge, weil das wahrscheinlich
auch die Reihenfolge der Autorenschaft ist ({0})
die Gelegenheit bietet, hier zum Thema Busverkehr miteinander ins Gespräch zu kommen.
Der Busverkehr hat eine ungeheure Bedeutung - Herr
Kollege Bruckmann hat das ausgeführt und auch in Ihrem
Antrag wird das deutlich -, und zwar sowohl im öffentlichen Personennahverkehr, den es in vielen Städten - in
den meisten - ohne die privaten Unternehmen, die kooperieren, gar nicht gäbe, und natürlich auch im Segment des
Reiseverkehrs. Es ist vor allem die mittelständische Struktur unserer Busverkehrsunternehmen, die dafür sorgt, dass
dieser Bereich innovativ und leistungsstark ist.
Der Bus ist ein umweltfreundliches Verkehrsmittel.
Zusammen mit den Bahnen - S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn, Regionalbahn - bildet der Bus das System des öffentlichen Verkehrs, das auch nach Einschätzung unserer
Fraktion das Rückgrat eines zukunftsfähigen Mobilitätssystems darstellt.
({1})
Genau deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben
wir - anders, als es Ihr Antrag ein bisschen zu suggerieren versucht - ganz bewusst und gezielt den gesamten öffentlichen Verkehr, vom Anrufsammeltaxi über den Linienbus bis zum ICE, zur Hälfte von der Ökosteuer freigestellt.
({2})
Der halbe Ökosteuersatz bedeutet einen relativen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem PKW-Verkehr. Diesen Vorteil haben wir sehr bewusst geschaffen. Das hat auch Wirkung. Die aktuellen Zahlen zur Verkehrsleistung weisen
das aus: Wir haben eine zunehmende Verkehrsleistung im
öffentlichen Verkehr und einen Rückgang beim Benzinverbrauch im Individualverkehr.
({3})
Das ist so gewollt. Deshalb ist die alte Leier von der angeblichen Behinderung der Erfolgschancen des Busses im
Verkehrssystem einfach dissonant und schrill.
Auch Ihr Vergleich mit dem Flugzeug trifft es natürlich
nicht; denn die Urlauberin oder der Urlauber, die bzw. der
nach Mallorca fliegt, geht nicht dem Busverkehr verloren.
Es ist ganz klar: Der Konkurrent zum Busverkehr ist der
PKW, ist der Individualverkehr. Auch Ihr Vergleich mit
den Auslandsverkehren überzeugt mich nicht. Sagen wir
einmal, eine Pilgergruppe - ich nehme ein christliches
Beispiel, da die CDU/CSU den Antrag gestellt hat - fährt
mit dem Bus nach Rom. In Deutschland kostet der Liter
Diesel heute - ich habe die Daten aktuell beim ADAC abgefragt - trotz Ökosteuer 1,65 DM. In Italien kostet derselbe Liter Diesel 1,75 DM. Hören Sie also auf mit dem
Gejammer. Der Busfahrer wird schauen, dass er in
Deutschland tankt, nicht in Rom; denn in Deutschland ist
es trotz Ökosteuer immer noch günstiger als in Italien.
Ihre Argumentation ist doch nicht überzeugend.
({4})
Herr Kollege
Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Burgbacher?
Ja, bitte.
Herr Kollege Schmidt,
nur noch einmal zur Klarstellung: Sie haben gerade behauptet, der gesamte Busverkehr sei nur mit dem halben
Ökosteuersatz belastet.
Nein, ich habe gesagt, der Linienbusverkehr.
Der Tourismusbusverkehr wird also mit dem vollen Ökosteuersatz belastet, ist
das richtig?
Ich habe wörtlich gesagt und sage Ihnen das
noch einmal - den Satz kann ich auswendig, ich sage ihn
auf jeder Veranstaltung draußen im Land -: Wir haben bewusst den gesamten öffentlichen Verkehr - öffentlichen
Verkehr! -, vom Anrufsammeltaxi über den Linienbus bis
zum ICE, zur Hälfte von der Ökosteuer freigestellt.
({0})
Das ist zutreffend, das ist richtig, das ist gewollt und das
ist auch erfolgreich.
({1})
Nun komme ich dazu, warum es gar nicht stimmen
kann, dass die Ökosteuer die entscheidende Größe hinsichtlich der Wettbewerbschancen des Busverkehrs ist.
Sie begründen das selber in Ihrem Antrag. Sie schreiben
mit Recht: Der Bus verbraucht einen halben Liter Diesel
auf 100 Kilometer pro Fahrgast. Der Bus ist sozusagen ein
0,5-Liter-Auto. Wenn wir eine Busreise etwa von Frankfurt in den Bayerischen Wald organisieren - zweimal
300 Kilometer; einmal hin, einmal zurück -, bedeutet das
einen Verbrauch von 3 Litern Diesel pro Fahrgast. Wo ist
die Ökosteuer darin? Mit den beiden Stufen, die wir jetzt
haben, sind das 36 Pfennig Ökosteuer für die gesamte
Reise, hin und zurück. Wenn Sie mir jetzt erzählen wollen, dass diese 36 Pfennig preis- und spielentscheidend
sind, dann muss ich sagen: Mit so einer Argumentation
machen Sie sich nur lächerlich.
({2})
Die wahren Probleme und die wahren Themen, die uns
beschäftigen sollten, liegen ganz woanders. Sie werden
im zweiten Teil des Antrags, nämlich bei der Novellierung
der EG-Richtlinie 11/91 zum Thema Wettbewerb im öffentlichen Nahverkehr, auch angesprochen.
Hier möchte ich deutlich sagen: Es ist eine Konsequenz
des Maastrichter Vertrages, dass mit öffentlichen Geldern und es gehen in Deutschland 8 Milliarden DM in den Busverkehr - auch effizient umgegangen werden muss. Es
muss ausgeschrieben werden, es muss Wettbewerb geben. Das ist eine ungeheure Chance für die privaten Busunternehmen. Das heißt, Wettbewerb ist ein Instrument,
um Qualitätsziele zu erreichen, Wettbewerb ist kein Ziel
an sich. Die Ziele, um die es geht, sind Qualitätsziele im
Interesse des Fahrgastes: guter Service, attraktives Angebot, natürlich auch anständiger Preis; aber es ist eben kein
Preisdumpingwettbewerb. Deshalb müssen und werden
wir bei der Umsetzung dieser Richtlinie in das nationale
deutsche Recht darauf achten, dass wir diese Qualitätsmerkmale als unverzichtbare Bestandteile der Reformgesetzgebung festschreiben. Dazu müssen dann auch die
Länder mit Vergabegesetzen beitragen. Das gilt auch für
Sozialstandards der Beschäftigten.
Um es zusammenzufassen: Auch eine andere Diskussion, die immer mal wieder mitschwingt - was ist besser,
Bus oder Bahn? -, ist unsinnig. Wir brauchen beides, wir
brauchen die Vernetzung, das System aus Bus und Bahn.
Wir brauchen auch eine effiziente staatliche Finanzierung
dieser Systeme. Bus und Bahn gehören im Interesse der
Reisenden zusammen.
Ich freue mich auf produktive Ausschussberatungen;
denn dort haben wir die Chance, noch qualifizierter miteinander ins Gespräch zu kommen und zu sortieren, wo
wir uns einig sind, aber auch, wo wir fundamentale Unterschiede haben.
Danke.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Winfried Wolf.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass
wir hier einen Antrag behandeln, der leider in die falsche
Richtung geht, der eher wie ein Lobbyantrag wirkt, der
unausgereift und einseitig ist. Zu Recht werben die öffentlichen Verkehrsmittel oft mit dem Begriff „Bahnen
und Busse“. Hier wird ein Teil herausgenommen und versucht, dafür spezielle Lobbyarbeit zu machen. Das ordnet
sich ein in die gesamte Ökosteuerdebatte, die von Ihrer
Seite, von der CDU und der CSU, zum Teil sehr demagogisch geführt wurde, wobei es Künstlerpech ist, dass seitdem die Spritpreise um circa 20 Prozent gesunken sind.
Zu Ihrer Klage, Frau Blank und andere, in Bezug auf
die Europäische Union und den ruinösen Wettbewerb ist
zu sagen: Das ist richtig. Es stimmt auch, dass das für den
LKW zutrifft. Es stimmt vor allem auch, dass das eine
Entwicklung ist, die in den letzten zehn bis 20 Jahren in
erheblichem Maße gerade von Ihrer Seite gefördert
wurde. Alle Vorschläge, die hier gemacht werden, sind
Vorschläge, die diesen ruinösen Wettbewerb noch weiter
verstärken werden: durch Abbau von Mehrwertsteuer,
durch Abbau von Ökosteuer, durch neue Steuersenkungen
usw.
Wir sagen durchaus: Es ist besser, wenn Menschen statt
mit dem Auto und dem Flugzeug mit dem Bus fahren. Wir
sagen aber auch, dass es da, wo Schienen vorhanden sind,
besser wäre, wenn diese genutzt werden würden. Wir
glauben, hier wird eine schädliche Konkurrenz - Bus gegen Bahn oder beim Güterverkehr Binnenschifffahrt gegen Bahn - aufgebaut. Die externen Kosten bei Bussen
liegen immer noch wesentlich über denen bei der Schiene,
vor allem was Fläche, Fahrwerkzerstörung, Abgase und
Lärm betrifft. Deswegen meine ich auch, dass man das
System des öffentlichen Verkehrs in seiner Gesamtheit sehen muss, um zu erkennen, wo es sinnvoll ist, die Binnenschifffahrt, Busse oder Schienenfahrzeuge einzusetzen.
Damit meine ich auch, dass die jetzige Entwicklung,
dass auf weiten Strecken, Stichwort „Pilgerfahrt nach
Rom“, Busse eingesetzt werden, im Grunde eine verrückte Entwicklung ist. Man müsste vielmehr bei weiten
Strecken gerade die Bahn, die Schiene, bevorzugen.
({0})
Ein letztes Wort zu den Arbeitsplätzen: Die CDU/
CSU argumentiert in ihrem Antrag, 15 000 Menschen
seien direkt in der Busproduktion beschäftigt. Dann sagen
Sie:
Der Bus sichert zudem auch circa 750 000 Menschen
in Deutschland direkt und indirekt ihre Arbeitsplätze.
Frau Blank, in der Bahnindustrie arbeiten heute 23 000
Menschen, bei der Bahn 220 000 Menschen, bei Stadtbahnen, soweit schienengebunden, noch einmal 150 000
Menschen. Grob hochgerechnet heißt das, dass die
Schiene - Produktion und Verkehr - ungefähr 1,5 Millionen Menschen direkt oder indirekt den Job sichert. Ich
würde gern einmal einen überfraktionellen Antrag sehen,
der mit diesem Arbeitsplatzargument Lobbyarbeit für die
Schiene leistet.
({1})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Letzgus, CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der
heute vorliegende CDU/CSU-Antrag, Kollege Schmidt,
„Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibusunternehmen erhalten und sichern“
({0})
müsste eigentlich bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, auf wachsende Begeisterung
stoßen; denn er gibt Ihnen Gelegenheit, Ihre verfehlte Verkehrspolitik in Sachen ÖPNV und Busunternehmen zu revidieren, indem Sie ihm zustimmen.
({1})
Dass der Bus ökonomisch und ökologisch ein sehr
sinnvolles und effizientes Verkehrsmittel ist, dürfte unstrittig sein. Jeder Autofahrer wird das merken, wenn er
einmal einen Bus mit folgendem Aufkleber vor sich hat:
Hier könnten 30 PKW vor Ihnen herfahren. Ich glaube, jeder Autofahrer, der überholen will, wird dadurch erst einmal ruhiger. Weil der Bus besonders umweltfreundlich
und ökonomisch und ökologisch ein sehr sinnvolles Verkehrsmittel ist, verdient er unsere spezielle Aufmerksamkeit und Förderung.
Als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Opposition waren, war all das, was die damalige Regierung für
den ÖPNV und die Busunternehmen gemacht hat, nicht
gut genug. So konnte man nach dem Regierungswechsel
eigentlich erwarten, dass eine Flut von Förderungsmaßnahmen den Bus auf die Überholspur bringen würde. Jedoch weit gefehlt.
Mit der Einführung der Ökosteuer, von der Sie den
ÖPNV völlig unverständlicherweise nicht komplett ausgenommen haben, haben Sie Ihre ursprünglichen Bekundungsabsichten konterkariert.
({2})
Sie wissen genau, dass diese Ökosteuer absolut nichts mit
„öko“ zu tun hat.
({3})
Das ökologisch sinnvolle Verkehrssystem Bus wird erheblich belastet. Für die deutschen Busunternehmen
verschlechtert sich die Wettbewerbssituation. Kollege
Bruckmann, Sie sprachen davon, dass der Bustourismus
in Deutschland zurzeit wieder besseren Zeiten entgegengeht. Das freut uns. Das hat aber weniger mit der tollen
Situation der deutschen Busunternehmen, sondern vielmehr mit der Euro-Schwäche zu tun; denn die Touristen
kommen überwiegend aus den Dollar-Ländern und profitieren von dem schwachen Euro. Insofern trifft die in unserem Antrag enthaltene Forderung nach Abschaffung
dieser so genannten Ökosteuer den Nagel auf den Kopf,
({4})
da damit die ursprünglich vorgesehene Lenkungsfunktion
- das gestehe ich Ihnen zu - nicht nur nicht erreicht wird,
sondern sich in ihr Gegenteil verkehrt.
Die Markteinführung von mit Erd- und Biogas betriebenen Bussen im ÖPNV als wichtiger Beitrag zur Lösung
aktueller verkehrsbedingter Umweltprobleme ist verstärkt zu fördern. Dieser Punkt in unserem Antrag - das
hatten Sie erwähnt - ist unstrittig. Das ist verdammt nötig,
zumal wir wissen, dass die CO2-Belastung in letzter Zeit
leider wieder angestiegen ist.
In unserer Ausschusssitzung am 24. Januar dieses Jahres, in der wir unter anderem die Pläne der EU-Kommission hinsichtlich der bevorstehenden Liberalisierung des
ÖPNV-Marktes in der EU diskutierten, kamen wir - Koalition und Opposition - insgesamt zu fast gleichen Auffassungen. Wir sind uns einig, dass der Wettbewerb im
ÖPNV dazu führen muss, die Dienstleistungen kostengünstiger, kundenfreundlicher und in verbesserter
Qualität anzubieten. Weiterhin bleibt notwendig - auch
das ist unstrittig -, dass neben den Technik-, Qualitäts-,
Umwelt- und Sicherheitsstandards auch die Arbeits- und
Sozialstandards auf hohem Niveau erhalten bleiben müssen. Lohndumping muss verhindert werden.
Die Existenz unserer mittelständischen Busunternehmen - das sind in Deutschland circa 400 öffentliche und
etwa 5 000 private Unternehmen - ist gegenüber dem Verdrängungswettbewerb durch Großunternehmen im europäischen Verkehrsgewerbe wirksam sicherzustellen. Zustände wie in Dänemark - das wissen Sie -, wo sich die
Zahl der Busbetriebe halbiert hat - von den verbliebenen
Unternehmen sind 40 Prozent in ausländischer Hand -,
oder auch in Schweden, wo drei Großunternehmen
60 Prozent aller Busleistungen halten - zwei von diesen
dreien sind ebenfalls in ausländischer Hand -, müssen in
Deutschland verhindert werden.
Flexible, ausreichend lange Übergangsfristen müssen
den deutschen Unternehmen die Möglichkeit einräumen,
sich den neuen Marktgegebenheiten anzupassen. Dies
muss für die Unternehmen bedeuten, - ich will mich
hier nicht darüber streiten, ob „ausreichend lange“ sechs
oder acht Jahre sind - sich möglichst schnell auf die
kommende Marktöffnung einzustellen.
Im Hinblick auf den EU-Beitritt der osteuropäischen
Staaten sind Übergangsfristen notwendig, mit denen die
Belange unserer mittelständischen Verkehrs- und Omnibusunternehmen angemessen berücksichtigt werden. Insgesamt muss in Zukunft ein fairer Wettbewerb garantiert
werden, die notwendige Transparenz gesichert sein und
ein ruinöser Preiswettbewerb vermieden werden. Die finanziellen Grundlagen für den ÖPNV in der Fläche und
in den Ballungsräumen müssen langfristig gesichert werden.
Dies alles sind Punkte, die eigentlich unstrittig sind
und die Sie auch in unserem Antrag wiederfinden. Insofern kann ich das, was Sie, Kollege Bruckmann, gesagt
haben, unterstreichen. Im Wesentlichen sind wir uns einig.
({5})
Also: Gehen Sie in sich, überzeugen Sie Ihre Kolleginnen
und Kollegen und stimmen Sie unserem Antrag zu!
Ich bedanke mich.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4934 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksache 14/5145 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
PDS-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Heidi Lippmann das Wort.
Vielen Dank! - Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Wie notwendig die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Einsatz von Uranmunition ist,
zeigen die in den vergangenen Wochen bekannt gewordenen Informationen bzw. Teilinformationen. Doch lassen
Sie uns einen Punkt vorweg klären: Der Einsatz von
Uranmunition ist längst nicht so harmlos, wie der Verteidigungsminister uns in den vergangenen Wochen glauben
zu machen versucht hat. Nicht umsonst warnen weltweit
Wissenschaftler und Ärzte vor den möglichen Folgen der
Inkorporation von durch Beschuss freigesetzten Uranpartikeln - unabhängig davon, ob zusätzlich noch andere radioaktive Bestandteile, zum Beispiel Plutoniumspuren,
enthalten sind oder nicht.
