Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 2/8/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ({0}) aber ich sage Ihnen ganz ehrlich: Ich gehöre zu den Menschen - davon gibt es in der Bundesrepublik Deutschland viele -, die sowohl den Aussagen der alten als auch der neuen Bundesregierung geglaubt und darauf vertraut haben, dass Deutschland BSE-frei ist. Ich habe das als Politikerin und als Verbraucherin getan. Deshalb war für mich wie für viele andere der 24. November ein Tag, der mich schockierte. Es war ein Schock, weil der erste BSE-Fall uns alle, wenn wir ehrlich sind, plötzlich und unvorbereitet getroffen hat. Der 24. November hat uns damit auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. Ich sage deshalb auch: Wenn wir als Politiker in der Vergangenheit Fehler gemacht haben und Dinge, die wir vielleicht hätten tun müssen, nicht getan haben, dann sollten wir - ich spreche dabei für meine Partei und richte mich an die Bundesregierung - wenigstens heute das Richtige tun und den ersten BSE-Fall als die letzte Warnung an uns wahrnehmen. ({1}) Meine Damen und Herren, ich weiche politischem Streit nicht aus, manchmal bin ich sogar böse, wenn er in diesem Hause verhindert werden soll, wie das zum Beispiel bei der Debatte um die deutsche Einheit der Fall war. ({2}) Bei der Frage nach der Ursache und der Bekämpfung von BSE ist es richtig, dass die Menschen von uns erwarten, dass wir dieses Thema nicht zum parteipolitischen oder ideologischen Streit benutzen und dass wir nicht besserwisserisch - obwohl wir es nicht besser wissen übereinander herfallen. Wir müssen uns stattdessen alle Mühe geben, das Problem in den Griff zu bekommen, und zwar so schnell wie möglich. ({3}) Es war für mich schon recht bitter, dass Bundeskanzler Schröder, der noch vor wenigen Wochen die Currywurst als das Zeichen der Volksverbundenheit verstanden hat, ({4}) der selbstverständlich zu Holzmann und seinen Arbeitern gelaufen ist, als es dort Schwierigkeiten gab, und zwar zusammen mit der Interessenvertretung der Bauarbeiter, mit der zuständigen Gewerkschaft, angesichts des ersten BSE-Falls die Bauern zu Sündenböcken gemacht, die Vertretung der Bauern beschimpft und anschließend von „Agrarfabriken“ gesprochen hat. ({5}) Herr Bundeskanzler, wir haben uns dann - leider vergeblich - die Mühe gemacht, herauszufinden, was eine „Agrarfabrik“ ist. Auch eine Anfrage bei der Bundesregierung hat nicht geholfen. Uns wurde in der Antwort der Bundesregierung vom 17. Januar 2001 gesagt: Da eine Definition industriell geführter landwirtschaftlicher Betriebe nicht existiert, können hierzu keine Daten erhoben werden. So ist das, Herr Bundeskanzler, mit den Agrarfabriken! ({6}) Deshalb stelle ich fest: Streichen Sie dieses Wort! Denn es bringt nichts im Zusammenhang mit der Bekämpfung von BSE. ({7}) Es hat keinen Sinn, so zu tun, als ob die Bauern Täter seien. Die Bauern sind in ihrer großen Mehrzahl Opfer. Dies sind sie im Übrigen - wie viele andere Menschen auch - ebenso als Verbraucher. Deshalb müssen wir uns als Erstes überlegen: Wie können wir BSE als Krankheit bekämpfen? - Ich sage: Wir brauchen eine intensivere Forschung. Bitter ist, dass die Bundesregierung im Jahre 1999 die Prionenforschung eingestellt hat. ({8}) Ich bin sehr dankbar, dass sie sie wieder hat aufleben lassen. Denn das beruht auf einer besseren Einsicht und die benötigen wir. ({9}) Bundesministerin Renate Künast Wir brauchen eine internationale Vernetzung. Wir brauchen aus unserer Sicht eine internationale Forschungskonferenz. Wir brauchen auf Bundesebene einen wissenschaftlichen Beirat, der koordiniert, und wir brauchen selbstverständlich Regelungen auf europäischer Ebene. Meine Damen und Herren, wenn wir über Solidaritätsfonds und Unterstützungen sprechen, geht es ja nicht nur um die Landwirte, sondern auch um 40 000 Arbeitsplätze in der Nahrungsmittel- und Ernährungsindustrie, um das Schicksal von Banken, Sparkassen, Volksbanken und Raiffeisenbanken sowie um den ländlichen Raum und seine Zukunft an sich. Darum haben wir uns zu kümmern. ({10}) Frau Künast, selbstverständlich brauchen wir eine gläserne Produktionskette. Auch wir unterstützen die Entwicklung von Qualitätssiegeln. Wir brauchen eine Verschärfung der Produkthaftung, damit diejenigen, die an den Gesetzen vorbeiarbeiten, auch wirklich dingfest gemacht werden. ({11}) Wir brauchen natürlich vermehrt Klarheit darüber - auch das ist in der Vergangenheit nicht ausreichend gelungen -, was in den Futtermitteln ist, also eine Deklarationspflicht und eine Positivliste über das, was in die Futtermittel hineingehört. Das ist gar keine Frage. ({12}) Aber wir sollten den Menschen auch ehrlich sagen, was wir können und was wir noch nicht wissen. Das gehört ebenso zur Wahrheit und Klarheit. Auch wenn Sie, Frau Künast, gestern gesagt haben, die Kuh sei umzingelt, so ist das Prion in seiner Wirkungsweise eben immer noch nicht erkannt. Deshalb sollten wir alles tun, was möglich ist, aber den Menschen ansonsten keine falschen Versprechungen machen. ({13}) Auch ich sage: Das Auftreten von BSE in der Bundesrepublik Deutschland ist Anlass, die Zukunft der Landwirtschaft insgesamt zu betrachten. Der 24. November 2000 war in dieser Hinsicht sicherlich eine Zäsur. Aber, Frau Künast, es geht nicht um 20 Prozent der Landwirtschaft und ausschließlich um den ökologischen Landbau, sondern um 100 Prozent der Landwirtschaft und deren Zukunft. ({14}) Wir sollten ehrlich miteinander sein und politische Maßnahmen nicht aus Selbstzweck oder irgendwelchen ideologischen Gründen treffen. Wir sollten vielmehr das tun, was angebracht ist, und zwar weder in blindem Aktionismus und hektischer Betriebsamkeit noch dadurch, dass wir uns in eine Wagenburg zurückziehen und einfach nicht weiterdenken. Die CDU/CSU will den Erhalt der ländlichen Räume. 50 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland leben in ländlichen Räumen. Wir wollen nicht nur die Entwicklung der städtischen Ballungsgebiete, sondern auch die Zukunft der ländlichen Räume sichern. ({15}) CDU und CSU wollen unsere bäuerliche Landwirtschaft in allen Betriebsformen, in den Familienbetrieben ebenso wie in den Agrargenossenschaften, erhalten. Wir wollen, dass unsere Ernährungs- und Nahrungsmittelindustrie in Deutschland weiter in der Lage ist, Exporteur von Nahrungsmitteln zu sein. Wir wollen eine gesunde Nahrungsmittelproduktion. Denn gerade die Menschen in den Städten sind darauf angewiesen, auch außerhalb ihres eigenen Zuhauses auf gesunde Nahrung vertrauen zu können. Das ist unsere politische Aufgabe. Deshalb bin ich der Verbraucher- und Landwirtschaftsministerin auch dafür dankbar, dass sie manches, was am Anfang sehr pauschal dargestellt wurde, heute etwas differenzierter dargestellt hat. Aber ich sage auch, liebe Frau Künast: Wir fangen doch nicht bei null an. ({16}) Sie wissen doch, dass beispielsweise schon in Agrarverhandlungen im Jahre 1992 und auch bei der Agenda 2000 ein Stück weit mit der Überproduktion Schluss gemacht wurde. ({17}) Es gibt doch heute nicht deshalb Überschüsse, weil eine Überschussproduktion in der EU verordnet wird, sondern weil sich das Verbraucherverhalten abrupt verändert hat. Sagen Sie doch den Menschen, dass man Kühe nicht so schnell „abstellen“ kann, wie man den Verzehr von Rindfleisch abstellen kann. ({18}) Sagen Sie den Menschen auch, dass die Höhe der Milchproduktion etwas mit der Zahl der Kälber zu tun hat, die in Deutschland geboren werden. Das gehört zur Wahrheit und Klarheit dazu. ({19}) Wenn in diesen Tagen so viel von „Wende“ die Rede ist, dann muss ich Sie ganz einfach darauf hinweisen, dass es sich im Wesentlichen um eine Wende Ihrer eigenen Agrarpolitik handelt. ({20}) - Ja, ich muss das ganz klar sagen. Als der Herr Bundeskanzler 1999 auf dem Kongress des Bauernverbandes in Cottbus war, hat er dem staunenden Publikum gesagt: Die teilweise Absenkung der Agrarpreise in der Agenda 2000 ({21}) ist ein Erfolg, weil jeder sich im Klaren sein musste, dass wir näher an die Preise des Weltmarktes heran müssen. Das waren die Aussagen des Bundeskanzlers damals. ({22}) Genau aus diesem Grunde hat EU-Kommissar Fischler am 12. Dezember im „Handelsblatt“ dieser rot-grünen Bundesregierung ins Stammbuch geschrieben: Es war die heutige rot-grüne Regierung, die im letzten Jahr auf dem Berliner EU-Gipfel die von der Kommission gewünschten Akzente abgelehnt hat. ({23}) Ich sage das, damit keine Märchen verbreitet werden. Was Sie in Ihrer Regierungszeit bislang gemacht haben, das ist im Wesentlichen, die Bauern zusätzlich zu dem Preisdruck, dem sie unterworfen sind, noch stärker zu belasten. ({24}) Die ganze Sache hat, nachdem Sie schon Belastungen in Höhe von 2 Milliarden DM auf die Bauern abgewälzt haben, gestern ihren Höhepunkt erfahren, als Sie nämlich im Haushaltsausschuss beschlossen haben, dass die schon vereinbarte Absenkung der Steuer auf den Agrardiesel auf 47 Pfennig rückgängig gemacht und sie wieder erhöht wird. ({25}) Sie müssen doch einmal bedenken: Der französische Bauer hat eine Belastung von 11 Pfennig pro Liter Agrardiesel; der deutsche hatte bis jetzt eine Belastung von 47 Pfennig. Ab jetzt hat er wieder eine von 57 Pfennig, wenn es nach Ihnen geht. Angesichts dessen können Sie doch nicht erwarten, dass die Bauern überhaupt den Spielraum dafür haben, das zu leisten, was Sie von ihnen erwarten. ({26}) Deshalb: Auch wir sagen, wir brauchen ein Umdenken; wir brauchen neues Denken. ({27}) Aber neues Denken heißt, dem Verbraucher Sicherheit und den ländlichen Räumen eine Zukunft zu geben. Beides zusammen muss geleistet werden. ({28}) Das heißt, dass wir einer von den Bauern getragenen nachhaltigen Landwirtschaft eine Perspektive geben, dass wir hochwertige Nahrungsmittel produzieren, dass wir die Konflikte, die es zwischen Naturschutz, Tourismus, Flächenverbrauch und Landwirtschaft natürlich gibt, vernünftig zum Ausgleich bringen, dass die standortangepasste Landnutzung und - das betone ich - die artgerechte Tierhaltung eine Zukunft haben müssen - hier ist sicherlich vieles zu tun - und dass die land- und forstwirtschaftliche Nutzung als wesentliche Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung des ländlichen Raums erhalten bleibt. Die Landwirte sorgen für unsere Kulturlandschaft, die für alle Bürgerinnen und Bürger dieser Bundesrepublik von größter Bedeutung ist. ({29}) Ehe wir uns, Frau Künast, darüber unterhalten, wie wir im Detail vorgehen, wäre es schon wichtig, zu wissen, ob wir im Grundsatz diese Ziele gemeinsam verfolgen: ({30}) Zukunft für den ländlichen Raum und Verbraucherschutz für alle Verbraucherinnen und Verbraucher. ({31}) Dazu gehören für mich vier Punkte. Erstens. Die gute fachliche Praxis muss weiterentwickelt werden, keine Frage. Die gute fachliche Praxis ist im Übrigen weiterentwickelt worden, wenn ich nur an das Bodenschutzgesetz aus der letzten Legislaturperiode denke, dem selbstverständlich auch rot-grüne Landesregierungen zugestimmt haben. Artgerechte Tierhaltung kann nur verbessert werden, wenn wir dies europaweit tun. Denn wir können nicht mit einer Produktionsverlagerung deutsche Probleme beseitigen; wir brauchen insgesamt artgerecht hergestelltes Fleisch, auch wenn es importiert wird. Deshalb helfen uns nur europaweite Regelungen. Da wird die Probe aufs Exempel gemacht, Frau Künast. ({32}) Wir wollen, dass die Weiterentwicklung der guten fachlichen Praxis in einem Landwirtschaftsgesetz festgeschrieben wird. Wir glauben auch, dass das Gesetz von 1955 einer grundlegenden Überarbeitung bedarf. Zweitens. Wir wollen wirtschaftliche Freiräume für die Landwirtschaft, damit sie Qualität produzieren kann. Aber ich sage Ihnen auch: Stellen Sie das Miteinander und nicht das Gegeneinander in das Zentrum Ihrer Arbeit. Deshalb ist zum Beispiel der Vertragsnaturschutz und nicht die enteignungsgleiche Behandlung von Naturschutztatbeständen die Antwort auf die Gegebenheiten. ({33}) Meine Damen und Herren, wir leben nicht isoliert. Deshalb können - drittens - europäische Standards im Tierschutz, im Verbraucherschutz und im Umweltschutz nur dann realisiert werden, wenn sie auch in den WTOVerhandlungen als Standards sozialer und umweltfreundlicher Art anerkannt werden. ({34}) Hier liegt eine riesige Aufgabe vor der Bundesregierung. Da helfen auch keine Worte, da helfen nur Taten. ({35}) Ich kann nur hoffen, dass bei den WTO-Verhandlungen das, was wir in Europa brauchen, um unserer Landwirtschaft eine Zukunft zu geben, mit der nötigen Verve eingeklagt wird. ({36}) Das hat dann mit dem zu tun, was wir so oft theoretisch diskutieren, nämlich ob Politik in der heutigen Zeit angesichts der globalen wirtschaftlichen Beziehungen die Chance hat, das Leben der Menschen im Lande zu gestalten, oder ob Politik nur zuschaut. Wir wollen gestalten; das bedeutet dann aber auch den energischen Einsatz bei den WTO-Verhandlungen. ({37}) Viertens. Natürlich müssen - mit Ablauf der Agenda 2000 sicherlich noch verstärkt - die Direktzahlungen schrittweise von der Produktionsbindung gelöst werden. Natürlich können Leistungen für die Umwelt eingearbeitet werden. Der saarländische Landwirtschafts- und Umweltminister hat hierfür eine ganze Reihe von Vorschlägen gemacht. Aber diese neue Prioritätensetzung darf nicht die Vernichtung ganzer Kategorien von Bauernbetrieben bedeuten. Sie sagen so allgemein - jeder, der sich noch nicht so tief eingearbeitet hat, stimmt dem zu; mir hat es auch zunächst eingeleuchtet -, man müsse die Tierhaltung an die Fläche koppeln. Das ist wunderbar und klappt in Mecklenburg-Vorpommern hundertmal besser als im Badischen oder im Allgäu. Sie müssen eine Antwort darauf finden, wie die bäuerlichen Betriebe mit kleinen Flächen weiterhin existieren können. Wir erwarten von Ihnen eine Antwort auf diese Frage und da helfen keine Sprüche. ({38}) Es wird sich zeigen, dass die Antwort auf alle Fragen der Landwirtschaftspolitik in Wahrheit verdammt konkret ist. ({39}) Wir werden Sie an den Taten messen. Frau Künast, Sie wissen sehr wohl, wie viele Bauern heute schon Windkrafträder haben und wo es überall Biomassekraftwerke gibt. Dies ist nun wirklich nicht erst seit September 1998 entstanden. ({40}) Die Klage über zu viel Windkraft haben wir schon gehabt, als Sie den Konflikt zwischen Naturschutz und Windkraftenergie noch überhaupt nicht richtig bewältigt hatten. ({41}) Als der erste BSE-Fall aufgetreten ist, hat die nordrhein-westfälische Umweltministerin Höhn diesen Vorfall mit Tschernobyl verglichen und gesagt: Das ist das Tschernobyl der Landwirtschaft. Ich denke, wir sollten neu nachdenken. ({42}) Welche Lehre wurde damals aus Tschernobyl gezogen? Wir haben damals das Bundesumweltministerium gegründet und seitdem dem Umweltschutz ein wichtiges Standbein in der Bundesregierung gegeben. ({43}) Ich sage Ihnen: Die Bündelung von Verbraucherschutzinteressen in einem Ministerium ist sicherlich richtig. Für mich ist das allerdings nur der halbe Weg auf der richtigen Strecke, weil aus meiner Sicht - daneben ein zweites Ministerium als wesentliches Standbein für den ländlichen Raum und die Landwirtschaft dienen sollte, wie es in Baden-Württemberg der Fall ist, die hierbei Vorreiter sind. ({44}) Ich bin - hier unterstütze ich Frau Künast sehr wohl für eine unabhängige, schlanke und mit großen Kompetenzen ausgestattete Kontrollbehörde, die sich mit der Futtermittelherstellung und der Nahrungsmittelüberprüfung befasst. Hier sind wir eins und können gemeinsam in diesem Hause vorangehen. Aber wenn es um die Lehren aus Tschernobyl geht, geht es auch um die Frage, wie wir die Dinge anpacken. Wir haben damals als CDU und CSU gemeinsam mit der F.D.P. Lösungen gefunden, um internationale Umweltschutzverhandlungen in Gang zu bringen, um den RioProzess voranzubringen. Heute sind Verhandlungen über Arten- und Klimaschutz im Umweltgeschäft Normalität geworden. Wir haben es geschafft, den Rhein so sauber zu machen, dass der Lachs wieder im Rhein schwimmt, aber nicht, indem wir die Industrie aus Deutschland vertrieben, sondern indem wir mit der Industrie zusammengearbeitet haben. ({45}) Deshalb, meine Damen und Herren, erwarte ich, dass Sie das Problem des Verbraucherschutzes nicht so lösen, wie Sie den Ausstieg aus der Kernenergie gelöst haben: dass am Schluss die Energie sonst woher kommt. Vielmehr müssen sie dieses Problem so lösen, dass die Landwirtschaft in diesem Lande eine gute Chance hat. ({46}) Und zu guter Letzt: Wir wollen, dass die Politik das regelt, was zu regeln ist. Wir geben aber auch freiwilligen Maßnahmen eine wichtige Rolle und wollen die Mündigkeit des Bürgers. Deshalb sage ich: Verbraucherschutz zu stärken heißt auch, die Verbände zu stärken. Wir brauchen im Verbraucherschutz so etwas wie das, was der ADAC für die Autofahrerinnen und Autofahrer ist. Wir müssen die Menschen zu mehr Selbstständigkeit in diesem Land bringen. Es war ein Fehler - auch diesen Vorwurf müssen Sie sich noch einmal gefallen lassen; das Parlament hat eine sehr viel bessere Rolle gespielt als die Regierung -, dass die Bundesregierung die Finanzmittel der Stiftung Warentest erst einmal von 13 auf 8 Millionen DM kürzen wollte. ({47}) Das war die Politik dieser Bundesregierung. Nur durch gemeinsame parlamentarische Anstrengungen ist es gelungen, diesen Fauxpas wieder gutzumachen. Deshalb sage ich: Wir geben Ihnen alle Chancen. Handeln ist dringend erforderlich; bei vernünftigen Maßnahmen machen wir mit. Es soll einen Konsens der Demokraten zur Bekämpfung von BSE und zur Sicherung der Zukunft der Landwirtschaft geben, aber mit vernünftigen Mitteln und Methoden sowie mit einem mündigen Bürger. Herzlichen Dank. ({48})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Struck, SPD-Fraktion.

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst, Frau Ministerin Künast, gratuliere ich Ihnen zu Ihrer tatkräftigen und entschlossenen Rede und zu der Politik, die Sie mit dieser Rede dargestellt haben. ({0}) Sie können sich auf die Unterstützung der SPD-Fraktion verlassen. Wir werden gemeinsam das Ziel erreichen, das Sie dargestellt haben. Nun zu Kollegin Merkel. Im Vorfeld habe ich erfahren, dass der Fraktionsvorsitzende der CDU große Bedenken hatte, Frau Merkel reden zu lassen. ({1}) In einigen Punkten waren die Bedenken berechtigt, auf andere möchte ich gern eingehen, Frau Kollegin Merkel. ({2}) Sie haben in vielen Punkten das angesprochen - ich begrüße das -, was unserem gemeinsamen Ziel, wieder Vertrauen bei den Verbrauchern in die Produkte unserer Landwirte zu erreichen, dient. Ich stimme ausdrücklich zu, dass dies eine Aufgabe ist, die alle Fraktionen in diesem Hause angeht. Auch Ihr Hinweis darauf, dass wir keine einseitigen Schuldzuweisungen, beispielsweise gegenüber den Landwirten in unserem Lande, vornehmen sollten, war berechtigt. Aber das hat auch niemand von uns getan. Sie haben einen hier unnötigerweise Popanz aufgebaut. ({3}) Was soll denn, Frau Kollegin Merkel, der Satz: „Es geht um den Erhalt der ländlichen Räume.“? ({4}) Das ist eine Selbstverständlichkeit. Natürlich wollen wir die ländlichen Räume erhalten. Wer will denn die ländlichen Räume abschaffen? Frau Künast will es nicht, Herr Schröder nicht und auch ich will es nicht. Wir werden die ländlichen Räume erhalten. Darauf können Sie sich verlassen. ({5}) Sie haben zwei Punkte angesprochen, die inhaltlich falsch sind. Ich finde es nicht in Ordnung, hier so etwas vorzutragen. Wir werden das aufklären. Erstens. Sie haben gesagt, die Bundesregierung habe Forschungsmittel gekürzt. Ich habe mich informiert: Diese Behauptung ist falsch. ({6}) - Nein, Sie haben eine falsche Behauptung aufgestellt. Zweitens. Sie haben behauptet, der Haushaltsausschuss habe einen Beschluss zum Agrardiesel gefasst. Auch das ist falsch. ({7}) Die Entscheidungen über die Besteuerung des Agrardiesels werden wir in den Fraktionen treffen. Diesbezüglich hat es noch keine Beschlussfassung gegeben. Gehen Sie nicht so unvorsichtig mit der Wahrheit um, Frau Merkel. ({8}) Schauen Sie sich genau an, was Ihnen Ihre Leute aufschreiben! ({9}) - Der Haushaltsausschuss hat einen Bericht der Bundesregierung zur Kenntnis genommen, Herr Kollege Glos. Das ist keine Beschlussfassung. Zum Thema Agrardiesel werden die Koalitionsfraktionen Entscheidungen treffen und hier im Deutschen Bundestag zur Abstimmung bringen. Bitte argumentieren Sie nicht mit solchen Unwahrheiten. Das ist nicht in Ordnung, das gehört sich nicht. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Struck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Austermann?

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, Herrn Austermann gestatte ich keine Frage; dem nicht. Ich möchte noch einige Anmerkungen in Ergänzung zu dem machen, was die Ministerin Künast vorgetragen hat. Wir sind uns alle darüber im Klaren, dass die Verbraucher, der Handel, die Verarbeiter und die Erzeuger die Nahrungsmittel nur gemeinsam zu einem gesunden Genuss machen können. Nur wenn wirklich alle an einem Strang ziehen, haben wir die Chance, dass unsere Landwirtschaft, aber auch die Verarbeiter wieder zu einem wirtschaftlichen Erfolg kommen. Mir geht es vor allen Dingen darum - ich hatte gestern ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der Gewerkschaft NGG -, auch die Arbeitsplätze in der Nahrungsmittelindustrie im Auge zu behalten. Wir haben gegenüber diesen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine Verantwortung. ({0}) Auch ist klar, dass wir nur mit der Landwirtschaft und nicht gegen die Landwirtschaft eine neue Politik erreichen können. Aber ich will an dieser Stelle ein Wort an Herrn Sonnleitner richten. ({1}) - Halten Sie sich einmal mit Ihren Zwischenrufen zurück! ({2}) - Ich sage das deshalb, weil der Kollege, der immer dazwischenruft, für eine verstaubte und veraltete Agrarpolitik steht und sich jetzt hier als Erneuerer aufspielen will. ({3}) Herr Sonnleitner tritt bei Demonstrationen auf - ich habe ihn erst gestern in München gesehen -, in denen Landwirte gegen die Schlachtung der 400 000 Tiere demonstrieren. ({4}) Ich kann das nicht verstehen. Wenn wir intern, aber auch öffentlich von Herrn Sonnleitner und seinem Verband hören, diese Maßnahme sei unumgänglich, dann darf man solche Demonstrationen nicht unterstützen. Das ist unanständig. Das ist unehrlich. ({5}) Ich kann dem Deutschen Bauernverband, mit dem wir konstruktive Gespräche geführt haben, nur raten, keine Politik zu betreiben, die sich gegen die Bundesregierung richtet. ({6}) Sie sind auf die Bundesregierung und auf die sie tragenden Fraktionen angewiesen. Das sollten Sie bei dem, was Sie tun, berücksichtigen! Niemand von uns, auch nicht die Ministerin Künast, will, dass in Deutschland nur noch ökologischer Landbau betrieben wird. Jeder von uns ist Realist genug, um zu sehen, dass wir in den nächsten Jahren höchstens Zielmarken von vielleicht 10 bis 20 Prozent erreichen können. Ich komme aus einem ländlichen Wahlkreis, wo die Durchschnittsgröße eines bäuerlichen Betriebes 100 Hektar beträgt. Ich weiß also, wovon ich rede. Aber die Zielsetzung ist richtig: Die alte Agrarpolitik ist in eine Sackgasse geraten. Wir müssen eine neue Agrarpolitik machen. Darum geht es. ({7}) Erlauben Sie mir noch einige Anmerkungen zu finanziellen Fragen. Zunächst komme ich zur gestrigen Konferenz der Agrarminister von Bund und Ländern. Ich kann verstehen, dass die Länder zunächst einmal auf den Bund verweisen, wenn es um die Kosten im Zusammenhang mit BSE geht. Das ist normal. Keiner gibt gern Geld aus. Aber nach dem, was der Bund bereit ist, zu leisten, will ich an die Adresse der Länder - auch an die Adresse meiner Parteifreunde in den Ländern, Kollege Backhaus deutlich sagen, dass ich kein Verständnis dafür habe, dass wegen dieser Streitigkeiten die Angelegenheiten nur langsam vorankommen. Auch die Länder müssen ihren finanziellen Beitrag leisten. Das ist überhaupt keine Frage. ({8}) Ein weiteres Thema: Es ist diskutiert worden, ob es eine Sonderabgabe für die Vernichtung von Rindfleisch geben soll. Die Ministerin hat es bereits klargestellt und auch ich erkläre hier klipp und klar für die SPD-Bundestagsfraktion: Eine solche Sonderabgabe wird es nicht geben, genauso wie es keine Steuern auf Fleisch oder Ähnliches geben wird. ({9}) Ein Letztes: Sie haben von einem Gegeneinander gesprochen, Frau Kollegin Merkel. Ich kann aus der Regierungserklärung von Frau Ministerin Künast überhaupt kein Gegeneinander erkennen. Sie hat von einem magischen Sechseck und an anderer Stelle von einem runden Tisch gesprochen. Das Modell, das sie dargestellt hat, stellt in der Tat die einzige Chance dar, wie wir aus dieser Krise, die es zweifellos gibt, herauskommen können. Meine Damen und Herren, wir werden unseren Beitrag dazu leisten, dass die Verbraucher in Deutschland wieder Vertrauen in die Produkte der Landwirte haben und die Landwirte in Deutschland eine gesicherte Existenzgrundlage behalten werden. Schönen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort. ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass ein so großes Interesse an der Verbraucher- und Agrarpolitik besteht. Das kann nur gut sein: gut für die Landwirtschaft, gut für die Verbraucher und auch gut für die Wirtschaft, denn hier ist Gemeinsamkeit gefordert. Wenn ich heute Morgen aber Bilanz ziehe, muss ich zunächst einmal feststellen, dass Frau Ministerin Künast verkündet hat, dass sie eine Politik betreiben will, die das genaue Gegenteil dessen ist, was ihr Vorgänger, Herr Funke, gemacht hat und was auf dem Berliner Gipfel in der Agenda 2000 verabschiedet worden ist. Der Herr Bundeskanzler hat sich selbst und seinen Landwirtschaftsminister dafür gelobt, dass die Agenda 2000 so erfolgreich, gut und richtig sei. Wir stellen fest, dass die Agenda 2000 nicht einmal 14 Monate nach ihrem Inkrafttreten hundertprozentig überholt ist und die Regierung eine völlig neue Agrarpolitik ankündigt. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben damals schon gesagt, dass mit Dirigismus, zusätzlicher Bürokratie und verschwendeten Steuergeldern, was alles auch Inhalt der Agenda 2000 ist, die Zukunft nicht zu gewinnen sei und dass diese Fehlentwicklung korrigiert werden müsse. Diese Fehlentwicklung darf aber jetzt nicht durch einen neuen staatlichen Dirigismus, der in Richtung Ökologisierung der Landwirtschaft geht, wiederholt werden. ({1}) Der Markt lässt sich nicht von der Politik bevormunden; denn sonst werden Abhängigkeiten vom Staat manifestiert, die systematisch die Freiheit des Unternehmers einschränken und das Eigentum zunehmend infrage stellen. ({2}) Der ökologische Landbau leistet einen wichtigen Beitrag für die Angebotspalette an Nahrungsmitteln. Auch war die F.D.P. schon immer der Auffassung, dass der ökologische Landbau aus Gründen des Umweltschutzes, Naturschutzes und Tierschutzes von Bedeutung ist ({3}) und dass wir die derzeitige Sensibilisierung der Verbraucher nützen müssen, um die Durchsetzung solcher Produkte am Markt tatsächlich zu erreichen. ({4}) Da komme ich aber zu einem Punkt, an dem wir völlig anderer Meinung als die Bundesregierung sind: Es bedarf keinesfalls einer Förderung der Produktion, sondern einer modernen Marktstrategie, verbunden mit einer verbesserten Angebotsinfrastruktur und einer besseren Logistik. Eine durch die Agrarpolitik herbeigeführte Ausweitung der Produktion würde die Preise für die Bioprodukte nach unten bringen, was zur Folge hätte, dass die Produktionskosten von den Marktpreisen nicht mehr gedeckt würden. Die Konsequenz wäre, dass der Staat mit Dauersubventionen das Überleben der betroffenen Unternehmen sichern müsste. ({5}) Die F.D.P. möchte demgegenüber erreichen, dass sich die Ökoprodukte am Markt durchsetzen können. Dazu gehört ein einheitliches Ökoprüfzeichen, das ÖPZ, das einen klaren Wiedererkennungswert bekommen muss. Bis jetzt hat es das noch nicht und die Ökoverbände sind bis heute leider Gottes noch nicht einer Meinung, dass dies wichtig für ihre Marktstrategie ist. Lassen Sie mich noch auf ein weiteres Marktsegment eingehen, nämlich auf das der regionalen Produktion. Die Nähe zwischen Landwirt und Verbraucher muss durch ein neues Qualitätsverständnis gestärkt werden. Durch die gläserne Produktion und durch besondere Produktionsweisen, die höhere Umwelt- und Qualitätsstandards in besonderem Maße beinhalten, wird die regionale Herkunft auch mit den Zielen der Agenda 21 verbunden. So hat zum Beispiel Baden-Württemberg bereits seit 10 Jahren gute Erfahrungen mit der gläsernen Produktion gemacht und wird die Anforderungen an das HQZ - Herkunfts- und Qualitätszeichen - weiter erhöhen und alles unternehmen, damit dieses Zeichen durch die BSE-Krise nicht unberechtigt in Misskredit gerät. Die regionale Produktion mit dem HQZ wird in der Zukunft deutschlandweit und EU-weit zunehmend an Bedeutung gewinnen und seine Marktberechtigung ausbauen. Im Prinzip sollen bei dieser Produktionsmethode die gleichen Förderungsgrundsätze gelten wie beim ökologischen Landbau: also keine Förderung der Produktion; der Schwerpunkt muss vielmehr im Marktbereich gesetzt werden. ({6}) Man muss heute ganz klar sagen: Grundsätzlich ist jede Form der Landwirtschaft dem Verbraucherschutz, dem Schutz des Bodens, der Pflanzen, der Tiere und der Umwelt verpflichtet. ({7}) Voraussetzung dafür ist aber, dass damit ein wirtschaftlicher Erfolg verbunden ist, der es verhindert, dass die Betroffenen dauerhaft am Subventionstropf hängen. ({8}) Die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft muss im Rahmen der Europäischen Union - wegen der Multifunktionalität auch auf WTO-Ebene - sichergestellt werden. Deutschland befindet sich nun einmal nicht auf einer Insel. Die Landwirte, die konventionell produzieren - derzeit sind das 97 Prozent aller Landwirte -, werden auch in Zukunft den Löwenanteil an der landwirtschaftlichen Produktion ausmachen. Deshalb ist es besonders wichtig, dass Verbrauchersicherheit und Nachhaltigkeit die Grundlagen für die Produktion sind. Dazu gehört auch - ich sage das ganz klar und deutlich der technische Fortschritt, insbesondere im Bereich der grünen Gentechnik, der zu den Grundlagen nicht im Widerspruch steht. Lassen Sie es sich gesagt sein: Wenn derzeit die Konjunktur nach der Meinung des Kanzlers nicht positiv für die Gentechnik ist, ({9}) sage ich Ihnen voraus, dass Deutschland einen wesentlichen Standortvorteil verlieren wird, den es bisher durch kompetente Forscherpersönlichkeiten noch einigermaßen halten kann, wenn wir im Bereich der grünen Gentechnik eine Kehrtwende um 180 Grad vornehmen. ({10}) Dem Verbraucherschutz und der Landwirtschaft ist nicht damit gedient, dass der Anteil des ökologischen Landbaus erhöht wird. Wichtig sind vor allem verlässliche Rahmenbedingungen für die gesamte Landwirtschaft, die auch mittelfristig Bestand haben. Ich habe schon 1999 anlässlich der Beschlüsse zur Agenda 2000 gefordert, dass als Ziele einer liberalen Agrarpolitik die kostenträchtige Überproduktion, vor allem bei Milch und Rindfleisch, abzubauen ist, um Angebot und Nachfrage im europäischen Binnenmarkt ins Gleichgewicht zu bringen und schrittweise einen geordneten Ausstieg aus den Marktordnungen für Milch und Fleisch auf den Weg zu bringen. Ich bin in meiner Argumentation - im Gegensatz zur Bundesregierung - schlüssig geblieben. ({11}) Das Gegenteil ist geschehen: Im Rahmen der Agenda 2000 wurde eine zusätzliche Milchmenge von 1,4 Millionen Tonnen beschlossen; offensichtlich wusste die Bundesregierung damals noch nicht, dass infolge der Erhöhung der Milchmenge zwangsläufig mehr Kälber geboren werden. ({12}) Heute stehen wir vor einem Chaos am Rindfleischmarkt. Heute tut man so, als wäre das alles nicht vorauszusehen gewesen. Es war in weiten Bereichen vorauszusehen; denn es gab schon damals eine Überschussproduktion im Rindfleischbereich von 15 bis 20 Prozent, Frau Ministerin Künast. ({13}) Die Halbwertzeit der auf fünf Jahre angelegten Agenda 2000 ist bereits nach einem Jahr erreicht und weder Landwirtschaft noch Verbraucher noch Steuerzahler können mit diesem Ergebnis zufrieden sein. Dies war keine Meisterleistung dieser Regierung. Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Punkte ansprechen, die derzeit besonders in der Diskussion stehen. Die totale Keulung in Betrieben, in denen die BSE-Krankheit aufgetreten ist, halte ich für nicht akzeptabel. Ich halte auch unterschiedliche Regelungen in der Bundesrepublik Deutschland für nicht akzeptabel. Wir brauchen ein bundeseinheitliches Gesetz, das sich an dem Schweizer Modell orientiert, nach dem die Anonymität der Betriebe gesichert ist, damit nach der Sanierung der Bestände die Produkte wieder verkauft werden können. ({14}) Meine Damen und Herren, die derzeitige Verunsicherung, Angst und Existenznot in den landwirtschaftlichen Betrieben spotten jeder Beschreibung. Hier muss man ein bisschen sensibler vorgehen und kann nicht nur mit der Keule wie wild um sich schlagen. ({15}) Die Schlachtung von 400 000 Rindern - eventuell werden es mehr oder weniger - ist eine freiwillige Aktion. Wir befürworten, dass wir als Bundesrepublik Deutschland uns daran beteiligen. Aber wir befürworten nicht die Vernichtung des Fleisches. Wir wollen das Fleisch vielmehr über Konserven für Notgebiete, für Hungersnöte, für Katastrophen verwerten. Wer sieht, wie in Zentralasien und Zentralamerika tagtäglich Menschen verhungern, der darf in dieser Frage mit einer marktwirtschaftlichen Argumentation à la Ministerin Künast nicht kommen. Hier ist vielmehr Nothilfe gefragt. ({16}) Wir können es uns nicht leisten, dass das Fleisch hier vernichtet wird, während dort die Menschen verhungern müssen. ({17}) Meine Damen und Herren, zehn Minuten sind schnell vorüber. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, dass auch in Zukunft die Agrarpolitik so aufmerksam verfolgt wird und wir dann ein ordentliches Ergebnis bekommen können, vielleicht ein besseres, als wir derzeit vonseiten der Regierung vorzuweisen haben. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Rezzo Schlauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002777, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Heinrich, ich glaube, es ist eine sehr schwere Entscheidung, die in der Frage der Keulung bzw. Verwertung von 400 000 Rindern zu treffen ist. Immerhin haben Sie dazu Stellung genommen. Frau Merkel, von einer Parteivorsitzenden erwarte ich, dass sie zu dem dringendsten und wichtigsten aktuellen Problem, das sehr schwer zu behandeln und zu entscheiUlrich Heinrich den ist, Stellung nimmt. Davor haben Sie sich aber elegant gedrückt. ({0}) Herr Heinrich, ich kann Ihrer Meinung nicht folgen, wenn Sie sagen, dass dieses Fleisch in Notgebiete exportiert werden soll. Das klingt gut, nur können Sie heute beispielsweise lesen, dass die Vorsitzende der Welthungerhilfe, Frau Schäuble, klar sagt, dass ein Export von hier produziertem Fleisch in Notgebiete dortige Märkte zusammenbrechen lässt und es eben nicht möglich ist, dadurch Not zu lindern. Er würde die dortige bäuerliche Landwirtschaft, die zur Sicherung der Ernährung dringend notwendig ist, in Schwierigkeiten bringen, gefährden und auch kaputtmachen. ({1}) Frau Merkel, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede zur Agrarwende sehr wohl Stellung genommen. Sie sagten, es sei notwendig, dass man sich neu orientiert. Vor der Antwort auf die Frage, wie die Neuorientierung aussehen soll, haben Sie sich gedrückt. Ich muss Sie fragen: Wie sah die von Ihnen angesprochene Vorreiterrolle von Baden-Württemberg oder von Bayern - das haben Sie nicht erwähnt - aus? Die Vorreiterrolle Baden-Württembergs sieht so aus, dass die dortige Ministerin für Landwirtschaft und den ländlichen Raum noch im Oktober im Zusammenwirken mit dem Bauernverband dafür gekämpft hat, dass Risikomaterial weiter verwendet wird. Eine solche Vorreiterrolle wollen wir nun wirklich nicht! ({2}) Die Melodie des weiteren Verlaufs Ihrer Rede war: Wir wollen das alte System weiter stützen. Sie haben hier einen nicht verabschiedeten Beschluss des Agrarausschusses angeführt. Wenn wir jetzt einen Neuanfang machen, dann müssen wir natürlich sehr genau aufpassen, dass die Zahlung von Subventionen, die in großem Umfang in die Agrarwirtschaft fließen, an bestimmte Produktionskriterien - Transparenz der Produktion: vom Futtermittel über den Stall bis hin zur Verarbeitung der Lebensmittel - gekoppelt wird, sodass derjenige, der sich nicht an die Einhaltung dieser Produktionskriterien hält, keine Subventionen bekommt. ({3}) Die Politik hat jahrzehntelang - es geht nicht um die letzten zwei oder die letzten vier Jahre - eine Entwicklung honoriert und forciert, deren Motto „Immer mehr und immer billiger“ lautete. An diesem Punkt muss endlich Schluss gemacht werden. ({4}) Denn die Logik des „Immer mehr und immer billiger“ ist genau der Boden, auf dem sich die Strukturen entwickelt haben, die wir heute beklagen, und der die BSE-Krise überhaupt erst möglich gemacht hat. ({5}) - Ach, Herr Börnsen, bitte schön. ({6}) Eine Debatte wie die heutige sollte Gelegenheit dafür bieten, nicht die alten Strukturen und die alten Systeme zu verteidigen, sondern - Frau Merkel, dazu habe ich zu wenig von Ihnen gehört - für die notwendige Aufklärung der Verbraucher zu sorgen. Es geht nicht mehr so wie in früheren Zeiten, als man sich im Supermarkt ein Schnitzel - sozusagen einen Lockvogel - kaufte, dessen Verkaufspreis unter den Gestehungskosten lag. Da hilft weder Jammern noch eine Aktion wie die des neuen bayerischen Verbraucherschutzministers, der gesagt hat: Liebe Leute, esst alle wieder Rindfleisch und damit wird alles gut! Das hilft kein Jota weiter. Jegliche Energie, die darauf verwandt wird, Rindfleisch derzeit wieder unter die Verbraucher zu bringen, ist verschwendet. Jede Mark, die die CMA für entsprechende Plakate und Werbeaktionen vergeudet, sollte sie besser in die Bereiche investieren, für die wir gemeinsam neue Qualitätskriterien für die Produktion von Nahrungsmitteln entwickeln wollen. Auch in dieser Hinsicht habe ich von Ihnen, Frau Merkel, heute leider sehr wenig gehört. ({7}) In dieser Diskussion ist es notwendig, dass wir die Agrarpolitik aus der Ecke einer reinen Fachfrage herausbringen. Niemand weiß nämlich, wohin die Milliarden an Subventionen geflossen sind. Meistens sind sie nicht zu den Bauern geflossen, sondern eher in die verarbeitende Industrie. Deshalb glaube ich, dass zukünftige Agrarpolitik Gesellschaftspolitik sein wird. Das heißt, wir alle müssen uns darüber verständigen, unter welchen Bedingungen und Kriterien Nahrungsmittel produziert werden sollen. Die zukünftige Entwicklung wird eine Ausweitung des ökologischen Bereichs bringen, Herr Heinrich, ob Ihnen das passt oder nicht, und im konventionellen Bereich werden harte Produktions- und Qualitätskriterien angelegt werden. Selbstverständlich nur dann, wenn die bäuerliche Landwirtschaft gesunde und gute Nahrungsmittel produziert, ist es legitim, dass sie weiterhin öffentliche Gelder erhält. Danke schön. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich Ihnen, Frau Bundesministerin Künast, meinen Respekt für Ihr beherztes Agieren aussprechen. Sie können bei einer ganzen Reihe von Einzelschritten auf die Unterstützung der PDS-Fraktion im Bundestag zählen. ({0}) Dennoch meint die sozialistische Opposition im Bundestag, dass der Ansatz, den Sie hier wählen, falsch ist. Man muss allerdings sagen, dass Sie in der falschen Spur richtig gut sind. ({1}) Sie haben hier Ihre Agrarwende beschrieben. Bei Ihnen und bei Herrn Schlauch habe ich so ein wenig die Hoffnung herausgehört, dass die Agrarwende dann vollzogen ist, wenn der letzte Bauer im Lande grün geworden ist. ({2}) Da ich daran nicht glaube, glaube ich auch nicht an den Vollzug dieser Wende. Wir haben es hier aus unserer Sicht mit einem gigantischen Staatsversagen zu tun aufgrund des Rückzuges des Staates aus Kernbereichen seiner Verantwortung. Ich habe mit Interesse und Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass Frau Merkel hier davon gesprochen hat, der Staat müsse das Gestalten wieder an sich ziehen und wieder Politik betreiben. Von wem habe ich denn die letzten zehn Jahre nichts anderes gehört, als dass der Staat sich zurückziehen müsse, staatliche Kontrolle ein Standortnachteil sei, wir weniger staatliche Regulierung brauchten? Das passt nicht zusammen. ({3}) Der blinde Glaube an eine Marktwirtschaft, die längst keine mehr ist, hat uns in dieses Dilemma geführt. Nun - auch hier haben Sie sich gebeugt, Frau Künast - frage ich Sie: Was fällt Ihnen in dieser Situation ein? - Nichts anderes, als als Hauptschritt eine Marktbereinigung vorzunehmen. Hier geschieht der nächste Kniefall, hier wird wiederum blinder Glaube an die Marktwirtschaft praktiziert. Es handelt sich um den Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. ({4}) Erst subventionieren Sie die Mast, dann subventionieren Sie die Tötung. Dabei wird Ihre Rechnung nicht aufgehen; das wissen Sie. Bei der jetzigen Marktbereinigung wird von einem 10-prozentigen Rückgang des Rindfleischverbrauches ausgegangen. Real verzeichnen wir jetzt Einbrüche in Größenordnungen von 30 bis 50 Prozent. Sie wissen, dass dieser Weg so zu keinem Erfolg führen wird. Sie wissen auch, dass sich diese Politik nicht mehr vermitteln und erklären lässt. Auch aus Erfahrung sage ich Ihnen: Wenn sich Politik und Wirtschaft nicht mehr erklären lassen, dann sind Politik und Wirtschaft auch nicht gut. ({5}) Der Staat erweist sich als unfähig, mit seinem eigenen Versagen umzugehen. Deshalb, so meinen wir, sind Sie auf der falschen Spur. Meine Damen und Herren, nahezu jeder Bauernhof, auf dem es einen BSE-Verdachtsfall gibt, kommt heute in das Fernsehen. Von den Futtermittelkonzernen kennen selbst wir hier im Bundestag noch nicht einmal die Namen. ({6}) Da fällt mir wirklich nur das Zitat ein: „Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Ich wundere mich ein bisschen, dass die Medien sich das gefallen lassen. ({7}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie haben, obwohl Sie es immer abstreiten und nicht wahrhaben wollen, gewissermaßen die Schuld bei den Bauern abgeladen. Es ist bei den Bauern so angekommen und Sie erfahren es doch selbst, wenn Sie unterwegs sind: Wohin auch immer man kommt, die Bauern fühlen sich aufgrund Ihrer öffentlichen Äußerungen in die Rolle der Schuldigen gedrängt. ({8}) Mir fehlt das Verständnis für die von Ihnen jetzt beschlossenen Massentötungen. Ich frage mich: Wo bleibt die öffentliche Auswertung der Testergebnisse nach diesen Schlachtungen? Ich glaube, dass auch das Wort von den Agrarfabriken dazu beigetragen hat, Bäuerinnen und Bauern, gerade in den neuen Bundesländern, zu diskriminieren. Das ist ein Unwort gegen die Agrarunternehmen im Osten. ({9}) Das wissen Sie alles sehr wohl. Sie können es sich nicht aussuchen. Eine Botschaft erklärt sich nicht dadurch, dass der Absender sagt: „Ich habe es nicht so gewollt“; entscheidend ist vielmehr, wie es bei denen, in deren Richtung es gesagt wurde, angekommen ist. Auch die Logik „Klasse statt Masse“ ist keine Erklärung. Wir fordern deshalb die Einrichtung eines Hilfsfonds für von BSE betroffene Agrarunternehmen. Wir haben Ihnen das im Zusammenhang mit dem Haushalt 2001 vorgeschlagen. Wir fordern, dass es eine öffentliche Aufklärung über die Verantwortung der Futtermittelkonzerne gibt und dass bei Verstößen gegen gesetzliche Regelungen Sanktionen verhängt werden. ({10}) Wir brauchen eine Haftung der Verantwortlichen in der Futtermittelindustrie gegenüber den Verbraucherinnen und Verbrauchern, aber auch gegenüber den Bauern; denn die Bauern können es sich nicht aussuchen, ob sie Futtermittel zusetzen oder nicht. ({11}) Es muss Schluss sein mit dem Monopoly auf dem Lebensmittelmarkt. Die Wirtschaft darf der Gesellschaft nicht entzogen werden. Das darf die Gesellschaft nicht hinnehmen. Wenn die Wirtschaft das weiterhin versucht, dann muss die Gesellschaft das Grundgesetz anwenden. Ich zitiere jetzt aus Art. 15 des Grundgesetzes und nicht aus dem Parteiprogramm der PDS: Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung ... in Gemeineigentum ... überführt werden. ({12}) Auch das steht in unserem Grundgesetz. Alle Politik ist eine Frage der Balance. Die Verneigung vor dem Markt ist falsch. Nach meiner Auffassung braucht Rindfleisch zwar einen Markt, aber keinen Weltmarkt. Wir müssen zu regionalen Kreisläufen in der Nahrungsgüterwirtschaft zurückkehren. Ich sage noch einmal, Frau Ministerin: Sie können in vielen Einzelfragen auf uns zählen. Aber die Logik, mit der Sie an das Problem herangehen, ist für uns nicht zukunftsfähig. ({13}) Vergessen wir eines nicht: Wir brauchen die Natur, doch die Natur braucht uns nicht. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Till Backhaus, Minister für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten und Fischerei des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Till Backhaus, Minister ({0}): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich als Minister für Ernährung, Landwirtschaft, Forsten, Fischerei und für den Verbraucherschutz hier heute reden darf. Sehr geehrte Frau Bundesministerin, ich bin Ihnen dankbar für das, was Sie hier gesagt haben. Wir werden Sie konstruktiv begleiten, wir werden aber auch nicht unkritisch sein. Ich möchte am Anfang meiner Rede hervorheben, dass ich aus Mecklenburg-Vorpommern komme, einem Bundesland, in dem die Landwirtschaft, die Ernährungswirtschaft, die Forstwirtschaft und die Fischerei strukturbestimmende Faktoren darstellen. Im Zusammenhang mit der Diskussion um eine neue Agrarpolitik ist der heutige Tag für mich ein Gemisch aus Sorge, aber auch Gelassenheit; Sorge deshalb, weil bei der heutigen Richtungsentscheidung über die künftige deutsche Agrarpolitik - es sind einige neue Argumente angeführt worden, die ich inhaltlich voll unterstütze - die Besonderheiten der ostdeutschen Landwirtschaft angemessen berücksichtigt werden müssen. Ich bin Ihnen insbesondere dankbar dafür, Frau Ministerin, dass Sie nicht auf die Größendiskrepanz oder die unterschiedlichen Unternehmens- und Betriebsstrukturen abgestellt haben, sondern dass es in der Zukunft eine Chancengleichheit und Gerechtigkeit geben wird. Das ist für uns außerordentlich wichtig. ({1}) - Herr Carstensen, darauf komme ich noch. ({2}) Die Gelassenheit kommt daher - das will ich deutlich herausstellen -, dass die agrarstrukturellen Tatsachen in Mecklenburg-Vorpommern bereits die Basis für das sind, was wir in der Zukunft an Umstrukturierung erreichen wollen. Wir meinen, dass wir diesen Wandel bereits seit einiger Zeit eingeleitet haben. Wir im Nordosten lieben die Klarheit. Das hat den Vorteil, dass man einen klaren Blick hat. Im Übrigen weise ich ausdrücklich darauf hin - Sie wissen es alle -: Im Osten geht die Sonne auf. ({3}) - Ich habe mich mit Ihren Problemen in Bayern auseinander gesetzt. Ich komme zu dem Schluss, dass es ein Segen ist, dass wir im Norden diese Verhältnisse, insgesamt gesehen, nicht haben. ({4}) Wir leben nicht auf einer agrarpolitischen Insel der Glückseligen. Aus diesem Grunde wird uns das Wort „Wettbewerbsfähigkeit“ weiter begleiten, wenn wir uns mit der sozialen Marktwirtschaft auseinander setzen, uns zu ihr bekennen wollen und wenn wir uns in Europa nicht abschatten wollen. Bei der Neuausrichtung der Agrarpolitik muss in Deutschland die Gleichbehandlung der verschiedenen Betriebsformen auch in Bezug auf die Größe gewahrt bleiben. Ich betone in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass die regionalen Besonderheiten der unterschiedlich strukturierten Agrarregionen und der ländlichen Gebiete beachtet werden müssen. Wie stellt sich nun die Situation in MecklenburgVorpommern dar? Sie müssen wissen, dass wir in den letzten zehn Jahren eine Umstrukturierung der Landwirtschaft und der ländlichen Räume in Mecklenburg-Vorpommern eingeläutet haben, die einen enormen Strukturwandel mit sich brachte. Vor der Wiedervereinigung waren bei uns 190 000 Menschen in der Landwirtschaft und in den Veredlungsbereichen beschäftigt. Heute gibt dieser Bereich leider nur noch 24 000 Menschen Arbeit und Einkommen und stellt damit ihre zukünftige Lebensgrundlage dar. Ich bin der Bundesregierung wirklich dankbar, dass die Umsteuerung zugunsten der ländlichen Räume - darüber ist schon oft gesprochen worden - im Rahmen der Agenda 2000 schon erfolgt ist. Das haben wir in dieser Koalition zustande gebracht. ({5}) Ich sage aber auch, dass wir für die wettbewerbsfähigen Strukturen einen verdammt hohen Preis in Bezug auf die Arbeitsplätze zu zahlen hatten. Im Vergleich zu anderen Bereichen der Volkswirtschaft haben aus meiner Sicht die Agrarwirtschaft und die ländlichen Räume, aber auch die Veredlungswirtschaft zusammen mit der Ernährungswirtschaft den Übergang in die Marktwirtschaft am besten vollzogen. Die Agrarwirtschaft ist in unserem Lande nach wie vor einer der strukturbestimmenden Wirtschaftszweige. Das ist auch der Grund, warum ich hier bin. Diese Entwicklung war das Ergebnis unserer guten Rahmenbedingungen, ob es die saubere Luft, der saubere Boden, das saubere Wasser oder - das betone ich ausdrücklich - der Sachverstand der Landwirte in Mecklenburg-Vorpommern ist. Pauschal die Landwirte in Deutschland an den Pranger zu stellen, was nach meiner Kenntnis noch nicht geschehen ist, ist mit mir - ich bin selber Landwirt - nicht zu machen. ({6}) Im Übrigen weise ich ausdrücklich auf folgenden Punkt hin: Mehr als 3 000 landwirtschaftliche Unternehmen in unserem Bundesland haben Fördermöglichkeiten in Anspruch genommen. Dadurch wurden Investitionen von über 3 Milliarden DM ausgelöst. Es ist auch kein Geheimnis, wenn ich sage, dass unsere Betriebe größer strukturiert sind als Betriebe in anderen Agrarregionen. Genauer gesagt: In unserem Bundesland wirtschaften die Betriebe im Durchschnitt aller Unternehmensformen auf 272 Hektar. Angesichts der Tatsache, dass der Bundesdurchschnitt bei 39 Hektar liegt, wird deutlich, wo die Diskrepanzen zum Teil zu finden sind. Hinter dieser Größe steckt nicht nur die wirtschaftliche Stärke und damit die Möglichkeit des Broterwerbs für viele Familien, sondern auch eine Zukunftsperspektive. Ich will Ihnen gerne sagen, warum. Das Wort Verbraucherschutz - damit sind wir bei der BSE-Diskussion - hat in den letzten Wochen und Monaten eine wichtige neue Qualität erfahren, was gut so ist. Wir brauchen geschlossene Systeme und mehr Transparenz. Mecklenburg-Vorpommern wird als erstes Bundesland damit beginnen, komplette landwirtschaftliche Unternehmen zu zertifizieren. Das gibt es in der Bundesrepublik Deutschland bisher noch nicht. Wir fangen damit an und werden damit die gläserne Produktion vom Stall bis zur Theke einführen. ({7}) Genau das können die Landwirte in Mecklenburg-Vorpommern mit den vorhandenen Strukturprofilen leisten. Ich finde es gut, wenn die Bundesregierung einen runden Tisch einsetzen will. Im Osten haben wir Erfahrungen mit runden Tischen. Diese sind gut; aber man muss beachten, dass durch die runden Tische die Situation oftmals nicht unbedingt unkomplizierter wird. Ein weiteres Kennzeichen der Landwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern ist der außerordentlich geringe Viehbesatz. Frau Ministerin, ich stimme Ihnen zu, dass wir insgesamt in der Bundesrepublik Deutschland von dem überhöhten Tierbesatz herunter müssen. Aber ich sage auch: Mit 0,4 GV je Hektar in Mecklenburg-Vorpommern haben wir die Norm, die Sie anstreben, längst erfüllt. Deswegen dürfen in Mecklenburg-Vorpommern nicht weitere Bestände abgebaut oder die neuen Bundesländer zur veredlungsfreien Zone werden. Das müssen wir gemeinsam verhindern. ({8}) Zu dem, was Mecklenburg-Vorpommern erreicht hat, gehört auch, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland führend im ökologischen Landbau sind. ({9}) 8,6 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe arbeiten nach den ökologischen Kriterien. Ich betone: In Bayern sind es ganze 1,7 Prozent, in Nordrhein-Westfalen 0,7 Prozent. ({10}) Insofern stelle ich Ihnen die Frage: Wo gibt es denn da Nachholbedarf? Machen Sie das Mecklenburg-Vorpommern erst einmal nach! ({11}) Außerdem, Frau Ministerin, liegen wir im Bereich der Rinderproduktion bei der Mutterkuhhaltung mittlerweile bei 15 Prozent. Insofern werden vermutlich diejenigen, die aus der DDR stammen, demnächst anfangen, einen Gegenplan zu entwickeln. Vielleicht führt das ja auch zu mehr Motivation. ({12}) Aber auch der gute Wert in Mecklenburg-Vorpommern darf den Blick nicht verstellen, dass die überwiegende Anzahl der landwirtschaftlichen Unternehmen nach wie vor im konventionellen Bereich tätig ist. Gerade dort brauchen wir noch mehr Nachhaltigkeit. Wir haben vor anderthalb Jahren ein Agrarkonzept 2000 entwickelt und vorgelegt und damit den Dreiklang von Wettbewerbsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Multifunktionalität als den Weg Mecklenburg-Vorpommerns beschrieben. Ich glaube, unsere Agrarpolitik liegt in der Vision und in der Umsetzung sehr dicht beieinander. ({13}) Dass die Landwirte in Mecklenburg-Vorpommern für die Zukunft aufgeschlossen, modern und naturverbunden sind, können Sie sich täglich bei uns anschauen. Hier wurde viel investiert. Hier gibt es keine Verkrustungen, sondern es gibt zum Glück noch - das muss man immer Minister Till Backhaus ({14}) wieder anerkennen - Unternehmergeist, ja sogar Pioniergeist, die Aufgaben immer wieder neu anzugehen und gute Voraussetzungen für eine dynamische Entwicklung zu schaffen. ({15}) Es darf jedoch nicht passieren, dass die hohen Investitionen, die Aufbauarbeit sowie die zahlreichen Innovationen und deren Entwicklung durch kurzsichtige Entscheidungen ins Leere laufen. Im Klartext heißt das: Eine weitere Verringerung der Veredlungsproduktion darf in Mecklenburg-Vorpommern nicht stattfinden, denn damit würden die ländlichen Räume stark in Mitleidenschaft gezogen. Ich nehme zur Kenntnis, dass wir uns in dieser Frage einig sind. Selbstverständlich sind wir auch bereit, bei der Finanzierung - das ist hier angesprochen worden - und Bewältigung der BSE-Krise mitzuwirken. Ich betone dies ausdrücklich. Die Länder sind bereit, sich an den Kosten der BSE-Bewältigung zu beteiligen. ({16}) Sie machen das schon heute, zum Beispiel bei der Lebensmittelkontrolle, der Futtermittelkontrolle, der Tierkörperbeseitigung, den BSE-Tests und der Ausreichung von Liquiditätshilfen, bis hin in den Bereich der Forschungsleistungen, die die Länder erbracht haben. Insofern setze ich auf eine Kompromisslösung. Ich wünsche mir, dass wir jetzt sehr schnell zu handeln beginnen. Auch ich sehe es so, dass insbesondere die tiermehlhaltigen Futtermittel schnell von den Höfen herunter müssen. Wir müssen hier umgehend handeln. ({17}) Dazu gehört für mich in gleicher Weise, dass wir die Produkthaftung in Richtung der Futtermittelindustrie ausdehnen müssen. Ebenso brauchen wir geschlossene Systeme der Nachhaltigkeit und der Multifunktionalität sowie eine solide Basis in dieser Richtung. Ein Wort zu Modulation und „cross compliance“. Diese Mechanismen sind nicht die von uns bevorzugte Variante. Das habe ich in den Agendadebatten immer wieder zum Ausdruck gebracht. Aber wir werden uns dieser Entwicklung nicht verschließen können und werden uns auch nicht verschließen. Besonders der Verknüpfung von Flächenausgleichszahlungen mit Umweltauflagen stehen wir aufgeschlossen gegenüber, wenn diese Auflagen nicht an die Betriebsgröße gekoppelt werden und wenn sie innerhalb der Bundesländer einheitlich festgelegt werden. Zur Modulation. Ich bin Realist genug, um zu erkennen, dass wir an diesem Thema in der Zukunft nicht vorbeikommen werden. Entscheidend ist also für uns die gemeinsame Ausgestaltung. Dabei sollte besonderer Wert auf folgende Punkte gelegt werden: Erstens muss Leistung sich auch in der Landwirtschaft und für die ländlichen Räume lohnen, wobei man in der Tat darüber diskutieren muss, was man überhaupt unter Leistung versteht. Da müssen Kriterien entwickelt werden. Zweitens dürfen Betriebe nicht wegen ihrer Größe benachteiligt werden, wenn sie Qualitätslebensmittel - ich betone: Mittel zum Leben - produzieren. ({18}) Drittens müssen wir die bei der Anwendung der Modulation frei werdenden Mittel innerhalb der Länder weiterverwenden dürfen. Es darf uns nicht passieren, dass wir Mittel in Richtung Süden ablaufen lassen und damit der Osten zur veredelungsfreien Zone wird. Das verstehen wir unter regionaler Gerechtigkeit. ({19}) Abschließend noch eine Bitte. Das BSE-Maßnahmengesetz wird dieses Haus in den nächsten Tagen intensiv beschäftigen. Viele Menschen stellen die ethisch berechtigte Frage nach dem Sinn einer Tötung von Gesamtbeständen. Ich bitte Sie, hier umgehend klare gesetzliche Grundlagen zu schaffen. Das derzeit praktizierte Verfahren ist nach meiner Auffassung fachlich nicht ausreichend begründbar und im Moment nur deshalb nicht zu vermeiden, weil die nachfolgenden Wirtschaftsbereiche keine Tiere oder auch Produkte aus BSE-Beständen nachfragen. Hier müssen wir gemeinsam mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern vorankommen. Wir dürfen uns die Wege nicht verbauen. Noch ein Wort an Frau Merkel. Sie kommen aus dem schönsten Bundesland der Bundesrepublik Deutschland, aus dem ja auch ich komme. Sie sind dort Parteivorsitzende gewesen. Ich habe die Entwicklung sehr genau miterlebt. Haben Sie nicht als dortige CDU-Vorsitzende dafür geworben, in Mecklenburg-Vorpommern industriemäßige Anlagen mit bis zu 20 000 Schweinen zu installieren? ({20}) Genau das verstehen wir unter den industriemäßigen Anlagen, die der Bundeskanzler angesprochen hat. Diskriminieren Sie nicht die Landwirte, die flächendeckende landwirtschaftliche Urproduktion betreiben! Unter flächendeckender Landwirtschaft verstehen wir und auch das neue Papier des Bundeskanzleramtes eine Produktionsweise, bei der der Tierbesatz an die Fläche gebunden ist. ({21}) In der Vergangenheit haben Sie von der CDU sogar schwarze Listen von Gemeinden entwickelt, die nicht bereit waren, solche Investitionen aufzunehmen, und diese von Programmen zur Dorferneuerung und Dorfentwicklung ausgeschlossen. Das war der Geist der CDU. ({22}) Minister Till Backhaus ({23}) Aber Sie haben sich gewandelt; das will ich Ihnen zugestehen. Vielen Dank. ({24})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dietrich Austermann, CDU/CSU-Fraktion.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Der Kollege Struck hat vorhin in seinem kurzen Debattenbeitrag die Behauptung aufgestellt, unsere Rednerin Frau Dr. Merkel habe unzutreffend über die Beschlussfassung des Haushaltsausschusses gestern berichtet. Ich stelle dazu Folgendes fest: Es hat gestern im Haushaltsausschuss eine Drucksache der Bundesregierung vorgelegen, Datum: 5. Februar 2001. In dieser Drucksache wird über die Gegenfinanzierung außerplanmäßiger Ausgaben berichtet. Es heißt dort: Zur Vermeidung einer weiteren Belastung der Haushaltseckwerte wird auf eine weitere Steuersenkung für Agrardiesel verzichtet. ({0}) Hier wird von einer Entscheidung Abstand genommen, die den Bauern versprochen war, von einer Entscheidung, die die Grundlage für die Beschlussfassung zur Entfernungspauschale im Bundesrat war, von einer Entscheidung, die seit längerer Zeit fällig ist, weil die Bauern durch Agrardiesel in besonderem Maße belastet sind. Der zuständige Staatssekretär aus dem Finanzministerium hat dies erläutert und dabei deutlich gemacht, dass dies 200 Millionen DM bedeutet. ({1}) Das heißt, die Bauern sollen auf der einen Seite 200 Millionen DM finanzieren, damit auf der anderen Seite BSESchäden beseitigt werden. Dies ist ein Vertrauensbruch und ein Verstoß gegen die Haushaltsregeln. Dass der Herr Kollege Struck die Unwahrheit gesagt hat, dürfte damit offenkundig sein. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Bedauerlicherweise konnte diese Kurzintervention nicht unmittelbar auf die Rede des Kollegen Struck folgen, sodass jetzt die missliche Situation entstanden ist, dass der Kollege Struck nicht antworten kann. ({0}) Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinrich-Wilhelm Ronsöhr.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetzt wird gewendet, was schon einmal gewendet war. ({0}) - Ja, Ulrike, ich sage dir jetzt, was zum Beispiel im Verbraucherschutz gewendet wird. Frau Künast hat angekündigt - ich finde die Ankündigung gut -: Lebensmittel und Futtermittel sollen rückstandsfrei sein. Vor einem halben Jahr haben wir den Lebensmittelbericht 2000 dieser Bundesregierung zur Kenntnis genommen, in dem steht: Futtermittel und Lebensmittel sind rückstandsfrei. ({1}) - Das steht da drin. Ich kann den Bericht jedem vorlegen, ich habe ihn gelesen und offenbar nicht so ein Kurzzeitgedächtnis wie manch anderer hier im Hause. Ich finde, dass der Bericht den Futtermitteln ein falsches Testat ausgestellt hat. Wenn wir eine Konsequenz aus der BSE-Krise für den Verbraucherschutz ziehen - auch die Landwirte sind Verbraucher, sie verbrauchen beispielsweise Futtermittel, die in die Lebensmittelproduktion einfließen -, dann sollten wir gemeinsam eine Grundbedingung aufnehmen: Verbraucherschutz hat immer unbequem zu sein und darf nie in Routine einmünden. Er ist aber in Routineaussagen eingemündet. Ich glaube daher, dass wir daraus gemeinsame Rückschlüsse ziehen müssen. Ich finde, dass Frau Merkel hier zu Recht angesprochen hat - ich wundere mich, dass keine weitere Rednerin oder kein weiterer Redner darauf eingegangen ist -, dass es ein Produkthaftungsrecht geben muss. Das ist etwas, was wir jetzt unbedingt in den Verbraucherschutz integrieren müssen. Das ist ungemein wichtig; ({2}) denn wenn es ein Fehlverhalten Einzelner gab, dann müssen diejenigen, die sich fehlverhalten haben, durch ein Produkthaftungsrecht auch in Haftung genommen werden können. Das ist eine weitere Konsequenz, die wir aus der BSE-Krise zu ziehen haben. ({3}) Nun wird nicht nur der Verbraucherschutz gewendet, die Bundesregierung wendet auch die Agrarpolitik. Manches, was hier genannt worden ist, kann ich für die CDU/CSU-Fraktion nachvollziehen. Herr Backhaus, es geht nicht um eine Agrarindustrie, aber es gibt eine agrargewerbliche Produktion, die keine Flächenbindung hat. ({4}) Minister Till Backhaus ({5}) Dazu möchte ich Ihnen etwas sagen: Im letzten Jahr ist die agrargewerbliche Produktion gegenüber der bäuerlichen Landwirtschaft durch die rot-grüne Koalition steuerlich sehr viel günstiger gestellt worden. ({6}) Frau Künast, ich fordere Sie auf, die Besserstellung der flächenunabhängigen agrargewerblichen Produktion in der Bundesrepublik Deutschland rückgängig zu machen und die bäuerliche Landwirtschaft mit der agrargewerblichen Produktion wenigstens gleichzustellen. ({7}) Auch bei der Ökosteuer - ich meine nicht den Agrardiesel oder die Mineralölsteuer, ich meine die Ökosteuer, soweit sie sich auf Strom und Gas bezieht - ist zumindest die größere Produktion, auch die agrarbewerbliche Produktion, gegenüber den bäuerlichen Betrieben einseitig begünstigt worden. Stellen wir das in der Agrarpolitik wieder richtig! Damit leisten wir für die Landwirte in diesem Land eine verdienstvolle Arbeit. ({8}) Wenn uns das gemeinsam gelingen würde, wäre das doch schon etwas. Es geht aber weiter: Jetzt wurde angekündigt, man wolle unbedingt Agrarumweltmaßnahmen fördern. Ich finde das interessant. Ich habe Herrn Funke einmal danach gefragt, warum er in seinem Bundesland weniger Agrarumweltprogramme gefördert hat, als das beispielsweise in Sachsen, Bayern, Thüringen oder BadenWürttemberg der Fall war. Da hat er mir gesagt, in Niedersachsen gebe es nicht so viele erhaltenswerte Landschaftsteile. Aufseiten der Koalitionsfraktionen führte das auch noch zu einem Gelächter. Wir sollten ein solches Verhalten aufgeben und uns auf den Level einiger Bundesländer einpendeln, die meist unionsregiert waren, wobei manchmal die F.D.P. mit an der Regierung beteiligt war. Wenn das geschehen würde, wäre ich sehr dankbar. Jetzt wird geäußert, man wolle die alternative Produktion bzw. die Ökobetriebe besonders fördern. Herr Backhaus, Sie haben dazu etwas gesagt, was ich gut fand. Im Übrigen war Ihre Rede sehr viel sachgerechter als manche Rede, die hier heute Morgen schon gehalten worden ist. ({9}) Nur, ich habe den Eindruck, Sie befinden sich da ein Stück weit in innerer Opposition zur Bundesregierung. Das wird jetzt manchmal deutlich. Im Hinblick auf die Förderung von Ökobetrieben wurde in Mecklenburg-Vorpommern Gutes geleistet. Ich glaube allerdings, daran waren wir beteiligt. ({10}) - Das ist so. Man kann doch nachvollziehen, wann die entsprechenden Zahlen entstanden sind. - Ausdrücklich will ich hier auch das früher allein von der SPD regierte Brandenburg loben. Aber betrachten wir einmal die Situation in den westdeutschen Bundesländern - dies ist schon von Herrn Backhaus angesprochen worden, obwohl ich die im Hinblick auf Nordrhein-Westfalen genannte Zahl nach oben korrigieren muss -: In Nordrhein-Westfalen wird 1,4 Prozent der Landesfläche durch Ökobetriebe bewirtschaftet, in Baden-Württemberg fast 5 Prozent. ({11}) Wenn man jetzt die Ökoproduktion auf 10 Prozent der Landesfläche ausweiten will, dann muss man in BadenWürttemberg die Ökoproduktion nur verdoppeln. Bei Frau Höhn muss man sie versiebenfachen. Jetzt komme ich auf Trittin und Schröder zu sprechen - die haben ja einmal in Niedersachsen regiert -: ({12}) In Niedersachsen ist 0,9 Prozent der Landesfläche durch Ökobetriebe bewirtschaftet. ({13}) Das heißt, wenn man eine Ökoproduktion auf 10 Prozent der Landesfläche erzielen will, dann muss dort verelffacht werden. Hier wird immer wieder das Gegenteil von dem verkündet, was man zuvor gesagt hat. Herr Backhaus, an dieser Stelle hat mir Ihre Rede gefallen. Sie haben gesagt, die Landwirte müssten ihr investives Verhalten auf bestimmte agrarpolitische Rahmenbedingungen einstellen können. Aber angesichts der ständigen Wendungen in der Politik können die das doch gar nicht, und zwar weder die alternativ ausgerichtete Landwirtschaft noch die konventionell ausgerichtete Landwirtschaft. Ich habe den Eindruck, dass es einigen im Grunde genommen gar nicht darum geht, die alternativ ausgerichtete Landwirtschaft besonders zu fördern. Vielmehr geht es darum, die konventionelle Landwirtschaft auf die Anklagebank zu bringen. Etwas anderes will man häufig gar nicht. ({14}) Meine Damen und Herren, ich mache dafür nicht die jetzige Koalition verantwortlich, obwohl sie sich ja immer wieder in die Verantwortung für das Marktgeschehen hineingeredet hat. Wir sollten uns einmal anschauen, wie sich in den letzten Wochen die Märkte in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt haben - zu dieser Entwicklung haben einige Redereien beigetragen; ich will gar nicht das Wort „Eierkocher“, das Frau Künast im Zusammenhang mit der Viehhaltung verwendet hat, kritisieren; denn ich glaube, dass sie das nicht wiederholen wird -: Immer mehr Fleisch kommt zurzeit aus dem Ausland auf den hiesigen Markt. Ich frage mich, wieso für dieses Fleisch nicht die qualitativ gleichen Bestimmungen gelten wie für die deutsche Fleischproduktion. ({15}) Wir haben noch immer nicht europaweit die Verwendung von Separatorenfleisch verboten. Wenn aufgrund des Verbraucherschutzes dieses in Deutschland bestehende Verbot richtig ist - ich habe keinen Zweifel daran, dass wir übereinstimmend der Auffassung sind, dieses Verbot müsse sein -, dann muss es aber auch für Importware gelten. Es kann ja nicht zweierlei Maß geben. Angesichts dessen, dass immer mehr Fleisch aus dem Ausland zu uns kommt, müssen wir darüber nachdenken, ob wirklich eine Produktionsverlagerung das richtige Mittel ist und ob es nicht sehr viel mehr auf eine höhere Lebensmittelsicherheit ankommt. Dies gilt es als eine der entscheidenden Voraussetzungen sowohl für einen offensiven Verbraucherschutz wie auch für ein offensives Eintreten für eine Landwirtschaft in Deutschland und für den ländlichen Raum zu begreifen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass wir manchmal im Grunde genommen an der eigenen Thematik vorbeireden. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Struck das Wort, damit er die Kurzintervention des Kollegen Dietrich Austermann beantworten kann. ({0})

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kollege Austermann. Ich hatte einen dringenden anderen Termin; deshalb konnte ich Ihre Kurzintervention nicht verfolgen. Ich will noch einmal politisch Folgendes klarstellen: Die Bundesregierung hat offenbar die Absicht, die Kosten, die durch BSE entstanden sind, unter anderem auch dadurch aufzufangen, dass die beabsichtigte Senkung bei der Steuer für den Agrardiesel in der Größenordnung von 200 Millionen DM nicht vorgenommen wird und dadurch ein Teil der Kosten gedeckt wird. ({0}) - Moment, langsam. Immer schön ruhig. Frau Merkel hat gesagt, der Haushaltsausschuss habe das beschlossen. Ich habe dargestellt - nachdem mir die Kollegen aus dem Haushaltsausschuss über die Sitzung berichtet haben -: Der Haushaltsausschuss hat diese Absicht der Bundesregierung zur Kenntnis genommen. ({1}) - Immer ruhig. Selbst wenn es so sein sollte, dass eine solche Kenntnisnahme, wenn nicht etwas anderes passiert, rechtliche Wirkungen entfaltet - ({2}) - Moment. Dazu komme ich noch. ({3}) - Interessiert es Sie nun, was wir machen wollen, oder interessiert es Sie nicht? Dann bringen Sie doch einmal Ihre Leute ein wenig zur Ruhe, Herr Kollege Glos. Selbst wenn das die Absicht der Bundesregierung sein sollte - ich wiederhole das, was ich vorhin vom Rednerpult gesagt habe -: Es gibt eine Erklärung der beiden Koalitionsfraktionen im Zusammenhang mit der Regelung bei der Entfernungspauschale; es gibt eine Erklärung des Bundesfinanzministers gegenüber dem Bundesrat; es haben sich SPD-Ministerpräsidenten für die Senkung der Belastung beim Agrardiesel ausgesprochen. ({4}) Die Koalitionsfraktionen werden zusammen mit der Bundesregierung eine Entscheidung darüber treffen. ({5}) Ich sage Ihnen: Ich werde mich in meiner Fraktion dafür einsetzen, dass es zu dieser Senkung der Belastung beim Agrardiesel kommt, weil ich glaube, dass wir hier in einer besonderen Verantwortung stehen. ({6}) Ich will überhaupt nicht verschweigen, dass ich auch Verständnis für die Sorgen und Nöte des Bundesfinanzministers habe. ({7}) Allerdings will ich hier schon klar Position beziehen: Die Senkung der Belastung beim Agrardiesel haben wir im Zusammenhang mit der Diskussion bei der Ökosteuer beschlossen und wir werden das, jedenfalls wenn es nach mir geht, auch umsetzen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der BSE-Skandal hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Aber das ist exemplarisch für Defizite im Bereich des Verbraucherschutzes. Bei den Lebensmitteln, aber auch in vielen anderen Bereichen gibt es Probleme mit Intransparenz, mit mangelnder Verbraucherinformation, mit mangelndem Verbraucherschutz, sei es der Handel mit Aktien, die Altersvorsorge, die Telekommunikation, sei es die Strahlenbelastung durch Handys. Der globale Markt und der Binnenmarkt in der EU stellen erhöhte und neue Anforderungen an den Verbraucherschutz, qualitativ ebenso wie quantitativ. Die an die Politik gerichtete Anforderung heißt: Vorsorge als wichtigstes Prinzip verankern. Das ist auch aus ökonomischen Gründen sinnvoll. Nehmen Sie einmal das Beispiel Asbest. Asbest wurde schon 1936 als gesundheitsschädigend erkannt und es dauerte 60 Jahre, bis es vom Markt genommen wurde. Die Folgekosten seitdem betragen 10 Milliarden DM. Die Folgekosten bei BSE werden sicher viel höher sein. Die Bundesregierung hat sich entschlossen, hier zu handeln. Vorsorge als wichtigstes Prinzip zu verankern heißt, in diesen Bereichen auch neue Strukturen zu schaffen. Das ist mit dem Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft unter der Leitung von Ministerin Renate Künast geschehen, die für eine solche Entwicklung steht. Damit ist ein großer, qualitativ neuer Schritt zur Verankerung des Verbraucherschutzes gemacht worden. ({0}) - Ruhe! ({1}) Wir werden auch weiterhin solche Schritte unternehmen, und zwar nicht nur in Form der Umwandlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in einen Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft. Vielmehr zeigt der Antrag der Koalitionsfraktionen mit dem Titel „Offensive für den Verbraucherschutz - Perspektiven für die Landwirtschaft“, der Ihnen heute vorliegt, dass diese Neuorientierung in der Gesellschaft, aber auch unter den Abgeordneten und in den Fraktionen auf breiter Ebene getragen wird. Der Wandel zu einer modernen Gesellschaft im Bereich Agrarpolitik soll hiermit verankert und vorangetrieben werden. Wir folgen damit einem Modell, das auch Vertreter des Kanzleramts in die Öffentlichkeit getragen haben, nämlich dem Modell der Marktspaltung. Das Modell hat drei Säulen: gewerbliche Produktion, multifunktionelle Produktion und ökologische Produktion. Die Entwicklung einer solchen Marktspaltung im Bereich der Produktion gibt es schon seit längerem, aber wir werden sie mit Blick auf die multifunktionelle und die ökologische Produktion weiter vorantreiben. ({2}) Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben sich zum Ziel gesetzt, Lebensmittelsicherheit wieder herzustellen und das Vertrauen der Verbraucher wieder zu gewinnen, Landwirtschaftsbetrieben und Lebensmittelwirtschaft bezüglich Arbeitsplätzen und Einkommen wieder Perspektiven zu bieten, die Verschwendung von Steuermitteln für falsche Agrarpolitik zu beenden und Folgekosten im Gesundheitswesen und in der Volkswirtschaft für Umweltreparaturmaßnahmen zu vermeiden. Diese Ziele werden mit folgenden vier Schwerpunkten umgesetzt: Verbraucherschutz und Transparenz, Förderung umwelt- und tiergerechter Landwirtschaft im konventionellen Bereich, Förderung von ökologischer Produktion und neue Perspektiven für die Landwirtschaft im Bereich neue Dienstleistungen, zum Beispiel erneuerbare Energien. ({3}) Zum ersten Schwerpunkt, Verbraucherschutz und Transparenz, möchte ich noch einmal hervorheben - das ist eine wichtige Aussage auch im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit künftiger qualitativ hochwertiger Produkte - : Wir möchten Qualitätszeichen verankern, um die Orientierung der Verbraucher zu erleichtern, und zwar sowohl im Bereich der ökologischen Produktion als auch im Bereich der konventionellen Produktion. Den Verbrauchern muss ermöglicht werden, zu identifizieren, was unter hohen Standards erzeugt worden ist, und auch über den Verbraucherpreis die Mehrleistungen, die damit verbunden sind - kostenintensivere Produktion durch mehr Artgerechtigkeit; mehr Platz in den Ställen, wie Frau Künast sagt -, zu honorieren. Dies gilt auch für eine Verteuerung, indem man auf bestimmte Rationalisierungsmaßnahmen wie das Verfüttern von Tiermehl oder das Verabreichen antibiotischer Leistungsförderer in einem positiven Sinne zum Wohle der Gesundheit der Verbraucher verzichtet. ({4}) Verbraucherschutz und Transparenz haben natürlich auch viel mit den BSE-Schutzmaßnahmen zu tun, die in unserem Antrag ausführlich beschrieben sind, über den wir heute auch beraten. Für uns sind in den letzten Wochen und Monaten natürlich zwei Bereiche in der Diskussion gewesen. Frau Ministerin Künast hat sehr viel Mut bewiesen und sich in dieser sehr kontroversen und emotionalisierten Debatte durch eine pragmatische Herangehensweise behauptet und diesen Vorsorgegedanken verankert. Ich glaube, dieser Vorsorgegedanke muss im Bundestag insgesamt verankert werden. Man kann nicht durch ständig neue Vorschläge und unterschiedliche Vorgehensweisen - auch in einzelnen Ländern, Herr Backhaus - die Menschen weiter verunsichern. Wir müssen uns zunächst einmal an den Erkenntnissen orientieren, die wir im Moment haben. Das heißt für uns - so steht es auch in unserem Antrag -, dass wir zunächst einmal die Herdenschlachtung betreiben müssen. Hier wird immer auf die Schweiz mit dem Kohortenmodell verwiesen. Dazu muss man ehrlicherweise sagen, dass die Schweiz schon seit zehn Jahren eine solche BSEBekämpfung betreibt. Fast vier Jahre lang hat sie ganze Herden geschlachtet. Wenn wir dahin kommen, können wir auch darüber reden; ebenso - das hoffe ich -, wenn wir zu neuen Erkenntnissen kommen, beispielsweise im Bereich der Lebendtests. Das Zweite ist das Marktentlastungsprogramm. Wir haben keine Alternativen. Es ist jedem freigestellt, jedem Bundesland, auch Bayern, andere Vermarktungsmöglichkeiten für die Rinder und die Milchkühe, die älter als 30 Monate sind, zu suchen und wahrzunehmen. Es ist den Verbrauchern, es ist den Gruppen freigestellt, die sich engagieren möchten, das zu tun. Es ist selbstverständlich auch möglich, in die Dritte Welt zu exportieren. Es findet sich dafür bloß keiner, wie Herr Schlauch schon gesagt hat, und das werden wir auf keinen Fall unterstützen. Aber alle diese Möglichkeiten haben sich bisher nicht gezeigt. Insofern gibt es nur diesen einen Weg. Das ist für den Tierschutz und für die ethische Betrachtung wichtig: Wir werden dafür sorgen, dass sich eine solche Entwicklung nicht wiederholt, indem wir die artgerechte Tierhaltung in Zukunft massiv unterstützen und eine Entwicklung dieser Art nicht mehr zulassen. ({5}) Die Altlastenverwaltung ist einfach nötig, ebenso eine umwelt- und tiergerechte Produktion im konventionellen Bereich. Es ist eine Qualitätskennzeichnung notwendig, um auch im konventionellen Bereich eine neue Wertschätzung und Wertschöpfung dieser Produkte zu ermöglichen. Es ist aber auch wichtig, die Förderung im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit anders zu gestalten. Bisher erhalten industrialisierte und gewerbliche Formen nahezu die gleiche Unterstützung. Wir möchten darauf hinwirken, dass die artgerecht und umweltgerecht ausgerichtete, aber auch die arbeitsplatzorientierte Produktion neue Chancen erhält. Ich habe mich über Ihre Ausführungen, Herr Backhaus, zur Modulation und zu den Möglichkeiten, die wir im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe im Bereich der Agenda 2000 haben, gefreut. Zur Agenda 2000 noch eine kurze Anmerkung: Frau Merkel hat hier ein Scheitern festgestellt und dabei BSE und die Milchquote miteinander in Verbindung gebracht. Aber mit Verlaub: Wir hatten bislang kein Problem mit der Milcherzeugung in diesem Land, wir hatten auch kein Problem beim Fleischabsatz. Insofern hat das eine mit dem anderen weiß Gott nichts zu tun. Wir haben durchaus sehr positive Entwicklungen im Bereich der Agenda 2000 zu verzeichnen. Eine Weiterentwicklung ist in diesem Fall auch nur konsequent und wird von der EU- und der WTOEbene abgestützt. ({6}) Zur ökologischen Produktion: Wir haben uns vorgenommen, in zehn Jahren 20 Prozent der Agrarprodukte ökologisch zu erzeugen. Hier möchte ich noch einmal auf das von Frau Merkel und Herrn Ronsöhr Gesagte eingehen. Sie haben wieder einmal eine absolute Ideologisierung betrieben. Man muss sich doch an den Kopf fassen angesichts der Tatsache, dass ökologische Produkte in Deutschland bislang keine Marktchance hatten - im Gegensatz zu Österreich, zu Dänemark, zu Italien oder der Schweiz. ({7}) Sie haben die Entwicklung der ökologischen Produktion massiv verschlafen und verhindert. Das hat im Übrigen zum Teil auch der Deutsche Bauernverband getan, bis er sich ein Stück weit revidiert hat.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Höfken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, wenn ich diesen Satz beendet habe. Die Nachfrage wird zu 50 Prozent aus dem Ausland gedeckt. Es ist keinesfalls so, dass die Betriebe in die Enge getrieben würden. Notwendig ist, die Logistikstrukturen zu verbessern, den Absatz zu unterstützen, eine Imagekampagne zu fahren und Verbraucherinformation zu betreiben. Dann haben diese Produkte eine sehr große Chance auf dem Markt, im Übrigen auch zugunsten der konventionellen Produktion, die ja bestehen bleibt. Herr Ronsöhr.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Höfken, würden Sie anerkennen, dass ich mich nicht gegen den ökologischen Landbau ausgesprochen, sondern lediglich festgestellt habe, dass in Baden-Württemberg der ökologische Landbau offensichtlich auf dem Markt und auch bei der Politik eine andere Akzeptanz gefunden hat als in Nordrhein-Westfalen, ({0}) obwohl die Regierung von Nordrhein-Westfalen immer etwas anderes sagt? Ich glaube, dass Herr Minister Backhaus für das Land Mecklenburg-Vorpommern eine ähnliche Erklärung abgegeben hat.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir sehen den Wandel der CDU/CSU mit Freuden und warten darauf, dass sich dieser auch in entsprechende Taten umsetzt. ({0}) Es ist die Aufgabe des Bundes, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Länder in die Lage versetzt werden, eine solche Strategie mitzumachen. Das werden wir tun. ({1}) Wir haben - das ist schon angesprochen worden - ein Finanzierungsproblem. Der Bund leistet einen großen Beitrag, indem er knapp 1 Milliarde DM zur Unterstützung der unmittelbaren BSE-Bekämpfung und der Folgekosten zur Verfügung stellen wird. Das ist etwas, das man würdigen muss. Ich spreche hier als Abgeordnete und möchte dem Hause insgesamt ein Problem aufzeigen, das mich beunruhigt. Ich möchte aus unserem Antrag zitieren, der Ihnen vorliegt: Der Einsatz von Mitteln zur akuten Krisenbewältigung darf nicht zulasten der Förderung der Neuausrichtung der landwirtschaftlichen Betriebe gehen. Das ist ein wichtiger Ansatz. Selbstverständlich verstehen wir die Situation der Haushälter. Jeder Finanzminister muss klebrige Finger haben. Aber es ist unser Wunsch und es besteht auch die Notwendigkeit, dass die Finanzierung noch einmal überprüft wird und vielleicht neue Möglichkeiten geschaffen werden. Die Betriebe, die tatsächlich in Schwierigkeiten sind, sollten eine Unterstützung erhalten. Ich habe niemals von einer Steuer geredet. Das haben andere in vielleicht eindeutiger Absicht getan. Aber es ist notwendig, sich darüber Gedanken zu machen, wie der Finanzierungsstau aufzulösen ist, der sich gerade bei den Milchviehbetrieben ergibt. Die Betriebe haben Mehrkosten durch die Tests und das Futter. Hinzu kommen die Kosten für die Tierkörperbeseitigung. Inzwischen muss man für 1 Kilo Knochen 80 Pfennige bezahlen. Die Betriebe haben die Kosten für die Folgen von BSE zu tragen. Sie haben keinerlei Absatz mehr. Der Kilopreis ist um mehr als 50 Prozent gesunken. Ich nenne Ihnen die Zahlen in dieser Ausführlichkeit, um deutlich zu machen: Es gibt für die Betriebe keine Möglichkeit, diese Kosten zu verlagern. Ein Drittel ihres Einkommens ist in Gefahr. Wenn wir nicht helfen, werden sie nicht überleben. Mein Kollege Reinhard Schultz von der SPD-Fraktion sagte: Wenn wir möchten, dass landwirtschaftliche Betriebe mit artgerechter Rindviehhaltung, die gute Produkte erzeugen, die Agrarwende überstehen, stehen wir vor großen Herausforderungen. Ich hoffe, dass auch Sie sich, werte Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P., dieser Aufgabe stellen. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Marita Sehn von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grüne Woche hat es auf eindrucksvolle Weise belegt: Die Versorgung mit hochwertigen Nahrungsmitteln ist in Deutschland eine Selbstverständlichkeit geworden. Ich möchte Sie daran erinnern: Die Intensivierung in der Landwirtschaft entstand aus dem gesellschaftlichen Auftrag heraus, Nahrungsmittel in ausgezeichneter Qualität, in ausreichendem Maße und zu vernünftigen, verbraucherfreundlichen Preisen zu erzeugen. ({0}) Unsere Bäuerinnen und Bauern haben diesen Auftrag in hervorragender Weise erfüllt. Dafür ist ihnen die Gesellschaft zu Dank verpflichtet. ({1}) Es war die konventionelle Landwirtschaft, die dafür gesorgt hat, dass meine Generation keinen Hunger mehr leiden musste. ({2}) Auch wenn es nicht in das Denkschema der Regierung passt: Dass sich ökologisch erzeugte Produkte nicht am Markt durchsetzen konnten, ist nicht auf die Unsensibilität der Verbraucher in Bezug auf ökologische Sachverhalte zurückzuführen. Es liegt unter anderem an der hervorragenden Qualität der konventionell erzeugten Nahrungsmittel. ({3}) Der Verbraucherschutz ist als Vehikel für agrarpolitische Ideologien ungeeignet. Wir Liberalen wollen den mündigen, informierten Bürger und nicht den bevormundeten Bürger. Frau Ministerin, dazu gehört auch ({4}) - das ist leider so -, dass in der BSE-Debatte nicht nur die Zahl der positiv getesteten Tiere, sondern auch die der insgesamt durchgeführten Tests genannt wird. Die Bauernversammlungen in Bitburg, in Bad Kreuznach, aber auch in anderen Orten in Deutschland vermitteln das gleiche Bild. ({5}) - Das ist bei dieser Regierung leider so. - Die Landwirte fühlen sich an den Pranger gestellt, diffamiert und von der Bundespolitik im Stich gelassen. Während der Bundeskanzler auf seiner Reise durch Rheinland-Pfalz die Landwirte beleidigt und verunglimpft, hat das F.D.P.-geführte Ministerium in Mainz schnell und unbürokratisch reagiert. ({6}) Ich möchte hier, liebe Frau Höfken, nur auf die Übernahme der Kosten für die BSE-Schnelltests und die zusätzlichen finanziellen Mittel für die Verbraucherzentralen hinweisen. Mir fehlt in der Bundesregierung die Sensibilität, die Situation auch aus Sicht der betroffenen Betriebe zu sehen, die sich schutzlos einer Vorverurteilung ausgesetzt sehen. Deshalb fordere ich, dass die Anonymität der Betriebe gewahrt bleibt. ({7}) Herr Berninger, die Auskunft, die Sie gestern im Ausschuss gegeben haben, dass eine Anonymisierung der Betriebe aufgrund der Medienhysterie nicht durchführbar sei, ist mehr als unbefriedigend. ({8}) Ich fordere Sie auf, sich nicht der Medien als Vorwand für Ihre Tatenlosigkeit zu bedienen. ({9}) Meine Damen und Herren, ich muss mich schon sehr wundern, was den Verbrauchern in den letzten Wochen so alles zum Verzehr angeboten worden ist: von der Klapperschlange bis zum Straußensteak. Mich stimmt das alles sehr nachdenklich und ich halte dies für nicht mehr normal. ({10}) Sehr geehrte Frau Ministerin, bevor Sie von einer Neuausrichtung der Agrarpolitik reden, sollten Sie erst einmal die „alte“ Agrarpolitik kennen. Als Einstiegslektüre empfehle ich Ihnen die Abschiedsrede vom 18. Juni 1998 meines Kollegen Günther Bredehorn, des ehemaligen agrarpolitischen Sprechers der F.D.P.-Bundestagsfraktion vor diesem Haus. Viele Gedanken, die Sie heute als neu deklarieren, werden Sie dort wiederfinden. Sie sind nicht neu. Es ist die Aufgabe der Politik, also unsere, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass Landwirtschaft in Deutschland auch weiterhin eine Zukunft hat. Diese Regierung hat bisher das Gegenteil getan. Die Landwirte brauchen uns, aber wir brauchen auch die Landwirte. Danke. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Kersten Naumann von der PDS-Fraktion das Wort.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin Künast hat uns nun ihr Wunschprogramm vorgestellt. Doch Tatsache ist, dass Fleischberge wachsen, Fleischpreise sinken, Landwirte und Verbraucher nach wie vor verunsichert sind. Tatsache ist ferner, dass betroffene Landwirte in den Ruin getrieben werden, aber ein BSE-Folgekostenkonzept immer noch aussteht und das bisher geplante wie ein Konzept aus dem Tollhaus anmutet. Tatsache ist auch, dass die Schuldigen aus der Futtermittelbranche nach wie vor nicht benannt und zur Verantwortung gezogen werden. ({0}) In Europa gibt es schon seit fast zwei Jahrzehnten Erfahrungen mit BSE. Die Erfahrungen in der Schweiz, wo seit 1990 vorsorgend an BSE gearbeitet wird, besagen, dass ein wirklich durchdachtes zucht- und veterinärhygienisches Programm in Zusammenhang mit einem Hilfsprogramm für die Betroffenen diese dann auch zur Mitwirkung motiviert. Ich denke hierbei an die Zusicherung von Milchgeld, von Ausgleichszahlungen und Entschädigungen. Doch an all dem fehlt es in Deutschland. Wir haben in Deutschland über 14 Millionen Rinder; es gibt über 218 000 Rinderhalter, davon 203 000 in den alten Bundesländern und über 15 000 in Ostdeutschland. Selbst wenn in diesem Jahr möglicherweise „nur“ bis zu 500 Betriebe eine Bestandskeulung durchführen müssen, sind alle Rinder- und Milchproduzenten davon betroffen. Frau Künast, Sie setzen auf eine Reduzierung der Produktion und sagen, es dürfe nur noch so viel Rindfleisch produziert werden, wie die Verbraucher essen. Das ist richtig, aber in der Tierproduktion nicht kurzfristig machbar. Die Nachfrage ist bis auf 50 Prozent gesunken. Da die Reproduktion der Bestände aber nicht wie eine Maschine von heute auf morgen abstellbar ist, wird es vorerst noch zur Anhäufung entweder von Rindern beim Landwirt oder von Rindfleisch in den Lagern, beim Schlachter oder im schlechtesten Fall in Form von Tiermehl auf Deponien kommen. Das Herauskaufprogramm rettet die verlorene Nachfrage nicht; sie wird sich nur schrittweise erholen. Das heißt, Landwirte wie Politiker werden ohnehin auch in Zukunft vor dem Problem überschüssiger Fleischberge stehen. Eine Herodes-Prämie zur Vernichtung von Kälbern lehnen wir jedoch ab. ({1}) Es sollte aber darüber nachgedacht werden, ob nicht vermehrt auch Kalbfleisch angeboten wird. Damit würde nicht nur relativ kurzfristig der Rindernachwuchs reduziert, sondern es könnte gleichzeitig die künftige Produktion gedrosselt werden. Ich halte es deshalb für geboten, sowohl mehr Kälberfleisch und Fleisch von Jungbullen anzubieten als auch gleichzeitig den Bauern eine Perspektive anzubieten, wie sie mit verringerter Produktion überleben können. Das kann aber nur mit einer Umschichtung der Fördermittel funktionieren. Meine Damen und Herren, in der gestrigen Sitzung des Haushaltsausschusses hat die Bundesregierung die Katze aus dem Sack gelassen: Die Landwirte sollen von den 425 Millionen DM, die zur Mitfinanzierung des Herauskaufs älterer Rinder und der Kosten der Entsorgung der Altbestände an Tiermehl und Tierfetten gebraucht werden, indirekt 325 Millionen DM, also rund drei Viertel der Mittel, selbst aufbringen. Im Klartext heißt das: Erstens. Die mit dem Agrardieselgesetz verbundene Mehrbelastung der Landwirtschaft wird nicht um 200 Millionen DM reduziert; vielmehr werden die finanziellen Belastungen aus der BSE-Krise voll den Bauern übergestülpt. ({2}) Herr Kollege Struck, zwischen dem Unterstützen einer Sache und dem Beschließen von Maßnahmen klafft in Ihrer Fraktion oft eine große Lücke. ({3}) Zweitens. Die Verminderung des Bundesanteils an der Gemeinschaftsaufgabe um 125 Millionen DM bedeutet praktisch 208 Millionen DM weniger Fördermittel für Agrarbetriebe und ländliche Räume, da die meisten Länder nicht dazu in der Lage sein werden, ihren frei werdenden Landesanteil für landeseigene Programme einzusetzen. Vielmehr werden sie daraus Hilfsmaßnahmen für existenzbedrohte Betriebe finanzieren. Das wäre jedenfalls die Konsequenz der Position der Bundesregierung, die sich an keinen weiter gehenden Hilfen für Agrarbetriebe beteiligen will. Ich fordere Sie, Frau Ministerin Künast, auf, diese unhaltbare Position zu korrigieren; denn so kann ein agrarpolitischer Neuanfang nicht gelingen. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Heidi Wright von der SPD-Fraktion das Wort.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Viele Menschen werden heute diese Debatte über das Fernsehen verfolgen und morgen die Zeitungsberichte darüber lesen. Bauern, Metzgereien, aber auch Millionen von Verbraucherinnen und Verbrauchern hoffen auf ein konsequentes Vorgehen und auf die Bewältigung der größten Landwirtschafts- und Lebensmittelkrise, die sich nicht auf Deutschland beschränkt. Ich wollte mich eigentlich gar nicht mehr mit der Vergangenheit beschäftigen und fragen: Warum, woher, wieso? Ich habe mich aber gestern geärgert: Ich komme in mein Büro und lese in der Zeitung, dass der Bauernverband zu einer Demonstration aufruft. ({0}) Es werden Schilder hoch gehalten, die sich gegen die Herauskaufaktion richten. Ich habe daraufhin sofort beim Präsidenten des Bauernverbandes in Bonn angerufen. Er war nicht da, er war beim Demonstrieren in München. Ich habe gefragt: Was wollen Sie denn? Wollen Sie eine Herauskaufaktion oder sollen die Rinder in den Ställen stehen bleiben? Wollen Sie auf den Appell aus Bayern warten, dass die Menschen ein Kilo mehr verzehren sollen? Wollen wir darauf warten oder wollen wir handeln? Wir wollen handeln und wir handeln, und zwar jetzt. ({1}) Zunächst ein Lob an die Ministerin. Ihre Präsenz - in der Öffentlichkeit, den Arbeitsgruppen, den Gesprächskreisen, auf der Grünen Woche und natürlich bei den Verbänden, den Bauern sowie den Verbrauchern - weckt Vertrauen. Hier steht eine - ich meine, fast Tag und Nacht; ich sehe sie, wenn ich das Fernsehen einschalte, und ich sehe sie, wenn ich hier bin -, die es anpackt, und zwar in Berlin, im Land und in Brüssel. Glauben Sie mir: Die Menschen spüren, dass da eine steht, mit der wir es packen können. ({2}) Ich verrate Ihnen auch, warum: weil sie nicht zudeckt und nicht zaubert, weil sie nicht schon immer alles gewusst hat, sondern weil sie weiß, dass wir jetzt handeln müssen, und weil sie alle in einen Prozess einbindet. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Wright, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hinsken?

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. Im Gegensatz zum Bund wird im BSE- und Schweinemastskandalzentrum, in der Bayerischen Staatsregierung und im dort neu zusammengebastelten Ministerium, wie aus einer Wurfbude heraus auf alles Mögliche gezielt. ({0}) Alle ducken sich und keiner weiß mehr, wo es langgeht. Wo geht es lang? Wir müssen uns an den Verbraucherbedürfnissen und der Verbrauchersicherheit orientieren. Gerade im Bereich der Lebensmittelproduktion darf es bei der Sicherheit keine Abstriche geben. Jeder wird das unterstreichen und unterschreiben. In diesem Zusammenhang will ich aber deutlich sagen: Sicherheit ist eine Leistung, die ihren Preis hat. Diese einfache Wahrheit müsste eigentlich nicht betont werden und dennoch wissen wir, dass genau dies - die Honorierung der landwirtschaftlichen Leistung, die Honorierung der Sicherheit des Produktes - immer mehr marginalisiert wurde. Wir machen Schluss mit dieser Marginalisierung. Deshalb werden wir einen Weg hin zu einem ordentlichen Preis-LeistungsVerhältnis gehen. ({1}) Wenn nicht jetzt, wann dann müssen wir in der Politik für die landwirtschaftlichen Urproduzenten zusammen mit dem Handel diese Chance ergreifen? Fleisch darf nicht mehr zum Lockangebot, sondern muss zum Toppangebot gemacht werden, topp in Qualität und Sicherheit. ({2}) Weil zwar alles in der Lebensmittelproduktion gut sein muss, darf dennoch einiges und immer mehr besser sein. Ich spreche hier die verstärkte Orientierung zum ökologischen Landbau an. Tatsache ist: Hier sind wir längst nicht so weit, wie wir es sein könnten. 2,6 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche werden in Deutschland im ökologischen Landbau betrieben. In Mecklenburg sind es 6,4 Prozent, in Hessen 6 Prozent und in Bayern klägliche 1,8 Prozent, also unter dem deutschen Durchschnitt. ({3}) - In Bayern, Herr Kollege, 1,8 Prozent. Ich bin aus Bayern. Ich kehre vor der eigenen Haustür. Da ist zu kehren und aufzuräumen. ({4}) In Dänemark haben wir 6 Prozent, in Österreich 10 Prozent. ({5}) Da will ich hinkommen - und weiter. Der politische Wille ist da und viele in der Landwirtschaft kapieren, dass das eine Chance ist. Schön, dass eine Meinungsumfrage im Auftrag von n-tv sagt, dass 82 Prozent der Bevölkerung eine ökologische Ausrichtung der Betriebe wollen und dass 67 Prozent auch 25 Prozent mehr bezahlen wollen. Ich spreche hier die Verbraucherinnen und Verbraucher an. Diesen Umfrageergebnissen müssen natürlich Einkaufstaten folgen; auch das gehört zur Aussage. Die neue Landwirtschaftspolitik wird mit einem offensiven Aktionsprogramm und mit einer Imagekampagne vorangehen. Unser Ziel ist, in zehn Jahren den Anteil der ökologischen Produktion auf 20 Prozent auszudehnen und leistungsfähige Vermarktungsstrukturen aufzubauen. Alle, die da tönen - gerade aus Bayern -, das gehe nicht, sollten einmal die „Süddeutsche Zeitung“ von gestern lesen: Raus aus der Nische und rein in den Bio-Boom, so steht es in der „Süddeutschen“ auf einer ganzen Seite. ({6}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss: Ich weiß, dass das nur ein, aber ein wichtiger Part in der neuen Landwirtschaftspolitik ist. Förderung regenerativer Energien, Landwirt als Energiewirt, verstärkte Einbindung der Landwirtschaft in Naturschutz, Kulturlandschaftspflege all das hat Zukunft, denn all das gehört zu einer Nachhaltigkeitsstrategie, die wir bereits in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt haben. Den entsprechenden Antrag beraten wir heute ebenfalls. Es ist gut, ihn zusammen mit dem Antrag zur Neuausrichtung der Agrarpolitik zu behandeln. Eine Neuausrichtung der Agrarpolitik muss sich am Leitbild der Nachhaltigkeit - ökologisch, ökonomisch und sozial - ausrichten. Wir haben die ganze Zeit das Ökonomische definitiv zu stark betont. Letzter Satz: Hätten wir früher die Kriterien der Nachhaltigkeit als wichtige Grundlage der Fortentwicklung von Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik anerkannt und angewandt, wäre - das ist die spannende Frage - es dann nicht zur BSE-Krise gekommen? Wäre, würde, hätte - all das ist spekulativ. Heute gilt: Wir packen es an! ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Albert Deß von der CDU/CSU-Fraktion.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine ganze Reihe von Fragen sind heute angesprochen worden, Vorwürfe sind wieder vorgebracht worden. Ich wundere mich schon, dass das Thema Ökolandwirtschaft jetzt so eine große Rolle spielt. Es war bisher niemandem verboten, Ökoprodukte zu kaufen. Ich wundere mich aber, dass nur 2,5 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche für die Ökolandwirtschaft benötigt werden. Die Bauern würden gerne Ökoprodukte verkaufen, wenn der Absatz dafür vorhanden wäre. ({0}) Auf diesen 2,5 Prozent der Fläche werden 2 Prozent der Menge erwirtschaftet. Ich gehe davon aus, dass die Hälfte der Käufer von Ökoprodukten keine Wähler der Grünen sind. Wenn alle Wähler der Grünen Ökoprodukte kaufen würden - ich lasse die SPD ganz außen vor -, dann hätten wir schon 400 Prozent mehr Ökoanbau als heute. ({1}) Ich weise die Vorwürfe, die hier im Zusammenhang mit dem Thema Risikomaterialien immer wieder erhoben werden, auf das Entschiedenste zurück. Die alte Bundesregierung hat der neuen Bundesregierung eine in Kraft befindliche Verordnung übergeben, in der stand, dass Risikomaterialien ab dem 1. Januar 1999 nicht mehr verwendet werden dürfen. ({2}) Eine der ersten Maßnahmen der neuen Bundesregierung bestand darin, diesen Stichtag auf den 1. Oktober 2000 zu verschieben. ({3}) Frau Kollegin Wright sollte mit ihren Vorwürfen sehr vorsichtig sein. Ich habe hier ein Programm der SPD mit dem Titel „Sicheres Fleisch“, das die Kollegin Wright 1997 an den Bayerischen Bauernverband geschickt hat. Ich zitiere daraus wortwörtlich: Jedes Jahr fallen in Deutschland etwa 1,8 Millionen Tonnen Schlachtabfälle an. Dieses Material stammt von Tieren, die für den menschlichen Verzehr bestimmt sind. Es enthält wertvolle Rohstoffe, die für die Fütterung von Fleisch- und Allesfressern sinnvoll verwendet werden können. ({4}) Es wäre ökologisch verantwortungslos und - weil es sich um Reste von bereits verzehrten Tieren handelt auch kaum rational erklärbar, diese Rohstoffe im Rahmen einer Risikominimierung zu beseitigen. Hört doch bitte mit der Heuchelei auf, die hier dauernd betrieben wird! ({5}) Im Agrarbericht 2000 der rot-grünen Bundesregierung heißt es: Das in der EU und in Deutschland erreichte Qualitätsniveau der Lebensmittel kann generell als gut bezeichnet werden. Diese Aussage der Bundesregierung zeigt, dass wir alle einer gewissen Fehleinschätzung unterlegen sind. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemand in der Debatte zum Agrarbericht dieser Fehleinschätzung widersprochen hat. Diese Tatsache spricht dafür, dass das Thema BSE-Ursachen für Schuldzuweisungen und für parteipolitische Auseinandersetzungen sehr wenig geeignet ist. ({6}) Ich sage es ganz offen: Weder Verbraucher noch Bauern oder gar die Betroffenen in der Verarbeitungswirtschaft haben Verständnis für oberflächliche parteipolitische Auseinandersetzungen, welche die notwendigen Entscheidungen nur verzögern. Es wäre für die von der Krise Betroffenen besser gewesen, wenn die rot-grüne Bundesregierung nicht über zwei Monate benötigt hätte, um die dringend notwendigen Hilfsmaßnahmen auf den Weg zu bringen. ({7}) Das, was gestern beschlossen worden ist, reicht in keiner Weise aus, Betrieben, die unverschuldet in Schwierigkeiten geraten sind, zu helfen. Die Bauern sind durch die rot-grüne Bundesregierung schon bisher in Milliardenhöhe einseitig benachteiligt worden. Die gestrigen Beschlüsse sind ein weiterer Tiefschlag, der viele Landwirte und Betroffene in den vor- und nachgelagerten Bereichen entmutigt. Die Bundesregierung handelt verantwortungslos, wenn Gesetze mit massiven finanziellen Auswirkungen erlassen werden, die die Betroffenen dann weitgehend alleine tragen müssen. Zum Thema Agrardiesel kann ich nur sagen: Es ist nicht reif für eine Kabinettsentscheidung; vielmehr ist das, was im Hinblick auf Entscheidungen bisher in der Regierung und in der SPD abgelaufen ist, ein Stück für das Kabarett, es ist kabarettreif. ({8}) Aufgrund der Ereignisse sind wir uns in diesem Haus einig, dass der Verbraucherschutz im Bereich Nahrungsmittel verbessert und neu gestaltet werden muss. Ich sehe in diesem Punkt auch keinen Widerspruch zwischen den Interessen der Landwirtschaft und denen der Verbraucher. ({9}) Bitte sehr.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, das Wort erteilt der Präsident, nicht der Redner.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Entschuldigung, Herr Präsident!

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Aber ich entnehme Ihrer Gestik, dass Sie bereit sind, eine Frage des Kollegen Hinsken zu beantworten. Bitte schön, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Präsident, ich bin sehr dankbar dafür, dass der Kollege Deß im Gegensatz zur Vorrednerin bereit ist, eine Frage von mir zu beantworten. Herr Deß hat eben den vor- und nachgelagerten Bereich angesprochen. Frau Wright wies darauf hin, dass Frau Minister Künast viele Gespräche mit unmittelbar Betroffenen geführt hat. Herr Kollege Deß, halten Sie meine Feststellung für nachvollziehbar, dass es skandalös ist, dass Frau Bundesminister Künast in den drei Wochen ihrer Tätigkeit nicht eine Stunde erübrigen konnte, um mit dem Deutschen Fleischer-Verband über seine Probleme zu sprechen? Gerade in diesem Bereich stehen 5 000 Arbeitsplätze auf der Kippe. Beim Verkauf von Rindfleisch muss zum Teil ein Minus von 80 Prozent und beim Verkauf von anderem Fleisch von 20 Prozent verzeichnet werden. Man ringt um die nackte Existenz. Den betroffenen Menschen schenkt die Bundesministerin kein Gehör. Würden Sie deshalb die Bundesministerin auffordern, dieser Verpflichtung endlich nachzukommen und diesen wichtigen Verband auch einmal anzuhören, um dessen Probleme und Sorgen kennen zu lernen? ({0})

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich gebe dem Kollegen Hinsken in Bezug auf seine Bewertung Recht und komme gerne der Aufforderung nach, die Bundesregierung zu bitten, endlich auch einmal mit den betroffenen Betrieben im Verarbeitungsbereich zu reden. Anscheinend spricht diese Bundesregierung aber nur mit Betrieben, wenn sie eine Größenordnung wie Holzmann erreicht haben; mit kleineren spricht sie nicht. ({0}) Die deutschen Bauern - hier muss ich auch einmal mit der immer wieder vertretenen Meinung aufräumen, dass die Qualität erst jetzt erfunden worden sei - haben in ihrer großen Mehrzahl alle vorgegebenen Qualitätsanforderungen erfüllt. ({1}) Am Beispiel Milch kann man das am besten darstellen. Ich selbst war lange genug Milcherzeuger. Die Qualitätsnormen wurden in der Vergangenheit laufend verschärft; innerhalb kürzester Zeit haben die Milchbauern immer wieder diese neuen Qualitätsnormen erreicht. Sich heute hinzustellen und so zu tun, als hätte es bisher kein Qualitätsbewusstsein gegeben, ist eine Beleidigung für alle Bauern, die bisher Qualität produziert haben. ({2}) Für unsere Landwirte und ihre Familien ist es auch kein Problem, weitere neue, sachlich begründete und sinnvolle Qualitätsvorschriften einzuhalten. Frau Ministerin, damit haben unsere Bauern keine Probleme. Eines aber können unsere Bauern nicht: Sie können keine weiteren Belastungen, die im nationalen Alleingang durchgesetzt werden, auf sich nehmen, wenn sie zugleich auf einem freien Markt einem europa-, ja weltweiten Wettbewerb ausgesetzt werden. Hier setzt meine Kritik an der rot-grünen Bundesregierung an. Es war die rot-grüne Bundesregierung unter Bundeskanzler Schröder, die beim Abschluss der Agenda 2000 eine falsche Weichenstellung vorgenommen hat. ({3}) Es ist eine Verdrehung der Tatsachen, wenn man jetzt so tut, als ob andere oder die frühere Bundesregierung dafür die Verantwortung tragen. Die Agenda 2000 wurde unter deutscher sozialdemokratischer Präsidentschaft beschlossen. Bei den Verhandlungen zur Agenda 2000 bestand die Möglichkeit, notwendige Veränderungen durchzusetzen. Der Bundeskanzler hatte daran anscheinend kein Interesse. ({4}) Beim Deutschen Bauerntag in Cottbus hat der Kanzler das Ergebnis der Agenda ja zusammengefasst; Frau Merkel hat es bereits angesprochen. Er hat gefordert, dass wir uns weiter den Agrarpreisen des Weltmarktes annähern müssen. Dem Bundeskanzler werfe ich vor, dass es sich doch wohl nur um eine medienwirksame Inszenierung handelt, wenn er im Zusammenhang mit BSE einerseits gegen Agrarfabriken in der Landwirtschaft wettert und andererseits für Weltmarktagrarpreise eintritt. ({5}) Leider ist er nicht da, ich gebe ihm da aber gerne Nachhilfeunterricht: Weltmarktagrarpreise führen zwangsläufig zu Agrarfabriken. Seine beiden Aussagen passen nicht zusammen. ({6}) Es ist unverantwortlich, angesichts der Rinderhaltung in Deutschland von Agrarfabriken zu sprechen. Dadurch werden die Bauern diskriminiert und die Verbraucher verunsichert. Wenn schon solche Schlagworte verwendet werden, muss er auch definieren, was eine Agrarfabrik ist. Er hat es uns bis heute nicht gesagt. ({7}) Ab welcher Tierzahl beginnt denn nach Meinung des Bundeskanzlers die Massenproduktion? Hier muss man Ross und Reiter nennen und nicht nur Schlagworte, damit unsere Bauern wissen, woran sie sind. Denn unsere Bauern wollen nicht in den Verdacht kommen, Agrarfabriken aufzubauen. Hier gäbe es noch viel anzusprechen, aber leider läuft die Zeit davon. ({8}) Ich kann nur darum bitten, dass wir alle einen Beitrag dazu leisten, dass die Verbraucher wieder Vertrauen auch in unser deutsches Rindfleisch erhalten. Sie, Herr Präsident, möchte ich bitten, dass Sie einmal mit dem Betreiber des Restaurants hier sprechen, damit er statt argentinischem wieder deutsches Rindfleisch anbietet. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich möchte ganz kurz darauf eingehen: Der Präsident hat nicht das Recht, den Wirt anzuweisen, Fleisch anzubieten. Sie als Kunde haben aber die Möglichkeit, den Wirt aufzufordern, Ihnen deutsches Rindfleisch anzubieten. ({0}) Als nächste Rednerin hat die Kollegin Steffi Lemke von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Verehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Thema der heutigen Debatte ist die Neuorientierung in der Verbraucher- und Agrarpolitik. Aus den Reihen der CDU/CSU und der F.D.P. haben zwar mehrere Redner Beiträge geleistet, ({0}) aber genau zu diesem Punkt haben sie leider nichts gesagt. Ich habe von ihnen wieder nichts Konzeptionelles für eine Neuorientierung in der Agrarpolitik gehört. Ich bedaure das; das meine ich ehrlich. Denn angesichts der Umwälzungen, die vor uns stehen, könnten wir eine gute Opposition, die eigene Ideen in die Debatte einspeist, durchaus gebrauchen. Sie haben sich jedoch wieder bei Kritik und Vergangenheitsbewältigung aufgehalten. Es kam nichts Neues von CDU/CSU und F.D.P. ({1}) Wir haben in der Debatte skizziert, wie wir uns die zukünftige Orientierung in der Landwirtschaft vorstellen. Es geht dabei nicht darum, eine vollständige Kehrtwende zu machen; denn viele der Bestandteile sind in der heutigen Agrarpolitik sehr wohl verankert. Wir wollen, dass die Agrarwirtschaft in Zukunft auf drei Säulen steht. Wir wollen, dass es eine - das werden zunächst 80 Prozent der Landwirte sein - multifunktionale Landwirtschaft gibt. Das ist das, was viele Landwirte heute schon betreiben. Sie sind durch die offizielle Politik bei der Förderung jedoch zu wenig darin unterstützt worden, die multifunktionalen Bestandteile ihres Wirtschaftens - damit meine ich Leistungen für die Umwelt, für den Wasserhaushalt, für den Naturschutz, für die biologische Vielfalt - auszubauen. Zu wenig Fördermittel sind dafür ausgegeben worden und zu viele Fördermittel sind in die Produktion von Masse geflossen. Das wollen wir in Zukunft als die Hauptsäule der Landwirtschaft behalten und weiterentwickeln. Daneben wird es zu einem gewissen Prozentsatz - man muss seitens der Politik nicht definieren, wie viel das genau sein soll; da redet man über Zielvorstellungen - den ökologischen Landbau geben. Unterhalb der multifunktionalen Landwirtschaft wird es gewerbliche Landwirtschaft geben, die wir meiner Meinung nach nicht so intensiv fördern dürfen, wie es in der Vergangenheit geschehen ist. ({2}) Wir wollen einen Verlagerungsprozess innerhalb dieses Drei-Säulen-Modells. Wir wollen weg von dem gewerblichen Anteil hin primär zum multifunktionalen - die Bestandteile innerhalb des multifunktionalen Anteils sollen stärker gefördert werden - und auch zum ökologischen Landbau. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Wir werden uns von Ihnen nicht in eine Kontroverse „konventionell gegen öko“ treiben lassen. ({3}) Das sage ich auch den Landwirten draußen. Wir werden auch für die konventionelle Landwirtschaft Politik betreiben. Herr Ronsöhr, das, was Sie heute an Rechenmodellen dazu vorgetragen haben, wer heute bereits wie viel Landbau im Ökobereich hat, ist nicht die Debatte, die wir führen wollen. Wir wollen, dass der ökologische Landbau als Leitbild angesehen wird. Sie hatten einmal einen Bundeslandwirtschaftsminister, der schon so weit gewesen ist, dass er dies akzeptiert hat. Mit Leitbildfunktion meine ich, dass der ökologische Landbau für die gesamte Landwirtschaft eine Vorbildfunktion hat. Hätten wir uns damit schon in der Vergangenheit beschäftigt, hätten wir uns gefragt, warum im Rahmen des ökologischen Landbaus kein Tiermehl verfüttert wird, warum er auf das sehr billige und durchaus viel Protein enthaltende Futtermittel verzichtet, dann müssten wir heute nicht über BSE diskutieren. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lemke, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Heinrich?

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte sehr.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte, Herr Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Lemke, wären Sie bitte so gut, zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die beiden Beispiele, in denen sich die ökologische Landwirtschaft von der konventionellen Landwirtschaft in ihrem Verhalten unterscheidet, nicht ausschließlich auf die Ökolandwirtschaft beschränken, sondern dass sich viele Erzeugergemeinschaften freiwillig an dieser Art des Wirtschaftens, nämlich Anwendung von Produktionsmethoden unter Verzicht auf die Dinge, die Sie gerade eben genannt haben, schon beteiligen, dass das also kein Synonym für ökologische Landwirtschaft ist? ({0})

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehen Sie, Herr Heinrich, Sie verfallen wieder in den gleichen Fehler. Sie fangen wieder an, eine Konfrontation zwischen öko und konventionell aufzubauen. ({0}) - Nein, das habe ich nicht getan. Ich habe diese Konfrontation nicht aufgebaut, sondern ich habe von einer Leitbildfunktion und von einer Vorbildfunktion gesprochen. Wenn ich von Vorbildfunktion spreche, ({1}) dann meine ich doch nicht, dass diejenigen Betriebe, die nicht selber dieses Vorbild sind, nur schlechte Arbeit leisten und nichts Positives tun. Darin liegt Ihr Denkfehler. Sie versuchen immer wieder, zwischen ökologische und konventionelle Landwirtschaft einen Keil zu treiben. ({2}) Ich möchte im Zusammenhang mit dem Ökolandbau zu einem zweiten Beispiel kommen. Wer heute über Verbraucherschutz redet, der muss auch klipp und klar sagen, dass die Verbraucher keine gentechnisch veränderten Bestandteile in den Lebensmitteln haben wollen. Über folgende Frage wurde schon im Zusammenhang mit der Agrarpolitik der alten Regierung von CDU/CSU und F.D.P. immer wieder diskutiert: Soll die zukünftige Agrarpolitik auf Gentechnik ausgerichtet sein? In dieser Diskussion ist die Tatsache sträflich vernachlässigt worden, dass die Verbraucher keine Gentechnik in ihren Lebensmitteln haben wollen. Sie haben immer wieder Zahlen aus Umfragen präsentiert. Sie können doch nicht ernsthaft in Abrede stellen, dass die Mehrheit der Verbraucher - mich interessiert dabei nicht, ob 60 oder 90 Prozent - keine Gentechnik in den Lebensmitteln wollen. Die Menschen wollen diese Produkte nicht verzehren! ({3}) - Es ist Unsinn, zu sagen, dass der Kanzler das wollte. Das wissen Sie ganz genau. Es gibt keine Unbedenklichkeitserklärung für gentechnisch veränderte Lebensmittel. ({4}) Deswegen dürfen wir an dieser Stelle nicht den gleichen Fehler machen wie bei BSE. Ich komme da wieder auf die Vorbildfunktion des ökologischen Landbaus ({5}) und seine Leitbildwirkung zu sprechen. Seine Anhänger erklären seit Jahren, dass sie definitiv auf Gentechnik verzichten. Es hat auf EU-Ebene eine harte Auseinandersetzung darüber gegeben, ob Gentechnik für den Ökolandbau zukünftig für zulässig erklärt werden sollte. Die Ökolandbauverbände haben sich aber durchgesetzt und gesagt: nein, keine Gentechnik in unseren Ökolebensmitteln! Es geht nicht darum, die gesamte Landwirtschaft zu bekehren und von den Landwirten zu erwarten, dass sie den Verbänden des ökologischen Landbaus beitreten. Darum geht es wirklich nicht. Aber man sollte sich am ökologischen Landbau orientieren und sich zum Beispiel fragen, warum er sich in Bezug auf die Tierbesatzzahlen und die Futtermittel sehr strenge Kriterien auferlegt hat. Diese Vorstellungen sollten von der konventionellen Landwirtschaft adaptiert werden, ohne dass sie 100-prozentig ökologisch arbeiten müsste. Das ist die Zielvorstellung, die wir für die zukünftige Agrarpolitik haben. Ich will noch einmal auf den Einwand zurückkommen, alles müsse sich ökonomisch rechnen. Sie konnten ja in den letzten Wochen und Monaten verfolgen, dass die Wirtschaftsblätter, die Banken und die Wirtschaftsverbände von der grünen Gentechnik Abstand genommen haben und selbst die Empfehlung ausgesprochen haben: Lasst die Finger davon! Es ist ökonomisch gesehen Unsinn. Das rechnet sich nicht. Ich bin der Meinung, dass es nicht um eine ideologische Auseinandersetzung zwischen ökologischer und konventioneller Landwirtschaft oder zwischen kleinen und großen Betrieben geht. Es geht vielmehr um eine Diskussion zwischen Verbrauchern und Produzenten, wie in Zukunft Lebensmittel produziert werden sollen, die die Verbraucher in dem Glauben abnehmen, dass auch darin ist, was darauf steht. Danke sehr. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Annette WidmannMauz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wenn man die heutige Debatte verfolgt, dann hat man schon den Eindruck, dass die Bundesregierung der Meinung sei, die deutsche Landwirtschaft habe bis zum Ende des letzten Jahres nur ungesunde Lebensmittel produziert, habe die Tiere in den Ställen gequält und es habe keinerlei Regeln und Standards gegeben. ({0}) Frau Künast, ich sage Ihnen ganz deutlich: Sie müssen nicht die Bauern, sondern BSE bekämpfen! Es wird endlich Zeit. ({1}) Verbraucherschutz muss Gesundheitsschutz sein, und zwar vorsorgend und nachhaltig. ({2}) Er darf nicht als Privileg für wenige, sondern muss als Notwendigkeit für alle gesehen werden. Frau Künast, die BSE-Krise darf nicht auf dem Rücken der Verbraucherinnen und Verbraucher ausgetragen werden. Die Ängste und Sorgen der Menschen dürfen von Ihnen nicht als Spielball für grüne Politikstrategien missbraucht werden. ({3}) Wir werden es nicht zulassen, dass BSE von Ihnen instrumentalisiert wird, sozusagen als ideologischer Tschernobyl-Ersatz. Jetzt, da Ihnen die Themen Kernkraft und Castortransporte wegen der Gewaltdebatte nicht so recht schmecken, sind Sie bei BSE auf den Geschmack gekommen. Das, was wir heute zu Quotierungen im Stall gehört haben, zeigt eine neue Verirrung innerhalb der grünen Ideologie. ({4}) Verbraucherschutz darf nicht auf BSE und eine neue Utopie im Inselformat reduziert werden. Wenn man von dem magischen Sechseck hört, könnte man meinen, es handele sich um das Bermudadreieck; denn nicht mit Magie, mit Beschwörungsformeln von Laienspielern, sondern mit realitätsbezogenen, fachlich begründeten Konzepten müssen Sie den Deutschen Bundestag überzeugen. ({5}) Aber ich sage Ihnen auch: Sie haben den Verbraucherschutz nicht neu erfunden. Quer durch alle gesellschaftlichen Schichten sind die Menschen verunsichert. Sie haben Angst, aber diese Angst ist orientierungslos. Angst war noch nie ein guter Ratgeber auf dem Weg aus der Krise. Nur weil zurzeit so gut wie kein Rindfleisch geSteffi Lemke gessen wird, sind die Deutschen noch lange nicht alle Vegetarier. Es gibt zwar jetzt bei allen Beteiligten, den Produzenten, den Verbrauchern und den Politikern, die Bereitschaft, aus der Krise Konsequenzen zu ziehen. Das heißt politisch auch, dass wir Handlungsspielraum gewonnen haben, den wir jetzt nutzen müssen. Die Menschen erwarten von uns, dass endlich mit klaren Konzepten gehandelt wird. Frau Lemke, es stimmt nicht, dass wir heute keine Konzepte präsentiert hätten. Wenn Sie das sagen, können Sie nicht lesen, haben den Antrag, den wir eingebracht haben, nicht zur Kenntnis genommen und bei der Rede von Angela Merkel nicht zugehört. ({6}) Wir haben klare Maßstäbe, an denen sich vorsorgender Verbraucherschutz orientieren muss. Die Kernpunkte sind: Transparenz, Eigenverantwortung und Nachhaltigkeit. Aber realistisch ist eine Neuorientierung der Verbraucher- und der Agrarpolitik nur, wenn das, was ökologisch notwendig ist, auch ökonomisch und sozial ist. Ich möchte an dieser Stelle einen wichtigen Bereich herausgreifen, den Sie heute fast überhaupt nicht angesprochen haben, nämlich die Rolle und die Bedeutung Europas in Verbraucherschutzfragen. Verbraucherschutz im Europa ohne Grenzen erfordert Überzeugungskraft und Durchsetzungsfähigkeit im Ministerrat. Frau Künast, Sie zeigen sich ja durchaus bemüht. Doch was haben Sie auf europäischer Ebene im Agrarrat bisher eigentlich erreicht? Was Sie aus Brüssel mitgebracht haben, sind bisher nur Prüfaufträge, zu Deutsch: substanziell nichts. Es wird geprüft, das derzeit bis zum 30. Juni 2001 befristete Tiermehlverfütterungsverbot zu verlängern eventuell. Keine Rede von Fetten oder Tiermehl wie bei uns in Deutschland! Die Produktion von Separatorenfleisch soll verboten werden - noch kein Muss. Das gilt allerdings nur für Rinder. Wo bleiben die Schweine? Davon ist keine Rede. Es soll geprüft werden, wie die Einstufung der Wirbelsäule von Schlachtrindern als Risikomaterial technisch umgesetzt werden kann. Die derzeitige Altersgrenze von 30 Monaten für die obligatorischen BSE-Tests soll überprüft werden. Aber nach wie vor haben wir keine einheitliche Testung in Europa, geschweige denn bei unseren Nachbarn außerhalb der Europäischen Union, zum Beispiel in den Beitrittsstaaten. Was ist mit den Fleischimporten aus Ländern, in denen kein Tiermehlverfütterungsverbot besteht? Wo, liebe Frau Ministerin, bleiben eigentlich die angekündigten Konsequenzen aus der Tatsache, dass Rindfleisch auch nach dem 1. Januar dieses Jahres nicht EUweit lückenlos gekennzeichnet wird?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Verbraucherschutz ist eine europäische Herausforderung. Hier sind Sie in erster Linie gefordert. Aber ohne ein klares Konzept für die Durchsetzung auf europäischer Ebene bleiben Sie ein Papiertiger. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Heino Wiese von der SPD-Fraktion das Wort.

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben, werte Kollegen von der CDU/CSU, wieder versucht, eines deutlich zu machen: dass die SPD etwas gegen die deutschen Landwirte hätte. Ich will das noch einmal ganz klar bestreiten. Wir sind auf der Seite der deutschen Bauern und Bäuerinnen. ({0}) - Bei den Fakten, die Sie nennen, verschweigen Sie, dass in den Jahren Ihrer Regierungszeit über 200 000 deutsche Landwirte aufgeben mussten. Wir haben heute noch 190 000 Vollerwerbslandwirte, also ungefähr so viele Landwirte, wie während Ihrer Regierungszeit aufgeben mussten. Es ist also nicht neu, dass sich Landwirtsfamilien überlegen müssen, ob ihre Betriebe noch überlebensfähig sind. ({1}) - Sie hätten weiter auf Masse statt auf Klasse gesetzt, wie die Ministerin gesagt hat. Wir setzen auf Klasse und geben den Landwirten neue Perspektiven. Ich glaube, es ist sinnvoll, das zu tun. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wiese, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Deß?

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Deß.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wiese, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die SPD bereits vor den letzten GATT-Verhandlungen - da waren Sie noch nicht dabei - einen Antrag in den Bundestag eingebracht hat, in dem es heißt: Von der allgemeinen Zielsetzung, einen freien Welthandel mit offenen Grenzen zu schaffen, darf der EG-Agrarbereich nicht ausgenommen werden. Weiter wird die Bundesregierung - damals von Union und F.D.P. gestellt - aufgefordert, von dem „falschen ... Konzept der Mengenregulierung“ wegzukommen. Dann wäre noch mehr produziert worden. Geben Sie mir Recht, dass noch mehr Bauern hätten aufhören müssen, wenn dies befolgt worden wäre?

Heino Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003262, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Erstens kenne ich den Antrag nicht. Wie Sie schon sagten, war ich damals noch nicht im Deutschen Bundestag. Darüber hinaus kann ich Ihnen sagen, dass wir - da gebe ich Herrn Heinrich ausnahmsweise Recht - den Welthandel brauchen und dass wir uns dem Welthandel nicht verschließen können. Das heißt aber doch nicht, dass wir in Deutschland nicht Qualität erzeugen und damit Maßstäbe setzen könnten, die auch die anderen erreichen müssten. ({0}) Die BSE-Krise war nur der letzte Anlass dafür, das Umsteuern in der Landwirtschaft endlich zu beginnen. Es ist doch nicht in Ordnung, dass so genannte Sofamelker Milchquoten besitzen und damit indirekt Fördergelder kassieren, obwohl sie gar nicht mehr landwirtschaftlich tätig sind. Ein zweites Beispiel: Es ist auch nicht in Ordnung, dass die Schweine ihren täglichen Dopingmix bekommen, damit sie schneller wachsen. Auch das können wir für die Zukunft nicht wollen. ({1}) - Das ist alles legal. Daran ist nichts Illegales. Wir können auch nicht wollen, dass Büsumer Krabben erst über Marokko gefahren werden, bevor sie als Krabbenfleisch auf Sylt ankommen. ({2}) Das sind alles Beispiele dafür, dass wir in der Landwirtschaftspolitik so nicht weitermachen können. Wir wollen etwas dagegensetzen. Wir können hierfür natürlich nicht die Bauernfamilien verantwortlich machen. Vielmehr setzen wir als Politik die Rahmenbedingungen. Dies dürfen wir nicht nur über Ordnungsrecht tun. Vielmehr müssen wir auch Anreize und neue Perspektiven schaffen. ({3}) Der permanente Druck zu ständiger Leistungssteigerung und Kostensenkung ohne kritische Beleuchtung der Mittel und Methoden hat zu dieser Sackgasse, in der wir uns im Moment befinden, geführt. Schon vor einem Jahr hat die Katholische Landjugendbewegung ein Leitbild für die Landwirtschaft der Zukunft herausgegeben. Ausgehend vom Begriff der Schöpfung, haben die Jugendlichen eine Skizze entwickelt, die nahezu deckungsgleich mit den Plänen der neuen Landwirtschaftsministerin ist. Ich empfehle allen dieses Papier der Katholischen Landjugendbewegung und kann Ihnen nur raten, daraus zu lernen. Ich danke den Jugendlichen für ihre hervorragende Arbeit. ({4}) Neben den bereits genannten Anforderungen aus Sicht der Verbraucher ist für mich das wichtigste Ziel einer neuen Landwirtschaftspolitik die Sicherung von Leben und Arbeit im ländlichen Raum. Der ländliche Raum braucht eine integrierte Politik, in der Landwirtschaft nicht mehr isoliert betrachtet wird und in der ihre besondere Rolle zum Ausdruck kommt. ({5}) Länder und Kommunen müssen ab sofort eine aktivere Strukturpolitik betreiben, um die Veränderungsprozesse, die wir uns vorgenommen haben, zu bewältigen. ({6}) - Rheinland-Pfalz hat ja auch einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten. ({7}) Hierzu gehört für die Landwirte eine deutliche Steigerung der Erzeugerpreise und die Sicherung von Einkommensalternativen. Eine noch erweiterte Förderung von nachwachsenden Rohstoffen und erneuerbaren Energiequellen gehört für mich genauso dazu wie ein zielorientierter und bezahlter Vertragsnaturschutz. ({8}) Die Pflege von Landschaft und Wäldern muss eine Aufgabe werden, die der Landwirtschaft ein regelmäßiges Einkommen sichert. Ich weiß, dass das einige Kolleginnen und Kollegen anders sehen. Ich bin aber der Meinung, dass wir nicht nur mit dem Ordnungsrecht agieren dürfen, sondern dass wir auch dort neue Anreize schaffen müssen. ({9}) Gepflegte ländliche Räume, in denen die Tiere gelegentlich auf der Weide zu sehen sind, muss man auch bezahlen. ({10}) Das eröffnet im Übrigen auch neue Perspektiven für den Tourismus und gibt uns Möglichkeiten, neue Einkommensformen für die Landwirte zu schaffen. Ich möchte mich besonders für regionale Vermarktungskonzepte einsetzen. Ich halte es nicht für sonderlich erstrebenswert, dass die Milch, die ich trinke, zweimal durch die Republik geschaukelt wird: von der Großmolkerei zum Vertrieb und dann in den Laden. Ich möchte nicht, dass Milch, die im Umland von Hannover gemolken wurde, über Lüneburg wieder zurück nach Hannover kommt. Ich glaube, dass wir die regionalen Vermarktungskonzepte viel stärker brauchen. Ich will eines ganz deutlich sagen: Wenn die CMA das nicht leistet, müssen wir uns nach anderen Konzepten umsehen und das Agrarmarketing anders organisieren. ({11}) Es wird schwer werden, neue Ideen umzusetzen, auch weil wir nicht einzelstaatlich agieren können. Wir brauchen im Hinblick auf den internationalen und europäischen Wettbewerb tragfähige Lösungen auf EU-Ebene und im Welthandel. Die Belange des Verbraucher- und Umweltschutzes müssen viel stärker in die gemeinsame europäische und die nationale Agrarpolitik integriert werden. Dazu müssen wir eine intensivere Zusammenarbeit mit den Parlamentariern des Europäischen Parlaments erreichen. Strenge Kontrollen und vor allem Transparenz und Offenheit bei der Erzeugung und Produktion von Lebensmitteln sind die Voraussetzungen für eine neue Landwirtschaftpolitik. Wir können den Wechsel übrigens nicht ausschließlich - ich sage noch einmal deutlich: Wir haben das auch nie behauptet - durch Ökolandbaukonzepte erreichen, wir brauchen hierzu die verantwortungsvolle und nachhaltige konventionelle Landwirtschaft als Hauptträger dieser Erneuerung. Ich will noch einen Satz anfügen: Dazu müssen auch wir unseren Teil leisten. Um das deutlich zu machen, fordere ich die Bundesregierung auf, das, was wir den Landwirten hinsichtlich des Agrardiesels versprochen haben, auch einzulösen. Nur so können wir verantwortungsvolle und vertrauenswürdige Partner der Landwirte werden. ({12}) Danke schön. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin in dieser Aussprache hat das Wort die Kollegin Christel Deichmann von der SPD-Fraktion.

Christel Deichmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002638, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Widmann-Mauz, ich finde es schon mehr als eigenartig, dass Sie hier gefordert haben, die Ministerin solle in drei Wochen in Brüssel und anderswo all das erledigen, was Sie in 16 Jahren nicht geschafft bzw. vermasselt haben. ({0}) Das musste einmal gesagt werden. Eigentlich wollte ich mich nicht mit Vergangenheitsbewältigung beschäftigen; denn es ist jetzt wirklich wichtig, nach vorn zu sehen. Die Zeit für die Umorientierung in der Agrarpolitik ist mehr als reif ({1}) - er hat nicht 16 Jahre lang regiert; ich glaube, Sie waren dabei -, Umorientierung nicht nur in der Agrarpolitik, sondern in der gesamten Politik für den ländlichen Raum. Die Frau Ministerin hat für diesen schwierigen, aber bedeutungsvollen Weg die Richtung aufgezeigt und sie hat dabei - das haben meine Vorredner schon bestätigt die volle Unterstützung unserer Fraktion. Die Neuorientierung der Agrarpolitik darf sich aber nicht allein von der BSE-Krise leiten lassen. Sie ist nur der äußere Anlass gewesen; denn die Neuorientierung ist, wie bereits gesagt, überfällig. Der Neuanfang ist viel weiter zu fassen: Es geht nicht um groß oder klein, um alternativ oder konventionell oder was man sonst noch gegenüberstellen mag, es geht um die Integration der gesamten Kette der Agrar-, Verbraucherund Umweltpolitik, einschließlich der vor-, neben- und nachgelagerten Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion. Um es ganz deutlich zu sagen: Wir wollen dem ökologischen Landbau, ({2}) obwohl er - auch das ist hier zum Ausdruck gekommen ein wichtiges Leitbild ist, nicht einseitig neue Produktionsprämien gewähren, sondern insgesamt bessere soziale und ökologische Rahmenbedingungen im Hinblick auf Produktion, Absatz und Vermarktung schaffen. Auch die konventionelle Landwirtschaft muss sich zukünftig stärker an den Kriterien des Umwelt-, Verbraucher- und Tierschutzes sowie an einer Sicherung von Arbeitsplätzen messen lassen. ({3}) - Ik weet Bescheid; ik kamm von Land. ({4}) Gemeinsam mit den Landwirten sind hierfür Kriterien zu entwickeln und fortzuschreiben. Jetzt gilt es, das Leitbild einer nachhaltigen Landwirtschaft konkret auszugestalten und auf einen möglichst breiten Konsens zu stellen. Die drei Säulen der Nachhaltigkeit, Ökonomie, Ökologie und Soziales, wollen wir auch für den ländlichen Raum zur Geltung bringen. Wir wollen für die Menschen in diesen Regionen Perspektiven schaffen. Wie können wir dieses Ziel erreichen? Die fast unüberschaubare Arbeitsteilung zwischen Bauern, Tiermedizin, Chemie, Futtermittelherstellern, Vermarktung, Handel und Banken und zwischen wem auch immer hat bislang Innovationen erschwert. Die immer weiter wachsende Bürokratie - auch das muss betont werden - tut ein Heino Wiese ({5}) Übriges. Alle Bereiche gehören auf den Prüfstand: angefangen bei der Agrarsozialpolitik, über die Grundsätze der Förderpolitik bis hin zum Zusammenspiel mit anderen Politikbereichen. Also: Abschied von der Ausrichtung auf Mengenwachstum und von einem ruinösen Preiswettbewerb und Orientierung auf eine Landwirtschaftspolitik, die die Ökologie nicht als Bedrohung, sondern als Partner sieht, die sich in die Natur und in die Landschaft einfügt und die die natürlichen Lebensgrundlagen schützt. Der Bauernverbandspräsident von Schleswig-Holstein hat im Fernsehen gesagt, die Bauern hätten sich aufgestellt. Ich frage mich natürlich, wozu sie sich aufgestellt haben. Ich hoffe sehr: zu einer anderen Arbeitsweise. Vor allen Dingen meine ich damit die Spitze der Verbände. Auf den im Fernsehen gezeigten Bildern aus München war gestern zu sehen: „Grün-Rot ist Bauerntod“. Damit eines klar ist: Der jetzige Schlamassel ist nicht von RotGrün zu verantworten. Rot-Grün ist gemeinsam mit den Landwirten und allen anderen, die willens sind, dies zu tun, bereit, die Probleme zu lösen. ({6}) Wir steuern um, indem wir die überfällige Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes nutzen, um eine naturschutzfachliche Definition der guten fachlichen Praxis einzuführen. ({7}) - Das werden Sie erleben. - Daran - davon bin ich fest überzeugt - führt kein Weg vorbei. Es hat lange gedauert; aber jetzt werden Vorgaben für eine standortangepasste, naturverträgliche Bewirtschaftung gemacht. Das ist überfällig. Die Länder werden - auch davon bin ich überzeugt ihren Teil dazu beitragen, um den regionalen Besonderheiten gerecht zu werden. Die in diesem Zusammenhang ebenfalls notwendige Orientierung der Tierhaltung an den betriebseigenen Futterflächen ist heute bereits angesprochen worden. ({8}) Wir groß das Arbeitspotenzial im ländlichen Raum ist, zeigen Ergebnisse von Modellprojekten, die die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht hat. Ich nenne zum Beispiel das nachhaltige Tourismusangebot und den bevorstehenden Durchbruch bei den erneuerbaren Energien. Gerade auf dem landwirtschaftlichen Sektor gibt es bereits energieautarke Betriebe. Ich denke, solche Beispiele sollten Schule machen. ({9}) Wir begrüßen ausdrücklich, wenn die Ministerin sagt: Die Natur ist der potenzielle Verbündete der Landwirtschaft. Wir begrüßen auch, dass die Ministerin einen runden Tisch für Verbraucherschutz und Landwirtschaft initiieren will. Wir sind sicher, dass ökologische Belange und die Frage der Nachhaltigkeit eine herausragende Rolle spielen werden. Wir brauchen dieses Bündnis zwischen Ökologie und Landwirtschaft, um der rein ökonomischen Globalisierung eine umweltverträgliche und verbraucherfreundliche Politik für den ländlichen Raum entgegenzusetzen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen und den Überweisungen, zunächst zu Tagesordnungspunkt 3 a: Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/5230. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? ({0}) Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. abgelehnt. Tagesordnungspunkt 3 b bis 3 e: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4544, 14/3498, 14/4472 und 14/4855 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Tagesordnungspunkt 3 f: Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/5237. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen mit Ausnahme der Stimmen der PDS abgelehnt. Zusatzpunkte 2 bis 4: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5219, 14/5228 und 14/5222 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Zusatzpunkt 5: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 14/5234. Zunächst zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4778 ({1}) mit dem Titel „Sofortprogramm zur Abwehr von Gefahren durch BSE“: Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU bei Enthaltung von F.D.P. und PDS angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/4852 mit dem Titel „Vorrang für einen vorsorgenden Verbraucherschutz bei der Bekämpfung von BSE“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der KoalitiChristel Deichmann onsfraktionen bei Gegenstimmen von F.D.P. und PDS und Stimmenthaltung der CDU/CSU angenommen. Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4924 mit dem Titel „Soforthilfsprogramm für durch die BSE-Krise betroffene Kommunen und Landwirte einrichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der PDS und bei Enthaltung von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/5079 mit dem Titel „Klares Konzept zur Bekämpfung von BSE notwendig“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen von CDU/CSU und bei Enthaltung von F.D.P. und PDS angenommen. Unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/5085 mit dem Titel „BSE-Bekämpfung konsequent ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS bei Gegenstimmen von CDU/ CSU und F.D.P. angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 6 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/5097 mit dem Titel „Verbraucher vor BSE schützen - Landwirten helfen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der PDS gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Pläne der Bundesregierung zum Aufbau Ost angesichts der Kontroverse innerhalb der SPD zur Situation in den neuen Bundesländern Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Günter Nooke von der CDU/CSUFraktion das Wort.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert mit dieser Aktuellen Stunde von der Bundesregierung Klarheit über ihre Pläne für die östlichen Bundesländer: Soll der Aufbau Ost weitergehen und wollen Sie etwas dafür tun? Oder ist aus Ihrer Sicht alles auf bestem Wege und Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, immerhin der Ostdeutsche mit dem höchsten Staatsamt, auf dem völlig falschen Dampfer? Er ist ja nicht nur hier kein Hinterbänkler, sondern auch Stellvertreter des Bundeskanzlers in der SPD. Es ist offensichtlich Zeit für eine Klarstellung: Steht der Osten nun auf der Kippe oder ist, wie der zuständige Staatsminister sagt, der Befund schlichtweg falsch? ({0}) Auch wenn wir mit dem Bundestagspräsidenten nicht in allen Punkten übereinstimmen können: Wir verstehen, dass Wolfgang Thierse angesichts der Nichtaktivität der Bundesregierung in Sachen Aufbau Ost die Reißleine gezogen hat. Kompliment auch an Herrn Thierse, dass er sich durch das Kanzlerwort nicht hat einschüchtern lassen; denn die Zahlen, von denen er ausgeht, sind richtig. Da wirkt es schon ziemlich jämmerlich, wenn die SPDFraktionskollegen angesichts dieser Gemengelage nicht wissen: Sollen sie dem Kanzler zustimmen, weil sie noch etwas werden oder bleiben wollen, oder sollen sie Thierse zustimmen, weil sie in ihren ostdeutschen Wahlkreisen wieder aufgestellt werden wollen? ({1}) Der „Tagesspiegel“ hat das heute noch einmal schön ausgedrückt: Viele SPD-Abgeordnete aus den neuen Ländern neigen Thierses Aufbau-Thesen zu - doch sie fürchten den Konflikt mit dem Kanzler ({2}) Wann - liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern Sie sich einmal - hat sich eine Bundesregierung je zuvor von dem Bundestagspräsidenten der eigenen Fraktion sagen lassen müssen - als Opposition haben wir darauf hingewiesen -, dass die regierungsoffizielle Bestandsaufnahme zu dem wichtigen Thema, zur nationalen Herausforderung Aufbau Ost, unehrlich ist? ({3}) Was bisher dazu gesagt wurde, hat das Chaos im Koalitionslager nur vermehrt. Ich will das kurz anführen: Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Frau Kaspereit, warnt vor Panik, räumt aber anhaltende Probleme ein. Der nunmehr entlassene sachsen-anhaltinische Wirtschaftsminister, Herr Gabriel, will die Wirtschaftsförderung Ost beenden, was aus der Fraktion mit den Worten dementiert wird: Wir brauchen auf absehbare Zeit eine spezielle Ostförderung und auch in Zukunft einen Ostbeauftragten im Kanzleramt. Schließlich stellt Frau Eichstädt-Bohlig von den Grünen zunehmende statt entfallende Probleme fest und fordert ein neues Leitbild für den Osten, was aber bei den Menschen im Osten so ankam, dass man der Probleme nicht mehr Herr wird und deshalb die Maßstäbe ändern muss. Bevor man die Latte also reißt, wird sie niedriger gelegt. Der Sprecher der SPD-Fraktion im Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder legt nach und fordert eine neue und klare Strategie für den Aufbau Ost, sagt aber, in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms der Infrastruktur sei man schon relativ gut vorangekommen. Dagegen haben die Gutachten, die wir für den Solidarpakt II in Auftrag gegeben haben, einen teilungsbedingten Nachholbedarf in Höhe von 300 Milliarden DM festgestellt, der von der Bundesregierung als Grundlage für die Verhandlungen zum Solidarpakt anerkannt wurde. ({4}) Thierse stellte richtig fest, auf dem Arbeitsmarkt gebe es ein starkes Gefälle zwischen West und Ost und die positiven Wirtschaftsdaten, auf die die Regierung stolz sei, stammten alle aus dem Westen. Aber die Arbeitslosen im Osten sind eben auch die Arbeitslosen des Bundeskanzlers, an denen er sich messen lassen wollte, und im Osten wird er eindeutig als zu klein befunden. ({5}) Die Lage ist angesichts der Wirtschaftsdaten und des weiter dramatisch auseinander gehenden Arbeitsmarktes alles andere als beruhigend. Bevor der Osten kippt, müssen wir gemeinsam dafür sorgen, dass die Stimmung nicht kippt und sich nicht noch mehr Resignation bei den Menschen in den entlegenen Regionen des Ostens breit macht. Wir können uns durchaus darüber verständigen, dass wir auch im Osten weniger Leute fürs Nichtstun bezahlen sollten, aber dann müssen wir diesen Menschen auch Chancen bieten, Arbeit zu finden und sich einzubringen. Das aber ist etwas völlig anderes, als wenn Herr Gabriel den Eindruck vermittelt, im Osten gebe es mehr Faulpelze als Arbeitsuchende. Dabei ist es doch gar nicht so kompliziert: Im Spannungsfeld zwischen Abschaffung des Ostbeauftragten und Streichung des Themas Aufbau Ost von der Tagesordnung und dem Gegenpol, der Pflege des Jammer-OssiImages, der immer nur Geld haben will und jedem Fass den Boden ausschlägt, ({6}) sollten wir gemeinsam endlich mehr für die Menschen in den östlichen Bundesländern tun, die wirklich existenzielle Sorgen und Nöte haben. ({7}) Dafür bieten wir unsere konstruktive Mitarbeit an, selbst wenn der Kanzler nicht will. Der hat sich übrigens mit seinem Schweigen zu dieser Debatte als Chefsachenkanzler verabschiedet. Aber selbst das scheint ja nicht so ganz klar zu sein; denn aus der SPD-Fraktion stellte jemand fest: Letzten Endes hat immer der Kanzler das Sagen. Wenn wir den nicht gewinnen, ist alles umsonst. Er muss erkennen, dass er bald Wahlen hat. Nur mit einem freundlichen Besuch gewinnt Schröder den Osten nicht. So Edelbert Richter. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, wenn der Kanzler nicht will, dann lassen Sie uns doch wenigstens hier im Parlament einmal darüber reden. Sie haben ja jetzt einen profunden Ostbeauftragten aus den Reihen Ihrer Fraktion. Selbst wenn Herr Eichel nicht will und sich als Sparminister auf Kosten des Ostens profiliert ({8}) und Sie, Herr Staatsminister Schwanitz, sich auf ihre eigene Fraktion nicht verlassen können: Auf die größte Oppositionsfraktion in diesem Haus können Sie sich verlassen. Sagen Sie einfach, was Sie wollen, und dann beginnen wir gemeinsam damit. Danke schön. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Sabine Kaspereit von der SPD-Fraktion.