Auch im Verteidigungsministerium wurde bereits im
Mai 1999 darauf hingewiesen, dass es neben dem Strahlungsrisiko ein toxikologisches Risiko gibt. Ich zitiere:
Eine längerfristige Gefahr ergibt sich durch die Kontamination von Wasser, Trinkwasser und Boden. Daher sollten bei der Einrichtung von Biwaks die
Geländeteile gemieden werden, auf denen eine Kontamination durch Beschuss stattgefunden hat oder
wo kontaminierter Staubniederschlag den Boden
verseucht hat.
Obwohl dies bekannt war, hat die rot-grüne Bundesregierung über einen langen Zeitraum hinweg alle Anfragen
über die von Uranmunition ausgehenden Gefahren mit
der Standardantwort abgetan: Die Bundeswehr besitzt
diese Munition nicht, eigene Untersuchungen liegen nicht
vor.
Obwohl jeder Luftwaffenoffizier im Verteidigungsministerium weiß und wusste, dass die Standardbewaffnung
von A-10-Bombern seit Jahrzehnten uranhaltige Munition
ist, hat man erst auf eine offizielle NATO-Bestätigung gewartet, bevor man den im Kosovo stationierten Truppen
konkrete Schutzmaßnahmen befahl.
Ebenso hat die Vorgängerregierung reagiert bzw. nicht
reagiert. Beiden ist gemeinsam, dass sie durch ihr Nichtwissen-Wollen den Einsatz dieser Munition durch USamerikanische Truppen im Golfkrieg, in Somalia, in Bosnien, im Kosovo und vermutlich auch in Serbien und
Montenegro toleriert haben. Ich bin überzeugt davon,
dass die Lagerung von DU-Munition, die Ausstattung der
Abrams-Panzer und die so genannten „Unfälle“ durch Alliierte in Deutschland bekannt waren - ebenso wie die
Versuche, die mit DU-Munition von deutschen Rüstungsunternehmen durchgeführt wurden.
Es ist auch davon auszugehen, dass es sich bei den bisher bekannt gewordenen Informationen lediglich um die
Spitze eines Eisberges bzw. - anders gesagt - eines Uranberges handelt. All dies gilt es aufzuklären. Nicht mehr
und nicht weniger fordern wir mit unserem Antrag auf
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.
({0})
Daran sollte jeder und jede in diesem Haus Interesse
haben: im Interesse der Opfer in der Zivilbevölkerung, die
es durch den Einsatz von Uranmunition, insbesondere in
den letzten zehn Jahren, gegeben hat, im Interesse der in
Bosnien und im Kosovo stationierten Soldaten sowie im
Interesse künftiger Opfer, die möglich sind, wenn diese
Munition nicht umgehend verboten und geächtet wird.
({1})
Unabhängig davon, ob die Uranmunition die Ursache
für die bei Soldaten in ganz Europa aufgetretenen
Leukämiefälle ist oder nicht, steht fest, dass das Inkorporieren winzigster Teile nach Jahren zu schweren Organund Nervenschädigungen und zu unterschiedlichsten
Krebserkrankungen führen kann. Es steht weiter fest, dass
Böden und Gewässer kontaminiert sind und die Radioaktivität aufgrund der physikalischen Gesetzmäßigkeit
des Zerfallsprozesses über Jahrzehnte und Jahrhunderte
hinweg noch anwachsen wird.
Die US-Truppen haben nicht umsonst die durch Beschuss in Grafenwöhr kontaminierten Böden entsorgt.
Sollte man nicht zumindest die gleiche Fürsorge auch der
Bevölkerung in der Golfregion und auf dem Balkan zukommen lassen?
({2})
Der Kollege Nolting forderte kürzlich „brutalstmögliche Aufklärung“. Die PDS-Fraktion fordert lückenlose
Aufklärung und bittet Sie alle hierbei um Unterstützung.
({3})
Eine lückenlose Aufklärung ist auch erforderlich angesichts der heute Abend von der ARD ausgestrahlten Sendung „Es begann mit einer Lüge - Deutschlands Weg in
den Kosovo-Krieg“.
Die Herren Scharping und Fischer, die beide nicht da
sind, sind aufgefordert: Klären Sie endlich die Halbwahrheiten und Unwahrheiten auf, die Sie während des Kosovo-Krieges der deutschen Öffentlichkeit zugemutet haben! Gestehen Sie endlich ein, dass der so genannte
Hufeisenplan ein Produkt des Verteidigungsministeriums
war, dass die Vorfälle in Racak vorschnell zum Massaker
erklärt wurden und dass das angebliche Konzentrationslager in Pristina sowie viele andere Gräuelgeschichten erforderlich waren, um Ihren so genannten humanitären
Krieg zu rechtfertigen.
({4})
Übernehmen Sie endlich die Verantwortung für Ihr
Handeln und machen Sie Schluss mit den Unwahrheiten!
Diese Forderung bezieht sich sowohl auf den Krieg insgesamt als auch auf den Einsatz von Urangeschossen.
({5})
Frau Kollegin
Lippmann, Sie müssen zum Ende kommen.
Ein letzter Satz: Angesichts
der von Herrn Scharping wiederholt erhobenen Vorwürfe
gegen Ihre Vorgängerregierung sollte es in Ihrem ureigenen Interesse sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen, alle Vorkommnisse im
Zusammenhang mit Uranmunition aufzuklären. Dieses
gebietet sowohl die Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten als auch die völkerrechtliche Verantwortung der
Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Nun hat Kollege Gerd
Höfer, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin etwas überrascht, dass
ich jetzt schon das Wort erhalte, weil der Redeablauf etwas anders verabredet war. Aber da dieses Thema uns seit
längerer Zeit beschäftigt, kann ich mit vorauseilendem
Gehorsam ahnen, was nach mir noch gesprochen wird,
wobei ich das, was die Kollegin Ulrike Merten sagen
wird, natürlich besonders unterstützen werde.
Wir haben es in diesem Falle mit einer doppelten Desinformation und Desorientierung zu tun: so, wie es gerade
die Kollegin Lippmann gemacht hat - das ist ja eine alte
Geheimdienstpraxis -, und so, wie es F.D.P. und CDU/
CSU fortsetzen werden. Besonders fasziniert hat mich
eben der Satz - den ich schon im Physikunterricht des
zehnten Schuljahres nicht hätte bringen können -, dass die
Halbwertzeit die Radioaktivität bestimmter Elemente erhöht. Die Halbwertzeit ist die Zeit, in der radioaktive
Stoffe unter Abgabe von Radioaktivität bei einer Verringerung der Ausscheidung zerfallen; Sie können das in Becquerel oder in Sievert messen.
Sie stehen damit in einem engen Kontext mit Ihrem
Fraktionsvorsitzenden, der sich bei der letzten Debatte
über DU-Munition nicht entblödet hat zu sagen, er habe
den Begriff „abgereichertes Uran“ in einem Physiklexikon nicht gefunden, dieser Begriff sei eine Erfindung der
Politik, um die Folgen von abgereichertem Uran zu verharmlosen. Sie sehen daran, wie schwer es ist, mit ideologisch geprägten Parteien zu diskutieren: Innerhalb ihrer
Ideologie haben sie mit Sicherheit immer Recht. Das ist
eben der geschlossene Kreislauf einer Ideologie. Es ist
aber ein starkes Stück, die Naturwissenschaften so weit zu
verbiegen, nur um seinem Ziele näher zu kommen. Im
Physikunterricht des zehnten Schuljahres hätte man mir
das, was Sie gerade erzählt haben, nicht abgenommen.
Ihre Ausführungen entbehren jeglicher Solidität.
Die Assoziationskette ist eindeutig: Wenn irgendjemand „Uran“ hört, denkt er automatisch an Atombombe,
an Kernkraftwerk und an die schlimmen Folgen, die zu erleiden sind durch den Abwurf von Atombomben, was in
keiner Weise zu rechtfertigen wäre.
Die Assoziationskette wird genutzt, um Ängste zu
schüren und sich gleichzeitig als Aufklärer darzustellen:
Man fordert einen Untersuchungsausschuss, der dann
dazu instrumentalisiert werden soll, diese Ängste weiter
zu verbreiten, sie mit der Politik zu verbinden und in der
Politik die Sache an einem Namen festzumachen. Dieser
Name ist dann der des Verteidigungsministers.
({0})
Das ist das politische Ziel, das verfolgt wird mit den unsauberen Mitteln, wie ich sie gerade versucht habe darzustellen.
({1})
- Ich verstehe zwar kein Wort, aber ich nehme an, dass der
Zwischenruf nicht sehr qualifiziert war, sonst könnten Sie
eine Zwischenfrage stellen. Dagegen hätte ich eigentlich
nichts, auch wenn ich mit Rücksicht auf die anderen Kollegen nicht so recht weiß, ob ich sie zulassen sollte.
Kollege Höfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fink?
Ja.
Ich bitte doch einmal, zu erklären, seit wann man Parlamentarische Untersuchungsausschüsse instrumentalisieren kann.
Das müssen Sie die Kollegen von
der CDU fragen. Die üben das gerade umgekehrt,
({0})
indem sie sagen, dass der Untersuchungsausschuss ein
Kampfinstrument sei - um damit zu verschleiern, dass der
Anlass des Untersuchungsausschusses kriminelle Machenschaften gewesen sind.
Aber Sie werden sich heute in einer besonderen Nähe
zur CDU und CSU befinden, vermute ich. Wenn es nicht
so eintreten wird, dann haben wir ein gutes Stück an Informationspolitik geleistet.
({1})
- Im Gegensatz zu Ihnen werde ich vor 75 eh nicht vernünftig, und das hat so seine Gründe.
Der zweite Teil der Desinformation geht über die Fürsorgepflicht: Man sagt, alle diese Dinge müssten untersucht werden, und behauptet, dass dieser Komplex nicht
hinreichend untersucht sei, weil die Zahlen derer, die inzwischen untersucht worden sind, nicht ausreichend
seien,
({2})
davon ausgehend, dass die Kollektive, die parallel gestaltet worden sind, zu klein sind.
Meine Damen und Herren, ich werde jetzt etwas ernsthafter. Das gebietet das Thema.
({3})
Selbst wenn zehn Jahre lang untersucht wird - und darüber hinaus -, würde man feststellen müssen, ob über eine
statistische Wahrscheinlichkeit, die signifikant ist, gesichert ist, dass die Zahl der Leukämiefälle, die ja inzwischen, wie Frau Lippmann sagt, europaweit aufgetreten
sind, zunimmt.
({4})
- Ich habe selektiv zugehört und ich weiß auch genau, was
ich sage.
Man kann nicht behaupten, dass man dann, wenn man
die Untersuchungen weiter ausdehnte, zu Schutzmaßnahmen komme, die möglicherweise verhindern würden,
dass zum Beispiel Leukämie oder Lungenkrebs auftritt.
Es ist leider so, dass in der Bundesrepublik Deutschland
jährlich etwa 6 000 neue Leukämiefälle auftreten.
({5})
- Ich habe mich bei Universitäten und an sonstigen Stellen erkundigt, wie sich das bei diesem Thema gehört. Ich
habe auch die Gutachten gelesen, die vom Verteidigungsministerium vorgelegt worden sind, die aber vielfach einfach negiert werden. Hier in der Öffentlichkeit
wird darüber gar nicht gesprochen, auch nicht über die
Bemühungen, die da laufen; im Verteidigungsausschuss
ist es nicht öffentlich, da kann man ja anders damit umgehen. Auch das ist eine Frage der selektiven Wahrnehmung.
Das würde also bedeuten, dass man Latenzzeiten mit
betrachten muss. Einer der Professoren, die ich angerufen
habe, hatte die Meldung gelesen, dass ein Soldat, der im
Kosovo war - hinterher stellte sich heraus, in Mostar -,
Leukämie hatte. Er sagte mir, dass diese DU-Munition,
selbst wenn sie viel gefährlicher wäre, als hier geschildert
wird, schon aufgrund der Latenzzeit nicht ursächlich für
seine Leukämie hätte sein können. In 30 Jahren wird es
aber so sein, dass sich irgendjemand daran erinnert, dass
er in der infrage stehenden Zeit ja in Bosnien-Herzegowina oder im Kosovo gewesen ist. Dann wird er sofort
eine finale Verbindung herstellen zwischen dem Aufenthalt in diesem Gebiet und der Erkrankung.
Da diese Erkrankungen allerdings nicht signalisieren,
dass der Auslöser dieses oder jenes gewesen ist, sie beispielsweise auch durch Erbdisposition ausgelöst werden
können - natürlich auch durch Rauchen und Ähnliches -,
wird man einen Zusammenhang nur über die statistischen
Methoden herstellen können, jedoch ohne die Finalität,
dass ein gewisser Auslöser möglich oder wahrscheinlich
ist.
Wenn diese Disposition aber nicht signifikant ist, dann
wird es sehr schwierig sein, im Einzelfall die Finalität
nachzuweisen. Das gilt genauso im Hinblick auf die Asbestdisposition; nur besteht hierbei ein Vorteil: Asbest
kann man im Körper zumindest noch lokalisieren. Das
Lokalisieren von Stäuben ist sehr schwierig und das von
Strahlen ist unmöglich.
Die Frage nach der Herstellung von Verantwortlichkeit
kann auch durch größere Massenuntersuchungen nicht
mit hundertprozentiger Sicherheit beantwortet werden.
Das muss man der Ehrlichkeit halber all denjenigen sagen, die von diesen Dingen betroffen sein könnten. Das
heißt: Wenn man behauptet, viele Untersuchungen brächten letztendlich Erkenntnis, dann gaukelt man Sicherheit
nur vor. Wer dem Inspekteur des Sanitätswesens aufmerksam zugehört hat, der wird für diese Behauptung Bestätigung finden. Dasselbe gilt für diejenigen, die an Universitäten, welcher Art auch immer, nachfragen.
Es gibt weitere umfassende Untersuchungen in der
Bundeswehr - ich nehme an, dass Staatssekretär Kolbow
darauf eingehen wird -; es gibt eine umfassende Untersuchung zum Beispiel über die Kontaminierung von Wasser. Sie haben verschwiegen, dass vorhergehende Untersuchungen das Ergebnis erbracht haben, dass eine solche
Kontaminierung nicht festgestellt werden konnte. In dem
Fall besitzt die Radioaktivität ausnahmsweise den Vorteil,
dass man sie, sofern noch vorhanden, lokalisieren kann.
Das trifft aber nur dann zu, wenn sich die Munition zerlegt hat und wenn Stäube gebildet worden sind. Es trifft
nicht zu, wenn die Munition in der Erde stecken geblieben ist und nicht getroffen hat, also unversehrt ist.
Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Die
Sorgfältigkeit, die das Verteidigungsministerium in diesen Bereichen walten lässt, ist hervorragend. Bisher hat
sich herausgestellt, dass eine Gefährdung für die Soldaten
durch die eingesetzte DU-Munition auszuschließen ist.
Das werden weitere Untersuchungen von im Kosovo eingesetzten Kollektiven - es finden dabei Vergleiche mit anderen Gruppen statt - bestätigen.
Ich danke Ihnen für das Zuhören.
({6})
Ich erteile der Kollegin Ursula Lietz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ausgelöst durch die ungenügende Informationspolitik des
Verteidigungsministeriums in Bezug auf Geschosse mit
abgereichertem Uran präsentiert uns die Fraktion der PDS
heute Abend einen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.
Zunächst einmal muss ich feststellen: Die Informationspolitik, die uns der Verteidigungsminister zu diesem
Thema geliefert hat, war schlecht.
({0})
Dadurch ist der Eindruck entstanden, hier solle eher vertuscht und verschwiegen als aufgeklärt werden. Diese
Vorwürfe sind mehr als berechtigt und sie sind im Verteidigungsausschuss durch Wortmeldungen mehrerer Fraktionen mehrfach deutlich gemacht worden. Dennoch werden wir dem Antrag der PDS nicht zustimmen. Die
CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass es keines Untersuchungsausschusses bedarf, um die Vorgänge rund um
Besitz und Einsatz von DU-Munition aufzuklären.
Zunächst kann ich der PDS aber eine Formalie nicht ersparen. Sehr verehrte Frau Kollegin Lippmann, Sie sollten
sich künftig vor der Beantragung eines Untersuchungsausschusses mit dem Grundgesetz vertraut machen. Sie haben
einen Untersuchungsausschuss gemäß Art. 44 GG beantragt. Da es sich bei diesem Thema um eine Angelegenheit
des Verteidigungsausschusses handelt, hätte Art. 45 a GG
und nicht Art. 44 GG bemüht werden müssen. Wenn wir
Ihrem Antrag folgten, dann müsste sich der Verteidigungsausschuss selbst als Untersuchungsausschuss konstituieren.
({1})
Verfassungsrechtlich ist Ihr Antrag eindeutig unzulässig.
Was soll der Untersuchungsausschuss denn überhaupt
bezwecken? Sie wollen geklärt wissen, welche Verantwortung die Bundesregierung für den Einsatz von abgereichertem Uran während des Kosovo-Krieges hatte, welche Bemühungen die Bundesregierung zur Aufklärung
angestellt hat und ob sie der Sorgfaltspflicht gegenüber
den Bundeswehrsoldaten nachgekommen ist. Wenn man
nicht mehr weiter weiß, gründet man einen Arbeitskreis.
Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Keines der hier aufgeführten Ziele wird durch einen Untersuchungsausschuss eher erreicht. Keine dieser Fragen hilft den Soldaten jetzt weiter.
Worum geht es in der Sache eigentlich? Ich habe schon
in meiner Rede am 18. Januar an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass bestimmte Maßnahmen umgesetzt werden
müssen.