Sabine Kaspereit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002695, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Nooke, ich könnte sagen, diese Aktuelle Stunde ist so unnötig wie ein Kropf. ({0}) Sie ist nämlich nur ein weiterer Teil Ihrer durchsichtigen Strategie, die Bundesregierung vor allem über Personaldiskussionen zu diffamieren, weil Sie keine Sachargumente anzubieten haben. Die Leute draußen bemerken das. ({1}) Die Aussprache über den Aufbau Ost gehört in die Debatte über das Sachverständigenratsgutachten und den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung, die Anfang März ansteht. Dennoch bin ich dankbar für die Gelegenheit, diese Diskussion hier zu führen - wenn auch eine Aktuelle Stunde denkbar ungeeignet dafür ist -, und zwar aus zwei Gründen: Erstens. Das, was Sie sich von der Aktuellen Stunde erhoffen, wird nicht eintreten, dass nämlich die Regierungsparteien untereinander und vor allem mit der Bundesregierung im Streit über den weiteren Aufbau Ost liegen. Dies wäre eigentlich die Aufgabe der Opposition, aber von ihr höre ich keinen einzigen Vorschlag. Zweitens. Diese Aktuelle Stunde gibt uns Gelegenheit, erneut über den derzeitigen Stand des wirtschaftlichen Aufbaus in den neuen Ländern zu sprechen. Es existiert offensichtlich ein erhebliches Wahrnehmungsdefizit zwischen dem, was an Informationen aller Art zum Aufbau Ost zur Verfügung steht, und dem, was tatsächlich in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen wird. Mich hat schon erstaunt, dass das von Ihnen, Herr Nooke, bereits erwähnte Papier in der Öffentlichkeit eine solch große Resonanz gefunden hat. ({2}) Denn es gibt darin keine einzige Erkenntnis, die nicht schon längst bekannt gewesen und in unzähligen Publikationen, die ich wegen der Kürze der Redezeit nicht alle aufzählen kann, verbreitet worden wäre. ({3}) Nichts ist wissenschaftlich so gut dokumentiert wie der Aufbau Ost, übrigens eine Fundgrube für Interessierte, Experten und Historiker. Zu den Erkenntnissen gehört zum Beispiel, dass eine Angleichung der Wirtschaftskraft der neuen Länder an die Wirtschaftskraft des schwächsten alten Bundeslandes frühestens in einem Zeitraum von 20 Jahren vorstellbar ist. ({4}) Deshalb sagen wir: Der Aufbau Ost ist eine Generationenaufgabe. Das haben Sie verschleiert. Wir sagen weiter: Der Aufholprozess Ostdeutschlands bleibt noch für lange Zeit auf der Tagesordnung. Die neuen Länder sind auf absehbare Zeit auf die Solidarität der alten Länder sowie des Bundes elementar angewiesen. Insofern bin ich Wolfgang Thierse dankbar, dass er mit seinen Thesen eine breite Öffentlichkeit hergestellt hat. Das kann bei der Bewältigung der Probleme beim Aufbau Ost nur nützlich sein, weil die Menschen die Zusammenhänge verstehen müssen. Allerdings will ich eines klarstellen: Wenn die Wirtschaft in den neuen Ländern nicht mehr wie in der ersten Hälfte der 90er-Jahre zweistellig wächst, sondern langsamer - auch langsamer als in Westdeutschland -, dann stagniert der Aufholprozess. Aber die ostdeutsche Wirtschaft steht nicht vor einem Absturz, sondern sie kommt nur nicht schnell genug aus dem Tal heraus. Die Talsohle hatten wir 1998 nach Ihrer Regierungszeit erreicht; ({5}) das hat uns die Politik der alten Bundesregierung beschert. Das zentrale Problem ist die Bildung eines ausreichenden Kapitalstocks, vor allem im verarbeitenden Gewerbe. Das verarbeitende Gewerbe bildet heute den Motor des Angleichungsprozesses zwischen Ost und West. Zu Beginn der 90er-Jahre war es die Bauwirtschaft. Wir löffeln die Fehlentscheidungen der alten Bundesregierung aus. Eines ist jedoch klar - das wissen die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern -: Wir lassen die Menschen mit den Folgen dieses Strukturwandels nicht allein. Wir begleiten ihn sozialverträglich mit arbeitsmarktpolitischen und regionalpolitischen Maßnahmen. Das geschieht in den neuen Ländern in einem Maß, von dem die Menschen in den ehemaligen RGW-Ländern nur träumen können. Wenn wir schon die Fehler der alten CDU/CSU-F.D.P.Regierung ansprechen, dann darf ich Sie, Herr Nooke, daran erinnern, dass diese Bundesregierung nicht die rasche Angleichung der Lebensverhältnisse versprochen hat. Diese Bundesregierung hat von Beginn ihrer Regierungstätigkeit an die Menschen darauf hingewiesen, dass wir beim Aufbau Ost noch eine lange Wegstrecke vor uns haben und dass dies allen Deutschen in Ost und West noch erhebliche - auch finanzielle - Opfer abverlangen wird. ({6}) Die Wirtschaftspolitik braucht Verlässlichkeit, Stetigkeit und einen klaren Kurs. Ich kenne in der wirtschaftspolitischen Diskussion über den Aufbau Ost niemanden, der die Politik der Bundesregierung vom Grundsatz her infrage stellt. Ich kenne kein ernst zu nehmendes Alternativkonzept zu dieser Politik: weder von der CDU/CSU noch von der F.D.P. oder der PDS. ({7}) Zum Solidarpakt vernehme ich aus den Oppositionsreihen einen vielstimmigen und übrigens sehr dissonanten Chor. ({8}) Machen Sie doch Ihre Vorschläge, wie wir es machen, und werten Sie die Diskussion darüber nicht als Streit in der SPD ab! Über einzelne Stellschrauben in der Politik kann und muss man sprechen. Auch die Bundesregierung wird nicht umhinkommen, dies zu tun; das wird sie nicht in Abrede stellen. Doch die Grundausrichtung dieser Politik stimmt. An ihr werden wir festhalten. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Cornelia Pieper von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rot-Grün hat beim Aufbau Ost versagt. Wie versteht diese Bundesregierung die „Chefsache Aufbau Ost“? Auch am heutigen Tag ist zur Aktuellen Stunde kein Bundesminister des Kabinetts von Rot-Grün anwesend. ({0}) - Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Regierungskoalition, es ist verständlich, dass Sie sich aufregen, aber das hilft den neuen Bundesländern nicht. Das, was Wolfgang Thierse als Thesenpapier für Ostdeutschland vorgelegt hat, ist eine Kritik an seiner eigenen Fraktion. Aber das hilft uns allen nicht weiter. Es ist imageschädigend, wenn sich ein Parteifreund aus Ihren Reihen zur Entwicklung in den neuen Bundesländern negativ äußert und die Entwicklung auf der Kippe sieht. Sie steht gar nicht auf der Kippe, aber Sie tragen dazu bei, dass die Entwicklung stagniert. ({1}) Staatsminister Schwanitz kritisiert das Papier von Thierse. Der scheidende Wirtschaftsminister Gabriel aus Sachsen-Anhalt fordert zu Recht eine radikale Überprüfung der Förderprogramme Ost und ein Zurückführen der ABM zugunsten des ersten Arbeitsmarktes. Dafür wird er vom Ministerpräsidenten Höppner entlassen. Aber dieser hat für die Wirtschaftspolitik in seinem eigenen Bundesland sowieso kein Verständnis. ({2}) Dies ist ein heilloses Chaos der rot-grünen Bundesregierung zum Aufbau Ost: drei Genossen und mindestens fünf Meinungen. ({3}) Die neuen Länder sind für Sie schon lange nicht mehr Chefsache oder Herzensangelegenheit, sie sind für Sie nur noch Streitsache. Genau dies brauchen wir aber für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern nicht. ({4}) Wir brauchen keine Schwarzmalerei à la Thierse und auch keine rosarote Brille à la Schwanitz, sondern eine differenzierte Betrachtungsweise. ({5}) 40 Jahre Bundesrepublik lassen sich eben nicht in zehn Jahren aufholen. Natürlich gibt es die Leuchttürme in den neuen Bundesländern: erfreuliche Zuwachsraten bei den Exporten und in der Industrie. Nichtsdestotrotz ist die industrielle Basis im Osten viel zu schwach, um einen Beschäftigungszuwachs zu erreichen. Dank Ihrer mittelstandsfeindlichen Gesetze - Stichwort Ökosteuer, Stichwort Steuerreform, die Kapitalgesellschaften bevorteilt kann es in den neuen Bundesländern natürlich auch nicht vorwärts gehen. ({6}) Wir sehen bis heute kein schlüssiges Gesamtkonzept für einen wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Ländern. Wir sehen nur einen „Schweigeminister“ namens Schwanitz. Aktuelles Beispiel dafür ist die Schließung von Bundeswehrstandorten; darüber werden wir morgen diskutieren. Das Personal der Bundeswehr soll in Ostdeutschland um 12 Prozent und in der Bundesrepublik insgesamt um 14 Prozent reduziert werden. Dies bedeutet, dass Sie den Osten, bezogen auf die dortige Bevölkerungszahl, bei der Schließung von Bundeswehrstandorten wieder einmal doppelt benachteiligen. ({7}) Die Bundeswehr ist gerade für die kleinen und mittelständischen Unternehmen in den neuen Ländern ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und hat auch eine soziale Integrationsfunktion. ({8}) Wo ist denn die Stimme von Herrn Schwanitz zu diesen Themen, die uns allgemein beschäftigen? Herr Gabriel, Ihr ehemaliger Wirtschaftsminister aus SachsenAnhalt, meinte, Ziel eines Ostbeauftragten müsste es sein, sich aufgrund einer Angleichung der Lebensverhältnisse spätestens nach 2005 selbst überflüssig zu machen. ({9}) Herr Schwanitz hat sich heute schon überflüssig gemacht. Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen, das Budget des Ostbeauftragten in Höhe von 2 Millionen DM für Investitionen für den Aufbau Ost zu verwenden. Davon hätten wir im Moment mehr als von seinem Schweigen. ({10}) Wir sind ein Land; Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und die anderen neuen Bundesländer sind gleichberechtigt. Das Verfassungsgebot, einheitliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland zu verwirklichen, ist zentrale Aufgabe aller Bundesministerien. Als Ostdeutsche brauchen wir kein Nischendasein. Vielmehr brauchen wir neue Ansätze in der Förderpolitik sowie Zielgenauigkeit und mehr Effizienz bei den Sonderprogrammen. Wir verlangen, dass alle Förderprogramme auf den Prüfstand kommen und auf ihre Effizienz überprüft werden. Wir brauchen die Konzentration auf die Verkehrsinfrastruktur und die wissenschaftliche Infrastruktur und wir brauchen eine neue Existenzgründeroffensive gerade für die neuen Bundesländer. ({11}) Ein Letztes: Herr Bundeskanzler - bitte übermitteln Sie es ihm, ebenso meine besten Genesungswünsche -, machen Sie endlich die Standortfrage in den neuen Bundesländern zur zentralen Frage! Die Airbus-Produktion findet schon nicht in Rostock statt. Sorgen Sie wenigstens dafür, dass das neue BMW-Werk in die neuen Bundesländer kommt. Die Standortfrage ist unter einem F.D.P.-Wirtschaftsminister immer eine zentrale Frage beim Aufbau Ost gewesen. ({12}) Zu Ihren Zeiten ist das leider verloren gegangen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Werner Schulz, Bündnis 90/ Die Grünen, das Wort.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie kommt es eigentlich normalerweise zu einer Aktuellen Stunde? - Eine Fraktion beantragt sie, wenn sie ein aktuelles Problem erkennt, wenn es ein brisantes Problem gibt, über das man kurzfristig reden muss. Aber der Aufbau Ost ({0}) - Paul Krüger, das weißt du aus der Zeit, als du innerhalb der CDU/CSU-Fraktion vergeblich darum gekämpft hast ({1}) - ist ein Dauerthema, das im Deutschen Bundestag nicht gerade unterbelichtet behandelt worden ist. ({2}) Wir haben dazu permanent Diskussionen. Im Frühjahr und im Herbst vergangenen Jahres haben wir anlässlich der Jahresberichte 1999 und 2000 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit erneut über dieses Thema diskutiert. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wir kommen überhaupt nicht weiter, wenn wir uns derart im Kreise drehen und diese Debatten allein unter Ostdeutschen führen. Ich erlebe das zum wiederholten Male, es ist im Grunde genommen ein altbekannter Schlagabtausch. ({3}) Wenn Sie diese Debatte aufwerten wollen, dann reden Sie, Herr Hirche, dann reden auch Sie, Herr Merz. Damit machen Sie dann deutlich, dass der Aufbau Ost eine Gemeinschaftsaufgabe ist. Wenn Sie den Bundeskanzler angreifen, würde mich im Übrigen interessieren, was Sie von der Sache verstehen. ({4}) Von Ihnen, Herr Merz, habe ich noch keine relevante Aussage gehört. Das Thema liegt bei Ihnen völlig brach. ({5}) Nun gibt es einen sehr interessanten Aufhänger: Sie sagen, Bundestagspräsident Thierse habe ein paar kontroverse Thesen in die Öffentlichkeit gebracht und darüber sollte man diskutieren. Präsident Thierse hat diese Thesen als stellvertretender Parteivorsitzender in die Öffentlichkeit gebracht. Zwischen den Funktionen Präsident und stellvertretender Parteivorsitzender sollte man unterscheiden, auch wenn das manchmal schwierig sein mag. Ich will das gern zugeben. ({6}) Seine Thesen werden innerhalb der SPD momentan sehr kontrovers diskutiert. Das ist gut; so sollte es jedenfalls in einer Partei, die offen und kontrovers diskutieren kann, sein. ({7}) Ich weiß nicht, warum der Deutsche Bundestag diese Diskussion hier nachvollziehen will. In diesem Zusammenhang können wir ja über innerparteiliche Probleme diskutieren. ({8}) Wir könnten darüber diskutieren, was sich im Augenblick bei Ihnen ereignet, zum Beispiel die Kritik der Ministerpräsidenten an Merz und Merkel, die offensichtlich außer den drei Anfangsbuchstaben ihres Familiennamens überhaupt keine Gemeinsamkeiten mehr aufzuweisen haben. ({9}) Wenn wir hier über die Entlassung von Gabriel in Sachsen-Anhalt reden, sollten wir vielleicht auch über die Entlassung von Herrn Milbradt in Sachsen durch Ministerpräsident Biedenkopf sprechen, der sich langsam als Kohl-Kopf gebärdet, weil er das nachvollzieht, was Helmut Kohl vorgemacht hat. Herr Biedenkopf erkennt überhaupt nicht, wann die Übergabe an einen Nachfolger zu geschehen hat, und bringt damit ein Land zu Schaden. Die Kritik an ihm kommt aus den eigenen Reihen. ({10}) - Das ist ein Thema. Wenn man einen Finanzminister entlässt, und zwar nicht wegen sachlicher Auseinandersetzungen, ist das ein Thema. ({11}) - Ich rede zum Aufbau Ost. Bei Gabriel lag eine Fehleinschätzung vor und deswegen hat es dort geknirscht. Bei Biedenkopf liegt ein anderes Problem vor: Hier wird einer nicht damit fertig, dass er irgendwann einmal das Zepter übergeben muss. Er entlässt deshalb einen Finanzminister in einer Situation, in der der Länderfinanzausgleich und die Ausgestaltung des Solidarpakts verhandelt werden, und schwächt damit im Grunde genommen ein neues Bundesland in seiner Verhandlungsposition. Wenn das ein Beitrag zum Aufbau Ost ist, dann gute Nacht! ({12}) - Ich weiß, bei Ihnen sah alles sehr viel besser aus. Ich verstehe dann nur nicht, wieso Sie heute eine solche Pauschalkritik üben, wenn es damals alles besser aussah. Ich freue mich über Ihre rege Beteiligung und darüber, dass ich Sie so aufwecken kann. Ich hätte mich noch mehr gefreut, wenn Sie ein Konzept vorgelegt hätten. ({13}) - Ich würde mich sehr freuen, wenn endlich das kommt, worauf wir acht Jahre lang, von 1990 bis 1998, gewartet haben. Wir haben darauf gewartet, dass endlich einmal ein Ansatz dazu vorgelegt wird. Das Konzept der Bundesregierung liegt vor; es ist mit dem Bericht zum Stand der deutschen Einheit an alle gegangen. Das sind die Prämissen, auf die wir immer wieder setzen müssen. Es wird kein Sofortprogramm „Aufbau Ost“ geben. Es gibt keinen sofortigen Durchbruch. Wir müssen im Grunde genommen die Innovationsfähigkeit der Unternehmen stärken. ({14}) Das macht diese Bundesregierung erstmals; sie hat das Problem erkannt und in mehrfacher Hinsicht neue Konzepte entwickelt. Wir müssen die Entwicklungsfähigkeit der Regionen sowie die Wirtschaftspotenziale in den Regionen stärken. Auch hierzu gibt es neue Programme, zum Beispiel Inno-Regio, das hervorragend läuft. Wir müssen Industrieansiedlungen forcieren. In diesem Zusammenhang lässt sich die Chip-Fabrik in Frankfurt/Oder als hervorragendes Beispiel für eine erfolgreiche Ansiedlungspolitik anführen. ({15}) Wenn Sie die vorausgegangene Debatte über die Chancen der ostdeutschen Landwirtschaft verfolgt haben, haben Sie mitbekommen, dass Chancen für Betriebe, die naturnah und in Einheiten produzieren, die rentabel sind, bestehen. ({16}) - Herr Merz, Sie grinsen so überheblich. Wenn Sie nur halbwegs von diesem Thema Ahnung hätten! ({17}) Ich würde mir wünschen, noch ein paar Minuten Redezeit zu haben, weil ich die Debatte darüber, was wir hier übernommen haben und wie weit wir gekommen sind, gern mit Ihnen führe. ({18}) Zum Schluss sage ich Ihnen, worin die Chefsache Aufbau Ost besteht. Wir hatten nämlich 1997 einen Absturz auf 0,7 Prozent Wirtschaftswachstum; wir hatten Nullwachstum. Es erforderte einen Riesenkraftakt, das umzudrehen und eine Trendwende einzuleiten. Dass wir heute 2 Prozent Wachstum haben, haben Sie dieser neuen Bundesregierung zu verdanken. ({19}) Das ist noch nicht genug, aber das ist eine Trendwende. Damals war der Absturz. Insofern kommt die Kritik etwas verspätet. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Christa Luft von der PDS-Fraktion.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Kaspereit, Kollege Schulz, ich habe Ihre Reden zum Thema Aufbau Ost bis in den Herbst 1998 hinein noch ganz gut im Ohr. Die hörten sich damals ganz anders an. ({0}) Das haben vermutlich auch viele Menschen, die uns zuhören und zuschauen, noch in Erinnerung. ({1}) Sie hätten damals Herrn Wolfgang Thierse für eine so pointierte Formel, wie er sie jetzt gefunden hat, laut Beifall gezollt. Heute kann er sich der Kritik nicht erwehren. ({2}) Das ist das Dilemma, in dem Sie sich befinden. Niemand, der mit offenen Augen durch den Osten geht, kann leugnen und wird leugnen, dass sich dort in den vergangenen zehn Jahren vieles zum Positiven entwickelt hat. Aber niemand, der mit offenen Augen durch den Osten geht, sollte auch leugnen, dass auch im dritten Jahr rot-grüner Regierungspolitik der Osten immer noch an einer Wegscheide steht, und zwar an der Wegscheide zwischen einem beschäftigungspolitisch weiter abschüssigen Pfad mit dauerhafter Verfestigung von Massenarbeitslosigkeit, mit Angewiesensein auf Alimentierung, vielleicht mit Altenheimperspektive und einer anderen Strecke, die gerichtet ist auf einen sozialökonomisch nachhaltigen, selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung mit Chancen für Jung und Alt im Osten und mit vielen Vorteilen für das vereinte Land. Auch das will ich einmal sagen. ({3}) Wir sollten nicht immer so tun, als sei der Osten nur eine Sache des Ostens. Nein, wie es dort vorangeht, das ist eine Sache des vereinten Landes. ({4}) Werner Schulz ({5}) Eine Entscheidung darüber, wohin es nun gehen soll an dieser Wegscheide, die Wolfgang Thierse eine „Kippe“ genannt hat, steht bislang aus. Es wäre dazu ein neuer politischer Anlauf erforderlich und der ist leider, obwohl der Osten zur Chefsache erklärt und ein Ostbeauftragter bestallt worden ist, nicht zu erkennen. Der Aufschwung Ost ist eines der schwächsten Glieder in der Arbeit der rotgrünen Bundesregierung. Das möchte ich aus meiner Sicht ganz deutlich unterstreichen. ({6}) Wer das nach den niederschmetternden jüngsten Arbeitsmarktzahlen zu leugnen wagt, dem ist wahrlich nicht zu helfen. Da können Sie sich auch nicht auf den Winter oder auf die immer noch lahmende Bauwirtschaft zurückziehen. Es gibt ganz viele andere Ursachen dafür, dass wir die Talsohle bisher nicht verlassen haben. Die Arbeitslosenrate betrug im Osten bei Antritt der neuen Regierung offiziell das 1,8fache der Rate in den alten Bundesländern. Heute beträgt die Rate das 2,3fache dessen, was wir in den alten Bundesländern haben. Das ist doch eine Besorgnis erregende Tendenz. Allein im Jahre 2000 zogen 14 000 Jugendliche einer Lehrstelle wegen in die alten Bundesländer. ({7}) Ein von der PDS geforderter Fahrplan für die Angleichung der Löhne, Gehälter und Renten wird, so wie von der Kohl-Mannschaft, auch von der neuen Regierung abgelehnt. Sind denn das alles, wie Sie, Herr Bundeskanzler, meinen, nur Empfindungen? Oder sind dies nicht ganz handfeste Daten? ({8}) Es ist natürlich richtig, dass Rot-Grün eine böse Hinterlassenschaft von Schwarz-Gelb übernommen hat, keine Frage. Aber es mangelt an neuen konzeptionellen Ansätzen. Es reicht auch nicht, allein über Geld und mehr Geld zu reden, so wichtig das ist. Hohe Zeit ist es aus unserer Sicht, endlich eine seriöse Evaluierung der überkommenen Wirtschaftsförderpraxis vorzunehmen. Üppige öffentliche Gelder dürfen nicht weiter als verlorene Zuschüsse ohne Beschäftigungs- und Ausbildungsplatzeffekte in der privaten Industrie versickern. ({9}) Die PDS wird dazu Vorschläge vorlegen. Zur Erschließung bzw. zur Wiedergewinnung von Märkten für ostdeutsche Produzenten überregional handelbarer Güter muss eine Offensive gestartet werden. Wenn die neuen Länder auf die eigenen Füße kommen, also wirtschaftlich gesunden sollen, dann brauchen sie einen Zugewinn an Marktanteilen. Beispielsweise stünde ein Bündnis für Aufträge aus Russland zur Modernisierung der Gas- und Ölindustrie an. Infolge der BSE-Krise muss eine beschäftigungsstimulierende, transportsenkende Regionalisierung der Nahrungsgüterversorgung sofort in Angriff genommen werden. Das Gebiet zwischen Elbe und Oder hätte davon seit Jahren profitieren können, wenn gerade die regionale Nahrungsgüterversorgung mehr gefördert worden wäre. Das gut qualifizierte, aber brachliegende Arbeitskräftepotenzial mittleren Alters in den neuen Bundesländern braucht andere Antworten als die Aussicht auf einen Niedriglohnjob und ein Ehrenamt. Die PDS will zum Beispiel, dass Projekte mehrjährig öffentlich geförderter, gemeinwohlorientierter Arbeit endlich auf die politische Agenda kommen. Chancen und Risiken der Osterweiterung der Europäischen Union zwingen in ihren Wirkungen auf Ostdeutschland zu haushalts- und finanzpolitischen Schlussfolgerungen. Was nützt es uns denn eigentlich, wenn die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 2006 zwar die Neuverschuldung auf null gesenkt hat, aber der Osten in Agonie verfallen ist, weil bei öffentlichen Investitionen gespart worden ist? ({10}) Das sind nur einige wenige Überlegungen, die in einem Aktionsprogramm für den Osten, das der Bundestagspräsident angeregt hat, Platz haben könnten. Lassen Sie mich zum Abschluss Folgendes sagen: Wenn all das, was der Bundestagspräsident angesprochen hat, nicht in wahltaktischem Aktionismus enden, sondern tatsächlich zu substanziellen Folgen führen soll, dann brauchen wir - sowohl bei der Regierung als auch bei den Koalitionsabgeordneten - ein Umdenken, was die Art und Weise des Herangehens an den Osten angeht. Die Neubundesbürger müssen endlich als Ideenträger und Akteure im Vereinigungsgeschehen, nicht immer nur als dessen Objekte wahrgenommen werden. Innovative Lösungen ostdeutscher Probleme können zugleich ein Beitrag zu alternativen Reformen im ganzen, im vereinten Land sein. Danke schön. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt für die Bundesregierung Staatsminister Rolf Schwanitz. ({0})

Not found (Gast)

Warten wir es einmal ab, Herr Kollege. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Luft, Sie haben gerade von einem sehr pointierten Analyse- und Vorschlagspapier gesprochen. Ich erinnere mich noch daran, dass der Kollege Claus in einer ersten Reaktion auf dieses Papier sagte, es habe eine Nähe zu alten PDS-Diagnosen und -Vorschlägen. Auch Sie haben das sehr differenziert gesehen. Ich glaube, ein Hauch von Wahlkampf weht schon durch diesen Saal. Das tut der ganzen Angelegenheit nicht gut. ({0}) Herr Nooke, Sie haben eine stolze Zahl von Zitaten vorgetragen. Was darin zum Ausdruck kam, ist richtig. Aber ich sage ausdrücklich: Es tut einer großen Volkspartei gut, wenn sie über die größte innenpolitische Herausforderung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg - es geht um die Entwicklung des seit 1990 vereinten Deutschlands - kontrovers diskutiert; das ist alles andere als ehrenrührig. Diese Debatte findet bei Ihnen nicht statt. ({1}) Ostdeutschland befindet sich nicht am Ende eines Weges, sondern in der Mitte einer Wegstrecke. Die schweren strukturellen Umbrüche sind noch nicht geschafft. Es vollzieht sich ein Wechsel der Wachstumskräfte. In der ersten Hälfte der 90er-Jahre boomte die Baubranche; dann ging die Entwicklung hin zu dem, was eigentlich eine moderne Ökonomie ausmachen muss, nämlich eine starke Industrie und vor allen Dingen ein starker Dienstleistungsbereich. Ein solcher Wandel vollzieht sich in einem mehrjährigen Prozess. Übrigens - Herr Schulz hat darauf hingewiesen -, sind die volkswirtschaftlichen Auswirkungen eines solchen Prozesses sehr wohl positiv und die heutigen Resultate sind anders als diejenigen, die zu dem Zeitpunkt vorlagen, als wir die Regierungsverantwortung übernommen haben. Während der letzten Legislaturperiode gab es einen Absturz der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten: von 11 Prozent 1994 bis auf 0,7 Prozent 1998. ({2}) Dass seit dem Regierungswechsel die Bruttoinlandsproduktionsraten wieder wachsen - um 1,5 Prozent 1999 und um etwa 2 Prozent 2000, wie ich annehme - und dass sich das auch fortsetzen wird, ist ein gutes Zeichen für eine Trendwende. Darauf können die Menschen in Ostdeutschland stolz sein. ({3}) Dass Sie überhaupt kein Interesse daran haben, über diesen Strukturbruch zu reden, ist mir ja völlig klar. Natürlich steht die schwierige Situation durch die aufgeblähte Baubranche in Ostdeutschland im Zusammenhang mit Ihrer politischen Tätigkeit in den zurückliegenden Jahren. Das geht auf die Förderkulissen zurück. So wurden zum Beispiel jahrelang undifferenzierte Sonderabschreibungsregelungen ermöglicht. ({4}) Deswegen sage ich ausdrücklich, dass uns Bilder wie „auf der Kippe stehen“, wie „Absturz“ oder - wie von Ihnen, Herr Nooke, gestern noch einmal im „Tagesspiegel“ zu lesen war - “abgekoppeltes Gebiet“ nicht weiterhelfen. Das wird auch der Realität nicht gerecht. ({5}) Was muss geschehen? Welche Förderkonditionen sind notwendig? Der sehr angesehene Leiter des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, Herr Professor Pohl, hat gestern in der „Lausitzer Rundschau“ eine interessante Antwort auf die Frage gegeben: Bedarf es zusätzlicher Programme für den Osten? Er hat geantwortet: Nein, ich kann mir auch keines mehr vorstellen. Er hat weiter geantwortet: Der Aufbauprozess muss so weitergeführt werden, wie er angelegt ist, mit einem zweiten Solidarpakt, dem Abbau der Infrastrukturlücke und einer hohen Priorität bei der Ausbildung. ({6}) Meine Damen und Herren, so weit, dass ich sage, wir denken nicht kritisch über Förderprogramme nach, will ich nicht gehen. Es geht aber in der Tat genau um diese Themen. ({7}) Es war richtig - wir werden diesen Weg auch fortsetzen -, dass wir im Rahmen dieses Aufbaukonzeptes die Innovationsförderung in Ostdeutschland ausbauen und dabei helfen, Netzwerke zwischen den kleinen Unternehmen, den Forschungseinrichtungen, den Hochschulen und der unternehmerischen Basis zu knüpfen. ({8}) Dabei müssen wir auch die Grundlage für eine neue Qualität bei den Investitionen schaffen. Ein Beispiel dafür stellt ja das gestern bekannt gegebene Investitionsvorhaben in Frankfurt/Oder dar. Intel ist nicht nur aufgrund hochattraktiver Investitionsförderungskonditionen nach Frankfurt/Oder gegangen, sondern auch deswegen, weil im Umfeld eine Verknüpfung von hochwissenschaftlicher Innovationstätigkeit auf der einen Seite mit industrieller Verwendung auf der anderen Seite möglich ist. Diese Leistungen konnten Ostdeutsche erbringen. Darauf können die Menschen stolz sein. ({9}) Es ist richtig, dass wir Differenzierungen bei der Förderung vorgenommen haben und die Investitionszulagen nicht flächendeckend gewähren, so wie es zu Ihrer Zeit der Fall war. ({10}) Vielmehr haben wir sie zusätzlich auf Erstinvestitionen ausgerichtet und regional differenziert auf das Grenzland fokussiert. Diese Differenzierung ist notwendig und entspricht der Entwicklung in Ostdeutschland. ({11}) Ausdrücklich möchte ich sagen, dass es nicht möglich ist, in fünf Minuten über die ganze Bandbreite des Aufbaus Ost zu sprechen. Wenn Sie eine ernsthafte Ost-Debatte führen wollen, stellen Sie einen Antrag und verlanStaatsminister Rolf Schwanitz gen Sie hier eine Debatte. Dazu bin ich herzlich gern bereit. ({12}) Schließlich steigt die Bundesregierung in Themen ein, die von Ihnen immer als Tabuthemen behandelt wurden. Ich greife einmal das Thema Wohnungsleerstand heraus. Dieser ist bei den ostdeutschen Wohnungsunternehmen ja nun wirklich nicht in den letzten zwei Jahren entstanden. Das glauben Sie doch ernsthaft - mit Verlaub - selber nicht. Wir müssen in zentrale Themen einsteigen, die Sie früher ausschließlich als Angelegenheiten der Länder definiert haben. Das ist ein wirklich wichtiger und richtiger Schritt, der übrigens auch dringend notwendig ist. Zum Schluss sage ich Ihnen, ({13}) meine Damen und Herren, ganz klar: Eines werden wir nicht machen. Wir werden den Menschen nicht einreden, dass man - wir reden jetzt vom Solidarpakt II und einer Finanzverfassung, die bis in das Jahr 2015 reicht, um die Dimension der Wegstrecke einmal deutlich zu machen wie Harry Potter mit einem Zauberstab über diese Landschaften fliegen und den Weg auf drei bis fünf Jahre verkürzen könne. Das wäre unredlich. ({14}) Das und übrigens auch das permanente Bild von einem Fahrplan zur Angleichung der Lebensverhältnisse - als ginge es darum, dass sich die Politik mit der Trillerpfeife in der Hand hinstellt und den Zug abfahren lässt - führt zu einer Schädigung der Situation, weil der Weg, der gegangen werden muss, nicht mehr wahrgenommen werden kann. Wir decken nicht zu, was geleistet werden muss, und zwar gesamtdeutsch; denn die Westdeutschen müssen die Solidarität für diesen Weg aufbringen. Das ist nicht nur ein Thema für Ostdeutschland. Der Weg muss wahrhaftig beschrieben werden, anstatt in einen investiven Attentismus zu verfallen, mit der Folge, dass Erwartungshaltungen produziert werden und die Investoren sich zurückhalten in der Hoffnung, es werde noch eine Superwurst kommen. Wir werden dies auch nicht auf Ihren Wunsch hin ins Werk setzen; denn wir sind der Interessenlage der Menschen verpflichtet und nicht einer parteipolitischen Ausrichtung. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Klinkert von der CDU/CSUFraktion.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Er wolle die neuen Bundesländer zur Chefsache machen und sich an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen, tönte Gerhard Schröder kurz vor und nach der Wahl 1998. Zwei Jahre nach diesen Ankündigungen mehren sich deutlich die Zeichen, dass nicht nur die Ernsthaftigkeit der Versprechen und die Durchsetzungskraft des Kanzlers zu hinterfragen sind, sondern dass es am ehrlichen Willen der rot-grünen Bundesregierung fehlt, die notwendigen Kraftanstrengungen aufzubringen, um die neuen Bundesländer nach vorne zu bringen. ({0}) Die nüchterne Analyse, die nicht von Herrn Thierse stammt - er hat sie nur aufgegriffen und dankenswerterweise publik gemacht -, zeigt, dass die Arbeitslosigkeit im Osten in den zwei Jahren rot-grüner Regierung auf das fast Zweieinhalbfache der Arbeitslosigkeit im Westen gestiegen ist. 200 000 Arbeitsplätze wurden in den neuen Ländern abgebaut. Mit weniger als fünf Millionen Arbeitsplätzen haben wir in den neuen Ländern so wenig Arbeitsplätze und so viel Arbeitslose wie noch nie zuvor. Das ist eine Entwicklung, die die Bundesregierung offensichtlich tatenlos hinnimmt. Seit Kanzler Schröder den Aufbau in den neuen Bundesländern zur Chefsache erklärt hat, ist die Abwanderung vom Osten in den Westen auf das Vierfache angestiegen. Herr Schwanitz, auch das ist eine Erklärung dafür, warum der Wohnungsleerstand in den neuen Bundesländern in den letzten zwei Jahren drastisch zugenommen hat. ({1}) Die Analysen sind so ernüchternd und entlarvend, dass der Bundeskanzler, aber auch sein ostdeutsches Feigenblatt Schwanitz dazu noch nicht verbindlich Stellung genommen haben. Das, was Herr Schwanitz heute geboten hat, ist alles andere als ein Fahrplan für eine bessere Entwicklung in den neuen Bundesländern. ({2}) Auch zehn Jahre nach der deutschen Einheit kranken die neuen Bundesländer nach wie vor an dem riesengroßen Rückstand bei der Infrastruktur. Aber statt die Anstrengungen zu verstärken oder den Ausbau der Infrastruktur wenigstens auf dem bisherigen Niveau weiter zu fördern, hat die rot-grüne Bundesregierung gerade hier den Rotstift angesetzt. Sie haben mehrere 100 Millionen DM beim Ausbau der Bahn und des Straßenverkehrsnetzes gekürzt. Die UMTS-Milliarden, die Sie für das Anti-Stau-Programm eingesetzt haben, werden vorrangig in den Westen umgeleitet. Sie haben die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ um mehrere 100 Millionen DM pro Jahr reduziert und Sie haben drastische Einschnitte bei den Forschungsmitteln vorgenommen. Das in meinem Wahlkreis gelegene Arbeitsamt Hoyerswerda weist in diesem Monat eine sprunghafte Zunahme der Arbeitslosigkeit auf fast 25 Prozent aus. Dieser Anstieg hat seine Ursache unter anderem in der vertragswidrigen Kürzung der Braunkohlesanierungsmittel. Im Jahre 2001 stehen mehr als 100 Millionen DM weniger zur Verfügung als im Jahr zuvor, und das angesichts eines gültigen Vertrages, den Sie - wie ich bereits sagte - vertragswidrig geändert haben. Dies führte in den Sanierungsbetrieben zu Entlassungen in dramatischer Höhe. Gleichzeitig führen Sie einen Globalangriff gegen den wichtigsten ostdeutschen Wirtschaftszweig, nämlich gegen den Bereich der aktiven Braunkohlenförderung und -verstromung. Die Grünen haben nach der Kernenergie jetzt die Braunkohle zu ihrem Hauptfeind erklärt. ({3}) Trittin droht mit Sanktionen, um von seinem nationalen und internationalen Versagen in der Klimaschutzpolitik abzulenken. Die rot-grüne Koalition verlangt vehement eine planwirtschaftliche KWK-Quote, die Tausende Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern und sicher zum Teil auch in den alten Bundesländern kosten würde, falls sie umgesetzt wird. ({4}) Ein weiterer Ausdruck der Vernachlässigung der neuen Bundesländer ist die überproportionale Kürzung bei den Militärstandorten. ({5}) Es ist geradezu zynisch, wenn der Bundesverteidigungsminister sagt, er könne an Schneeberg nur dann festhalten, wenn die Sachsen einen gleichwertigen Standort zur Disposition stellen. Man muss Herrn Schwanitz dazu sagen: Es gibt kaum einen gleichwertigen Standort; denn Schneeberg ist einer der ganz wenigen Standorte in strukturschwachen Regionen, die geschlossen werden sollen. ({6}) Die Bundesregierung reduziert mit ihren Beschlüssen zusätzlich die Kaufkraft der Bürger in den alten, aber insbesondere auch in den neuen Bundesländern, was sich dann auf die Entwicklung der mittelständischen Industrie auswirkt. Ein Ehepaar mit einer durchschnittlichen Rente bekommt aufgrund der Ökosteuer und des Rentenbetrugs rund 1 000 DM weniger im Jahr. Das macht bei einer Stadt von 50 000 Einwohnern circa 6 bis 7 Millionen DM Kaufkraftverlust im Jahr aus. Das ist die Realität beim Aufbau Ost à la Schröder. ({7}) Wir brauchen eine bessere Entwicklung der Infrastruktur, eine deutliche Exportförderung und eine Entbürokratisierung der Wirtschaft. Bei all diesen Problemfeldern haben Sie bisher völlig versagt. Wie hat Herr Thierse in seinem Brief richtig zum Ausdruck gebracht: Anders als 1998 wird man uns bei der nächsten Wahl nicht an unseren Versprechungen, sondern an unseren Leistungen messen. ({8}) Dies, meine Damen und Herren von der SPD, sollten Sie sich eingerahmt in Ihren Fraktionssaal hängen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Franz Thönnes.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Situation im Osten wird nicht wahrer und klarer, wenn alle möglichen Problemfelder so zu einem Brei vermischt werden, wie das gerade mein Vorredner gemacht hat. ({0}) Es ist einfach die Wahrheit, dass Sie blühende Landschaften versprochen haben, obwohl den Menschen klar war und auch heute noch klar ist, dass eine marode Wirtschaft nicht innerhalb von zehn Jahren auf Vordermann gebracht werden kann, sondern dass dies Schritt für Schritt erfolgen muss. Man muss den Menschen Mut machen. Und statt zu jammern „Das Glas ist halb leer!“ muss man sagen: Das Glas ist halb voll. ({1}) Man sollte deswegen auch über die positiven Signale sprechen, die uns erreichen: Die Arbeitslosenquote ist im Zweijahresdurchschnitt von 18,2 auf 17,4 Prozent zurückgegangen. Die industrielle Produktion hat kräftig zugelegt. Wir spüren zwar deutlich, dass das nicht ausreicht, um den Beschäftigungsrückgang im Baugewerbe und im öffentlichen Dienst auszugleichen. Wir wollen auch gar nicht die dadurch entstehende kurzfristige Belastung leugnen. Aber wenn wir genau hinschauen, dann können wir erkennen - das hat auch der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Jagoda, festgestellt -, dass sich die Struktur der Beschäftigung verbessert hat. Auch in den neuen Ländern gibt es regionale Unterschiede, die man zur Kenntnis nehmen muss. In Dresden, Gera, Suhl und Potsdam lag die Arbeitslosenquote im Dezember zwischen 13 und 14 Prozent. Damit haben wir eine vergleichbare Situation wie in den strukturschwachen Regionen im Westen, zum Beispiel wie in Emden, Dortmund und Gelsenkirchen. Wir brauchen erfolgreiche Beispiele, an denen deutlich wird, dass die industriellen Arbeitsplätze sicher sind und neue nach sich ziehen. Ein ganz wichtiger Bereich, der hier bislang keine Rolle gespielt hat, ist das Engagement dieser Koalition für die jungen Menschen in diesem Land mit dem Sonderprogramm JUMP, das mit 2 Milliarden DM in unveränderter Höhe fortgesetzt wird. Davon werden aber im Jahr 2001 50 Prozent statt 40 Prozent in den Osten fließen. ({2}) Allein im letzten Jahr haben durch dieses Programm 34 600 junge Menschen eine Perspektive erhalten. Wenn sich das nicht im gleichen Umfang auf den Arbeitsmarkt auswirkt, hat das etwas damit zu tun, dass wir bewusst solche jungen Menschen ansprechen, die bisher nicht bei den Arbeitsämtern registriert waren. Dies ist die zentrale Herausforderung: jungen Menschen eine Perspektive zu geben. Denn jede Mark, die hier investiert wird, ist sinnvoller investiert, als wenn sie in Resozialisierungsmaßnahmen oder Jugendstrafanstalten investiert werden muss. ({3}) Hinzu kommt, dass die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik gestiegen sind. So erhält der Osten Deutschlands mit 13,8 Milliarden DM 50 Prozent der Mittel des Eingliederungstitels. Wenn man sich anschaut, wie sich der Anteil der aktiven Arbeitsmarktpolitik insgesamt entwickelt hat, stellt man fest, dass er sich mittlerweile in einer Größenordnung von 53 Prozent bewegt. ({4}) Wir haben jetzt zu hinterfragen, warum die 3 Milliarden DM, die für Strukturanpassungsmaßnahmen vorgesehen waren, nicht abgeflossen sind. Das merken wir durchaus kritisch an. Das darf nicht noch einmal passieren. Gerade Strukturanpassungsmaßnahmen können gut mit der örtlichen Infrastrukturförderung kombiniert werden. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein besonders für den Osten positives Beispiel nennen. Die Existenzgründer im Osten hatten in den Jahren 1999 und 2000 einen größeren Anteil an dem Förderbetrag in Höhe von 1,4 Milliarden DM als die Existenzgründer im Westen. Wir können zufrieden zur Kenntnis nehmen, dass der Bundesanstalt für Arbeit zufolge von den ostdeutschen Jungunternehmen stärkere Beschäftigungsimpulse ausgehen als von den westdeutschen Unternehmen; in den neuen Ländern hätten durch diese Maßnahmen nicht nur mehr Ausbildungsplätze, sondern auch mehr reguläre sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze als im Westen geschaffen werden können. Das ist ein Erfolg. Dadurch zeigt sich ganz deutlich, dass die Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik sinnvoll eingesetzt werden können. Ich möchte einen weiteren Faktor nennen, von dem ich glaube, dass er in der Zukunft zentral ist, wenn es darum geht, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Wir werden einen Antrag in den Deutschen Bundestag einbringen, mit dem wir die Jobrotation fördern wollen. Das heißt, wir wollen Arbeitslosigkeit und Weiterbildung sinnvoll so verknüpfen, dass die Betriebe und die Mitarbeiter qualitativ auf den Stand der Zeit kommen und gleichzeitig Stellvertreter, die vom Arbeitsamt gefördert werden, in die Lage versetzt werden, einen Arbeitsplatz zu erhalten. ({5}) Ich glaube, dass wir bei den Maßnahmen der Wirtschaftsförderung sehr genau hinschauen müssen. Die Norddeutsche Landesbank hat gerade eine Studie vorgelegt, in der die Gründe für die Produktivitätslücke im Osten genannt werden: Branchenstruktur, Mangel an Unternehmenszentralen, Niedrigpreisstrategien und Managementdefizite. Das heißt, mit Geld allein ist es nicht getan, sondern es geht auch um qualitative Förderung und darum, Zeichen zu setzen. Deswegen möchte ich abschließend meinen Glückwunsch an die Stadt Frankfurt/Oder aussprechen. Mit der Investition, die jetzt dort im Mikroelektroniksektor getätigt wird - mit 3,15 Milliarden DM die größte innerhalb der letzten zehn Jahre -, werden 3 500 Arbeitsplätze entstehen. Angefangen hat man mit einem Forschungsinstitut, um das herum sich nun wirtschaftliche und industrielle Kraft ansiedelt. Das ist die zentrale Perspektive für die Zukunft. Deswegen sage ich Ihnen mit einem alten chinesischen Sprichwort: Es ist besser, ein Licht in der Dunkelheit anzuzünden, als dauernd über die Finsternis zu klagen. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht nun der Kollege Peter Rauen.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Thönnes, ich bin sehr dafür, dass wir auch über das reden, was gut läuft. Das führt zur Ermunterung und begegnet Defätismus. Ich muss schon sagen: Was der Beauftragte der Regierung für die neuen Bundesländer, Herr Schwanitz, hier gesagt hat, war ohne jegliche Perspektive. Das war die personifizierte Perspektivlosigkeit. Da hätte ich von Ihnen, Herr Schwanitz, einiges mehr erwartet. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns schon Gedanken machen, wenn wir in den neuen Bundesländern einen negativen Wanderungssaldo feststellen. Das geht uns alle an, erst recht, wenn junge Leute weggehen und ältere zurückkommen. Langfristig hat das verheerende Folgen. Das kann uns nicht kalt lassen. Das zeigt mir, dass wir zwar vieles, insbesondere im Sozialbereich, mit staatlichen Mitteln klären können, aber letztendlich einen selbst tragenden Aufschwung brauchen, um in den neuen Bundesländern langfristig die Arbeitsplätze zu haben, die wir brauchen. ({1}) Das ist einfach eine Tatsache. Es besteht eine Produktivitätslücke, die seit etwa sechs Jahren zwischen 24 Prozent und 26 Prozent verharrt. Diese Lücke müssen wir schließen. Wir wissen auch, dass alleine 15 Prozent der Produktivitätslücke darauf zurückzuführen sind, dass es noch nicht genügend Verkehrswege gibt. Hier versagt die neue Regierung. ({2}) Wirtschaftliche Verkehrswege sind Voraussetzung für Prosperität und wirtschaftliches Wachstum. Es kann nicht angehen, dass man Pläne für moderne Verkehrsmittel nicht weiterverfolgt hat und dass man nicht stärker versucht, die Lücke bei der Infrastruktur zu schließen. Hier muss wesentlich mehr getan werden, als zurzeit getan wird. ({3}) Meine Damen und Herren, ich fürchte, im Rahmen der Finanzierung über den normalen Haushalt wird dies nicht möglich sein. Wir müssen nach neuen Finanzierungswegen suchen, um die Infrastruktur in den neuen Bundesländern viel schneller zu verbessern, als wir dies mit den üblichen Haushaltsfinanzierungsmitteln könnten. ({4}) Darüber hinaus muss uns eines zu denken geben: Ich habe zur Kenntnis zu nehmen, dass in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren fast genauso viele Firmen Konkurs gegangen wie neue geschaffen worden sind. ({5}) Aber ohne Unternehmen gibt es keine Arbeitsplätze. Die Kollegin der F.D.P. hat Recht: ({6}) Die Verschlechterungen, die den Mittelstand treffen, treffen natürlich die Schwächsten und umso mehr die jungen Firmen in den neuen Bundesländern, die noch keine Substanz, noch kein Eigenkapital haben. Ich sage das auch aus ganz persönlicher Sicht. Seit 35 Jahren bin ich selbstständig. Ich habe noch nie so viele Sorgen gehabt, für meine Mitarbeiter Arbeit zu finden, wie zurzeit. Wir bieten teilweise, um die Beschäftigung zu halten, unter den Gestehungskosten an. ({7}) Das geht aber nur, wenn Substanz da ist - Substanz, die junge Firmen in den neuen Bundesländern überhaupt noch nicht haben können. Deshalb haben wir zu beklagen, dass die Firmen den Druck nicht aushalten und wieder liquidiert werden. Meine Damen und Herren, in diesem Punkt müssen wir ganz entscheidend verbessern. Ich habe mir einmal angeschaut, was wir den Firmen in den neuen Bundesländern alles zumuten. Viele der Regulierungen auf dem Arbeitsmarkt, die heute in den alten Ländern gelten, sind nach 1970 erlassen worden: als nach dem Wiederaufbau die Substanz vorhanden und das Wesentlichste geschafft war. In den neuen Bundesländern aber haben wir den Firmen diese Regelungsdichte sofort auferlegt und erwarten, dass sie automatisch damit zurechtkommen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir dies ändern können. ({8}) Ich nehme sehr bewusst die Wirtschaftsminister der neuen Länder wahr, die eigentlich im Vergleich der Bundesländer relativ gute Ergebnisse vorweisen können. Wenn zum Beispiel Minister Fürniß aus Brandenburg im Hinblick auf den Arbeitsmarkt sagt, er brauche ein Experimentierfeld für Deregulierungen, dann könne er vieles lösen, wenn der Minister für Wirtschaft und Arbeit in Sachsen, Herr Schommer, sagt, er brauche mehr Gestaltungsfreiheit auf dem Arbeitsmarkt, man müsse sich von den verkrusteten westdeutschen Strukturen lösen und benötige eine arbeitsmarktpolitische Experimentierwerkstatt, so sollte man dies sehr ernst nehmen und insgesamt wieder einmal fragen, wo wir hinsichtlich des Funktionierens unserer sozialen Marktwirtschaft vielleicht übertrieben haben. Wir müssen uns fragen: Können wir automatisch verlangen, dass Firmen im Aufbau, die einen Nachholprozess zu durchlaufen haben, sich all das leisten, was uns im Westen in 40 Jahren lieb und teuer - vor allen Dingen teuer - geworden ist? ({9}) Ich rufe uns alle dazu auf, darüber nachzudenken, wie wir deregulieren können, um sowohl für die neuen als auch für die alten Bundesländer Chancen für eine bessere Zukunft des Arbeitsmarktes zu schaffen. Das sollte uns alle berühren. Darüber nachzudenken - ohne Streit - lohnt sich für uns alle. Danke schön. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Antje Hermenau.

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Jetzt sind wir in der Debatte über den Aufbau Ost genau da, wo sich auch der Aufbau Ost befindet, nämlich in den Mühen der Ebene. Sie merken, die Beiträge werden technokratischer und es gibt keinen Befreiungsschlag, stattdessen reden wir über die vielen Details des mühsamen Geschäfts. Ich glaube, Herr Schwanitz, der Bundeskanzler hat Ihnen keinen Gefallen getan, als er den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt hat. ({0}) Dies hatte dieselbe Wirkung auf die Menschen wie das Versprechen von den blühenden Landschaften. Eigentlich müssen diejenigen, die den Aufbau Ost ernsthaft betreiben, zugeben: Es ist ein mühsames Geschäft, das sich über Jahre und Jahrzehnte hinziehen wird; wir werden dabei eine Menge zu leisten haben. Deswegen sollten wir jetzt über das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen reden. Wenn etwas in dem Streit der letzten Tage und Wochen klar geworden ist, dann dies: Eigentlich müsste in jeder Partei genau der Streit stattfinden, der jetzt in der SPD stattfindet. In der CDU zum Beispiel höre ich davon nichts. ({1}) Wir arbeiten noch daran, von der F.D.P. habe ich nur eine Stimme gehört und die PDS ist sowieso außen vor. ({2}) - Lassen wir diese Frage einfach offen! Es gibt flotte Sprüche von Herrn Gabriel und Pathos von Herrn Thierse. Daneben gibt es eine Gruppe in der CDU/CSU-Fraktion, die sich seit zehn Jahren mit gleich bleibendem Erfolg darum bemüht. ({3}) Wir Ostdeutschen haben das gleiche Problem, wir sind in jeder Partei in der Minderheit. Das sage ich Ihnen ganz nüchtern aus der Erfahrung in der politischen Arbeit der letzten Jahre. ({4}) Nun gibt es einen Ausschuss, in dem die Ostdeutschen die Mehrheit haben. Ist das deswegen ein revolutionäres Gremium geworden? Davon höre ich nichts. ({5}) Wo ist das neue Selbstbewusstsein der Ostdeutschen? Ich habe mich das die ganze Zeit, in der ich diese Debatte hier verfolgte, gefragt. Es hat eine Debatte darüber gegeben, die deutlich gemacht hat, dass wir für den Solidarpakt auch beim Länderfinanzausgleich kämpfen müssen. Von Herrn Stoiber höre ich ständig, die Bayern hätten in kurzer Zeit aus dem Geld, das sie aus dem Aufbau Süd bekommen haben, richtig etwas gemacht. Wenn ich mir das genau ansehe, stelle ich fest, das ist nicht in zehn Jahren passiert und es ist auch nicht flächendeckend passiert. ({6}) Für mich heißt das: Lernen aus dem Aufbau Süd! Auch der Aufbau Ost wird länger als zehn Jahre dauern und wird nicht flächendeckend sein. Das muss man ehrlich zugeben. Ich komme nun zum Länderfinanzausgleich. Die Steuerkraft der ostdeutschen Kommunen liegt bei einem Drittel des durchschnittlichen Westniveaus. In dieser Situation wollen Sie beim Länderfinanzausgleich darauf achten, dass der Osten nicht zu viel bekommt. Er kann gar nicht zu viel bekommen, diese Gefahr gibt es gar nicht. Ich bin dafür, so viel wie möglich im normalen Gefüge des Länderfinanzausgleichs zu regeln und so wenig wie möglich durch Sonderprogramme umzusetzen, aber ich sage auch: Um den Solidarpakt II kommen wir nicht herum. Auch das ist ein ehrliches Fazit dieser Debatte. ({7}) Wir werden sehen, ob alle Ostdeutschen in diesem Bundestag gemeinsam um diese „Ressourcen“ kämpfen werden, wie es Herr Thierse so schön, wenn auch ein wenig pathetisch, wie ich meine, formuliert hat. Ich komme nun zu meinem letzten Punkt. Warum streiten wir uns eigentlich so heftig bei dieser Debatte? Das ist ganz klar: Es geht um die gefühlte Temperatur im Osten. Wenn Sie eifrige Wetterberichthörer sind, dann wissen Sie, dass es die objektive und die gefühlte Temperatur gibt. So ähnlich ist es auch beim Aufbau Ost. Die wirkliche Temperatur ist ein bisschen besser als die gefühlte, weil uns ein kalter Wind entgegenbläst oder wir uns falsch angezogen haben. Im Prinzip haben wir eine ganze Reihe von Instrumenten im Osten, die sich als untauglich erweisen, weil sie nicht auf Dauer angelegt worden sind. Das ständige Lamento über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gehört dazu. Wir reden seit Jahren darüber, dass sie nicht zureichend sind. Das wissen wir. Wir Ostdeutsche befinden uns inzwischen in einer würdelosen Diskussion, weil wir Jahr für Jahr um ABM betteln müssen, welche für diejenigen, die in einer solchen Maßnahme sind, gar nicht das Beste ist, was man ihnen anbieten konnte. Wollten wir mehr Würde in der Debatte über die Arbeitsmarktpolitik im Osten, dann müssten wir ehrlich zugeben: Es gibt eine Reihe von Menschen, die Opfer der Umstrukturierung im Osten sind. Diesen Menschen ist mit einer ABM oder einer Fortbildung nach dem 55. Lebensjahr auch nicht mehr geholfen; mitunter ist es eher eine entwürdigende Prozedur für diese Menschen, nur um ein bestimmtes finanzielles Einkommen zu erreichen. Ich bin der Auffassung, dass wir uns um diesen Streitpunkt im nächsten halben Jahr kümmern müssen, damit wir hier vorankommen. Es geht um die Würde derjenigen, die an der Umstrukturierung im Osten nicht mehr beteiligt werden können, weil es sich wirtschaftlich nicht machen lässt. ({8}) Diese Instrumente haben damals, als die blühenden Landschaften verkündet wurden und alle noch den Aufbau Ost geübt haben und keiner wusste, was daraus wird, sicherlich getaugt. Aber inzwischen ist deren Tauglichkeit durch die Praxis mehr als infrage gestellt. Wir müssen uns da auf etwas Neues besinnen. Deswegen habe ich heute angefangen, von einem neuen Selbstbewusstsein des Ostens zu sprechen. Dazu gehört: Ich bestehe darauf, dass man uns in Würde mit der notwendigen Umstrukturierung umgehen und uns in Würde unsere eigenen Vorschläge dazu entwickeln lässt. Man sollte endlich aufhören, im Zuge von Feuerwehraktionen alle zwei Jahre zu postulieren zu versuchen: Jetzt gibt es im Aufbau Ost einen Sprung. - Die Würde besteht auch darin, zu erkennen, dass der Umstrukturierungsprozess lange dauern wird, mühsam ist und wir uns alle an ihm beteiligen müssen. Danke schön. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Dr. Paul Krüger für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über die Thesen des SPD-Vizevorsitzenden Wolfgang Thierse. Herr Schulz, wir sollten uns darüber nicht so sehr ereifern, auch wenn der Streit darüber in der SPD offensichtlich relativ hohe Wellen schlägt. ({0}) Wir sollten vielmehr sachlich darüber sprechen und Herrn Thierse im Rahmen der Bilanz, die wir heute ziehen, nicht Unrecht tun. Die Frage, über deren Beantwortung in der SPD gestritten wird, lautet: Ist die Bilanz von Herrn Thierse überhaupt richtig? Dazu kann ich nur sagen: Vieles von dem, was Herr Thierse aufzählt, ist Fakt. Recht hat er insbesondere dann, wenn er von der Stagnation des Bruttoinlandsproduktes und der Arbeitsproduktivität sowie vom Arbeitsplatzabbau spricht. Das alles ist heute schon erörtert worden. Noch nicht gesagt wurde, dass die Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Ländern, seitdem die jetzige Koalition an der Regierung ist, um 15 Prozent gestiegen ist. ({1}) Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist in den neuen Bundesländern um 10 Prozent gestiegen. Herr Thierse stellt die Frage: „Steht der Osten auf der Kippe?“ Ich würde sagen: Er steht nicht auf der Kippe, allerdings ist seit 1998 - und zum Teil schon davor - ein kontinuierlicher Trend zu verzeichnen. Herr Thierse bezeichnet diesen Trend in seiner zweiten These als Abwärtstrend. Wir müssen aufpassen - deshalb ist diese Debatte hier sehr wichtig -, dass dieser Abwärtstrend nicht fortgesetzt wird. Auch wenn es keine weiteren Gründe gäbe, über dieses Thema zu diskutieren, so gibt es doch einen wichtigen Grund: die Abwanderung aus dem Osten. Das ist das zentrale Problem, das wir zurzeit in Ostdeutschland haben. Diese Abwanderung ist bis 1997 drastisch zurückgegangen. Seit 1998 steigt sie wieder. Sie hat sich bis heute pro Jahr vervierfacht. Dieses Problem müssen wir ernst nehmen, weil durch diese Abwanderung die Substanz in den neuen Bundesländern verloren geht. ({2}) Diese Abwanderung hat eine Menge wirtschaftlicher und sozialer Folgen, mit denen sich die neuen Bundesländer und mit denen auch wir uns auseinander zu setzen haben. Eine weitere Frage, über deren Beantwortung Sie in der SPD streiten, ist die, ob das Ziehen einer solchen Bilanz überhaupt zweckmäßig ist. Dies kann natürlich auch gefährlich sein; das ist heute schon angesprochen worden. Zum einen ist es immer gut, wenn man eine klare Situationsanalyse vornimmt, wie es Herr Thierse getan hat. Zum anderen ist es insofern gefährlich, als wir aufpassen müssen, dass die Menschen durch eine Offenlegung der im Osten bestehenden Probleme nicht noch deprimierter werden und nicht noch stärker in ein Abhängigkeitsgefühl, in Perspektivlosigkeit und Resignation verfallen. Dies könnte letztlich dazu führen, dass die Aktiven daraus den Schluss ziehen, die Emigration zu suchen, weil sie keine Zukunftsfähigkeit mehr sehen, und dass diejenigen, die nicht so aktiv sind, innerlich emigrieren - und das ist eine echte Gefahr. Deshalb sollten wir über diese Probleme sehr ernsthaft sprechen. Insofern ist die heutige Debatte gut. Wir brauchen kein Gejammer und keine Larmoyanz - das ist richtig festgestellt worden -, aber wir brauchen sehr wohl richtiges Handeln. Eine weitere Frage, über deren Beantwortung Sie und auch wir streiten, lautet: Was ist und was bleibt zu tun? Wie viel Förderung brauchen wir denn noch im Osten? Ich sage: Wir brauchen nach wie vor relativ viel Förderung. Wir müssen sie differenzierter nach Wirtschaftsbereichen und Regionen einsetzen; auch darüber sind wir uns einig. Wir müssen aber auch davon wegkommen, immer zu betonen, wir hätten schon so viel erhalten. Von den durchschnittlich 140 Milliarden DM, die jährlich nach Ostdeutschland fließen, sind 75 Prozent für Sozialleistungen und Zuweisungen an die Länder vorgesehen. Ganze 25 Prozent betreffen die Ostförderung. Das heißt, von 140 Milliarden DM werden 35 Milliarden DM für die Ostförderung ausgegeben. Wenn ich das mit der Steinkohleförderung vergleiche, dann muss ich sagen, dass die Leistung für die neuen Bundesländer sehr relativ ist. Insofern sollten wir nicht darüber nachdenken, sie zu kürzen. Wenn man sich anschaut, wie die Infrastruktur in den neuen Ländern ausgebaut ist, stellt man sofort fest, dass wir im Infrastrukturbereich - das ist hier sehr richtig bemerkt worden - mehr tun müssen als bisher. In viele Bereiche in den neuen Bundesländern, vor allen Dingen auch in immaterielle Bereiche - ich denke an Forschung und Entwicklung, an das, was wir heute als weiche Faktoren bezeichnen, an Bildung und Innovationsprozesse -, müssen wir viel mehr investieren, was diese Bundesregierung nicht in ausreichendem Maße tut. Ich denke, wir sollten beachten, dass das Ganze eine mentale Dimension hat. Wir sollten die Maßnahmen wirklich nicht zurückfahren und wir sollten den Menschen klar machen, dass in den neuen Bundesländern enorme Potenziale liegen, auf die wir bauen können. Aber auch darüber wird in der SPD gestritten. Wer eigentlich - fragt Herr Thierse - vertritt die ostdeutschen Interessen? Thierse fordert die SPD in seiner letzten These auf, diese besser zu vertreten. Ich zitiere: Wenn wir die Wahl gewinnen wollen, müssen wir uns stärker den Interessen des Ostens zuwenden. Wir müssen sie stärker durchsetzen. Das heißt, er konstatiert, dass bisher zu wenig in der SPD getan wurde. Ich will noch einmal Beispiele für das anführen, was nach 1998 von der SPD veranlasst wurde. Als Erstes nenne ich den Transrapid, ({3}) der gecancelt wurde, obwohl das Planfeststellungsverfahren abgeschlossen war - ein ganz schlechtes Signal. Für den Bau des A3XX am Standort Rostock hat sich niemand in dieser Bundesregierung stark gemacht. ({4}) Die Menschen wandern jetzt mit ihren Familien aus Rostock nach Hamburg ab, um dort Arbeit zu finden. Ich verweise auch auf die aktuelle Diskussion über die Bundeswehrstandorte. In dem Bundesland, aus dem ich komme, sind die zwei Landkreise mit der höchsten Arbeitslosigkeit quasi zielgerichtet ausgesucht worden, um dort zwei Standorte zu schließen, Eggesin und Basepohl obwohl dort gerade erst in Größenordnungen von mehreren 100 Millionen DM investiert worden ist. Das Gleiche trifft für Schneeberg in Sachsen zu.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Krüger, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss Ihrer Rede.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich könnte noch eine ganze Reihe von Maßnahmen anführen. Hier sind genannt worden: Rentenangleichung, Reduzierung der Sonder-AfA, die Steuerreform, die die ostdeutschen Länder besonders trifft. Bei vielen Maßnahmen haben Sie Reduzierungen der eingesetzten Mittel vorgenommen, was die neuen Ländern in besonderer Weise trifft. Deshalb kann man Herrn Thierse nur wünschen, dass er es schafft, dass diese Bundesregierung die Interessen des Ostens endlich stärker durchsetzt. ({0}) Nach dem Motto „Im Osten nichts Neues“

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Krüger, ich muss Sie jetzt wirklich bitten, zum Schluss zu kommen. Es ist eine Aktuelle Stunde und es hilft nichts: Sie müssen sich an die Regeln halten.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- wie Herr Schwanitz verkündet hat, werden wir die Probleme des Ostens jedenfalls nicht lösen. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Mathias Schubert für die Fraktion der SPD.

Dr. Mathias Schubert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der CDU, Sie haben in dieser Aktuellen Stunde ein gewisses Problem: Sie wollen eine Strategiediskussion führen; um diese Strategiediskussion führen zu können, müssen Sie zunächst einmal den Standort Ost schlecht reden. ({0}) Genau das brauchen wir nicht. Das nächste Problem ist: Sie haben überhaupt keine Antworten. Sie reden hier wie der Blinde von der Farbe. Herr Klinkert tritt hier sozusagen als verletzter Jammer-Ossi auf. Sie tun hier so, als kämen Sie aus einer anderen Welt und hätten nie etwas mit dem Aufbau Ost zu tun gehabt. ({1}) Sie haben wohl vergessen, dass Sie den Transformationsprozess eingeleitet und die Weichen acht Jahre lang gestellt haben, übrigens mit einer ganzen Reihe von unumkehrbaren Grundsatzentscheidungen - das wissen Sie genau -, die also heute nicht mehr rückgängig gemacht werden können. ({2}) - Herr Nooke, aus dieser Verantwortung können auch Sie sich nicht stehlen, selbst wenn Sie gern von sich behaupten, Sie seien damals nicht dabei gewesen und deshalb für den damaligen Zustand im Osten nicht verantwortlich. Das ist eine besonders subtile Form von Verantwortungslosigkeit. ({3}) Nun stellen Sie hier fest: Die Sozis streiten sich über das Thierse-Papier und über die Strategie. Ich bin froh, dass wir dialogfähig sind, ({4}) ja, dass wir auch diskurs- und streitfähig sind. Worüber sollen wir als Ostdeutsche denn streiten und leidenschaftlich debattieren, wenn nicht über die Zukunft Ostdeutschlands und über alle die Probleme, die zum Beispiel die Kollegin Hermenau aufgeführt hat? ({5}) Hier geht es eben nicht um Marginalien, wie Sie sie laufend vorbringen und sie sich aus den Fingern saugen; hier geht es nicht, wie Ihre Parteivorsitzende etwa zum Tagesordnungspunkt vorher vorgeschlagen hat, um die Schaffung eines allgemeinen deutschen Verbraucherklubs. Wenn das die Innovationen sind, die Sie in diesem Haus einbringen, dann Gute Nacht! Vielmehr geht es um die langfristig zu sichernde Zukunft von 16 Millionen Menschen. ({6}) Das heißt eben auch, wir brauchen langfristig wirkende Maßnahmen statt Aktionismus. Ganz im Gegensatz dazu erinnert Ihre Kritik an unserem Dialog an jene unseligen Zeiten der gleichgeschalteten Meinung, als die CDU der DDR noch Kaderpartei im Schlepptau der Mutter SED gewesen ist. ({7}) - Natürlich. - Ich frage noch einmal: Wo sind denn eigentlich Ihre Konzepte für Ostdeutschland? Ihr letzter Redner kann vielleicht noch etwas dazu sagen. Dazu herrscht großes Schweigen im Walde. Ich würde auch gerne Ihre Parteivorsitzende daraufhin ansprechen; denn sie kommt ja wohl aus dem Osten: Frau Merkel, meine Landsfrau mit einer lupenreinen ostdeutschen Biografie, die FDJ-Sekretärin an der Uni war, als ich FDJ-Sekretär an der Schule war. ({8}) Wo bleibt denn ihr ostspezifisches Engagement? Das ist gleich null. ({9}) Deshalb ist der Osten zurzeit auch höchst beglückt darüber, dass in Frankfurt eine Chipfabrik entsteht, dass der Flughafen Berlin-Brandenburg entsteht. Wir alle freuen uns auch über die Union, aber über den 1. FC und nicht über Sie. ({10}) Es ist leicht, sich darüber zu mokieren, dass das Thema Aufbau Ost zur Chefsache erklärt worden ist. Bei Ihnen jedoch weiß zurzeit niemand so richtig, wer überhaupt Chef ist. ({11}) Natürlich ist die Situation im Osten ambivalent. Das reden wir auch nicht schön. Dort gibt es eine ganze Reihe von Firmengründungen. Wir fördern - was Sie übrigens seit 1995 nicht gemacht haben, aber hätten machen sollen; denn damals knickten die ganzen harten Daten ein - Investitionen. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit zu hoch. Natürlich geben wir uns damit nicht zufrieden. Wir haben Inno-Regio aufgelegt. Wir fördern Netzwerke. Wir stärken die eigenen Kräfte. Dennoch sind noch keine selbst tragenden Wirtschaftsstrukturen mit all den Folgen bis hin zu den Kommunalfinanzen vorhanden. Es ist völlig klar, dass wir darüber debattieren müssen und uns damit nicht zufrieden geben können. Wir dürfen aber den Standort Ostdeutschland nicht schlecht reden, wie Sie das machen; denn dann können wir einpacken. Damit würden wir sagen: Der Osten hat keine Zukunft. - Das ist allerdings die Botschaft, die Sie rüberbringen. ({12}) Wir setzen uns mit der Situation auseinander. Ein großer Teil der Auseinandersetzungen betrifft aber die Beseitigung des durch Ihre Politik entstandenen Restmülls. ({13}) Während Ihre Parteivorsitzende in Aktuellen Stunden wie der über die Biografie des Außenministers ein kryptostalinistisches Staatsverständnis vertritt, bündeln wir den Sachverstand, und zwar den Sachverstand der ganzen Koalition, für den Aufbau Ost der nächsten 15 Jahre. ({14}) Die Zeit des Ostens beginnt jetzt - mit uns, nicht mit Ihnen! ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun gebe ich dem Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf, das Wort.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich neulich wieder einmal in meiner Geburtsstadt Erfurt war und mit Mittelständlern, Freiberuflern und Handwerkern zusammensaß, habe ich gemerkt, dass die Menschen in dieser Stadt eine Identität haben, wissen, dass sie Ziele persönlich umsetzen müssen, und dafür unglaublich arbeiten: die Facharbeiter, die Ingenieure, die Techniker, die Meister, die Handwerker. Ich sage Ihnen: Die haben für alles Verständnis, nur nicht für eine platte parteipolitische Auseinandersetzung, wie wir sie heute hier führen. ({0}) Es gibt viele Entwicklungen, die wir sehr aufmerksam verfolgen müssen. Ich will das auch noch einmal an Herrn Klinkert gerichtet sagen: Im Jahre 1994 erreichte das Wirtschaftswachstum einen Spitzenwert von 11,3 Prozent. Dieser beruhte auf dem Vereinigungsboom. Wir waren alle froh über diese hohe Wachstumsrate. Dann ging der Wert bis 1998 immer weiter herunter - das hat Werner Schulz richtig gesagt -, und zwar auf 0,7 Prozent. Dies war keine weiche Landung, wie wir sie jetzt für die USA erhoffen. Das war eine sehr harte Landung, weil man mit falschen Instrumenten gearbeitet hat. Das wissen wir auch alle; ich will jetzt keine Vergangenheitsbewältigung betreiben. Danach gab es wieder einen langsamen Anstieg auf 1,5 Prozent im Jahre 1999 und auf 2 Prozent im Jahre 2000. Für dieses Jahr erwarten wir ein Wachstum in Höhe von 2,6 Prozent. Über dieses zu erwartende Wachstum gibt es unter den Sachverständigen keine Differenzen. Es tut sich jetzt eine ganze Menge. Natürlich gibt es in der Baubranche - das wissen wir alle - große Probleme. Dies hat auch etwas mit den falschen Förderinstrumenten der Vergangenheit zu tun. Hier gibt es einen Normalisierungsprozess. Aber wir wissen auch eines: Das verarbeitende Gewerbe in den neuen Bundesländern hatte allein im letzten Jahr eine Wachstumsrate von 13 Prozent, deutlich über der im Westen. In den neuen Bundesländern baut sich also eine Substanz auf. Dies sollten wir positiv beDr. Mathias Schubert werten und wir sollten nicht so tun, als sei das alles nichts. Mein Eindruck, auch von meinem Besuch in Jena, ist, dass sich da von unten her - das ist ein Bottom-up-Prozess - langsam Substanz aufbaut und dass die hektischen Aktionismen - wir machen mal schnell ein Aktionsprogramm - nicht helfen, sondern dass wir eine kontinuierliche, langfristige Arbeit brauchen. Das ist der Grund, warum wir in der Bundesregierung entschieden haben, eine Reihe von Weichenstellungen, durchaus in Kontinuität der Vorgängerregierung verstärkt fortzusetzen oder anders zu akzentuieren. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir in diesem Jahr 500 Millionen DM allein für Innovationsprogramme in den neuen Bundesländern vorsehen. Das ist eine wichtige Entscheidung. Ich hoffe, dass Sie alle diese mittragen. ({1}) Das ist eine Fokussierung, die gerade in den neuen Bundesländern wichtig ist. Es gibt in den neuen Bundesländern das Phänomen hoher Qualifikationen gerade um altehrwürdige Universitäten herum, Qualifikationen in Naturwissenschaften, die ich mir manchmal auch im Westen wünschen würde. Es gibt Cluster in den neuen Bundesländern, die erstklassig sind. - Ich komme darauf gleich noch zu sprechen, weil sie Entscheidungen für Frankfurt/Oder und Dresden betreffen. - Es gibt Grundqualifikationen, die wir teilweise im Westen so nicht haben. Das Entscheidende ist, dass wir diese Qualifikationen, diese enormen Fähigkeiten mit dem zusammenbringen, was es an industriellen Erfordernissen gibt. Dann haben wir auch eine Chance, nachhaltiges Wachstum zu generieren und nicht nur ein kurzfristiges Wachstum, das morgen wieder zusammenbricht. Ich lese heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Die neuen Bundesländer erfreuen sich bei in- und ausländischen Investoren ... nach wie vor einer großen Beliebtheit. Die Ansiedlung von knapp einem halben Dutzend großer Chipfabriken in den vergangenen Jahren ist Beweis dafür. Grund dafür ist nicht zuletzt der hohe naturwissenschaftliche Ausbildungsstandard, den die Universitäten und Hochschulen auch schon vor der Wende hatten. Meine Damen und Herren, das ist, wie man auf Neudeutsch so schön sagt, der Secret Code, der interessant ist: die Qualifikationen, die Fähigkeiten, die vielleicht vernachlässigt worden sind, die wir nicht so gewürdigt haben, wie sie eigentlich gewürdigt gehörten, und die jetzt zu einem spielentscheidenden Faktor werden können, da wir in eine neue volkswirtschaftliche Phase kommen, in der Informations- und Kommunikationstechnik genau diese naturwissenschaftlichen Grundqualifikationen braucht. Das ist der Grund, warum AMD sich in Dresden ansiedelt. Das ist der Grund, warum Infineon sich für Dresden entschieden hat. Das ist der Grund, warum gestern in Frankfurt/Oder die wichtige Entscheidung gefallen ist, dort eine Chipfabrik zu bauen. Es gibt so etwas wie ein - man nennt es in der Ökonomie Leap frogging - Überspringen von Entwicklungen. Es gibt zwar durchaus Nachholbedarf in herkömmlichen Strukturen der Volkswirtschaft; aber es gibt auch ein Überspringen von Entwicklungen, hinein in völlig neue Entwicklungen. Das ist eine große Chance für uns. ({2}) Deshalb meine Bitte: Lassen Sie uns versuchen, diesen Prozess der Erneuerung, der an der Spitze der Technologie und der Innovation ansetzt, gemeinsam zu verstärken und nicht parteipolitisch darüber zu streiten. ({3}) Herr Krüger, meine herzliche Bitte ist: Wir haben sehr um die Airbusansiedlung gekämpft. Sie wissen, dass ich mich auch persönlich dafür sehr einsetze. ({4}) Ich finde es auch gut, dass Herr Krüger mich bei dem Kampf unterstützt. Ich weiß nicht, ob das hilft; aber es ist gut, dass er sich bemüht. ({5}) Herr Krüger, seien Sie einmal fair: Wir haben organisiert, dass Airbus jetzt Lieferantenforen in Ostdeutschland macht. Sie wissen, dass zwei Drittel der Wertschöpfung bei den Zulieferern stattfinden. Wir haben organisiert, dass diese Lieferantenforen jetzt - ({6}) - Entschuldigung, das ist nicht nur richtig, das haben wir auch selber organisiert, und zwar der Kanzler an der Spitze. ({7}) Als er mit Airbus über die Darlehen gesprochen hat, hat er gesagt: Ich möchte, dass in Ostdeutschland etwas passiert. Bleiben Sie bei der Wahrheit! Unterlassen Sie es, Dinge zu verbreiten, die Ihrer Region nicht helfen, weil sie nicht wahr sind. ({8}) Das Gleiche gilt für die Frage: Wenn wir mit Airbus darüber reden, dass Antriebstechniken und Turbinen in Zukunft auch teilweise bei Rolls-Royce in Brandenburg gebaut werden, was meinen Sie, warum wir das tun? Weil wir wollen, dass dort Arbeitsplätze entstehen. RollsRoyce wird dort neue Arbeitsplätze schaffen. Ich war neulich mit dem Kollegen Danckert bei Rolls-Royce. Dort ist uns erzählt worden, wie die Investitionsplanung aussieht. Meine herzliche Bitte ist: Unterscheiden Sie zwischen platten Auseinandersetzungen und konkreten Hilfen, die wir tatsächlich leisten. Wir strengen uns an, wirklich etwas zu erreichen. ({9}) Wir haben auch sonst eine Reihe von wichtigen Entscheidungen getroffen. Das Inno-Regio-Programm ist angesprochen worden. Auch mit dem Altschuldenhilfe-Gesetz haben wir eine wichtige Entscheidung getroffen. Wir haben bei der Bekämpfung des Leerstandes ({10}) jetzt eine Einigung mit den Ländern erzielt. 700 Millionen DM haben wir zusätzlich gegeben. Das Programm „Die soziale Stadt“ haben wir um 100 Millionen DM aufgestockt. Wir haben eine ganze Menge gemacht. Ein Letztes, Herr Präsident, wenn Sie es mir gestatten. Es ist jetzt endgültig, dass die IIC, die für die Industrieansiedlung in den neuen Bundesländern ganz wichtig ist - Frau Kaspereit hat sich dafür sehr stark gemacht -, von 2002 bis 2004 bleiben wird. Dies ist zusammen mit den Ländern unter Dach und Fach gebracht worden. Das ist eine wichtige Entscheidung gewesen, weil die Möglichkeit, Direktinvestitionen nach Ostdeutschland zu holen, für den Aufbau der Volkswirtschaft spielentscheidend sein wird. Deshalb freue ich mich, dass wir in den letzten Tagen die Fortsetzung der Aktivitäten der IIC bis zum Jahr 2004 sichern konnten. Man kann also sagen: Wir kommen voran. Dies geschieht zwar schrittweise und ohne große Sprünge. Aber man kann und muss mit den Menschen in den neuen Bundesländern rechnen. Wir müssen vor allen Dingen eines beachten: Die Menschen wollen, dass wir zu ihnen ehrlich sind, ihnen keine Illusionen machen und mit ihnen gemeinsam die weitere Strecke des Weges gehen. Dazu ist die Bundesregierung nicht nur bereit, sondern entschlossen. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/ CSU-Fraktion spricht nun der Kollege Manfred Grund.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer heute von dieser Aktuellen Stunde Visionen, Perspektiven und neue Lösungswege erwartet hat, musste ziemlich enttäuscht sein. ({0}) Das, was wir bisher gehört haben - einschließlich des Beitrags des Staatssekretärs Herrn Mosdorf - war: Im Osten nichts Neues und bei der Bundesregierung nichts Neues. ({1}) Ich gehe einmal die einzelnen Redner durch. Dabei fange ich mit Werner Schulz an, der hier als Allzweckablenkungswaffe aufgetreten ist. Lieber Werner Schulz, im Vergleich zu den Reden, die du vor zwei Jahren gehalten hast, hast du eine Bäumchen-wechsel-dich-Veranstaltung aufgeführt. Das bringt aber den Menschen und den Problemen in den neuen Bundesländern relativ wenig. ({2}) Frau Kollegin Kaspereit, Sie haben festgestellt, man müsse zwar noch an ein paar Stellschrauben drehen, aber der Weg sei richtig und die Richtung stimme. Das klingt ein wenig wie: Wir sind auf dem richtigen Weg, auch wenn wir noch 20 Jahre bis ans Ziel benötigen. ({3}) Aber 20 oder 30 Jahre sind für die Menschen in den neuen Bundesländern keine Perspektive. Sie laufen uns regelrecht davon; darauf komme ich noch zu sprechen. Frau Kollegin Kaspereit, Sie haben Herrn Thierse unterstellt, er habe ein Wahrnehmungsdefizit, weil er viel zu schwarz sehe. ({4}) Die genannten Zahlen sind nicht unsere Zahlen, auch wenn sie uns häufig zugeschrieben wurden. Diese Zahlen haben sich in den letzten beiden Jahren dramatisch verschlechtert. Selbst wenn wir wieder regierten, müssten wir zu neuen Antworten kommen, damit die Lage nicht nur nicht kippt, sondern die Menschen in den neuen Bundesländern nicht in Scharen davonlaufen. ({5}) Herr Kollege Schwanitz, Sie haben gesagt, Sie seien sehr froh, dass in Ihrer Partei über dieses Thema eine strittige Debatte geführt werde. Aber offensichtlich reicht es Ihnen, sich ein wenig zu streiten und dann wieder zur Tagesordnung überzugehen. Sie haben auf die Frage hingewiesen: Was haben wir für Perspektiven? Das Inno-Regio-Programm wurde genannt. Das sind Projekte, die in unserer Regierungszeit auf den Weg gebracht worden sind. Das ist nichts substanziell Neues. ({6}) Wie wird der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer wahrgenommen? Entweder indem er sich - farblos wie er ist - hinter dem Bundeskanzler versteckt oder indem er Verkehrsprojekte übergibt und nur Dinge zu Ende bringt, die in unserer Regierungszeit auf den Weg gebracht worden sind. ({7}) Was wollen Sie denn tun, Herr Kollege Schwanitz, wenn alle Bändchen zur Einweihung durchschnitten sind? Wollen Sie sich dann nur noch hinter dem Bundeskanzler verstecken? Wo sind denn Ihre Perspektiven? Das, was ich sage, ist nicht sehr weit hergeholt. Herr Kollege Schubert, auch auf Sie möchte ich gerne eingehen. Haben Sie nicht vor einem Jahr dem Bundeskanzler nahe gelegt, Herrn Schwanitz gegen jemand Geeigneteren auszutauschen? Hat nicht der Kollege Weißgerber von der SPD Sie deshalb als Pappnase bezeichnet? ({8}) - Das stimmt; also kann unsere Kritik nicht allzu weit hergeholt sein. Ich will aber gar nicht bei der Polemik, die auch heute dabei gewesen ist, verharren, sondern auf zwei ökonomische Werte hinweisen, die sich wirklich dramatisch verändert haben. Frau Kollegin Kaspereit, ein Wirtschaftswachstum in den neuen Bundesländern von 4 Prozent und in den alten Bundesländern von 2 Prozent würde bis zum Jahr 2030 zu einer Angleichung der Einkommen, auch der Einkommen der Rentner, und der Lebensverhältnisse führen. Das ist eine sehr weite Perspektive; das muss man den Menschen in den neuen Bundesländern in aller Deutlichkeit sagen. Aber erzählen Sie uns doch bitte einmal - da war bis jetzt Fehlanzeige, da war überhaupt nichts zu hören -, mit welchen Instrumenten Sie das jetzige Wirtschaftswachstum von 1,7 Prozent verdoppeln wollen, damit überhaupt bis zum Jahre 2030 eine Angleichung erfolgen kann. ({9}) Der zweite Punkt, der äußerst besorgniserregend ist: ({10}) Die Abwanderung aus den neuen Bundesländern hat in den letzten beiden Jahren dramatisch zugenommen. Wir haben seit zehn Jahren insgesamt 1 Million Einwohner verloren. Es gibt Hochrechnungen über die Abwanderung und den Rückgang der Geburtenrate, die besagen, dass im Jahre 2050 auf dem Territorium der neuen Bundesländer - das ist ein Drittel des gesamtdeutschen Territoriums noch 10 Prozent der gesamtdeutschen Einwohner leben werden. Das bedeutete einen Rückgang auf 7,5 Millionen Einwohner bis zum Jahr 2050. Dies ist tatsächlich ein dramatischer neuer Befund. Es gehen diejenigen weg - das ist heute bereits gesagt worden -, die jung, leistungsfähig, ausgebildet und innovativ sind, die Kinder bekommen wollen, die ein Haus bauen wollen und die genau in den Chipfabriken, die Gott sei Dank jetzt in Frankfurt an der Oder aufgebaut werden sollen, Arbeit suchen und finden müssen. Aber ein Projekt in Frankfurt an der Oder reicht nicht aus. Wo sind Ihre Perspektiven, damit diese Leute sagen können, es lohne sich, in den neuen Bundesländern zu bleiben? Dass es geht, zeigt die Perspektive, die die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion 1990 bot, die gegen alle Bedenkenträger eingeführt wurde und den Menschen zumindest über einige Jahre die Hoffnung gegeben hat, sie seien auf dem Weg der Annäherung und Angleichung an die Wirtschafts- und Lebensverhältnisse in den alten Bundesländern. ({11}) Warum, Herr Kollege Schwanitz, geben Sie nicht einmal eine Studie in Auftrag oder lassen darüber nachdenken oder denken selber einmal darüber nach, ob es nicht möglich ist, in einer kollektiven Kraftanstrengung die Einkommensverhältnisse in den neuen Bundesländern in fünf bis acht Jahren auf das Niveau der alten Bundesländer zu heben? Wäre das nicht, wenn auch nicht für morgen oder übermorgen, aber für die Zeit in fünf bis acht Jahren eine realistische Perspektive, bevor der Osten tatsächlich leer läuft und die Situation auf der Kippe steht? ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzter Redner spricht in dieser Aktuellen Stunde der Kollege Wilhelm Schmidt für die SPD-Fraktion. ({0})

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Genau das ist es, Herr von Klaeden: Sie haben die gesamte Debatte von Anfang an darauf angelegt, den Präsidenten zu diffamieren und dafür zu sorgen, dass wir Personalauseinandersetzungen führen. ({0}) Das ging durch jeden Ihrer Redebeiträge. Sie haben nicht in einem einzigen Falle im Laufe dieser Aktuellen Stunde dafür gesorgt, dass wir von einem Ihrer Redner oder einer Ihrer Rednerinnen den Eindruck bekommen könnten, Sie hätten ein Konzept für den Aufbau Ost. Nicht ein einziges Mal haben Sie das geschafft. Sie wollten es auch gar nicht; denn Sie haben nichts zu bieten. ({1}) Aber wenn ich einmal in Ihre Reihen schaue, dann sehe ich einige von denjenigen dort sitzen - Herr Nooke, Sie sind ja einer der neueren CDU-Abgeordneten; weswegen, wollen wir hier nicht beleuchten -, die in den letzten acht Jahren, in denen Sie noch die Regierung gestellt hatten, die Gelegenheit hatten, auf diesem Gebiet etwas zu tun. Herr Krüger, ich schaue Sie jetzt einmal an: Warum sind Sie denn als Minister abgelöst worden? Ich will mich ansonsten überhaupt nicht auf dieses Niveau begeben. Aber wenn Sie bei diesem Thema polemisieren, dann ist genau der Punkt erreicht, an dem wir sagen müssen, dass wir das nicht mitmachen. ({2}) Wenn Sie beispielsweise reklamieren, dass diese Debatte Bestandteil einer wichtigen Auseinandersetzung sei, dann frage ich Sie einmal, nachdem Sie uns diese Frage auch gestellt haben, wo denn Herr Merz, Frau Merkel und viele andere eben waren. ({3}) - Ach, „bis eben“? Hören Sie doch auf, das ist doch Unsinn. Seit einer Dreiviertelstunde ist er weg. ({4}) Dies zeigt, dass Ihr Gerede von der Chefsache auch völlig danebengegangen ist. Sie haben diese Aktuelle Stunde reklamiert, nicht wir. Meine Damen und Herren, wir nehmen die Sache ganz bewusst sehr ernst. Wir wollen an dieser Stelle erreichen, dass wir stärker als in den vergangenen Jahren einen Umsteuerungsprozess in Gang setzen. Sie haben doch in den vergangenen Jahren die falschen Instrumente auf den Weg gebracht, unter denen die Menschen in Ostdeutschland und die Einrichtungen in der Gesellschaft heute noch leiden. Wir müssen endlich anpacken und etwas unternehmen. Das tut die Bundesregierung, das tut der Bundeskanzler, das tut Staatsminister Schwanitz und das tun die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. ({5}) Wenn wir uns in diesen Tagen sehr nachdrücklich darum bemühen, den Solidarpakt II auf die Beine zu stellen und den Länderfinanzausgleich zu stabilisieren, ist das auch eine Frage der Solidarität gegenüber Ostdeutschland. Sie haben das Problem in den vergangenen Jahren vernachlässigt und keine Lösungsansätze auf die Beine gestellt. Wir werden es schaffen. ({6}) Als Sie hier zu einzelnen Themen Stellung genommen haben, sind Sie zu einem nicht unbeträchtlichen Teil an der Wahrheit vorbeigegangen. Herr Klinkert ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn Sie uns vorwerfen, von der Braunkohleförderung für Hoyerswerda in Ostdeutschland würden 100 Millionen DM abgeschmolzen, so muss man feststellen, dass das völlig falsch ist. Wir haben jeweils 50 Millionen DM für die Jahre 2001 und 2002 abgeschmolzen, weil die Ziele, die erreicht werden sollten, erreicht worden sind. Wir haben die 100 Millionen DM für das Jahr 2003 und die folgenden Jahre oben draufgepackt, damit wir umsteuern und mit zielgenaueren Instrumenten operieren können. Das ist die Botschaft. Verunsichern Sie doch die Menschen in Hoyerswerda nicht noch mehr, als sie das ohnehin schon sind. ({7}) Wir wollen und müssen neue Instrumente auf den Weg bringen - das ist ja auch in den Redebeiträgen von Rednern unserer Fraktion zum Ausdruck gebracht worden -, die die Industrielücke schließen können und helfen, den Mittelstand sowie Forschung und Wissenschaft nach vorne zu bringen. Eines ist schon angeklungen: Die Ansiedlung der Chipfabrik in Frankfurt/Oder ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die Umsetzung der Ziele schrittweise gelingt. Auf diesem Wege wollen wir fortfahren. Wir wollen uns auch die Aufgabe, die Situation und die Zukunft junger Menschen zu verbessern, angelegen sein lassen, da wir finden, dass die Abwanderung viel zu groß ist, und weil wir ihnen eine Perspektive geben müssen. Dies ist ein Ziel, das wir - wie es auch Herr Thönnes mit Recht betont hat - mit Arbeitsmarkt- und Jugendpolitik verfolgen. Diese Politik ist ganz wichtig, weil wir damit einen großen Beitrag zur Bekämpfung von Gewalt und Rechtsextremismus in Ostdeutschland leisten. ({8}) Herr Grund, da von Ihnen die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ angesprochen worden sind, kann ich Ihnen nur sagen: Es ist sehr vordergründig, wenn Sie das hier in der Weise, in der Sie das getan haben, präsentieren. Sie waren es doch, die uns mit den Verkehrsministern Ihrer Regierung mit einer Fülle von Spatenstichen auf der einen Seite einen hoffnungslos unterfinanzierten Verkehrshaushalt hinterlassen haben und auf der anderen Seite dafür gesorgt haben, den Menschen in Ostdeutschland Sand in die Augen zu streuen. ({9}) Die Hoffnungen, die den Menschen vermittelt worden sind, können wir nicht sofort erfüllen. In der Sache ist es eindeutig: Sie haben nichts zu bieten, meine Damen und Herren von der Opposition - das zieht sich durch alle Ihre Redebeiträge -, sondern Sie versteigen sich wieder einmal in Polemik gegenüber Personen. Das verfängt nicht und das merken die Menschen. Deshalb sage ich für uns: Die Sache Aufbau Ost ist bei dieser Bundesregierung und ihrer Koalition in guten Händen. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 d auf. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Türk, Walter Hirche, Dr. Heinrich Kolb, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F. D. P. Existenzbedrohung des Handwerks unterbinden - Drucksache 14/4413 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Steuerhinterziehung wirksam bekämpfen - Drucksache 14/4882 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss Wilhelm Schmidt ({2}) c) Beratung der Unterrichtung durch die Präsidentin des Bundesrechnungshofes als Vorsitzende des Bundesschuldenausschusses Bericht des Bundesschuldenausschusses über seine Tätigkeit sowie die Verwaltung der Bun- desschuld im Jahre 1999 - Drucksache 14/5059 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Europäischen Sozialcharta - Drucksache 14/4671 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sechzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 14/4497 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({5}) - Drucksache 14/5202 - Berichterstattung: Abgeordnete Harald Friese Cem Özdemir Ulla Jelpke b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({6}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Ergänzender Bericht der Wahlkreiskommission für die 14. Wahlperiode des Deutschen Bundestages gemäß § 3 Abs. 4 Satz 3 Bundeswahlgesetz ({7}) - Drucksachen 14/4031, 14/4169 Nr. 1, 14/5202 Berichterstattung: Abgeordnete Harald Friese Cem Özdemir Ulla Jelpke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Nun möchte ich die Kolleginnen und Kollegen, die dieser Debatte nicht folgen möchten, bitten, ihre Gespräche nicht hier fortzusetzen, sondern in der Lobby. Ich eröffne die Aussprache und gebe für die SPD-Fraktion dem Kollegen Harald Friese das Wort.

Harald Friese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003125, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Fast auf den Tag genau vor drei Jahren hat dieser Bundestag eine grundlegende Wahlkreisreform beschlossen. ({0}) Dafür hat er einen zwingenden Grund gehabt, weil der Bundestag von 656 Abgeordneten auf 598 Abgeordnete verkleinert wurde. Damit war eine Reduzierung der Zahl der Wahlkreise von 328 auf 299 verbunden. Keiner hätte gedacht, dass wir nach drei Jahren wieder eine Wahlkreisreform diskutieren. Aber ich will die Feststellung treffen: Nichts ist beständiger als der Wandel. ({1}) Was in unserem Land geschieht, ist wirklich ein ständiger Wandel, zum einen eine Bevölkerungswanderung in einem erstaunlich großen Umfang, zum anderen kommunale Gebietsreformen, die uns dazu zwingen, die Wahlkreisgrenzen an diese neuen Entwicklungen anzupassen. Wir waren gezwungen, eine Wahlkreisreform vorzunehmen, weil die Bevölkerungswanderung von den neuen Bundesländern in die alten Bundesländer nicht zum Stillstand gekommen ist, mit der Folge, dass das Land Sachsen ({2}) - lassen Sie mich „Land“ sagen, Herr Marschewski - und das Land Sachsen-Anhalt je einen Wahlkreis verlieren und das Land Schleswig-Holstein und das Land BadenWürttemberg je einen Wahlkreis gewinnen. ({3}) Ich will hier nichts dramatisieren; aber ich glaube, diese Entwicklung muss man ernst nehmen. Diese Entwicklung hat Konsequenzen für die politische Repräsentanz der neuen Bundesländer in diesem Parlament. Das Parlament wird um insgesamt 56 Mandate verkleinert und von dieser Last - so möchte ich es formulieren - tragen die neuen Bundesländer fast die Hälfte, nämlich 26. Sie hat auch Auswirkungen auf die politische Repräsentanz vor Ort. Im Land Sachsen gibt es nicht mehr 21 Wahlkreise, sondern nur noch 17, und im Land Sachsen-Anhalt nicht mehr 13, sondern nur noch 10. Es hat auch Auswirkungen auf die politische Arbeit vor Ort. Wir haben jetzt in den neuen Bundesländern Wahlkreise mit einer Größe über 5 000 Quadratkilometer. Wir haben in den neuen Bundesländern Wahlkreise mit einem Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Durchmesser von bis zu 131 Kilometern. Wir haben eine Fülle von Wahlkreisen, die drei Landkreise umfassen. Ich will hinzufügen: Ich habe Respekt vor den Kolleginnen und Kollegen, die diese Wahlkreise vertreten. Ich frage mich, wie sie es überhaupt schaffen, in solchen Flächenwahlkreisen politisch vor Ort präsent zu sein. Es geht auch um das Geld. Woher sollen sie es nehmen? Sie müssen in einem Wahlkreis mit drei Landkreisen drei Bürgerbüros unterhalten. Wir müssen uns über diese Konsequenzen klar sein. Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass die Forderungen nach mehr Effektivität, Verschlankung und Verkleinerung des Bundestages oder demokratischer Gremien insgesamt vielen ganz leicht über die Lippen kommen. Diese vielen denken überhaupt nicht darüber nach, welche Konsequenzen das für die politische Repräsentanz vor Ort hat. ({4}) Ich glaube, dass in politisch bewegten Zeiten die politische Repräsentanz vor Ort wichtig ist, damit Politik dem Bürger vermittelt werden kann. Wir haben das alles gesehen und mussten aus Rechtsgründen trotzdem diesem zusätzlichen Wahlkreistransfer von Ost nach West zustimmen und ihn vollziehen. Das liegt erstens an der klaren gesetzlichen Regelung des Bundeswahlgesetzes, wonach die Zahl der Wahlkreise in den einzelnen Bundesländern deren Bevölkerungsanteil nach Möglichkeit entsprechen muss. Das ist eine klare Verschärfung im Bundeswahlgesetz; wir haben keinen Spielraum. Der zweite Grund ist: Das Bundesverfassungsgericht hat zwar erklärt, dass Überhangmandate als Folge unseres Wahlsystems hinzunehmen sind; aber der Gesetzgeber muss alles tun, um Überhangmandate auf ein Minimum zu reduzieren. Der erste Schritt zur Reduzierung der Zahl und damit der - so will ich es formulieren - Gefahr von Überhangmandaten besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Zahl der Wahlkreise den Bevölkerungsanteilen entspricht. Deshalb mussten wir in den vier genannten Bundesländern die Wahlkreise in den Ländern neu einteilen. Die Reform ist daher umfangreicher als geplant geworden. In Bezug auf Sachsen-Anhalt war dieses Vorgehen unstrittig. Was Sachsen angeht, folgte unsere Koalition nicht dem Vorschlag der Wahlkreiskommission. Um einer Legendenbildung schon im Vorfeld vorzubeugen, füge ich ausdrücklich hinzu: Wir haben einen eigenen Vorschlag nicht aus wahlarithmetischen Gründen gemacht. ({5}) Wir sind deshalb so vorgegangen, weil wir meinen, dass unser Vorschlag den regionalen Identitäten und den regionalen Verflechtungen besser als der Vorschlag der Wahlkreiskommission entspricht. ({6}) Auch im Hinblick auf Schleswig-Holstein haben wir nicht die Vorschläge der Wahlkreiskommission übernommen. Wir sind ebenfalls nicht dem Vorschlag der CDU gefolgt. Wir haben etwas getan, was nahe liegend war: Wir haben auf der Grundlage der Wahlkreise der Bundestagswahl 1998 durch gewisse Korrekturen sichergestellt, dass wir im Jahre 2006 oder im Jahre 2010 in Schleswig-Holstein nicht erneut eine Abgrenzung der Wahlkreise vornehmen müssen. Wir haben die Wahlkreise mit einer unterdurchschnittlichen Bevölkerungszahl, zum Beispiel Lübeck und Kiel, mit Gemeinden verstärkt; damit haben wir dem Gesichtspunkt der Wahlkreiskontinuität auf eine absehbare Zeit Rechnung getragen. Hinsichtlich Baden-Württemberg sind wir dem Vorschlag der Wahlkreiskommission - es geht um den zusätzlichen Wahlkreis in Nordbaden - gefolgt, mit einer Ausnahme: Wir haben die Gemeinde Eppelheim dem Wahlkreis Heidelberg zugeschlagen. ({7}) Wir wussten, dass wir damit dem Kollegen Niebel etwas Gutes tun. ({8}) - Was heißt „das Minimum“? - Wir sind in diesem Punkt also dem Vorschlag der Wahlkreiskommission gefolgt. Es gab einen zweiten Grund für die Wahlkreisneueinteilung: die Abwanderung ins Umland der Städte. Die Großstädte verlieren und die Gemeinden im Speckgürtel der Großstädte gewinnen an Einwohnern. Ich will zwei Beispiele nennen. Das eine Beispiel ist der Wahlkreis 216, Freising; er war am 31. Dezember 1999 mit einem jährlichen Wachstum von 1,9 Prozent um 24 Prozent größer als ein durchschnittlicher Wahlkreis. Wir mussten also handeln und konnten deshalb dem CDU/CSU-Antrag nicht folgen; sonst hätten wir zum Zeitpunkt der Bundestagswahl 2002 die gesetzlich zwingend vorgeschriebene Grenze überschritten, dass ein Wahlkreis nicht mehr als 25 Prozent von der durchschnittlichen Wahlkreisgröße abweichen darf. Dies gilt auch für den Wahlkreis 36, Soltau-Fallingbostel - Winsen L. Dort lag am 31. Dezember 1999 eine Überschreitung von 22 Prozent mit einem jährlichen Wachstum von 1,2 Prozent vor. Auch in diesem Fall mussten wir handeln und konnten deshalb dem Antrag der CDU/CSU nicht zustimmen. Der dritte Grund für die Wahlkreisreform besteht darin, dass wir die Konsequenzen aus den kommunalen Neugliederungen in Berlin und Brandenburg ziehen mussten. Der vierte Grund - für uns wichtig -: Wir haben mit diesem Gesetzentwurf die von der CDU/CSU und der F.D.P. 1998 beschlossenen willkürlichen Wahlkreiseingrenzungen rückgängig gemacht. ({9}) Dies haben wir 1998 angekündigt und wir tun es jetzt. Bei der Wahlkreisabgrenzung von 1998 musste man in der Tat den Eindruck gewinnen, dass auf der Grundlage von Wahlergebnissen so lange zurechtgeschnippelt wurde, bis die Wahlkreise nicht mehr nach räumlichen Größen aussehen, sondern Schnittmusterbögen gleichen. ({10}) Dies halten wir nicht für korrekt; deshalb haben wir das rückgängig gemacht. ({11}) Wir machen die Wahlkreiseinteilung von München, von Köln, von Mülheim - Essen und von Coesfeld - Steinfurt II rückgängig. Um auch in diesem Fall einer Legendenbildung vorzubeugen: Unsere Vorschläge entsprechen den Vorschlägen des Leiters des Statistischen Bundesamtes, wie sie sich im Schlussbericht der Reformkommission wiederfinden. ({12}) Wir haben also politische Willkür durch eine sachbezogene Wahlkreiseinteilung ersetzt. Das will ich hier feststellen. ({13}) Es gibt noch einen fünften Grund. Wir haben die Änderung von Wahlkreisgrenzen vorgesehen, um die Grenzen kommunaler Gebietskörperschaften nicht zu zerschneiden. Als Beispiel möchte ich einmal den Bereich Oberfranken/Bamberg/ Bayreuth/Hof/Kulmbach nennen. Wir haben hier den Vorschlag der Wahlkreiskommission weiterentwickelt ({14}) mit dem Ergebnis, dass von den neun betroffenen Gebietskörperschaften nur noch zwei geteilt, dagegen sieben ungeteilt sind. Wir sind verpflichtet, die klare gesetzliche Vorgabe im Bundeswahlgesetz, die Grenzen kommunaler Gebietskörperschaften einzuhalten, soweit es geht, zu berücksichtigen. Es ist auch eine richtige und kluge Vorgabe, dass Bundestagswahlkreise mit den Grenzen kommunaler Gebietskörperschaften übereinstimmen sollen. ({15}) Das gilt auch für den Bereich Südbaden, wo wir den Landkreis Lörrach nicht mehr teilen, sondern ungeteilt dem Wahlkreis Lörrach-Müllheim zuordnen. ({16}) Schließlich gab es eine öffentliche Auseinandersetzung im Bereich Freiburg, aber wir hielten die Einhaltung der Grenzen der kommunalen Gebietskörperschaften für wichtiger als die räumliche Zuordnung der Gemeinden um Freiburg zum Wahlkreis Freiburg. Das ändert ja nichts an deren tatsächlichen Beziehungen zum Oberzentrum Freiburg. Lassen Sie mich noch einige Sätze zu Krefeld sagen. Die Diskussion darüber ist ein Dauerbrenner. Wir haben, wie alle Fraktionen, intensiv geprüft, ob wir den Zustand, dass die Stadt Krefeld wahlkreismäßig geteilt ist, was wir alle nicht für gut halten, nicht ändern können. ({17}) Nach intensiver Prüfung kamen wir aber zu dem gleichen Ergebnis wie die Wahlkreiskommission, die in ihrem Schlussbericht empfohlen hat, es bei der Einteilung nach dem Wahlkreisneueinteilungsgesetz zu belassen, da alle Varianten ihrerseits mit ganz erheblichen Nachteilen für den Zuschnitt anderer benachbarter Wahlkreise verbunden wären, ... Das ist auch der Grund, warum wir dem Antrag der F.D.P.Fraktion nicht zustimmen konnten. Die F.D.P.-Fraktion hat den Antrag eingebracht, die Stadt Krefeld zu einem einheitlichen Wahlkreis zusammenzufassen. Diese Lösung ginge aber zulasten des Landkreises Neuss, der dann plötzlich dreigeteilt worden wäre. Gleichzeitig wollten Sie einen Wahlkreis Oberhausen schaffen, der bei sinkender Einwohnerzahl eine Abweichung vom statistischen Mittel um 22,3 Prozent aufwiese. ({18}) - Das ist zulässig. - Daran wird deutlich, dass der Vorschlag der F.D.P.-Fraktion auf Dauer gesehen nicht tragfähig gewesen wäre. Wir haben ihn deshalb abgelehnt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich möchte ausdrücklich der Wahlkreiskommission und ihrem Vorsitzenden, dem Präsidenten des Statistischen Bundesamtes, Herrn Hahlen, meinen Dank aussprechen. ({19}) Diese Wahlkreiskommission hat vorzügliche Arbeit geleistet, die, wie ich glaube, allen Fraktionen als Grundlage für sehr sachbezogene Diskussionen und Auseinandersetzungen diente. Die Arbeit war vorzüglich, auch wenn wir in Einzelfällen von den Empfehlungen der Kommission abgewichen sind. ({20}) Ich möchte auch den Mitarbeitern des BMI und des Statistischen Bundesamtes danken, die ja nicht nur von mir, sondern sicher auch von den anderen Fraktionen um Auskünfte und Hilfestellungen gebeten wurden. Dieses hat hervorragend funktioniert. ({21}) Meine Damen und Herren, wir als Regierungskoalition haben die Oppositionsfraktionen sehr frühzeitig in den Abstimmungsprozess einbezogen. ({22}) - Ich will die Debatte aus dem Innenausschuss nicht wiederholen. Es gab drei Gespräche. Aber lassen wir das dahingestellt sein. - Wir haben auch festgestellt, dass es weitgehende Übereinstimmung zwischen unserem Gesetzentwurf und Ihren Vorschlägen gibt. Meiner Meinung nach rechtfertigen die unterschiedlichen Auffassungen, die noch in einzelnen Wahlkreisfragen vertreten werden, nicht die Ablehnung dieses Gesetzentwurfes. Das ist zwar Ihre Entscheidung, ich möchte Sie aber bitten und auffordern: Stimmen Sie diesem Gesetzentwurf zu! ({23}) Es würde dem Parlament gut tun, Herr Marschewski, wenigstens in grundlegenden Fragen unserer Verfassung - dazu gehört auch das Wahlrecht - Übereinstimmung zu dokumentieren. Vielen Dank. ({24}) - Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Ein sehr guter und sehr sachlicher Bei- trag! - Dr. Michael Bürsch [SPD]: Es ist fast al- les gesagt!)

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Erwin Marschewski.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Wichtigste an Gesetzentwürfen ist manchmal das, was nicht drin steht. So wird mit diesem Gesetz die Parlamentsreform fortgesetzt, die zwei wesentliche Elemente hatte: erstens die Verkleinerung des Deutschen Bundestages ab 2002 auf noch 299 Wahlkreise und zweitens die Anpassung derAbgeordnetenentschädigung an den gesetzlich vorgegebenen Richtwert R 6. Das Jahresgehalt eines Bundesrichters sollte der Maßstab sein. Da dies nicht verwirklicht wird, sollte man eigentlich auf die Wahlkreisverringerung ebenfalls verzichten. ({0}) Wir hätten den Mut dazu. Wenn wir als Parlament allgemein den Mut dazu hätten, würden wir dies hier und heute tun. ({1}) Wir sind jedoch gezwungen, zu diesem Gesetzentwurf zu reden. Herr Kollege Friese, es gibt wahrlich keinen Grund, diesen Entwurf zu feiern. Er ist vergleichsweise schlecht. ({2}) Als wir 1998 die Wahlkreise komplett neu schneiden mussten, sind am Ende weniger als zehn Entscheidungen strittig geblieben. ({3}) Unser Anliegen war es, einen Konsens herzustellen. Denn Wahlrecht sollte natürlich - da haben Sie Recht gemeinsame Sache sein. Das gilt insbesondere für die Einteilung der Wahlkreise. Deswegen habe ich damals sehr viele Gespräche - Herr Staatssekretär Körper wird dies bestätigen - mit der Opposition geführt. Sie hatten eine viel leichtere Ausgangslage und trotzdem haben Sie eine ungleich höhere Zahl an streitigen Entscheidungen produziert. Sie wollen mehr als 80 Wahlkreise verändern. ({4}) Dabei lassen Sie sich von sachfremden Motiven und von parteipolitischen Erwägungen leiten. ({5}) Unsere sachlich begründeten Vorschläge sind leider kaum auf Gegenliebe gestoßen. Jedoch haben Sie unseren Antrag aufgegriffen, in Hessen den Landkreis GroßGerau nicht mehr auf verschiedene Wahlkreise aufzuteilen. Das hat den Vorteil, dass es im Landkreis DarmstadtDieburg nur noch zwei statt drei Wahlkreise gibt. Das ist gut so. Sie haben Ihre wirklich verrückte Idee aufgegeben - ich müsste eine Karte haben, um dies zu zeigen -, in Nordrhein-Westfalen Horstmar dem Coesfelder Wahlkreis zuzuordnen. ({6}) Mit diesem Trick wollten Sie vermeiden, dass zwei SPDAbgeordnete um denselben Wahlkreis kämpfen. Das ist ehrenwert für die SPD-Abgeordneten, aber in jeder Hinsicht sachfremd. Sie haben dies später als Redaktionsversehen beseitigt und dies ist gut so. Im Unteren Geiseltal in Sachsen-Anhalt haben Sie Ähnliches getan. Auch die Zuordnung von Winsen ({7}) in Niedersachsen ist positiv. Aber für die meisten Ihrer Vorschläge haben wir kein Verständnis. Zum Beispiel Sachsen: In 13 von 17 Wahlkreisen folgen Sie nicht dem sachlich begründeten Vorschlag der Wahlkreiskommission. Meine Damen und Herren, das ist pure Selbstbedienung. ({8}) Da vorne sitzt mein Freund Günter Baumann, ein sachlicher Mensch. ({9}) Sie haben es nicht einmal für nötig befunden, diese Problematik mit den Kollegen aus Sachsen zu erörtern. Das ist nicht in Ordnung. Ich rüge dies. ({10}) Sie wollten eine Zuordnung zu Chemnitz durchführen und rechnen sich dort bessere Wahlkreischancen aus, wobei ich hoffe, dass der Wähler Ihre Fummelei durchkreuzen wird, meine Damen und Herren der SPD. ({11}) Hierauf trifft zu, was Staatssekretär Körper, damals innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, in Bonn im Bundestag gesagt hat: Das hat mit objektiven Kriterien und deren Einhaltung absolut nichts zu tun; das ist ausschließlich parteipolitisch motiviert. Recht hatte er, der jetzige Staatssekretär Fritz Rudolf Körper. ({12}) Nächstes Beispiel: Schleswig-Holstein. Da gibt es eine rot-grüne Landesregierung ({13}) und die Landesgruppe der SPD Schleswig-Holstein hat sämtliche Vorschläge der rot-grünen Landesregierung verworfen. Meine Damen und Herren, das ist Selbstbedienung potenzieller Wahlkreiskandidaten. Das geht so nicht. ({14}) Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Sie haben den ungeteilten Kreis Rendsburg-Eckernförde durch Herausnehmen zweier CDU-Hochburgen, Kronshagen und Altenholz, SPD-fest gemacht. ({15}) Wären wir 1998 so rigoros vorgegangen, dann hätte die Aussage unseres Kollegen und jetzigen Staatssekretärs Fritz Rudolf Körper wirklich gepasst. Er sagte damals: „Das ist Willkür.“ - Recht hat er, der jetzige Staatssekretär. ({16}) Drittes Beispiel: Nordrhein-Westfalen. In Köln zerstören Sie ohne Not die Identität zwischen zwei Bundestagswahlkreisen mit jeweils zwei Landtagswahlkreisen. Was aber noch eigenartiger ist: Sie trennen die Kreishauptstadt Schwelm vom Ennepe-Ruhr-Kreis ab und schlagen sie Hagen zu. Die Hauptstadt des Kreises gehört zum Kreisgebiet. Ihre Regelung ist völlig sachfremd. ({17}) Weiteres Beispiel: Bayern. In München pfuschen Sie ebenfalls völlig sachwidrig an der Wahlkreiseinteilung herum. Hierzu und zu Oberfranken wird mein Freund Hartmut Koschyk gleich ein paar Worte sagen, weil er die Gegend ein bisschen besser kennt als ich, der ich aus dem Ruhrgebiet komme. Aber Hagen, Schwelm und den Ennepe-Ruhr-Kreis kenne ich natürlich sehr gut. ({18}) - Lieber Kollege Kemper, wir können noch nachher darüber sprechen. Wir sehen uns so oft - fünfmal die Woche -; da können wir diese Fragen auch beim Bier erörtern. Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, es ist Ihnen nicht gelungen, gemeinsame Empfehlungen auf den Tisch des Hauses zu legen. Ich weiß, Herr Kollege Friese, dass es ein Berichterstatter in Sachen Wahlkreiseinteilung nicht immer leicht hat. ({19}) Ich weiß es genau, weil ich auch diesmal wie beim letzten Mal Berichterstatter meiner Fraktion bin. Ich sage herzlichen Dank für Ihre Arbeit. Wir haben ein paar Gespräche geführt. Sie haben es nicht immer leicht gehabt. Auch ich konnte damals nicht all das billigen, was man durchsetzen wollte. Ich komme zum Schluss. Ich halte es für keine gute Entscheidung der Koalition, fast ausschließlich auf die Mehrheit zu setzen, anstatt mit Argumenten zu überzeugen. Sie werden deswegen verstehen, dass wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. ({20}) Sie werden verstehen, dass wir Ihre sachwidrigen und unplausiblen Entscheidungen bei veränderten Mehrheiten in diesem Hause wieder zurücknehmen werden. Wir müssen dies im Interesse der Wähler und im Interesse der Abgeordneten tun. ({21}) In dem Fall, dass ich meine Arbeit noch weitermachen werde, verspreche ich Ihnen, genauso wie in der Vergangenheit auf Dialog zu setzen. Herzlichen Dank. ({22})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen dem Kollegen Cem Özdemir.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch schwere Geburten sind irgendwann einmal vorbei. Die Wahlkreisneueinteilung war eine solch schwere Geburt. ({0}) - Meinen Sie? Ich kann sagen, dass meine Fraktion - ich glaube, das gilt auch für die Fraktion der F.D.P., obwohl der Kollege Stadler im Innenausschuss eigene Interesse angesprochen hat - nun wirklich keine eigenen Aktien in dieser Frage hatte. Umso sachlicher konnten wir über die Wahlkreisneueinteilung debattieren. Erwin Marschewski ({1}) Ich möchte die Gelegenheit nutzen - wir haben dies schon im Innenausschuss getan; auch der Kollege Marschewski hat dies trotz seiner Kritik fairnesshalber gemacht -, demjenigen zu danken, der am meisten dazu beigetragen hat, dass das Gesetz in der gegenwärtigen Fassung vorliegt, nämlich dem Kollegen Friese. ({2}) Der Kollege Friese hat wirklich in sehr fairer Weise die Anliegen der Opposition einbezogen und das Gespräch mit allen Beteiligten gesucht. Ich kann das bestätigen, weil ich an einigen Gesprächen beteiligt war. Er hat eine sehr undankbare Aufgabe übernommen. Man kann es in dieser Frage nicht allen recht machen. Trotzdem hat er versucht, die Interessen der einzelnen Fraktionen angemessen zu berücksichtigen. Wenn man das Gesetz objektiv bewertet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass es ihm gut gelungen ist. Deswegen ein herzlicher Dank von meiner Fraktion an den Kollegen Friese. ({3}) Ich möchte aber in meinen Dank auch diejenigen mit einbeziehen, die sehr viel Arbeit geleistet haben. Dazu gehören die Mitglieder der unabhängigen Wahlkreiskommission und die zuständigen Beamten aus dem Bundesinnenministerium und vom Statistischen Bundesamt. All denen möchte ich bei dieser Gelegenheit danken. ({4}) Sie wissen, wir haben sehr viele Gespräche mit den Gemeinden, mit Vertretern von sehr vielen Wahlkreisen, die auf uns zugekommen sind, und mit unseren Landesverbänden geführt. Auch deren Interessen galt es abzuwägen, was sicherlich nicht ganz einfach war. Wir stehen zu dem Kompromiss, der damals gefunden wurde, dass wir das Parlament verkleinern wollen. Sie wissen, dass damit eine Verringerung der Zahl der Wahlkreise einhergeht. Das ist gerade für die kleinen Fraktionen - ich nehme an, dass die kleinen Fraktionen darauf noch eingehen werden - eine sehr schwierige Situation. ({5}) - Ich glaube, ihr werdet auch in Zukunft eine kleine Fraktion bleiben, wenn ihr so weitermacht. ({6}) Trotz dieser schwierigen Situation ist es im Zuge einer Gesamtkonzeption für einen schlanken Staat richtig gewesen, die Zahl der Abgeordneten zu reduzieren. Das heißt allerdings auch, dass wir schauen müssen, wie wir künftig den Kollegen helfen, die riesige Wahlkreise haben, gerade im Osten der Bundesrepublik Deutschland. Ich habe mir diese Wahlkreise angesehen. Man fragt sich wirklich, wie künftig Bürgernähe geleistet werden soll, wenn zum Teil mehrere Landkreise abgedeckt werden sollen. Auch das muss man in diesem Zusammenhang betrachten. Ich rege an, dass wir uns bei anderer Gelegenheit in entspannter Atmosphäre überlegen, wie wir die Abgeordneten in die Lage versetzen können - Stichwort: Ausstattung von Abgeordneten -, ihre Aufgaben als Wahlkreisabgeordnete angemessen zu erfüllen. Das gilt gerade bei den großen Fraktionen für diejenigen, die ihre Wahlkreise direkt gewonnen haben, in verstärktem Maße. Mir ist völlig klar, dass sie vor riesigen Aufgaben stehen, die kaum zu erfüllen sind. Herr Kollege Marschewski hat ein bisschen durchblicken lassen, dass er selber weiß, dass wir hier sehr fair gearbeitet haben, und dass er anerkennt, dass wir uns um das Gespräch mit der Opposition bemüht haben. Ich kann Ihnen - Sie haben ja davon gesprochen, dass Demokratie vom Wechsel lebt - nur eines sagen: Eines Tages - möglicherweise eines sehr fernen Tages - werden Sie wieder regieren und dann werden wir - Sie wissen, modernes Papier ist säurefrei, sodass es mehr als 20 Jahre hält - uns sehr genau anschauen, wie Sie mit dem Anspruch an Fairness, den Sie heute erheben, umgehen werden. Wir haben Ihnen vorgemacht, wie man das kann. Ich hoffe, Sie werden unserem Beispiel folgen. Ich will zum Abschluss - da sich das Thema nicht dazu eignet zu polemisieren - auf eines hinweisen: Wir müssen uns - das hat mit der Debatte von vorhin zu tun - auch Gedanken darüber machen, ob wir den Bevölkerungswandel in der Bundesrepublik Deutschland nur nachvollziehen wollen, indem wir die Wahlkreise neu einteilen, oder ob wir nicht auch schauen müssen, wie wir die unterschiedliche Entwicklung im Osten und im Westen auffangen können; denn im Osten, insbesondere in Sachsen und in Sachsen-Anhalt, hat die Bevölkerungszahl dramatisch abgenommen, wodurch sich die Zahl der Wahlkreise in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg um jeweils einen erhöht. Darum müssen wir uns überlegen, wie wir da gegensteuern können; denn diese Situation ist für die Bundesrepublik Deutschland nicht positiv. Auch Abwanderungen sind ein Demokratieproblem, über das wir uns Gedanken machen müssen. Lassen Sie mich zum Abschied ({7}) - so schnell geht es nicht, Kollege Koschyk; Sie haben ja nachher noch Zeit zu reden, keine Sorge - bzw. zum Abschluss noch auf einen Punkt zu sprechen kommen. Zu Krefeld sage ich nichts mehr; dazu ist genug gesagt worden. Aber ich möchte ein anderes Beispiel nennen, das wahrscheinlich niemand ansprechen wird. Sie wissen, unweit, direkt vor unserer Nase, wurde von Ihnen damals der Wahlkreis Berlin-Mitte/Prenzlauer Berg aufgelöst. Wir bleiben dabei, um das gleich vorweg zu sagen. Ich erwähne das nur, um zu zeigen, wie fair wir Ihnen gegenüber sind. In diesem Wahlkreis holte die CDU 12 Prozent, die F.D.P. - Stichwort: Projekt 18 - 2,2 Prozent, zusammen also unter 15 Prozent. Wir haben diesen Wahlkreis, obwohl die Versuchung groß war, nicht wieder eingerichtet. So fair sind wir gegenüber der heutigen Opposition. Sie sehen: Wir haben uns die Mühe gemacht, eine Lösung zu finden, die für alle tragbar ist. Es wird nie so sein, dass alle zufrieden sind. Wir haben aber alles in allem einen guten Gesetzentwurf vorgelegt und ich glaube, dass jetzt kein Hindernis mehr für die Wahl der Wahlkreiskandidaten besteht. Der Bundeswahlleiter wird sehr zügig darangehen und alle Parteien in die Lage versetzen, Kandidaten aufzustellen. Dann steht einem hoffentlich fairen Bundestagswahlkampf nichts mehr entgegen. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Der Kollege Dr. Max Stadler spricht nun für die F.D.P.-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute über die Lex Friese. Ich will Ihnen kurz erläutern, warum die F.D.P.-Fraktion sich bei diesem Gesetz enthalten wird. Eine Ablehnung wäre nicht sachgerecht, weil wir die gefundenen Lösungen hinsichtlich der Wahlkreisneueinteilung im Großen und Ganzen akzeptieren können. ({0}) Insbesondere die Zusammenarbeit mit dem Kollegen Friese war durchaus erfreulich und gut. Er hat das Gespräch mit uns nicht nur gesucht, ({1}) wie der Kollege Özdemir sagte, sondern sogar gefunden. Er war Argumenten durchaus zugänglich. ({2}) So konnte zum Beispiel unser Kollege von der F.D.P. Dirk Niebel durchaus mit Erfolg Überzeugungsarbeit leisten, sodass am Ende die Stadt Eppelheim im Wahlkreis Heidelberg bleiben kann. ({3}) Das ist für die dortige Situation bedeutsam und ein Zeichen für die gute Zusammenarbeit, die wir in dieser Frage hatten. ({4}) Meine Damen und Herren, natürlich sind Wahlfragen Machtfragen. Jetzt wird gegenseitig der Vorwurf erhoben, dass solche Einteilungen von Wahlarithmetik geprägt seien. Die Redner der jetzigen Koalition bringen das gegenüber unserer Entscheidung vor, die wir in der letzten Wahlperiode getroffen haben, und umgekehrt hat die Union dies jetzt der SPD und den Grünen entgegengehalten. Es wäre blauäugig, würde man sagen, der Verdacht, dass geschaut wurde, wie denn bei einem Neuzuschnitt am Ende die Ergebnisse in den Wahlkreisen aussehen werden, sei völlig unberechtigt. Aber das Verhältniswahlrecht, das wir ja in verbesserter Form haben, setzt Manipulationsmöglichkeiten sowieso von vornherein Grenzen. Denn am Ende orientiert sich die Zusammensetzung des Bundestages, wenn ich einmal Überhangmandate beiseite lasse, an dem prozentualen Anteil, den die Parteien an den Zweitstimmen haben, und nicht an der Einteilung der Wahlkreise. ({5}) Trotzdem ist die Wahlkreiseinteilung natürlich von großer Bedeutung für die Repräsentanz der Regionen in der Volksvertretung. Deswegen wäre es schon angebracht gewesen, Fehlentscheidungen aus der Vergangenheit, die wir selber jetzt als solche erkennen müssen, zu korrigieren. Ich nenne daher noch einmal das Beispiel Krefeld. Es kann doch nicht sein, dass eine Großstadt mit 240 000 Einwohnern Gefahr läuft, keinen örtlichen Abgeordneten oder keine örtliche Abgeordnete im Bundestag zu haben. Wir haben daher vorgeschlagen, dass Krefeld ungeteilt einem Wahlkreis zugeordnet wird. ({6}) Dieser Vorschlag der F.D.P. wäre umsetzbar gewesen. Ich verstehe nicht, warum nicht nur SPD und Grüne, sondern leider auch CDU und CSU unserem Antrag nicht gefolgt sind. ({7}) Da dies nicht geschehen ist und da es wichtig gewesen wäre, die Situation Krefelds bei dieser Gelegenheit zu bereinigen, können Sie verstehen, dass wir dem gesamten Gesetzesvorschlag nicht zustimmen können. Daher enthalten wir uns. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die PDS-Fraktion gebe ich der Kollegin Petra Pau das Wort. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Und für Berlin-Mitte, nicht zu vergessen, Herr Kollege Özdemir. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich gebe zu: Bis gestern Abend habe ich gedacht, zu diesem Thema sei alles gesagt und ausgetauscht. ({0}) Nach einem Blick in die Presse und nach der Rede des Kollegen Marschewski weiß ich: Es ist noch nicht alles gesagt und vor allen Dingen noch nicht von allen. Deswegen will auch ich sprechen und Ihnen drei Gedanken mit auf den Weg geben. ({1}) Die PDS-Fraktion wird diesem Gesetzentwurf - zumindest mehrheitlich - zustimmen, denn unter Abwägung aller Konflikte haben wir keine rationale, nachvollziehbare Alternative anzubieten. Ich kann mich dem Lob für den Kollegen Friese nur anschließen: Das, was möglich war, haben wir zumindest hierbei gemeinsam miteinander besprochen. Es bleiben aber Probleme. So wird zum Beispiel der Wahlkreis Teltow-Fläming in drei Wahlkreisteile zerschnitten. Das heißt, Abgeordnete haben dort nicht das Problem, dass sie womöglich Bürgerbüros in drei Wahlkreisen aufbauen müssen, sondern dieser Landkreis wird nunmehr mit drei Bundestagsabgeordneten beschenkt werden. Ich denke, wenn von den im Lande Brandenburg selbst politisch Verantwortlichen, meine Partei eingeschlossen, in den Verhandlungen eine Lösung gesucht worden wäre, hätte man vielleicht auch eine gefunden. Das war aber offensichtlich ebenfalls nicht mehr zu reparieren. Aber es bleiben auch andere Probleme. Auch diese wurden bereits angesprochen. Sie sind nicht über das Gesetz zu regeln, aber wir werden uns über sie Gedanken machen müssen. Was ist denn mit den Kolleginnen und Kollegen, die in den flächenmäßig sehr großen Wahlkreisen im nächsten Jahr gewählt werden, die entsprechende Arbeitsbedingungen brauchen, die aber einen unverhältnismäßig hohen Aufwand haben, zumindest im Vergleich zu den Kolleginnen und Kollegen in den kleinen, bevölkerungsreichen Wahlkreisen haben? Das muss geregelt werden, darüber müssen wir gemeinsam nachdenken. Damit komme ich zum dritten Punkt: Es ist hier schon viel von Parteitaktik geredet worden, die man sich gegenseitig unterstellt. Wir werden diesem Gesetzentwurf ausdrücklich zustimmen, obwohl wir zum Beispiel wissen, wie die Wahlkreiseinteilung im Lande Berlin zustande gekommen ist, Kollege Marschewski. ({2}) Diese ist bei Planspielen unter Leitung Ihres Parteifreundes Klaus Landowsky mit dem Ziel, die PDS erst einmal aus den Berliner Rathäusern rauszuhalten, zustande gekommen. Vor zwei Jahren wurde der Berliner Bezirkszuschnitt völlig sachfremd verändert, in der Hoffnung, dass die PDS auf diese Art und Weise nach der Wahl 1999 nicht mehr in die Rathäuser einziehen würde. Die Wählerinnen und Wähler dieser Stadt haben aber den Beweis erbracht, dass sie sich nicht am Schreibtisch vorschreiben lassen, wen sie zu wählen haben. ({3}) Nun gibt es als Ergebnis die erste Bürgermeisterin mit PDS-Mandat in einem Westbezirk, in Kreuzberg. ({4}) Ich gehe davon aus, dass sich die Wählerinnen und Wähler auch nach dieser Wahlkreiseinteilung nicht vorschreiben lassen, wen sie 2002 für die Hauptstadt wählen werden. Ich setze auf die Wählerinnen und Wähler in den neuen Wahlkreisen. Wir werden zustimmen. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/ CSU-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Hartmut Koschyk.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Wahlgesetzgebung gehört sicher zu den sensibelsten Bereichen der Gesetzgebung unseres Landes. Von ihrer Transparenz und Nachvollziehbarkeit hängt es ab, wie die Bürgerinnen und Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Der rot-grüne Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes enthält neben den vielen Ungereimtheiten, auf die der Kollege Marschewski schon hingewiesen hat, vor allem für den Freistaat Bayern eine Reihe von Ungereimtheiten. ({0}) Dagegen hat sich in den betroffenen Regionen zu Recht entschiedener Protest der Bevölkerung erhoben. Doch dieser Protest wird von der rot-grünen Parlamentsmehrheit einfach beiseite geschoben. ({1}) Sie von Rot-Grün müssen sich schon fragen lassen: Wie verträgt es sich, dass Sie auf der einen Seite plebiszitäre Elemente auf Bundesebene neu einführen wollen, auf der anderen Seite aber bei einem Bereich, in dem es um die unmittelbare Mitbestimmung des Bürgers geht, bei der Zuschneidung von Wahlkreisen, kaltschnäuzig über das hinweggehen, was die Bürgerschaft will, und sich in keiner Weise gesprächs- und kompromissbereit zeigen? ({2}) Für die Verringerung der Zahl der Wahlkreise in München von bislang fünf auf vier geben Sie in Ihrem Gesetzentwurf keinerlei inhaltliche Begründung. ({3}) Auch lassen Sie völlig unberücksichtigt - hören Sie zu, Herr Friese; darauf kommt es an -, dass sich seit der Neueinteilung 1998 die Einwohnerzahlen in den Regierungsbezirken Bayerns erheblich verändert haben. Es wäre jetzt Ihre Pflicht gewesen, diese veränderten Einwohnerwerte zu berücksichtigen und in einem Abwägungsprozess zu gewichten. Unser Münchener Kollege Singhammer hat in seiner Eingabe an den Innenausschuss zu Recht darauf hingewiesen, dass die Zahl der Wahlberechtigten im Regierungsbezirk Oberbayern seit 1998 gegenüber dem Regierungsbezirk Oberfranken gewachsen ist. Deshalb dürfen Sie nicht, obwohl Sie es tun, begründungs- und abwägungslos die kreisfreie Stadt München aus dem Regierungsbezirk Oberbayern einfach herausgreifen, um den einzigen in Bayern einzusparenden Wahlkreis in München einzusparen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Koschyk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Singhammer?

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr gerne. ({0}) - Wenn Sie Fragen stellen, stehe ich auch Ihnen zur Verfügung.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Koschyk, nachdem Sie mich angesprochen haben, möchte ich Sie fragen, ob Sie mir zustimmen können, dass die jetzige Mehrheit des Bundestages gegen die Empfehlung der unabhängigen Wahlkreiskommission für die Landeshauptstadt München ({0}) neue Grenzziehungen vorschlägt, die in keiner Weise gewachsenen Stadtvierteln entsprechen und ausschließlich das Ziel haben, günstigere Voraussetzungen für die nächsten Wahlen zu erreichen? Können Sie mir zustimmen, dass man diese Regelung mit Fug und Recht als Pfuscherei bezeichnen kann, die dem inneren Frieden in dieser Region nicht dienen wird?

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Singhammer, ich kann Ihnen da nur voll und ganz zustimmen. ({0}) Denn es ist so: Sie haben die Neuzuschnitte der Wahlkreise in München ohne Beachtung der Vorschläge der Wahlkreiskommission vorgenommen. ({1}) Herr Parlamentarischer Geschäftsführer Küster, auch ein notwendiger Abwägungsprozess zwischen den unterschiedlichen Regierungsbezirken in Bayern ist nicht vorgenommen worden. ({2}) Kollege Friese selbst hat in der diesbezüglichen Beratung des Innenausschusses eingeräumt, dass auch er aufgrund der unterschiedlichen Entwicklung der Wahlbevölkerung in Oberbayern und Oberfranken der Auffassung ist, dass im Jahre 2006 wieder Veränderungen in Bezug auf die Wahlkreiszuschnitte in Oberbayern und Oberfranken vorgenommen werden müssen. ({3}) Die Veränderungen, die Sie jetzt sowohl in München als auch in Oberfranken vornehmen, sind unnötig. Auch übergehen Sie bei Ihren konkreten Zuschneidungen sozioökonomisch gewachsene Strukturen. Deshalb hat übrigens die Bayerische Staatsregierung Ihre Vorschläge rundweg abgelehnt. Das, was Sie jetzt im Bereich Oberfranken, in Bezug auf Bayreuth, Forchheim und Bamberg, vorhaben - Herr Friese hat das ja ausdrücklich verteidigt -, tun Sie gegen den entschiedenen Widerstand des betroffenen Landrates, der in einer entsprechenden Eingabe an den Innenausschuss zum Ausdruck kommt, und gegen den Widerstand aller betroffenen Gemeinden. Jeder der betroffenen Bürgermeister hat sich an den Innenausschuss gewandt. Das Schönste ist - daran sieht man, wie bei Ihnen innerparteiliche Demokratie funktioniert -: ({4}) Dies ist auch gegen das ausdrückliche Votum Ihrer Parteifreunde beschlossen worden. Ich wiederhole: Dass Sie nicht einmal vor Ort mit der betroffenen Bürgerschaft und den Kommunalpolitikern sprechen, zeigt, dass es Ihnen nicht darum geht, den Bürgerwillen und gewachsene Strukturen zu berücksichtigen. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kemper?

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kemper, bitte schön.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Kollege Kemper bekommt das Wort zu einer Zwischenfrage.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Koschyk, jetzt kann ich Ihnen die Frage stellen, die ich eigentlich Herrn Marschewski stellen wollte. Aber auch Sie waren ja schon in der letzten Legislaturperiode im Innenausschuss und haben die damalige Wahlkreisreform mit beschlossen. Würden Sie, genauso, wie Sie Ihrem Kollegen Singhammer zugestimmt haben, auch mir zustimmen, wenn ich feststelle, dass Sie in der letzten Legislaturperiode im Münsterland zwei Wahlkreise geschaffen haben, die etwa 100 Kilometer lang und 20 Kilometer breit sind, ({0}) die über Kreisgrenzen hinweg gehen, überhaupt nicht durch gewachsene Strukturen gerechtfertigt sind ({1}) und deren Zuschnitt mit Ausnahme des betroffenen Bundestagsabgeordneten Karl-Josef Laumann ({2}) niemand befürwortet hat? Der wollte das gerne und das haben Sie dann auch getan.

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens glaube ich, dass sich der Sachverhalt nicht ganz so darstellt, wie Sie ihn, Herr Kollege Kemper, geschildert haben. ({0}) Zum anderen sind auch wir zur Selbstkritik fähig. Kollege Marschewski hat vorhin eingeräumt, dass es auch bei unserer Reform von 1998 einige Punkte gab, zu denen wir gesagt haben: Jawohl, darüber muss man hinterher noch einmal sprechen. ({1}) Ich will zusammenfassen: Nicht nur das, was ich gerade für Bayern, also für Oberfranken und für Oberbayern bzw. München, gesagt habe, ist wichtig. Auch der Verweis auf Sachsen ist notwendig, wo Sie entgegen dem Votum der Wahlkreiskommission ganz gravierende Änderungen vornehmen. Ich finde, Ihre Reform ist unausgegoren. Sie geht an in vielen Regionen gewachsenen historischen und kulturellen Strukturen vorbei. Sie werden dafür ein Stück weit die Quittung bekommen; denn die Bürgerinnen und Bürger in bestimmten Regionen werden es Sie in den Wahlen merken lassen, mit welcher Willkür Sie Wahlkreise neu eingeteilt haben. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Harald Friese das Wort. ({0})

Harald Friese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003125, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Wahlkreisreform ist ausgewogen und wohlüberlegt. Sie ist sachlich begründet. Wenn Sie, Herr Koschyk, darauf hinweisen, dass in Bayern die Bevölkerungsentwicklung in den Regierungspräsidien anders verläuft, dann will ich Sie auf das Bundeswahlgesetz hinweisen. Es sieht nur vor, dass die Zahl der Wahlkreise der Bevölkerung der Bundesländer entsprechen muss, aber nicht, dass das auf einzelne Regierungspräsidien bezogen werden kann. Wenn Sie sagen, dies wolle niemand und wir würden hier gegen den Wunsch der Bayerischen Staatsregierung verstoßen, dann möchte ich Sie an die Drucksache 14/2597 erinnern. Die Wahlkreiskommission zitiert dort die Bayerische Staatsregierung, die sich in ihrer abschließenden Stellungnahme vom 12. November 1999 gegen jegliche Änderung des Zuschnitts der Wahlkreise in Bayern ausgesprochen hat. Als Begründung hat sie ausgeführt, dass keine Veranlassung bestehe, an der vom Gesetzgeber durch das Wahlkreisneueinteilungsgesetz für Wahlen ab dem Jahre 2002 vorgesehenen Regelung für Bayern Änderungen vorzunehmen. Das ist die Position der Bayerischen Staatsregierung. Wir mussten aber teilweise in Bayern handeln, weil wir sonst gegen das Gesetz verstoßen hätten; denn es lagen Entwicklungen vor, die die durch das Bundeswahlgesetz gesetzten Schranken überschritten hätten. ({0}) Zur Frage Oberfranken. Herr Koschyk, es ehrt uns, wenn Sie uns ein falsches innerparteiliches Demokratieverständnis vorwerfen. Wir haben die Wahlkreisreform eben nicht nach den Vorstellungen der Partei, sondern nach objektiven Grundsätzen gemacht. ({1}) Offensichtlich haben Sie Wahlkreisreform nach den Vorstellungen Ihrer Partei vor Ort gemacht. Es gibt aber objektive Kriterien, die im Gesetz niedergelegt sind. Die haben wir einzuhalten. Zu diesen objektiven Kriterien gehört, dass die Grenzen von kommunalen Gebietskörperschaften eingehalten werden sollen, soweit dies möglich ist. Lesen Sie das im Bundeswahlgesetz nach! Genau dies haben wir in Oberfranken getan; es sind nämlich die Grenzen der Gebietskörperschaften fast vollständig erhalten geblieben. Wenn Sie jetzt argumentieren - das haben Sie im Innenausschuss getan -, damit würden gewachsene Strukturen zerstört werden, entgegne ich: Es kann nicht Aufgabe des Bundesgesetzgebers sein, eine falsche kommunale Gebietsreform - sofern Sie Recht haben, dass hier gewachsene Strukturen zerstört werden - durch eine Wahlkreisreform zu korrigieren. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer kurzen Erwiderung der Kollege Singhammer. ({0}) - Das Präsidium hat die Kurzintervention des Kollegen Friese so interpretiert, dass beide Kollegen angesprochen waren. ({1}) Deswegen bekommt der Kollege Singhammer jetzt das Wort zu einer kurzen Erwiderung. Ich glaube, das rechtfertigt überhaupt keine Aufregung. Wir führen hier eine vernünftige Debatte und sollten auch so verfahren. ({2})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Ich möchte auch ganz konkret auf den Kollegen Friese eingehen. Die SPD hat in ihrem Katalog, den sie als Fahrplan für Änderungen genommen hat, eine Reihe von Kriterien aufgestellt. Alle vier Kriterien, die in Ihren Augen für eine Änderung maßgeblich waren, sind in der Landeshauptstadt München bei der internen Neukonstituierung der Wahlkreise nicht gegeben. Ich stelle weiterhin fest, dass die unabhängige Wahlkreiskommission im Gegenteil von einer Änderung abgeraten hat. ({0}) Ich darf zitieren - das können Sie im Bericht der unabhängigen Wahlkreiskommission nachlesen -: Insbesondere spricht eine geringfügige Überschreitung der Grenze von 15 Prozent in einem Wahlkreis, also 0,5 Prozent, nicht für eine Änderung. Weiter heißt es: Der Grundsatz der Wahlkreiskontinuität spricht gegen Neuabgrenzungen. ({1}) Das ist ein ganz klarer Hinweis. Diesen Empfehlungen sind Sie nicht gefolgt und deshalb sage ich, dass Ihr Vorschlag eben andere und keine sachlichen Gründe hat. Deshalb lehnen wir ihn ab. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Allerdings hat der Abgeordnete des Wahlkreises 79, Krefeld, Bernd Scheelen, darum gebeten, eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben zu dürfen. Das geschieht sicherlich mit dem kollegialen Verständnis des ganzen Hauses. Sie haben das Wort.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte gerne gemäß § 31 der Geschäftsordnung mein Abstimmungsverhalten erläutern. Der Bundestagswahlkreis Krefeld wird zerschlagen. ({0}) - Es ist nun wirklich nicht angebracht, dass Sie „Hört! Hört!“ rufen. Sie haben doch nichts dagegen getan. Sie haben das doch 1998 auch so beschlossen. Seien Sie mal ganz ruhig! ({1}) Wenn dies aus den Reihen der F.D.P. käme, hätte ich dafür großes Verständnis, denn die hat sich für Krefeld eingesetzt. ({2}) Der Wahlkreis wird zerschlagen. Er wird geteilt. Er wird von Ost nach West durchtrennt. Die Hälften werden - im Norden - Teilen des Kreises Wesel und - im Süden Teilen des Kreises Neuss zugeschlagen. Ich bedaure sehr, dass die Chance, die die erneute Beschlussfassung über die Wahlkreiseinteilung bietet, heute nicht genutzt wird, um die Fehlentscheidung, die schon am 13. Februar 1998 vom damaligen Bundestag getroffen wurde, zu korrigieren. Deswegen lehne ich diesen Gesetzentwurf und die Beschlussempfehlung des Innenausschusses ab. Die Zerschlagung des Wahlkreises ist erstens willkürlich. Wären in Krefeld nur wenige Hundert Einwohner am Stichtag mehr gezählt worden, hätte es das Gesetz überhaupt nicht hergegeben, den Wahlkreis zu zerschlagen. ({3}) Erst wenn Krefeld mehr als 20 000 Einwohner weniger gehabt hätte, wäre Handlungsbedarf gegeben gewesen. Die Zerschlagung des Wahlkreises Krefeld ist zweitens ungerecht; denn für alle anderen kreisfreien Städte in der Republik bleibt der eigenständige Wahlkreis erhalten. Immerhin steht Krefeld auf der Hitliste der Großstädte in Deutschland nach der Bevölkerungszahl auf Platz 31. Die Zerschlagung des Wahlkreises ist drittens unhistorisch. Die Geschichte der Stadt reicht weit über 2 000 Jahre zurück. Die Römer haben dort gesiedelt. Die Stadt besitzt seit über 600 Jahren Stadtrechte. ({4}) - Ja, ihr könnt noch etwas über Krefeld lernen. - Schon 1826 wurden die ersten Abgeordneten in Parlamente entsandt, damals in den rheinischen Provinziallandtag. 1848 war Krefeld in der deutschen Nationalversammlung vertreten, seit 1867 im Reichstag des Norddeutschen Bundes, seit 1871 im Deutschen Reichstag und seit 1949, seit Gründung der Bundesrepublik, im Deutschen Bundestag. Meine Heimatstadt Krefeld ist - das wird Sie auch interessieren; vielleicht wissen das viele nicht - die Geburtsstätte des parlamentarischen Patenschaftsprogramms. ({5}) - Herr Börnsen, Sie wissen das. - Ausgangspunkt war die Tatsache, dass im Jahre 1683 16 Krefelder Familien als Erste aus Deutschland nach Amerika auswanderten. Dies war vor 18 Jahren Anlass einer großen Feier in Krefeld. Anlässlich dieses Ereignisses wurde das parlamentarische Patenschaftsprogramm zwischen dem amerikanischen Kongress und dem Deutschen Bundestag beschlossen. Mit dem heutigen Beschluss wird Krefeld keinen eigenen, ausschließlich von Krefelder Bürgerinnen und Bürgern gewählten Abgeordneten mehr direkt in den Bundestag entsenden. Mit der Bundestagswahl 2002 wird Krefeld in beiden neuen Wahlkreisen nur noch Juniorpartner sein. Kein Krefelder Abgeordneter wird mehr in der Lage sein, die Interessen der Stadt und der Krefelder Bürger in ihrer Gesamtheit zu erfassen ({6}) und in den politischen Beratungen und Entscheidungen so zur Geltung zu bringen, wie es Grundgesetz und Wahlgesetz vorsehen. ({7}) Die Krefelder Bürgerinnen und Bürger haben ein Anrecht darauf, von Abgeordneten vertreten zu werden, die in Krefeld verwurzelt sind, ({8}) die die Mentalität und Besonderheiten der Krefelderinnen und Krefelder kennen. Nicht umsonst sagt der Volksmund am Niederrhein: Es gibt Gute, Böse und Krefelder. ({9}) Krefeld braucht Abgeordnete, die mit der Lage und Entwicklung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten der Stadt vertraut sind. Dies ist nicht gegeben, wenn wir als Krefelder in den beiden neu zugeschnittenen Wahlkreisen nur noch die Minderheit bilden. Deshalb lehne ich den vorliegenden Gesetzentwurf ab und unterstütze die kommunale Verfassungsbeschwerde der Stadt Krefeld gegen das Gesetz zur Neueinteilung der Wahlkreise für die Wahl zum Deutschen Bundestag, die damit verbundenen Organklagen der im Rat der Stadt Krefeld vertretenen Parteien - das sind CDU, SPD und Grüne -, ({10}) die von der damals im Rat nicht vertretenen F.D.P. unterstützt werden, ({11}) und die sechs Verfassungsbeschwerden von Krefelder Bürgern. Ich hoffe sehr, dass das Bundesverfassungsgericht unseren Argumenten folgt und wir uns im Bundestag in naher Zukunft erneut mit der Neueinteilung der Wahlkreise beschäftigen werden. Wir Krefelder warten jetzt gespannt auf die Entscheidung in Karlsruhe. Der heutige Beschluss, meine sehr geehrten Damen und Herren, reißt auseinander, was zusammengehört, und kann deshalb keinen Bestand haben. Vielen Dank. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Wir kommen nun zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, Drucksachen 14/4497 und 14/5202. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nummer 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, PDS und einzelnen Stimmen der CDU/CSU gegen die Mehrheit der Fraktion der CDU/ CSU und die Stimme des Kollegen Scheelen bei Enthaltung der F.D.P. angenommen. ({0}) - Also bei mehreren Neinstimmen aus der Fraktion der SPD, aber insgesamt mit Mehrheit angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich muss ergänzen, dass es auch noch eine Enthaltung aus den Reihen der PDS gibt. Der Gesetzentwurf ist unter Berücksichtigung dieser kleinen Änderung mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nummer 2 seiner Beschlussempfehlung die Kenntnisnahme des ergänzenden Berichts der Wahlkreiskommission für die 14. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, Drucksache 14/1431. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Beschlussentwurf ist einstimmig angenommen. Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 6 sowie Zusatzpunkt 7 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Dirk Fischer ({2}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU A 6 als wichtige europäische West-Ost-Straßenverbindung vorrangig fertig stellen - Drucksachen 14/2910, 14/4090 Berichterstattung: Abgeordnete Heide Mattischeck Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({3}), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. A 6 modellhaft ausbauen - Deutschlands Fernstraßennetz für Europa fit machen - Drucksache 14/5229 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Reinhold Strobl für die Fraktion der SPD das Wort.