Dazu gehört erstens, dass wir schnell wirklich alle
Bundeswehrsoldaten erfassen, die im Kosovo mit DUMunition in Berührung gekommen sind oder gekommen
sein könnten. Wir müssen ihnen die Möglichkeit der medizinischen Untersuchung anbieten, übrigens wiederholt, wenn es sein muss, über mehrere Jahre. Diese Untersuchungen müssen mit einheitlichen Standards und in
Absprache mit anderen NATO-Partnern, die auf dem Balkan an den Friedensmissionen SFOR und KFOR teilgenommen haben, durchgeführt werden.
Zweitens. Wir brauchen schnellstens klares Datenmaterial aller NATO-Länder aus DU-kontaminierten Gebieten im Kosovo, um unsere gemeinsamen Mess- und Erfassungsanstrengungen intensivieren und gemeinsame
Datenbanken erstellen zu können.
Drittens. Auch über Besitz und Verwendung DU-haltiger Munition in Deutschland, ob durch die Bundeswehr,
durch andere Verbündete oder die ehemalige Westgruppe
der sowjetischen Streitkräfte, ist Aufklärung notwendig.
Mittlerweile sind wir da ja schon etwas weiter und werden auch ohne einen Untersuchungsausschuss zu Ergebnissen kommen.
Zu bemängeln bleibt allerdings ganz klar, dass diese
Informationen vonseiten des Verteidigungsministers immer erst scheibchenweise gegeben wurden. Die Einbestellung des amerikanischen Geschäftsträgers sollte dann
noch vom eigenen Fehlverhalten ablenken.
({2})
Wir haben die gewünschten Informationen von unseren
amerikanischen Freunden mittlerweile bekommen. Wenn
sich die Bundesregierung ein wenig um ein besseres Verhältnis zur neuen US-Administration kümmern würde,
wäre es ein Leichtes, wieder das Vertrauen herzustellen,
das zwischen Deutschland und den USA unter der Regierung Helmut Kohl bestanden hat.
({3})
Wenn der Verteidigungsminister einerseits im Auftrag
der Bundesregierung im NATO-Rat um ein Moratorium
bei der Verwendung von Munition mit abgereichertem
Uran ersucht und andererseits das Thema zynisch vor
laufenden Kameras selbst herunterspielt, dann darf sich
das größte NATO-Land Europas nicht wundern, wenn seinen Anliegen kaum noch Gewicht beigemessen wird.
Bei all diesen drängenden Fragen bringt uns ein
Untersuchungsausschuss überhaupt nicht weiter. Er besitzt nicht die fachliche Kompetenz, um solche wissenschaftlichen Fragen fundiert zu klären. Das Ergebnis wäre
einmal mehr ein riesiger organisatorischer Aufwand. Das
Zusammenstellen der jetzt dringend benötigten Ergebnisse, die den Soldaten und deren Familien die Unsicherheit nehmen und weiterhelfen, würde dadurch sogar
eher noch verzögert. Unter Umständen geben wir - auch
das halte ich für sehr wichtig und bedenkenswert - ein
falsches Signal an unsere Verbündeten, mit denen wir
diese Probleme ja gemeinsam lösen sollen.
({4})
Meine Damen und Herren auf der äußersten Linken
dieses Hauses, es geht Ihnen primär gar nicht um Aufklärung über den Einsatz von abgereichertem Uran. Wenn
Sie ehrlich sind, sagen Sie doch einfach, dass Sie die
Lage, in die uns der Verteidigungsminister durch mangelhafte Informationspolitik gebracht hat, dazu nutzen wollen, generell gegen den Balkaneinsatz und die Bundeswehr zu polemisieren und sie schlecht zu reden. Das,
meine Damen und Herren von der PDS, werden wir nicht
zulassen.
({5})
Wir stehen voll und ganz hinter der Bundeswehr und ihren
Soldaten und auch hinter dem Einsatz auf dem Balkan.
Das will ich hier ausdrücklich noch einmal betonen.
Wir wollen in die Zukunft schauen. Wir wollen, dass
jetzt gehandelt wird. Vergangenes kann zwar nicht ungeschehen gemacht werden - es ist Tatsache, dass der Einsatz von uranhaltigen Geschossen während des KosovoKrieges stattgefunden hat -,
({6})
aber jetzt hilft nur noch eine klare, zukunftsweisende Strategie, mit der wir die möglichen negativen Folgen dieses
DU-Einsatzes minimieren.
Die Tatsache, dass wir einen Untersuchungsausschuss
ablehnen, sollte das Verteidigungsministerium auf gar
keinen Fall als Freibrief für seine Handlungsweise verstehen. Ganz im Gegenteil: Im Verteidigungsausschuss und
auch hier im Plenum wurde der Verteidigungsminister
mehrmals aufgefordert, die Karten offen auf den Tisch zu
legen; er hat es aber nicht getan. Auf Fragen hat er entweder ausweichend oder gar nicht geantwortet. Stattdessen hat er in seinem Hause immer wieder neue Listen produzieren und verteilen lassen, die seine Aktivitäten unter
Beweis stellen sollten.Die erste gab es am 8. Januar. Eine
zweite Dokumentation wurde uns am 29. Januar zur
Nachbesserung auf den Tisch gelegt. Wir werden weitere
Fragen stellen und wir werden Antworten darauf bekommen. Das kann ich Ihnen versprechen.
Das Krisenmanagement in dieser Sache ist mangelhaft. Man hat zu viel beschwichtigt, statt den Sachverhalt
zu untersuchen und aufzuklären. Dabei hat man sich
unnötig in Widersprüche verstrickt: Auf der einen Seite
erklärt man DU-Munition für unbedenklich; auf der anderen Seite führt man im Nachhinein strenge Sicherheitsmaßnahmen ein - was richtig ist. Dass da eine
Schere aufgeht, hat sich der Verteidigungsminister selber zuzuschreiben.
Geradezu peinlich und, wie ich finde, ausgesprochen
unsachlich war allerdings der Selbstversuch mit Munition
beim letzten Besuch im Kosovo.
({7})
Der Verteidigungsminister weiß sehr wohl, dass, wenn es
zu Schäden gekommen sein sollte, diese entweder auf den
erst nach Jahren feststellbaren Auswirkungen des
Schwermetalls oder auf einer Exposition mit Uranstaub
und möglicher Plutoniumwirkung, für die es keine
Schwellenwerte gibt, die aber ebenfalls erst nach Jahren
- so lange tagt kein Untersuchungsausschuss - erkennbar
sind, beruhen. Der Minister hat mit diesem, wie ich finde,
sehr unseriösen Auftritt, der auch noch im Verteidigungsausschuss geplant war, aber dort Gott sei Dank nicht stattgefunden hat, einmal mehr zu seiner Unglaubwürdigkeit
beigetragen. Die Mehrheit dieses Hauses glaubt ihm bei
diesem Thema nicht mehr und die Mehrheit der ihm untergebenen Soldaten scheint dies auch nicht mehr zu tun.
Das Verteidigungsministerium mauert bei der Frage
nach Asbestkontamination. Das Verteidigungsministerium mauert bei der Frage nach abgereichertem Uran.
Man gibt leider auch bei der Frage nach Schädigungen
durch Radargeräte kein besonders gutes Bild ab.
({8})
Man erreicht damit, dass die Medien auf Spekulationen
angewiesen sind, weil offene Informationen oftmals nicht
ausreichen. Briefe von Soldaten, die wir als Abgeordnete
in diesen Tagen wahrscheinlich alle empfangen, sprechen
da eine beredte Sprache. Sie klagen darüber, dass bei diesem Thema Konfusion herrscht.
Es mag sein, dass der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages in den nächsten Jahren noch einiges zu
tun bekommt. Aber einen Untersuchungsausschuss dazu
brauchen wir nicht.
Herr Fink, zu Ihrer Zwischenfrage: Wir haben in diesen Tagen sehr deutlich festgestellt, und zwar am Beispiel
des Parteispenden-Untersuchungsausschusses, was dabei
herauskommt, wenn ein Untersuchungsausschuss parteipolitisch missbraucht wird. Ein solcher Ausschuss verliert
sehr schnell an Durchschlagskraft und Überzeugungskraft. Wenn wir so verfahren würden, würden die Soldaten sehr schnell das Vertrauen in unser Handeln verlieren.
Ich danke Ihnen.
({9})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Munition
mit abgereichertem Uran ist ein diffiziles Thema. Zwar ist
- da hat Herr Höfer Recht - nicht eindeutig bewiesen, in
welchem Ausmaße sie schädlich ist. Allerdings besteht
der begründete Verdacht, dass sie zu gesundheitlichen
Langzeitschäden für die Zivilbevölkerung und für die eingesetzten Männer und Frauen, ob mit oder ohne Uniform,
führt.
Dieser Verdacht wird nicht nur durch Aussagen von
kritischen Wissenschaftlern, sondern auch durch die steigende Krebsrate bei der Bevölkerung in den Gebieten des
Irak, in denen während des zweiten Golfkrieges diese
Munition eingesetzt wurde, untermauert. Aus diesem
Grunde reicht aus unserer Sicht der begründete Verdacht
- es gibt in der Tat zahlreiche Indizien - für eine schnelle,
internationale Initiative zur Ächtung uranhaltiger Munition aus. Wir wissen, dass es schwierig wird, dies auf der
Ebene der internationalen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen in die Wege zu leiten und umzusetzen. Wir sprechen uns aber ganz klar für rasches Handeln
aus.
Wir kennen den Streit aus Auseinandersetzungen um
das Atomkraftwerk Krümmel und von vielen anderen
Standorten, wo ein Gutachten dem anderen widerspricht,
wo die Politik sich aus der Verantwortung zieht und wo
man den potenziellen Opfern den Nachweis der Ursache
überlässt. Das können wir politisch nicht verantworten.
Solange der Verdacht besteht, darf diese Munition nicht
eingesetzt werden. Deswegen freue ich mich, dass sich
auch der Bundeskanzler in dieser Frage sehr klar geäußert
hat. Herr Schröder hat nämlich gesagt: Ich halte es nicht
für richtig, eine solche Munition zu verwenden.
({0})
Wir bedauern es, dass die richtige Initiative der Bundesregierung - ich halte sie sehr wohl für richtig und
wichtig -, zusammen mit der italienischen Regierung ein
Moratorium in der NATO formal durchzusetzen, gescheitert ist. Fakt ist aber auch, dass es einen Konsens gibt,
diese Munition derzeit nicht einzusetzen.
({1})
Meine Fraktion ist allerdings der Überzeugung, dass diese
unklare Positionierung der NATO nicht die endgültige
sein kann.
({2})
Die grüne Partei hat sich bereits auf dem Bielefelder
Parteitag 1999 für die Ächtung uranhaltiger Munition
ausgesprochen. Meine Fraktion hat diesen Beschluss aus
dem letzten Jahr im Januar dieses Jahres bekräftigt. Wir
werden uns daher aktiv um diese Initiative zur Ächtung
von Uranmunition bemühen und unabhängige Institutionen nach Möglichkeit in ihrer Arbeit unterstützen.
({3})
Die Ausführungen der PDS klingen so, als sei die Angelegenheit ad acta gelegt. Das Parlament hat sich aber
des Themas angenommen, nicht nur im Verteidigungsausschuss. Auch der Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung hat sich aus aktuellem Anlass mit dem Thema beschäftigt. Wir werden darüber weiter intensiv beraten.
Ich sage in Richtung PDS ganz klar: Sie versuchen, ein
sehr wichtiges Thema zu instrumentalisieren.
({4})
Wir wollen die Beratung im Ausschuss und einen politischen Konsens der Parteien, den wir brauchen. Auch in
der Frage der Antipersonenminen brauchten wir diesen
Konsens, um die Ächtung dieser Waffengattung international durchzusetzen. Wir müssen also gründlich vorgehen.
Frau Beer, gestatten
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lippmann?
Ja.
Frau Kollegin Beer, stimmen Sie mir zu, dass die Anfragen von verschiedenen
Fraktionen, die in den vergangenen Wochen im Verteidigungsausschuss schriftlich eingereicht wurden und an
den Verteidigungsminister gerichtet waren, bis heute im
Detail nicht beantwortet sind? Stimmen Sie mir des Weiteren zu, dass Sie eines der wenigen Mitglieder dieses
Ausschusses sind, das sich ausreichend informiert fühlt?
Stimmen Sie mir ferner zu, dass Sie diejenige waren, die
im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung einem Antrag auf sofortige Ächtung
der DU-Munition nicht zugestimmt hat? Sie haben
vielmehr gefordert, man solle erst einmal die gutachterliche Stellungnahme der UN und weiterer Institutionen
abwarten.
({0})
Frau
Kollegin Lippmann, es wird Sie jetzt überraschen, dass
ich Ihnen in allen drei Punkten nicht zustimme.
Erstens. Auch wir haben sehr ausführliche Fragen zu
dem Bereich der DU-Munition gestellt, was die Anwendung auf deutschen Truppenübungsplätzen sowohl durch
die Alliierten als auch möglicherweise durch die russischen Streitkräfte betrifft.
({0})
- Entschuldigung, Sie wollten doch eine Antwort haben.
Wir haben Eingaben von Soldaten und auch Schreiben
von Kollegen aus dem bayerischen Landtag sehr ernst genommen, die seit 1987 die Angelegenheit verfolgen.
Wenn die Bundesregierung bzw. das Verteidigungsministerium innerhalb kurzer Zeit geantwortet hätte, dann hätte
die Antwort nur aus Phrasen bestehen können. Ich gehe
aber davon aus, dass unsere Fragen gründlich geprüft werden, dass wir im parlamentarischen Rahmen aufgrund der
Arbeit der Sommer-Kommission eine ausreichende Antwort bekommen und dass wir nicht auf die Schnelle
- nach dem Motto „hopp, hopp“ - eine verharmlosende
Darstellung auf den Tisch gelegt bekommen.
({1})
- Frau Kollegin, ich bin mit der Antwort noch nicht fertig. Sie haben drei Fragen gestellt.
Zweitens. Wir haben klar gemacht, wo die Informationsdefizite liegen, insbesondere was den Einsatz uranhaltiger Munition in Somalia und in Bosnien betrifft. Ich
möchte hier nur am Rande darauf hinweisen, dass dieser
Vorgang in der Verantwortung der alten Bundesregierung
liegt.
Drittens. Sie haben vorhin eine falsche Position von
mir wiedergegeben. Ich hätte gern gewollt, dass wir eine
entsprechende Initiative schneller durchsetzen. Ich habe
mich aber auf einen Kompromiss eingelassen. Wir haben
uns darauf geeinigt, die entsprechenden Daten abzuwarten, um die Frage beantworten zu können, ob Plutonium
in der Munition enthalten ist oder nicht. Wir haben gesagt,
wir wollen vorher eine völkerrechtliche Bewertung der
Frage. Denn wenn Deutschland noch einmal so erfolgreich wie bei den Antipersonenminen eine internationale
Ächtung durchsetzen will - wir sollten das auch im Bereich Splitterbomben prüfen -, dann sollten wir nicht voreilig handeln, sondern diese Initiative mit fundiertem
Wissen und Sachverstand einleiten. Das ist im Interesse
der Menschen, der Soldaten und aller Beteiligten.
Ich komme zum Schluss. Ich verstehe, dass die Opposition - das ist schließlich ihr Geschäft - einen Antrag auf
die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses stellt.
Ich bin aber überzeugt - das habe ich eben auch ausgeführt -, dass wir keinen politischen Schlagabtausch brauchen, wenn es um die Interessen von Menschenleben, um
die Interessen der Soldaten, deren Einsatz wir zu verantworten haben, geht. Wir erwarten vom Bundesverteidigungsministerium, dass die eingesetzte Arbeitsgruppe
unter Leitung von Dr. Sommer eine zügige Aufklärung
betreibt und dass das Parlament über alle Fragen unterrichtet wird, die noch nicht beantwortet sind. Denn ich bin
der Überzeugung, dass nur rasches und transparentes
Handeln Grundlage dafür sein kann, verloren gegangenes
Vertrauen in die Politik und in die militärische Führung
wieder herzustellen.
Transparenz, Information und schnelles Handeln, das
sind die Dinge, die wir brauchen, und nicht einen Untersuchungsausschuss, der alles bis in den nächsten Wahlkampf zu tragen versucht und dann doch - wie in der Regel in der Vergangenheit - seine Akten ohne Ergebnis
schließt.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. lehnt den Antrag der PDS ab, da sich das Thema für einen Untersuchungsausschuss nicht eignet, obwohl ein Fehlverhalten
im Bundesverteidigungsministerium sehr wohl nahe liegt.
({0})
Gefragt sind jetzt schnelle Aufklärung und schnelles
Handeln. Denn es geht darum, die Ängste von 70 000 deutschen Soldaten, die im Kosovo und in Bosnien eingesetzt
waren, und ihren Familien durch die Beseitigung aller
Unsicherheiten zu beenden.
({1})
Ein Untersuchungsausschuss ist hierfür zu langsam. Er
verstärkt auch eher unbegründete Ängste, als sie schnell
abzubauen. Ein Untersuchungsausschuss ist übrigens ein
sehr starkes Instrument des Parlaments, das nicht durch
allzu häufigen Gebrauch an Wirkung verlieren sollte.
Der Antrag der PDS ist überdies befremdlich, da kein
Wort vom Schutz der Zivilbevölkerung darin zu lesen
ist. Gerade in dem Sektor des Kosovo, in dem unsere Bundeswehr Verantwortung trägt, ist die besagte Munition besonders häufig eingesetzt worden. Die Bevölkerung, gerade Kinder, lebt mit der Gefährdung, die jetzt sehr genau
und schnell analysiert werden und zu besonderen Informationskampagnen vor Ort führen muss.
Minister Scharping muss sich fragen lassen: Wurde im
NATO-Rat vor dem Eingreifen der NATO im Kosovo über
die Verwendung von DU-Munition durch die USA gesprochen? Dies liegt deshalb nahe, da die Engländer, die
ebenfalls über diese Munition verfügen und sie früher eingesetzt haben, in diesem Fall davon abgesehen haben, sie
einzusetzen. Welche Gründe hatten die Engländer, diese
Munition nicht einzusetzen? Wurde darüber gesprochen?
Hat Scharping bei seinen Gesprächen in Moskau mit
dem dortigen Verteidigungsminister Aufklärung darüber
erzielt oder auch nur Aufklärung verlangt, ob die sowjetischen Truppen in der DDR, die diese Munition ja auch
hatten, mit dieser Munition geübt haben und ob auf den
dortigen Übungsplätzen möglicherweise noch immer Gefahren für die Bevölkerung in den neuen Bundesländern
lauern?
({2})
Wann gingen dem Bundesverteidigungsministerium
Erkenntnisse über die Gefährdung von Personen durch
das Einatmen von Feinststäuben zu, die beim Einschlag
von DU-Munition entstehen? Wann wurde dem Ministerium bekannt, dass in dieser Munition auch Spuren von
Plutonium enthalten waren?
Wie wurde auf bekannt gewordene Gefährdungen reagiert? Wurde das Ministerium seiner Informations- und
Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten tatsächlich gerecht? Oder ging es zu Unrecht davon aus, dass es sich
hier, wie Scharping noch vor zwei Wochen sagte, um eine
vernachlässigbare Gefahr handele?
Nein, die Tagesbefehle, mit denen die Soldaten angeblich informiert wurden, müssen genau untersucht werden, ob sie ihren Aufgaben gerecht geworden sind.
Wie kann es zum Beispiel sein, dass sich Scharping immer wieder auf einen Tagesbefehl vom 14. Juni 1999 beruft, in dem in der Tat in sechs Zeilen von insgesamt
20 Seiten über DU-Munition berichtet und entsprechende
Vorsorge nahe gelegt wird? Tatsache ist doch, dass auch
die Festplatte von Soldaten, nämlich ihr Gehirn, nicht in
Megabytes, in Speicherkapazität, sondern ganz schlicht
in Gehirnwindungen bemessen wird. Übrigens: Das gilt
nicht nur für Soldaten, sondern auch für Ministerialbeamte.
({3})
Ich möchte den sehen, der einen 20-seitigen Informationsbrief als Vorsorgehandlung bekommt und der danach
noch weiß, was in sechs bestimmten Zeilen dieses langen
Konvoluts enthalten war.
Nein, die Art, wie Scharping mit diesem Problem umgegangen ist, ist nicht in Ordnung. Die Soldaten erwarten
von ihrem obersten militärischen Vorgesetzten ein Verhalten, das Vertrauen einflößt, kein Rumgeeiere, bei dem
es zunächst heißt, die Gefahr sei vernachlässigbar, und
zwei Tage später wird, wie er sich auszudrücken pflegt,
der amerikanische Geschäftsträger einbestellt, weil plötzlich für die Soldaten unerträgliche Gefährdungen festgestellt worden seien. Wir erwarten vom Verteidigungsminister in Zukunft ein ganz anderes Verhalten und werden
dieses auch einfordern.
({4})
Ich erteile der Kollegin Ulrike Merten, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Sehr verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Bei der Diskussion über den
Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran hatte ich
zeitweilig den Eindruck - ich finde, einige Beiträge heute
Abend waren dafür ein beredtes Beispiel -, dass es weniger um die nötige Transparenz und Aufklärung ging als
vielmehr um das Erzeugen von Aufregung und um gesteuerte Panikmache.
({0})
Wir wissen doch, welche Assoziationen in den Köpfen
bei dem Begriff „Uran“ entstehen. Deswegen ist das verantwortungslos.
({1})
Es ist einfach verantwortungslos, dieses hoch sensible politische Thema parteipolitisch auszuschlachten.
({2})
Nein, nicht die Sorge um die Soldaten und die betroffene
Zivilbevölkerung standen im Mittelpunkt des Bemühens
der Oppositionsparteien, sondern eindeutig der politische
Effekt, was nicht heißt, meine Damen und Herren, dass
der zielführende Gedanke jeweils gleicher Natur gewesen
wäre.
Noch einmal: Es geht um Aufklärung, nicht um Aufregung. Ich will in diesem Zusammenhang nur drei Punkte
nennen.
Bereits im Februar 1997 - darauf hat auch Minister
Scharping hingewiesen -, lange bevor es konkrete Hinweise auf DU gab, sind eindeutige Schutzmaßnahmen
getroffen worden. Sie zielten darauf ab, vor Strahlenexposition zu schützen. Ebenso ging es darum, Inkorporation bzw. Kontamination wegen unsachgemäßer Lagerung und kampfbedingter Freisetzung von radioaktiven
Stoffen und Abfällen zu verhindern.
({3})
Im Juni 1999 wurde mit der täglichen Weisung des
Heeresführungskommandos das einrückende deutsche
KFOR-Kontingent darauf hingewiesen, dass möglicherweise DU-Munition gegen gepanzerte Ziele eingesetzt
worden sei und dies im Umkreis von 50 Metern zu schwacher radioaktiver Strahlung führen könne.
({4})
Diese Weisungen wurden wiederholt ergänzt und ich sage
Ihnen: Es gibt inzwischen kompendiendicke Vorlagen, in
denen Sie das genau nachlesen können.
Außerdem hat die Bundesregierung schon im
Mai 1999 von sich aus auf das toxische Risiko von DUMunition hingewiesen.
({5})
- Frau Lippmann, es wird dadurch nicht richtiger, dass Sie
immer lauter rufen.
({6})
Seit diesem Zeitpunkt ist der Bundestag bzw. der Verteidigungsausschuss kontinuierlich - häufig vom Minister
selbst - unterrichtet worden.
Wenn wir unsere Soldatinnen und Soldaten fragen,
fühlen sie sich in der Mehrzahl - in der Mehrzahl! - über
DU-Munition durchaus gut informiert.
({7})
Glauben Sie mir, ich habe in den letzten Wochen mit sehr
vielen Soldaten gesprochen, die im Einsatz waren, auch
mit Soldaten in Augustorf. Diese Region ist ja besonders
verunsichert worden. Die Soldaten belastet derzeit nicht
so sehr die Sorge vor einer möglichen Gefährdung durch
DU-Munition, sondern
({8})
die Verunsicherung ihrer Familien, die sowieso schon verunsichert und besorgt sind, wenn ihre Männer, Freunde
und Lebenspartner im Einsatz sind. Diese Verunsicherung
schwappt jetzt im Übrigen auch in den Kosovo hinein.
Hildebrecht Braun ({9})
Das, was ich eben aufgeführt habe, zeigt ganz deutlich,
dass kontinuierliche Aufklärung erfolgt ist und auch weiterhin erfolgt und dass die Soldaten dies sehr wohl wissen.
Kollegin Merten, hier
möchte jemand eine Zwischenfrage stellen, und zwar der
freundliche Kollege Braun.
Bitte schön, Herr Braun.
Frau Kollegin Merten, Sie sagen, die Soldaten seien aufgeklärt und
informiert worden. Trifft es zu - oder ist Ihnen bekannt, ob
es zutrifft -, dass Heeresflieger nicht informiert waren, die
Soldaten zu beschossenen Panzern geflogen haben,
({0})
die diese entsorgen sollten, weshalb die Heeresflieger mit
ihren Hubschraubern in unmittelbarer Nähe solcher Panzer gelandet sind und dort naturgemäß Staub aufgewirbelt
haben - das ist beim Landen von Hubschraubern nun einmal so -, mit der Folge, dass sie selbst, aber auch die Soldaten, die sie dorthin transportiert haben, in hohem Maße
gefährdet wurden?
Herr Kollege Braun, ich habe
eben gesagt, dass sich die Mehrzahl der Soldaten gut aufgeklärt fühlt. Ich glaube, man kann den Aussagen der Soldaten durchaus Glauben schenken. Das, was Sie eben anführten, muss noch einmal sehr genau nachgeprüft
werden. Sollte die Aussage zutreffen, können wir auch darüber reden.
({0})
Wir haben, wenn es um Information und Transparenz
geht, aber auch immer wieder gesagt: Dies kann nicht nur
für Deutschland gelten, sondern die Forderung nach
Transparenz und Information müssen wir auch an die
USA richten, die als einzige mit Uran gehärtete Munition
auf dem Balkan verschossen haben.
Festzustellen bleibt: Von der Bundeswehr wurde und
wird keine DU-Munition verwendet, weil sie keine besitzt. Ich meine, kein Staat sollte sie verwenden. Aber jenseits der grundsätzlichen Bewertung stand Folgendes auf
der Tagesordnung: Ergeben sich Gefährdungen für Soldaten und die Bevölkerung aus den Stäuben von DU-Munition? Welches Gefährdungspotenzial entsteht unter Umständen durch die Kontamination des Bodens? Dieses
Problem - ich finde, darauf muss man seriöserweise hinweisen - stellt sich allerdings auch, wenn man auf Uranmunition verzichtete und stattdessen Wolfram einsetzte.
({1})
Das muss man hinzufügen und man darf nicht so tun, als
ob man mit dem Verzicht alle Probleme gelöst hätte.
Inzwischen wissen wir ziemlich verlässlich, dass für
die Soldaten zu keiner Zeit eine ernsthafte Gefährdung
durch DU-Munition bestanden hat, immer davon ausgehend, dass die befohlenen Schutzvorschriften eingehalten
wurden.
Wir können also abschließend noch einmal festhalten:
Es gibt weder ein Informationsdefizit geschweige denn
schuldhafte bzw. fahrlässige Versäumnisse. Nur wenn solche bestünden, machte ein Untersuchungsausschuss wirklich Sinn.
({2})
Die im Antrag der PDS geforderte Verantwortung der
Bundesregierung wurde von dieser zu jeder Zeit wahrgenommen. Darum sparen Sie sich endlich Ihre Aufgeregtheit! Nehmen Sie stattdessen zur Kenntnis, was an Aufklärung geschehen ist und laufend geschieht. Wir lehnen
den Antrag der PDS natürlich ab.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir stimmen über den Antrag der Fraktion der PDS auf
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, Drucksache
14/5145, ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert
Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang Bosbach, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes ({0})
- Drucksache 14/4558 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Benno Zierer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
werten Damen! Meine Herren! Der Schutz von Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen
sowie ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen ist, soweit christliche Bekenntnisse betroffen
sind, durch den § 166 StGB nur unzureichend gesetzlich
geregelt. Der Grund liegt in folgender Voraussetzung, die
nach dem bisherigen Gesetz für die Strafbarkeit erfüllt
sein muss: Die Beschimpfung muss geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. Aber das Vorliegen dieser
Eignung wird von den Gerichten bei der Beschimpfung
christlicher Bekenntnisse regelmäßig verneint.
Die Begründung vonseiten der Gerichte lautet, Christen in Deutschland ließen die Verhöhnung ihres Glaubens
in der Regel über sich ergehen. Sie verhalten sich deshalb
so, so meine ich, weil es nicht in ihrer Mentalität liegt, gegen eine Verhöhnung mit gewalttätigen Mitteln vorzugehen. Das Fehlen öffentlicher Empörung oder gar mit Gewalt ausgeführter Empörung zeige aber, so die Gerichte,
dass die betreffende Verhöhnung nicht geeignet gewesen
sei, den öffentlichen Frieden zu stören.
({0})
Die Folge ist: Einstellung des Verfahrens oder Freispruch für die Verhöhnenden und somit im Ergebnis
Straflosigkeit der Verhöhnung selbst. Auf diese Weise hat
sich § 166 StGB in der Praxis auch bei groben Beschimpfungen religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse, soweit sie christlich sind, als wirkungslos erwiesen.
Dieser Zustand der Straflosigkeit ist nicht länger hinnehmbar.
({1})
Auch der laizistische Staat sollte ein natürliches Interesse
am Schutz religiöser Glaubensinhalte haben, da der Verlust von Werten, die Orientierung bieten und Solidarität
stiften, nicht ohne Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft bleiben kann.
({2})
Gerade in der heutigen Zeit mit ihren Sinnkrisen und Beziehungsdefiziten, mit ihrem ausufernden Individualismus kommt religiösen Inhalten und Bekenntnissen eine
stabilisierende Wirkung zu. Diese stabilisierende Funktion muss geschützt werden.
Die CDU/CSU-Fraktion legt deshalb auf Bundestagsdrucksache 14/4558 einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Das Hohe Haus war bereits im Jahre 1998 mit
einem ähnlichen Antrag befasst, der als Gruppenantrag
eingebracht worden war. Zu Ende der Legislaturperiode
verfiel er dann aber der Diskontinuität.
({3})
Gegenstand des vorliegenden Gesetzentwurfes ist der
bessere Schutz religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen durch einen geänderten § 166 StGB. In den beiden Absätzen des bisherigen § 166 StGB wird der Passus,
dass die Beschimpfung geeignet sein muss, den öffentlichen Frieden zu stören, gestrichen. Beschimpfung allein
soll künftig ausreichen. Ich möchte das noch deutlicher
formulieren: Strafbar soll sein, wer öffentlich oder durch
Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder
weltanschaulichen Bekenntnisses anderer beschimpft.
({4})
Um eine Kollision mit der im Grundgesetz verbrieften
Meinungs- und Kunstfreiheit zu vermeiden, soll nach
dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht schon jedes leicht
abfällige religiöse Werturteil als Beschimpfung eingestuft
werden, sondern nur eine „durch Form und Inhalt besonders verletzende Äußerung der Missachtung“. Dadurch
wird sichergestellt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst dort eine Grenze haben, wo Religionsbeschimpfung als eine Form von psychischer Gewalt bewusst auf Verletzung, Provokation und
Tabubruch zielt.
Wie die Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheit
zeigen, nehmen die Angriffe insbesondere auf christliche
Bekenntnisse an Schärfe und Intensität zu. Beispiele sind
die „Heiligsprechung“ eines Homosexuellen durch eine
ehemalige Prostituierte in einem dem päpstlichen Ornat
ähnlichen Kleid bei einer Demonstration gegen den Papstbesuch in Berlin im Juni 1996 sowie Nacktaufnahmen auf
dem Vierungsaltar des Kölner Doms. Darüber hinaus lassen zahlreiche Spielfilme und Bühnenstücke zunehmend
jegliches Maß an Toleranz und Achtung vor der religiösen
Überzeugung anderer vermissen.
({5})
Mit Betroffenheit und Empörung haben viele Bürger
und kirchliche Stellen auf derartige Angriffe reagiert, und
zwar in Form von Strafanzeigen, Eingaben und Beschwerden. Aber in zahlreichen Entscheidungen und Urteilen haben Staatsanwaltschaften und Gerichte die strafrechtliche Verfolgung dieser Angriffe abgelehnt. Die
Begründung lautete: Die Beschimpfung sei nicht geeignet
gewesen, den öffentlichen Frieden zu stören.
Diese ablehnenden Bescheide und Urteile stoßen zunehmend auf Unverständnis. Zu Recht weisen die Betroffenen darauf hin, dass es ihnen nicht zugemutet werden
kann, zu friedensstörenden Mitteln zu greifen, um vor
gröbsten Verletzungen ihrer religiösen Gefühle geschützt
zu werden. Dem Gesetzentwurf liegen deshalb folgende
Gedanken zu Grunde: Erstens ist es Pflicht eines jeden,
bei der Behandlung von Dingen, die anderen heilig sind
oder ihr Weltbild maßgeblich prägen, Zurückhaltung zu
üben.
({6})
Zweitens gibt es Handlungen, die diese Pflicht so gröblich
verletzen, dass nach allgemeinem Rechtsempfinden eine
staatliche Strafe geboten ist.
Kardinal Ratzinger
({7})
hat in einem Vortrag über die geistigen Grundlagen Europas Ende November vergangenen Jahres in der Landesvertretung Bayern hier in Berlin Folgendes ausgeführt
- ich zitiere ihn wörtlich -:
In unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird gottlob
jemand bestraft, der den Glauben Israels, sein Gottesbild, seine großen Gestalten verhöhnt. Es wird
auch jemand bestraft, der den Koran und die Glaubensüberzeugungen des Islam herabsetzt. Wo es dagegen um Christus und um das Heilige der Christen
geht, erscheint die Meinungsfreiheit als das höchste
Gut, das einzuschränken die Toleranz und die Freiheit überhaupt gefährden oder gar zerstören würde.
Ich meine, diese Worte bezeichnen genau das Ziel, um
das es in dem Gesetzentwurf geht, nämlich dass die Ehrfurcht vor dem Heiligen überhaupt, die Ehrfurcht vor Gott
auch demjenigen zumutbar ist, der selbst nicht an Gott zu
glauben bereit ist.
Strafbar soll daher sein, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder des
weltanschaulichen Bekenntnisses anderer beschimpft.
Der Begriff des „Beschimpfens“ ist in der Rechtsprechung inhaltlich hinreichend definiert. Daher besteht
- darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen - keine Gefahr, der novellierte § 166 StGB könne zu einer Waffe im
Weltanschauungskampf oder zu einem Zensurparagraphen werden.
Die derzeitige Rechtslage ist unbefriedigend. Die Gesetzesänderung ist darum dringend notwendig. Das werden die Koalitionsfraktionen einsehen und werden ihre
Zustimmung - das bleibt zu hoffen - nicht verweigern.
Haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Für die SPD-Fraktion
erteile ich dem Kollegen Joachim Stünker das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der
rechtspolitische Sinn oder besser gesagt: die Sinnhaftigkeit des vorliegenden Gesetzentwurfes zum gegenwärtigen Zeitpunkt, im Jahre 2001, erschließt sich mir nicht
und hat sich mir auch nach Ihren Ausführungen, Herr Kollege, nicht erschlossen.
({0})
In der Überschrift heißt es: „Stärkung des Toleranzgebotes durch einen besseren Schutz religiöser und weltanschaulicher Überzeugung gemäß § 166 StGB“. Was
verbirgt sich hinter diesem Oberbegriff? Wo ist die rechtspolitische Notwendigkeit, der sachliche Grund für die begehrte Änderung des Strafgesetzbuches? Welches tatsächliche Verhalten der Bürgerinnen und Bürger soll damit
neu unter Strafe gestellt werden? Welche Handlungen sollen damit letztendlich pönalisiert werden? Die Nachforschungen und rechtshistorischen Recherchen, die häufig
sehr aufschlussreich sind, haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass uns der vorliegende Gesetzentwurf,
wenn er denn beschlossen würde, rechtspolitisch über
30 Jahre zurückwerfen würde.
({1})
Die Unionsfraktion tummelt sich auch in der Rechtspolitik noch immer im Meinungskampf der 60er-Jahre des
vergangenen Jahrhunderts. Es ist der Reformgesetzgeber
des Jahres 1969 gewesen, der mit dem Ersten Gesetz zur
Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 den bis heute
geltenden Tatbestand des § 166 StGB, den Sie nun ändern
wollen, geschaffen hat,
({2})
ein Reformgesetzgeber, der - übrigens in der Zeit der einzigen großen Koalition, die es in der Nachkriegsgeschichte gegeben hat - zum Ausgang der Nachkriegsrestauration auch unser Strafgesetzbuch entstaubt hat, der ein
liberales Strafrecht geschaffen hat, ein Strafrecht, das
nicht der ethisch-moralischen Bevormundung der Staatsbürger zu dienen hat, sondern ein Strafrecht, das den öffentlichen Frieden in den Grenzen der Bundesrepublik zu
gewährleisten hat.
({3})
Große Namen in der Rechtswissenschaft, aber insbesondere bedeutende Rechtspolitiker der Fraktionen von
CDU/CSU, SPD und F.D.P. in diesem Hause stehen für
diese Liberalisierung des Strafrechts. Der Deutsche Bundestag hatte seinerzeit wegen der großen Bedeutung dieses Nachkriegsvorhabens mit Bedacht den Sonderausschuss für die Strafrechtsreform eingesetzt. Dieser hat
seinerzeit in 101 Sitzungen unter großer wissenschaftlicher Beteiligung bedeutender Strafrechtslehrer getagt.
Geprägt haben diesen Ausschuss und die damalige Diskussion Namen wie Dr. Güde, Dr. Müller-Emmert,
Dr. Dehler, Frau Dr. Diemer-Nicolaus und Herr Schlee um nur einige Namen zu nennen. Sie alle sind Rechtspolitiker, deren Wirken bis heute, quer über die Parteigrenzen hinweg, seine Bedeutung nicht verloren hat.
({4})
Diese Liberalisierung des Strafrechts ist dann noch vor
der Bundestagswahl des Jahres 1969, also noch in der Zeit
der großen Koalition, in diesem Hohen Hause weit fraktions- und parteiübergreifend beschlossen worden.
({5})
- Herr Kollege Geis, seien Sie doch nicht so aufgeregt,
hören Sie doch auch mal zu.
({6})
Nun zu der Neuregelung: Im 11. Abschnitt des Strafgesetzbuches, unter der Überschrift „Straftaten, welche
sich auf Religion und Weltanschauung beziehen“, ist in
§ 166 seit diesem Zeitpunkt die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen unter Strafe gestellt, und zwar im
Höchstfall mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Aber der
Reformgesetzgeber von 1969 hat gegenüber der bis dahin
geltenden Regelung mit der Einfügung der so genannten
Geeignetheitsklausel diese Handlungen eben nur dann
unter Strafe gestellt, wenn sie geeignet sind, den öffentlichen Frieden zu stören.
({7})
Das bedeutet: Nicht der Schutz des geistigen Friedens,
sondern die Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens in der Ausprägung, die er durch den Toleranzgedanken erfahren hat, ist Aufgabe des Tatbestandes. Geschützt
werden sollen Fairness und Anstand in der religiösen und
weltanschaulichen Auseinandersetzung, die als solche
durchaus erwünscht ist, aber nicht in der Form friedensstörender Beschimpfungen geführt werden darf. Die Vorschrift schützt damit den öffentlichen Frieden, nicht aber
das religiöse Empfinden des Einzelnen und nicht den
sachlichen Inhalt religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse. Das war und ist der Kerngehalt der damaligen
Neuregelung.
({8})
Mit Ihrem heutigen Änderungsantrag möchten Sie, lieber Herr Geis und liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU, dies nunmehr wieder umdrehen. Die im
Jahre 1969 Mindermeinung gebliebene Auffassung zum
Schutzzweck dieser Norm soll 32 Jahre später zur Mehrheitsmeinung gemacht werden. Sie wollen den Schutz
dieser Vorschrift wieder dahin ausdehnen, dass die
geäußerte Missachtung des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses Dritter als solche unter Strafe gestellt
werden soll.
Den Protokollen der damaligen umfassenden Ausschusssitzungen und den wissenschaftlichen Aufsätzen ist
zu entnehmen, dass seinerzeit zu dieser Frage die gleichen
Argumente wie heute hier vorgetragen ausgetauscht worden sind. In der Folgezeit gab es in den Jahren 1986 und
1998 hierzu gleich lautende Gesetzesanträge des Freistaates Bayern, die über den Bundesrat eingebracht worden waren, die aber samt und sonders ohne Erfolg geblieben sind. Ich frage mich: Warum haben Sie in dieser Zeit
mit Ihrer Mehrheit nicht das umgesetzt, was Sie uns heute
hier wieder vorlegen? Sie haben die Möglichkeit gehabt!
({9})
Ich empfinde es als zynisch, heute in der Opposition diesen Antrag wieder vorzulegen, den Sie damals, 16 Jahre
lang, mit eigenen Mehrheiten nicht haben umsetzen können.
Herr Kollege Geis, der jetzt vorliegende Antrag ist
wortwörtlich abgeschrieben aus den Initiativen von 1986
und 1998.
({10})
Es sind dieselben Begründungen wie seinerzeit. Es haben
sich seitdem also rechtstatsächlich betrachtet keine neuen
Verhältnisse ergeben, die ein Handeln des Gesetzgebers
notwendig machen würden. Die Antwort auf Ihr Begehren bleibt daher auch heute die gleiche wie seinerzeit: Ich
und wir stehen ohne Einschränkungen für die Achtung des
religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses Dritter
ein - keine Frage. Diese Achtung findet im Übrigen zum
Beispiel in § 167 StGB - Unterschutzstellung der Religionsausübung - ihre weitere Ausprägung. Diese Achtung hat auch uneingeschränkt in allen staatlichen Institutionen zu erfolgen - keine Frage.
Die im gesprochenen Wort oder in Darstellungen der
Kunst zum Ausdruck gebrachte Missachtung aber, die den
öffentlichen Frieden nicht stört, kann und darf in einer säkularisierten Gesellschaft nicht unter Strafe gestellt werden. Das gebietet die Gewährleistung der Meinungsfreiheit nach unserer Verfassung. Ich und jeder andere mag
diese geäußerte Missachtung, von der Sie gesprochen haben, missbilligen. Darum geht es hier aber nicht. Insoweit
ist aber ein von Amts wegen auszuübender und durchzusetzender staatlicher Strafanspruch, den jeder Staatsanwalt
verfolgen muss, nach unserer Überzeugung ausdrücklich
fehl am Platze. Der gesellschaftliche Meinungskampf, der
Austausch von Argumenten
({11})
darf hier über das Strafrecht letzten Endes nicht ausgeschlossen werden. Wir werden daher diese Vorschrift
nicht ändern, Herr Geis.
In gewissem Sinne ist aber dieser Vorgang, dass Sie die
über 30 Jahre alten Anträge heute wieder vorlegen, symptomatisch, Herr Kollege Geis.
({12})
- Das habe ich doch gerade gesagt. Sie haben nicht zugehört.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, Sie sind - auch rechtspolitisch - konservativ und restaurativ in der Vergangenheit stehen geblieben. Die modernen Anforderungen der heutigen Zeit haben Sie nicht
erkannt, ganz zu schweigen von den Anforderungen der
Zukunft an die Justiz.
({13})
Sie sind nicht in der Lage, dieser Gesellschaft neue Impulse zu geben.
({14})
Deshalb sind Sie zu Recht im September 1998 abgewählt
worden.
({15})
So sind Ihre rechtspolitischen Initiativen in Ihrer Legislaturperiode samt und sonders Ladenhüter aus der Vergangenheit gewesen.
({16})
Sie haben uns bis heute nur alte Gesetzesvorhaben aus der
Vergangenheit vorgelegt,
({17})
die durchzusetzen zu Ihrer Regierungszeit mit Ihrem Koalitionspartner nicht gelungen ist und die der Diskontinuität unterlagen. Es sind alles Ladenhüter gewesen, Herr
Kollege Geis.
({18})
Nicht in einem einzigen Fall haben Sie eigene Kreativität
gezeigt.
({19})
Ich lade Sie daher herzlich ein, Herr Kollege Geis, machen Sie sich fit für den konstruktiven Dialog, lassen Sie
uns die justizpolitischen Herausforderungen der Zukunft
diskutieren, und hören Sie endlich auf, im 21. Jahrhundert
ausschließlich der Vergangenheit zugewandt zu sein.
({20})
Dann können wir in diesem Lande rechtspolitisch fruchtbar diskutieren.
Schönen Dank.
({21})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, dass die CDU/CSU-Fraktion heute diesen Gesetzentwurf neu einbringt und wir in
erster Lesung darüber diskutieren, hängt unter anderem
damit zusammen, dass in der letzten Legislaturperiode
meine Fraktion dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion nicht
zugestimmt hat und wir dafür gesorgt haben, dass es nicht
zu einer entsprechenden Beschlussfassung des Parlaments gekommen ist.
({0})
Es ist auch kein Geheimnis, dass gerade für Liberale
das Thema „Meinungsfreiheit“ ein Urthema ist.
({1})
Trotzdem wird es Sie vielleicht überraschen, dass ich hier
gar nicht mit den Stereotypen arbeiten möchte, die wir
bisher zum Teil in der Debatte erlebt haben.
({2})
Denn es ist auch ein anderes wichtiges liberales Thema
angesprochen worden, das Thema „Toleranz“. Ich meine,
dass die Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Toleranz, Respektieren von Überzeugungen insbesondere
einer Minderheit durchaus das Nachdenken wert ist, und
zwar in mehrfacher Hinsicht.
Zunächst wollte der Gesetzgeber, der in der großen Koalition damals durchaus auch mit dem Willen der F.D.P.
den § 166 neu gefasst hatte, die Strafbarkeit nicht beseitigen. Er wollte aber erreichen, dass es eine Klausel gibt,
die dafür sorgt, dass nicht jede kleine Handlung tatsächlich vor dem Strafrichter landet, weil auch das die Ausprägung der Meinungsfreiheit tangiert.
Aber ich meine, dass nach einer so langen Zeit auch
eine Überprüfung angebracht ist, um zu sehen, ob das,
was sich damals der Gesetzgeber vorgestellt hat, nämlich
gravierende Vorgänge weiter unter Strafe zu stellen,
tatsächlich eingetreten ist. Wenn man sich die Urteile anschaut, hat man den Eindruck, dass jedes, aber auch wirklich jedes Argument recht ist, jeweils immer zugunsten
von Meinungsfreiheit zu entscheiden. Daher ist dies ein
Thema, das heute durchaus viel aktueller ist, als manche
glauben. Denn das, was wir im Augenblick an Problemen
in dieser Gesellschaft, an Gewalt gegenüber anderen
Menschen erleben, hat nach meiner Auffassung auch mit
dem Mangel an ethischen Korsettstangen zu tun.
({3})
- Lieber Herr Stünker, warten Sie doch einfach einmal ab,
bevor Sie diese Zwischenrufe machen, die mit meinen
bisherigen Ausführungen überhaupt nicht zu rechtfertigen
sind.
({4})
Ich denke, dass uns die Frage der ethischen Korsettstangen beschäftigen muss. Der Wegfall von Ethik hat
unter anderem zu den heutigen Verhältnissen geführt. Ob
man dagegen mit dem Strafrecht vorgehen sollte - ich
gehe gleich auf Sie ein -, ist eine Frage, auf die wir eine
Antwort finden müssen.
({5})
Ich glaube, es wäre eine zu leichte Antwort, wenn wir mit
der Strafvorschrift argumentierten. Sie kann da und dort
durchaus ergänzend wirken, wie sich das auch bei unserer
Diskussion über den Rechtsradikalismus gezeigt hat, bei
dem wir zu Strafvorschriften greifen.
Von daher sollten wir weder auf der einen noch auf der
anderen Seite Zäune aufziehen, sondern uns darüber unterhalten, ob die Strafvorschrift zeitgemäß und notwendig
ist und ob wir sie überhaupt brauchen. Was können wir
tun, um die ethischen Mängel in der Gesellschaft, die sich
an solchen Symptomen zeigen, zu verringern? Auf eine
solche ernsthafte Diskussion freue ich mich.
Ich will etwas zu Minderheiten sagen. Christen sind
in dieser Gesellschaft Minderheiten. Das zeigt, wie gut es
dieser Gesellschaft geht; denn alle wissen, dass Religion
nur dann bei vielen Menschen Konjunktur hat, wenn sie
in Not sind. Eine Minderheit wie die Christen hat Anspruch auf Toleranz in unserer Gesellschaft. Dafür werden wir Freie Demokraten genauso wie für die Meinungsfreiheit eintreten. Wie gesagt: Wir freuen uns auf
diese Diskussion und werden uns aktiv in sie einbringen.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geschätzter
Kollege van Essen, die Frage, ob ethische Orientierungen in Politik und Gesellschaft eine Bedeutung haben,
wird sich bei den Themen entscheiden, die wir in dieser
Wahlperiode noch diskutieren müssen, nämlich: Was machen wir im Bereich der Forschung und der Medizin?
({0})
Von welchem Menschenbild lassen wir uns leiten? Wie
begründen wir die Gesetzgebung in diesem Bereich? Hier
gibt es ethische Konflikte, die wir intensiv diskutieren
müssen. Dann werden wir auch für die Prinzipien, die dahinter stehen, in der Gesellschaft wieder den nötigen Respekt haben. Der Strafgesetzgeber und der Staatsanwalt
werden zur ethischen Orientierung in diesen Fragen durch
das Meinungsstrafrecht herzlich wenig beitragen können.
({1})
Pünktlich zur Karnevalszeit präsentiert uns die Union
olle bayerische Gesetzeskamellen.
({2})
Der vorliegende Entwurf geht auf eine CSU-Initiative
zurück. Er hat in der letzten Wahlperiode im Bundesrat
die nötige Mehrheit verfehlt. Dieses Mal wird er im Bundestag scheitern. Zu Recht: Die vorgeschlagene Änderung in § 166 StGB ist überflüssig. Kriminalpolitisch bedeutet sie ein Zurück ins 19. Jahrhundert. Nur zur
Erinnerung: 1871 wurde der so genannte Gotteslästerungsparagraph in das Strafgesetzbuch eingeführt. 1969
- Herr Stünker hat es dargelegt - wurde er reformiert.
Wer im Sinne des heutigen Unionentwurfes jede Form
gotteslästerlicher Äußerungen rückhaltlos unter Strafe
stellen will, verletzt letztendlich das Grundgesetz.
({3})
Meinungs- und Kunstfreiheit werden in bedenklicher
Weise tangiert. Religions- und kirchenkritische Äußerungen werden nahezu verboten.
({4})
Herr Kollege, Sie selber haben in Agenturmeldungen die
Hosen heruntergelassen und gezeigt, worum es Ihnen
ging. Ihnen ging es zum einen um den Fall einer - zugegeben - geschmacklosen Aktion auf einer Demonstration.
Zum anderen ging es Ihnen um ein Theaterstück, das Sie
verbieten möchten.
({5})
Ich habe das Stück nicht gesehen, aber ich vermute, es unterliegt im weitesten Sinne der Kulturfreiheit. Wenn sich
manche Menschen beleidigt fühlen, dass Jesus als Homosexueller in einem Theaterstück erscheint, dann stellt
sich die Frage, wer mit welcher Auffassung wen beleidigt,
wenn er dies für eine gedankliche Unmöglichkeit und Beschimpfung hält.
Sie haben dieses Theaterstück als Beispiel dafür genannt, was Sie mit § 166 StGB unter Strafe stellen wollen.
({6})
Sie haben die Grenzen dessen überschritten, was durch
die Kunst- und Kulturfreiheit geschützt ist.
({7})
Allein die Worte Gott oder Christus in einem humorvollen oder satirischen Kontext in den Mund zu nehmen wäre
für die Bürgerinnen und Bürger viel zu riskant. Will man
als Strafgesetzgeber in diesem Bereich überhaupt reagieren, braucht man tatbestandliche Korrektive. Bei § 166 ist
es die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens.