Reinhold Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ihnen liegt ein Antrag der CDU/CSU vor, dem sich auch die F.D.P. angeschlossen hat. ({0}) - Sie haben einen eigenen Antrag eingebracht, aber Sie haben sich an dieses Thema sozusagen angehängt. ({1}) - Diese Bemerkung hätten Sie sich sparen können. Aber das sind wir ja bei Ihnen gewohnt. ({2}) In diesem Antrag wird die vorrangige Fertigstellung der A 6 als wichtige europäische West-Ost-Straßenverbindung gefordert. Wir könnten uns die heutige Diskussion ersparen, da der Weiterbau der A 6 für uns beschlossene Sache ist und Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner viel beachteten Rede am 18. Dezember 2000 in Weiden klargestellt hat, dass die Autobahn A 6 bis 2008, spätestens 2009 fertig gestellt ist. Eigentlich könnten wir hinausgehen und eine Tasse Kaffee oder ein Bier miteinander trinken; das Thema ist abgehakt. ({3}) ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Ihr Antrag vom 14. März 2000 ist überholt. In diesem Antrag fordern Sie nämlich, die bereits begonnenen Maßnahmen, insbesondere den Lückenschluss bei der Bundesautobahn A 6, zeitlich vorzuziehen und die bisher eingeplanten Mittel so aufzustocken, dass die Fertigstellung der gesamten Baumaßnahme A 6 in den nächsten 10 Jahren sichergestellt wird. Würden wir Ihrem Antrag zustimmen, würde dies bedeuten: Der Bundestag beschließt heute, dass die A 6 bis zum Jahr 2011 fertig gestellt wird. Wir aber wollen - wir haben das Wort unseres Bundeskanzlers -, ({5}) dass die Autobahn, welche Tschechien und Deutschland miteinander verbindet, bereits in sieben Jahren, also im Jahr 2008, spätestens aber 2009 fertig gebaut ist und so die Bürger der mittleren Oberpfalz von dem unerträglichen Durchgangsverkehr und den damit verbundenen Lärmbelästigungen befreit werden. Übrigens wird immer verbreitet, die Autobahn in Tschechien sei fertig. Das stimmt gar nicht; denn Pilsen muss man immer noch umfahren. ({6}) Ich darf mich als Oberpfälzer Abgeordneter auch im Namen meiner Kollegin Erika Simm und meiner Kollegen Georg Pfannenstein und Ludwig Stiegler für die Unterstützung und das Verständnis unseres Bundeskanzlers bedanken. ({7}) - Wenn Sie nichts anderes können als immer nur „Oh“ zu rufen, dann kann ich Ihnen nicht helfen. ({8}) Der Lückenschluss zwischen Amberg-Ost und Waidhaus hat für die wirtschaftliche Entwicklung der Oberpfalz, nicht zuletzt wegen der bevorstehenden EU-Osterweiterung, eine große Bedeutung. ({9}) Die Oberpfalz - sie lag früher am Rand der Europäischen Union - wird in Zukunft mitten in Europa liegen. Wir sind uns bewusst, dass diese zentrale Lage Probleme, aber auch Chancen mit sich bringt. Seit Dezember vorigen Jahres ist die A 93 zwischen Regensburg und Hof fast durchgängig befahrbar. ({10}) Die Kosten - teils vorfinanziert - belaufen sich auf circa 800 Millionen DM. Die A 6 zwischen Amberg-Ost und Waidhaus wird etwa 783 Millionen DM kosten, sodass der Bund in den Autobahnbau in dieser Region insgesamt fast 1,6 Milliarden DM investiert. Auch dies, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, muss einmal gesagt werden, weil durch Ihre Mandatsträger vor Ort und auch durch Sie selbst der Eindruck erweckt wird, als ob die Bundesregierung und Kanzler Schröder den Süden der Republik langsam, aber sicher ausbluten ließen. ({11}) Sie müssen uns schon sagen, was Sie wollen. Erst fordern Sie den Ausbau der Autobahn in den nächsten zehn Jahren. Dann erklärt Ihnen der Bundeskanzler höchstpersönlich, dass die A 6 nicht in zehn, sondern bereits in sieben Jahren fertig sein wird. Wieder sind Sie nicht zufrieden. Die Bevölkerung der Oberpfalz hat längst mitbekommen, dass Sie das Thema A 6 nur für Ihre parteipolitischen Ziele benötigen. ({12}) Sie, meine Damen und Herren von der CSU, haben nämlich sonst kein Thema. Ich sage Ihnen: Die A 6 wird schneller fertig sein, als Ihnen lieb ist. Viele Bürgerinnen und Bürger in der Oberpfalz fragen sich: Warum hat die frühere Bundesregierung den Weiterbau nicht schneller vorangetrieben? Warum geschah in Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters der Zeit, in der die Oberpfälzer CSU den Vorsitzenden im Verkehrsausschuss und einen Staatssekretär stellte - soviel ich weiß, wird er nach mir sprechen -, nicht mehr? Warum sind erst jetzt die CSU-Abgeordneten so aktiv? Wo waren Sie denn, als Sie damals noch die Regierung stellten? Herr Hofbauer, wo war denn früher der Druck der CSU, den Sie angeblich jetzt ausüben wollen, wie ich es heute in der Zeitung gelesen habe? Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, zitiere ich aus der Rede des Bundeskanzlers in Weiden: Die wirtschaftliche Integration Europas kann überhaupt nur gelingen, wenn die erforderliche Verkehrsinfrastruktur ausgebaut wird. ({13}) Das ist gerade in Grenzregionen wie dieser eine unabdingbare Voraussetzung. ({14}) Hier in der Oberpfalz - ich bin darüber nicht überrascht - hat die Lückenschließung der A 6 Vorrang. Im Rahmen unseres Zukunftsinvestitionsprogramms - also jenes Programms, das wir aus den ersparten Zinsaufwendungen speisen, die entstanden sind, weil wir mit den erlösten UMTS-Milliarden Schulden getilgt haben, was dringend notwendig war - schaffen wir es nun, das Teilstück zwischen Pfreimd und Waidhaus erheblich früher als geplant fertig zu stellen. Dies wird bis 2005, spätestens 2006 geschehen, also in vier Jahren. Ursprünglich war 2010 geplant. Aber das ist, wie Sie wissen, nicht die einzige Lücke in der Oberpfalz. Das ist ja das Problem ... Es gibt noch eine Lücke zwischen Pfreimd und Amberg-Ost, eine, die die Menschen dort sehr belastet. Das muss man einfach so sehen. Ich komme aus einer Stadt, die vom Durchgangsverkehr sehr belastet ist. Über die konkrete Finanzierung dieses Lückenschlusses müssen wir noch entscheiden. Sie wissen, dass die öffentlichen Kassen auch nicht prall gefüllt sind. Wir müssen mit der Haushaltskonsolidierung weitermachen. ({15}) Das ist ein ganz wichtiger Punkt für unsere zukünftige Entwicklung.

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Aber ich habe mit dem Bundesverkehrsminister gesprochen. ({0}) - Es ist wirklich lächerlich, was Sie da aufführen. ({1}) - Geht es Ihnen um das Thema oder wollen Sie hier polemisieren? Ich führe das Zitat zu Ende: Wir haben uns darauf verständigt, dass wir gemeinsam, zusammen mit den Abgeordneten dieser Region, mit Ludwig Stiegler und seinen Mitstreitern, alles tun wollen, damit die A 6 bis 2008, spätestens 2009 wirklich durchgehend fertig gestellt sein wird. ({2}) Trotz dieser eindeutigen Aussage werden die CSUMandatsträger in der Oberpfalz nicht müde, weiter zu polemisieren. Da bezeichnete der eine den Besuch des Bundeskanzlers in Weiden bezüglich der A 6 als „LarifariVeranstaltung“ und der anwesende MdB Rudolf Kraus bezeichnete das A-6-Angebot von Schröder als lächerlich und sprach der Bundesregierung sogar den politischen Willen ab, was den Bau der A 6 angeht. Meine Damen und Herren, für solche Äußerungen fehlt mir jegliches Verständnis. ({3}) Ich frage mich nur, wann Sie kapieren, dass Ihnen diese Art der Auseinandersetzung nichts einbringen wird. Jeder weiß doch, dass auch hier Versäumnisse der früheren Bundesregierung vorliegen. Wertvolle Zeit ist verloren gegangen. Erst Mitte vorigen Jahres wurde von der Regierung der Oberpfalz der Planfeststellungsbeschluss für das letzte Teilstück herbeigeführt. Dieser wird zu allem Leidwesen auch noch beklagt. Welcher Ablauf ist nun vorgesehen? Der westliche Abschnitt Pfreimd/Woppenhof ist im Bau und soll bis 2004 fertig gestellt werden. Wer mit offenen Augen durch die Landschaft fährt, wird feststellen, dass bei Pfreimd mit Nachdruck gebaut wird. Wer aber beim Autofahren bewusst die Augen zumacht, weil er dies einfach nicht zur Kenntnis nehmen will, der sollte Acht geben, dass er nicht vom rechten Weg abkommt. Der Abschnitt Lohma/Waidhaus wurde bereits für den Verkehr freigegeben. Entsprechend der Baureife soll bei den Zwischenabschnitten Kaltenbaum/Lohma und Woppenhof/Kaltenbaum in diesem und im kommenden Jahr mit dem Bau begonnen werden. Die gesamte Teilstrecke Ost soll 2005 durchgängig befahrbar sein. Mit dem Bau der derzeit noch beklagten Teilstrecke West, also des Lückenschlusses zwischen Amberg-Ost und Pfreimd, soll möglichst noch 2005, also bereits in vier Jahren, begonnen werden. Diese Teilstrecke wird 2008, spätestens 2009 fertig gestellt sein. Erlauben Sie mir, noch etwas zu den immer wieder ins Gespräch gebrachten EU-Mitteln zu sagen: Es soll ja Abgeordnete geben, die bis heute noch nicht mitbekommen haben, dass die A 6 als Projekt der Transeuropäischen Netze gefördert wird. Brüssel hat bis jetzt 6,5 Millionen ECU bewilligt. Das erste Drittel für den Abschnitt Lohma/Waidhaus wurde bereits abgerufen, die übrigen zwei Drittel für die derzeitigen Bauabschnitte werden noch abgerufen. Der Folgeantrag wurde bei der EU-KomReinhold Strobl ({4}) mission bereits gestellt. Das Ministerium beurteilt, ebenso wie unser Europaabgeordneter Dr. Gerhard Schmid, die Chancen dafür positiv. Unser Ziel ist es, den Rahmen auszuschöpfen, das heißt 10 Prozent der Investitionskosten aus EU-Mitteln zu bekommen. Sie können sicher sein, dass wir dieses Geld nicht verschenken werden. Die Diskussion um den Weiterbau der A 6 offenbart auch ein eigenartiges Eigentumsverständnis der CSU. ({5}) Am besten sollten bereits morgen die Bagger anrollen, obwohl der Autobahndirektion Nordbayern noch nicht einmal der gesamte Grund für das Teilstück West gehört. Benötigt werden 217 Hektar, davon 139 Hektar für die Trasse selbst und 78 Hektar für Ausgleichsmaßnahmen. Bisher wurden von der Autobahndirektion aber nur 107 Hektar, also rund 50 Prozent, erworben. Kein Mensch kann ein Haus auf einem Grundstück errichten, das ihm noch nicht gehört. Genau dies verlangt die CSU jetzt von uns. Aufgrund meiner Nachfrage bei der Autobahndirektion hat auch die CSU das Problem der noch nicht erworbenen Grundstücke erkannt. Jetzt stellt doch tatsächlich ein CSU-Landratskandidat die Frage, warum mit dem Aufkauf noch fehlender Grundstücke nicht begonnen worden sei. Er müsste doch wohl mitbekommen haben, dass es dort so genannte Sperrgrundstücke gibt. Des Weiteren wird der Verdacht geäußert, dass deshalb kein weiterer Grund gekauft werden kann, weil für das letzte Teilstück noch keine Finanzierung vorgesehen ist. Denjenigen, die solches verbreiten, kann ich nur empfehlen, sich besser zu informieren. ({6}) Ich denke, der Fortschritt beim Grundstückserwerb für diesen Abschnitt spricht für sich. Der Ankauf kann nämlich immer nur dann beginnen, wenn der Sichtvermerk für den jeweiligen Autobahnabschnitt im Bundeshaushalt vorliegt. Das ist für den Abschnitt der A 6 AmbergOst/Pfreimd der Fall. In der Regel steht der gesamte Baugrund im Eigentum des Bundes, wenn das Baurecht vorliegt und die Klagen erledigt sind. Jede Autobahndirektion wird Ihnen dies gerne bestätigen. Erlauben Sie mir im Zusammenhang mit Bayern noch einige allgemeine Ausführungen zu dem Bereich Autobahn- bzw. Straßenbau. ({7}) Zunächst erinnere ich daran, dass die Regierung Kohl/Waigel bei der Verkehrspolitik der Regierung Schröder ein Stückwerk hinterlassen hat. Der letzte Bundesverkehrswegeplan der Regierung Kohl/Waigel wies eine Unterdeckung von 90 Milliarden DM auf. Nicht einmal ein Drittel der im Plan aufgeführten Projekte wurde tatsächlich verwirklicht. ({8}) - Wenn man Ihnen die Wahrheit sagt, wollen Sie es nicht hören. Wenn Sie reden wollen, melden Sie sich zu Wort. Von einer Benachteiligung Bayerns durch die SPD-geführte Bundesregierung, wie sie von der CSU oft behauptet wird, kann keine Rede sein. Der Freistaat Bayern nimmt unter den alten Bundesländern einen Spitzenplatz ein und profitiert zudem von den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“. ({9}) Dies geschieht, obwohl der Bund überschuldet ist und die alte Regierung zur Haushaltskonsolidierung unfähig war. ({10}) Übrigens könnte die A 6 mit dem Geld fertig gebaut werden, das der Bund an drei Tagen für die von Ihnen vererbten Staatsschulden zahlen muss. Der Wegfall der globalen Minderausgabe im Haushaltsjahr 2000 - ein Erfolg der bisherigen Haushaltskonsolidierung - brachte Bayern weitere 143 Millionen DM. Mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm der Bundesregierung werden auch in Bayern Ortsumgehungen finanziert. 12 Millionen Tonnen Kraftstoff wurden bisher pro Jahr infolge von Verkehrsstaus vergeudet. Das Engpassbeseitigungsprogramm wird mit dazu beitragen, dass unnötiger Kraftstoffverbrauch reduziert wird. Mit unseren Investitionen in die Schiene wollen und werden wir erreichen, dass in Zukunft ein Teil des weiter ansteigenden Verkehrs auf die Schiene verlagert wird. ({11}) Im Vergleich der Bundesländer bekommt Bayern den größten Geldbetrag vom Bund und gibt selbst sehr wenig für den Staatsstraßenbau aus. ({12}) Es ist ein schlechter Faschingsscherz, wenn sich der bayerische Innenminister Beckstein hinstellt und verkündet, Bayern werde 4,1 Milliarden DM für den Staatsstraßenbau ausgeben, aber - man höre und staune - in einem Zeitraum von 20 Jahren. Das sind pro Jahr gerade einmal 200 Millionen DM. Dies geschieht, obwohl sich die bayerischen Staatsstraßen in einem äußerst schlechten Zustand befinden. Aber gleichzeitig hat die bayerische Staatsregierung eine Wunschliste in Höhe von 25 Milliarden DM an den Bund aufgestellt. ({13}) Im Fordern sind also die CSU und die Bayerische Staatsregierung Weltmeister. ({14}) Ich kann nur sagen: Beckstein ist nicht nur der Herr der Schlaglöcher der bayerischen Staatsstraßen, sondern auch der Herr der Seifenblasen. Die Strategie der CSU ist es, so zu tun, als ob man mit den politischen Altlasten nie etwas zu tun gehabt hätte Reinhold Strobl ({15}) ({16}) und auch nie an der Bundesregierung beteiligt gewesen wäre. Es werden unsinnige Behauptungen aufgestellt, weil Sachargumente fehlen. Wir dagegen haben die Zeit genutzt und für den Weiterbau geworben. Wäre die CDU/CSU weiter an der Regierung, würde die A 6 zur ersten deutschen Autobahn mit Lücke. Allerdings - das muss ich gestehen - beweist Beckstein auch Realitätssinn. So hat er im Januar an den Bürgermeister von Sulzbach-Rosenberg geschrieben, nach Auffassung der bayerischen Staatsregierung wäre ein Lückenschluss der A 6 zwischen Amberg-Ost und Pfreimd bis 2008 möglich, wenn der Bund in Fortsetzung des von 2001 bis 2003 laufenden Zukunftsinvestitionsprogramms ab 2004 weitere ausreichende Mittel für den Straßenbau zur Verfügung stellen würde. Genau dies, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, werden wir tun. Die abschließende Finanzierung der A 6 wird in den Verkehrshaushalten der kommenden Jahre sichergestellt werden. Wir lassen uns nicht von Ihnen, weder von der CDU/CSU noch von der F.D.P., in neue Schulden treiben, sondern werden das, was wir für unser Land tun, seriös finanzieren. Wir tun es schneller, als Ihr Antrag es verlangt, und deshalb brauchen wir auch keine Finanzierung über die Europäische Investitionsbank. Im Antrag der CDU/CSU von heute steht: „Der Bundestag stellt fest: ... Dies bedeutet, dass ein so wichtiges überregionales Projekt mit Bedeutung für Europa wie die A 6 in den nächsten zehn Jahren keine Realisierungschancen hat.“ Diesen Satz können wir so nicht unterschreiben, weil er nachweislich falsch ist. ({17}) Wir werden uns hüten, heute so zu beschließen, wie in Ihrem Antrag gewünscht. Ich empfehle Ihnen, sich bereits jetzt auf die Suche nach neuen Themen zu machen. Das Thema A 6 wird mit zunehmendem Baufortschritt für Sie unattraktiver werden. Sie haben vom Weiterbau der A 6 immer nur gesprochen; wir werden sie bis zum Jahr 2008, also bereits in sieben Jahren, fertig bauen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wenn Sie wirklich die schnelle Fertigstellung der A 6 wollen, nämlich bereits in sieben und nicht erst in zehn Jahren, dann müssen Sie konsequenterweise Ihren eigenen Antrag ablehnen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Hofbauer.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Strobl, ich verwahre mich gegen die Behauptung, dass wir nicht ehrlich und offen für die Oberpfalz eintreten. Es ist eine unverantwortliche Politik von Ihnen, dass Sie nur Versprechungen machen und unseren Antrag nicht unterstützen. ({0}) - Was er vorgelesen hat, ja. Ich weiß nicht, wer ihm die Rede aufgeschrieben hat. Meine sehr geehrten Damen und Herren, es geht um zwei grundsätzliche Fragen. Zunächst geht es um folgende klare und deutliche Aussage: Wir hatten vor zehn Jahren die Wiedervereinigung Deutschlands. Damals hat die ehemalige Bundesregierung ein Projekt „Deutsche Einheit“ aufgelegt. Das war richtig, das war zukunftsweisend, das war eine Perspektive für die neuen Länder. ({1}) Jetzt kommt die nächste Herausforderung, die Osterweiterung der EU. Ich stelle hier ganz einfach und bescheiden fest, dass diese Bundesregierung für die Osterweiterung kein Verkehrskonzept hat, ({2}) dass sie ohne jegliches Konzept in die Zukunft geht. Es wurden vor wenigen Monaten verschiedene Programme aufgelegt. Zum Teil fehlt die Finanzierung dieser Programme und für die Osterweiterung ist hier nichts enthalten. ({3}) Deswegen besteht die zentrale Forderung der CDU/CSUFraktion darin, nunmehr - vergleichbar den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ - Verkehrsprojekte „europäische Einigung“ zu konzipieren und konsequent umzusetzen. ({4}) Zwei dieser Projekte - dies steht in unserem Antrag - sind die A 6 und die B 85. Es ist klar, dass vor dem Besuch des Herrn Kanzlers in Ostbayern die Staatssekretäre immer wieder gesagt haben, lediglich ein Teilstück werde bis 2010 fertig, das andere später. Erst nachdem die CDU/CSU dadurch Druck gemacht hat, dass sie diesen Antrag eingebracht hat, hat der Bundeskanzler seine Aussage dazu gemacht. ({5}) Eines muss ganz klar sein: Der Herr Bundeskanzler hat sein Versprechen, das er in Weiden gemacht hat, finanziell nicht untermauert. Wir stehen ohne Finanzen da. ({6}) Reinhold Strobl ({7}) Das ist der entscheidende Punkt. Dieser Antrag muss angenommen werden, damit die von uns angeregte Maßnahme bevorzugt umgesetzt wird. Die Finanzierung ist nicht gesichert. Die Aussage des Bundeskanzlers in Weiden von Dezember letzten Jahres ist nur dann glaubwürdig, wenn Sie unserem Antrag auf rasche Finanzierung der Baumaßnahme zustimmen. ({8}) Ich bitte Sie sehr herzlich darum, dafür zu sorgen, dass europäische Gelder für dieses Projekt beantragt werden. Nach meiner Auffassung hat die Bundesregierung das Angebot der Europäischen Investitionsbank, 300 Millionen DM für 15 Jahre zinslos als Darlehen zu gewähren, leichtfertig ausgeschlagen. Mit diesem Geld könnten wir einen ganz gewaltigen Schritt nach vorne machen. ({9}) Ich möchte eine weitere Bemerkung zur A 6 machen. Die Planfeststellungsvoraussetzungen bzw. der Planfeststellungsbeschluss bestehen. Wir könnten auf der ganzen Strecke bauen, wenn die Voraussetzungen da wären. In diesem Sinne darf ich zusammenfassend feststellen: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Wenn das geschieht, dann werden wir dieses Projekt sehr rasch beenden. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Horst Friedrich.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Strobl ist hier sehr vollmundig angetreten und hat das Wort des Kanzlers hochgehalten. Vielleicht wäre es besser gewesen, Herr Kollege Strobl, wenn Sie einmal einen Blick in die vorliegenden Ausbauprogramme geworfen hätten. ({0}) In dem von Ihnen aufgestellten Investitionsprogramm der Jahre 1999 bis 2002 taucht der Lückenschluss der A 6 von Amberg-Ost bis Pfreimd gar nicht auf. Im so genannten Zukunftsinvestitionsprogramm - es ist aus gutem Grund ebenfalls bis 2002 befristet - taucht der Lückenschluss der Strecke Amberg-Ost bis Pfreimd überhaupt nicht auf. ({1}) Im Anti-Stau-Programm, das erst ab 2003 gilt, und zwar nur unter der Bedingung, dass bis dahin die LKW-Maut von der Zeit- auf die Streckenbezogenheit umgestellt ist, taucht der Lückenschluss der Strecke Amberg-Ost bis Pfreimd - zumindest bis jetzt - ebenfalls nicht auf; aber dieses Programm ist schon abschließend festgestellt. Sie spucken große Töne, ohne hier konkret zu sagen, wann und wie Sie dieses Projekt finanzieren wollen. Man kann Ihnen eigentlich nur sagen: Besorgen Sie sich einen Spaten und einen Helm - vielleicht bei OBI -, damit Sie vor Ort rechtzeitig mit dem Baggern anfangen können. ({2}) Der Ansatz, den der Antrag der CDU/CSU zur A6 exemplarisch nennt, ist richtig. Wir leben in einem Land, in dem die Verkehrsentwicklung seit 1960 um 900 Prozent, der Infrastrukturausbau aber nur um 50 Prozent zugenommen hat und in dem die EU-Osterweiterung für offensichtlich wesentlich mehr Verkehr sorgt, als Kapazitäten auf den Straßen bestehen. Dennoch scheuen Sie sich nicht, einen Antrag von uns, in dem steht, dass wir ein grenzüberschreitendes Sonderprogramm ähnlich den Verkehrsprojekten „Deutsche Einheit“ brauchen, um die Osterweiterung und die Erweiterung Europas insgesamt zu finanzieren, ohne jede Begründung abzulehnen. ({3}) Wir haben dazu nicht nur Forderungen gestellt, wir haben sogar aufgezeigt, wie Sie es finanzieren können. Warum fangen Sie nicht mit der Zweckbindung der Einnahmen aus der Lkw-Vignette an, nachdem Sie so viele andere Möglichkeiten aufgrund der hohen UMTS-Erlöse haben? Es handelt sich zwar bei jenen nur um 850 Millionen DM, aber die würden schon ausreichen, um zum Beispiel die Lücke zu schließen. Das kostet knapp 500 Millionen DM, Herr Kollege Strobl. Mir kommen fast die Tränen, wenn Sie sagen, aus Europa bekommen wir 6,5 Millionen DM dazu. Donnerwetter, kann ich da nur sagen. Damit können Sie locker einen Autobahnkilometer bauen. Aber was ist dann? Danach geht es wieder auf einem zweistreifigen Feldweg weiter. Sie sollten sich selber um ein bisschen mehr Realitätssinn bemühen, bevor Sie andere kritisieren. Wir haben Ihnen den Antrag heute noch einmal vorgelegt; Sie haben noch einmal die Gelegenheit, in seriöser Weise auf die Themen einzugehen, die wirklich anstehen, nämlich eine Umstellung der Finanzierung der Infrastruktur in Deutschland. Gehen Sie einmal in sich, schauen Sie einmal in das von Herrn Pällmann vorgelegte Konzept. Sie werden dann sehen, was wirklich nötig ist. Auf dieser Basis können wir uns einigen. Alles, was Sie jetzt im Hinblick auf die Finanzierung der A 6 versprechen, reicht nicht aus. Das Problem beschränkt sich ja nicht auf den Lückenschluss zwischen Pfreimd und Amberg-Ost; es kommt ja noch das Problem dazu, dass die A 6 jetzt schon eine der am stärksten belasteten zweistreifig ausgebauten Autobahnen ist. ({4}) Diese Autobahn müsste ja bereits jetzt, da der LKW-Anteil bei über 30 Prozent liegt, von Nürnberg über Heilbronn bis zum Autobahnkreuz Walldorf eigentlich durchgehend sechsspurig ausgebaut werden. Darauf sind Sie überhaupt nicht eingegangen. ({5}) Dieses Problem stellt sich ja auch noch, und nicht nur bei der A 6; das Gleiche gilt für die A 8, für die A 3 und in Baden-Württemberg sicher auch für die A 7 und die A 5. ({6}) Alles, was Sie hier vorschlagen, ist eigentlich Stückwerk. Gehen Sie in sich, überwinden Sie sich, schließen Sie Frieden mit sich und stimmen Sie unserem Antrag, den wir heute vorgelegt haben, zu. Dann können Sie all die Fehler, die Sie sonst wahrscheinlich machen, vermeiden. In diesem Sinne hoffe ich auf fröhliche Beratungen im Ausschuss. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wie ich sehe, kommt auch der nächste Debattenredner aus der Oberpfalz. Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Wilhelm.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU! Mit dieser Debatte bewegen wir uns voll im oberpfälzischen Raum. Als unmittelbarer Anlieger eben dieser A 6 - ich komme bekanntlich aus Amberg freue ich mich natürlich sehr, dass auch Sie jetzt die A 6 als wichtige europäische Ost-West-Straßenverbindung vorrangig ausgebaut wissen wollen. ({0}) - Ich gebe Ihnen doch absolut Recht: Tschechien wird demnächst der EU beitreten, auf seinem Staatsgebiet ist diese Straße bis Prag nahezu fertig gestellt, die letzte Lücke bei Pilsen wird in diesem Jahr geschlossen sein. Es ist auch richtig, auf deutschem Gebiet sieht es wesentlich schlechter aus; da klafft noch eine große Lücke zwischen Amberg-Ost und Lohma. ({1}) Schauen wir uns das Ganze vielleicht doch etwas näher an: 1989 öffnete die damalige CSSR ihre Grenze nach Westen, der Reiseverkehr stieg stark an und steigerte sich in den Folgejahren immer mehr. ({2}) Was geschah? Nichts! ({3}) Wissen Sie, wer damals die Bundesregierung stellte? Ich glaube, wir alle wissen es. Die Planung war nicht fertig gestellt, es war kein Pfennig im Bundeshaushalt vorgesehen, ({4}) durch den in Auftragsverwaltung tätigen Freistaat Bayern kein Baurecht erteilt, weil kein Planfeststellungsbeschluss vorlag. ({5}) Zur Erinnerung: Die Planfeststellungsbeschlüsse für die Abschnitte zwischen Kreuz Pfreimd und Lohma ergingen erst 1997 und 1998, für den Abschnitt Amberg-Ost bis Kreuz Pfreimd erst im Juli 2000. Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der F.D.P., pressiert es Ihnen auf einmal ganz fürchterlich. ({6}) Wie ein Regierungswechsel Ihnen doch Beine machen kann! ({7}) Aber ich möchte hier nicht in der Vergangenheit umherschweifen. Das nützt nämlich niemandem, nicht den Einwohnern der Städte Hirschau und Schnaittenbach, des Marktes Wernberg sowie der nördlichen Stadtteile von Amberg entlang den Bundesstraßen 299 und 14, die mehr als erträglich von Lärm und Emissionen betroffen sind, und auch nicht den Verkehrsteilnehmern. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Wilhelm, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. ({0})

Georg Girisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003131, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wilhelm, Sie haben ein sehr detailliertes Wissen zum Thema A 6. ({0}) Ist Ihnen aber auch bekannt, dass die CDU/CSU vor zehn Jahren größte Anstrengungen unternommen hat, ({1}) um die Planfeststellung der A 6 zu erreichen, damit diese Straße gebaut werden kann? Ist Ihnen bekannt, dass die damaligen SPD-Abgeordneten aus unserer Region die CSU für verrückt gehalten haben, da sie eine „Straße ins Niemandsland“ baue? Horst Friedrich ({2})

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

So steht es oft in Arbeitszeugnissen: „Er hat sich immer sehr bemüht“, ({0}) was üblicherweise heißt: Es ist nichts passiert. - So war es doch auch. ({1}) - Sie behaupten immer, dass der Landtagsabgeordnete Nentwig das gesagt habe. ({2}) Er erklärt aber sehr glaubwürdig, das nie getan zu haben. ({3}) Jetzt handelt die neue Bundesregierung. ({4}) Die bereits in die Haushalte 1999 und 2000 eingestellten Baumittel wurden noch deutlich aufgebessert. ({5}) Aus den Mitteln zur Verringerung der globalen Minderausgabe gab es Verstärkungsmittel für den Abschnitt Pfreimd/Woppenhof und außerdem Mittel für den Baubeginn auf dem Abschnitt Kaltenbaum/Lohma. ({6}) Noch einen Nachschlag gab es aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm - zusätzlich zu den bereits zur Verfügung stehenden Mitteln - für die Ortsumgehung Vohenstrauß, also den Abschnitt Woppenhof/Kaltenbaum. ({7}) Die Bundesregierung hat ihre Hausaufgaben gemacht. ({8}) Der Bundeskanzler hat bei seinem jüngsten Besuch in der Oberpfalz die Fertigstellung dieses Abschnittes bis 2005, spätestens bis 2006 zugesichert. Schneller kann man nun wirklich nicht bauen. ({9}) Es bleibt noch der Abschnitt Amberg-Ost/Kreuz Pfreimd. Hier haben betroffene Grundstückseigentümer mit Unterstützung des Bundes Naturschutz den gerade erst erlassenen Planfeststellungsbeschluss vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof beklagt. Das ist das gute Recht der Planbetroffenen. Es ist keine Frage, dass dies in einem Rechtsstaat akzeptiert werden muss. Daher wundere ich mich schon sehr, liebe Kollegen von der CDU/CSU, dass Ihre Repräsentanten vor Ort nichts unterlassen, um diese Kläger unter moralischen Druck zu setzen, und sie zur Aufgabe der Klage zu bewegen versuchen. ({10}) Seien wir einmal ganz ehrlich: So Unrecht haben die Kläger ja nun wirklich nicht. Bereits in der Umweltverträglichkeitsprüfung wurde die hier ausgewählte und planfestgestellte Trassenvariante aus ökologischen Gründen als die schlechtestmögliche eingestuft. ({11}) Bessere, schonendere und auch kostengünstigere Trassenvarianten hätten zur Verfügung gestanden. Hier aber helfen keine Parlamentsbeschlüsse, keine Haushaltsmittel. Hier müssen wir ganz einfach Respekt vor dem Rechtsstaat und seinen Gerichten haben und das Urteil abwarten. ({12}) Nun zum Antrag der F.D.P. ({13}) Für eine Privatfinanzierung - wie auch immer man zu ihr stehen mag; ich bin da sehr skeptisch - eignet sich der einzig noch nicht durchfinanzierte Abschnitt AmbergOst/Kreuz Pfreimd nun wirklich nicht. ({14}) Auf eine private Vorfinanzierung und die damit geschaffenen Schattenhaushalte sollten wir uns nun wirklich nicht mehr einlassen. ({15}) Und bei einer Mautfinanzierung verlässt jeder, aber auch wirklich jeder Autofahrer die Autobahn, wenn die Lücke nur 14 Kilometer lang ist und, wie hier, genügend gute Umfahrungsmöglichkeiten vorhanden sind. ({16}) Dazu, den Bundesverkehrswegeplan noch in dieser Wahlperiode zu novellieren, brauchen Sie uns nun wirklich nicht aufzufordern. Das haben wir schon in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben. ({17}) Sie können sich darauf verlassen: Das machen wir auch. ({18}) Eines sollte man in diesem Zusammenhang aber ebenfalls sehen: Die Deutsche Bahn AG stellt im Juni die Interregiolinie 25 mit den beiden Flügelzügen nach Prag ein. Ein privater Betreiber, die britische Firma National Express, wäre bereit, diese Linie im Fernverkehr, jedenfalls in der Relation München-Regensburg-Leipzig, zu übernehmen, ({19}) wenn der Freistaat Bayern auch den Regionalverkehr und die ohnedies bisher gezahlten Regionalisierungsmittel auf diesen Betreiber übertragen würde. Der zuständige Minister heißt, nebenbei bemerkt, Wiesheu. Falls Sie es nicht wissen, liebe Kollegen von der CSU: Er gehört der CSU an. Liebe Kollegen von der CSU, bitte übernehmen Sie hier die Initiative! Hier ist sie besser aufgehoben! ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU hat 16 Jahre lang die Verkehrsminister gestellt; sie ist erst im Jahre 1998 ausgebremst worden. Sie legt jetzt sozusagen einen misslungenen Kavalierstart an der roten Ampel hin, indem sie in ihrem Antrag feststellt: Das deutsche Fernstraßennetz ist nicht europatauglich. ({0}) Man sollte diesen Antrag schon allein deswegen ablehnen, weil er vielleicht demagogisch, aber ganz sicher unsachlich ist und weil er von den Kollegen auf der rechten Seite des Hauses kommt, die Verantwortung für diese Entwicklung getragen haben. ({1}) Erstens. Wenn man den Antrag näher betrachtet, Kollege Goldmann, dann muss man feststellen, dass sich dieser Antrag mit einem typischen Lückenschluss beschäftigt, der teuer ist. Richtig ist, dass zuvor zehnmal mehr ausgegeben wurde. Deswegen gibt es gute Argumente, die letzte Lücke zu schließen. Man muss aber auch sagen, dass damit nicht nur Verkehr verlagert wird. Es wird ganz sicherlich auch zu einem sprunghaften Anstieg des Kfz-Verkehrs - das ist der induzierte Verkehr - kommen, der die Straßen weiter füllen wird. Deswegen spricht die F.D.P. nicht ganz zufällig von einem sechsspurigen Ausbau. Zweitens sollten die Kosten in Relation zum Nutzen stehen. Man muss feststellen - das ist schon am Anfang richtig gesagt worden -, dass nicht nur ein paar 100 Millionen DM, sondern ungefähr 1,5 Milliarden DM für den Schluss einer sehr kleinen Lücke investiert werden. Dieser Betrag entspricht dem Zuschuss für die Bahn aus den UMTS-Erlösen für ein Jahr. Die F.D.P. will für diese Strecke noch mehr Geld ausgeben, indem sie privat vorfinanzieren will. ({2}) Drittens sage ich an die Adresse des Kollegen Goldmann, der hören will, was ich dazu zu sagen habe, dass dies nach meiner Ansicht ein Beispiel für die Problematik der gesamten Verkehrspolitik und der EUVerkehrspolitik ist. Zum einen wurden nach 1989/90 massiv Mittel ausgegeben, damit in Tschechien die Autobahn mit Ausnahme der Umfahrung von Pilsen gebaut wird. Zum anderen gibt es eine Bahnreform in Tschechien, durch die der Bahnverkehr in Tschechien massenhaft weggebrochen ist. Daneben wird die „rollende Landstraße“ von Dresden nach Tschechien eingestellt. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass Verkehr massenhaft auf die Straße kommt und sechsspurige Autobahnen hinterher nicht mehr ausreichen. Der Kollege Strobl, der behauptet hat, dass Verkehr verlagert werden würde, sollte sich doch einmal das Gesamtergebnis anschauen. Drei bis fünf Lückenschlüsse in einem Straßennetz können einen erheblichen Sprung für das gesamte Netz bedeuten. Zehn bis 20 Langsamfahrstellen mehr bei der Bahn können aber eine Abkehr vom Bahnverkehr bedeuten. Wenn dazu noch zwei Regionalflughäfen mit ein bis zwei Landebahnen kommen, dann darf man sich über das Ergebnis nicht wundern. ({3}) Wir sollten deshalb feststellen: Mit Blick auf den einzelnen Lückenschluss kann man hinsichtlich der Ziele von SPD und Grünen - aber nicht hinsichtlich des von der CDU/CSU vorgebrachten Arguments bezüglich der Beschleunigung - Ja sagen. Mit Blick auf die gesamte Verkehrspolitik muss man jedoch weiterhin Nein sagen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rudolf Kraus.

Rudolf Kraus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001202, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Wilhelm, Sie haben sich heute als ein wohlwollender Befürworter der A 6 präsentiert. ({0}) - Es mag ja sein, dass Sie das jetzt sind. Es ist aber interessant, festzustellen, dass die Tatsache, nicht mehr in der Opposition zu sein, den Willen, in diesem Bereich etwas Helmut Wilhelm ({1}) anderes zu sagen als früher, offensichtlich sehr befördert hat. ({2}) Herr Wilhelm hat sich immer verbal dafür eingesetzt, dass die A 6 gebaut werden soll. Aber er hat die Hürden, die genommen werden müssen, um all seinen ökologischen Forderungen gerecht zu werden, so hoch gemacht, dass ein Bau dieser Autobahn praktisch nicht möglich ist. ({3}) Jetzt redet er einem Provisorium, das möglicherweise sehr lange dauert, das Wort. Aber zurück zu Herrn Strobl. Herr Strobl hat heute eine bescheidene Rede gehalten, ({4}) bescheiden vor allem hinsichtlich der Wünsche, die die Wähler in dieser Gegend haben. Vor der Wahl war man der Meinung, dass jetzt alles viel schneller gehen müsste. Vor der Wahl hat man gesagt: Wenn das Baurecht besteht, dann ist auch das Geld da. Jetzt ist man bescheiden und sagt: In sieben Jahren ist es noch früh genug. ({5}) Die Leute sollen doch tun, was sie wollen. Sie sind selber schuld, wenn sie an diesen Straßen wohnen. Die Situation hat sich grundlegend verändert. Heute wird deutlich, dass der politische Wille fehlt, diese Lücke zu schließen. Das Geld wäre da - die Kollegen haben es ausgeführt - und das Baurecht ist da. Die peinliche hartnäckige Suche nach Ausreden und Argumenten, warum etwas nicht geht, missachtet nach meiner Auffassung die Interessen unserer Region auf das Gröblichste. Da kommen Argumente wie Eigentumsvorbehalt. Gott der Gerechte! War es denn nicht immer so, dass Baumaßnahmen dieser Größenordnung begonnen wurden, auch wenn noch nicht alle Grundstücke im Eigentum des Bauherrn waren? ({6}) Oder es wird gesagt, dass man Klagen zu beachten hat. Wie läuft denn das praktisch? Es gibt das Baurecht und die Gerichte werden erst dann entscheiden, wenn ein Auftrag - sei er auch noch so klein - erteilt wird und man zu bauen beginnt. Wenn man will, dass dieses Argument, diese Ausrede erhalten bleibt, wird man nicht den kleinsten Bauauftrag erteilen. ({7}) In der Vergangenheit ist es richtig gelaufen. Da war es so: Wenn das Baurecht da war, hat man innerhalb eines halben Jahres mit den Vorbereitungen der Bauarbeiten, Abholzarbeiten usw., begonnen. Jetzt hört und sieht man weit und breit nichts außer diesem Suchen nach Argumenten. Es gibt viele Gründe, warum jetzt gebaut werden soll. ({8}) - Sie bauen nicht die Strecke, um die es mir vor allem geht, nämlich zwischen Amberg-Ost und Pfreimd. Man will es nicht, obwohl es aus volkswirtschaftlichen und konjunkturellen Gründen sinnvoll wäre. Die Bauwirtschaft wartet auf Aufträge. Der Menschenschutz ist natürlich das Allererste, aber er wird missachtet. Es ist blamabel, was passiert. Es ist blamabel, dass sich tschechische Politiker veranlasst sehen, deutschen Politikern spöttischerweise zu sagen: Sollen wir euch einmal helfen? Sie, die Tschechen, wollen der großen Bundesrepublik Deutschland helfen. Sie werden innerhalb kürzester Zeit fertig. Auch der Bauabschnitt Pilsen-Süd wird in absehbarer Zeit, in wenigen Monaten oder spätestens in einem Jahr oder in anderthalb Jahren, fertig. 1989 wolltet ihr die Autobahn nicht. ({9}) Die Politiker aus der Oberpfalz haben damals nicht gewusst, was Sie wollen. Das betrifft übrigens alle, da mache ich gar keine Ausnahme. Das war ein großer Fehler. Man hat die Planungen sicher zu spät begonnen. Aber jetzt sind sie fertig und die Entwicklung ist viel rasanter, als damals vorausgesehen. Es gibt jetzt sehr viel mehr Lastwagen, die durch die Dörfer donnern. Lassen Sie uns, bitte schön, alles tun, um diese Lücke zu schließen und anzufangen zu bauen. Für mich ist das, was Sie vorhaben, nicht „jetzt“. Ich sagte Ihnen vorhin schon: Wenn in der Vergangenheit das Baurecht vorhanden war, beispielsweise bei den Abschnitten östlich der Naab, hat man innerhalb eines halben Jahres zu bauen begonnen. Sie wollen in vier Jahren anfangen. Selbst der Bundeskanzler wäre gnädiger gewesen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Kraus, ich muss Sie auf die Zeit hinweisen.

Rudolf Kraus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001202, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sofort. Wenn er die Rede, die er vorbereitet hatte, wirklich in Weiden gehalten hätte, wäre das deutlich geworden. Ich habe hier den Text. Übrigens garantiert er den Zeitpunkt nicht, sondern sagt nur, er möchte sich darum bemühen. Das ist ja schön, aber es ist halt auch „basta“. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Thomas Strobl.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf den ersten Blick mag es für den einen oder anderen vielleicht ein wenig unverständlich sein, weshalb der Ausbau einer Bundesautobahn alleiniger Bestandteil eines Tagesordnungspunktes einer Debatte des Deutschen Bundestages ist. Aber nachdem der Bundeskanzler dieses Thema jetzt offensichtlich zur Chefsache gemacht hat, verdient es wohl auch eine Behandlung hier im Plenum. Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, die Regierung nimmt den Mund immer dann sehr voll, wenn die Fernsehkameras eingeschaltet sind, schaut man aber hinter die Kulissen, schaut man auf die nackten Zahlen und Fakten, dann sieht es ganz anders aus. So ist es auch hier. Das vollmundige Versprechen lautet: 2008. Wir wollen einmal sehen, ob das nicht bedeutet, dass diese Autobahn auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden soll. Wir wollen sehen, wie es mit der Prioritätensetzung im Bundesverkehrswegeplan steht, etwa was den Abschnitt zwischen dem Weinsberger Kreuz und dem Kreuz Feuchtwangen angeht. Und - von den Kollegen ist schon darauf hingewiesen worden - wir wollen sehen, wie es mit konkreten Finanzierungsmaßnahmen aussieht, und wollen keine großen Sprüche. ({0}) Insgesamt ist es um die Verkehrsinvestitionen und um den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in der Bundesrepublik Deutschland nicht gut bestellt. Die Mittel werden zunehmend zusammengestrichen. Hier sind wir generell anderer Auffassung. Für CDU und CSU ist es eine wichtige Aufgabe der Politik, der Bevölkerung eine intakte und gut ausgebaute Infrastruktur bereitzustellen. Das ist kein Selbstzweck, sondern zentraler Bestandteil einer richtigen und wichtigen Politik zur Förderung auch der Wirtschaft unseres Landes. Deswegen muss die Parole lauten: Straßenbau statt Autostau. Aber diesbezüglich macht die Bundesregierung nicht ihren Job. Sie kürzt vielmehr bei den Verkehrsinvestitionen. Gegenüber dem Bundesverkehrswegeplan 1992 wurde von Rot-Grün eine Senkung der Investitionsquote von 11,3 Prozent auf 5,9 Prozent im Jahre 2002 vorgenommen. Die Mittel für Baden-Württemberg werden in dieser Legislaturperiode mehr als halbiert, und dies bei einem Investitionsvolumen von 4 Milliarden DM planfestgestellter Straßen. Mit dem, was der Bund für das Land Baden-Württemberg im Moment zur Verfügung stellt, kann dort in der gesamten Legislaturperiode kein einziges neues Verkehrsinfrastrukturprojekt angefangen werden. Richtig ist, dass Sie mit dem Anti-Stau-Programm weitere Mittel für den Straßenbau zur Verfügung stellen. Auch dies verkaufen Sie vollmundig. In Wahrheit werden nicht einmal die Kürzungen, die Sie zuvor vorgenommen haben, kompensiert. Das Anti-Stau-Programm bedeutet letztlich keine nennenswerte reale Steigerung der Mittel für die Verkehrsinfrastruktur. Zudem ist zu bedenken, dass die rot-grüne Bundesregierung mit der Ökosteuer beim Autofahrer und bei der Bevölkerung gnadenlos abkassiert ({1}) und dass von diesen vielen Milliarden nicht ein Pfennig in die Infrastruktur fließt. Sie sollten sich gegenüber den Autofahrern eigentlich schämen. ({2}) Vor diesem Hintergrund steht es auch um den Ausbau der A 6 nicht gut. Dabei ist der Ausbau dieser Bundesautobahn ein außerordentlich wichtiges Projekt. Diese Autobahn stellt eine wichtige West-Ost-Verbindung dar. Die Verkehrszunahme der vergangenen Jahre ist dramatisch; es ist eine 30-prozentige Steigerung zu verzeichnen. Insbesondere der Anteil an Lastkraftwagen nimmt dramatisch zu. Allein im Schwerlastverkehr hat die A 6 schon jetzt in Teilabschnitten das im Bundesverkehrswegeplan 1992 für das Jahr 2010 prognostizierte Aufkommen von 12 000 bis 18 000 LKW pro Tag erreicht. Allein mit der Fertigstellung des Teilabschnitts Amberg-Waidhaus würden weitere 1 000 LKW täglich hinzukommen. Zwischen 1985 und 1995 hat sich das Verkehrsaufkommen auf der A6 verdoppelt. Nahezu täglich stehen die Menschen im Stau und es gibt unzählige Unfälle. Deswegen: Handeln Sie! Straßenbau statt Autostau! ({3}) Schon jetzt führt der extrem hohe Schwerverkehrsanteil besonders werktags zu dramatischen Verkehrsbehinderungen. Das Straßen- und Verkehrsplanungsbüro Bender und Stahl hat in einer von der Landesregierung Baden-Württembergs in Auftrag gegebenen Studie errechnet, dass das Gesamtverkehrsaufkommen um weitere 27 Prozent steigen wird. Dabei ist insbesondere der Anteil des Schwerlastverkehrs am Zuwachs in Höhe von 42 Prozent augenfällig. Damit ist die A 6 die Autobahnstrecke in Deutschland, die mit Abstand den höchsten Zuwachs des Verkehrsaufkommens verzeichnen wird. Nehmen Sie doch wenigstens diese Fakten zur Kenntnis! Beim Ausbau der A 6 ist ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis zu erwarten. Nach dem im Bundesverkehrswegeplan 1992 festgeschriebenen Verfahren zur Berechnung der Kosten-Nutzen-Verhältnisse von Verkehrsinfrastrukturprojekten ergibt sich für die A 6, errechnet anhand der aktuellen Verkehrsdaten, ein Verhältnis von 4,2. Das ist außerordentlich hoch. Zum Vergleich: Nur 23 Prozent der positiv bewerteten Neu- und Ausbauprojekte erreichen ein KostenNutzen-Verhältnis mit einem Wert über 3. Daraus folgt für uns: Der Ausbau der A 6 ist zukunftsweisend und zwingend notwendig. Zwingend notwendig ist auch, dass die genannten Abschnitte in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans aufgenommen werden. Ein Kollege hatte bereits ausgeführt, dass der Bundesverkehrswegeplan noch in dieser Legislaturperiode überarbeitet wird; das werden wir uns gut merken und wir werden Sie an Ihren Taten messen. ({4}) Meine Damen und Herren, nach Berechnungen des Landesamtes für Straßenwesen Baden-Württemberg würde ein in ökologischer und verkehrstechnischer Hinsicht modernster Ausbau der A 6 vom Weinsberger Kreuz bis zur Landesgrenze Baden-Württemberg rund 420 Millionen DM kosten. Das ist nicht zu viel für eine so wichtige Infrastrukturmaßnahme. Dies gilt natürlich auch für den entsprechenden Ausbau auf dem Gebiet Bayerns. Wenn hier nicht in naher Zukunft konsequente Entscheidungen für den Ausbau gefällt werden, kann von fließendem Verkehr auf dieser Strecke nicht mehr gesprochen werden. Dann werden sich die Räder an noch mehr Stunden pro Tag nicht mehr drehen. Dies wäre für Deutschland als Haupttransitland in Europa, aber auch für die Wirtschaftskraft in den betroffenen Regionen ein nicht zu unterschätzender Standortnachteil. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Achten Sie bitte auf die Zeit.

Thomas Strobl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003243, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Sorgen Sie zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes für einen zügigen Ausbau der A 6! Beweisen Sie, dass in dieser Bundesregierung neben engagierten Straßenkämpfern auch engagierte Straßenbauer vertreten sind! ({0}) Nehmen Sie dieses konkrete Projekt zügig in Angriff! Ich kann Ihnen vonseiten der CDU/CSU versichern, dass Sie, wenn Sie es denn endlich täten, dafür unseren uneingeschränkten Beifall hätten. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zum Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „A6 als wichtige eu- ropäische West-Ost-Straßenverbindung vorrangig fertig- stellen“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Druck- sache 14/2910 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. ange- nommen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5229 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Annette Faße, Ulrike Mehl, Anke Hartnagel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Gila Altmann ({1}), Albert Schmidt ({2}), Dr. Reinhard Loske, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Sicherung der deutschen Nord- und Ostseeküste vor Schiffsunfällen - Drucksachen 14/2684, 14/3294 Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({3}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Birgit Homburger, Hildebrecht Braun ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Nordseeküste schützen, Küstenwache einrichten, international besser zusammenarbeiten - Drucksachen 14/548, 14/3414 Berichterstattung: Abgeordnete Annette Faße Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Annette Faße.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Havarie des Holzfrachters „Pallas“ vor der Insel Amrum im Herbst 1998 hat uns allen drastisch den erheblichen Optimierungsbedarf bei der Bekämpfung von Schiffsunfällen vorgeführt. Die Bundesregierung hat aus dem Unglück unmittelbar Konsequenzen gezogen ({0}) und bereits Anfang 1999 nach einer ersten Analyse des Unfallhergangs konkrete Verbesserungen am Notfallkonzept für Nord- und Ostsee realisiert. ({1}) - Herr Goldmann, dazu zählen die Überarbeitung der bestehenden Alarmpläne, die Definition von Entscheidungskriterien für den Notschleppereinsatz, ({2}) die Verlängerung des Chartervertrages bezüglich der „Oceanic“, das Aufstellen klarer Regeln zur Bestimmung der Vor-Ort-Einsatzleitung und die Ausrüstung der Mehrzweckschiffe „Mellum“ und „Neuwerk“ mit hochfesten Kunststoffschleppleinen. Das alles erfolgte schnell und umgehend. ({3}) Thomas Strobl ({4}) - Herr Goldmann, nun geht es weiter: Darüber hinaus hat der Bund durch vertragliche Bindung allwettertaugliche Hubschrauber für Personal- und Materialtransporte für den Seenoteinsatz bereitgestellt und auch für die entsprechende Personalschulung gesorgt. Außerdem ist im vergangenen Sommer eine neue gemeinsame Dienstvorschrift „Küstenwache“ in Kraft getreten, die die Zusammenarbeit der zuständigen Stellen bereits weiter konzentriert hat. Sie mögen ja sagen, dass Ihnen das alles nicht ausreicht. ({5}) Da gebe ich Ihnen Recht. Aber es geht weiter: Noch bevor die Expertenkommission „Havarie Pallas“ ihren Bericht vorgelegt hat, haben wir die Umsetzung internationaler Abkommen in Angriff genommen. Siehe da, was fanden wir vor? - Nicht umgesetzte Übereinkommen: Erstens. Das seerechtliche Haftungsübereinkommen, das schon 1996 von der IMO überarbeitet worden ist, verschwand in Schreibtischschubladen. Wir haben mit Gesetz vom 27. Juni 2000 gemeinsam die Voraussetzung geschaffen. - Dann geht es munter weiter. Zweitens. Das Internationale Bergungsübereinkommen von 1989 ist bereits 1996 völkerrechtlich in Kraft getreten. Auch hier bestand die gleiche Situation: Dieses internationale Übereinkommen hatte in Deutschland keinerlei Geltung. - Vollkommen klar ist, dass wir uns dafür einsetzen, dass diese beiden Übereinkommen sehr schnell von den anderen Ländern ratifiziert werden. ({6}) Klar und deutlich gehandelt hat die Regierung - und das nicht allein, sondern gemeinsam mit den Franzosen nach der Havarie des Tankers „Erika“. Die gemeinsame deutsch-französische Initiative zur Verbesserung der Sicherheit auf See ist ein ganz markantes Zeichen der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Hier geht es um mehr Sicherheit nicht nur im Hinblick auf die Tankschifffahrt, sondern auch auf alle Bereiche der Schifffahrt. Diese Initiative war ein bedeutender Schritt, der neue Wege bei der Sicherheit des Seeverkehrs und für die europäischen Küsten aufgezeigt hat. Meine Damen und Herren, die bilaterale und internationale Koordinierung ist äußerst wichtig, wenn wir an die Schiffssicherheit denken. Die Vereinbarungen, die getroffen werden müssen - das ist vollkommen klar -, sind bilateral, aber auch weltweit zu betrachten. Das alles geschah, bevor die Empfehlungen der Expertenkommission vorlagen. Diese Expertenkommission hat 30 ganz konkrete Vorschläge erarbeitet. Jetzt geht es Stück für Stück um die Umsetzung oder auch Nichtumsetzung - so ist das bei einer Kommissionsarbeit - dieser Vorschläge. Um diese Vorschläge zu bewerten, wurde eine interministerielle Projektorganisation eingesetzt. Hier arbeiten alle beteiligten Ressorts, die nachgeordneten Bereiche des Verkehrsministeriums, die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und die Küstenländer zusammen. Nach der vorgesehenen Zeitplanung soll die konzeptionelle Phase in den acht Teilprojekten noch vor der Sommerpause abgeschlossen sein. Das alles mag Ihnen zu lange dauern. Aber ich meine, der Zwischenbericht, der am 1. November 2000 vorgelegt wurde, weist klar und deutlich einen Weg auf, den wir nur gemeinsam gehen können. Ehe wir hier im Hauruckverfahren kurzfristig handeln, sollten wir uns intensiv mit den Inhalten beschäftigen. Ein Vorschlag der Kommission betrifft das Havariekommando. Dieses soll ({7}) die bisherigen Einrichtungen ersetzen. Die Vermeidung von Havarien steht natürlich im Zentrum unseres Sicherheitskonzeptes. ({8}) Daher haben wir die Einführung eines Havariekommandos mit einheitlicher Einsatzstruktur ausdrücklich begrüßt, zumal keine Grundgesetzänderung notwendig ist. Bund und Küstenländer haben sich bereits auf eine Grobstruktur geeinigt. Im Mittelpunkt steht ein „Maritimes Lagezentrum“, das rund um die Uhr einsatzbereit sein soll. Beim Vorliegen von komplexen Schadenslagen wird der Leiter des Havariekommandos alarmiert. Dieser setzt dann die einheitliche Einsatzleitung in Gang, die mit einem Durchgriffsrecht auf alle erforderlichen Einsatzkräfte des Bundes und der Küstenländer ausgestattet wird. Dies ist ein großer Fortschritt angesichts der unterschiedlichen Kompetenzen der einzelnen Bundesministerien sowie des Bundes und der betreffenden Länder. Das Grobkonzept steht also. Sie sollten sich erst einmal ein wenig schlauer machen, ehe Sie die Ansicht vertreten, in dieser Hinsicht passiere nichts. ({9}) Mit der Reform der Seeunfalluntersuchung nach dem Vorbild der Flugunfalluntersuchung greift die Bundesregierung einen weiteren Vorschlag auf. Künftig wird der Schwerpunkt noch stärker auf die Vermeidung von Unfällen gelegt. Erstmals soll die objektive Ursachenfeststellung von der Untersuchung individueller Fehler und dem Patententzug getrennt werden. Es wird erwartet, dass die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf zur Reform umgehend vorlegen wird. Dann sind wir in den Fachausschüssen gefordert. Der flexible Einsatz der Kräfte kann aber nur sichergestellt werden, wenn auch die Verantwortlichen für das Unfallmanagement und alle Einsatzkräfte umfassend ausgebildet und ständig geschult werden. ({10}) Wir wissen, dass das ein ganz wichtiger Faktor ist, und wir werden dem auch gerecht. Sie wissen, dass dazu an der Küste die verschiedensten Übungen stattgefunden haben. Dazu gehört auch die Frage der Ausrüstung. Auch dies ist nicht nur national, sondern weltweit zu regeln. Ein zweiter großer Komplex, der in diesem Jahr zur Entscheidung ansteht, betrifft die ausreichende Notschleppkapazität und die Kapazität für Feuerlöschschiffe und Schadstoffunfallbekämpfungsschiffe. Auch hier - das sage ich ganz deutlich - geht es uns nicht darum, ganz schnell zu sagen, was notwendig ist, sondern es geht uns darum, dass wir inhaltlich korrekt argumentieren. Darum hat das Ministerium Gutachten in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse der Studien sowie einer Computersimulation beim Amt für Seeschifffahrt und Hydrographie in Hamburg müssen abgewartet und ausgewertet werden. ({11}) So lange wird der Chartervertrag mit der „Oceanic“ verlängert werden. Die „Oceanic“ bleibt weiter vor Ort, bis entschieden ist, welche Kapazitäten wir genau benötigen. ({12}) Auch die Diskussion um ein so genanntes Sicherheitsschiff, die wir jetzt führen, nehmen wir sehr ernst. Angesichts der Tatsache, dass die „Oceanic“ über 30 Jahre alt ist, müssen wir uns mit der Frage auseinander setzen, ob wir ein anderes Schiff benötigen. Es ist noch nicht entschieden, ob das sein muss oder ob unser altes Konzept, das auf einer Kombination von Aktionen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, der durchgehenden Schifffahrt und der vorhandenen Mehrzweckschiffe beruht, ausreicht. Diese Regierung und wir als Parlament sind sehr wohl gefordert, die Sicherheit an Nord- und Ostsee ernst zu nehmen. Wir tun dies. Wir haben nicht nur auf die Vorschläge der Expertenkommission gewartet, sondern bereits gehandelt. Wir werden die vorliegenden 30 Vorschläge erörtern und wir werden das diesbezügliche Vorgehen im Gesetzgebungsverfahren oder gemeinsam mit den betroffenen Ländern abstimmen. Wir sind hier sehr viel konsequenter, als Sie es in der Vergangenheit gewesen sind. Unser gemeinsames Anliegen, denke ich, ist eindeutig: Die Sicherheit muss erhöht werden. Unfälle an der Küste können wir uns nicht erlauben. Danke schön. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Börnsen.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Änderung von Dienstvorschriften als einzige aus der „Pallas“-Katastrophe zu ziehende Konsequenz reicht wirklich nicht aus. ({0}) Die Bundesregierung handelt in Sachen Seesicherheit nach der Devise: Wer am Ruder ist, reißt selten das Steuer herum. Dabei wäre ein Kurswechsel das Gebot der Stunde. Käme es heute in deutschen Gewässern zu einer Schiffskatastrophe, würde nur Beten helfen. Trotz aller technischen und organisatorischen Änderungen seit dem „Pallas“-Desaster 1998 ist bei einem Super-Ölgau derzeit kein erfolgreicher Katastrophenschutz gewährleistet. Noch diskutiert man ein Havariekommando, ({1}) noch brütet man über gemeinsamen Einsatzplänen von Bund und Ländern, noch ist man dabei, Kompetenzen neu zu bestimmen. Aber nicht Reden, Handeln ist bei Katastrophen angesagt! ({2}) Jeden Tag könnte man vor einer extremen Notlage stehen. Nicht nur die Frühjahrsstürme stehen bevor. Der Schiffsverkehr in der Deutschen Bucht nimmt immer mehr zu. Jährlich zählt man in der Nordsee 160 000 Schiffe, 438 täglich. An der Ostseeküste sind es noch mehr, 227 000 Schiffe jährlich, täglich 621. Havarien sind nicht ausgeschlossen. Doch diese Feststellungen reichen für ein Katastrophen-Szenario nicht aus. Die Schiffseinheiten werden immer größer. Das heißt, Riesentanker mit mehr als 100 000 Tonnen Öl sind jetzt auch in der Ostsee täglich unterwegs. Jeden Tag fahren fünf große Massengutfrachter durch die Enge zwischen Fehmarn und Lolland. Allein in diesem Seegebiet sind Jahr für Jahr 50 000 Boote unterwegs. Es gibt weder eine Radarüberwachung noch eine Verkehrslenkung. ({3}) Es gibt höchstens den Wunsch nach einem Lotsen. Er ist dort keine Pflicht. Jeden Tag kann es zu einer Gefährdung von Mensch, Küste und der Umwelt kommen. ({4}) Dies gilt nicht nur für diesen Teil der Ostsee, sondern genauso für die Nordsee. Seit 1994 haben wir eine Küstenwache, zwei Küstenwachzentren, in Neustadt und in Cuxhaven. Ausbaupläne dieser begonnenen Konzentration lagen bei Ihrem Regierungsantritt vor. Sie sind von Ihnen aber nicht aufgegriffen worden, obwohl unsere Bundestagsfraktion darauf gedrängt hat. Erst nach der „Pallas“-Havarie begann der damalige Bundesverkehrsminister - wie hieß er noch? - Franz Müntefering, ({5}) die Vorlagen aufzugreifen. Doch statt sie in die Tat umzusetzen, wurden Gutachteraufträge vergeben. Mit dem Wechsel zu Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt änderte sich die Arbeitsmethode, jedoch nicht die Handlungsaktivität. ({6}) Es wurde die Grobecker-Kommission eingerichtet, allerdings mit der falschen politischen Vorgabe, Verbesserungen für ein Notfallkonzept vorzuschlagen, ohne jedoch Grundgesetzänderungen diskutieren zu dürfen. ({7}) In diesem Gremium wurden See- und Sicherheitsfachleute von Beginn an eingeengt. Ihnen blieb nur ein Weg: Schwachstellen bei Technik und Organisation zu benennen. Deren bürokratische Aufarbeitung wird jetzt als Jahrhundertreform gefeiert. Experten von der Küste, Kapitäne, Fachleute für Seeverkehr, bezeichnen das jetzt in Rede stehende Havariekommando als gerade noch „ammerseetauglich“, als Beibehaltung eines Flickenteppichs, ({8}) als nicht geeignet für den Katastrophenfall. Es fehlt an einem Bekenntnis und an Taten, um zu einer einheitlichen nationalen Küstenwache zu kommen. Es fehlt ein Seekatastrophenschutz aus einem Guss, nicht getrennt nach Bundes- und Landeskompetenzen. ({9}) Wenn Staatsverträge ein solches einheitliches Krisenkonzept nicht sichern, muss es zu einer Grundgesetzänderung kommen. ({10}) Wenn ideologische Scheuklappen ein Bündnis von zivilen und militärischen Seekatastrophenkräften ausschließen, ist Regierungshandeln erforderlich. Wenn es zwischen vier Bundesministerien, die alle für Seeaufgaben zuständig sind, und fünf Bundesländern mit jeweils drei Ministerien nicht zu einer Einigung kommt, muss die Bundesregierung endlich handeln. ({11}) Noch immer gibt es eine geteilte Zuständigkeit: Die BGS-Boote unterstehen dem Bundesinnenminister, die Zollboote dem Bundesfinanzminister, Fischereischutz der Ministerin für Verbraucherschutz und weitere Schiffe dem Bundesverkehrsminister. Noch immer sind die Boote der Wasserschutzpolizeien der Länder im Normalfall scharf getrennt von den gut 100 Schiffen der Bundesarmada. Das ist eine gemischte Raubtiergruppe und nichts anderes. ({12}) Noch immer ignoriert die politische Leitung den militärischen Seeschutz, die kompetenten Katastrophenfachleute der Bundesmarine. Im Glücksburger Flottenkommando - einige wissen, wovon wir hier sprechen sorgt der Duty Commander dafür, dass seit mehr als 40 Jahren die Marine 24 Stunden am Tag in einem Notoder Katastrophenfall sofort mit Booten, Hubschraubern und Flugzeugen eingreifen kann. ({13}) Doch diese Erfahrung wird nicht genutzt. Die Grobecker-Kommission war nicht beim Flottenkommando; sie durfte, konnte oder wollte nicht. Das sind ideologische Scheuklappen. Die muss man ablegen, wenn man zu einem Katastrophenschutz aus einem Guss kommen will. ({14}) Für mehr Seesicherheit zu sorgen ist ökonomisch sinnvoll und international geboten. Dänemark, Schweden, Frankreich und Norwegen praktizieren es, die Vereinigten Staaten seit über 200 Jahren. Nur wir dümpeln in KleinKlein, vermerken mit Besorgnis, dass wir möglicherweise Abteilungen reduzieren müssen. Alles drängt auf einen Kurswechsel. Aber jetzt sperrt sich leider auch der dritte Bundesverkehrsminister und das ist das eigentliche Problem. Ein ständiger Wechsel, drei Bundesminister in 24 Monaten - wie kann man da zu einer Kontinuität kommen? Jeder Bootsbesitzer weiß, man kann nur steuern, wenn das Boot in Fahrt ist. Die Chance zum Kurswechsel hat der neue Bundesverkehrsminister Bodewig, doch er paddelt nur. Er sorgt nicht dafür, dass es zu einer Kursänderung kommt. ({15}) Es bleibt Aufgabe des gesamten Parlaments, darauf zu dringen, dass wir endlich zu einem einheitlichen Katastrophenschutz auf See kommen. Es ist unsere Aufgabe, das umzusetzen, was der Schleswig-Holsteinische Landtag unter Einbindung von Sozialdemokraten, Christdemokraten, Bündnisgrünen und Freien Demokraten vor knapp zwei Jahren beschlossen hat. Dort wurde eine Grundgesetzänderung, eine einheitliche Lösung beim Seekatastrophenschutz gefordert. Diese Aufforderung des Schleswig-Holsteinischen Landtags ist nicht aufgegriffen worden. ({16}) Sie war wegweisend und sollte nun endlich vom neuen Bundesverkehrsminister umgesetzt werden. ({17}) Der Bundesrechnungshof hat für eine solche Einheit plädiert. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages und jetzt auch die EU-Kommission haben ein einheitliches nationales Konzept in allen Ländern gefordert. ({18}) Das muss jetzt sein. Dafür können wir gemeinsam in diesem Parlament sorgen, wenn Sie unserer Initiative zustimmen. Wir brauchen eine Leitstelle für SeesiWolfgang Börnsen ({19}) cherheit aus einem Guss und nicht Kompetenzen nebeneinander. Das muss das Ziel sein. Wir sind aufgerufen, für diesen gemeinsamen Seekatastrophenschutz zu sorgen. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit!

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das jüngste Beispiel, das Tankerunglück vor den Galapagosinseln, sollte uns allen zu denken geben und uns veranlassen, wirklich zu handeln und darüber nicht immer nur zu reden. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich erteile jetzt das Wort der Kollegin Gila Altmann in ihrer Funktion als Abgeordnete.

Gisela Altmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002618, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Börnsen, ich kann nur sagen: Gut gebrüllt, Löwe! Hat man Sie endlich von der Kette gelassen! In den Zeiten, als wir noch in der Opposition waren, habe ich immer ein bisschen Sympathie für Sie gehabt; ({0}) denn Sie waren damals der einsame Rufer in der Wüste und hatten ein halbwegs offenes Ohr. Aber ansonsten waren Sie ziemlich ignorant. Sie haben die Galapagosinseln angeführt. Welche Konsequenzen hat denn die damalige Regierung aus dem Unglück der „Amoco Cadiz“ oder der „Exxon Valdez“ gezogen? Hier herrschte bei Ihnen Schweigen im Walde. ({1}) - Das wollen wir besser machen. Herr Börnsen, Ihre Wünsche werden erfüllt. Sie rennen bei uns offene Türen ein. ({2}) Aber was man auch einmal klarstellen muss: Ihre Regierung hat den Bereich Sicherheit links liegen gelassen. Das Gewürge um den Sicherheitsschlepper „Oceanic“ füllt inzwischen ganze Aktenordner. ({3}) Aber auch für die Ostsee gab es weder ein Sicherheitskonzept noch Daten über Verkehrsaufkommen und Gefährdungspotenziale. ({4}) Die internationalen Übereinkommen, die Frau Faße angesprochen hat, wurden einfach ignoriert und vergessen. In den letzten zwei Jahren, Herr Goldmann, haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen Liegengelassenes mit einer Reihe von Maßnahmen aufgeholt. ({5}) - Diese Maßnahmen hat Frau Faße sehr ausführlich erklärt. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Gisela Altmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002618, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich gestatte sie nicht. ({0}) Nach der Ölkatastrophe durch die „Erika“ vor der französischen Küste hat endlich auch die EU-Kommission reagiert. ({1}) - Wir haben schon nach dem Unglück der „Pallas“ reagiert, das genau in den Regierungswechsel gefallen ist. Die Hafenstaatkontrolle soll verschärft werden. ({2}) Es soll strengere Bestimmungen für die Klassifikationsgesellschaften geben. Auch die „Großvaterregelung“ soll verschärft werden. ({3}) Weltweit gibt es zurzeit 6 400 Tanker. Davon sind 40 Prozent älter als 20 Jahre. 80 Prozent aller Tanker haben keine Doppelhülle. ({4}) Je nach Tonnage sollen diese „Eierschalentanker“ zwischen 2005 und 2015 endlich ausgemustert werden. Sollte dieser Vorschlag auf der IMO-Konferenz im April dieses Jahres nicht zufriedenstellend angenommen werden, will die EU diese Regelung im Alleingang beschließen. Das heißt, 80 Prozent aller Tanker müssen bis 2015 ausgemustert werden. Das wird noch einen erheblichen Sturm im Wasserglas verursachen. Die Reeder werden Wolfgang Börnsen ({5}) sich natürlich dagegen sperren; denn das Ganze hat auch eine wirtschaftliche Seite. Ich bin gespannt, wie Sie sich in dieser Situation verhalten und auf wessen Seite Sie sich schlagen werden. ({6}) Das zweite Maßnahmenpaket der EU - Erika II - soll strengere Kontrollen des Seeverkehrs mit der Erweite- rung der Melderichtlinien auf alle Schiffe statt wie bisher nur für Gefahrguttransporte durchsetzen. Auch geht es um die Ausrüstung von genügend Häfen als Schutzhäfen. Bei der „Erika“ hätte das Einlaufen in einen Schutzhafen, wenn es ihn denn gegeben hätte, mit großer Wahrschein- lichkeit das Auseinanderbrechen verhindert. Aber wir haben uns noch mehr vorgenommen. In der Deutschen Bucht gibt es pro Jahr 160 000 Schiffsbewe- gungen. Unfälle in diesem Seegebiet bedrohen das ein- zigartige Wattenmeer. Nach einem Ölunfall - das ist uns allen klar - wäre eine Regeneration ausgeschlossen. Diese Landschaft wäre dann vollständig zerstört. Deshalb wol- len wir das Wattenmeer als besonders sensibles Seegebiet im Sinne der IMO-Regelung ausweisen. Außerdem müs- sen wir die Einrichtung küstenferner Schifffahrtswege prüfen. Das wird genauso wie die Zusammenarbeit und Koordination mit den übrigen Anliegerstaaten im Falle ei- nes Schiffsunfalls ein Thema auf der 9. Trilateralen Wattenmeerkonferenz im Oktober in Esbjerg sein. Auch das hat uns die „Pallas“ gelehrt. Bei der Ostsee gibt es weiteren Handlungsbedarf. Der massive Neu- und Ausbau von Ölverladeterminals in den NUS-Staaten, also den Nachfolgestaaten der UdSSR, führte in den letzten Jahren zu einem wachsenden Tan- kerverkehr zu und von diesen Häfen. In der Ostsee - ich hoffe, Herr Börnsen, Sie stimmen darin mit mir überein - gibt es zurzeit jährlich 227 000 Schiffsbewegungen, also mehr als in der Deutschen Bucht. Hinzu kommt der jähr- lich anwachsende Querverkehr durch Fähren. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]: Ja und?) In den letzten zwei Jahren gab es aber auch in der Kadetrinne - das ist das nur wenige hundert Meter breite Nadelöhr zwischen der Insel Darß und der dänischen Insel Falster - zehn Beinahe-Katastrophen. Die letzte war vor knapp zwei Wochen. Dabei lief ein Massengutfrachter auf Grund. ({7}) - Herr Goldmann, Sie sind einfach nur ignorant. Das steht Ihnen als Politiker nicht besonders gut, muss ich sagen. Ein Schiffsunfall würde sich dort nicht nur auf den Tourismus auswirken, sondern wäre für das EU-Vogelschutzgebiet „Vorpommersche Boddenlandschaft“ ein vergleichbares ökologisches Desaster wie im sensiblen Wattenmeer. Deshalb, Herr Goldmann, sind wir dabei, vergleichbare Sicherheitskonzepte für die Nordsee und die Ostsee aufzustellen. ({8}) - Sie hatten 29 Jahre Zeit; wir arbeiten seit zwei Jahren auf Hochtouren. ({9}) Es geht jedoch nicht nur um Tanker, sondern um alle Schiffe. Zur Erinnerung: Die „Pallas“ war ein Holzfrachter. Deshalb müssen unbedingt alle Schiffstypen in Maßnahmen zur Verbesserung der Schiffsicherheit einbezogen werden. Auch geht es nicht nur um Katastrophen. ({10}) Ich rede auch von Verschmutzungen betrieblicher Art, wie sie durch das Reinigen von Tanks und das Ablassen von Ladungsresten entstehen. Dadurch gelangt jährlich mehr Öl ins Meer als durch Havarien. Hier wird es zukünftig um andere Antriebsstoffe und -techniken gehen müssen, die solche Aktivitäten überflüssig machen. Zum Schluss möchte ich noch auf einen Punkt hinweisen: Die meisten Schiffsunfälle sind auf menschliches Versagen zurückzuführen. Maschinen können auch in Zukunft die Arbeit von Menschen nur unterstützen, nicht aber vollständig übernehmen. Deshalb wollen wir eine bessere Qualifizierung der Seeleute vorantreiben und vorhandenes Know-how sichern. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir können - das gilt auch für eine rot-grüne Regierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen - Schiffsunfälle künftig nicht verhindern. Aber wir können die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls minimieren und Konzepte für den Notfall erarbeiten. Wie viel hier international, aber auch national noch zu tun ist, haben die Katastrophen vor der französischen Küste und vor den Galapagosinseln sowie der Untergang eines Tankers vor Taiwan gezeigt. Letztendlich geht es aber auch um eine neue Energiepolitik, wie sie die Bundesregierung eingeleitet hat, die vom Öl unabhängig macht ({11}) und viele dieser Transporte überflüssig machen könnte. Vielen Dank. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Koppelin das Wort.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich hätte natürlich gern der Kollegin Altmann eine Frage gestellt. Da sie sie nicht zuGila Altmann ({0}) gelassen hat, muss ich zum Mittel der Kurzintervention greifen. Die Kollegin Altmann hat selbstverständlich das Recht, als Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu sprechen. Aber die Kollegin Altmann ist auch Parlamentarische Staatssekretärin im Umweltministerium. Das Umweltministerium ist gerade bei dieser Frage entscheidend tangiert. Nach unserer Auffassung haben bei diesem Thema in der Vergangenheit - ich nenne nur das Stichwort „Pallas“ - mehrere Umweltministerien entscheidend versagt; das gilt auch für das Bundesumweltministerium. Es ist unsere Aufgabe als Abgeordnete, egal ob wir auf der Regierungsseite oder in der Opposition sind, die Regierung zu kontrollieren. Wir haben neuerdings allerdings den Zustand, dass die Abgeordnete Altmann die Parlamentarische Staatssekretärin Altmann kontrolliert. Das ist zwar zulässig, widerspricht aber eindeutig meinem Parlamentsverständnis. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Erwiderung gebe ich der Kollegin Altmann das Wort.

Gisela Altmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002618, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Koppelin, Sie werden es nicht glauben; aber ich bin Ihnen für die Möglichkeit sehr dankbar, hier eines klarstellen zu können: Sie verbreiten das Märchen von der Federführung, obwohl Sie es eigentlich besser wissen müssten. Sie wissen, dass das Umweltministerium in diesem Bereich nicht die Federführung hat, sondern vom Verkehrsministerium beteiligt wird. Sie wissen auch - ich glaube, das stört Sie am meisten -, dass gerade ich in meiner Funktion als Verkehrspolitikerin in der letzten Legislaturperiode den Bereich Schiffssicherheit sehr intensiv bearbeitet habe und Ihnen in Punkt und Komma immer vorgeführt habe, wo die Schwächen Ihrer Politik gewesen sind. Gerade das, was Herrn Börnsen heute angemahnt hat, könnte aus den Reden von Frau Faße und mir zusammengeschrieben worden sein. Ihren Scherbenhaufen und Ihre Altlasten im Bereich des Küstenschutzes, die wir beim Regierungswechsel übernommen haben, haben wir zunächst einmal zu beseitigen versucht, und das in einer Situation, in der wir auch den Unfall der „Pallas“ zu regeln hatten. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Michael Goldmann. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie meinen, ich bin schon erschöpft. Frau Kollegin Faße, Sie werden sich wundern, ich bin noch lange nicht erschöpft. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 25. Oktober 1998 ({0}) - du wolltest mich nicht unterbrechen, hast du mir vorhin versprochen - geriet der Holzfrachter „Pallas“ in dänischen Gewässern in Seenot; ({1}) es gab ein tagelanges Kompetenzwirrwarr; vor Amrum kam es zu einer bösen Strandung mit großen Umweltschäden. Wir alle waren uns darin einig: Schnell, ganz schnell sollte möglichst viel getan werden. ({2}) Heute, über zwei Jahre später, liebe Kollegin Faße, müssen wir gemeinsam feststellen: Auf nationaler Ebene hat sich im Kern nichts getan. ({3}) Liebe Kollegin Faße, Sie müssen einmal mit Ihrer Kollegin Janz sprechen. Sie kennt sicherlich den Bericht, der im „Weser-Kurier“ erschienen ist. Er ist mit der Überschrift „Küstenschutz in der Flaute“ überschrieben. Weiter heißt es: „Auch über zwei Jahre nach Pallas-Havarie fehlt Leitstelle für den Katastrophenfall“. Der Kommentar ist mit „Gefährliche Dümpelei“ überschrieben. Nach dem Bericht reagierte Ihre Kollegin Janz mit Kopfschütteln und Entsetzen auf die Ankündigung von Gert-Jürgen Scholz von der Projektgruppe „Maritime Notfallvorsorge“ des Bodewig-Ministeriums, erst im Frühjahr mit Lösungen zu kommen. ({4}) Wer hat denn nun Recht? Ich denke, in diesem Falle habe ich Recht. ({5}) Ich will noch eines nachlegen: Wenn Sie erklären, es habe sich etwas getan, muss ich Ihnen sagen: Am 7. Dezember 2000 hat der Kollege Koppelin zusammen mit anderen Abgeordneten der F.D.P.-Fraktion eine Kleine Anfrage gestellt. Was ist aus den 30 Empfehlungen geworden? Sie haben vorhin gesagt, daraus sei etwas Tolles geworden. Bis in der Antwort das erwähnt wird, was Sie vorhin ansprachen, muss man immerhin bis Punkt 6 lesen. Ich will Ihnen das einmal vorlesen: Zu nennen sind hier die Ausrüstung der Mehrzweckschiffe der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes „Mellum“ und „Neuwerk“ mit - man höre und staune hochfesten Kunststoff-Schleppleinen und zusätzlichen Draggen für die Aufnahme eigens ausgebrachter Anker. Das ist passiert. Für die übrigen Empfehlungen, die gegeben werden, lauten die Antworten: „Mitte 2001“, „Anfang 2001“, „Wir prüfen“, „Wir überprüfen“, „Wir sprechen miteinander“. Es ist überhaupt nichts passiert, was dazu beitragen könnte, den Küstenschutz zu verbessern. ({6}) Auf nationaler Ebene ist nichts passiert, was die Seeschifffahrt betrifft. Ich will Ihnen noch etwas sagen, da Sie die IMO so sehr herausheben. Immerhin haben wir, liebe Kollegin Faße - Sie sind auch Mitglied der Binnenschifffahrtsgruppe; Sie sollten einmal zuhören -, im Dezember 2000 eine dicke Überschrift „Durchbruch bei weltweitem neuen Schiffssicherheitssystem“ in einem Bericht der IMO lesen können. Das war auch wichtig. Nachdem die „Erika“ koppheister gegangen war und nachdem ein italienischer Chemietanker koppheister gegangen war, ist auf europäischer Ebene etwas passiert; aber national ist nichts passiert. Die Dinge, die Sie hier ansprechen - Sie wissen das auch -, sind in dem Bericht erwähnt. Es heißt dort, sogar dick gedruckt, dass ab 2004 - man höre und staune - die bisher nur auf nationaler Ebene angewandten Regeln weltweit gelten sollen, die sich aber nur darauf beziehen, dass eine Blackbox bei den Schiffen eingerichtet werden soll, um Kollisionen zu vermeiden. Das ist die internationale Antwort, die richtig und notwendig ist; aber im nationalen Bereich hat sich überhaupt nichts getan. In den Bereichen, in denen Sie national tätig sind - wenn es zum Beispiel um die Auflösung der Seeämter geht -, beschreiten Sie einen Weg, den jeder Fachmann als völlig falsch bezeichnet. Man kann kurz und gut ein relativ simples Fazit ziehen: Nach den Anträgen, die im Oktober 1998 auf den Weg gebracht worden sind - wir waren ja damals ziemlich schnell -, ist eindeutig nichts getan worden; es ist nichts zum Schutz der Küste getan worden und es ist nichts getan worden, um die im Grunde genommen wunderbare Ressource Meer für unser Land zu nutzen. Das muss man Ihnen ganz massiv vorwerfen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Janz?

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Ilse Janz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Goldmann, da Sie eben einen Artikel des „Weser-Kurier“ benutzt und behauptet haben, das sei mein Zitat: Würden Sie mir bitte bestätigen, dass das, was Sie eben vorgelesen haben, die Rhetorik des Journalisten war und nicht meine? Das sind nicht meine Worte. Sie müssen, wenn Sie schon zitieren, bitte auch richtig zitieren ({0}) und sollten hier nicht mit falschen Behauptungen eine Differenz innerhalb der SPD-Fraktion unterstellen.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin, ich kann den Artikel relativ gut lesen. Ich habe ihn grün angestrichen, ({0}) damit ich ihn hier gut vorlesen kann. Da heißt es: Und so löste die Ankündigung von Gert-Jürgen Scholz von der Projektgruppe Maritime Notfallvorsorge des Bodewig-Ministeriums, erst im Frühjahr einen Konzept-Entwurf vorzulegen, bei den Abgeordneten der so genannten SPD-Küstengang Kopfschütteln aus. Deren Sprecherin Ilse Janz sowie Ulrich Gudat vom Kieler Innenministerium hielten Scholz vor, dass es „politischer Wille“ sei, die nötigen Konsequenzen aus der Pallas-Havarie zu ziehen und dass man das auch schnell könne, wenn man „es wirklich will“. ({1}) Im Januar 2001 stellen Sie fest, dass das Ministerium es ganz offensichtlich nicht will, weil es ja wohl ganz offensichtlich nicht schnell und qualifiziert auf das reagiert hat, was hier in Anträgen aller Fraktionen im Deutschen Bundestag zum Ausdruck gebracht wurde. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich gestatte auch eine Zwischenfrage meines Kollegen Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege Goldmann, wie bewerten Sie es denn nach dieser Frage, dass bei diesem wichtigen Thema die norddeutschen Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen, Bremen, die ja alle SPD-regiert sind, heute nicht auf der Bundesratsbank vertreten sind und das Wort ergreifen? ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist etwas, was mich im Kern trifft - bei aller Diskussion um bestimmte Dinge und auch der einen oder anderen hektischen Auseinandersetzung. Es ist wirklich so, liebe Kollegen von der Küste: In Deutschland gibt es kein Bewusstsein für die Küste, auch bei vielen Vertretern hier im Bundestag nicht. ({0}) - Liebe Kollegin, wir nutzen die Chancen des Meeres nicht nur im Hinblick auf Verkehr, sondern auch im HinHans-Michael Goldmann blick auf Meerestechnologie, im Hinblick auf Gesundheit aus und mit dem Meer, im Hinblick auf die Ernährungsbasis Meer, im Hinblick auf die globalen Entwicklungen, die wir vorhaben, völlig unzureichend. Sie wissen das ganz genau. Wir sollten uns in solchen Fragen, wie sie heute hier zur Beantwortung anstehen, schlicht und ergreifend einig sein. Sie sollten ganz simpel sagen: Wir sind maßlos enttäuscht vom Verkehrsminister und vom Ministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Goldmann, Sie müssen dem Kollegen Koppelin antworten und nicht der Kollegin Janz. Sonst ist es einfach nur eine Verlängerung Ihrer Redezeit.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich will ganz persönlich noch ein Wort zu Frau Altmann sagen. ({0}) - Ich habe doch mitgekriegt, dass er noch steht. Frau Altmann, ich habe Sie als Kämpferin erlebt für Dinge, die ich nicht richtig fand. Aber wenn Sie hier anderen vorwerfen, man habe sie sozusagen an die Kette genommen, dann kann ich nur sagen: Sie sind an der Kette und haben auch noch einen Maulkorb. Das ist schon wirklich schlimm. Damals sind Sie in Schleswig-Holstein auf der „Pallas“ herumgehüpft. ({1}) Allen haben Sie signalisiert, was Sie tun wollten und was Sie tun könnten. ({2}) Ich kann nur sagen: Lesen Sie sich bitte noch einmal die Empfehlungen durch und vergleichen Sie sie mit dem, was Sie erreicht haben! Dann können Sie in dieser Frage nur noch in Schutt und Asche gehen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Faße das Wort.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Goldmann! Die Vorwürfe, die Sie hier erhoben haben - Sie haben mich ja auch zitiert und gesagt, dass ich das alles nicht richtig sehe -, weise ich ganz energisch zurück. ({0}) In Oppositionszeiten haben wir, die Grünen und die SPD, hier ganz einsam und verlassen für jede einzelne Position gekämpft, die mit Schiffssicherheit zu tun hatte, ({1}) vom Lotsenwesen bis zur Zusammenarbeit an der Küste. Das war ein ganz mühsamer Kampf und in der Regel haben wir keine Mehrheit gefunden. Glücklicherweise hatte diese Regierung das Sagen, als das bereits erwähnte Unglück geschah. Durch diesen Fall wurde klar, dass es in vielen einzelnen Bereichen große Mängel gab. Das ist nicht zu leugnen. Diese Mängel haben nicht wir, sondern Sie zu verantworten; denn sie stammen aus Ihrer Regierungszeit. ({2}) Wir haben sehr schnell ganz deutlich erkannt, dass diese Mängel nicht behoben werden können, wenn wir nur eine Expertenkommission einsetzen; vielmehr mussten im Vorfeld viele Punkte abgearbeitet werden. Heute mögen Sie das als „Minipunkte“ bezeichnen und als nicht ausreichend empfinden. Nur: Sie haben in der Vergangenheit noch nicht einmal diese kleinen Probleme gelöst. Der Schritt, eine Expertenkommission einzusetzen, war richtig. Richtig war es auch, anschließend zu überprüfen, ob man tatsächlich alle 30 Vorschläge umsetzen sollte. Vieles davon ist bereits - auch national - realisiert. Sie wissen genauso gut wie wir alle hier, dass die Seeschifffahrt ein internationales Geschäft ist. Das heißt: Was wir national machen können, haben wir en gros erledigt. Ich habe auch darauf hingewiesen, was noch in diesem Jahr abzuschließen ist. Das, was EU-weit thematisiert worden ist, ist während der deutschen und der französischen Ratspräsidentschaft hervorragend bewältigt worden. Wir haben in diesem Bereich in Europa einen Verbündeten gefunden. Außerdem haben wir die internationalen Regeln eindeutig ein ganzes Stück vorangebracht. Wenn Sie meinen, dass das alles nichts war, dann halte ich Ihnen entgegen: Für diese zwei Jahre war das sehr viel; denn all das haben Sie in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit nicht geschafft.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zur Erwiderung hat der Abgeordnete Hans-Michael Goldmann das Wort.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollegin Faße, wir haben Gemeinsamkeiten: Wir arbeiten nicht nur in der Arbeitsgruppe „Binnenschifffahrt“ zusammen, sondern kommen auch beide aus der Gegend, über die wir hier sprechen: von der Küste. Deswegen sollten wir gemeinsam darüber traurig sein, dass das, was Sie eben gesagt haben, schlicht und ergreifend nicht stimmt. In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage können Sie nachlesen, was bei den 30 Empfehlungen bis jetzt herausgekommen ist. Wenn Sie das gelesen haben, dann werden Sie zum Beispiel zu dem Ergebnis kommen: Es gibt immer noch kein Havariekommando - obwohl dies eine rein nationale Aufgabe wäre. Wir waren uns hier einig, dass wir diese nationale Aufgabe in eine internationale einbinden wollen. Aber wir brauchen doch erst einmal eine nationale Lösung - Sie wissen, dass die Engländer so etwas schon haben -, um internationale Koordination vornehmen zu können. Wir müssen erst einmal Aufbauarbeit leisten. ({0}) Es gibt auch immer noch keine einheitliche Einsatzstruktur mit Weisungsrecht - auch dies eine rein nationale Aufgabe. Das hat nichts mit der IMO zu tun, sondern muss hier von uns geleistet werden. ({1}) - Das gibt es nicht. Darüber hinaus gibt es keine Seewache; das wissen auch Sie. Es gibt für die mit dem Teilprojekt „Technik, Meldewesen, Ausbildung“ verbundenen Probleme keine Lösung; Technik, Meldewesen, Ausbildung - alles nationale Dinge! Es gibt für die mit dem Teilprojekt „Umwelt“ - das ist eigentlich der dramatischste Bereich - verbundenen Probleme ebenfalls keine Lösungen. Vielleicht ist die schwierige Koordination der Ministerien bis jetzt einige Male sozusagen gekreißt; aber außer einem Wasserfloh ist dabei nun wirklich nichts herausgekommen. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Ereignisse um die „Pallas“ bedeuteten ein schweres Unglück, eine Katastrophe: Tausende von getöteten Vögeln, Umweltverschmutzung. Vor allem haben wir feststellen können, dass die Konzepte für die Sicherheit an der Küste unzureichend sind. Ich glaube, dass vor diesem Hintergrund jedes Hickhack über die Frage, wer verantwortlich war, wer damals schlecht gearbeitet hat und wer heute schlecht arbeitet, kein richtiger Ansatzpunkt ist. Trotzdem muss man feststellen, dass wir auch in der heutigen Debatte kein qualitativ neues Sicherheitskonzept erkennen können. ({0}) Das „Pallas“-Unglück hat massive Sicherheitsrisiken an der Nordseeküste und auch an der Ostseeküste deutlich gemacht. Die „Pallas“ selber war ein relativ kleines Schiff mit einer relativ ungefährlichen Ladung. Dennoch gab es massive Schäden und der Schutz war völlig unzureichend. Vor allem aber taten sich fatale Kostendimensionen und groteske Versicherungsrelationen auf. Die Kosten des Unglücks werden heute auf 25 Millionen DM beziffert, die Versicherung der „Pallas“ zahlte gerade einmal 3,5 Millionen DM. Solch eine Unterversicherung wäre beim KfzVerkehr gar nicht vorstellbar. Dabei handelt es sich noch um ein relativ kleines Unglück. Im Bericht der Expertenkommission liest man auf Seite 62, dass Unglücke mit Schäden bis zu 250 Millionen DM vorstellbar sind. Danach kommt der Satz, dass dabei zwar massenhaft der Tourismus an der gesamten Küste kaputtgehen würde, erstaunlicherweise heißt es aber dann: Es kommt zu keiner Zeit zu einem totalen Nachfrageeinbruch, da ein erheblicher Teil der Nachfragenden ({1}) nicht flexibel genug reagieren kann und außerdem Neugier und Sensationslust ein nicht zu unterschätzendes Besuchsmotiv sind. Das heißt, auf absehbare massenhafte Schäden wird mit etwas Zynismus und Ironie reagiert. Meine Erkenntnis lautet, dass die Sicherheitsmaßnahmen insgesamt unzureichend sind, auch die jetzt vorgeschlagenen. Zwar könnte eine zentrale Küsten- und Meeresüberwachungsstelle einen Fortschritt darstellen, aber weiterführende Maßnahmen müssen diskutiert werden. Die Antwort der Kommission auf den Vorschlag des NABU, dass küstenfernere Reise- und Transportrouten notwendig wären, lautete lapidar, dass das Umwege bedeuten, wirtschaftliche Schwierigkeiten und Mehrkosten mit sich bringen würde, ohne dabei zu berücksichtigen, was das für die Umwelt bedeuten würde. Vor allem aber ist festzustellen, dass es an der Küste weiterhin völlig unzureichende Schlepperkapazitäten gibt. Das galt sowohl während der Amtszeit der alten Regierung wie auch jetzt unter der neuen. Ich erinnere nur an die ganze Dramatik um die „Oceanic“. In diesem Zusammenhang ist ein Brief der Stadt Norderney interessant. Dort steht Folgendes: Die Stadt Norderney, die Gemeinschaft der Ostfriesischen Inseln ... fordern seit geraumer Zeit, dass im Bereich der Deutschen Bucht dauerhaft ausreichende Hochseeschlepperkapazität stationiert wird ... So diskutiert man über das Einsatzvermögen der bundeseigenen Mehrzweckschiffe „Mellum“ und „Neuwerk“, obwohl in einem Gutachten des Bundesministers des Verkehrs aus dem Jahre 1996 bereits beschrieben steht, dass es sich dabei wohl nicht um die günstigste Schlepperkonfiguration handelt. ({2}) - Vom Januar 2000, Herr Goldmann. Längst wurde - das hat Frau Faße angeschnitten - darüber diskutiert, ob neue Schiffe entwickelt werden müssten, zum Beispiel das so genannte „Emergency Tower Vessel“, also ein Sicherheitsschlepper, und dafür entsprechende Mittel bereitgestellt werden müssten. Daraus ergibt sich auch, dass die gesamte Debatte, die hier stattfindet, zwar einen Anfang darstellen kann und man dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auch zustimmen kann, aber dieser zugleich als Ausgangspunkt für weitere Arbeit in diese Richtung dienen müsste. Zum Schluss möchte ich mich, Herr Goldmann, gerne an Sie wenden, an die Partei der Liberalisierer: Man kann feststellen, dass es bis zum Jahre 1963 weltweit keine spektakulären Unfälle zum Beispiel mit Tankern und riesigen Umweltschäden gab, es aber seit dem Jahr 1970 ein halbes Hundert solcher Unfälle gab und dies vor allem eine Folge der Liberalisierung der Transportwege war, die zu Dumpingpreisen für Transporte auf den Weltmeeren führte. ({3}) Auch Ihre Partei und die CDU/CSU sind also mitverantwortlich dafür, dass diese Entwicklung eingetreten ist. ({4}) - Aber sie unterstützt sie. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anke Hartnagel.

Anke Hartnagel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003138, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin, ehrlich gesagt, über die Heftigkeit der Beiträge zu dieser Debatte etwas überrascht. Dies galt insbesondere für Ihren Beitrag, lieber Kollege Börnsen. Es findet doch im Moment überhaupt kein Wahlkampf statt. Ich denke vor allen Dingen auch, dass sich die Problematik von Schiffsunfällen in Nord- und Ostsee nicht für Polemik eignet. ({0}) - Aber auch nicht für falsche Darstellungen, Herr Kollege Goldmann. Ich gehe jetzt vor allen Dingen auf das ein, was Sie zum Havariekommando gesagt haben. Es gibt eine grundsätzliche Übereinstimmung; die Bundesregierung ist darum bemüht, für alle Probleme, die daran festzumachen sind, eine Lösung zu finden. Sie wissen aber ganz genau, ({1}) - lassen Sie mich jetzt bitte einmal ausreden -, wie schwierig es ist, alle Einzelheiten unter einen Hut zu bringen. ({2}) - Doch, es ist schwierig. Das wissen Sie auch ganz genau, Herr Goldmann. ({3}) Wir sind auf dem besten Wege. Vermutlich im Frühjahr wird die Entscheidung kommen und wird das umgesetzt werden. Jetzt muss ich noch etwas dazu sagen, wie Sie das Problem dargestellt haben. Sie haben in der Tat viel Zeit gehabt, irgendetwas zur Verbesserung der Schiffssicherheit in Nord- und Ostsee zu tun. Sie haben nichts getan. ({4}) Ich will jetzt nur ein Beispiel herausgreifen - es werden noch einige andere kommen -: das Bergungsübereinkommen. Dies hat bei Ihnen zehn Jahre in der Schublade gelegen, ohne dass es in nationales Recht umgesetzt wurde. Warum haben Sie das nicht getan? Das ist zugegebenermaßen nur ein kleiner Baustein, aber kein unwichtiger. ({5}) - Wir reden im Moment nicht nur über die „Pallas“. Die „Pallas“ hat uns gezeigt, welche Lücken in dem System waren. Die „Pallas“ war der Anlass, darüber nachzudenken. Sie wissen genau, dass Bergung ein entscheidender Faktor ist, übrigens auch bei der „Pallas“. Sie wissen genau, dass uns dieses Bergungsübereinkommen ein Stückchen weiterhilft: Auch wenn die Bergung eines havarierten Schiffes nicht glückt, ist eine Entschädigung möglich. Auch das ist ein wichtiger Punkt. ({6}) - Wir reden nicht nur über die „Pallas“. Die „Pallas“ war der Anlass. Das habe ich eben schon einmal gesagt. Jetzt lassen Sie mich einfach einmal ausreden, Herr Goldmann. Zur Grobecker-Kommission und der Umsetzung der Vorschläge. Ich finde, die Einsetzung der GrobeckerKommission war eine gute Entscheidung. ({7}) Sie hat ein vernünftiges Ergebnis vorgelegt. Dieses Ergebnis wird Punkt für Punkt abgearbeitet. Wir können nicht in zwei Jahren das schaffen, was Sie in den vergangenen Jahren versäumt haben. Das muss ich einfach noch einmal sagen. ({8}) Nach dem Zuständigkeitschaos sind wir jetzt ein gutes Stück in Richtung „Land in Sicht“, um es einmal maritim auszudrücken. Wir haben einige internationale Abkommen auf den Weg gebracht. Es wurde gesagt: „Was heißt hier ‚internationale Abkommen‘? Wichtig ist, dass vor Ort etwas getan wird!“ Aber Sie wissen genau, dass auch die internationalen Abkommen uns zu einer Verbesserung verhelfen können, ({9}) insbesondere was die Schiffstechnik anbetrifft. Irgendjemand hat hier gesagt - ich weiß nicht mehr, wer es war -, dass die Technik nicht so wichtig sei. Doch, sie ist außerordentlich wichtig. Wir hoffen, dass schon 2015 die Schrottkähne von den Weltmeeren verschwunden sind und alle Öltanker Doppelhüllentanker sind. Die Beinahekatastrophe vor Galapagos - es ist gerade noch einmal gut gegangen ({10}) wäre nicht so vonstatten gegangen, hätte es einen Zweihüllentanker gegeben. Das ist eindeutige Expertenauffassung. ({11}) Technische Vorschriften können nicht alles verhindern. Aber sie können uns weiterhelfen. ({12}) - Er war eben nicht doppelwandig. ({13}) - Das war ein ziemlich unqualifizierter Beitrag, Herr Austermann. ({14}) Sie wissen vielleicht, dass etwa 90 Prozent aller Schiffsunfälle durch menschliches Versagen passieren, ({15}) das wir leider nicht abstellen können. Wir können aber mit Verbesserungen in der Schiffssicherheit einiges vermeiden. Dann wäre, wie ich Ihnen schon eben sagte, das Unglück vor Galapagos nicht so schwer geworden und auch manch anderes Schiffsunglück könnte etwas günstiger ablaufen. Lassen Sie mich noch etwas zu den Klassifikationsgesellschaften sagen. Auch das ist ein wirkliches Problem, das uns bei der „Erika“ sehr deutlich geworden ist, das man aber abstellen kann, wenn man die Klassifikationsgesellschaften verstärkt unter die Lupe nimmt und dort versucht einzugreifen. Es kann nicht angehen, dass wir aufgrund von Gefälligkeitsgutachten Schrotttanker, wie wir sie in der letzten Zeit erlebt haben, weiter auf unseren Meeren haben. ({16}) - Ja, ich bin Hamburgerin: nicht von der Küste, aber doch der Küste sehr nahe. ({17}) - Ja, Hamburg reicht. ({18}) Übrigens hat auch das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie bestätigt, dass wir auf dem richtigen Wege sind, was dieses Havariekommando anbetrifft. Ich möchte noch einmal auf die Haftungssummen eingehen. Herr Wolf hat schon gesagt, dass die Erhöhung der Summe um das 2,4fache nicht annähernd ausreicht, um die Schäden finanziell auszugleichen. Der Schaden betrug im Fall der Havarie der „Pallas“ ungefähr 28 Millionen DM. 3,3 Millionen DM wurden nach der alten Regelung erstattet. Nach dem neuen Abkommen würden es 8 Millionen DM sein. Das heißt, der Bund und die Länder zahlen immer drauf. Es kann uns nicht nur darum gehen, Schiffe sicher zu machen und menschliches Versagen auszuschließen. Es geht in erster Linie darum, dass wir unsere schon außerordentlich belasteten Meere - in diesem Falle Nord- und Ostsee - davor bewahren, völlig umzukippen. Durch die Einleitung von landwirtschaftlichen Abwässern und durch die - man kann schon sagen - kriminelle Einleitung von Schadstoffen sind die Ozeane außerordentlich gefährdet. Was wir jetzt auf den Weg gebracht haben, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist klar, dass es einige Zeit dauert, bis die Maßnahmen greifen. Ich verwahre mich daher außerordentlich gegen die Behauptung, es werde nichts getan. ({19}) Ich möchte noch ein Thema ansprechen - Herr Goldmann, hören Sie bitte zu; ich komme zurück auf die „Pallas“ -, was mir besonders am Herzen liegt. Wir haben bei der „Pallas“ gesehen, dass Notliegeplätze in Häfen sehr dringend gebraucht werden. Wäre die „Pallas“ sofort in einen dänischen Hafen geschleppt worden, hätte die Katastrophe möglicherweise verhindert werden können. Es gibt jetzt Bestrebungen, Notliegeplätze vorzuhalten. Wir müssen dies wenigstens europaweit - wenn es schon nicht weltweit möglich ist - schaffen. Ich denke, dass wir auf dem richtigen Wege sind. Auch hier handelt es sich nicht um Peanuts, sondern es ist ein wichtiger Beitrag, besser mit Havarien umzugehen und unsere Meeresumwelt wirkungsvoll zu schützen. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({20})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer „kurzen Kurzintervention zum Zwecke der Richtigstellung“ erteile ich nun der Kollegin Altmann das Wort.

Gisela Altmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002618, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte mich auf den Brief beziehen, den der Kollege Wolf angesprochen hat. Herr Wolf, dieser Brief ist in seiner Kritik veraltet, weil der dauerhafte Einsatz der „Oceanic“ in der Deutschen Bucht faktisch gesichert ist. Das heißt, dass das Schutzbedürfnis der Norderneyer damit befriedigt wird. Das Problem war bis dato, dass die Verlängerung des Einsatzes nicht gesichert war. Das hat sich inzwischen grundlegend geändert. Ab dem letzten Jahr muss es nur aus haushaltstechnischen Gründen jedes halbe Jahr eine Verlängerung geben. Das wird so lange geschehen, bis ein anderes Gesamtkonzept inklusive Regelungen für den Einsatz der „Oceanic“ oder für eine andere Konstellation aufgestellt worden ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bitte, Herr Kollege Wolf.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Werte Kollegin Altmann, der Brief ist vom 4. Februar des Jahres 2000. ({0}) - Das habe ich nicht gewusst. Es ist aber nett, dass Sie mir das sagen. - Ich habe heute bei der Zeitschrift „Waterkant“ angerufen, um mir bestätigen zu lassen, dass die frühere Praxis - sie wurde von Ihnen angedeutet -, nur kurzfristige Charterverträge über den Einsatz der „Oceanic“ zu schließen, weitergeführt wird. Damit ist die gesamte Situation weiterhin absolut unsicher. ({1}) - Ja, das gab es schon immer. Aber der Punkt ist, dass nicht haushaltstechnische Gründe eine endgültig Regelung verhindern. Darüber hinaus argumentieren die Norderneyer, dass generell zu wenig Schleppkapazitäten vorhanden sind - das wurde auch in dem Beitrag von Frau Faße aufgegriffen - und dass selbst die Kapazitäten der „Oceanic“ mit einem Pfahlzug von, soweit ich weiß, 165 Tonnen bei den Unglücken von Containerschiffen mit Gefahrgut usw., die heute und auch in der Expertenkommission diskutiert werden, nicht ausreichen, sondern weitaus größere notwendig wären. Deswegen sagte ich zum Schluss meines Beitrags, dass man schnelle Lösungen finden muss, um entsprechende Schleppkapazitäten zu schaffen, die weder durch „Mellum“ noch „Neuwerk“, noch „Oceanic“ heute vorhanden sind.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietrich Austermann.

Dietrich Austermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Die Kollegin Hartnagel hat viel Unzutreffendes gesagt. Das fing an mit der Feststellung, dass Hamburg keine Küste habe. ({0}) Ich würde mich einmal vergewissern, wie das mit „Neuwerk“ so ist. Aber das war nicht der wesentliche Fehler in Ihrer Aussage. Der eigentliche Punkt ist die Frage - die Sie auch hören, wenn Sie mit den Bürgern sprechen; mein Wahlkreis liegt direkt an der Nordseeküste -: Was ist eigentlich seit der Havarie der „Pallas“ tatsächlich geändert worden? Welche konkrete Maßnahme ist getroffen worden, die heute in einer vergleichbaren Situation wirksam werden könnte und Hilfe brächte? Niemand hier - ich unterstelle einmal, dass alle gutwillig sind, was die Verbesserung des Meeresschutzes betrifft - wird bestreiten, dass internationale Abkommen keinen einzigen Schritt weiterhelfen, sondern dass es um eine konkrete Entscheidungsbefugnis und um die Frage geht, ob es entsprechende Schleppkapazitäten gibt und wer an welcher Stelle welche Entscheidung zu treffen hat. Damit befassen wir uns jetzt seit 27 Monaten. ({1}) - Frau Kollegin, um damit aufzuräumen: Sie wissen doch genau, was in Cuxhaven von Bund und Ländern über viele Jahre gemeinsam eingerichtet worden ist. Sie wissen, dass Schleppkapazität beschafft worden ist. Sie wissen, dass es eine gemeinsame Leitstelle gab. Sie hat bloß nicht funktioniert, weil ein Parteifreund von Frau Altmann im entscheidenden Moment, als es um die Katastrophenaufarbeitung ging, das Sagen hatte, nämlich Herr Steenblock, der inzwischen nicht mehr im Amt ist. Das war das Problem. ({2}) Aber die Schleppkapazität war nicht deshalb nicht erreichbar, weil es die entsprechenden Zuständigkeiten nicht gegeben hätte. Dass die Taue gerissen sind, weiß ich genau wie Sie. Die Frage, die man heute stellen kann, lautet: Was hat der jeweilige Bundesverkehrsminister in der Zeit eigentlich gemacht? Es sind inzwischen 27 Monate vergangen. Bundesverkehrsminister war damals - die Älteren werden sich noch erinnern - Herr Müntefering. Zu der Zeit, da dieser Vorfall sich zugetragen hat, war er damit beschäftigt, die Abteilungsleiter auszuwechseln, Sachkunde durch Parteibuch zu ersetzen. ({3}) Dann kam der zweite Verkehrsminister, Herr Klimmt, der sich um das Thema Küste überhaupt nicht gekümmert hat. Das Interessante ist: Auch der dritte hat kein Interesse daran, an dieser Debatte teilzunehmen; der Verkehrsminister ist wieder nicht da, wenn über dieses Thema gesprochen wird. Es kann doch nicht angehen, dass wir heute hier Berichte diskutieren, die ein Dreivierteljahr alt sind, und die Bundesregierung in den Berichten wieder nur aufgefordert wird, Entscheidungen zu treffen, die aber offensichtlich nicht getroffen werden. Wie gesagt, seit 27 Monaten ist keine einzige geplante Maßnahme in die Tat umgesetzt worden, aus der man ableiten könnte, dass die Sicherheit der Menschen an der Küste seit dem 25. Oktober 1998 größer geworden wäre. ({4}) Das ist doch der entscheidende Punkt. Kreistagsabgeordnete in Dithmarschen/Nordfriesland haben sich mit dem Thema befasst und Resolutionen verabschiedet - die Qualität war nicht unbedingt schlechter als die Qualität dessen, was Sie vorgelegt haben -, die Gila Altmann ({5}) einen eindeutigen Handlungsauftrag an die Regierung enthalten. Aber die Regierung schweigt, ({6}) um nicht zu sagen: schläft. Es werden keine konkreten Maßnahmen getroffen. Dabei wären sie ziemlich klar. Jetzt zitiere ich einmal das Urteil Ihrer eigenen Parteifreunde. Der Kieler Landtag hat sich am 11. November letzten Jahres mit diesem Thema befasst. ({7}) Dabei hat der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Karl-Martin Hentschel, die Kritik auf den Punkt gebracht: Man könne an der Küste nur hoffen, dass nach Franz Müntefering und Reinhard Klimmt mit dem dritten Verkehrsminister die Küste besser bedient werde. Er habe nicht den Eindruck, dass die Arbeit von Berlin jetzt besser laufe. Der Innenminister, ein SPD-Mann, also kein Parteifreund der Grünen, hat gesagt, es beschäftigten sich zurzeit so genannte Projektorganisationen des Bundes mit der Schaffung einer einheitlichen Küstenwache. Er sagte in der Landtagsdebatte, diese Berliner Projektorganisationen seien eine typisch deutsche Erfindung. Zumindest die Bildung des Havariekommandos hätte der Bund unbedingt vorziehen müssen. Dem Mann ist zuzustimmen. ({8}) Selbst die eigenen Genossen sagen, sie seien unzufrieden mit dem, was bisher im Hinblick auf die Sicherheit der Küste passiert ist. Bis heute gibt es nur eine einzige personelle Konsequenz, nämlich dass Herr Steenblock zurücktreten musste. Auch das ist inzwischen schon ein Jahr her. ({9}) Aber darüber hinaus sind vernünftige Entscheidungen bisher nicht getroffen worden. In Vorbereitung auf die Debatte habe ich mir die Mühe gemacht, die Berichte des Verkehrsausschusses durchzulesen, insbesondere den Bericht zu dem Antrag der SPD. Da fragt man sich: Was haben die eigentlich beschlossen und was schlagen die eigentlich vor? Entsprechend der politischen Grundeinstellung gibt es natürlich Unterschiede in dem, was vorgeschlagen wird. Der gute Antrag der F.D.P. wird natürlich abgelehnt, weil das Vorwort zu polemisch gewesen sei. ({10}) Und Ihre Anträge? - 15 internationale Verträge, Abkommen, Übereinkommen sollen verbessert, erweitert oder unterzeichnet werden. Sie begrüßen, dass der Abschlussbericht der Grobecker-Kommission noch vor der Landtagswahl im letzten Jahr vorgelegt wurde. ({11}) Toll! Das heißt, er liegt bereits ein Jahr vor, ohne dass inzwischen etwas passiert ist. ({12}) Und dann schlagen Sie vor - das muss man sich einmal wörtlich vorhalten -, zu prüfen, wie Effizienz und Kompetenz zur Gefahrenabwehr langfristig, gegebenenfalls durch weitere Kompetenzübertragung vom Bund auf die Länder, auf die zentrale Überwachungsstelle, gesteigert werden können. Das verstehe, wer will! Das soll eine klare Aussage sein und die Menschen an der Küste wissen lassen, dass jetzt endlich gehandelt wird? ({13}) Weit gefehlt! Es ist immer noch keine Entscheidung getroffen worden. Der Deutsche Verkehrsgerichtstag hat sich mit dem Thema befasst, fordert ein maritimes Lagezentrum für Nord- und Ostsee. Offensichtlich ist auch er der Meinung, dass endlich etwas getan werden muss. Wir wollen schnell - das ist innerhalb eines halben, höchstens eines ganzen Jahres möglich ({14}) eine einzige verantwortliche Leitstelle mit eindeutigen Kompetenzen im Ernstfall, mit einer Schiffsbewegungskontrolle, mit maritimem Lagezentrum. Die Kreise an der Westküste fordern vorbeugenden Havarieschutz durch verbesserte Schiffslenkung und Überwachung, Verbesserung der Schleppkapazität und im Löschwesen, einen Sicherheitshafen, eine einheitliche Küstenwache, Vereinbarungen mit den Nachbarländern, die Verbesserung der Forschung. All dies sind Forderungen, die auch von der Union erhoben werden. ({15}) Ich habe festgestellt, dass der Kollege Opel - ich dachte, er spricht heute - der „Dithmarscher Landeszeitung“, einer an der Küste geschätzten Zeitung, gesagt hat, es liege ein Gutachten vor, demzufolge im Durchschnitt in der Nordsee mit sechs Seenotfällen mit Schlepperbedarf im Jahr zu rechnen sei, in der Ostsee sogar mit sieben. Er geht davon aus, dass die Bundesregierung innerhalb des nächsten Vierteljahres eine entsprechende Stelle einrichtet, sodass zusätzliche Schleppkapazität zur Verfügung gestellt wird. Insgesamt sagt er, es werde eine zentrale Einsatzleitung eingerichtet. Er sehe auch die Tendenz, eine größere Anzahl leistungsfähiger Schiffe mittlerer Größe für Nord- und Ostsee anzuschaffen oder zu chartern. 30 Monate nach der Havarie sei es toll, wenn dies so wäre. Ich weiß nicht, woher der Kollege Opel seine Kenntnis hat. Wenn ich in den Haushalt blicke, kann ich nicht feststellen, dass der Verkehrsminister beantragt hätte, Mittel für die Anschaffung neuer Schlepper bereitzustellen. ({16}) Nicht einmal für die Miete hat er Mittel beantragt. Wir wissen alle: 20 000 DM kostet die „Oceanic“ am Tag. Das ist etwa so viel, wie Hans Eichel für einen Flug braucht. ({17}) Es wird kein Geld für zusätzliche Schleppkapazität bereitgestellt. Den Bürgern wird Sand in die Augen gestreut. Die Menschen an der Küste sind dies leid. Sie erwarten, dass wir etwas für den Erhalt der Wasserqualität unserer Meere und für die Sicherheit an der Küste tun. Es reicht nicht, dass sich die Regierung an der Debatte nicht beteiligt, nichts tut und schläft. Wir fordern engagiertes und schnelles Handeln. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache und wir kommen zu den Abstimmungen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Sicherung der deutschen Nord- und Ostseeküste vor Schiffsunfällen. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2684 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Nordseeküste schützen, Küstenwache einrichten, international besser zusammenarbeiten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden, während sich die PDS enthalten hat. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Reform des Tarifvertragsrechts - Drucksachen 14/2612, 14/5214 Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Schemken Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Klaus Brandner.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Bei der Vorlage des Antrags der F.D.P.-Fraktion „Reform des Tarifvertragsrechts“ muss man sich fragen, meine Herren, ob Sie sich wirklich für nichts zu schade sind. ({0}) Denn mit Ihrem Antrag zur Durchlöcherung des Tarifvertragsrechts versuchen Sie scheinheilig, wie Sie sind, Arbeitslose in diesem Land vor Ihren Karren zu spannen, um Tarifvertragsbrüche zu legalisieren und die Abschaffung des Tarifrechts zu fordern. Die aktuellen Meldungen über die Erfolge unserer Politik am Arbeitsmarkt geben uns dagegen Recht. ({1}) Sie zeigen, dass wir den richtigen Weg gehen und Ihr Antrag die Sicherung des sozialen Friedens in unserer Gesellschaft äußerst gefährdet. ({2}) Sie haben wahrscheinlich am Dienstag dieser Woche die neuesten Arbeitsmarktzahlen gelesen. ({3}) Der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt hält weiter an, Herr Kolb, das wissen Sie. ({4}) Insgesamt haben fast 550 000 Menschen mehr als vor einem Jahr einen Job. ({5}) Wir haben den niedrigsten Stand an Arbeitslosen in einem Januar seit 1995. ({6}) Die Arbeitslosenquote ist gegenüber dem Vorjahr von 11 Prozent auf 10 Prozent zurückgegangen. ({7}) Für diese positive Bilanz war es keineswegs notwendig, das Tarifvertragsgesetz zu zerpflücken und Arbeitnehmer per Betriebsvereinbarung zu zwingen, ihre Arbeitskraft unter Wert zu verkaufen. ({8}) Diese Bilanz ist vielmehr das Ergebnis von Maßnahmen und Korrekturen, die wir am Arbeitsmarkt, in der Sozialversicherung und in der Steuerpolitik erfolgreich eingeführt haben. Die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse ist gestiegen, der Erfolg gibt uns Recht. Wir bleiben bei diesem Kurs. ({9}) Das von Ihnen geschürte Vorurteil, das Tarifvertragssystem sei die Ursache für die Arbeitslosigkeit, ist schlichtweg falsch. Gerade angesichts der Arbeitslosigkeit ist der tarifvertragliche Mindestschutz nötig. Verbindliche Tarifverträge bleiben das Stärkste, das die Schwachen haben. ({10}) Das Bundesverfassungsgericht erkennt in einem Urteil vom 4. Juli 1995 das Tarifvertragssystem als System kollektiver Sicherheit ausdrücklich an. Ich zitiere: Das Tarifvertragssystem ist darauf angelegt, die strukturelle Unterlegenheit der einzelnen Arbeitnehmer beim Abschluss von Arbeitsverträgen durch kollektives Handeln auszugleichen und damit ein annähernd gleichwertiges Aushandeln der Löhne und Arbeitsbedingungen zu ermöglichen. ({11}) Das Tarifvertragssystem wird als System kollektiver Sicherheit für die Arbeitnehmer und für die Arbeitgeber gesehen. Dies wird durch die amtierende Bundesregierung mit Sicherheit nicht verändert werden. Darauf können Sie sich, meine Herren von der F.D.P., verlassen. ({12}) - Es wird sicher irgendwann wieder andere Bundesregierungen geben, aber darauf - das kann ich Ihnen sagen können Sie noch lange warten. Diese Regierung sitzt fest im Sattel und ihr Kurs ist stabil. Die Erfolge habe ich Ihnen am Beispiel der Arbeitsmarktzahlen deutlich gemacht. ({13}) Der Antrag, den Sie vorlegen, ist eine Durchlöcherung des Tarifvertragsrechts und nichts anderes als die Durchlöcherung des Schweizer Käses. Eine solche Forderung akzeptieren wir nicht und werden wir auch in Zukunft nicht akzeptieren. ({14}) - Der Schweizer Käse ist besser als der Antrag der F.D.P. Dem kann ich nur zustimmen. In der Debatte, hatten Sie, Herr Kolb, am 7. Dezember gesagt, die F.D.P. fordere nicht die Abschaffung der Flächentarifverträge, sondern nur gesetzliche Öffnungsklauseln. ({15}) Formal betrachtet mag das sogar stimmen. Führt man sich aber vor Augen, was dahinter steckt, dann sieht das ganz anders aus. ({16}) Entgeltverhandlungen gehören nämlich wie die Festlegungen zur Arbeitszeit und zur Urlaubsdauer zu den Kernbereichen von Tarifverträgen. ({17}) Aber wem sage ich das eigentlich? Ihr Geschrei von zu hohen und zu wenig differenzierten Tarifstandards sowie von mangelnder Flexibilität und Überregulierung haben Sie anscheinend - Sie wissen das - zum Programm erklärt. ({18}) Das gipfelt in der Aussage von Graf Lambsdorff, die Tarifautonomie dürfe nicht länger Bestand haben. Aber schon damals - um das deutlich zu sagen - standen hinter dieser abenteuerlichen Idee nicht viele und zurzeit stehen Gott sei Dank nur Sie von der F.D.P. dahinter. ({19}) Denn wenn es dazu käme, dass Arbeitgeber künftig auf betrieblicher Ebene mit den Arbeitnehmern über die Höhe ihrer Entlohnung verhandeln könnten, würden die Flächentarifverträge systematisch unterwandert und wegen ihrer Unverbindlichkeit wertlos. Damit würde die Gültigkeit der Tarifverträge faktisch außer Kraft gesetzt. Dem werden wir nicht zustimmen. Tarifverträge sind für uns soziale Sicherheit. Deshalb werden wir an der jetzigen Tarifordnung festhalten. ({20}) Wenn Sie hier die Tarifautonomie infrage stellen, dann rütteln Sie - das muss Ihnen klar sein - an den Grundfesten unserer demokratischen Ordnung. Ich kann nur immer wieder darüber staunen, mit welcher Dreistigkeit Sie Verfassungsgrundsätze und auch Individualrechte über Bord werfen, wenn Sie dies gerade für opportun ansehen und deshalb mir nichts, dir nichts die Tarifvertragsordnung über Bord werfen wollen. Denn Sie wollen eine Verschlechterung oder Beseitigung tarifvertraglicher Ansprüche immer dann zulassen, wenn mindestens 75 Prozent der Belegschaft dem zustimmt. ({21}) Damit würde ein Viertel der Arbeitnehmer gegen ihren erklärten Willen zum Verzicht auf ihre auf dem Flächentarifvertrag beruhenden Rechte gezwungen. Ein solches Betriebskartell zur Aushebelung der von der Verfassung garantierten Tarifautonomie hat schon BDA-Präsident Hundt ausdrücklich abgelehnt und zurückgewiesen. Auch wenn wir Herrn Hundt nicht häufig zustimmen, so stimmen wir ihm in diesem Punkt schon zu: Er hat Recht. Wir werden an diesem Punkt in diesem Sinne festhalten. ({22}) Meine Damen und Herren, auch aus sozialdemokratischer Sicht ist es nicht hinnehmbar, dass beliebige Vereinbarungen getroffen werden können, die zulasten des schwächsten Gliedes der Kette, der Arbeitnehmer, gehen. ({23}) Es ist schlicht unsozial, dass Arbeitnehmer aus Sorge um ihren Arbeitsplatz, aus Angst vor dem Verlust ihrer Existenzgrundlage einem Verzicht auf tarifvertragliche Entlohnung zustimmen sollen. Dieser Verzicht führt zu einem Wettlauf nach unten, zu Dumpinglöhnen. Die F.D.P. will offenbar mit ihrem Antrag die Angst um den Arbeitsplatz vorsätzlich nutzen, ({24}) um die Löhne zu drücken und um die Arbeitnehmer verzichtbereit zu machen. Das kann aber nicht im Sinne der Unternehmen sein. Denn wenn dieser Wettlauf erst einmal begonnen hat, geraten auch die Unternehmen in immer stärkeren Preis- und Konkurrenzdruck; Sie wissen das. Flächentarifverträge sind zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Unternehmensplanung geworden. Aus Gründen der Planungssicherheit und der Sicherung des sozialen Friedens in den Unternehmen sind Tarifvereinbarungen auch für die Arbeitgeber sinnvoll. ({25}) Der Tariffrieden in unserem Land ist der wichtigste Standortfaktor; das sollten Sie einmal deutlich zur Kenntnis nehmen. ({26}) - Nun hören Sie einmal gut zu, meine Herren von der F.D.P. Sie können noch viel lernen. ({27}) Der soziale Frieden in unserem Land wäre nämlich bei Umsetzung Ihrer Vorschläge erheblich gefährdet. Von daher lehnen auch weitsichtige Arbeitgeber Ihre unsinnigen Vorschläge ab. ({28}) Ich empfehle Ihnen dringend, sich einmal mit dem viel zitierten Mittelstand zu unterhalten. Sprechen Sie doch einmal mit den Handwerksmeistern und den Chefs von Kleinbetrieben, was die von Ihren Ideen halten. In der Regel nämlich gar nichts. ({29}) Viele von ihnen sind heilfroh, wenn tarifvertragliche Konflikte aus den Betrieben herausgehalten werden. Gerade die kleinen und mittleren Betriebe haben sich in Innungen zusammengeschlossen, um unter anderem verlässliche Wettbewerbsbedingungen auch auf der Basis von Tarifverträgen zu erhalten. ({30}) In dieser Debatte wird von Ihnen völlig außer Acht gelassen, dass die Lohnkosten eines Betriebes im Durchschnitt - Sie als Unternehmer wissen das - nur einen geringen Teil der Gesamtkosten ausmachen. Das heißt, dass es nicht maßgeblich ist, wie hoch die Lohnzahlungen sind. Denn wichtig für die Existenz des Betriebes ist, dass das Kostengefüge insgesamt stimmt. Wem außer Kostensenkungen, Herr Kolb, nichts mehr einfällt, der entwickelt sich zurück, macht die Menschen ärmer, die Betriebe aber nicht wettbewerbsfähiger und produktiver. Genau das streben wir Sozialdemokraten an.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brandner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb?

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Brandner, nachdem Sie hier vorgetragen haben, dass Sie zumindest gelegentlich im Gespräch mit dem Mittelstand sind, wären Sie bereit zur Kenntnis zu nehmen, dass in einem typischen mittelständischen Unternehmen - ich nenne einmal einen Handwerksbetrieb - der Anteil der Lohnkosten an den Gesamtkosten nicht selten in einer Größenordnung zwischen 40 und 50 Prozent liegt und dass sich die von Ihnen angestellten Überlegungen allenfalls auf Durchschnittswerte oder auf Großunternehmen, die Ihnen ja, wie wir wissen, näher stehen, beziehen? Die kleinen Unternehmen haben aufgrund der hohen Lohnanteile ein signifikantes Interesse daran, dass die Tarifpolitik auf die Bedürfnisse des Mittelstandes Rücksicht nimmt. ({0}) Wären Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen?

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kolb, die Tarifpolitik nimmt auf die Bedürfnisse des Mittelstands ausdrücklich Rücksicht. ({0}) Es ist wichtig, dass Unternehmen erkennen, dass sie durch die Verbesserung der Arbeitsabläufe und der Produktivität ihre Kosten in den Griff bekommen. Das ist der entscheidende Ansatz für eine vernünftige Unternehmensarbeit. Man sollte die Ursachen für die Kostensituation also nicht in den Tarifbedingungen sehen. Man weiß nur zu gut, dass man, wenn man aktive, motivierte Arbeitnehmer noch mit niedrigen Löhnen bestraft, genau das Gegenteil erreicht. ({1}) Man wird nicht erreichen, dass diese Arbeitnehmer weiterhin daran engagiert mitarbeiten, Arbeitsabläufe systematisch zu verbessern. Dann würde man einen unternehmerischen Erfolg erzielen. Durch Kostensenkungen allein wird man dies Problem nie in den Griff bekommen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es gibt den weiteren Wunsch nach einer Zwischenfrage, diesmal vom Kollegen Dirk Niebel.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte jetzt in meiner Rede fortfahren. ({0}) - Herr Niebel, Sie haben sehr viele Gelegenheiten, darüber zu diskutieren. Ich denke, was Sie sagen wollen, ist hier hinlänglich bekannt. Lassen Sie mich also meine Gedanken fortsetzen. Insbesondere bei Insolvenzen und den damit einhergehenden Entlassungen wird doch regelmäßig gefragt, worin denn die Ursachen für die wirtschaftlich schwierige Situation liegen. Sie wissen so gut wie ich, dass in erster Linie schlechtes Management, mangelnde Anpassung an das Marktgeschehen, verschlafene Innovationen und oft eine zu geringe Kapitalausstattung ({1}) Ursache für wirtschaftlich schwierige Situationen sind. Im Übrigen wird das - das wissen Sie - auch von Unternehmensberatungen bestätigt, die regelmäßig festgestellt haben, dass 80 Prozent der Unternehmenskrisen auf Managementfehler zurückzuführen sind. Dennoch sollen es die Arbeitnehmer mit Lohnverzicht ausbaden. Das ist weder sozial noch christlich noch liberal und schon gar nicht fair. ({2}) Deshalb ist der Antrag, den Sie vorgelegt haben, auch nicht zielführend und deshalb werden wir ihn ablehnen. ({3}) Fest steht, dass mit den von Ihnen geforderten gesetzlichen Öffnungsklauseln und der damit verbundenen Aufweichung der Tarifverträge das Missmanagement der Arbeitgeber quasi auf dem Rücken der Arbeitnehmer und der Gewerkschaften subventioniert würde. ({4}) Dafür stehen Sozialdemokraten nicht zur Verfügung. Unverantwortlich ist auch Ihre Forderung, gesetzliche Öffnungsklauseln vorzusehen und das Günstigkeitsprinzip zu erweitern, also eine Veränderung im Tarifvertragsgesetz herbeizuführen. Im Grunde geht es Ihnen nämlich darum, Vertragsbrüche zu legalisieren, Vertragsbrüche durch eine gesetzliche Veränderung flächendeckend möglich zu machen. Es kann nicht, Herr Kolb, Aufgabe des Gesetzgebers sein, in die Tarifautonomie einzugreifen. Die Tarifautonomie ist ein von der Verfassung geschütztes Gut und deshalb wollen wir auch nicht in diesen verfassungsrechtlichen Anspruch der Tarifpartner eingreifen. Wenige, aber prominente Repräsentanten der Arbeitgeber wollen über die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes - das ist ja nicht im Verborgenen geblieben - aus dem Flächentarifvertrag aussteigen. ({5}) Die großen Arbeitgeberverbände dagegen wollen den Tarifvertrag im Betriebsverfassungsgesetz erhalten; die Tarifverträge sollten eher reformiert werden. In diesem Dilemma fordern die Arbeitgeber nun gemeinsam eine Neufassung des Günstigkeitsprinzips im Tarifvertragsgesetz. ({6}) Dabei ist es in Krisensituationen immer möglich - das wissen Sie auch genau -, mit den Tarifvertragsparteien eine flexible Anwendung der Tarifverträge zu vereinbaren oder Haustarifverträge abzuschließen. Öffnungsklauseln in einigen Flächentarifverträgen ermöglichen dies bereits. ({7}) Die Anpassung der Tarifverträge an betriebliche Bedingungen, wie sie von Arbeitgeberseite verlangt wird, ist deshalb nicht notwendig und somit überflüssig. ({8}) - Lieber Herr Niebel, Sie haben wirklich saloppe Sprüche drauf. ({9}) Ich glaube, dass die Arbeitnehmer wissen, wer sich ihren Arbeitsbedingungen verantwortlich stellt. Mit solchen Sprüchen wird keinem Arbeitnehmer in diesem Lande geholfen. ({10}) Für den Gesetzgeber besteht daher überhaupt kein Handlungsbedarf. Weder gesetzliche Öffnungsklauseln noch das Günstigkeitsprinzip im Tarifvertragsgesetz sind zu verändern. ({11}) Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Allein der Rahmentarifvertrag in der baden-württembergischen Metall- und Elektroindustrie enthält 32 Öffnungsklauseln, um genau das, was Sie fordern, nämlich passgenaue Veränderungen bezogen auf die Betriebe, organisieren zu können. Das ist Ihnen aber unbekannt. Sie beschäftigen sich anscheinend mehr mit Sprüchen als mit Inhalten. ({12}) Auch die Forderung nach Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung ist aus unserer Sicht nicht nachvollziehbar. Ich bin mir wirklich nicht sicher - dies muss man die F.D.P. fragen -, ob Sie wissen, wovon Sie eigentlich reden. Knapp 500 von 50 000 Tarifverträgen sind allgemeinverbindlich. ({13}) Sie betreffen nur einen geringen Teil der Beschäftigten. Schon dies macht deutlich, dass sie zwingend notwendig sind, da immer dann, wenn in einem Bereich keine tarifvertragliche Durchdringung vorhanden ist und Unternehmen sowie Arbeitnehmer vor Schmutzkonkurrenz bewahrt werden müssen, auf eine solche Allgemeinverbindlichkeit zurückgegriffen werden muss. Es gibt nach wie vor Berufe und Branchen, in denen gerade einmal 10 DM pro Stunde gezahlt wird. Solche Bedingungen, die trotz eines Arbeitsverhältnisses ein menschenwürdiges Leben und eine freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht ermöglichen, müssen meiner Ansicht nach der Vergangenheit angehören. Deshalb müssen wir die Allgemeinverbindlichkeit in den Bereichen erhalten, in denen sie zwingend zum Schutz von Betrieben und Arbeitnehmern notwendig ist. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brandner, Sie müssen bitte zum Schluss kommen. ({0})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Tarifverträge haben sich in über 50 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland bewährt: in der Zeit der großen Nachkriegsarbeitslosigkeit, beim Wiederaufbau und natürlich auch bei dem so genannten Wirtschaftswunder, bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten und als Mindestschutz gegen die Auswüchse globalisierter Wirtschaft und hoher Arbeitslosigkeit.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Brandner, ich würde Sie bitten, nicht noch einen neuen Gedanken anzufangen, sondern wirklich zum Schluss zu kommen. Sie hatten ausreichend Redezeit. ({0})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Tarifverträge haben in dieser Gesellschaft für sozialen Fortschritt gesorgt. Sie werden es auch weiter tun, Stichwort „Altersversorgung“ oder „Recht auf Weiterbildung“. Ich bin davon überzeugt, die Gewerkschaften werden diese Themen aufnehmen. Wir brauchen verbindliche Tarifverträge. Sie haben den sozialen Frieden in unserem Land gesichert. Mit Ihrem Antrag gehen Sie diesen Weg nicht. Deshalb werden wir ihn ablehnen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Dagmar Wöhrl für die Fraktion der CDU/CSU.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Trotz der neuen Zahlen bleibt die Lage am Arbeitsmarkt bedrückend. ({0}) Wir hatten im letzten Jahr ein Wirtschaftswachstum von 3,1 Prozent, aber nichtsdestoweniger noch immer 4,1 Millionen Menschen bei den Arbeitsämtern als arbeitslos registriert. ({1}) In der Wirtschaftsgeschichte gab es bis jetzt noch nie im Gefolge eines Wirtschaftsaufschwungs einen derartig schwachen Zuwachs an Arbeitsplätzen. ({2}) Da stellt man sich die Frage: Wenn schon bei einem wirklich kräftigen Wachstum von 3,1 Prozent die Arbeitslosigkeit kaum abgebaut wird, wie soll es dann erst bei einer sich abschwächenden Konjunktur werden, die ja kommt? Wir wissen ganz genau, dass eine verlangsamende amerikanische Konjunktur auf unsere Konjunktur Einfluss nehmen wird. Wie soll es dann hier erst ausschauen? Gleichzeitig haben wir ein Mismatch, das noch nie so groß war wie zurzeit. Dem Heer der Arbeitslosen auf der einen Seite steht eine wachsende Zahl von Betrieben auf der anderen Seite gegenüber, die ihre offenen Stellen nicht besetzen können. Noch immer sind 1,5 Millionen offene Stellen gemeldet; es herrscht Fachkräftemangel. ({3}) Was ist der Grund dafür? Schauen Sie einmal in die Papiere der OECD. Die OECD hat einen arbeitsmarktpolitischen Regulierungsindikator entwickelt und an die 23 wichtigsten Industriestaaten der Welt angelegt. Deutschland kommt dabei auf Platz 18. Auf Platz 1 liegen die USA mit einem Wert von 0,7, auf Platz 2 Großbritannien mit einem Wert von 0,9. In beiden Ländern liegt die Erwerbstätigenquote wesentlich höher als in Deutschland. Daraus folgert die OECD zu Recht: Je stärker der Arbeitsmarkt reguliert ist, desto schlechter ist die Beschäftigungssituation. ({4}) Was haben Sie dort, wo Deregulierung geboten wäre, seit Ihrem Regierungsantritt gemacht? Eine „Reregulierung“ haben Sie betrieben. ({5}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsparteien, Sie schaden der Beschäftigungsquote. ({6}) Sie haben den Kündigungsschutz verschärft und die volle gesetzliche Lohnfortzahlung wieder hergestellt. ({7}) Man kann es nicht oft genug wiederholen. Sie haben die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse durch bürokratische Anforderungen und hohe Abgabenpflichten unattraktiv gemacht. ({8}) Was haben Sie gemacht? Sie haben Existenzgründer und Handelsvertreter in die Scheinselbstständigkeit getrieben. Sie haben zum 1. Januar einen Rechtsanspruch auf Teilzeit eingeführt, der die Personalplanung im Mittelstand massiv einschränkt. Jetzt wollen Sie auch noch die betriebliche Mitbestimmung ausweiten, was zu einer sehr hohen Kostenbelastung gerade der kleinen und mittelständischen Betriebe führen wird.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Wöhrl, es gibt eine Zwischenfrage der Kollegin Eva BullingSchröter. Lassen Sie diese zu?