Würden wir an dieser notwendigen Strafbarkeitsschwelle
nicht festhalten, könnten wir gleich ein Gesetz zur
Bekämpfung sämtlicher Geschmacklosigkeiten auf den
Weg bringen, weil das meiste davon fürwahr geschmacklos ist.
({8})
Dann aber, meine Damen und Herren von der Union, hätte
sich Ihr neuer Generalsekretär mit seinem den Bundeskanzler diffamierenden Rentenplakat längst strafbar gemacht.
({9})
Ich gebe meiner Kollegin von der SPD-Fraktion, Frau
von Renesse, Recht: Einer Strafrechtskeule, wie sie die
CDU/CSU heute hier vorschlägt, bedarf es nicht, abgesehen davon, dass sich die ohnehin überlasteten Ermittlungsbehörden über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme
nicht besonders freuen würden. Auch den Strafrichtern
am Amtsgericht täten wir keinen Gefallen, müssten sie
doch künftig Verfassungsrichter spielen; denn in jedem
Einzelfall wäre zu prüfen, ob die Meinungs- oder Kunstfreiheit nicht höherwertig einzuschätzen ist. Dann könnte
genau das passieren, was Sie von der Union auch nicht
wollen können: Manche Geschmacklosigkeiten würden
mit der Publizität eines Strafverfahrens quasi per Richterspruch hoffähig gemacht.
({10})
Das wäre wirklich das falsche Signal.
Aber ich will auch noch aus persönlicher Betroffenheit
sprechen, nämlich als karnevalserprobter Kölner. Mancher Büttenredner in meiner Heimatstadt müsste jetzt,
hätte Ihr Gesetz eine Chance, sein Manuskript überprüfen
und gegebenenfalls umschreiben. Dieses Zurück zum tierischen Ernst wird es mit uns nicht geben; es wäre auch
keinem Rheinländer wirklich zuzumuten. Gehen Sie nämlich gedanklich einmal in die Geschichte der christlichen
Religion und Kultur zurück, werden Sie feststellen, dass
es für einen Katholiken immer dazugehörte, dass die Welt
während des Karnevals Kopf steht und am Aschermittwoch mit der Buße die Absolution kommt. Dazu gehört es
auch, sich über den örtlichen Bischof lustig zu machen,
was in den letzten Jahrhunderten auch nicht immer nur
geschmackvoll war. Aber es gehörte zur christlichen Kultur dazu, so etwas möglich zu machen.
({11})
Meine Herren von der Union, es würde auch helfen,
wenn Sie sich die geltende Rechtslage etwas genauer anschauten, weil ein Punkt, den Sie in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs anführen, nämlich dass Nackte einen
Gottesdienst stören oder ein Gotteshaus betreten, nach
§ 167 zweifelsfrei und völlig zu Recht wegen Störung
der Religionsausübung strafbar ist. Selbstverständlich
ist so etwas in einem Gotteshaus nicht zulässig.
({12})
- Das war eine Aktion im Kölner Dom.
({13})
Selbst wenn ein Schwein ans Kreuz genagelt und dies im
Internet verbreitet wird, wird das heute nach § 166 bestraft.
({14})
- Ich kann Ihnen das Urteil schicken. So urteilt die Rechtsprechung heute. Sie sind darüber offenbar schlecht informiert, Herr Geis.
Der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dass
manche Arten von Beschimpfungen oder negativen
Äußerungen über Religionsgemeinschaften auch als
Volksverhetzung oder Beleidigung bestraft werden können.
Kollege Beck, Sie
müssen bitte Ihre Rede beenden. Sie sind schon deutlich
über der Zeit.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident.
Ich kann mich noch sehr gut an einige Vorfälle erinnern, bei denen auf Grundlage des heutigen § 166 Karnevalsveranstalter umdisponieren und Plakate oder TünnesKreuze abhängen mussten. Diese Dinge wurden nur
wegen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens einer
breiten Öffentlichkeit überhaupt bekannt. In der Regel
wurden die Verfahren hinterher - zu Recht - eingestellt,
weil diese Dinge nicht den öffentlichen Frieden gestört
haben, sondern allenfalls eine Einzelperson sich in ihrer
Meinung gestört fühlte. Letztendlich waren dies Meinungsäußerungen, die wir im politischen Meinungsstreit
oder durch Plakate von Parteizentralen üblicherweise
auch übereinander verbreiten.
Man kann bei vielen Dingen darüber diskutieren, ob
man sie gut oder schlecht findet, man kann oft auch darüber diskutieren, wie man miteinander umgeht. Das ist
dann aber ein kultureller, ethischer Diskurs, wie es Herr
van Essen angesprochen hat. Aber wir dürfen nicht alles,
was wir schlecht finden, immer schon gleich bestrafen.
({0})
Wir müssen hier über die Anerkennung der Werte in der
Gesellschaft streiten, ohne immer gleich zum Hilfsmittel
des Strafrechtes zu greifen.
({1})
Ich erteile für eine Kurzintervention der Kollegin Margot von Renesse das Wort.
Meine Kurzintervention
bezieht sich auf die Rede des Kollegen van Essen.
Herr Kollege van Essen, es ist sicherlich richtig, dass
wir in manchen Punkten eine Verwilderung der Sitten erleben und dabei merkwürdigerweise auf die Symbole der
christlichen Kirche Bezug genommen wird und das häufig - wie der Kollege Beck sagte - nicht immer sehr geschmackvoll, ja im Gegenteil sogar außerordentlich geschmacklos. Es ist, als ob Leute im Anschluss an die
großen Kirchenkritiker des 18./19. Jahrhunderts noch
heute dazu aufgerufen wären, einer machtvollen inquisitionshaltigen Kirche nun endlich nach dem Motto „Écrasez l’infâme“ die Zügel anzulegen und ihren Mut und
ihren Geist zu beweisen. Das ist nicht der Fall.
Man stellt das merkwürdigerweise auch bei Leuten, die
von Muslimen und anderen Religionen große Behutsamkeit verlangen und mitunter sogar selbst an den Tag legen,
fest. Beleidigt und beschimpft wird oft die arme Witwe,
die in die Kirche geht. Sie ist diejenige, die geschützt werden muss, aber auch geschützt wird, und zwar durch den
Paragraphen, den Herr Beck angesprochen hat, der
Störungen des Gottesdienstes durch Beleidigung und
durch andere Dinge unter Strafe stellt.
Ich habe aber Probleme damit, wenn das Strafrecht benutzt wird. Wenn Sie von einem ethischen Diskurs sprechen, geben wir Ihnen alle Recht. Der ethische Diskurs
wird aber in der Regel nicht durch das Strafrecht verbessert. Wenn Sie von ethischen Korsettstangen sprechen, die
Sie im Strafrecht vermuten, fürchte ich, Sie werden mit
ethischen Brechstangen arbeiten. Das bringt in der Regel
weder den Menschen Geschmack bei, noch bringt es Toleranz. Es bringt aber unter Umständen - wie Herr Beck
richtig sagte - freisprechende Urteile, die ein entsprechendes Verhalten mit TÜV-Stempel versehen, was wir
alle als Übel empfinden würden.
({0})
Volker Beck ({1})
Kollege van Essen.
Frau Kollegin von Renesse,
die Einschätzung, dass es in diesem Bereich Gefahren
gibt, teile ich mit Ihnen. Ich teile auch die Auffassung,
dass das Strafrecht bei Diskussionen durchaus nicht immer hilfreich ist, insbesondere dann, wenn das eintritt,
was Sie gerade dargestellt haben, nämlich dass ein Verfahren gegen Betroffene mit Freisprüchen oder Einstellungen endet. Auch darin stimme ich Ihnen zu.
Trotzdem denke ich - das war meine Anregung -, dass
wir diesen Antrag zum Anlass nehmen sollten, über diese
Fragen zu diskutieren. Wir sollten das Thema nicht so behandeln, wie es heute in der Debatte zum Teil geschehen
ist, als das Problem dargestellt wurde, als sei es rückwärts
gewandt, wenn wir uns heute damit beschäftigen und uns
dafür interessieren. Das Ganze wurde in die Nähe des
Karnevals gerückt. Ich glaube, dass man in diesen Fragen
mit einer tieferen Herangehensweise nach einer Antwort
suchen muss.
Ich denke auch, dass darüber diskutiert werden kann,
darf und muss, welche Auswirkungen es auf die Gesellschaft hat, wenn Gesellschaften kein Tabu mehr kennen.
Auch das ist eine Frage, die mich persönlich beschäftigt.
Wenn wir einen solchen gesellschaftspolitischen Diskurs führen, halte ich das für außerordentlich hilfreich
und förderlich und dann werden wir auch die Frage, ob
das Strafrecht dabei eher förderlich oder eher hinderlich
ist - was Ihre Überzeugung ist -, viel besser beantworten
können. Das Thema ist für sich betrachtet bereits einer
Diskussion wert. Bei dieser Auffassung bleibe ich.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Stärkung des Toleranzgebotes, wie sie der vorliegende Gesetzentwurf fordert, hätte unsere Gesellschaft dringend
nötig. Ich denke an die tägliche Demütigung von Ausländern, Obdachlosen und das Verhalten von Bürgerinnen
und Bürgern gegenüber den Schwächsten in unserem
Lande. Leider aber soll nicht denen gegenüber Toleranz
stabilisiert werden, sondern es geht - so wie es im Gesetzentwurf gefordert wird - um einen besseren Schutz religiöser Überzeugungen.
Diesem Anliegen stimme ich als Christ natürlich zu,
bin aber der Meinung, dass eine christliche, religiöse
Überzeugung durch die bestehenden Gesetze - das hat der
Kollege Stünker ausgeführt - hinreichend gewährleistet
ist. Allerdings lassen mich Beispiele aus jüngster Zeit daran zweifeln, dass Toleranz auch gegenüber persönlichen
Überzeugungen von Angehörigen nicht christlicher Religionen gewährleistet wird. Ich erinnere dabei an Diskussionen darüber, ob es toleriert werden kann, dass eine Frau
nach islamischem Brauch an einer deutschen Schule mit
Kopftuch unterrichtet oder ob einer islamischen Gemeinschaft erlaubt werden kann, in einem auch von Christen bewohnten Viertel eine Moschee zu errichten. In diesen Diskussionen ist ein bedrohlicher Mangel an Toleranz
sichtbar.
({0})
Im vorliegenden Entwurf wird aber die Notwendigkeit
der Stärkung des Toleranzgebotes speziell Christen gegenüber gefordert und der öffentliche Friede der Gesellschaft
dem untergeordnet. Öffentlicher Friede ist für mich ein
wichtiges demokratisches Rechtsgut, das gerade von Christen aus Glaubensüberzeugung geschützt werden muss.
Wo im Weltanschauungsstreit mit künstlerischen Mitteln oder aber banal Spielregeln der Zumutbarkeit verletzt
werden, sollten zumindest Christen prüfen, ob sie gerade
im Konflikt zur Klärung nicht Freiheitsstrafen durch den
Gesetzgeber, sondern biblische Kriterien zur Verständigung gelten lassen sollten - haben doch gerade Christen
einen spezifischen Beitrag zum Schutz der Meinungsfreiheit zu leisten.
Wir möchten die Schutzpflicht des Staates, „dafür
Sorge zu tragen, dass in der Gesellschaft die Voraussetzungen dafür gegeben sind, von der Glaubens- und Gewissensfreiheit auch tatsächlich Gebrauch zu machen“,
dadurch stärken, dass § 166 Abs. 1 und 2 Strafgesetzbuch
nicht geändert wird, sondern der Erhalt des öffentlichen
Friedens das Kriterium bleibt.
Das zweifellos wichtige Toleranzgebot muss an anderer Stelle diskutiert und vom Gesetzgeber weitreichend
verbindlich gemacht werden. Da stimme ich dem Kollegen van Essen voll und ganz zu. Aber dazu bedarf es anderer Formulierungen, weil dann die Toleranz gegenüber
Religionen und Weltanschauungen ausländischer Mitbürger im Mittelpunkt zu stehen hat. Dabei wäre grobe Beschimpfung als Tathandlung ein Aspekt unter vielen anderen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Drucksache
wird ein Vorfall nicht expliziert erwähnt; Kollege Beck hat
darauf hingewiesen. Es ist zu vermuten, dass er der aktuelle Anlass für die parlamentarische Initiative der Union
ist. Es ist das zweifellos umstrittene Stück „Corpus Christi“, das in seinem Uraufführungsland Baden-Württemberg
zu heftigen Diskussionen und sogar zu Demonstrationen
wegen Beleidigung christlichen Glaubens geführt hat.
Ich werde mich gerade wegen des Respekts vor der
Freiheit der Kunst hüten, hier meine Meinung zur Qualität
des Stückes und der Aufführung abzugeben, sondern
möchte nur fragen: Ist es nicht gerade Sinn von Kunst,
hier von Theater, zu provozieren, herauszufordern? Der
öffentliche Friede, so ist festgestellt worden, wurde nicht
gestört.
Ich frage mich allerdings nach den Kriterien dafür, wann
religiöse Gefühle verletzt werden. Gibt es doch viele Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich keineswegs verletzt
fühlen durch Nachrichten von verhungerten Kindern und
ermordeten Ordensfrauen in Lateinamerika,
Kollege Fink, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
- die aber auf eine ironische
Darstellung einer profanen Heiligsprechung durch eine
Staffage-Päpstin mit einem Aufschrei reagieren. Das ist
natürlich geschmacklos. Ich bezweifle nicht den Schmerz
der Verletzung, aber welche Art von Gefühl hat ein Recht
auf Rechtsschutz?
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, besonders von der
CDU/CSU, aus den wenigen von mir genannten Gründen
stimmen wir dem Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes nicht zu.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Norbert Geis das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte überhaupt
nicht verschweigen, dass die Anregung, diesen Gesetzentwurf in dieser Legislaturperiode erneut einzubringen,
von den beiden großen Kirchen gekommen ist. Das ist
wahr.
({0})
- Auch von der evangelischen Kirche. - Aber es geht nicht
nur um den Schutz der christlichen Überzeugung, sondern
es geht natürlich generell um den Schutz der religiösen
Überzeugung eines jeden, nicht nur der religiösen Überzeugung eines Christen. Es geht auch um den Schutz der
weltanschaulichen Überzeugung eines jeden, nicht nur
der weltanschaulichen Überzeugung eines Christen. Das
ist generell so.
Es wird hier sehr stark abgestellt auf die Christen, was
wahr ist, weil ja das Moment des öffentlichen Friedens für
Christen oft nicht in Anspruch genommen werden kann
oder auch nicht in Anspruch genommen wird seitens der
Gerichte. Deswegen unternehmen wir den Versuch, diesen Gesetzentwurf erneut einzubringen.
Ich möchte noch einen zweiten Gedanken hinzufügen.
Wenn man die gesetzliche Regelung im Strafgesetzbuch
so lässt, wie sie im Augenblick ist, dann ist sie das Papier
nicht wert, auf dem sie gedruckt ist. Mit Recht haben die
Grünen in der letzten Legislaturperiode den Antrag eingebracht, diesen § 166 ganz zu streichen. Das ist nämlich,
Herr Stünker, die Konsequenz. So, wie dieser Paragraph
jetzt im Gesetzbuch steht, findet er keine Handhabe.
Ich möchte die Anregung von Herrn van Essen aufgreifen und bitte, einmal ernsthaft darüber nachzudenken,
ob wir nicht doch zu einer Regelung kommen können, mit
der wir dem Anliegen, das in diesem Gesetzentwurf zum
Ausdruck kommen soll, gerecht werden.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/4558 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulf Fink,
Rainer Eppelmann, Katherina Reiche, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Kriegsfolgen- und Kriegslastenbeseitigung in
den neuen Ländern
- Drucksache 14/5092 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Ulf Fink, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befassen uns heute, wenn
auch zu später Stunde, mit dem Antrag der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion, der die Kriegsfolgen- und die
Kriegslastenbeseitigung in den neuen Bundesländern zum
Inhalt hat. Wir fordern in diesem Antrag die Bundesregierung auf, zu prüfen, ob aus dem Bundeshaushalt zusätzliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden können, um
private Haushalte, Städte und Gemeinden in den neuen
Bundesländern, die von Bomben und Munitionsfunden
aus dem Zweiten Weltkrieg betroffen sind, in angemessener Weise zu unterstützen.
Zehn Jahre nach der staatlichen Wiedervereinigung
machen sich nämlich die Folgen und die Lasten des Zweiten Weltkriegs in Ostdeutschland noch immer wesentlich
deutlicher als im alten Bundesgebiet bemerkbar. Die ständig wiederkehrenden Meldungen über neue Blindgängerund Munitionsfunde aus dem Zweiten Weltkrieg zeigen:
Auf diesem Gebiet muss gehandelt werden.
({0})
Durch ein neu entwickeltes geographisches Informationssystem ist es in Brandenburg möglich geworden, die
vorhandenen Luftbildaufnahmen der ehemaligen Alliierten neu auszuwerten und die belasteten Flächen genauer
zu bestimmen. Wir wussten schon früher, dass Brandenburg das Bundesland ist, das durch Kampfmittel am allermeisten belastet ist. Wir haben damals angenommen, dass
es sich um eine Fläche von 180 000 Hektar handelt. Mittlerweile wissen wir dank dieses neu entwickelten geographischen Informationssystems, dass nicht nur 180 000 Hektar, sondern sage und schreibe 400 000 Hektar Land
kampfmittelbelastet sind. Dabei sind die früher militärisch
genutzten Flächen, also die so genannten Konversionsflächen, noch nicht mitgerechnet, die man mit mindestens
weiteren 100 000 Hektar in Rechnung stellen muss.