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich möchte jetzt hier weitermachen. Ich möchte auf eines hinweisen - damit komme ich auf meinen Vorredner von der SPD zu sprechen -: Noch viel schwerer wiegt, dass Sie sich beharrlich weigern, sich an einer Änderung des Tarifsystems zu beteiligen. ({0}) - Ich glaube, ich bin eine der wenigen Kolleginnen und Kollegen, die in ihr Unternehmen sehr stark eingebunden sind, gerade auch mit Betriebsversammlungen, Betriebsräten und vielem anderem mehr. ({1}) - Sie können gern einmal zu einer Betriebsversammlung kommen. Da werden Sie sehen, wie gut ich mit meinen Betriebsräten zurechtkomme. ({2}) Aber dieses Tarifsystem - und darum geht es im Grunde genommen - verhindert eine stärkere Lohndifferenzierung nach Qualifikationen, nach Branchen und nach Regionen. Wir brauchen eine stärkere Lohnspreizung, um auch für die weniger Qualifizierten und die Langzeitarbeitslosen zukünftig den Einstieg in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Dieses Tarifsystem verhindert natürlich auch betriebsspezifische Regelungen ({3}) - das muss man hier auch sagen - zu Lohn und zu Arbeitszeit, wodurch Arbeitsplätze gesichert oder geschaffen werden können. Ich glaube, Sie müssen auch sehen, dass wir in einer veränderten Arbeitswelt leben. Wir brauchen flexiblere Bestimmungen und auch flexiblere Vergütungsmodelle. Wir sind ja nicht die einzigen, die das anmahnen. ({4}) Lesen Sie die Sachverständigengutachten, die diese Gesetzesreformen dringendst anmahnen. Ich möchte hier aus einem Brief zitieren, den der Herr Parlamentarische Staatssekretär Mosdorf am 2. Mai 2000 an die Abgeordnete Margareta Wolf - sie war damals noch nicht Staatssekretärin - geschrieben hat: Die arbeitsplatzrelevanten Entscheidungen wie die Frage gleichbleibende Arbeitszeit bei niedrigerem Lohn oder Verlängerung der Arbeitszeit bei gleichem Lohn und insbesondere die Frage Lohnverzicht gegen Arbeitsplatzgarantie sind Sache der Tarifparteien. Diese sind am besten in der Lage, die Ernsthaftigkeit der Bedrohung des Arbeitsplatzes und damit den Wert der Arbeitsplatzgarantie einzuschätzen. ({5}) Was haben Sie denn für Betriebsräte? Sie sind doch nicht unmündig. ({6}) Die Betriebsräte vor Ort können die Situation eines Unternehmens selbst einschätzen, wenn nicht sogar besser einschätzen als Gewerkschaftssekretäre und Arbeitgeberfunktionäre am grünen Tisch. Wir haben heute eine ganz neue Arbeitnehmerlandschaft. Arbeitnehmer sind heute unternehmerisch tätig. Sie sind schon heute in Entscheidungen eingebunden. Sie sind keine reinen Befehlsempfänger, wie Sie es als Funktionäre gerne haben möchten. ({7}) Ich darf weiter aus dem Brief von Herrn Mosdorf vorlesen. Er schreibt: Es ist zu begrüßen, im Rahmen der geltenden Gesetze und Tarifverträge für betriebliche Bündnisse zur Beschäftigungssicherung und -förderung einzutreten. Jetzt gesetzgeberisch einzugreifen würde diese tarifpolitischen Reformansätze unterlaufen und den Tarifvertragsparteien den notwendigen inneren Handlungsdruck für Reformen nehmen. Das ist doch Blödsinn, das ist doch reiner Unsinn, was hier geschrieben wird. Es gibt keineswegs in allen Tarifverträgen Öffnungsklauseln; das wissen Sie genau. Solange durch Reformen kein Handlungsdruck gegeben ist, wird sich das Tarifkartell nicht bewegen. Alles wird beim Alten bleiben. ({8}) Deswegen brauchen wir die gesetzgeberischen Reformen. ({9}) Wir brauchen eine Präzisierung des Günstigkeitsprinzips dahin gehend, dass eine Abweichung vom Tarifvertrag als günstig anzusehen ist, wenn sie zur Beschäftigungssicherung beiträgt. Eine längere Arbeitszeit und ein niedrigerer Lohn können in einer Überbrückungszeit notwendig sein. ({10}) Für mich ist es sehr bezeichnend, wie Sie von RotGrün reagieren, wenn sich eines Ihrer Mitglieder in einer hellen Stunde einmal Gedanken über die Reform des Tarifsystems macht. ({11}) Ich erinnere an die Aussage des Kollegen Schlauch. Er hat für sein Plädoyer zum Günstigkeitsprinzip doppelt eines auf den Deckel bekommen, nämlich einmal vom Bundeskanzler höchstpersönlich und dann von seiner eigenen Partei. ({12}) Ganz anders war es beim Wirtschaftsminister Müller. Er sagte dem „Tagesspiegel“ vom 2. Januar dieses Jahres, eine Änderung des § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes werde von ihm befürwortet. ({13}) Darauf gab es keine Reaktion. Dies lief nach dem Motto: Lasst ihn einfach reden, er richtet nichts aus. - Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls. ({14}) Ich bin gespannt, wie sich Frau Kollegin Wolf als Staatssekretärin zukünftig in ihrem Amt verhalten wird. Als sie nur Abgeordnete war, war sie in diesem Bereich sehr vollmundig. ({15}) Wir werden sehen, inwiefern sie ihre Ideen und Gedanken, die sie vor der Presse groß ausgebreitet hat, in ihrem Amt zukünftig umsetzen wird. ({16}) - Wir machen uns große Sorgen. Es geht um eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Es geht darum, dass unsere Unternehmen in der Zukunft wettbewerbsfähig sind und bleiben. In den festgefahrenen Strukturen können wir nicht mehr weiter verharren. ({17}) Sie, meine Damen und Herren von Rot-Grün, haben Reformen zurückgenommen und sich Reformen verweigert. Das ist - ich glaube, das kann man so sagen - der größte Negativposten, den Sie in Ihrer wirtschaftspolitischen Bilanz haben. Vielen Dank. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Wöhrl, ich weiß nicht, in welcher Realität Sie in dieser Woche gelebt haben. Ich habe am Dienstag die neuen Arbeitsmarktzahlen studiert. Sie haben zweierlei gezeigt: ({0}) Erstens. Im Gegensatz zum letzten Jahr ist die Arbeitslosigkeit um 1 Prozent gesunken. Zweitens. Im Gegensatz zum letzten Jahr ist die Beschäftigung um über eine halbe Million gestiegen. ({1}) Das sind die Fakten. Sie können hin und her reden, so viel Sie wollen. Aber Sie machen damit weder die Fakten ungeschehen noch die Erinnerung daran, dass Sie uns eine Arbeitslosigkeit von über 4 Millionen hinterlassen haben, die ihresgleichen sucht. ({2}) Lassen Sie mich zu dem Antrag der F.D.P. kommen. Dieser Antrag und auch die gestrige Debatte über die Mitbestimmung machen eines deutlich - das finde ich sehr schade -: Die F.D.P. schämt sich offensichtlich dafür, dass sie im Jahr 1972 ein Mitbestimmungsgesetz mitverabschiedet hat. ({3}) - Aber sicher; denn der Antrag, den Sie heute vorlegen, hat zum Kern, ein wesentliches Element dieses Betriebsverfassungsgesetzes, nämlich den § 77 Abs. 3, abzuschaffen und auszuhöhlen. Eigentlich finde ich, dass Sie sich, gerade in der heutigen Debatte um die zukünftige Mitbestimmung, eines noch einmal zu Gemüte führen sollten: dass sich nämlich gerade die Balance, die in der Bundesrepublik Deutschland zwischen der Tarifautonomie und der betrieblichen Interessenvertretung besteht, ({4}) im Wesentlichen auf den Tarifvorrang des § 77 Abs. 3 stützt und dass das Zusammenspiel von Tarifautonomie, von Tarifvorrang und betrieblicher Mitbestimmung viel damit zu tun hat, dass wir innerhalb der Betriebe in der Bundesrepublik Deutschland so etwas wie eine heilvolle, Frieden stiftende Wirkung bekommen haben. ({5}) Meine Damen und Herren von der F.D.P., das Spannende an dieser Debatte ist, ({6}) dass wir hier über Modernisierung und Reformen sprechen, und zwar auf der Basis einer nun doch allgemein und übrigens auch international anerkannten spezifischen deutschen Regelung, nämlich einer bestimmten Kultur der Kooperation. ({7}) Dazu gehört auch der Tarifvorrang des § 77 Abs. 3. Denn ich glaube, dass dieser eines der Rückgrate ist, vor dessen Hintergrund wir darüber diskutieren können und müssen, wie es uns gelingt, auch in Zukunft mehr betriebliche Bündnisse für Arbeit möglich zu machen. Diese brauchen wir selbstverständlich. ({8}) Selbstverständlich besteht eine globale wirtschaftliche Entwicklung, gerade auch regional eine Konkurrenzentwicklung, die betriebliche und regionale Reaktionen auf veränderte Realitäten auch im Sinne der Beschäftigungssicherung nötig macht. Aber dazu brauchen wir die Möglichkeit - sozusagen das Rückgrat für die Betriebe selber in Gestalt von Betriebsräten und quasi in Gestalt einer Rückfalllinie, die der Tarifvertrag liefert -, um betriebliche Bündnisse sicher zu machen. Ich denke, die Tatsache, dass wir diese spezifische Balance akzeptieren, unterscheidet uns sehr von Ihnen. Sie benutzen gerade die Diskussion um den § 77 Abs. 3 letzten Endes als Trojanisches Pferd unter der Überschrift „Beschäftigungssicherung“, um uns hier etwas ganz anderes zu verkaufen. ({9}) - Ich sage Ihnen gern etwas zu den Themen Tarifvorrang und Günstigkeitsprinzip. Denn natürlich ist es berechtigt, über diese Fragen zu diskutieren. Aber eines sage ich Ihnen noch einmal - das ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns -: Wir diskutieren die Frage der betrieblichen Vereinbarung nicht vor dem Hintergrund der Preisgabe der Tarifautonomie und des Tarifvorrangs. ({10}) Wir diskutieren diese Themen so, wie sie auch im Rahmen des Bündnisses für Arbeit angelegt sind. Dort wurde ein Kooperationsvertrag zwischen der BDA und dem DGB geschlossen, damit auf Basis des bestehenden Tarifvertragssystems Möglichkeiten gefunden werden, um mehr betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schaffen. Dies ist im Bündnis für Arbeit verabredet worden. Das ist die Basis, auf der wir hier diskutieren. Sie ist eine Basis, auf der wir versuchen, eine moderne Industriepolitik mit sozialer Sicherheit zu verbinden. ({11}) - Ganz genau, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Auch auf Ihren Zwischenruf kann ich nur antworten: Genau das ist modern: ({12}) nicht die Zerschlagung und das Abbauen von sozialen Strukturen, sondern das Anpassen von sozialen Strukturen, von Partizipation und Mitbestimmung in den Betrieben an die neuen Herausforderungen. ({13}) Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie hören es: Herr Niebel wirft wieder Nebel. ({14}) Aber trotzdem werde ich noch etwas zu dem Antrag der F.D.P.-Fraktion sagen. Sie behaupten, dass diese Debatte unter der Überschrift „Beschäftigungspolitik“ zu führen sei. Ich möchte Ihnen eines sagen: Diese rot-grüne Koalition nimmt die Beschäftigungspolitik sehr ernst. Das haben wir vom ersten Tag an getan. ({15}) Sie sollten still sein, weil Sie wirklich in dem berühmten Glashaus sitzen. Ich habe dazu eingangs ein paar Daten genannt. Ihre eigene Hinterlassenschaft ist schlimm genug. ({16}) Gerade der Sachverständigenrat, den Sie beispielsweise als Kronzeugen zitieren, hat zur Wirtschafts- und Konjunkturpolitik dieser Bundesregierung ganz deutlich gesagt, dass sie auf der Basis einer Steuer- und Abgabensenkung, einer konsequenten Senkung der Lohnnebenkosten und einer konsequenten Haushaltssanierung eine stabile und positive konjunkturelle Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland eingeleitet hat, deren positive beschäftigungspolitischen Effekte sich seit Herbst 1998 deutlich in den Statistiken widerspiegeln. ({17}) Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.: Von Ihnen brauchen wir keine Nachhilfe in Beschäftigungspolitik. Danke schön. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die F.D.P.-Fraktion.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe hier im Dezember die Grundzüge unseres Antrags vorgestellt und damals auch unseren Leitgedanken deutlich gemacht. Uns geht es darum, bessere Rahmenbedingungen für mehr Arbeitsplätze in unserem Lande zu schaffen. ({0}) Wir wollen verhindern, dass Arbeitsplätze aufgrund unzureichender Rahmenbedingungen verloren gehen. ({1}) Wir werden in unseren Bemühungen massiv von Ihrem Sachverständigenrat unterstützt. ({2}) Ich habe im Dezember aus seiner Stellungnahme zitiert und empfehle Ihnen, das im Protokoll nachzulesen. Sie haben damals - ebenso wie im Ausschuss und auch heute - mit einer sehr, ich muss das sagen, selbstgefälligen Argumentation, die schon an Arroganz heranreicht, unsere Argumente weggewischt ({3}) und gesagt: Am Arbeitsmarkt ist alles so toll, es gibt keinen weiteren Handlungsbedarf, wir machen das alles schon richtig. ({4}) - Und ich will Ihnen noch sagen, Herr Brandner, nach nunmehr zwei Monaten gibt es erste Anzeichen - ich sage Ihnen das, damit Sie später nicht behaupten können, Sie hätten es nicht gewusst - dafür, dass Sie vielleicht das Glück hatten, noch von den Ausläufern unserer Politik zu profitieren. ({5}) - Ich denke an UMTS und anderes. ({6}) Es gibt Anzeichen dafür, dass Sie jetzt in eine Phase kommen, in der die Dinge langsam für Sie schwieriger werden. Ich lese heute in der Zeitung, dass die Insolvenzen in Deutschland im letzten Jahr um 3,3 Prozent auf 27 500 gestiegen sind. ({7}) Die Prognose von Creditreform - eine ernst zu nehmende Institution - für das Jahr 2000 sagt einen erneuten Anstieg um 4 Prozent auf dann 28 600 Insolvenzen voraus. Ich rede hier nur von den Unternehmensinsolvenzen und nicht von Privatinsolvenzen, die noch dazukommen. Die Arbeitslosenzahl - das finden Sie anscheinend gar nicht so schlimm - ist zwar um 200 000 geringer als im Januar letzten Jahres; aber das ist noch nicht einmal das, was sich letztlich durch den demographischen Faktor begründen lässt. ({8}) Das heißt, die Tendenz am Arbeitsmarkt ist mittlerweile wieder rückläufig. ({9}) - Herr Brandner, der Euro steigt, er ist auf dem Weg zu einer Parität mit dem Dollar. Das heißt, der Motor der Exportwirtschaft wird zukünftig nicht mehr so rund laufen, wie das bisher der Fall gewesen ist. ({10}) Das Wachstum schwächt sich ab. Davon geht auch Ihre Prognose im Jahreswirtschaftsbericht aus. Die Zahl von Firmenneugründungen - das stimmt mich besonders nachdenklich - stagniert bzw. ist rückläufig. Auch dazu gibt es im Jahresgutachten Zahlen, die eine sehr deutliche Sprache sprechen. Danach hat die Zahl der selbstständigen Erwerbspersonen 1997 noch um 84 000 zugenommen, 1998 nur noch um 19 000, hat sich aber 1999 um 26 000 verringert und im Jahre 2000 um 17 000 zugelegt. ({11}) Das heißt, in diesen zwei Jahren haben Sie per saldo eine negative Gründungsbewegung. Das sind Indikatoren, die Sie nachdenklich stimmen sollten. Ich bitte Sie auf jeden Fall darum. ({12}) - Hochmut, Frau Kollegin Lotz, kommt vor dem Fall. Sie sollten unsere Vorschläge - eben weil sie der Sachverständigenrat so nachdrücklich unterstützt - wirklich ernst nehmen. Ich lese Ihnen noch eine Passage vor: Nach wie vor umstritten ist die in § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz festgelegte Unzulässigkeit von Betriebsvereinbarungen. Gleichwohl haben sich in der Praxis betriebliche Lösungen in großem Umfang durchgesetzt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Kolb, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, gerne. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Kolb, die Frage, die mir vorhin nicht beantwortet worden ist, stellt sich natürlich immer noch. Vielleicht können Sie mir die Frage beantworten, die ich vorhin schon dem Kollegen Brandner stellen wollte. Wir haben ja leider die Situation, dass im letzten Monat die Arbeitslosenzahlen auch saisonbereinigt wieder gestiegen sind und nicht einmal die demographische Entwicklung am Arbeitsmarkt widergespiegelt wird. Jetzt fordern Sie in Ihrer Neuregelung des Tarifvertragsrechts ein Mehr an Flexibilität, ein Mehr an Mitbestimmung der Belegschaft im eigenen Betrieb. ({0}) Könnte dieser Anstieg der Arbeitslosigkeit auch darin begründet sein, ({1}) dass die Wirkungen verschiedener Gesetzesvorhaben der Bundesregierung - von 630 Mark über die so genannten Scheinselbstständigen, Pflichtteilzeit, Betriebsverfassung bis hin zur Gängelung im Tarifvertragsrecht - auf die Wirtschaft psychologisch so negativ gewesen sind, dass keine Arbeitsplätze mehr geschaffen werden? ({2}) Stimmen Sie mir weiter zu, dass es für einen Arbeitnehmer günstiger sein kann, ({3}) kurzzeitig weniger Arbeitseinkommen zu haben, dafür aber langfristig einen Arbeitsplatz zu behalten? ({4})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Niebel, ich muss Ihnen leider zustimmen. Die zunächst noch positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, die aber jetzt zum Stocken kommt, ist trotz der gesetzgeberischen Maßnahmen der rot-grünen Bundesregierung zu verzeichnen gewesen. Natürlich hängen diese Gesetze - 630 Mark, Scheinselbstständigkeit - mit den Zahlen zusammen, die ich hier zum Existenzgründungsgeschehen vorgetragen habe, ({0}) weil man in der SPD offensichtlich nicht bereit ist, zur Kenntnis zu nehmen, dass es ein notwendiger Zwischenschritt von der Beschäftigung als Arbeitnehmer zum selbstständigen Unternehmer ist, dass man phasenweise sich so beschäftigt, wie es von Ihnen als Scheinselbstständigkeit diskriminiert wird. ({1}) Das heißt, dass ein Arbeitnehmer zunächst erst einmal für seinen bisherigen Arbeitgeber tätig ist, auch mit Familienangehörigen, und dann allmählich sein Unternehmen entwickelt. Sie haben also vollkommen Recht ({2}) und ich halte es wirklich für Arroganz, wenn die rot-grüne Koalition nicht bereit ist, diese grundlegenden Fakten zur Kenntnis zu nehmen, und so tut, als ob das, was sie in der Vergangenheit gemacht hätte, absolut richtig gewesen wäre. ({3}) - Herr Dreßen, ich will noch weiter zitieren aus diesem Sachverständigengutachten. Da heißt es: Offenbar besteht in den Betrieben in einem beachtlichen Umfang eine Bereitschaft für dezentrale Lösungen. Sonst hätten in den letzten Jahren viele Betriebsräte nicht einer vom Tarifvertrag abweichenden Betriebsvereinbarung zugestimmt. Man darf davon ausgehen, dass sie dies nicht gegen die Interessen der Belegschaft getan haben. Der Sachverständigenrat sagt weiter: Betriebsvereinbarungen haben sich in der Praxis bewährt. Das sollten Sie zur Kenntnis nehmen und das ist die Leitlinie unseres Antrages. ({4}) Bei unserem Vorschlag, § 77 Abs. 3 und auch das Günstigkeitsprinzip zu ändern, knüpfen wir das Ganze an ein Quorum. Das ist immerhin ein Stück Absicherung. Anders als bei Ihren Vorschlägen, wie Betriebsräte gewählt werden sollen - da genügt es vollkommen, wenn man mittags alleine eine Betriebsversammlung durchführt und sich selbst wählt -, schlagen wir vor, dass unsere Regelung nur dann greifen soll, wenn 75 Prozent der abstimmenden Arbeitnehmer einer solchen Regelung zustimmen. ({5}) Nur dann, Herr Brandner, soll das Verhandlungsergebnis auch Vertragsinhalt werden. ({6}) Damit ist der einzelne Beschäftigte ausreichend geschützt. ({7}) Unser Entwurf hat auch das Ziel, die Gesetzgebung wieder der realen Praxis, insbesondere in Ostdeutschland, anzupassen. Die Tatsache, dass man bei den ostdeutschen Arbeitgebern mangels Mitgliedschaft kaum noch von Tarifpartei reden kann, spricht doch für sich. Das heißt, wir müssen weg von der Auffassung der Verbandsgeschäftsführer, auch bei der BDA. Wir müssen uns den Anforderungen des 21. Jahrhunderts stellen. Das heißt, wir brauchen flexible, unbürokratische, individuelle Tariflösungen. ({8}) Es kommt immer das Argument, das Sie, Herr Brandner, heute auch vorgetragen haben: Es gibt ja Öffnungsklauseln. Dazu sage ich Ihnen: Die Öffnungsklauseln sind wie ein Konfektionsanzug, bei dem man ein bisschen Stoff herauslassen kann, wenn er nicht so richtig passt. Wir wollen aber Maßanzüge für den Mittelstand. Der Mittelstand ist unser Jobmotor; deswegen braucht er optimale Rahmenbedingungen. ({9}) Wir sind die einzige Partei - auf das Abstimmungsverhalten der Kollegin Wöhrl bin ich gespannt -, die die notwendigen Veränderungen bisher so klar formuliert hat. Unsere Vorschläge zur Änderung des Tarifvertragsgesetzes sind nicht isoliert zu sehen; vielmehr stehen sie in einem Gesamtzusammenhang mit unseren Vorschlägen zur Modernisierung des Kündigungsschutzgesetzes, mit einer an den tatsächlichen Erfordernissen orientierten Weiterentwicklung des Betriebsverfassungsgesetzes, mit verbesserten Möglichkeiten befristeter Beschäftigung und mit unserer klaren Ablehnung eines Rechtsanspruchs auf Teilzeitarbeit. ({10}) Wir wollen eine Entfesselung des Arbeitsmarktes. Wir wollen mehr Chancen für neue Arbeitsplätze und wir wollen die besten Entwicklungsmöglichkeiten für den Mittelstand. Wer das auch will, den bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag. Vielen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Klaus Grehn.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Kollege Kolb, nach so viel Widerspruch, den Sie erhalten haben, ({0}) will ich Ihnen mindestens in einem zustimmen: Sie schreiben in Ihrem Antrag: „Nach wie vor herrscht in Deutschland eine dramatisch hohe Arbeitslosigkeit.“ Ich glaube, das ist angesichts von über 4 Millionen Arbeitslosen, angesichts der großen stillen Reserve und angesichts jenes Teils der Arbeitslosen, den ich als „die Teilzeitarbeitslosen“ bezeichne - diese Menschen wollen voll arbeiten, müssen aber aufgrund der prekären Beschäftigungslage Teilzeit arbeiten -, wahr. Wenn Sie aber diesem Problem mit dem von Ihnen eingebrachten Antrag begegnen wollen, dann bringt das so viel wie Luftschaufeln. ({1}) Die Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit liegen eben nicht in dem starren Tarifsystem oder in der Lohnhöhe, wie Sie behaupten. Lassen Sie mich als Begründung zwei Tatsachen anführen, die Ihre Formel „Weniger Lohn und weniger Tarif gleich weniger Arbeitslosigkeit bei mehr Arbeitsplätzen“ widerlegen. Erstens. Die Steigerung der Löhne der deutschen Arbeitnehmer in der gewerblichen Wirtschaft um gut 2 Prozent im vergangenen Jahr war geringer als 1999. Seit Beginn der 90er-Jahre sind die Löhne real weniger als die Arbeitsproduktivität gestiegen. Trotzdem habe ich in keiner der mir zugänglichen Begründungen für das Sinken von Arbeitslosigkeit die Erklärung gefunden, das liege an den niedrigen Löhnen. Zweitens. In der ersten Lesung haben Sie, Herr Kollege Kolb - Sie werden sich erinnern -, in einem Zwischenruf gefragt: Was passiert denn in den neuen Ländern? ({2}) Die Antwort auf diese Frage führt Ihren Antrag allerdings ad absurdum. ({3}) Die Situation in den neuen Bundesländern ist durch einen hohen Anteil von Betrieben gekennzeichnet - dieser Anteil wächst -, die keinem Tarifvertrag beigetreten sind oder die sozusagen kalt austreten, und durch einen hohen Anteil von Betrieben, die trotz der Löhne, die ohnehin niedriger als in den alten Bundesländern sind, untertariflich bezahlen. ({4}) Nach Ihren Aussagen müssten die neuen Bundesländer dementsprechend ein Eldorado für Arbeitsplätze sein. ({5}) Aber das Gegenteil ist der Fall, Kollege Kolb - das wissen Sie so gut wie ich -: die höchste Arbeitslosigkeit trotz wachsender Abwanderungsquote und zunehmende Armut trotz mehr Erwerbstätigkeit. Das ist die Wahrheit im Osten. ({6}) Lassen Sie mich zwei weitere grundsätzliche Bedenken anmelden. Zum einen - da stimme ich dem Kollegen Brandner, wie in anderen Dingen auch, voll zu -: Das Tarifvertragsrecht ist Ausfluss des Sozialstaatsprinzips. Wer das Sozialstaatsprinzip angreift, der greift das Grundgesetz an. Mit Ihrem Antrag sind Sie auf dem Weg, das Grundgesetz zu missachten. ({7}) Wer anfängt, eine tragende Wand einzureißen, der muss damit rechnen, dass Teile des Hauses einstürzen. Lassen Sie die Finger von der tragenden Wand! Zum anderen: Was halten Sie eigentlich von dem Zusammenhang zwischen Leistungsfähigkeit, Leistungsbereitschaft und sozialen Lebenslagen? Die Durchsetzung Ihres Antrages würde für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft und für den Produktionsstandort Deutschland eine nicht hinnehmbare Schwächung bedeuten, also genau das Gegenteil von dem, was Sie eigentlich erreichen wollen, ganz zu schweigen davon, dass eine solche Entwicklung mit einer Politik der sozialen Gerechtigkeit, für die wir stehen, nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Wenn dieses Land neue Regelungen im Tarifrecht braucht, dann höchstens Regelungen, die das Aushöhlen und das Unterlaufen des Tarifrechts verhindern. Dagegen sollen die vorgeschlagenen Regelungen das deutsche Tarifsystem demontieren. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Olaf Scholz für die SPD-Fraktion. ({0}) Olaf Scholz [SPD]: Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der F.D.P. bringt große Probleme mit sich, weil er nicht ganz im Einklang mit unserer Verfassung steht. ({1}) Unsere Verfassung garantiert die Tarifautonomie. Nun kann man sich die Ausgestaltung der Tarifautonomie natürlich vielfältig vorstellen. Man kann sich aber nicht vorstellen, dass es eine Tarifautonomie gibt, bei der diejenigen, die gar keine Tarifpartner sind, nachher beschließen können, dass alles, was tariflich vereinbart worden ist, keine Gültigkeit hat. Im Prinzip schlagen Sie das vor. ({2}) Zum einen schlagen Sie vor, dass neben den Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die sich, wie von unserer Verfassung garantiert, zu Koalitionen zusammenschließen und Verträge miteinander schließen dürfen, auch ein Gremium, das keiner der beiden Tarifparteien angehört, nämlich die Versammlung der Belegschaft oder aber der Betriebsrat, ({3}) beschließen darf, dass die Beschlüsse der Tarifparteien nicht gelten. Auf diese Weise würde die Koalitionsfreiheit in unserem Lande abgeschafft. Das ist Inhalt Ihres Antrages und das steht nicht im Einklang mit der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. ({4}) Des Weiteren schlagen Sie vor - das läuft auf die gleiche Sache hinaus -, dass Betriebsräte gewissermaßen einen Tarifvertrag in der Form ändern können, dass anstelle von tariflich vereinbarten Löhnen eine Beschäftigungsaussicht tritt. Abgesehen davon, dass Sie in dieser Frage nicht konsequent sind, sonst müssten Sie festlegen, dass Beschäftigungsgarantie bedeutet, dass man in den nächsten zwei bis drei Jahren nicht gekündigt werden darf - so ist es eine abstrakte Beschäftigungsgarantie -, ist dieser Vorschlag identisch mit dem ersten Vorschlag, denn Sie schaffen die Möglichkeit, dass ein Gremium, das nicht zu den Tarifparteien gehört, Vereinbarungen der Tarifparteien aussetzen kann. Damit gefährden Sie sogar die Grundprinzipien unserer sozialen Marktwirtschaft. Diese beruhen unter anderem darauf, dass Betriebsräte in Deutschland von der gesamten Belegschaft gewählt werden und, anders als in allen anderen Ländern, keine Gewerkschaftsangehörigen sein müssen. Wenn Ihr Vorschlag durchkommt, führt das dazu, dass die Betriebsräte unmittelbar ({5}) zu Tarifpartnern werden und es zu Auseinandersetzungen über Gehaltserhöhungen in den Betrieben kommt. Damit wird ein zentrales Prinzip unserer Sozialordnung infrage gestellt. Sie sollten die Finger davon lassen. ({6}) Ich glaube übrigens, dass Sie damit auch den Arbeitgebern in unserem Lande keinen Gefallen tun. Natürlich beruht der Konsens, der unsere Wirtschaft trägt, darauf, dass gewissermaßen die betriebliche Ordnung vom Tarifkonflikt und von der Auseinandersetzung über Löhne freigehalten wird. Das ist auch der Sinn des Tarifvorranges. Sie wollen das alles ändern. Im Ergebnis erreichen Sie dadurch nur, dass es überall Auseinandersetzungen über diese Dinge geben ({7}) und es zu mehr Streit als bisher üblich kommen wird. ({8}) Im Übrigen muss man einen Punkt noch ergänzen; mir ist es ganz wichtig, das zu sagen. Sie haben eine klare Vorstellung davon, was unserer Wirtschaft nützt: niedrigere Löhne, nur niedrigere Löhne. Sie haben keine anderen Ideen; Sie sind überhaupt nicht intelligent und flexibel, Sie haben nicht viele Einfälle, sondern immer wieder nur den gleichen Einfall: niedrigere Löhne nützen. Sie irren sich. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Scholz, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage vom Kollegen Dr. Kolb. Lassen Sie die zu?

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Scholz, erklären Sie mir doch bitte einmal, warum bei Holzmann niedrigere Löhne über einen bestimmten Zeitraum offensichtlich nützlich waren und das sogar von Ihrem Bundeskanzler, wenn ich das richtig sehe, toleriert wurde, aber in anderen Fällen, wenn der Segen des Bundeskanzlers nicht erteilt wird, das nicht der Fall sein soll. Können Sie mir vielleicht bei dieser Gelegenheit auch sagen, wie Sie zu den Vorschlägen von Herrn Müller stehen und wie Sie beurteilen, dass die Bundesregierung offensichtlich heute hier nicht sprechen will? Liegt das vielleicht daran, dass es keine zwischen Herrn Riester und Herrn Müller abgestimmte Meinung gibt? ({0})

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte gerne zunächst auf den letzten Punkt antworten. Die Bundesregierung ist sich bei uns Abgeordneten der SPD und der Grünen so sicher, dass wir die Tarifautonomie im Gegensatz zu Ihnen wichtig finden, dass nicht sie das sagen muss, sondern wir Abgeordnete das sagen können. ({0}) Es gibt überhaupt kein Mitglied der Bundesregierung, das in dieser Frage anderer Meinung wäre, als ich hier dargestellt habe. ({1}) Das wünschen Sie sich, aber das wird durch Wünschen nicht so. ({2}) Das Zweite. Das Beispiel Philipp Holzmann ist ein völlig falsches und wird auch dadurch nicht richtiger, dass Sie es trotz vielfacher Belehrungen in diesem Haus und an anderer Stelle immer wieder bringen. Denn bei Philipp Holzmann hat etwas stattgefunden, was der Kollege Brandner und auch andere Redner hier schon dargestellt haben. Natürlich ist es völlig in Ordnung, wenn im Rahmen der tariflichen Ordnung mit Billigung der Tarifparteien Vereinbarungen getroffen werden, die Abweichungen für bestimmte Zeit enthalten. Das gibt es massenhaft. In Ostdeutschland gibt es lauter solcher Öffnungen. ({3}) Sie setzen sich nur ideologisch mit der Tarifordnung unseres Landes auseinander, aber nicht mit der Realität, die flexibler ist, als die F.D.P. überhaupt ahnen kann. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es gibt eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Dr. Kolb. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Scholz, wir alle haben das verfolgt. Man kann nicht sagen, dass insbesondere die mittelständischen Mitglieder des Tarifverbandes mit besonderer Begeisterung auf den Vorschlag, Erleichterungen für das Großunternehmen Holzmann zu ermöglichen, eingeschwenkt sind. ({0}) Vielmehr ist das offensichtlich auf massiven Druck der Gewerkschaften hinter den Kulissen geschehen. ({1}) Mein Punkt ist, dass in bestimmten Fällen, ({2}) wenn es den Gewerkschaften ins Konzept passt, von Tarifvereinbarungen abgewichen werden darf und in anderen Fällen, wenn sie glauben, es besser zu wissen, das nicht geschehen soll. Können Sie mir einmal diesen Widerspruch erklären?

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist ganz einfach. Denn es besteht gar kein Widerspruch. ({0}) Das war nicht einmal rhetorisch gelungen. Sie denken nicht zu Ende. Einerseits werfen Sie den Gewerkschaften, aber auch den Arbeitgeberverbänden vor, dass die Tarifordnung nicht flexibel sei. Wenn Ihnen dann aber vorgehalten wird, dass es doch Öffnungen und Flexibilität gibt, dann sagen Sie: Das ist aber nicht konsequent. Sie stellen sich eine Welt vor, die es gar nicht gibt, und kritisieren sie dann gewaltig. ({1}) Das sollten Sie ändern. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass unsere Wirtschaftsordnung davon lebt, dass wir sehr flexible Tarifparteien haben. Deshalb gibt es die Schwierigkeiten, von denen Sie sprechen, nicht. ({2}) Zweite Bemerkung. Sie haben vom Mittelstand gesprochen. Er hat das Problem, von dem Sie sprechen, gar nicht. Das Problem der mittelständischen Bauwirtschaft hat Herr Möllemann, als er noch Wirtschaftsminister war - bis zu diesem Chip -, mit eingebrockt, weil er mitgeholfen hat, dass auf der gleichen Baustelle die einen Leute 6 DM kriegen und die anderen Leute 28 DM kosten. ({3}) Wenn ich Sie konsequent verstehe, haben Sie das so gemeint: Löhne von 28 DM sind falsch; 6 DM sind gut. Aber dann sollen die Wähler das auch wissen. Da fällt mir eine ganz komische Begebenheit ein. ({4}) Mein DGB-Vorsitzender hat mich darüber aufgeklärt, dass die Hamburger F.D.P. am 1. Mai einen Stand machen will. Will sie da für die Abschaffung der Tarifautonomie demonstrieren, für die Beseitigung der Gewerkschaften? Was ist das für ein komischer Auftritt zum 1. Mai! ({5}) Wir haben eine sehr ordentliche Wirtschafts- und Sozialordnung. Sie hat viele Merkmale, zu denen wir uns bekennen, wenn wir auch Flexibilität und Modernisierung benötigen. Unsere Wirtschaftsverfassung lebt von freier Marktwirtschaft, aber auch von Kündigungsschutz, Sozialversicherung, Betriebsrat und Gewerkschaften. Sie wollen alle Teile außer der freien Marktwirtschaft in Frage stellen. ({6}) Ich sage Ihnen: Das würde sich bitter rächen, wenn Sie jemals die Chance hätten, so etwas durchzusetzen. ({7}) Wir haben auf dieser Basis eine erfolgreiche Wirtschaftsordnung aufgebaut. Wir werden sie auch in der neuen Wirtschaft zustande bekommen. Der Stolz jedes Unternehmens der IT-Branche, das neu entstanden ist, wird es sein, zum Beispiel einen Betriebsrat zu haben, endlich in einen Tarifvertrag einbezogen zu sein. ({8}) Das werden wir dann gemeinsam feiern können. Schönen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Heinz Schemken für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen sicherlich die notwendige Flexibilität, um Arbeitsplätze zu sichern. Aber wir können nicht zulassen, Herr Kolb, dass das Recht des Einzelnen, einen Tariflohn zu bekommen, durch eine Kollektivabstimmung innerhalb eines Betriebes ausgehöhlt wird. Nur der einzelne Mitarbeiter kann auf seinen Tariflohn verzichten. An dieser Rechtssituation kommen wir nicht vorbei. Da beißt die Maus keinen Faden ab. ({0}) Der Tarifvertrag ist eine wichtige Voraussetzung für die Tarifpartnerschaft. Wir wollen diese Partnerschaft erhalten, weil sie den Betriebsfrieden in der Vergangenheit gesichert hat und ihn auch heute noch sichert. Sie aber wollen die Flächentarifverträge abschaffen. Sie gefährden damit die Tarifautonomie und die Tarifpartnerschaft. Wir können dem nicht zustimmen. Allerdings sind wir durchaus der Meinung, dass ein flexibles Handeln auch im Hinblick auf das Günstigkeitsprinzip neue Möglichkeiten eröffnet. Wir sind offen für eine entsprechende Diskussion. ({1}) - Nein, wir eiern nicht herum. Der Unterschied zu Ihnen ist - das sage ich ausdrücklich -, dass ich keine Scheuklappen habe. ({2}) An der großen Zahl von fast 50 000 Tarifverträgen - hinzu kommen noch 6 000 Haustarifverträge - kann man erkennen, dass wir eine sehr unterschiedliche Landschaft haben, was die Tarifverträge und die sehr spezifische Situation in den einzelnen Branchen angeht. Wir möchten einerseits die Tarifhoheit aufrechterhalten; wir müssen aber andererseits über praktikablere Regelungen nachdenken. Auch Sie werden an solchen Überlegungen nicht vorbeikommen. ({3}) Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Kernfrage, ({4}) - nein, es geht um eine andere Frage -, wie die Mitwirkungsrechte weiter entwickelt werden können. Wir befinden uns im Moment in der Diskussion um diese Mitwirkungsrechte derArbeitnehmerschaft. Wir werden diese Diskussion in den nächsten Wochen fortsetzen. Entscheidend ist, dass wir die Mitwirkungsrechte so ausgestalten, dass die Arbeitnehmer die Möglichkeit haben, einen Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Betriebes zu erlangen, wenn es um Abweichungen von Tarifverträgen geht. Andernfalls können sie nicht in verantwortungsvoller Weise mitwirken. Wir lehnen jede kollektive Verantwortung ab und stellen ausdrücklich fest, dass angesichts der fortgesetzten Entwicklung der Informationsgesellschaft die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mündiger geworden sind. Es steht außer Frage, dass sie in der Lage sind, mitzuwirken und Verantwortung zu tragen. Wir erwarten eine sachliche Diskussion über das Betriebsverfassungsgesetz. Wir sind der Meinung, dass ohne einen Anspruch auf Mitwirkung im Betrieb eine Öffnung des Günstigkeitsprinzips nicht verantwortet werden kann. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen die Möglichkeit haben, zur Einsicht zu gelangen, dass sich der Verzicht auf Lohn oder auf andere Leistungen lohnt, um Arbeitsplätze zu sichern. Das ist für uns der ganz entscheidende Punkt. ({5}) Wir halten es für erforderlich, dass das Betriebsverfassungsgesetz geändert wird, und werden praxisnahe Lösungen im Hinblick auf die Betriebsverfassung anstreben. Aber es muss an der richtigen Stelle die richtige Änderung erfolgen. ({6}) Wir möchten insbesondere der Tatsache Rechnung tragen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie ich es eben schon gesagt habe, mündiger geworden sind. Wir treten dafür ein, dass sie im Betrieb mitwirken und die wirtschaftliche Situation eines Betriebes bewerten können, wenn es in einer schwierigen Situation um die Erhaltung der Arbeitsplätze geht. Deshalb sind wir für die Tarifautonomie und für die Tarifpartnerschaft. Allerdings sehen wir in der Frage der Betriebsverfassung für die Bundesregierung eine fast unlösbare Aufgabe. Da gibt es ja zwischen Herrn Müller und Herrn Riester große Unterschiede. Herr Riester hat gestern Herrn Müller einmal die Hand gedrückt. Aber er müsste das eigentlich 26-mal tun, denn er weicht 26-mal vom Regierungsentwurf, über den diskutiert wird, ab. ({7}) Im Übrigen möchten wir keine Fremdbestimmung von außen, sondern, weil es um mündige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geht, die Mitwirkung im Betrieb. Auch die Überwindung des Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit ist übrigens ein ureigenes Anliegen der CDU/CSU, und zwar seit 1952. ({8}) - Die Überwindung des Klassenkampfes zwischen Arbeit und Kapital war immer ein Anliegen der CDU/CSU und hat sich durch unsere Gesetzgebung und durch unsere Initiativen durchgesetzt. ({9}) Sie haben jetzt erstmals die Chance, auf diesem Weg der Tugenden fortzuschreiten. ({10}) Abschließend zu Ihrer Statistik der Arbeitslosigkeit. ({11}) Das muss einmal geradegerückt werden. Wir liegen bei fast 4,1 Millionen Arbeitslosen. ({12}) Die Witterung draußen ist so, dass ich heute wieder mal keinen Schal brauchte. ({13}) Was will ich damit sagen? Sie können sich nicht auf die saisonbereinigten Zahlen von 4,1 Millionen zurückziehen. Sie wären bei 4,6 Millionen Arbeitslosen ({14}) - ich komme gleich dazu -, wenn Sie nicht folgenden Effekt hätten: Die geburtenstarken Jahrgänge bringen es mit sich, dass Sie jährlich 200 000 Menschen in den verdienten Ruhestand schicken können. ({15}) Hinzu kommen die 630-Mark-Arbeitsverhältnisse, die in reguläre Arbeitsverhältnisse umgewandelt worden sind. ({16}) Die Frau Staatssekretärin hat diese Zahl mit 0,4 Prozent angegeben. Das wären dann noch einmal rund 250 000. ({17}) Das bedeutet, 250 000 Arbeitslose weniger aufgrund der demographischen Veränderung plus 200 000 Arbeitslose weniger aufgrund der 630-Mark-Arbeitsverhältnisse. Insofern wäre ich etwas vorsichtig mit Ihrer Feststellung, ({18}) dass nur anderthalb Jahre eine SPD-Regierung am Ruder sein müsste, um die Arbeitslosenzahlen zu verringern. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Bei der nächsten Konjunkturabschwächung werden wir wieder gemeinsam an diese Arbeit herangehen. Darüber werden Sie froh sein. Ich würde mich an Ihrer Stelle zu dieser Frage bescheidener verhalten.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Kollege Schemken, es gibt den Wunsch des Kollegen Olaf Scholz, eine Zwischenfrage zu stellen.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Haben Sie bei der Lektüre der verschiedenen Statistiken jeweils die Fußnote gesehen, in der steht: Die Veränderung durch die Einbeziehung der geringfügig Beschäftigten ist berücksichtigt, das heißt, die Zahlen sind insofern bereinigt? Sie sind also herausgerechnet worden, und damit trifft Ihre Aussage, dass die Umwandlung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse für die Zahl der Erwerbstätigen eine Rolle spielt, nicht zu. ({0})

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Scholz, 4,1 Millionen sind 4,1 Millionen, Fußnote hin oder her. ({0}) Wenn Sie die 200 000, die in den verdienten Ruhestand getreten sind, nicht als Entlastung hätten und wenn Sie die 630-Mark-Arbeitsverhältnisse nicht eingerechnet hätten, dann - davon können Sie ausgehen - läge die Arbeitslosenzahl bei über 4,5 Millionen. Hinzu kommen Ihre hehren Programme, das sage ich auch noch einmal. Bei aller Liebe zu den Programmen, die, was die jungen Arbeitslosen angeht, sicherlich hier und da ein guter Ansatz sind, so sind es eben doch staatliche Programme. Das ist nicht das, was wir alle miteinander wünschen: dass die Wirtschaft ausbildet und dass die Menschen über die duale Ausbildung in Arbeit kommen. Es sind staatliche Maßnahmen, die - damit rühmen Sie sich ja - fast 300 000 Menschen erfassen. Wenn Sie diese noch hinzurechnen, sieht die Lage noch dramatischer aus. Was heißt das? Wir müssen gemeinsam daran arbeiten. Jedes einzelne Arbeitslosenschicksal ist eines zu viel. Darüber sind wir uns alle einig. Dafür wollen wir aber nicht solche Gesetze schaffen. Wir können nicht zustimmen, weil es nicht hilft. Dennoch bitte ich Sie, etwas nobler mit uns umzugehen. Vielleicht haben Sie uns eines Tages bitter nötig. Schönen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Klaus Brandner das Wort.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Sowohl Herr Kolb als auch der Kollege Heinz Schemken haben die Arbeitslosenzahlen und die Arbeitsmarktdaten angesprochen. Ohne Frage werden wir mit der Opposition und insbesondere auch mit einem so angenehmen Kollegen wie dem Kollegen Schemken fair und offen umgehen. Das versteht sich von selbst. Aber zu den Daten möchte ich doch klar sagen: Erstens drückt sich der positive Trend am Arbeitsmarkt durch einen deutlichen Zugang von offenen Stellen aus, nämlich durch einen Zuwachs auf 484 000 im Monat Januar. Das ist ein deutlich positives Ergebnis. Zweitens haben sich die Erwerbstätigenzahlen mit denen die Arbeitsplatzentwicklung dargestellt werden kann, ({0}) nach vorläufigen Angaben des Statistischen Bundesamtes im November 2000 gegenüber dem Vorjahresmonat ebenfalls deutlich um 549 000 auf 39,08 Millionen erhöht. Ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen. Daran ist zu erkennen, dass die Arbeitslosigkeit auch durch den Zuwachs an neuen Arbeitsplätzen deutlich reduziert worden ist. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kolb, Sie könnten jetzt nur eine Kurzintervention bezüglich des Beitrages des Kollegen Schemken machen. Eigentlich hätte jetzt der Kollege Schemken die Möglichkeit zu erwidern. ({0}) Das muss noch einmal geklärt werden. ({1}) Okay. Es ist geklärt. Der Kollege Kolb bekommt jetzt die Chance, sich zu erklären, weil er in dieser Kurzintervention angesprochen worden ist. ({2})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Ich danke für diese Entscheidung, die ich sehr weise finde. ({0}) Ich habe mich nicht gemeldet, weil mich der Kollege Brandner in seiner Kurzintervention nicht als angenehmen Menschen erwähnt hat. Damit kann ich leben. Ich habe mich vielmehr gemeldet, weil ich ihm noch einmal klar vor Augen führen will, wie unsere Einschätzung der Entwicklung am Arbeitsmarkt ist. Herr Kollege Brandner, was die Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen anbelangt, so kennen Sie sie im Moment so wenig wie wir. Wir wissen, dass sie erst mit Verzögerung von der Bundesanstalt für Arbeit bekannt gegeben werden. Wir kennen die Arbeitslosenzahlen und wir wissen, dass diese - auch nach Aussage der Bundesanstalt für Arbeit - saisonbereinigt derzeit steigen. Das ist ein Faktum. Wir haben als Bundesregierung auch Phasen erlebt, in denen wir innerhalb kurzer Zeit enorme Beschäftigungszuwächse zu verzeichnen hatten. Einmal waren es 26 Millionen Beschäftigte, kurz darauf 29,5 Millionen Erwerbstätige in Deutschland. Konjunktur ist keine Einbahnstraße. Auch Sie werden Phasen erleben, in denen die Erwerbstätigenzahl rückläufig ist. Ich sage Ihnen jetzt schon: Mit dem Hochmut, mit dem Sie heute argumentiert haben, wird Ihnen der Arbeitsmarkt um die Ohren fliegen. Ich will noch eines ergänzend ansprechen, was ich in meiner Darstellung vorhin nicht erwähnt habe. Das ist die Investitionsneigung insbesondere des Mittelstandes. Ich bin öfter vor Ort, spreche mit dem Mittelstand. ({1}) So war ich am Montag dieser Woche bei einer Vertreterversammlung meiner örtlichen Volksbank. Der Vorstandssprecher hat erklärt, dass die Zahl ({2}) - Herr Brandner, hören Sie doch zu; das ist wichtig für Sie - der Anträge auf Investitionsdarlehen im letzten Jahr von 2 000 auf 1 400 zurückgegangen sei. Herr Brandner, das ist ein Erdrutsch. Das heißt, weite Bereiche des Mittelstandes enthielten sich offensichtlich bereits im vergangenen Jahr, bedingt durch die Gesetzgebung, die Sie vorgenommen haben, jeglicher Investitionen. Ich sage Ihnen: Das wird sich durch die Veränderungen bei der Abschreibung, die Sie vorgenommen haben, noch verschärfen. Wenn Sie sich weiterhin weigern, solche Frühindikatoren zur Kenntnis zu nehmen, dann werden Sie massive Probleme mit einem sehr hohen Sockel an Arbeitslosigkeit bekommen, sobald wir in die nächste konjunkturelle Schwächephase eintreten. Und das wird - das ist absehbar - noch zu Ihrer Regierungszeit sein. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Arbeit und Sozialordnung zum Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Reform des Tarifvertragsrechts. Es handelt sich um die Drucksache 14/5214. Der Ausschuss emp- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2612 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Raumordnungsbericht 2000 - Drucksache 14/3874 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Europäisches Raumentwicklungskonzept ({2}) - Auf dem Wege zu einer räumlich ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung der EU - zu dem Entwurf der Mitteilung der Kommission an die Mitgliedstaaten über die Leitlinien für eine Gemeinschaftsinitiative betreffend die transeuropäische Zusammenarbeit zur Förderung einer harmonischen und ausgewogenen Entwicklung des europäischen Raums Anlage des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung: Transnationale Zusammenarbeit in der Raumentwicklung - zur der Entschließung des Europäischen Parlaments zu dem Entwurf der Mitteilung der Kommission an die Mitgliedstaaten über die Leitlinien für eine Gemeinschaftsinitiative betreffend die transeuropäische Zusammenarbei zur Förderung harmonischen und ausgewogenen Entwicklung des europäischen Raums ({3}) - Drucksachen 14/1388, 14/1616 Nr. 1.4, 14/3207 Nrn. 2.2 und 2.1, 14/3947 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Götz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner spricht der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann.

Achim Großmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000735

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung legt dem Parlament heute den Raumordnungsbericht 2000 vor. Dieser neue Raumordnungsbericht legt in mehrerlei Hinsicht neue Grundlagen. Erstmals seit 1983 haben wir einen Bericht zur räumlichen Situation im vereinten Deutschland, einschließlich der europäischen Perspektiven, erarbeitet. Damit ist eine überfällige Bestandsaufnahme der Situation in den Teilräumen des Bundesgebietes und die notwendige Aktualisierung der Daten und Planungsgrundlagen erfolgt. Der Raumordnungsbericht enthält erstmals als integralen Bestandteil einen umfassenden Überblick über den Einsatz der raumwirksamen Bundesmittel. Dies ist natürlich besonders im Hinblick auf die neuen Bundesländer von Bedeutung. ({0}) Weiterhin ist der Raumordnungsbericht 2000 der Bundesregierung entsprechend der Novellierung des Raumordnungsgesetzes erstmalig vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung in enger Abstimmung mit dem BMVBW erstellt worden. Ich meine, der Bericht ist so gut geworden, dass man den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung an dieser Stelle wirklich einmal danken sollte. ({1}) Aus der Fülle der Aussagen, Trends und Analysen des Berichtes, die wir sicherlich nur im Ausschuss intensiver diskutieren können, will ich einige Eckpunkte hervorheben. Erstens. Wir haben in Deutschland hohe Standortqualitäten. Die deutsche Raum- und Siedlungsstruktur hat auch im internationalen Maßstab eine sehr hohe Qualität. Natürlich gibt es Defizite, gerade aus der letzten Zeit, was beispielsweise die Infrastruktur betrifft. Wir müssen daran arbeiten - das zeigt der Bericht -, diese Defizite gerade im Infrastrukturbereich abzubauen. Das tun wir mit hohen Investitionen insbesondere im Infrastrukturbereich. Zweitens. Der Bericht zeigt noch einmal die Vorteile einer dezentralen Raumstruktur. Wir haben in Deutschland eine polyzentrische Entwicklung; wir haben schon oft darüber gesprochen. Sie ist von Vorteil - das zeigt sich ganz deutlich -, aber wir müssen aufpassen, dass sich diese polyzentrische Entwicklung auch bestätigt. Das heißt, wir müssen stärker als bisher darauf achten und darauf hinwirken, dass Regionen besser zusammenarbeiten. Drittens. Der Bericht zeigt, dass wir den Aufbau Ost auf hohem Niveau weiterführen müssen. Wir haben in unserem Hause durch das Vorziehen des Schlussstrichs beim Altschuldenhilfe-Gesetz, durch die Art und Weise, wie wir mit den Leerständen umgehen bzw. wie wir den Städten helfen, sich auch unter negativen Gesichtspunkten zukunftsfähig weiterzuentwickeln, aufgezeigt, wie man die Aufgabe Aufbau Ost innovativ und kreativ weiterführen kann. Ich denke, auch das zeigt erste gute Ergebnisse. ({2}) Viertens. Es geht um den Ausbau von Zentren. Ich prophezeie - das tue ich nicht zum ersten Mal -, dass sich die Stadtentwicklungspolitik in Wirtschaftsstandortpolitik wandeln wird. Nur in Städten, die eine soziale Balance und eine gute Verkehrsinfrastruktur haben, die Mobilität sicherstellen und den Alltag der Menschen organisieren helfen, werden sich auf Dauer Arbeitsplätze schaffen lassen. Wir müssen also weiter großen Wert darauf legen, solche Zentren zu entwickeln. Fünftens. Die ländlichen Regionen müssen in ihrer Leistungskraft erhalten bleiben. Wir stellen aber fest, dass es d e n ländlichen Raum nicht mehr gibt, sondern dass es ganz unterschiedliche Entwicklungen gibt. Ziel muss es sein, die Leistungspotenziale der ländlichen Regionen auszubauen. Dabei kann es keine Förderung nach dem Gießkannenprinzip geben. Wir müssen uns vielmehr auf gezielte Maßnahmen im ländlichen Raum konzentrieren. Sechstens. Wir müssen die Mobilität erhalten und ausbauen. Dazu zählen - das habe ich soeben schon erwähnt - hohe Investitionen in die Infrastruktur. Siebtens. Die europäische Raumordnung gewinnt an Bedeutung. Das wird evident, wenn man hier in Berlin Richtung Osten schaut und daran denkt, dass sich die Europäische Union demnächst erweitern wird. Wir müssen also großen Wert darauf legen, die Raumordnung und Raumentwicklung über die derzeitigen Grenzen der Europäischen Union hinaus aktiv weiterzuentwickeln. Wir haben dazu mit EUREK, mit dem Europäischen Raumentwicklungskonzept, beigetragen, das unter der deutschen EU-Präsidentschaft erarbeitet worden ist. Ein letzter Gedanke: Der Begriff „Raumordnung“ ist relativ sperrig. Viele können sich darunter nichts vorstellen. Ich habe gestern mit der Staatssekretärin Ines Fröhlich aus Sachsen-Anhalt über einige landespolitische Probleme gesprochen. Da ging es um FOC bzw. um FOCähnliche Entwicklungen an der Landesgrenze von Sachsen-Anhalt zu Sachsen, um den Ausbau der Infrastruktur, also um die Weiterführung der A 14 Richtung Norden, und Vizepräsidentin Petra Bläss um die Problematik der Wohnungsleerstände und der schrumpfenden Städte. All diese Probleme, die im Alltag sowohl die Landesregierung als auch die Bundesregierung beschäftigen, haben etwas mit Raumentwicklung, mit Raumordnung zu tun. Deshalb sollten wir die Chance nutzen, diesen wirklich sehr guten Raumordnungsbericht im Ausschuss intensiv zu beraten. Wir können daraus viel für die Sektoren- und Fachpolitiken lernen, die sich nicht immer der Raumordnungspolitik unterordnen wollen, die es aber zunehmend tun sollten. Vielen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Peter Götz.

Peter Götz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000705, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute im Deutschen Bundestag den seit mehr als sieben Monaten in der parlamentarischen Warteschleife schlummernden Raumordnungsbericht debattieren, so ist dies spät, sehr spät. Es macht deutlich, welchen Stellenwert letztlich die Raumordnungspolitik und die Städtebaupolitik bei Rot-Grün haben. Übrigens, der Begriff Raumordnung wurde bei der Neubildung des zuständigen Ministeriums ganz gestrichen. Herr Staatssekretär, Raumordnungsfragen sind für eine nachhaltige Zukunftspolitik bedeutend und müssen herunter vom Abstellgleis. Der Raumordnungsbericht setzt nach Auffassung der CDU/CSU die hohe Qualität seiner Vorgängerberichte fort. Der letzte stammt übrigens nicht, wie Sie, Herr Staatssekretär, soeben festgestellt haben, von 1983, sondern von 1993 und war wegen seiner erstmaligen fundierten Aussagen über die raumordnerischen Perspektiven nach der Wiedervereinigung von besonderem Interesse. Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung hat den Raumordnungsbericht 2000 erarbeitet; dafür bedanken auch wir uns. Die Regierung hat den Bericht nicht nur spät, Herr Staatssekretär, sondern auch noch mit gleichgültigen Allgemeinplätzen und substanzlosen Ankündigungen kommentiert. ({0}) Ich zitiere zwei Beispiele: „Eine Politik der Innenstadtstärkung und -förderung“ sei notwendig, heißt es da. Dies ist völlig richtig. Aber wann und mit welchen Inhalten erfolgt dies? Das zweite Zitat lautet: In den neuen Ländern sind - Sie haben es angesprochen - „die wohnungswirtschaftlichen, städtebaulichen und sozialen Aspekte des Wohnungsleerstandes gleichermaßen zu berücksichtigen“. Dies ist richtig; aber der bloße Hinweis auf die Berufung einer Expertenkommission offenbart alles andere als Tatendrang und Entscheidungsfreude. ({1}) Wir sollten uns deshalb auch die von unserer Fraktion seit langem geforderte und vor kurzem endlich vorgelegte Raumordnungsprognose bis 2015 anschauen: Dort wird deutlich angemahnt, dass die Wohnungsbautätigkeit unter rot-grüner Regie „an einem Niveau angelangt ist, das langfristig nicht unterschritten werden sollte“. Es war persönliches Pech, dass an demselben Tag, an dem der Minister behauptete, die Einbrüche beim Eigenheim- und Mietwohnungsbau seien eine weiche Landung, die Institute ihm mit weit pessimistischeren Prognosen in die Quere kamen. Ich begrüße ausdrücklich, dass wir die nationale und die europäische Raumordnung zusammen debattieren; denn der Einfluss Europas auf unsere Entwicklung wird immer stärker. Wir brauchen dringend mehr Aufmerksamkeit für die Entscheidungen aus Brüssel. Da hat diese Regierung ein Riesendefizit. Der deutsch-französische Motor für Europa ist ins Stocken geraten. Wir brauchen nur heute wieder Zeitung zu lesen. Das kann auch nicht durch Sauerkrautessen des Bundeskanzlers im Elsass ausgeglichen werden. Hier ist mehr notwendig. ({2}) Schauen wir uns den Raumordnungsbericht an. Europa kommt ganz am Schluss zur Sprache - auf 15 Seiten von über 300; das macht gerade einmal 5 Prozent aus. ({3}) Diese Regierung verschläft wichtige Weichenstellungen in der Europapolitik. Die Frage der Zuständigkeiten und die Frage der Kompetenzen wurden in Nizza auf die lange Bank geschoben. Wir brauchen, um in der Bevölkerung eine Akzeptanz für Europa zu erreichen, eindeutig geregelte Zuständigkeiten. Ferner muss das für Deutschland wichtige Subsidiaritätsprinzip, das von der Kohl-Regierung im Vertrag von Amsterdam festgeschrieben wurde, weiterentwickelt werden. Wir brauchen eine Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung auf europäischer Ebene. Es muss durchgesetzt werden, dass die Zuständigkeiten für die Europäische Kommission abschließend festgeschrieben werden; dann hört das Kompetenzgerangel zwischen den Ebenen auf und es gibt klare Verantwortlichkeiten und Transparenz. Aber was tut die Bundesregierung auf diesem Gebiet? ({4}) Nichts. Dem Kanzler ist es allemal egal und der Außenminister prüft, ob er Steine auf einen Polizisten oder einfach nur so in die Luft geworfen hat. ({5}) Doch zurück zum Europäischen Raumordnungskonzept, zum EUREK. Für uns ist es wichtig, dass EUREK kein Dokument der Europäischen Kommission darstellt, sondern ausschließlich im Sinne der Subsidiarität als Ergebnis mitgliedstaatlicher Zusammenarbeit gesehen wird. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion legt Wert auf die Feststellung, dass EUREK keine neuen Kompetenzen für die Europäische Union begründen darf. Dabei muss es bleiben. ({6}) Um negative Auswirkungen auszuschließen, ist darauf hinzuwirken, dass dort, wo die Rechte der Kommunen aus Art. 28 unseres Grundgesetzes in Bezug auf ihre Planungshoheit berührt werden, das Subsidiaritätsprinzip auf keinen Fall ausgehöhlt werden darf. Wir erleben es seit zwei Jahren in Deutschland, dass sich die Bundesregierung genau umgekehrt verhält: Kosten werden immer wieder auf die Kommunen und ihre Haushalte geschoben. Dafür gibt es dort neue Aufgaben ohne Kostenausgleich, ({7}) sei es durch das Umpolen von Rentnern zu Sozialhilfeempfängern oder sei es durch das Einkassieren von 100 Milliarden DM UMTS-Erlösen zulasten der Kommunen und der Länder - um nur einige wenige Beispiele der jüngsten Zeit zu nennen. Das ist nicht nur unanständig, sondern auch - ich behaupte - verfassungswidrig. ({8}) Meine Damen und Herren, wenn Sie sich das EUREK genau anschauen, werden Sie viele der von CDU und CSU geforderten raumordnungspolitischen Ziele klar und deutlich wiederfinden. ({9}) Wir haben bis 1998 die Bau- und Raumordnungsgesetze so novelliert, dass eine nachhaltige Entwicklung möglich ist. Schon heute gilt die Zeit mit den Bauministern Töpfer und Oswald als eine große Ära der Städtebau- und Raumordnungspolitik. ({10}) Mehr denn je ist eine Zusammenarbeit der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften über nationale Grenzen hinweg erforderlich. Die von Klaus Töpfer eingeleitete grenzüberschreitende Kooperation ist in der Versenkung verschwunden, obwohl dringender Handlungsbedarf besteht. Ich greife das auf, was Sie, Herr Staatssekretär, gesagt haben. Ich nenne die Stichworte Fabrikverkauf oder FOC - Factory Outlet Center, wie das so schön neudeutsch heißt. In Grenzregionen spielen Investoren die Gemeinden diesseits und jenseits der Grenze bei der Ansiedlung großflächiger Einzelhandelsbetriebe, meist auf der grünen Wiese, gegeneinander aus. Was tut die Bundesregierung? - Nichts, nur Gespräche, Gespräche, Gespräche. Das ist zu wenig. Es besteht dringender raumordnungspolitischer Handlungsbedarf, der sich nicht im Schlafwagen erledigen lässt. Nationale Genehmigungsbehörden stoßen an ihre Grenzen. Wir brauchen keine neuen Behörden. Wir brauchen vielmehr grenzüberschreitende Konsultationsmechanismen; wir brauchen eine gegenseitige grenzüberschreitende Unterrichtung. Der Deutsche Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung hat Leitlinien für die Ausarbeitung grenzübergreifender Konzepte entwickelt. Es lohnt sich, diese Leitlinien aufzugreifen. Handeln Sie, meine Damen und Herren auf der Regierungsbank! Unser Land in der Mitte Europas hat Binnengrenzen und räumliche Bezüge wie kein anderes. Das macht Arbeit. Darin liegen aber auch Chancen für die Entwicklung über die Grenzen hinweg, nun auch nach Polen und in die Tschechische Republik. Das alles sind wichtige Aufgaben, um die sich ein Bauund Raumordnungsminister - sofern es ihn geben sollte dringend kümmern sollte. Vielleicht ist die heutige Debatte dafür ein Anstoß; es wäre gut für die Menschen in Europa und für die Menschen in unserem Land. Herzlichen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Daten und Prognosen des Raumordnungsberichts zeigen uns, dass wir an zwei Stellen noch Handlungsbedarf haben. Von daher denke ich, dass wir keine Sonntagsreden halten sollten, sondern uns den Themen stellen sollten, die uns nicht nur kurzfristig, sondern auch in den nächsten Jahren herausfordern werden: Das erste Thema sind die überall im Lande ungebremst fortschreitenden Suburbanisierungstendenzen in den Ballungsgebieten - in West und Ost -, das zweite Thema die anhaltenden Entleerungsprozesse in eigentlich fast allen Regionen von Ostdeutschland außer dem Umland von Berlin. Wir sollten uns beiden Themen mit großer Ernsthaftigkeit widmen, ({0}) zumal es da überhaupt keine Schnelllösungen gibt. Daher werbe ich dafür, dass wir das als gemeinsame Aufgabe betrachten, nicht als Parteiprofilierungsthema. ({1}) Lassen Sie mich ein paar Sätze zur Suburbanisierung, zur Zersiedlung sagen. Es ist tatsächlich so, dass die Bevölkerungsdynamik in den großen Ballungszentren und deren Umland inzwischen deutlich zulasten der Kernstädte geht. Wir finden inzwischen selbst in großen Schwerpunkten wie Hamburg, Frankfurt und München die Situation vor, dass die Bevölkerung in den Kernstädten deutlich abnimmt, an der Peripherie aber überproportional zunimmt. Neben dieser Entleerung aus den Städten in den Umlandring gibt es auch eine Entleerung des ländlichen Raumes in das Umland der Ballungszentren. Auch das wird zunehmend ein Problem werden. Das ist eine Entwicklung, die zunehmend dramatische Folgen für unsere Städte hat. Ich klammere wegen der kurzen Zeit einmal den ländlichen Raum aus, obwohl ich auch die Diskussion darüber, welche Handlungsschritte dort nötig sind, für sehr wichtig halte. Die Städte dürfen nicht weiter geschwächt werden, sondern müssen die Chance bekommen, ihre Funktion als Wohnstandort neu und wieder zu gewinnen. Das heißt, wir dürfen nicht immer nur erstens nach mehr Wohnungsbau und zweitens nach mehr Eigenheimen rufen - das ist die Tendenz, die bisher die Politik beherrscht hat -, sondern müssen von der bisherigen grundsätzlichen Orientierung auf Siedlungserweiterung zur Pflege und Weiterentwicklung des Siedlungsbestandes übergehen. ({2}) Das bedeutet auf der einen Seite Bestandserneuerung, das bedeutet auf der anderen Seite Neubau im Siedlungsbestand, Aktivierung von Brachen und Lücken und so weiter. Wir haben das hier schon öfter diskutiert. Es gibt durchaus Chancen zu diesem Umsteuern, denn wir haben auch im Bestand Flächenpotenziale. Die Experten sagen, dass die Siedlungsflächenzunahme durch politisches Handeln von derzeit 17 Prozent auf 7 Prozent gesenkt werden kann, wenn die politischen Parameter Schritt für Schritt in diese Richtung verändert werden. Ich denke, das ist die Herausforderung, der wir uns in den nächsten Jahren stellen müssen. Wir müssen uns auch den umfangreichen Aufgaben in der Bestandserneuerung stellen. Wir müssen die Städte familiengerecht ausbauen; sie müssen wieder kinderfreundlich und überschaubar werden. Wenn wir auf der einen Seite wissen, dass das Einfamilienhaus nicht das Bild der Zukunft sein kann, mit dem wir unser ganzes Land weiterentwickeln können, müssen wir auf der anderen Seite sagen: Der Achtgeschosser ist es auch nicht. Wir können durch Überverdichtung in den Städten kein familiengerechtes Wohnen schaffen. Von daher ist sowohl die planerische als auch die stadtentwicklungspolitische Konzeption, Idee und Fantasie gefragt, in dieser Form städtische Wohnungen familien- und kindergerecht zu entwickeln und auch das Wohnumfeld und die Verkehrspolitik und Verkehrsplanung entsprechend zu entwickeln. ({3}) Lassen Sie mich noch ein zweites Thema ansprechen, das mir besonders am Herzen liegt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, bevor Sie das tun, gibt es eine Frage. Franziska Eichstädt-Boling: ({0}): Okay.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Bitte, Herr Kollege Goldmann.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, Sie werden im „Weserkurier“ mit einer Aussage zu dem Bereich zitiert, den Sie gerade angesprochen haben. Es geht um die Eigenheimzulage. Es wird berichtet, dass Sie sagen, man solle die Eigenheimzulage nicht mehr für Bauten im Außenbereich geben, sondern nur noch beim Bau in innenstädtischen Bereichen. Ist also Ihre politische Überlegung, den Zuschuss zu kürzen, wenn eine Familie ein Eigenheim auf der grünen Wiese oder im Außenbereich baut, und eine höhere Förderung für den Eigenheimbau in innenstädtischen Bereichen zu gewähren?

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich glaube, dass wir es nicht schaffen werden, in dieser Legislaturperiode die Eigenheimzulage zu reformieren. Aber ich halte es für wichtig, dass wir die Zeit bis zur nächsten Legislatur nutzen, um die Diskussion darüber zu führen, an welchen Stellen diese gesetzliche Regelung reformiert werden muss, um nachhaltige Siedlungsentwicklungen zu stärken. Dazu gehören aus meiner Sicht zwei wichtige Parameter, über die wir zunächst diskutieren, bei denen wir dann aber auch politisch handeln müssen. Das ist die Verstärkung der Bestandsorientierung gegenüber der jetzt dominierenden Neubauorientierung. Wir fördern jetzt den Neubau mit 5 000 DM pro Familie - ohne Baukindergeld - und den Bestandserwerb mit 2 500 DM. Es bedarf zumindest einer Angleichung und Verstärkung der Bestandsorientierung. Das kann man mit Investitionen verbinden. Ich möchte jetzt nicht ins Detail gehen, obwohl ich es sehr nett finde, dass Sie mir diese Frage gestellt haben. ({0}) Auf der anderen Seite müssen wir aber auch überlegen - denn es geht mir nicht um Neubaufeindlichkeit -, inwieweit wir eine Regionalisierung in der Neubauförderung oder gegebenenfalls in beiden Ebenen, in der Bestands- und der Neubauförderung erreichen, indem wir das Bauen in den Städten verstärkt fördern, aber nicht die ständige weitere Zersiedelung. ({1}) Im Moment halte ich es für das Allerwichtigste, die Bestandsförderung zu stärken. Wollen Sie, dass ich die Antwort noch weiter ausführen? Ich kann gern noch einen Vortrag halten.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wollen Sie die Eigenheimzulage staffeln, je nachdem, wo derjenige, der das Geld in Anspruch nehmen will, baut?

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich finde es nett, dass Sie die Antwort noch einmal haben wollen. Ich habe Ihnen eben deutlich gesagt, dass ich in dieser Legislaturperiode keine Veränderung am Eigenheimzulagengesetz fordern würde, dass ich aber mittel- und langfristig, das heißt für die nächste Legislaturperiode, beide Parameter, den Regionalisierungsfaktor und die verstärkte Bestandsorientierung, für diskussions- und entscheidungswichtig halte. ({0}) Gestatten Sie, Herr Kollege Goldmann, dass ich noch einige Sätze zu dem Thema der Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in West und Ost sage. Ich möchte das hervorheben, weil ich glaube, dass dies vielen gar nicht bewusst ist: Das Raumordnungsgesetz verpflichtet uns ausdrücklich, auf die räumlichen und strukturellen Ungleichgewichte zwischen Ost- und Westdeutschland einzugehen, sie auszugleichen, und es verpflichtet uns, die räumlichen Voraussetzungen für die EU-Erweiterung zu schaffen. Das beides sind gesetzliche Vorgaben, die an die Politik die Anforderung stellen, Ostdeutschland zu stärken. Wir sollten auch bei diesem momentan strittigen Thema nicht mit Aktuellen Stunden Pingpong zwischen den Parteien spielen, sondern uns sehr ernsthaft mit der Entwicklung in Ostdeutschland auseinander setzen, wo sich zeigt, dass sich seit 1997 die Schere zwischen Ost und West wieder weiter öffnet, statt dass sie sich Zug um Zug schließt. Wir haben dort das Problem der extrem hohen Arbeitslosigkeit, das Problem des Bevölkerungsrückgangs, das Problem der Wirtschaftsstrukturschwäche und das große Problem des Wohnungsleerstands. Das sind Themen, denen wir uns sehr wohl wiederum nicht im Schnellschuss, sondern kontinuierlich widmen müssen. Insofern möchte ich alle Beteiligten bitten, es nicht als eine gönnerhafte Geste zu sehen, dass wir dem Osten etwas besonders Gutes tun. Vielmehr ist es unsere gesetzliche Pflicht, in dieser Form zu handeln. Wir müssen erkennen, dass Ostdeutschland die Suburbanisierung, die Westdeutschland in 30 bis 40 Jahren erfahren hat, im Zeitraffer erlebt, sodass die Kombination von Bevölkerungsrückgang und Zersiedelung zum entscheidenden Problem wird. Wir verbinden Zersiedlung immer mit anhaltendem Bevölkerungswachstum. Vor unserem inneren Auge tauchen München, Stuttgart oder Frankfurt auf. Wir haben es aber in Ostdeutschland bei dem Thema Zersiedlung mit sinkender Bevölkerungszahl und Überalterung der Bevölkerung zu tun. Im ländlichen Raum haben wir das Problem, dass die Bevölkerung über kurz oder lang stark überaltert sein wird, weil die jungen Leute entweder abwandern oder in die Städte gehen, wo sie Arbeit finden. Wir müssen uns dem Thema Ostdeutschland in einer sehr differenzierten Form widmen. Wir müssen zwischen den Regionen unterscheiden, die als Wachstums- oder Tourismusregionen durchaus gute Chancen zur Entwicklung haben, und anderen Regionen, bei denen es darum geht, den Status Quo zu halten, die Bevölkerung - ich meine vor allem junge Menschen - zu halten und die Wirtschaft mit aller Kraft zu konsolidieren. Insofern werbe ich dafür, differenzierte Leitbilder zu entwerfen und den Grenzregionen, die in Hinsicht auf die EU-Osterweiterung eine neue Verantwortung bekommen, in besonderer Weise Hilfe zukommen zu lassen. Ich möchte dafür werben, für Ostdeutschland differenzierte Leitbilder statt Klischees zu setzen. Man darf den Osten weder besonders positiv noch besonders negativ sehen. Man muss genau hinschauen. Dann finden wir auch Lösungs- und Handlungswege. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Michael Goldmann für die F.D.P.-Fraktion.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Vorlage des Raumordnungsberichtes 2000 des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, eines Gemeinschaftswerks mit dem BMVBW, wird ein neuer und guter Weg beschritten, der die Wechselwirkung zwischen den bestehenden und den zukünftigen nationalen und internationalen bis hin zu den globalen Auswirkungen außerordentlich qualifiziert darstellt. Der Raumordnungsbericht ist eine wirklich fundierte Grundlage, auf der es zukünftig aufzubauen gilt und die es auch zu nutzen gilt. ({0}) Der Kollege Götz von der CDU hat es schon angesprochen: Der Bericht ist grenzüberschreitend, europäisch orientiert, berücksichtigt aber auch das Wechselspiel zwischen den Ballungsräumen und dem Umland. Ich finde es sehr gut, dass das BBR mit neuen Medien dazu beitragen will, dass die Informationen, die dort vorliegen, jedem für die politische Arbeit zur Verfügung stehen. Das tut der Arbeit im Bund, in den Ländern wie auch im kommunalen Bereich und dem Zusammenwirken mit Fachorganisationen nur gut. Lassen Sie mich nun auf einige Dinge sowohl unterstützend als auch kritisch eingehen. Zur Bevölkerungsentwicklung: Interessant ist die Feststellung, die in dem Bericht, der in weiten Teilen rückwärts gerichtet ist und auch noch die Zeit der Vorgängerregierung erfasst, zum Ausdruck gebracht wird: Nur durch die natürliche Bevölkerungsentwicklung, ohne Zuwanderung von Ausländern könnte der Bevölkerungsstand keineswegs gehalten werden. Deswegen liegt die F.D.P. mit ihrem Zuwanderungssteuerungs- und begrenzungsgesetz hundertprozentig richtig. Ich glaube, es ist dringend geboten, dies endlich in die Tat umzusetzen. ({1}) Ich finde es positiv, dass in dem Bericht klar wird, welch eine enorme und politisch wichtige Aufgabe es für uns ist, die Integration von Ausländern in Deutschland noch weiter zu fördern. Im Bereich von Beschäftigungsentwicklung und Strukturwandel sind - da bin ich sicher - die Betrachtungen im Bericht zu positiv. Es ist nicht mehr so, dass eine rege Investitionstätigkeit stattfindet. Gerade die Bauwirtschaft spürt es im Moment sehr deutlich. Die InvestiFranziska Eichstädt-Bohlig tionen sind auch vor dem Hintergrund falscher politischer Weichenstellungen durch die Bundesregierung nach unten gegangen. ({2}) Dem muss meiner Meinung nach energisch entgegengetreten werden. Sie sollten darüber nachdenken, ob nicht zum Beispiel Ihre Mietrechtsvorstellungen in eine völlig falsche Richtung gehen. Interessant und überraschend ist der Beschäftigtenbesatz. Das ist ein unglückliches Wort, weil es schließlich um Menschen geht. Er hat sich zwischen Ost- und Westdeutschland ungefähr angeglichen. Das Verhältnis beträgt 418 zu 427 Erwerbstätige je 1 000 Einwohner. ({3}) - Nein, das hat nichts mit dem Wegsterben zu tun, sondern mit großen Anstrengungen, Frau Ostrowski. Ich denke, auch Sie haben den Bericht gelesen. Sie können hier zu keinem anderen Ergebnis kommen. Ich will nachher noch mit einigen Zahlen belegen, dass in diesem Bereich viel getan worden ist. Der anhaltende Verstädterungsprozess wird beschrieben. Es gibt Empfehlungen, ähnliche Wege wie die Region Stuttgart oder die Region Hannover zu gehen. Ich bin dafür, dass man diesen Weg geht. Aber ich bitte auch sehr nachdrücklich, dass darauf geachtet wird - von uns allen, aber besonders von der Bundesregierung -, dass die ländlichen Räume dabei nicht zu kurz kommen. ({4}) Denn ein Ballungsraum an der einen Stelle, sozusagen in der Stärke der Metropole, hat so viele Vorteile gegenüber dem ländlichen Raum, dass dieser - wenn man ihn nicht besonders pflegt - hinten herunterfällt. Ich bin sowieso der Meinung, dass die Darstellungen zum ländlichen Raum im Bericht insgesamt zu positiv sind. Ich finde es nicht gut, dass in diesem Bericht zwischen ländlichem Raum und peripherem ländlichen Raum unterschieden wird. Man sollte sehr deutlich sagen, dass der periphere ländliche Raum enorme Strukturschwächen hat: Er leidet unter Arbeitsplatzmangel sowie unter unzureichender Infrastruktur und hat, auch für junge Menschen, zum Teil eine geringe Attraktivität. Dies mindert die Zukunftschancen dieser Räume. Für mich und meine Fraktion leite ich persönlich daraus eine besondere Verpflichtung der Politik für den ländlichen Raum ab. ({5}) Ich warte darauf - ich denke, das sollten wir gemeinsam tun; in diesem Punkt hat der Kollege Götz Recht; denn diese Sache muss mit mehr Tempo vorangetrieben werden -, dass die Bundesregierung ihrer Koalitionsvereinbarung entsprechend eine integrierte regionale und strukturpolitische Anpassungsstrategie für ländliche Räume erarbeitet. Zurzeit kann ich hier nicht sehr viel erkennen. ({6}) - Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist einfach sehr, sehr schwierig: Die Bahn zieht sich aus dem ländlichen Raum zurück, BSE ist für den ländlichen Raum eine Katastrophe, und die Einrichtungen des Bundes ziehen sich aus dem ländlichen Raum zurück. Morgen werden wir ja eine Diskussion darüber führen, inwieweit zum Beispiel Bundeswehreinrichtungen in den ländlichen Räumen bleiben, um dort Arbeitsplätze zu sichern. ({7}) - Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Landkreis Emsland verliert mit einem Handstreich 1 500 Arbeitsplätze. Das hat für den ländlichen Raum enorm große Auswirkungen. Ich denke, in diesem Punkt sollten wir uns im Grunde genommen einig sein. ({8}) Lassen Sie mich, nachdem ich über den ländlichen Raum gesprochen habe, ein besonderes Gewicht auf das legen, liebe Kollegin Ostrowski, was in den neuen Ländern getan worden ist. Auch wenn Sie die Dinge an der einen oder anderen Stelle manchmal nicht so sehen wollen, wie sie sind, müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen, dass in Kapitel 8 des Berichtes ganz klar gesagt wird: Von 1991 bis 1998 sind 1 826 Milliarden DM an raumwirksamen Mitteln verausgabt worden. Davon ist der weitaus überwiegende Teil den neuen Ländern zugute gekommen. Nach der Einbindung der neuen Länder in den Länderfinanzausgleich - ({9}) - Das steht in dem Bericht. Das ist nicht von mir. Der Bericht ist im Zusammenwirken mit dem Ministerium zustande gekommen. Zum Beispiel im Jahre 1998 sind von 13,5 Milliarden DM 11 Milliarden DM in die neuen Länder geflossen. Ich finde, das ist eine großartige Leistung der Politik, eine großartige Leistung unserer Gesellschaft insgesamt und zeigt eine hohe Fürsorgehaltung gegenüber den Menschen in den neuen Ländern. Ich bin stolz darauf und freue mich darüber. Wir sollten diesen Prozess fortsetzen. ({10}) Ich möchte noch einen Bereich ansprechen, in dem auch Zahlen genannt werden und der angesichts der aktuellen Diskussion um die Landwirtschaft interessant ist. Es wird ausdrücklich betont, dass man darauf setzen soll, eine multifunktionale Landwirtschaft zu erhalten. Hier fordere ich wirklich etwas mehr Vernunft in der Sache. Denn ich glaube, nur Dummheit fordert ein Gegeneinander von ökologischer und konventioneller Landwirtschaft. ({11}) Nein, wir brauchen beide Säulen, um im ländlichen Raum und in der Lebensmittelwirtschaft insgesamt erfolgreich zu sein. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Goldmann, Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, Frau Präsidentin. Eine letzte Bemerkung: Raumordnerische Zusammenarbeit nimmt in Europa einen immer höheren Stellenwert ein. Ich bin froh, dass auch die Europäische Union das so sieht. Auch bin ich dafür, dass wir klar sagen, was die Aufgabe Europas ist und was unsere Aufgabe ist. EUREK, INTERREG und ähnliche Programme helfen, Arbeitsplätze bei uns zu sichern und Zukunftsarbeitsplätze zu schaffen. Der Bericht ist eine gute Grundlage für gemeinsames Arbeiten in diesen Bereichen. Ich bedanke mich für diesen Bericht. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht die Kollegin Christine Ostrowski für die PDS-Fraktion.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Den Autoren dieser seriösen Analyse gilt mein Respekt. Das sage ich aus vollem Herzen. Eigentlich hätten sie es verdient, dass wir diesen Bericht in der Kernzeit behandeln. Denn das, was sie analysieren - die Verteilung der Bevölkerung, der Arbeitsplätze und der Infrastruktur -, sind Bedingungen, die weitaus dominanter sind als so manch anderes Thema, über das hier sehr heftig und mit tagespolitischem Geschwätz diskutiert wird. ({0}) Der Bericht soll eine Frühwarnung sein, so schreibt die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme. Sie hat Recht, er ist eine Frühwarnung. Ich bin mir nur nicht so sicher, ob er von der Politik tatsächlich als Frühwarnung begriffen worden ist. Sie gestatten, dass ich das wegen der Kürze der Redezeit nur an einem Beispiel festmache. Auch ich rede - ich habe mich gefreut, Frau EichstädtBohlig, dass Sie das angesprochen haben - von der Bevölkerungsentwicklung im Osten Deutschlands, weil ich der Meinung bin, dass der Politik überhaupt nicht klar ist, was sich im Osten Deutschlands vollzieht. Ich meine nicht allein die Abwanderung, die schon für sich genommen schlimm genug ist. Allein die Tatsache, dass der Osten über eine Million Menschen verloren hat, hat lang anhaltende und nachhaltige Folgen. Viel schlimmer ist aber die natürliche Bevölkerungsentwicklung. Sie können in diesem Raumordnungsbericht nachlesen, dass die Sterberate im Osten derart hoch ist, dass wir es mit einem rasanten Rückgang der Bevölkerung im Osten zu tun haben werden. Das Land Sachsen wird im Jahre 2100 noch so viele Einwohner haben wie Berlin heute. Dieser natürliche Bevölkerungsrückgang ist durch nichts einzudämmen. Selbst wenn jetzt statistisch jede Frau zwei Kinder bekäme und die weiblichen Nachkommen wieder je zwei Kinder, würde es mindestens 80 Jahre dauern, den Prozess der Bevölkerungsentwicklung umzukehren. ({1}) Es muss jedem klar sein, was diese Bevölkerungsentwicklung für die Zukunft der Wirtschaft bedeutet. Heute schon fehlen den Kindergärten die Kinder, den Wohnungen die Mieter und morgen braucht man in einem Ort nicht mehr zehn Friseure, sondern nur noch fünf, und nicht mehr acht Bäcker, sondern nur noch vier. Den Einkaufszentren werden die Käufer fehlen. Die Grafiken des Berichtes machen das in plastischer Weise klar. Man sieht die Grenze zwischen West und Ost ganz deutlich. Bei der Darstellung der Bevölkerungsentwicklung sehen Sie ganz Ostdeutschland in Blau, das bedeutet Sterbeüberschüsse. Sie sehen die Arbeitsmarktentwicklung in Ostdeutschland hellbraun herausgehoben. Das heißt, dort findet man die vielen Arbeitslosen. Sie sehen bei der Darstellung des Kaufkraftindex Ostdeutschland hellblau hervorgehoben. Selbst der höchste Kaufkraftanteil in ganz Ostdeutschland liegt noch unter dem vergleichbaren Wert der Grenzregion in Westdeutschland. In grüner Farbe sehen wir die strukturschwachen ländlichen Räume und können nachvollziehen, dass sie sich in Ostdeutschland konzentrieren. Sie können Faktor für Faktor in diesem Raumordnungsbericht heranziehen und werden vom Grundsatz her auf jeder Karte die Grenze zwischen West und Ost erkennen können. Wir müssen zu einer Politik kommen, die durch zwei Elemente gekennzeichnet ist: Die Politik, die die Verhältnisse nicht kurzfristig ändern kann, muss zur Kenntnis nehmen, dass sie es im Osten Deutschlands mit einem Bevölkerungsschwund zu tun hat. Sie muss diesen Bevölkerungsschwund mit entsprechenden Maßnahmen begleiten. Das bedeutet, dass es nicht zu Konkursen von Wohnungsunternehmen kommen darf. Sie muss solche Brüche und Verwerfungen vermeiden. Gleichzeitig muss die Politik dafür sorgen, dass die Kinder, die heute in Ostdeutschland geboren werden, dieses Land so lebenswert finden, dass sie dort ein Leben lang wohnen bleiben wollen und den Wunsch haben, selber Kinder zu bekommen. Diese Nachkommen müssen dann wieder Kinder bekommen. Nur darin liegt die Chance, Ostdeutschland zu einer Zukunft zu verhelfen; denn Ostdeutschland hat eine Zukunft, doch wird diese wahrscheinlich anders aussehen, als man es sich vorgestellt hat bzw. heute noch vorstellt. Die alten Wachstumsphilosophien kann man in den Papierkorb werfen. ({2}) Die Zukunft wird anders aussehen. Aber man muss sich ihr stellen. Die Politik muss dafür drei Komponenten entwickeln: Erstens. Man muss wissen, dass es ohne viel Geld nicht abgehen wird. Ich weiß, wie es sich mit dem Geld verhält. Aber wenn Sie heute nicht die nötigen Mittel einsetzen, wird es morgen noch teurer. Zweitens. Sie werden zur Umsetzung der Maßnahmen Konzepte brauchen. Einen Großteil davon finden Sie in dem Bericht. Drittens. Wir müssen im Zusammenhang mit diesem Thema auch an Strukturen denken. Ich nenne zunächst ein kleines Beispiel und komme dann auf einen größeren Zusammenhang zu sprechen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Ostrowski, es muss nicht nur klein, sondern sogar mini sein, da Ihre Redezeit vorbei ist.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich nenne nur ein kleines Beispiel. Bitte überlegen Sie sich einmal, ob es sinnvoll ist, das Problem des Ostens hier im Bundestag nur durch einen Unterausschuss abhandeln zu lassen. Letzte Bemerkung: Stellen Sie sich für einen Moment vor, Herr Stoiber hätte als Ministerpräsident nicht nur die Verantwortung für Bayern, sondern für ein Land, das aus Bayern und Sachsen bestünde. Stehenden Fußes würde sich radikal alles ändern, und zwar politisch, mental, wirtschaftlich und strukturell. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Als nächste spricht die Kollegin Gabriele Iwersen für die SPD-Fraktion.