Brandenburg ist damit unbestreitbar das Bundesland
mit der größten kampfmittelbelasteten Fläche. Ein Blick
in die Geschichte zeigt, woran das liegt: In Brandenburg
haben die großen Schlachten um die Seelower Höhen und
um Halbe/Teupitz stattgefunden, von den Bombenangriffen rund um Berlin ganz zu schweigen. Von Blindgängerfunden sind die Brandenburger Städte Oranienburg, Neuruppin, Potsdam und Frankfurt/Oder besonders belastet.
Allein im Stadtgebiet von Oranienburg sind seit 1990
mehr als 90 Blindgänger entfernt worden. Leider gibt es
nach wie vor keine endgültige Entwarnung. Im Gegenteil:
Als außerordentlich tückisch erweisen sich Blindgänger
mit chemischen Langzeitzündern, die vorwiegend in Oranienburg und Lehnitz aufgefunden werden. So kam es in
der Vergangenheit zu unvorhergesehenen Detonationen
mit Schäden an Sachen und Personen.
Es freut mich sehr, dass heute als Zuschauer der Bürgermeister von Oranienburg und wichtige Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung an dieser Debatte teilnehmen.
({1})
Neben der latenten Gefahr, die von Bomben- und Munitionsüberresten ausgeht, besteht ein großes Problem
auch in den immensen Kosten, die mit der Auffindung,
Bergung und Beseitigung des brisanten Materials verbunden sind. Im Moment ist die Kostenfrage wie folgt geregelt: Die finanziellen Aufwendungen des staatlichen
Munitionsbergungsdienstes oder der privaten Bergungsunternehmen werden grundsätzlich von den Landeshaushalten übernommen. Es handelt sich dabei aber nur um die
Kosten, die mit der Bergung und dem Abtransport der
Kampfmittel selbst verbunden sind. Folgekosten, die
durch den Einsatz der Feuerwehr, Maßnahmen der Ordnungsämter oder eine etwaige Staatshaftung entstehen,
tragen die betroffenen Städte und Gemeinden selbst.
Auch der von einem Blindgängerfund betroffene Bürger kann von den Kosten grundsätzlich nicht freigestellt
werden. Will er bauen, obwohl die Wahrscheinlichkeit eines Bombenfundes besteht, muss er in jedem Falle für die
Gebühren aufkommen, die zum Beispiel im Zusammenhang mit der Auswertung der Luftbildaufnahmen entstehen. Beauftragt er unmittelbar ein Kampfmittelräumungsunternehmen mit der Suche, muss er die Kosten der Suche
selbst bezahlen. Hat der Bürger im guten Glauben bereits
gebaut und wird im Nachhinein ein Blindgänger auf seinem Grundstück gefunden, ist er in ordnungsrechtlicher
Hinsicht ein Zustandsstörer. Für Maßnahmen, die er dann
veranlasst, um eine Bergung zu ermöglichen, haftet er
grundsätzlich mit seinem privaten Vermögen. Jeder kann
sich vorstellen, dass das den Ruin von Menschen bedeuten kann.
({2})
Erst kürzlich musste ein ganzes Wohnhaus in Lehnitz abgerissen werden, weil sich unter dem Gebäude ein Blindgänger befand.
Nun hätten Bürger und Städte kostenmäßig gar nichts
zu befürchten, wenn es sich bei den aufgefundenen Blindgängern und Munitionsüberresten ausschließlich um
deutsche, das heißt ehemals reichseigene Munition handeln würde; denn dann würde eine Kostenübernahme
durch den Bund aufgrund des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes erfolgen. Nur handelt es sich hier nicht um
Kampfmittel des Deutschen Reiches, sondern um Kampfmittel der ehemaligen Alliierten, sodass keiner zahlt. Ich
meine - das muss in dieser Klarheit hier gesagt werden -,
es haben nicht Oranienburg, Neuruppin oder Frankfurt/
Oder und auch nicht das Land Brandenburg den Zweiten
Weltkrieg geführt, sondern wenn einer dafür verantwortlich
ist, ist es das Deutsche Reich. Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches ist nicht Oranienburg, ist nicht Neuruppin,
ist nicht Brandenburg, sondern nun einmal der Bund.
({3})
Insofern ist es doch nur recht und billig, dass der Bund als
Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches seine Verpflichtungen auch für alliierte Kampfmittelfunde und die damit
verbundenen Kosten anerkennt.
In diesem Zusammenhang bietet es sich an, auch das
Thema Konversionsflächen in die politische Diskussion
mit einfließen zu lassen. Auch hier gibt es nämlich eine
Fülle massiver und ungelöster Probleme. So können zum
Beispiel bei mir im nördlichen Teil des Oberhavelkreises
bei Fürstenberg riesige Flächen bisher nicht genutzt werden, weil dort eben nach wie vor Bomben gefunden werden - von anders kontaminierten Flächen nicht zu reden.
Hier muss ergänzend Zusätzliches getan werden.
Beim vorliegenden Antrag, den wir zuerst einmal in
den Ausschüssen beraten werden, handelt es sich um einen
Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ich bin meinen
- heute zwar nicht vollständig anwesenden - 244 Unionskollegen dafür dankbar, dass sie einmütig für diesen Antrag
gestimmt haben. Das war keine Selbstverständlichkeit.
Deswegen möchte ich den Mitgliedern der CDU/CSUBundestagsfraktion meinen Dank aussprechen.
Meine Hoffnung ist, dass es gelingt, auch die Mitglieder der anderen Fraktionen, natürlich insbesondere der
Regierungsfraktionen, für die Unterstützung dieses Antrags zu gewinnen. Ich zähle dabei auf die ostdeutschen
Kolleginnen und Kollegen in den Regierungsfraktionen,
besonders natürlich auf die Brandenburger Abgeordneten.
({4})
Ich hoffe sehr, dass es den Mitgliedern der Regierungsfraktionen doch nicht unmöglich ist, die Bundesregierung
aufzufordern, zu prüfen, ob sie nicht den Bürgern und Gemeinden in den neuen Bundesländern besser als bisher
helfen kann. Das dürfte doch nicht zu viel verlangt sein.
({5})
Es wäre nur ein Umweg, erst einmal in den Petitionsausschuss, in diesen oder jenen Ausschuss zu gehen. Der
Antrag ist so klar, so eindeutig, sachlich so begründet,
dass man eigentlich auch ohne Ausschussberatung über
ihn abstimmen könnte. Nun gut, jetzt soll er erst einmal an
die Ausschüsse gehen. Dennoch hoffe ich sehr, dass das
endgültige Votum des Deutschen Bundestages nicht lange
auf sich warten lässt, dass die Regierungsfraktionen mithelfen, dass wir rasch durch die mitberatenden Ausschüsse - den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen
Länder und den Innenausschuss - kommen, um dann zu
einem Votum im Haushaltsausschuss zu kommen. Ich
meine, es dürfte nicht zu viel verlangt sein zu sagen: Lasst
uns gemeinsam helfen, dass wir spätestens im März einen
solchen Beschluss des Deutschen Bundestages vorliegen
haben! Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern haben es verdient.
({6})
Ich erteile das Wort
Kollegin Angelika Krüger-Leißner, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz besonders begrüße ich zuerst die vielen Oranienburger, die
heute gekommen sind.
({0})
Es sind, glaube ich, sogar mehr als wir hier unten. Aber
das ist der späten Zeit geschuldet. Ich finde es ganz richtig, dass der Bürgermeister heute mit vielen Stadtverordneten hier ist und diese Debatte verfolgt.
Es geht um ein brisantes Thema in vielen Städten und
vielen Ländern. Für uns Oranienburger ist es das Thema
Nummer eins. Seit 1991 vergeht nicht ein Monat, manchmal sogar nicht einmal eine Woche, wo wir nicht von den
Meldungen in der Presse erschreckt werden. So konnten
wir zum Beispiel am 17. Mai des letzten Jahres lesen:
In Oranienburg ist am Mittwoch erneut eine amerikanische Zehn-Zentner-Bombe aus dem 2. Weltkrieg
entschärft worden. Für die 71. Bombenentschärfung
seit der Wende hatten rund 4 500 Menschen für mehrere Stunden ihre Wohnungen verlassen müssen.
Durch die weiträumigen Absperrungen wurden der
Personennahverkehr unterbrochen und die Bundesund Wasserstraßen gesperrt.
Nachrichten wie diese kennen die Oranienburger, aber
auch die Marwitzer, die Lehnitzer und die Hennigsdorfer
zur Genüge. Das ist keine Seltenheit mehr. Die Schlagzeilen der letzten Jahre lauteten oft „Bombenlast bedroht
eine Stadt“, „Oranienburg ist ein Pulverfass“ oder „Bombensorgen ohne Ende“.
Immer standen diese Meldungen in engem Zusammenhang mit den bevorstehenden Evakuierungen, die die
Kitas, die Schulen, die Betriebe, alle öffentlichen Einrichtungen, sogar die Stadtverwaltung selbst betrafen und
vor allem viele Bürger aus ihren Wohnungen holten. Damit waren natürlich auch viele Sorgen und Ängste sowie
die Frage verbunden, wie es weitergehen wird.
Oranienburg war als Zentrum der Rüstungsindustrie
im Zweiten Weltkrieg häufig das Ziel von Luftangriffen
der Alliierten. Wir wissen das. 60 Prozent der Stadt wurden von über 22 000 Bomben der Alliierten zerstört. So
verwundert es nicht, dass besonders dieses Gebiet in
Deutschland mehr als 50 Jahre nach Kriegsende nach wie
vor ein Schwerpunkt der Kampfmittelräumung ist und die
einzelnen Bürger, die Stadt und auch das Land Brandenburg in besonderem Maße belastet sind, ganz zu schweigen von den Bauverzögerungen, den Auswirkungen der
Medienpräsenz zu diesem Thema auf Unternehmer und
Investoren und den damit verbundenen Standortnachteilen. So verwundert es ebenfalls nicht, dass seit 1997 verstärkt der Hilferuf nach finanzieller Unterstützung erging,
sowohl an das Land Brandenburg als auch nach Bonn.
An dieser Stelle muss man sich fragen: Wer trägt denn
nun eigentlich die Lasten und die Folgekosten bei der
Kampfmittelberäumung? Gibt es Lücken im Gesetz oder
Unklarheiten in der Zuständigkeit? Wie sieht die Situation
konkret aus? Ich will auf diese Fragen kurz eingehen.
Grundsätzlich ist die Beseitigung von Kampfmitteln
aus der Zeit der beiden Weltkriege nach der föderalen
Kompetenzverteilung des Grundgesetzes eine Aufgabe
der Länder, an der sich der Bund in nicht unerheblichem
Maße beteiligt. Man kann dies in Art. 30, Art. 83 und
Art. 104 a des Grundgesetzes nachlesen. Der Bund erstattet den Ländern aufgrund einer seit den 50er-Jahren bestehenden so genannten Staatspraxis, die sich auf Art. 120
des Grundgesetzes und auf das Allgemeine Kriegsfolgengesetz stützt, die Aufwendungen für die Kampfmittelberäumung auf bundeseigenen Liegenschaften sowie für
die Bergung und Vernichtung so genannter reichseigener
Munition. Entsprechend dieser Staatspraxis werden den
Ländern die Kosten für die geborgene ehemalige reichseigene Munition auf Antrag erstattet.
Dies gilt nicht für die Beseitigung der Kampfmittel der
früheren Alliierten. Diese Kosten bleiben beim Land und
den betroffenen Städten und Gemeinden hängen. Auf die
Kommunen, im speziellen Fall auf die Stadt Oranienburg,
fallen alle Kosten, die durch die Aufwendungen im Zusammenhang mit den Bombenentschärfungen entstehen,
wie zum Beispiel Kosten für Absperrungen, Evakuierungen, Einsatz von Ordnungskräften oder bauliche Folgekosten wie Baufreimachung.
Lassen Sie uns nun gemeinsam nachvollziehen, was in
den letzten Jahren auf dieser gesetzlichen Grundlage passiert ist. Schon in den Jahren 1995, 1996 und 1997 wandten sich der Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die
Stadtverordnetenversammlung mit der Bitte um Hilfe an
das Land Brandenburg. Der damalige Innenminister
Alwin Ziel hat dieses Anliegen sehr ernst genommen und
sich intensiv für eine gezielte Bombensuche auf der
Grundlage der Auswertung von angekauften amerikanischen Luftbildern eingesetzt.
Der staatliche Munitionsbergungsdienst des Landes
Brandenburg hat allein für diese Region 1996 7,5 Millionen DM, 1997 9,5 Millionen DM, 1998 10,2 Millionen DM, 1999 6,1 Millionen DM und im letzten Jahr
8,3 Millionen DM aufgebracht. Dieses Jahr geht es weiter. Um die Relation zu verdeutlichen: Das sind nur ein
Drittel der Gesamtkosten für das Land Brandenburg.
Dennoch reichen diese Mittel nicht aus, alle Kosten,
insbesondere die Folgekosten, zu decken. So gelang es
dem damaligen Innenminister, noch zusätzliche Mittel aus
dem Ausgleichsfonds des Landes für die Gemeinden und
Städte als Sonderregelung zu organisieren. Aber für die
Stadt Oranienburg blieben und bleiben trotz großer Unterstützung des Landes nach wie vor noch erhebliche Lasten.
So erging in dem brisanten Jahr 1997 der Hilferuf auch
nach Bonn. Bürgermeister und Stadtverordnetenvorsitzende schrieben an den damaligen Bundesinnenminister
Kanther und an den Bundesverteidigungsminister Rühe
und erwarteten Unterstützung.
({1})
Zwei Abgeordnete der F.D.P., Jörg van Essen - er ist noch
anwesend - und Jürgen Türk, gaben den Oranienburgern
Rückendeckung. Ich frage nun Sie, Herr Fink: Was haben
Sie während dieser Zeit unternommen, um den Oranienburgern zu helfen?
({2})
Die Antwort kennen wir: nichts.
So erhielt die Stadt Oranienburg vom Bundesinnenminister eine freundliche Absage. „Finanzielle Unterstützungen bei der Bewältigung der Probleme können nicht
zugesagt werden“, hieß es. Auch Herr Rühe sagte den
Oranienburgern keine finanzielle Unterstützung zu, aber
die Hilfe in dringenden Notfällen der Evakuierung und
zur Absicherung der Gefahrenbereiche durch die Soldaten
vor Ort.
An dieser Stelle möchte ich den Soldaten der Märkischen Kaserne in Lehnitz für ihre engagierte und stetige
Zusammenarbeit bei der Kampfmittelberäumung herzlich
danken. Auf sie war und ist immer Verlass.
({3})
- So ist es.
Infolge der gesamten Entwicklung beschloss im September des letzten Jahres die Stadtverordnetenversammlung von Oranienburg und dann auch die Lehnitzer Gemeinde im November, sich an den Landtag und an den
Deutschen Bundestag mit einer Petition zu wenden. Beide
Antworten liegen noch nicht vor.
Dafür haben wir nun einen CDU/CSU-Antrag auf dem
Tisch des Hauses liegen. Man muss sich zunächst die
Frage stellen: Ist dieser Antrag geeignet, die Probleme,
die wir in Oranienburg, in Brandenburg, aber auch in
Deutschland insgesamt mit der Kampfmittelberäumung
haben, zu lösen?
Neben der durchaus richtigen Auflistung der Zuständigkeiten von Gemeinde, Land und Bund stellen die Antragsteller in Punkt I fest, dass der Bund nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz in den Fällen, in denen es sich
um Kampfmittel der Alliierten handelt, nicht zuständig
ist, also keine Handlungsgrundlage gegeben ist. Gerade
um diese Kampfmittel aber handelt es sich in den vorher
genannten Fällen in Oranienburg und Umgebung überwiegend. Dessen ungeachtet wird von der CDU/CSU in
Punkt II gefordert, dass die Bundesregierung prüfen soll,
ob nicht zusätzliche finanzielle Mittel für die Stadt, die
Gemeinde, aber auch für Privatpersonen in den neuen
Bundesländern bereitgestellt werden können.
Ich denke, jeder der hier Anwesenden, vor allem aber
die vielen Oranienburger zu Hause können sich denken,
welchen Erfolg ein solcher Antrag haben kann. Ich frage
mich also: Was soll er bewirken? Für wen ist er gemacht?
Warum geht er nicht an die Wurzel allen Übels, sondern
zielt nur auf Almosen oder auf eine einmalige Aktion ab,
die die Problematik, die wir in den nächsten Jahren weiterhin haben werden, nicht grundlegend wird beseitigen
helfen? Selbst der jetzige Innenminister des Landes Brandenburg, Herr Jörg Schönbohm, hat bereits erkannt, dass
es sich bei den Kampfmitteln aus dem Zweiten Weltkrieg
„um ein Problem handelt, das auch weitere Generationen
beschäftigen wird“.
Ich frage weiter: Ist es überhaupt nur ein Problem der
neuen Bundesländer, das es rechtfertigt, eine Sonderlösung für diese zu schaffen? Und wenn ja: Warum wurde
sie nicht 1990 mit dem Einigungsvertrag in Angriff genommen?
({4})
Sie sehen, der Antrag wirft eine Menge Fragen auf, die
meiner Ansicht nach nicht genügend durchdacht sind. Ich
fürchte, er wird zur Lösung dieser Problematik keine befriedigende Antwort geben können. Er sieht aus wie ein
Schnellschuss, der mit den Ängsten und Sorgen, vor allem
aber mit den Hoffnungen der Menschen ein böses Spiel
treibt. Ich frage mich: Kann er so, wie er gestellt ist, die
Erwartungen überhaupt erfüllen oder verspielt er nicht die
Chance einer neuen, grundlegenden Regelung?
({5})
Eines kommt mir besonders fraglich vor. Warum ist
nicht von den Antragstellern auch das Land Brandenburg
einbezogen worden, das an einer grundsätzlichen Regelung ein besonderes Interesse haben müsste?
Meine Herren von der Opposition - Damen sind leider keine mehr anwesend -, purer politischer Aktionismus ist schon immer ein schlechter Berater gewesen und
bringt in der Sache letztendlich keinen entscheidenden
Schritt voran. Ich muss Ihnen deutlich sagen: Das ist
auch nicht die politische Ebene, auf der ich mich bewegen möchte.
({6})
Ich nehme das Anliegen und die Besorgnis der Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahlkreis sehr ernst.
Selbstverständlich werden die zuständigen Ausschüsse
- dies ist in erster Linie der Haushaltsausschuss und in
zweiter Linie der Ausschuss für Angelegenheiten der
neuen Länder - diesen Antrag beraten und prüfen. Aber
das ist mir zu wenig.
Kollegin Krüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fink?
Ja.
Frau Kollegin Krüger-Leißner,
ich habe von Ihnen gehört, dass Sie dieses Problem ebenfalls für lösungsbedürftig halten. Sie haben gesagt,
dass Ihnen dieser Antrag noch nicht weit genug gehe,
sondern dass er die Probleme noch tiefgreifender lösen
sollte. Deshalb frage ich Sie: Sie sind seit zwei Jahren im
Deutschen Bundestag. Warum haben Sie noch keine eigene Initiative ergriffen?
({0})
Das ist wirklich
eine bodenlose Frechheit. Ihre Kollegen von der F.D.P.
haben 1997 versucht, die Stadt zu unterstützen. Da waren
Sie ganz still und haben sich nicht gerührt. Aber jetzt machen Sie den Mund auf.
Ich bin noch nicht am Ende meiner Rede. Ich habe eine
Initiative ergriffen
({0})
und hoffe, dass Sie sich dieser anschließen können.
({1})
- Wenn ich weiterreden darf, werde ich gern noch etwas
dazu sagen.
Ich habe gesagt, es ist mir zu wenig, was in dem Antrag steht, zumal er erhebliche Mängel hat. Ich habe mich
in diesen Tagen an den Innenminister des Landes Brandenburg mit der Bitte gewandt, gemeinsam mit der Stadt
Oranienburg, den weiteren betroffenen Gemeinden, dem
Landkreis und den Landtagsabgeordneten und mir über
eine neue generelle Lösung in der Kampfmittelberäumung zu beraten und auch an die gesetzlichen Grundlagen zu gehen.
({2})
Ich könnte mir aufgrund der besonderen Betroffenheit
des Landes Brandenburg eine Initiative, gerichtet an alle
anderen Bundesländer, ob alt oder neu, vorstellen, die bis
in den Bundesrat hineingeht.
({3})
Denn eines ist klarzustellen: Die Beseitigung von Kriegslasten und -gefahren aus dem Zweiten Weltkrieg ist keine
teilungsbedingte Sonderlast der neuen Länder, sondern
eine Aufgabe, die in ganz Deutschland zu leisten war und
weiterhin zu leisten ist.
({4})
- Auch wenn es Ihnen nicht passt: Auch an dieser Stelle
ist der Antrag falsch. Denn auch in Nordrhein-Westfalen
sind heute noch viele Gemeinden von diesen Lasten betroffen.
({5})
Ich gehe davon aus, dass der Innenminister des Landes
Brandenburg angesichts der Brisanz dieses Themas an
dieser Beratung interessiert ist und sie so bald wie möglich einberuft. Ich lade Sie, Herr Fink, abschließend dazu
ein, sich daran zu beteiligen.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Jürgen Koppelin, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bekenne ganz offen, dass
meine Fraktion sehr viel Sympathie für den Inhalt des Antrages hat und ebenfalls der Auffassung ist, dass wir dieses Problem lösen müssen. Aber es gibt durchaus auch
Bedenkenswertes, das die Kollegin gerade vorgetragen
hat. Das wollen wir nicht außer Acht lassen.
({0})
Insofern spreche ich auch als Haushälter meiner Fraktion,
obwohl ich mich freue, dass der Kollege Jörg van Essen
anwesend ist, der dies früher bereits unterstützt hat. Er ist
nicht nur Jurist, was ja bekannt ist. - Ich habe mir einiges
dazu aufschreiben lassen, wie die Juristen zu dem Thema
stehen, aber das will ich Ihnen ersparen, weil ich denke,
dass dies den Betroffenen nicht hilft. - Er kommt auch aus
Hamm. Ich habe mir sagen lassen, dass Hamm die
Partnerstadt von Oranienburg ist. Deswegen freue ich
mich außerordentlich, dass er hier ist.
({1})
In der Sache können wir vielleicht Übereinstimmung
erzielen und insofern werden wir auch nach Lösungen suchen. Aber wir versuchen vor allem deshalb Lösungen zu
finden, weil es nicht angehen kann - das ist ja an Beispielen deutlich geworden -, dass die betroffenen Bürger
darunter leiden, dass es ein Kompetenzgerangel gibt. Irgendwie muss die Politik eine Lösung finden.
({2})
Wir können es nicht hin und her schieben, während der
Bürger in einem Haus sitzt, unter dem man etwas gefunden hat.
Was mich stört - das sage ich in Richtung Union ganz
offen -, ist, dass Sie sich - ich will es einmal so ausdrücken - nicht fair genug mit der Angelegenheit beschäftigt haben. Mich stört einfach, dass Sie nur von den
neuen Bundesländern sprechen.
({3})
Ich lade Sie herzlich ein, nach Kiel oder nach Hamburg zu
kommen. Sie hören dort mindestens einmal pro Woche in
den Verkehrsmeldungen, dass Straßen gesperrt sind, weil
etwas geräumt werden muss. Was sagen mir denn meine
Freunde in Schleswig-Holstein, Hamburg oder anderswo,
({4})
wenn wir das beschließen? Sie sagen: Entschuldigung,
warum wir denn nicht? Es ist doch nicht nur ein Problem der
neuen Bundesländer. Wir haben alle das Problem, der eine
mehr, der andere weniger. Das will ich nicht bestreiten.
Kollege Fink, eine weitere Bemerkung kann ich mir allerdings auch nicht verkneifen. Anscheinend haben Sie die
Verantwortung des Landes völlig außer Acht gelassen.
({5})
Wo ist die Initiative des Landes Brandenburg im Bundesrat? Wo ist die Initiative anderer Länder? Wir wären ja
durchaus bereit, uns dann darüber zu unterhalten. Sie stellen den Innenminister in Brandenburg. Da können Sie
sich nicht vor der Verantwortung drücken. Haben Sie
denn einmal mit Ihrem Innenminister gesprochen? Haben
Sie ihm diesen Antrag vorgelegt und haben Sie gefragt, ob
er nicht über eine Bundesratsinitiative aktiv werden
könne? Sie haben uns hier nicht mitgeteilt, was Ihr Innenminister dazu sagt. Insofern, als mir das Hin- und Herschieben der Verantwortung nicht gefällt, unterstütze ich
ausdrücklich das, was meine Vorrednerin gesagt hat.
Ich könnte es mir jetzt ganz leicht machen. Ich habe
einmal nachgesehen: Sie waren über mehrere Jahre hinweg auch Landesvorsitzender der CDU in Brandenburg.
Seinerzeit hätten Sie auch die Initiative ergreifen können.
Das ist doch eine wichtige Funktion gewesen.
({6})
Ich will in dieser Polemik und in dieser Art nicht weitermachen, weil es den Betroffenen nicht hilft.
({7})
Wir versprechen als Freie Demokraten: Wir sind bereit
- auch im Haushaltsausschuss -, den Betroffenen, vor allem den Privaten, zu helfen. Aber ich erwarte auch die Initiative der Bundesländer im Bundesrat. Das ist für mich
das Entscheidende. Unser guter Wille ist da. Der Wille ist
aber da - ich sage es noch einmal -, weil wir die Betroffenen nicht darunter leiden lassen können, dass sie die
Probleme haben.
Ich habe vorhin bereits die Rechtsprechung erwähnt.
Ich will Ihnen das nicht alles vortragen. Zustandsstörer
- so haben Sie es, glaube ich, gesagt - lautet dann plötzlich die Bezeichnung. Was sind das überhaupt für Begriffe? Der Betroffene erfährt davon und steht plötzlich
vor dem Nichts. Das kann nicht angehen. Dabei wollen
wir ihn nicht alleine lassen. Insofern haben Sie unsere Unterstützung bei der Beratung.
Ob es in die Richtung geht, die Sie mit Ihren Formulierungen anstreben, bezweifle ich erheblich. Das Ziel
wird sein, den Betroffenen zu helfen. Das jedenfalls ist die
Zielsetzung der Freien Demokraten.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile der Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass alle, die
heute Abend zu diesem Thema sprechen, die sich mit
dem Thema beschäftigt haben, Verständnis für die Sorgen der Betroffenen haben, ist klar. Trotzdem weiß ich
nicht, ob dieser etwas melodramatische Auftritt, der sich
mit der Einführung von Herrn Fink hier zusammengebraut hat, gerechtfertigt ist. Es ist natürlich wohlfeil,
jetzt, wo im Bundeshaushalt ein Konsolidierungskurs begonnen hat,
({0})
mit solchen Anträgen zu kommen. Ich werde ja sehen, wie
Sie reagieren, wenn wir den Länderfinanzausgleich im
Sonderausschuss regeln, wenn wir dafür sorgen wollen,
dass die ostdeutschen Länder und vor allen Dingen die
ostdeutschen Kommunen in ihrer Finanzkraft deutlich
besser gestellt und damit vielleicht auch selbst in die Lage
versetzt werden, diese Probleme anzupacken.
({1})
Dann werden wir sehen, wie Sie sich verhalten und ob Sie
in der Lage sind, ostdeutsche Interessen in diesem Bereich
wahrzunehmen und uns da zu unterstützen.
Ich denke, es macht wenig Sinn, eine Einzelfrage herauszugreifen und diese dann kleckerweise finanziell zu
lösen. Es ist sinnvoller, wenn wir versuchen, im Länderfinanzausgleich die Kommunen und die Länder im Osten
insgesamt deutlich besser zu stellen.
({2})
Es sind schon Einzelmaßnahmen ergriffen worden; das
müssten Sie auch wissen. Beispielsweise sind 200 Millionen DM in den Bundeshaushalt eingestellt worden, um
eine Verbrennungsanlage zu bauen, die chemische
Kampfstoffe beseitigt. Sie geht meines Wissens dieses
Jahr in den Probebetrieb, ist im Prinzip also fertig.
Es ist also schon begonnen worden. Fraglich ist jedoch,
ob es sinnvoll ist, die Probleme kleckerweise zu lösen. Wir
wissen im Prinzip seit zehn Jahren, dass es in den fünf neuen
Ländern - ich komme aus Sachsen, da haben wir ähnliche
Probleme - keine zu DDR-Zeiten durchgeführte ordentliche
flächendeckende Räumung gegeben hat. Das war vielleicht
auch nicht möglich, weil uns die Alliierten-Karten, auf denen die Abwürfe verzeichnet waren, nicht vorlagen.
Es gibt vielleicht auch einen gewissen Nachholbedarf;
das will ich gar nicht bestreiten. Es geht aber nicht so weit,
dass man sagen könnte, dass sei eine nur ostdeutsche Problematik. Wenn wir uns daran orientieren, plädiere ich
dafür, die Verwaltungspraxis beizubehalten, aber zu
versuchen, die Finanzierung zu stabilisieren. Im Prinzip
scheitert es ja daran, dass die Länder und Kommunen
nicht genug Geld haben, um dort tätig werden zu können.
Ob wir jetzt in dem Beratungsverfahren noch einmal
prüfen, inwieweit man bezüglich der Alliierten-Munition
noch einmal extra verhandeln kann, würde ich gern im
Paket diskutieren, und zwar mit den betroffenen Ländern
im Zusammenhang mit dem Länderfinanzausgleich, um
eine gemeinsame Lösung zu finden; denn das wäre für die
anderen, für die westdeutschen Bundesländer genauso interessant. Diesen Weg halte ich für gangbar und würde
jetzt keinen Schnellschuss aus dem Bundeshaushalt befürworten. Das wäre nicht vernünftig.
Sie könnten es sich leicht machen. Aber im Prinzip ist
diese Problematik schon seit den 50er-Jahren auch im
Altbundesgebiet Thema gewesen. Die ostdeutschen Länder sind nun schon zehn Jahre lang Bestandteil der
Bundesrepublik Deutschland - jetzt ist es Ihnen eingefallen. Ich denke, es ist eine sehr offensichtliche Veranstaltung, die Sie hier betrieben haben. Das schadet dem
Thema und nutzt der Sache überhaupt nicht.
Danke schön.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rolf Kutzmutz von der PDS-Fraktion.
Verehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal sind lange
Redezeiten nicht nützlich; denn wir alle verfügen über
dieselben Informationen. Ich habe teilweise in den Presseerklärungen des Innenministeriums und denen des Munitionsbergungsdienstes nachlesen können, was Kollegen
hier gesagt haben. Ich will es nicht wiederholen. Wir alle
können Meldungen nachvollziehen, die besagen, dass
Bombenfunde dazu geführt haben, dass - wie in Oranienburg - bis zu 10 000 Menschen von Evakuierungen betroffen sind. All das bewegt uns.
Ich kann aber bei allen Auffassungsunterschieden, die
wir manchmal haben, eines nicht nachvollziehen, liebe
Kollegen von den Koalitionsfraktionen. Wenn Sie sagen,
es schade der Sache, dass hier etwas aufgerufen worden
sei, dann muss ich sagen: Wenn es nicht aufgerufen worden wäre, würde überhaupt nicht darüber gesprochen.
({0})
- Ja, Herr Nooke, manchmal müssen wir es selber machen.
Wenn es nicht aufgerufen worden wäre, hätten wir heute
Abend nicht diskutiert, es gäbe keinen Anlass, im Ausschuss zu beraten. Für die Bürger in Oranienburg, in Neuruppin, in Brandenburg, aber auch in den alten Bundesländern - da gebe ich Ihnen, Herr Koppelin, schon Recht spielt es eine Rolle. Nur, eines ist Fakt: In den ostdeutschen
Kommunen spielt es auch deshalb eine noch größere Rolle,
weil sie finanziell nicht so ausgestattet sind wie Kommunen in den alten Bundesländern. Das wissen Sie auch.
({1})
- Sie können nicht die Sozis, wie Sie sagen, auch noch
dafür verantwortlich machen, dass die Amerikaner ihre
Messblätter nicht an uns, sondern an Sie geliefert haben.
Das will ich der Klarheit halber feststellen. Deshalb sollten wir uns auch ernsthaft damit beschäftigen.
In Neuruppin ist kürzlich eine Straße aufgerissen worden, die gebaut worden war, weil man die Messblätter zu
spät bekommen hat. Es bestand ein Verdacht. Bei Bestehen eines Verdachtes muss so etwas getan werden. Die
120 000 DM, die das gekostet hat, müssen jetzt erst einmal aufgebracht werden.
Baut ein Bürger ein Haus - Herr Fink hat darauf hingewiesen; ich will das hier wiederholen -, hat er großes
Glück, wenn er es auf einem als unbelastet deklarierten
Grundstück tun kann. Er hat auch Glück, wenn er, soll
sein geplantes Bauvorhaben in einer Gegend durchgeführt werden, in der sich eventuell Munition befindet,
noch rechtzeitig gewarnt wird. Schlimmer wird es, wenn
das Haus bereits steht. Auch da gebe ich den Kollegen der
CDU/CSU Recht: Das ist insbesondere für Privatleute ein
Problem, weil dann die Kosten natürlich eine immense
Größenordnung erreichen.
Hier wurde gesagt - ich unterstreiche das -, der vorliegende Antrag greife ein für viele Menschen und Kommunen insbesondere im Osten schwerwiegendes Problem
auf, und zwar auch deshalb, weil er ein Prüfauftrag ist.
Der Antrag besteht aus ganzen vier Zeilen, wenn man ihn
richtig liest. Es ist doch überhaupt nicht gerechtfertigt,
sich darüber aufzuregen. Wir können in den zuständigen
Ausschüssen kritisch darüber sprechen. Wir müssen dann
eine Lösung finden, die möglichst vielen Menschen konkret hilft. Nur, lassen Sie uns nicht zu lange warten. Man
kann einen solchen Antrag auch zerreden.
({2})
Herr Kollege Fink, dabei ist völlig legitim, dass Sie offensichtlich einem Vorhaben des Innenministers des Landes Brandenburg etwas nachgeholfen haben. Denn in einer Presseerklärung wird darauf verwiesen, dass das Land
erstens natürlich in der Fürsorgepflicht steht und zweitens
überlegen sollte, ob nicht eine Bundesratsinitiative ergriffen wird. Das hat nun die Fraktion der CDU/CSU für das
Land Brandenburg übernommen. Auch das halte ich für
legitim. Im Interesse der Kommunen, der Länder und der
betroffenen Menschen sowie im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der staatlichen Munitionsbergungsdienste und der privaten Kampfmittelräumungsfirmen - das sind schlimme Worte; denn sie sind sehr lang möchte ich feststellen: Lassen Sie uns schnell beraten und
schnell helfen. Trotz Schnelligkeit kann man durchaus einen Beschluss fassen, der allen helfen kann.
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Antrags auf
Drucksache 14/5092 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Februar 2001, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche allerseits eine angenehme Nachtruhe.
Die Sitzung ist geschlossen.