Gabriele Iwersen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000998, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ostrowski, dass Sie hier ständig die Politik ansprechen, die endlich aufwachen soll, wundert mich sehr. Ich dachte, Sie seien auch politisch tätig. Dass die Welt sich nicht nur in Ost und West teilt, haben Sie eigentlich auch schon zur Kenntnis nehmen können; denn die Strukturschwächen und -stärken verteilen sich innerhalb der Bundesrepublik, zu der auch der Osten gehört, sehr unterschiedlich. Nun zurück zu dem Bericht, von dem ich nur sagen kann, dass er vorzüglich ist, und zwar deshalb, weil er praktisch ein Standardwerk darstellt, das alle, die sich mit Raum- und Siedlungsstruktur befassen wollen oder müssen, geradezu dazu animiert, endlich einmal über den Tellerrand zu gucken. ({0}) Besonders positiv ist mir auch der Umgang mit der deutschen Sprache aufgefallen. Die Erläuterung der Fachbegriffe, um die Diskussion endlich einmal auf eine vernünftige Grundlage zu stellen, halte ich ebenfalls für sehr gut gelungen. ({1}) Der Bericht zeigt Chancen und Risiken der Bevölkerungs- und Arbeitsmarktentwicklung, der Urbanisierung, der Suburbanisierung, der wirtschaftlichen Dynamik in Abhängigkeit von Infrastrukturangeboten, Baulandpreisen, Entwicklungspotenzialen und -engpässen, und das Ganze teilweise noch im europäischen Vergleich. Keine Lobhudelei, sondern solide Arbeit und zum Teil richtig spannend zu lesen! Ich könnte den Bericht jedem empfehlen, auch denen, die schon geredet haben. ({2}) Der Bericht zeigt mit teilweise erschreckender Offenheit, wie allen raumordnerischen Bemühungen zum Trotz die Siedlungsflächen in Deutschland sprunghaft anwachsen, und das schon seit 40 Jahren oder noch länger. Vor allen Dingen wachsen sie sehr viel stärker an als die Bevölkerung, oder sogar umgekehrt: Die Bevölkerung ist rückläufig, das Siedlungsflächenwachstum aber immer weiter positiv. Und sie wachsen stärker an als die Zahl der Erwerbstätigen. Diese Siedlungsflächenzunahme in den vergangenen Jahrzehnten war die Folge des beginnenden Wohlstandes. Die Wohnfläche stieg im Westen innerhalb von 40 Jahren von 15 Quadratmetern pro Einwohner auf 38 Quadratmeter. Die Veränderung, die sich anschließend im Osten abgespielt hat, verlief in dem von Frau Eichstädt-Bohlig schon angesprochenen Zeitraffertempo nicht viel anders. Die veränderte Haushaltsstruktur mit den Ein- und Zwei-Personen-Haushalten hat natürlich kräftig dazu beigetragen. Aber dann kam das Auto. Das Auto braucht zu Hause einen Stellplatz oder eine Garage, es braucht einen Stellplatz vor dem Arbeitsplatz, einen vor dem Einkaufszentrum, einen vor dem Theater. Überall werden Flächen gebraucht, nur um dieses verdammte Auto unterzubringen, bis hin zum Waldesrand; und alles muss natürlich maschinenreinigungsfähig sein. Die Straßen wurden immer breiter, das weiß jeder. Sie wurden durch Standspuren und Parkbuchten ergänzt. Flughäfen streckten ihre Start- und Landebahnen in alle Richtungen aus. Das ist nichts Neues, das hat sich so ergeben. Im Westen und im Süden ging es schneller los und hat sich schneller vollzogen, der Norden war immer etwas langsamer und nun zieht der Osten nach. Die Tendenzen sind überall gleich und das Ergebnis ist ein geradezu wahnsinniger Flächenverbrauch, der so einfach nicht weitergehen kann. ({3}) 1950 betrug die Siedlungsfläche pro Bürger noch 350 Quadratmeter - für alles zusammen, für Arbeit, Wohnen, Mobilität und Freizeit - und im Jahre 1997 waren wir schon bei 500 Quadratmetern pro Bürger, Tendenz auch hier steigend. Als die Städte aus den Nähten platzten, setzte die Suburbanisierung ein. Die Umlandgemeinden wuchsen und wuchsen und wuchsen. Entstanden in den 60er- und 70erJahren die Schlafstädte im Umland der Kernstädte - allen sind wahrscheinlich die grünen Witwen noch im Gedächtnis - , so hat in den 80er-Jahren im Wesentlichen ein überproportionales Wachstum der Verkehrsflächen stattgefunden. In den 90er-Jahren dagegen hat sich der Prozess der Suburbanisierung grundlegend verändert. Da wird es spannend und da wird es eigentlich auch gefährlich. Trotz umfangreicher Potenziale an baureifen Flächen in den Städten, also an innerstädtische Gewerbebrachen, Konversionsflächen, Baulücken und dergleichen, wachsen in den Umlandgemeinden die Flächen für Arbeitsstätten, für Handel, für Dienstleistungen, für Industrie bis hin zur öffentlichen Verwaltung auf der bis dahin noch grünen Wiese. Bei den grünen Witwen ging es um separate Ringe mit Wohnbebauung. Jetzt entstehen komplette Städte. Die niedrigen Baulandpreise, die gute Erreichbarkeit des Umlandes und zum Teil auch einfachere und schnellere Baugenehmigungen haben zu der für die Kernstädte geradezu bedrohlichen Entwicklung geführt. Jetzt ist es nicht mehr nur das Einkaufszentrum auf der grünen Wiese, das die Kaufkraft aus der Innenstadt abzieht, sondern ein vielfältiges Angebot an Arbeitsplätzen sowie an Wohn- und Freizeitparks. Die ganze gewerbliche Infrastruktur der Innenstädte droht dabei wegzubrechen. ({4}) Kultur, Bildung und Tourismus allein können die Innenstädte nicht retten. Die Aufgaben der Städte, die ihnen zum Beispiel im System der zentralen Orte als Ober- oder Mittelzentrum zugewiesen sind, nämlich gegenüber dem Umfeld bestimmte Dienstleistungen zu erbringen, sind so nicht mehr zu erfüllen. Denn diese Kommunen, die Kernstädte, brauchen natürlich auch Bürger, die sich mit ihrem Wohnumfeld identifizieren und Handel, Wandel sowie - das ist ganz wichtig - ausreichend Steuerkraft am Leben erhalten. Das System der Suburbanisierung bewirkt natürlich auch, dass Steuerkraft abwandert. Das klassische Instrument der Raumordnung, nämlich die Festlegung des städtischen Siedlungssystems durch die Landesentwicklungspläne, droht wirkungslos zu werden. Wir können uns hier über all das vorzüglich unterhalten, was der Bund machen müsste. Die Landesentwicklungspläne sind aber an und für sich die Grundlage für die Entwicklung im ganzen Lande. Wenn diese Pläne nicht eingehalten werden, dann nützt das alles überhaupt nichts. ({5}) Zu viele Abweichungen - natürlich immer wirtschaftlich begründet - torpedieren die Aufgabenverteilung zwischen den zentralen Orten und ihren Verflechtungsbereichen. Jede Gemeinde schöpft ihre Planungshoheit aus, wägt sorgfältig ab, vergibt Baurechte über Baurechte, um steuerpflichtige Neubürger, Gewerbesteuerzahler und dergleichen zu gewinnen. Im benachbarten zentralen Ort sieht sie nur den Konkurrenten. Darin scheint einer der wesentlichen Fehler im augenblicklichen Verhalten der Kommunen untereinander zu liegen. Die Suburbanisierungswelle verlagert sich immer weiter von den Zentren weg, weil die Baulandpreise dort immer niedriger sind. Daraus lässt sich natürlich etwas machen. Das Beispiel Leipzig ist sehr detailliert beschrieben. Dass ich das erwähne, heißt nicht, dass ich mich gegen die im Osten angewandten Regelungen wenden möchte. Das Beispiel Leipzig veranschaulicht diesen Prozess einfach sehr plastisch. Im Westen ist es sehr ähnlich abgelaufen; aber in Leipzig war die Entwicklung noch gravierender. In Leipzig begann es mit dem Bau von Einkaufszentren auf der grünen Wiese. Ein Zentrum, der Saale-Park, hat 86 000 Quadratmeter Verkaufsfläche. Als ich das hörte, dachte ich: Ich kann es nicht fassen; das ist ja ganz unmöglich. Dieses Einkaufszentrum hat 16 000 Quadratmeter mehr an Verkaufsfläche, als die ganze Innenstadt von Leipzig zu bieten hatte. Allein im Zeitraum von 1989 bis 1997 hat die Stadt Leipzig 83 500 Einwohner verloren. Von Siedlungsdruck, der mehr Menschen dazu gezwungen hätte, im Umland zu bauen, konnte wirklich nicht die Rede sein. Die Innenstadt stirbt aus und außen blüht das Leben. Trotzdem wurden im Umfeld von Leipzig noch 1 600 Hektar Gewerbefläche baurechtlich genehmigt. Dazu kamen Projekte wie Geschosswohnungsbau, Freizeitparks und anderes. Manche Gemeinden im Umland konnten in dieser Zeit ihre Einwohnerzahlen tatsächlich verdoppeln. Die förderungs- und abschreibungsabhängige Entwicklung, die vor allem zulasten der Kernstadt geht, widerspricht aber allen in den Landesentwicklungs-, Regional- und Flächennutzungsplänen genannten Zielen der Innenentwicklung. Durch die Umverteilungsprozesse innerhalb der gesamten Stadtregion müssen Infrastruktureinrichtungen in der Innenstadt schließen - Frau Ostrowski, Sie haben das schon angesprochen -, während sie in den Umlandgemeinden fehlen. Um nachzurüsten - Kindergärten, Schulen und dergleichen -, fehlt das Geld. In der Kernstadt stagnieren Gebäudesanierung, Baulückenschließung und Reaktivierung von Brachflächen; denn die Investoren orientieren sich einfach nur am Baulandpreis - das ist für sie das einzig Wichtige und sehen nicht, dass die Stadtregion auf die Attraktivität der Kernstadt angewiesen ist. Dieses Beispiel beweist, dass die Ordnungsstrategien der durch die Länder zu betreibenden Raumordnung noch keine volle bzw. zum Teil überhaupt keine Wirkung entfalten. Auch von Nachhaltigkeit kann keine Rede sein, denn das Ziel heißt eigentlich: Zersiedelung vermeiden und ungesteuerte räumliche Ausuferungen unterbinden. Wenn jetzt nicht die Zeit um wäre, würde ich Ihnen gerne noch etwas über das System selbst erzählen. Wir verteilen im Vorhinein die einzelnen Aufgaben für die Bereiche: Je nachdem, ob ein Ort Ober-, Mittel- oder Unterzentrum ist, hat er gewisse Leistungen zu erbringen. Dazu muss er auch in der Lage sein. Wenn aber seine Leistungsfähigkeit durch das eigene Umland zu stark geschwächt wird, kann das System nicht funktionieren. Trotzdem muss man sagen, dass im Grunde genommen diese Aufgabenverteilung, wie sie in Deutschland nun schon seit langem durchgeführt wird, ein wesentlicher Faktor des Standortes Deutschland ist. Wir sollten diese nicht aufgeben, sondern darauf achten, dass ihre Möglichkeiten besser zum Zuge kommen. Ich bedanke mich für Ihre Geduld. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gut, dass Sie den Raumordnungsbericht gelobt haben, Kollegin Iwersen, denn die Regierung Kohl hat zwischen 1982 und 1998 durch ihre weitsichtige Raumordnungspolitik eine hervorragende Ausgangsposition geschaffen, indem sie sich darum bemüht hat, dem Leitmotiv allen staatlichen Handelns, nämlich umweltgerechten Wohlstand für Generationen in Deutschland zu gewährleisten, durch übergeordnete Prinzipien und Konzepte gerecht zu werden und die Raumordnung dementsprechend voranzubringen und umzusetzen. Dank des hohen Einsatzes an raumwirksamen Mitteln, die sich im Zeitraum 1991 bis 1998 auf rund 1,8 Billionen DM beliefen und von denen die neuen Bundesländer einen Anteil von 53 Prozent erhielten, haben sich die Lebensverhältnisse in den einzelnen Teilräumen des Bundesgebietes deutlich angeglichen. Maßgeblich beigetragen haben dabei auch die Bereiche „Städtebauförderung und Wohnen“ sowie „Verkehrsinfrastruktur“, für die 91 Milliarden DM bzw. 173 Milliarden DM aufgewendet wurden, und „Telekommunikation“, in die allein 50 Milliarden DM in den neuen Bundesländern investiert wurde. Eine stolze Bilanz! Das erkennt auch der Raumordnungsbericht ausdrücklich an und erteilt der Arbeit der alten Bundesregierung hervorragende Noten. Meine Damen und Herren, angesichts der rasanten Veränderungsprozesse in Gesellschaft und Wirtschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts gilt es mehr denn je, Chancen zu nutzen und Risiken zu minimieren, Zukunftsvisionen wie Globalisierung mit Heimat und Sicherung der natürlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Ressourcen zu verbinden und allen Teilräumen in Deutschland auch zukünftig eine gleichwertige Teilhabe an den gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen zu ermöglichen. Die Verflechtungen in der Raumund Siedlungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland nehmen zu und führen dank erleichterter Mobilität und Kommunikation zur Auflösung des raumordnungspolitischen Gegensatzes zwischen Verdichtungsräumen und ländlichem Raum. Das Umland großer Städte dehnt sich räumlich seit Jahrzehnten kontinuierlich aus und verzeichnet nach wie vor überproportional hohe Bevölkerungs- wie auch Beschäftigungszuwächse. Die Funktionen, die das Umland übernimmt, und die Vernetzungsmuster werden zusehends vielfältiger und schließen angrenzende ländliche Räume mit ein. Daraus ergeben sich unter anderem folgende Fragen für die Zukunft: Wie können wir angesichts europaweiter Konzentrationstendenzen mit unseren dezentralen ausgewogenen Raumstrukturen bestehen? Was können wir tun, um den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken, die wirtschaftliche Entwicklung in Gang zu bringen, Arbeitsplätze zu schaffen und die Vielfalt unseres Landes, zum Beispiel Kulturlandschaften, Naturräume, Agrarlandschaften usw., zu erhalten? Wie können wir sensibel bleiben für den Wunsch der Bevölkerung nach mehr Identität im unmittelbaren Lebens- und Wohnumfeld? Was ist zu tun, um den Wunsch nach Mobilität für die Bürgerinnen und Bürger zu erhalten und zu sichern? Wie ist das zu erwartende Verkehrswachstum, insbesondere im Güterverkehr, zu bewältigen? Die rot-grüne Bundesregierung war bisher nicht in der Lage - vielleicht auch nicht fähig -, zu all diesen Fragen, die sich aus dem Raumordnungsbericht ergeben, Lösungsansätze aufzuzeigen. Man musste sich ja mit sich selbst beschäftigen. Der mittlerweile dritte Verkehrs-, Bau- und Wohnungsminister in zwei Jahren, der sich gerne als Infrastrukturminister bezeichnet, hat noch keine Antworten parat. Seine Regierungserklärung vor kurzem war mehr als dürftig. Die sich durch permanent steigende Menschen- und Gütermobilität ergebende Verkehrsproblematik stellt eine große Herausforderung dar. Dabei wird die Zunahme des PKW-Bestandes von derzeit 40 Millionen um weitere 10 Millionen in den kommenden zehn bis 15 Jahren nicht das Dramatischste sein. Weitaus drastischer wird sich für Deutschland angesichts seiner zentralen Lage der weiträumige grenzüberschreitende LKW-Verkehr sowohl in Nord-Süd- als auch in Ost-West-Richtung entwickeln. ({0}) Man geht von einer Verdoppelung der Tonnage in den nächsten zehn bis 15 Jahren aus. Auch im Bereich des Ballungsraumverkehrs wird es durch die zunehmende Mobilität zu einer weiteren Verschärfung kommen. Was macht die Bundesregierung? Sie stellt ein Investitionsprogramm 1999 bis 2002 vor und weiß dabei nur zu gut, dass dieses Programm de facto ein Kürzungsprogramm für den Straßenbau ist - von der Wirksamkeit des Zukunftsinvestitionsprogramms 2001 bis 2003, das den Namen „Zukunft“ nicht einmal ansatzweise verdient, und dem groß angekündigten Anti-Stau-Programm, das dringend notwendige Ausbaumaßnahmen auf den Zeitraum nach 2003 verzögert, ganz zu schweigen. Es ist unbestritten, dass Standortpolitik etwas mit Verkehrserschließung, nämlich mit Straße, Schiene, Wasserund Flugverkehr, zu tun hat. Standortentscheidungen sind deshalb auch weiterhin durch Raumordnung beeinflussbar. Aber auch weiche Standortfaktoren wie Umweltqualität, kulturelle Angebote, Freizeitangebote und Sicherheit gewinnen an Bedeutung. Meine Damen und Herren von Rot-Grün, Sie haben sich durch die entspannten Wohnungsmärkte, die Sie beim Regierungswechsel vorgefunden haben, zu einer wohnungs- und städtebaupolitischen Auszeit verleiten lassen. Dafür stehen zum Beispiel die Abschaffung des Bauressorts, die Demontage der sozialen Wohnungsbauförderung, die Steinbrüche in der Förderung des frei finanzierten Mietwohnungsbaus und des selbstgenutzten Wohneigentums sowie das Absinken der Wohnungsbautätigkeit unter den Bestandserhaltsbedarf. Wohnungspolitisches Umdenken und wohnungspolitische Substanz sind bei Ihnen nicht zu erkennen. Ich sehe auch keinen Ansatz dafür, dass Sie sich der zunehmenden Trennung von Arbeit und Wohnen und der Verödung der Innenstädte ernsthaft stellen. Es wird immer deutlicher, dass die Koalition Raumordnungspolitik und Städtebaupolitik trennt. Zur Erinnerung: Vor der Bundestagswahl haben SPD und Grüne nicht nur Bundesfinanzhilfen für ein neues Großsiedlungsprogramm, sondern auch eine massive und dauerhafte Aufstockung der traditionellen Städtebauförderung in Aussicht gestellt. Noch für den Bundeshaushalt 1998 beantragten die SPD-Wohnungspolitiker eine Verdoppelung der Städtebaufördermittel von 600 Millionen DM auf 1,2 Milliarden DM und bezeichneten eine Aufstockung sogar auf 2 Milliarden DM als wünschenswert. Ein mageres Ergebnis ist geblieben: 100 Millionen DM mehr sind es. Damit hat die Schröder-Regierung erneut ein Wahlversprechen gebrochen. In einem bemerkenswerten Akt der Verleugnung vieljähriger Oppositionsgrundsätze hat Rot-Grün im März 1999 sogar unseren Antrag auf Aufstockung der Städtebauförderung abgelehnt. ({1}) Die magere finanzielle Ausstattung des Programms „Soziale Stadt“ muss auch vor dem Hintergrund des erklärten Zieles beurteilt werden, mit dem neuen Instrumentarium „alle stadtentwicklungspolitisch relevanten Ressourcen, insbesondere Wohnungsbaufinanzierung, Straßenverkehr, Arbeits- und Ausbildungsförderung, Jugendhilfe, Wirtschaft und Industrie“ zu bündeln. Das ist wahrhaft ein große Aufgabe bei diesem geringen Mitteleinsatz. Meine Damen und Herren, wir, die CDU/CSU, bekennen uns zum ländlichen Raum. Wenn ich mich richtig erinnere, dann gab es in den 70er-Jahren eine Auseinandersetzung um die Qualität des ländlichen Raumes. Wir, insbesondere Bayern, waren für den Eigenwert des ländlichen Raums und für ein flächendeckendes Netz zentraler Orte. Die SPD sprach nur von einem Ausgleichsraum. Der politische Grundsatzstreit darüber ist bis heute nicht beendet. Denn im Regierungsprogramm der rot-grünen Bundesregierung von 1998 erscheint der ländliche Raum nur als Ausgleichsraum mit agrarischer, ökologischer und touristischer Funktion, während wir für eine gezielte Förderung der Regionen als wesentliches Gegengewicht zur Globalisierung sind. Meine Damen und Herren von der Koalition, es gibt viel zu tun. Packen Sie es doch endlich an! ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Spanier, SPD-Fraktion.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die heutige Debatte zeigt - auch wenn sie nur 45 Minuten dauert -, dass der Raumordnungsbericht hervorragend ist. Er ist für uns Veranlassung, über die Kernthemen der Stadtentwicklung und der Wohnungspolitik in unserem Land zu diskutieren. Schon das halte ich für wichtig. Der Raumordnungsbericht zeigt die größten Fehlentwicklungen der letzten Jahre auf, die sich unabhängig davon ergeben haben, wer wo regiert. Diese Fehlentwicklungen sind vorhin schon angesprochen worden. Deswegen möchte ich sie nur noch einmal aufzählen: eine weitere kräftige Zunahme des Flächenverbrauchs, die Suburbanisierung, die Zersiedlung in den Umlandsgebieten der Verdichtungsräume - mit einem geradezu rasanten Tempo in den neuen Bundesländern -, die soziale Polarisierung und die sich daraus ergebende Segregation mit all den Spannungen - nicht nur in den großen Städten - und die schrumpfenden Städte. Besonders dramatisch ist die Entwicklung in den neuen Bundesländern, aber auch in den Bereichen im Westen, wo der Strukturwandel besonders tiefgreifend war. Die Konsequenz ist - auch das ist in den neuen Bundesländern am deutlichsten zu beobachten - das Ausbluten der Innenstädte. Hinzu kommen höchst unterschiedliche Entwicklungen. Diese gab es zwar schon immer, auch in der alten Bundesrepublik. Aber jetzt gibt es ein dramatisches Gefälle, sodass man kaum noch von gleichwertigen Lebensverhältnissen in unserem Land sprechen kann. Es ist eine Fehlentwicklung, die in diesem Bericht nüchtern und klar beschrieben wird, dass der ländliche Raum zunehmend ins Abseits gerät. Auf die demographische Entwicklung wird erst gar nicht eingegangen. All das, was wir jetzt in Teilen unseres Landes beobachten können, werden wir nach einiger Zeit in der gesamten Bundesrepublik erleben. Es gibt Hinweise im Raumordnungsbericht darauf - deshalb ist die heutige Debatte zum Einstieg in die Problematik so wichtig -, was zu tun ist. Wenn wir es mit dem Leitbild der Städtebau- und Wohnungspolitik wirklich ernst meinen, nämlich mit der Nachhaltigkeit - ich möchte hier betonen: Es ist ganz wichtig, auch die soziale Dimension der Nachhaltigkeit im Auge zu behalten -, dann ist dringender Handlungsbedarf gegeben. Es gibt schon einige positive Ansätze: Verstärkung der Städtebauförderung und Ausbau des Programms „Soziale Stadt“. Es gibt auch sehr positive Ansätze im Hinblick auf die Bestandsförderung innerhalb der Förderung des sozialen Wohnraums. Sicherlich ist auch die energetische Modernisierung der alten Wohnungsbestände ein wichtiger Punkt. Ich habe mich gefreut, dass Herr Bodewig als neuer Minister als erstes die Bedeutung der Initiative „Preiswertes und ökologisches Bauen“ unterstrichen hat. Das alles wird aber nicht ausreichen. Wir brauchen zumindest eine Neujustierung der Förderinstrumente. In diesem Zusammenhang sollten wir die Eigenheimzulage nicht zum Tabu erklären, was auch immer der „WeserKurier“ geschrieben haben mag. ({0}) Ich sage hier frank und frei: Wir werden sicherlich auch über die Themen Bodenwertsteuer und Grundsteuer diskutieren müssen. Wir werden uns nicht davor drücken können. ({1}) Die Leerstandsproblematik in den neuen Bundesländern ist geradezu als eine Chance zu verstehen, weil hier der Problemdruck so massiv ist, dass wir zügig handeln müssen. Verstehen Sie es bitte nicht als Zynismus, wenn ich sage: Wir können und werden hier Erfahrungen sammeln, mit welchen Instrumenten und mit welchen Methoden wir diesen Fehlentwicklungen begegnen können. Vor uns liegt sicherlich sozusagen ein Problemgebirge. Aber gleichzeitig haben wir die Chance, mithilfe von anderen städtebaulichen Entwicklungskonzepten Instrumente zu etablieren, die diese Fehlentwicklungen wenigstens stoppen und vielleicht sogar ein Stück weit zurückdrängen können. Deswegen ist es in der Tat wichtig, dass wir hier zügig zu Entscheidungen kommen. Dabei - ich glaube, das ist deutlich geworden - geht es auch, aber nicht nur um Geld. Dies ist sozusagen der Bereich, in dem wir beweisen können, ob wir es mit einer Städtebau- und Wohnungspolitik ernst meinen, die sich tatsächlich, nicht nur verbal, dem Leitbild der Nachhaltigkeit verpflichtet fühlt. Schönen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir sind damit am Schluss der Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3874 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/3947. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis der Unterrichtung durch die Bundesregierung zum Europäischen Raumentwicklungskonzept, des Entwurfs der Mitteilung der Kommission an die Mitgliedstaaten betreffend die Zusammenarbeit zur Förderung der Entwicklung des europäischen Raums und der Entschließung des Europäischen Parlaments zu diesem Entwurf die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Blank, Peter Letzgus, Dirk Fischer ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibusunternehmen erhalten und sichern - Drucksache 14/4934 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollegin Renate Blank, CDU/CSU-Fraktion.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bus ist - ich glaube, das ist unbestritten - das Rückgrat des öffentlichen Personennahverkehrs. ({0}) Mit der Ökosteuer verteuern Sie den ÖPNV. Erste Auswirkungen in Form einer Erhöhung der Nutzerpreise gibt es bereits. Aber nicht nur im ÖPNV, sondern auch in der Tourismusbranche führt die Ökosteuer zu erheblichen Belastungen und zu einer Schwächung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Des Weiteren haben Subventionspraktiken in EU-Nachbarstaaten zu einer ernsten Existenzkrise des deutschen mittelständischen Gewerbes geführt. Wenn die Bundesregierung es mit der politischen Förderung des ÖPNV ernst meint, dann hat sie nun Gelegenheit, Flagge zu zeigen, indem sie den Bus von der Ökosteuer befreit, ja sogar Verbrauchsteuerermäßigungen oder Verbrauchsteuerbefreiungen im Rahmen der EWGRichtlinie 92/81 sowie die Mineralölsteuerbefreiung für den ÖPNV einführt. Meine Damen und Herren von der rot-grünen Koalition, Handeln ist gefragt; denn die Rahmenbedingungen für das deutsche Omnibusgewerbe haben sich gegenwärtig erheblich verschlechtert. Das Gewerbe ist so auf Dauer weder konkurrenz- noch überlebensfähig. Deshalb müssen die Defizite schnellstmöglich korrigiert werden. In nahezu allen Ländern der europäischen Mitgliedstaaten, ausgenommen Deutschland, werden Steuerbefreiung bzw. Steuererleichterungen gewährt, um die bustouristischen Verkehre und die Buslinienverkehre attraktiver zu gestalten. Zwei Drittel aller Fahrgäste im ÖPNV sind auf den Bus angewiesen. Wir brauchen den Bus; nicht jeder hat einen Bahn-, S-Bahn-, U-Bahn- oder Straßenbahnanschluss. Selbst Bahnchef Mehdorn weiß, dass auch die Bahn auf den Bus angewiesen ist. ({1}) Seine Aussagen und Aktivitäten - siehe Busgesellschaften - weisen deutlich darauf hin. Der Bus sichert direkt und indirekt rund 750 000 Arbeitsplätze in Deutschland. Die deutsche Automobilindustrie gehört weltweit zu den führenden Omnibusanbietern und auch die Touristikbranche ist auf den Bus angewiesen. Das alles sind Fakten, die die Bundesregierung nicht außer Acht lassen kann. Die Bundesregierung muss ordnungs- und finanzpolitische Rahmenbedingungen schaffen, die die Existenz mittelständischer Strukturen gegenüber dem Verdrängungswettbewerb durch Großkonzerne im Verkehrsgewerbe wirksam sicherstellen; denn nur der Erhalt mittelständischer Strukturen kann eine wirtschaftliche und funktionsfähige Mobilität und einen bezahlbaren ÖPNV in Deutschland in Zukunft garantieren. ({2}) Mittelstandsfreundlichkeit darf nicht nur in Sonntagsreden gelten, sondern muss praktische Politik sein. Dazu gehört auch, dass im Rahmen der EU-Erweiterung und insbesondere unter Berücksichtigung des Beitritts osteuropäischer Staaten für Übergangsfristen gesorgt wird, mit denen die Belange unserer privaten mittelständischen Verkehrs- und Omnibusunternehmen angemessen berücksichtigt werden. Die finanziellen Grundlagen für den ÖPNV in der Fläche und in den Ballungsräumen sind langfristig sicherzustellen und es dürfen keine weiteren zusätzlichen steuerlichen oder sonstigen finanziellen Belastungen für das umweltfreundliche Verkehrsmittel Bus eingeführt werden. Im Gegenteil müssen, wie ich bereits ausgeführt habe, Entlastungen erfolgen. Damit das deutsche Omnibusgewerbe im künftigen Wettbewerb bestehen kann, müssen Fairness und Transparenz gewährleistet sein. Kein Verkehrsbetrieb darf bevorzugt werden und marktbeherrschende Strukturen dürfen nicht zugelassen werden. Die Vorteile des mittelständischen Omnibusgewerbes, nämlich fahrgastorientiertes unternehmerisches Denken, Zuverlässigkeit, Sicherheit, Pünktlichkeit und schlanke Organisationsstrukturen, müssen verstärkt zum Zuge kommen. Wir fordern die Bundesregierung auch auf, Schieflagen im Wettbewerb - auch im europäischen - zu beseitigen. Eine Schieflage ist aus meiner Sicht auch die Dumpingpreis-Offensive für Gruppenreisen der Deutschen Bahn. Die Bahn gewährt Gruppenreisenden bis zu 75 Prozent Rabatt gegenüber dem Regeltarif und macht kein Hehl daraus, dass sich dieses Preisgebaren in erster Linie gegen die Reisebusunternehmer richtet. Eigentlich müsste die Bahn doch wissen - ich sage nur: siehe EXPO 2000 -, dass sich Dumpingangebote nicht rechnen. Nötig sind auch mehr Finanzmittel für die Infrastruktur, damit Investitionen getätigt werden können, um die verkehrspolitische Zielsetzung zu erfüllen, eine möglichst umweltverträgliche und zugleich möglichst sichere Mobilität für alle Bürgerinnen und Bürger zu erhalten und zu verbessern. Das deutsche Omnibusgewerbe braucht eine gute, zuverlässige und zukunftsorientierte Verkehrspolitik. Stimmen Sie deshalb unserem Antrag zu! ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat der Kollege Hans-Günter Bruckmann, SPD-Fraktion, das Wort.

Hans Günter Bruckmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003058, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ziel unserer Politik ist es, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Verkehrsunternehmen zu erhalten und auch für die Zukunft zu sichern. Ich gehe davon aus, dass wir uns alle in diesem Hause hierüber einig sind. Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition sind sich der Bedeutung der Omnibusunternehmen als bevorzugter Träger der Alltags- und Freizeitmobilität in Deutschland sehr bewusst. Die Fakten liegen klar auf der Hand. Der Omnibus ist nach dem Auto das zweitwichtigste Beförderungsmittel. Im öffentlichen Personennahverkehr ist der Bus sogar die Nummer eins, Frau Blank. Insbesondere die vielen mittelständisch orientierten und strukturierten Busunternehmen zeichnen sich durch Eigeninitiative, Mut, Fantasie und Innovation aus und schaffen es auf diese Art und Weise, in der Branche sehr erfolgreich zu sein. Denn eines zeichnet sie aus: Sie sind anpassungsfähig. So schaffen sie es, allen Unkenrufen zum Trotz, den veränderten Rahmenbedingungen letztendlich gerecht zu werden. Meine Damen und Herren, wir alle kennen die verstärkten Tendenzen zur Individualisierung im Verkehr und wissen, dass die Attraktivität des Autos weiter zunehmen wird und dass dies für die Strukturentwicklung der Verkehrsnachfrage nicht ohne Folgen bleiben wird. Deshalb müssen Unternehmer und Manager der Verkehrswirtschaft neue Antworten auf die Herausforderungen der Mobilitätsentwicklung finden. Eine Antwort hat die Bundesregierung durch das Eckpunkte-Papier zum öffentlichen Personennahverkehr gegeben. Dies haben Sie, Frau Blank, gerade angesprochen. Darin sind drei Kernbotschaften enthalten: Die erste Kernbotschaft lautet: Wir geben ein Signal für eine Qualitätsoffensive, um mehr Kunden für Bus und Bahn zu gewinnen. Die zweite Kernbotschaft ist: Verkehrsunternehmen und Beschäftigte müssen sich auf mehr Wettbewerb einstellen. Den Ordnungsrahmen dafür müssen wir fair gestalten. Die dritte Kernbotschaft ist: Gemeinsam mit den Ländern wollen wir effiziente und verlässliche Infrastrukturen und finanzielle Rahmenbedingungen schaffen. Laut Antrag geht die CDU/CSU davon aus, dass unser deutsches Omnibusgewerbe auf Dauer weder konkurrenz- noch überlebensfähig ist. Eine Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Omnibusgewerbes aufgrund der Ökosteuer und der Kraftstoffpreissteigerung wird geltend gemacht. Es wird außerdem unterstellt, dass die mittelständischen Verkehrsunternehmen nach dem Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission über die Liberalisierung des Öffentlichen Personennahverkehrs einem ruinösen Konkurrenzkampf mit europaweit tätigen Konzernen ausgesetzt sind, ({0}) während die kommunalen Verkehrsbetriebe aus dem Anwendungsbereich dieser Regelung herausgenommen werden sollen. Wir nehmen die Sorgen der Betroffenen sehr ernst. Wir sehen es als unsere Aufgabe an, dafür zu sorgen, dass der Innovations- und Jobmotor Mittelstand reibungslos und auf hohen Touren - wie es die Techniker ausdrücken läuft. ({1}) Das wichtigste Ziel dabei ist, die unternehmerische Eigeninitiative zu fördern. Mit der Steuerreform 2000 - Ihnen ja nicht unbekannt - hat die Bundesregierung hier den entscheidenden Schritt getan und den Steuerzahler in der Zeitspanne 1998 bis 2005 um 83 Milliarden DM sowie den Mittelstand - was von der rechten Seite dieses Hauses immer wieder gefordert wird - um 30 Milliarden DM entlastet. ({2}) Ein besserer Beitrag zur Mittelstandsförderung findet sich aus meiner Sicht in der jüngsten Geschichte des Deutschen Bundestages nicht. Weiter fordern Sie als Problemlösung die Abschaffung der Ökosteuer. Zielsetzung der ökologischen Steuerreform ist es, Energie über den Preis zu verteuern, um Einsparpotenziale zu aktivieren und mit den daraus erzielten Mehreinnahmen die Lohnnebenkosten zu senken - ein Ziel, das eigentlich auch von der rechten Seite dieses Hauses befürwortet wird. Außerdem verschweigen Sie in Ihrem Antrag, dass bei der Mineralölsteuererhöhung für den Öffentlichen Personennahverkehr nur der halbe Erhöhungssatz gilt. Dies unterscheidet sich sehr deutlich von dem, was in den 90erJahren von Ihrer Seite getan worden ist. Sie haben die Mineralölsteuer erhöht, dies aber weder zur Senkung der Lohnnebenkosten noch zur Entlastung der Verkehrswirtschaft als solcher eingesetzt. Wir haben es mit unserem Ansatz geschafft, die Wettbewerbssituation für die Omnibusverkehrsunternehmen zu verbessern. ({3}) Die Annahme, dass wegen der Ökosteuer der Anteil der Auslandsreisen deutscher Urlauber - so steht es in Ihrem Antrag - zulasten der Inlandsreisen zunehmen werde, wird durch eine Saisonumfrage des Deutschen Industrieund Handelstages widerlegt, wonach der Deutschlandtourismus an Fahrt gewinnt und für diesen Sektor eine gute Geschäftsgrundlage ist. Dies ist ein Punkt, den wir zur Kenntnis zu nehmen haben und der für uns positiv zu werten ist. ({4}) Sie fordern, die finanziellen Grundlagen für den Öffentlichen Personennahverkehr nachhaltig zu sichern. Dies wird vonseiten der Bundesregierung bereits erfüllt. Wir setzen 15 Milliarden DM dafür ein. Über das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz gewährt der Bund den Ländern Finanzhilfen, wobei die Länder letztendlich über die Verteilung dieser Mittel zu entscheiden haben. Des Weiteren gehen Sie in Ihrem Antrag auf die anstehende Novelle des Regionalisierungsgesetzes ein. Wie Sie wissen, ist die Verantwortung für den im Gesetz angesprochenen SPNV durch die Bahnstrukturreform wieder auf die Länder übergegangen. Die Verantwortlichen sind dort. Die Länder erhalten für die Bewältigung dieser Aufgaben 13,4 Milliarden DM - eine Menge! Im Zuge der Bahnreform ist gleichermaßen verabredet worden, eine Revisionsklausel einzuführen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, in diesem Jahr einen Vorschlag zu machen, wie diese anstehenden Veränderungen geregelt werden können. Ich bin mir sicher, dass sie das auch tun wird. In Ihrem Antrag sprechen Sie sich auch für die verstärkte Förderung von erd- und biogasbetriebenen Bussen aus. Die Regierungskoalition setzt sich ausdrücklich für die Markteinführung dieser technischen Produkte ein. Als Techniker muss ich betonen: Die Erdgastechnik ist ausgereift; sie muss nur eingesetzt werden. - Im Rahmen der Ökosteuer haben wir bei Verwendung dieser Technik in Bussen bis zum Jahre 2009 eine Mineralölsteuerermäßigung erreicht. Diese Regelung, die bis zum 31. Dezember 2000 galt, ist bis 2009 verlängert worden. Dies ist also ein richtiger Schritt. ({5}) Dann möchte ich auf den Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission zur Liberalisierung des öffentlichen Personennahverkehrs zu sprechen kommen. Ich kann die Bundesregierung nur dafür loben, dass sie bei den entsprechenden Verhandlungen in Brüssel gesagt hat: Der Verordnungsentwurf findet in dieser Form nicht unsere Zustimmung. Ich freue mich, dass wir uns im Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen am Mittwoch der letzten Woche in dieser Frage darauf geeinigt haben, die Bundesregierung hierbei zu unterstützen. Dabei sind ein paar Eckpunkte wichtig: Der ÖPNV ist ein Bestandteil der Daseinsvorsorge. Wir haben uns in diesem Bereich für Wettbewerb ausgesprochen. Aber dieser Wettbewerb muss zu einem hohen Qualitätsniveau im Hinblick auf den ÖPNV führen. Die Öffnung des Marktes ist ein gewünschtes Ziel. Arbeits- und Sozialstandards auf hohem Niveau müssen Bestandteil von Ausschreibungen sein. Wir gehen ein Stückchen weiter und sagen: Im Rahmen der Neuordnung dieses Marktes, auf dem 250 000 Menschen tätig sind, sollen die Verkehrsunternehmen ausreichend lange Übergangsfristen erhalten, damit sie sich auf die in Europa veränderten Rahmenbedingungen einstellen können. ({6}) - Herr Dr. Meister, Sie werden sich daran erinnern können, dass wir in einer Protokollnotiz festgestellt haben: Da gibt es welche, die sagen, acht Jahre seien ausreichend, und andere, die sagen, sechs Jahre seien ausreichend. - Wir meinen, es muss im Zuge der europäischen Harmonisierung möglich sein, eine Struktur zu schaffen, die dazu führt, dass unser öffentlicher Personennahverkehr in Europa die Nummer eins ist. Ich denke, das ist ein guter Ansatz. ({7}) Dann sprechen Sie in Ihrem Antrag ein anderes Thema an: den Güterkraftverkehr. Mit dem BGL und den anderen, die sich mit diesem Thema - auch mit sehr viel Sachverstand - auseinander zu setzen haben, haben wir intensiv diskutiert. Wir haben gesagt: Wir müssen einen Abbau der Wettbewerbsverzerrungen erreichen. Das Bundeskabinett hat im Januar dieses Jahres einen Vorschlag gemacht, der davon ausgeht, dass in unserem Güterkraftverkehr keine Billiglöhne gezahlt werden sollen. Wir müssen sehen, dass wir die europäische Harmonisierung so weit umsetzen, dass die in diesem Bereich Beschäftigten eine gute und faire Chance haben. Wir werden sehen, ob das gelingt, wenn wir uns im Ausschuss damit auseinander zu setzen haben. Wir sollten noch in diesem Jahr einen diesbezüglichen Gesetzentwurf einbringen, um den Güterkraftverkehr durch Sofortmaßnahmen in Deutschland zu schützen. Ich denke, das werden wir leisten. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss, obwohl ich noch eine Redezeit von zwei Minuten hätte. Aus meinen Ausführungen können Sie erkennen, dass die wesentlichen Teile Ihres Antrages bereits durch Regierungshandeln auf den Weg, auf die Straße bzw. die Schiene, gebracht worden sind. Ich freue mich, dass wir in der Frage der EU-Verordnung zur Liberalisierung im ÖPNV eine gemeinsame Position erzielt haben. Ich denke, Ihr Antrag ist eigentlich überflüssig. Aber wir werden ihn, wie sich das in diesem Hause so gehört, im zuständigen Ausschuss beraten. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege der Ernst Burgbacher, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Bruckmann, wenn ich die zwei Minuten von Ihnen jetzt noch bekommen würde, könnte ich auf einige Argumente mehr eingehen. Wegen der Kürze der Zeit muss ich mich auf wenige beschränken. Ich will aber gern das aufgreifen, was Sie gesagt haben. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibusunternehmen zu erhalten und zu sichern ist der gemeinsame Wille in diesem Haus. Nur haben Sie an dieser Stelle einen Punkt zu wenig gewürdigt: Wir haben den Euro und wir werden insbesondere ab dem 1. Januar des kommenden Jahres vor einer veränderten, verschärften Wettbewerbssituation stehen. Das wird in Ihrer Politik überhaupt nicht berücksichtigt. In der Praxis benachteiligen Sie die deutschen Omnibusunternehmen massiv gegenüber denen aus anderen Ländern. Ich werde das gleich anhand eines Beispiels nachweisen. Was die CDU/CSU hier fordert, geht zum größten Teil in die richtige Richtung, kein Zweifel. Einiges - lassen Sie mich das hier sagen - hätte auch schon früher verwirklicht werden können. Es steckte nicht immer der nötige Drive dahinter. Einiges wollten wir gern haben, haben es aber nicht durchgesetzt. Jetzt gilt es, aus der Politik, die Sie gemacht haben, auszusteigen und die richtigen Entscheidungen zu treffen. ({0}) Lassen Sie mich das am Beispiel der Ökosteuer klarmachen. Herr Bruckmann, Sie stellen das so dar, als sei das keine Belastung für die Branche. Tatsache ist: Die Ökosteuer führt zu einer Belastung von durchschnittlich 4 000 DM pro Bus und Jahr. Tatsache ist, dass zum Beispiel in Frankreich laut höchstrichterlichem Urteil die Ökosteuer ausgesetzt wurde und darüber hinaus Subventionen gezahlt werden. Fragen Sie doch einmal einen Busunternehmer in Baden-Württemberg - der ja im harten Wettbewerb mit den Franzosen steht -, was das heißt. Ein großes Busunternehmen hat schon aufgegeben und andere sind in extremen Schwierigkeiten. Deshalb heißt Wettbewerbsfähigkeit erhalten: Weg mit dieser Ökosteuer; denn sie schadet unseren deutschen Anbietern. ({1}) Ich möchte einen Bereich herausgreifen, nämlich die Busunternehmer, die im Tourismus tätig sind. Sie stehen im knallharten Wettbewerb mit anderen. Das ist halt heute so. In wenigen Jahren hat es eine Entwicklung gegeben, wie sie so niemand vorhersehen konnte. Jetzt packen Sie bei uns die Ökosteuer drauf. Sie novellieren das Betriebsverfassungsgesetz. Das alles führt zu neuen Kosten und zu neuen Hürden. ({2}) Wenn Sie noch auf die Idee kommen, die Fahrtzeiten- und Pausenregelungen von Busfahrern auf die Betriebsräte zu übertragen, dann brauchen wir auch in diesem Bereich zwei statt einen. ({3}) Wir brauchen keine zusätzlichen Belastungen; wir brauchen mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt, gerade auch für mittelständische Unternehmen. ({4}) Ich will an dieser Stelle sagen: Ich bin sehr gespannt darauf, wie sich der Bundeswirtschaftsminister in dieser Kontroverse entscheiden wird. Der Mittelstand erwartet eine klare Entscheidung gegen diese Novellierung. Daran muss sich der Bundeswirtschaftsminister messen lassen. ({5}) Wir brauchen keine höheren steuerlichen Belastungen; wir brauchen deutlichere Entlastungen. Deshalb müssen Sie sich vorhalten lassen: Die Steuerreform ist grob mitHans-Günter Bruckmann telstandsfeindlich. Sie haben die kleinen und mittleren Unternehmen eben nicht entlastet. Dazu kommt die Änderung der AfA-Tabellen. Fragen Sie doch die Busunternehmer, was dies konkret für sie heißt! Das heißt: Wir werden keine so modernen Busse mehr haben. Das bedeutet auch für die Automobilindustrie eine massive Benachteiligung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie auf der einen Seite hier so tun, als ob Sie durch scheinbar ökologische Maßnahmen sauberere Luft erreichen könnten, dann sollten Sie auf der anderen Seite denen, die durch ein ökologisches Verkehrsmittel dazu beitragen, nicht an die Kehle gehen, sondern sollten ihnen die Luft dafür lassen, sich im europäischen Wettbewerb behaupten zu können. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe noch gar kein Kabinett. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Busverkehr steht oft im Schatten der verkehrspolitischen Diskussion. Es wird sehr viel über die Bahn und über Autobahnen diskutiert. Das ist eigentlich nicht angemessen. Deshalb bin ich dankbar, dass der Antrag der CSU/CDU - ich sage es einmal in dieser Reihenfolge, weil das wahrscheinlich auch die Reihenfolge der Autorenschaft ist ({0}) die Gelegenheit bietet, hier zum Thema Busverkehr miteinander ins Gespräch zu kommen. Der Busverkehr hat eine ungeheure Bedeutung - Herr Kollege Bruckmann hat das ausgeführt und auch in Ihrem Antrag wird das deutlich -, und zwar sowohl im öffentlichen Personennahverkehr, den es in vielen Städten - in den meisten - ohne die privaten Unternehmen, die kooperieren, gar nicht gäbe, und natürlich auch im Segment des Reiseverkehrs. Es ist vor allem die mittelständische Struktur unserer Busverkehrsunternehmen, die dafür sorgt, dass dieser Bereich innovativ und leistungsstark ist. Der Bus ist ein umweltfreundliches Verkehrsmittel. Zusammen mit den Bahnen - S-Bahn, U-Bahn, Straßenbahn, Regionalbahn - bildet der Bus das System des öffentlichen Verkehrs, das auch nach Einschätzung unserer Fraktion das Rückgrat eines zukunftsfähigen Mobilitätssystems darstellt. ({1}) Genau deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir - anders, als es Ihr Antrag ein bisschen zu suggerieren versucht - ganz bewusst und gezielt den gesamten öffentlichen Verkehr, vom Anrufsammeltaxi über den Linienbus bis zum ICE, zur Hälfte von der Ökosteuer freigestellt. ({2}) Der halbe Ökosteuersatz bedeutet einen relativen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem PKW-Verkehr. Diesen Vorteil haben wir sehr bewusst geschaffen. Das hat auch Wirkung. Die aktuellen Zahlen zur Verkehrsleistung weisen das aus: Wir haben eine zunehmende Verkehrsleistung im öffentlichen Verkehr und einen Rückgang beim Benzinverbrauch im Individualverkehr. ({3}) Das ist so gewollt. Deshalb ist die alte Leier von der angeblichen Behinderung der Erfolgschancen des Busses im Verkehrssystem einfach dissonant und schrill. Auch Ihr Vergleich mit dem Flugzeug trifft es natürlich nicht; denn die Urlauberin oder der Urlauber, die bzw. der nach Mallorca fliegt, geht nicht dem Busverkehr verloren. Es ist ganz klar: Der Konkurrent zum Busverkehr ist der PKW, ist der Individualverkehr. Auch Ihr Vergleich mit den Auslandsverkehren überzeugt mich nicht. Sagen wir einmal, eine Pilgergruppe - ich nehme ein christliches Beispiel, da die CDU/CSU den Antrag gestellt hat - fährt mit dem Bus nach Rom. In Deutschland kostet der Liter Diesel heute - ich habe die Daten aktuell beim ADAC abgefragt - trotz Ökosteuer 1,65 DM. In Italien kostet derselbe Liter Diesel 1,75 DM. Hören Sie also auf mit dem Gejammer. Der Busfahrer wird schauen, dass er in Deutschland tankt, nicht in Rom; denn in Deutschland ist es trotz Ökosteuer immer noch günstiger als in Italien. Ihre Argumentation ist doch nicht überzeugend. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Burgbacher?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schmidt, nur noch einmal zur Klarstellung: Sie haben gerade behauptet, der gesamte Busverkehr sei nur mit dem halben Ökosteuersatz belastet.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich habe gesagt, der Linienbusverkehr.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Tourismusbusverkehr wird also mit dem vollen Ökosteuersatz belastet, ist das richtig?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe wörtlich gesagt und sage Ihnen das noch einmal - den Satz kann ich auswendig, ich sage ihn auf jeder Veranstaltung draußen im Land -: Wir haben bewusst den gesamten öffentlichen Verkehr - öffentlichen Verkehr! -, vom Anrufsammeltaxi über den Linienbus bis zum ICE, zur Hälfte von der Ökosteuer freigestellt. ({0}) Das ist zutreffend, das ist richtig, das ist gewollt und das ist auch erfolgreich. ({1}) Nun komme ich dazu, warum es gar nicht stimmen kann, dass die Ökosteuer die entscheidende Größe hinsichtlich der Wettbewerbschancen des Busverkehrs ist. Sie begründen das selber in Ihrem Antrag. Sie schreiben mit Recht: Der Bus verbraucht einen halben Liter Diesel auf 100 Kilometer pro Fahrgast. Der Bus ist sozusagen ein 0,5-Liter-Auto. Wenn wir eine Busreise etwa von Frankfurt in den Bayerischen Wald organisieren - zweimal 300 Kilometer; einmal hin, einmal zurück -, bedeutet das einen Verbrauch von 3 Litern Diesel pro Fahrgast. Wo ist die Ökosteuer darin? Mit den beiden Stufen, die wir jetzt haben, sind das 36 Pfennig Ökosteuer für die gesamte Reise, hin und zurück. Wenn Sie mir jetzt erzählen wollen, dass diese 36 Pfennig preis- und spielentscheidend sind, dann muss ich sagen: Mit so einer Argumentation machen Sie sich nur lächerlich. ({2}) Die wahren Probleme und die wahren Themen, die uns beschäftigen sollten, liegen ganz woanders. Sie werden im zweiten Teil des Antrags, nämlich bei der Novellierung der EG-Richtlinie 11/91 zum Thema Wettbewerb im öffentlichen Nahverkehr, auch angesprochen. Hier möchte ich deutlich sagen: Es ist eine Konsequenz des Maastrichter Vertrages, dass mit öffentlichen Geldern und es gehen in Deutschland 8 Milliarden DM in den Busverkehr - auch effizient umgegangen werden muss. Es muss ausgeschrieben werden, es muss Wettbewerb geben. Das ist eine ungeheure Chance für die privaten Busunternehmen. Das heißt, Wettbewerb ist ein Instrument, um Qualitätsziele zu erreichen, Wettbewerb ist kein Ziel an sich. Die Ziele, um die es geht, sind Qualitätsziele im Interesse des Fahrgastes: guter Service, attraktives Angebot, natürlich auch anständiger Preis; aber es ist eben kein Preisdumpingwettbewerb. Deshalb müssen und werden wir bei der Umsetzung dieser Richtlinie in das nationale deutsche Recht darauf achten, dass wir diese Qualitätsmerkmale als unverzichtbare Bestandteile der Reformgesetzgebung festschreiben. Dazu müssen dann auch die Länder mit Vergabegesetzen beitragen. Das gilt auch für Sozialstandards der Beschäftigten. Um es zusammenzufassen: Auch eine andere Diskussion, die immer mal wieder mitschwingt - was ist besser, Bus oder Bahn? -, ist unsinnig. Wir brauchen beides, wir brauchen die Vernetzung, das System aus Bus und Bahn. Wir brauchen auch eine effiziente staatliche Finanzierung dieser Systeme. Bus und Bahn gehören im Interesse der Reisenden zusammen. Ich freue mich auf produktive Ausschussberatungen; denn dort haben wir die Chance, noch qualifizierter miteinander ins Gespräch zu kommen und zu sortieren, wo wir uns einig sind, aber auch, wo wir fundamentale Unterschiede haben. Danke. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Wolf.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass wir hier einen Antrag behandeln, der leider in die falsche Richtung geht, der eher wie ein Lobbyantrag wirkt, der unausgereift und einseitig ist. Zu Recht werben die öffentlichen Verkehrsmittel oft mit dem Begriff „Bahnen und Busse“. Hier wird ein Teil herausgenommen und versucht, dafür spezielle Lobbyarbeit zu machen. Das ordnet sich ein in die gesamte Ökosteuerdebatte, die von Ihrer Seite, von der CDU und der CSU, zum Teil sehr demagogisch geführt wurde, wobei es Künstlerpech ist, dass seitdem die Spritpreise um circa 20 Prozent gesunken sind. Zu Ihrer Klage, Frau Blank und andere, in Bezug auf die Europäische Union und den ruinösen Wettbewerb ist zu sagen: Das ist richtig. Es stimmt auch, dass das für den LKW zutrifft. Es stimmt vor allem auch, dass das eine Entwicklung ist, die in den letzten zehn bis 20 Jahren in erheblichem Maße gerade von Ihrer Seite gefördert wurde. Alle Vorschläge, die hier gemacht werden, sind Vorschläge, die diesen ruinösen Wettbewerb noch weiter verstärken werden: durch Abbau von Mehrwertsteuer, durch Abbau von Ökosteuer, durch neue Steuersenkungen usw. Wir sagen durchaus: Es ist besser, wenn Menschen statt mit dem Auto und dem Flugzeug mit dem Bus fahren. Wir sagen aber auch, dass es da, wo Schienen vorhanden sind, besser wäre, wenn diese genutzt werden würden. Wir glauben, hier wird eine schädliche Konkurrenz - Bus gegen Bahn oder beim Güterverkehr Binnenschifffahrt gegen Bahn - aufgebaut. Die externen Kosten bei Bussen liegen immer noch wesentlich über denen bei der Schiene, vor allem was Fläche, Fahrwerkzerstörung, Abgase und Lärm betrifft. Deswegen meine ich auch, dass man das System des öffentlichen Verkehrs in seiner Gesamtheit sehen muss, um zu erkennen, wo es sinnvoll ist, die Binnenschifffahrt, Busse oder Schienenfahrzeuge einzusetzen. Damit meine ich auch, dass die jetzige Entwicklung, dass auf weiten Strecken, Stichwort „Pilgerfahrt nach Rom“, Busse eingesetzt werden, im Grunde eine verrückte Entwicklung ist. Man müsste vielmehr bei weiten Strecken gerade die Bahn, die Schiene, bevorzugen. ({0}) Ein letztes Wort zu den Arbeitsplätzen: Die CDU/ CSU argumentiert in ihrem Antrag, 15 000 Menschen seien direkt in der Busproduktion beschäftigt. Dann sagen Sie: Der Bus sichert zudem auch circa 750 000 Menschen in Deutschland direkt und indirekt ihre Arbeitsplätze. Frau Blank, in der Bahnindustrie arbeiten heute 23 000 Menschen, bei der Bahn 220 000 Menschen, bei Stadtbahnen, soweit schienengebunden, noch einmal 150 000 Menschen. Grob hochgerechnet heißt das, dass die Schiene - Produktion und Verkehr - ungefähr 1,5 Millionen Menschen direkt oder indirekt den Job sichert. Ich würde gern einmal einen überfraktionellen Antrag sehen, der mit diesem Arbeitsplatzargument Lobbyarbeit für die Schiene leistet. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Letzgus, CDU/CSU.

Peter Letzgus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002724, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der heute vorliegende CDU/CSU-Antrag, Kollege Schmidt, „Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Omnibusunternehmen erhalten und sichern“ ({0}) müsste eigentlich bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, auf wachsende Begeisterung stoßen; denn er gibt Ihnen Gelegenheit, Ihre verfehlte Verkehrspolitik in Sachen ÖPNV und Busunternehmen zu revidieren, indem Sie ihm zustimmen. ({1}) Dass der Bus ökonomisch und ökologisch ein sehr sinnvolles und effizientes Verkehrsmittel ist, dürfte unstrittig sein. Jeder Autofahrer wird das merken, wenn er einmal einen Bus mit folgendem Aufkleber vor sich hat: Hier könnten 30 PKW vor Ihnen herfahren. Ich glaube, jeder Autofahrer, der überholen will, wird dadurch erst einmal ruhiger. Weil der Bus besonders umweltfreundlich und ökonomisch und ökologisch ein sehr sinnvolles Verkehrsmittel ist, verdient er unsere spezielle Aufmerksamkeit und Förderung. Als Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Opposition waren, war all das, was die damalige Regierung für den ÖPNV und die Busunternehmen gemacht hat, nicht gut genug. So konnte man nach dem Regierungswechsel eigentlich erwarten, dass eine Flut von Förderungsmaßnahmen den Bus auf die Überholspur bringen würde. Jedoch weit gefehlt. Mit der Einführung der Ökosteuer, von der Sie den ÖPNV völlig unverständlicherweise nicht komplett ausgenommen haben, haben Sie Ihre ursprünglichen Bekundungsabsichten konterkariert. ({2}) Sie wissen genau, dass diese Ökosteuer absolut nichts mit „öko“ zu tun hat. ({3}) Das ökologisch sinnvolle Verkehrssystem Bus wird erheblich belastet. Für die deutschen Busunternehmen verschlechtert sich die Wettbewerbssituation. Kollege Bruckmann, Sie sprachen davon, dass der Bustourismus in Deutschland zurzeit wieder besseren Zeiten entgegengeht. Das freut uns. Das hat aber weniger mit der tollen Situation der deutschen Busunternehmen, sondern vielmehr mit der Euro-Schwäche zu tun; denn die Touristen kommen überwiegend aus den Dollar-Ländern und profitieren von dem schwachen Euro. Insofern trifft die in unserem Antrag enthaltene Forderung nach Abschaffung dieser so genannten Ökosteuer den Nagel auf den Kopf, ({4}) da damit die ursprünglich vorgesehene Lenkungsfunktion - das gestehe ich Ihnen zu - nicht nur nicht erreicht wird, sondern sich in ihr Gegenteil verkehrt. Die Markteinführung von mit Erd- und Biogas betriebenen Bussen im ÖPNV als wichtiger Beitrag zur Lösung aktueller verkehrsbedingter Umweltprobleme ist verstärkt zu fördern. Dieser Punkt in unserem Antrag - das hatten Sie erwähnt - ist unstrittig. Das ist verdammt nötig, zumal wir wissen, dass die CO2-Belastung in letzter Zeit leider wieder angestiegen ist. In unserer Ausschusssitzung am 24. Januar dieses Jahres, in der wir unter anderem die Pläne der EU-Kommission hinsichtlich der bevorstehenden Liberalisierung des ÖPNV-Marktes in der EU diskutierten, kamen wir - Koalition und Opposition - insgesamt zu fast gleichen Auffassungen. Wir sind uns einig, dass der Wettbewerb im ÖPNV dazu führen muss, die Dienstleistungen kostengünstiger, kundenfreundlicher und in verbesserter Qualität anzubieten. Weiterhin bleibt notwendig - auch das ist unstrittig -, dass neben den Technik-, Qualitäts-, Umwelt- und Sicherheitsstandards auch die Arbeits- und Sozialstandards auf hohem Niveau erhalten bleiben müssen. Lohndumping muss verhindert werden. Die Existenz unserer mittelständischen Busunternehmen - das sind in Deutschland circa 400 öffentliche und etwa 5 000 private Unternehmen - ist gegenüber dem Verdrängungswettbewerb durch Großunternehmen im europäischen Verkehrsgewerbe wirksam sicherzustellen. Zustände wie in Dänemark - das wissen Sie -, wo sich die Zahl der Busbetriebe halbiert hat - von den verbliebenen Unternehmen sind 40 Prozent in ausländischer Hand -, oder auch in Schweden, wo drei Großunternehmen 60 Prozent aller Busleistungen halten - zwei von diesen dreien sind ebenfalls in ausländischer Hand -, müssen in Deutschland verhindert werden. Flexible, ausreichend lange Übergangsfristen müssen den deutschen Unternehmen die Möglichkeit einräumen, sich den neuen Marktgegebenheiten anzupassen. Dies muss für die Unternehmen bedeuten, - ich will mich hier nicht darüber streiten, ob „ausreichend lange“ sechs oder acht Jahre sind - sich möglichst schnell auf die kommende Marktöffnung einzustellen. Im Hinblick auf den EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten sind Übergangsfristen notwendig, mit denen die Belange unserer mittelständischen Verkehrs- und Omnibusunternehmen angemessen berücksichtigt werden. Insgesamt muss in Zukunft ein fairer Wettbewerb garantiert werden, die notwendige Transparenz gesichert sein und ein ruinöser Preiswettbewerb vermieden werden. Die finanziellen Grundlagen für den ÖPNV in der Fläche und in den Ballungsräumen müssen langfristig gesichert werden. Dies alles sind Punkte, die eigentlich unstrittig sind und die Sie auch in unserem Antrag wiederfinden. Insofern kann ich das, was Sie, Kollege Bruckmann, gesagt haben, unterstreichen. Im Wesentlichen sind wir uns einig. ({5}) Also: Gehen Sie in sich, überzeugen Sie Ihre Kolleginnen und Kollegen und stimmen Sie unserem Antrag zu! Ich bedanke mich. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4934 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksache 14/5145 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Heidi Lippmann das Wort.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Vielen Dank! - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie notwendig die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zum Einsatz von Uranmunition ist, zeigen die in den vergangenen Wochen bekannt gewordenen Informationen bzw. Teilinformationen. Doch lassen Sie uns einen Punkt vorweg klären: Der Einsatz von Uranmunition ist längst nicht so harmlos, wie der Verteidigungsminister uns in den vergangenen Wochen glauben zu machen versucht hat. Nicht umsonst warnen weltweit Wissenschaftler und Ärzte vor den möglichen Folgen der Inkorporation von durch Beschuss freigesetzten Uranpartikeln - unabhängig davon, ob zusätzlich noch andere radioaktive Bestandteile, zum Beispiel Plutoniumspuren, enthalten sind oder nicht. Auch im Verteidigungsministerium wurde bereits im Mai 1999 darauf hingewiesen, dass es neben dem Strahlungsrisiko ein toxikologisches Risiko gibt. Ich zitiere: Eine längerfristige Gefahr ergibt sich durch die Kontamination von Wasser, Trinkwasser und Boden. Daher sollten bei der Einrichtung von Biwaks die Geländeteile gemieden werden, auf denen eine Kontamination durch Beschuss stattgefunden hat oder wo kontaminierter Staubniederschlag den Boden verseucht hat. Obwohl dies bekannt war, hat die rot-grüne Bundesregierung über einen langen Zeitraum hinweg alle Anfragen über die von Uranmunition ausgehenden Gefahren mit der Standardantwort abgetan: Die Bundeswehr besitzt diese Munition nicht, eigene Untersuchungen liegen nicht vor. Obwohl jeder Luftwaffenoffizier im Verteidigungsministerium weiß und wusste, dass die Standardbewaffnung von A-10-Bombern seit Jahrzehnten uranhaltige Munition ist, hat man erst auf eine offizielle NATO-Bestätigung gewartet, bevor man den im Kosovo stationierten Truppen konkrete Schutzmaßnahmen befahl. Ebenso hat die Vorgängerregierung reagiert bzw. nicht reagiert. Beiden ist gemeinsam, dass sie durch ihr Nichtwissen-Wollen den Einsatz dieser Munition durch USamerikanische Truppen im Golfkrieg, in Somalia, in Bosnien, im Kosovo und vermutlich auch in Serbien und Montenegro toleriert haben. Ich bin überzeugt davon, dass die Lagerung von DU-Munition, die Ausstattung der Abrams-Panzer und die so genannten „Unfälle“ durch Alliierte in Deutschland bekannt waren - ebenso wie die Versuche, die mit DU-Munition von deutschen Rüstungsunternehmen durchgeführt wurden. Es ist auch davon auszugehen, dass es sich bei den bisher bekannt gewordenen Informationen lediglich um die Spitze eines Eisberges bzw. - anders gesagt - eines Uranberges handelt. All dies gilt es aufzuklären. Nicht mehr und nicht weniger fordern wir mit unserem Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. ({0}) Daran sollte jeder und jede in diesem Haus Interesse haben: im Interesse der Opfer in der Zivilbevölkerung, die es durch den Einsatz von Uranmunition, insbesondere in den letzten zehn Jahren, gegeben hat, im Interesse der in Bosnien und im Kosovo stationierten Soldaten sowie im Interesse künftiger Opfer, die möglich sind, wenn diese Munition nicht umgehend verboten und geächtet wird. ({1}) Unabhängig davon, ob die Uranmunition die Ursache für die bei Soldaten in ganz Europa aufgetretenen Leukämiefälle ist oder nicht, steht fest, dass das Inkorporieren winzigster Teile nach Jahren zu schweren Organund Nervenschädigungen und zu unterschiedlichsten Krebserkrankungen führen kann. Es steht weiter fest, dass Böden und Gewässer kontaminiert sind und die Radioaktivität aufgrund der physikalischen Gesetzmäßigkeit des Zerfallsprozesses über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg noch anwachsen wird. Die US-Truppen haben nicht umsonst die durch Beschuss in Grafenwöhr kontaminierten Böden entsorgt. Sollte man nicht zumindest die gleiche Fürsorge auch der Bevölkerung in der Golfregion und auf dem Balkan zukommen lassen? ({2}) Der Kollege Nolting forderte kürzlich „brutalstmögliche Aufklärung“. Die PDS-Fraktion fordert lückenlose Aufklärung und bittet Sie alle hierbei um Unterstützung. ({3}) Eine lückenlose Aufklärung ist auch erforderlich angesichts der heute Abend von der ARD ausgestrahlten Sendung „Es begann mit einer Lüge - Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg“. Die Herren Scharping und Fischer, die beide nicht da sind, sind aufgefordert: Klären Sie endlich die Halbwahrheiten und Unwahrheiten auf, die Sie während des Kosovo-Krieges der deutschen Öffentlichkeit zugemutet haben! Gestehen Sie endlich ein, dass der so genannte Hufeisenplan ein Produkt des Verteidigungsministeriums war, dass die Vorfälle in Racak vorschnell zum Massaker erklärt wurden und dass das angebliche Konzentrationslager in Pristina sowie viele andere Gräuelgeschichten erforderlich waren, um Ihren so genannten humanitären Krieg zu rechtfertigen. ({4}) Übernehmen Sie endlich die Verantwortung für Ihr Handeln und machen Sie Schluss mit den Unwahrheiten! Diese Forderung bezieht sich sowohl auf den Krieg insgesamt als auch auf den Einsatz von Urangeschossen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin Lippmann, Sie müssen zum Ende kommen.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ein letzter Satz: Angesichts der von Herrn Scharping wiederholt erhobenen Vorwürfe gegen Ihre Vorgängerregierung sollte es in Ihrem ureigenen Interesse sein, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, alle Vorkommnisse im Zusammenhang mit Uranmunition aufzuklären. Dieses gebietet sowohl die Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten als auch die völkerrechtliche Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollege Gerd Höfer, SPD-Fraktion, das Wort.

Gerd Höfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002679, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin etwas überrascht, dass ich jetzt schon das Wort erhalte, weil der Redeablauf etwas anders verabredet war. Aber da dieses Thema uns seit längerer Zeit beschäftigt, kann ich mit vorauseilendem Gehorsam ahnen, was nach mir noch gesprochen wird, wobei ich das, was die Kollegin Ulrike Merten sagen wird, natürlich besonders unterstützen werde. Wir haben es in diesem Falle mit einer doppelten Desinformation und Desorientierung zu tun: so, wie es gerade die Kollegin Lippmann gemacht hat - das ist ja eine alte Geheimdienstpraxis -, und so, wie es F.D.P. und CDU/ CSU fortsetzen werden. Besonders fasziniert hat mich eben der Satz - den ich schon im Physikunterricht des zehnten Schuljahres nicht hätte bringen können -, dass die Halbwertzeit die Radioaktivität bestimmter Elemente erhöht. Die Halbwertzeit ist die Zeit, in der radioaktive Stoffe unter Abgabe von Radioaktivität bei einer Verringerung der Ausscheidung zerfallen; Sie können das in Becquerel oder in Sievert messen. Sie stehen damit in einem engen Kontext mit Ihrem Fraktionsvorsitzenden, der sich bei der letzten Debatte über DU-Munition nicht entblödet hat zu sagen, er habe den Begriff „abgereichertes Uran“ in einem Physiklexikon nicht gefunden, dieser Begriff sei eine Erfindung der Politik, um die Folgen von abgereichertem Uran zu verharmlosen. Sie sehen daran, wie schwer es ist, mit ideologisch geprägten Parteien zu diskutieren: Innerhalb ihrer Ideologie haben sie mit Sicherheit immer Recht. Das ist eben der geschlossene Kreislauf einer Ideologie. Es ist aber ein starkes Stück, die Naturwissenschaften so weit zu verbiegen, nur um seinem Ziele näher zu kommen. Im Physikunterricht des zehnten Schuljahres hätte man mir das, was Sie gerade erzählt haben, nicht abgenommen. Ihre Ausführungen entbehren jeglicher Solidität. Die Assoziationskette ist eindeutig: Wenn irgendjemand „Uran“ hört, denkt er automatisch an Atombombe, an Kernkraftwerk und an die schlimmen Folgen, die zu erleiden sind durch den Abwurf von Atombomben, was in keiner Weise zu rechtfertigen wäre. Die Assoziationskette wird genutzt, um Ängste zu schüren und sich gleichzeitig als Aufklärer darzustellen: Man fordert einen Untersuchungsausschuss, der dann dazu instrumentalisiert werden soll, diese Ängste weiter zu verbreiten, sie mit der Politik zu verbinden und in der Politik die Sache an einem Namen festzumachen. Dieser Name ist dann der des Verteidigungsministers. ({0}) Das ist das politische Ziel, das verfolgt wird mit den unsauberen Mitteln, wie ich sie gerade versucht habe darzustellen. ({1}) - Ich verstehe zwar kein Wort, aber ich nehme an, dass der Zwischenruf nicht sehr qualifiziert war, sonst könnten Sie eine Zwischenfrage stellen. Dagegen hätte ich eigentlich nichts, auch wenn ich mit Rücksicht auf die anderen Kollegen nicht so recht weiß, ob ich sie zulassen sollte.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Höfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fink?

Gerd Höfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002679, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bitte doch einmal, zu erklären, seit wann man Parlamentarische Untersuchungsausschüsse instrumentalisieren kann.

Gerd Höfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002679, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das müssen Sie die Kollegen von der CDU fragen. Die üben das gerade umgekehrt, ({0}) indem sie sagen, dass der Untersuchungsausschuss ein Kampfinstrument sei - um damit zu verschleiern, dass der Anlass des Untersuchungsausschusses kriminelle Machenschaften gewesen sind. Aber Sie werden sich heute in einer besonderen Nähe zur CDU und CSU befinden, vermute ich. Wenn es nicht so eintreten wird, dann haben wir ein gutes Stück an Informationspolitik geleistet. ({1}) - Im Gegensatz zu Ihnen werde ich vor 75 eh nicht vernünftig, und das hat so seine Gründe. Der zweite Teil der Desinformation geht über die Fürsorgepflicht: Man sagt, alle diese Dinge müssten untersucht werden, und behauptet, dass dieser Komplex nicht hinreichend untersucht sei, weil die Zahlen derer, die inzwischen untersucht worden sind, nicht ausreichend seien, ({2}) davon ausgehend, dass die Kollektive, die parallel gestaltet worden sind, zu klein sind. Meine Damen und Herren, ich werde jetzt etwas ernsthafter. Das gebietet das Thema. ({3}) Selbst wenn zehn Jahre lang untersucht wird - und darüber hinaus -, würde man feststellen müssen, ob über eine statistische Wahrscheinlichkeit, die signifikant ist, gesichert ist, dass die Zahl der Leukämiefälle, die ja inzwischen, wie Frau Lippmann sagt, europaweit aufgetreten sind, zunimmt. ({4}) - Ich habe selektiv zugehört und ich weiß auch genau, was ich sage. Man kann nicht behaupten, dass man dann, wenn man die Untersuchungen weiter ausdehnte, zu Schutzmaßnahmen komme, die möglicherweise verhindern würden, dass zum Beispiel Leukämie oder Lungenkrebs auftritt. Es ist leider so, dass in der Bundesrepublik Deutschland jährlich etwa 6 000 neue Leukämiefälle auftreten. ({5}) - Ich habe mich bei Universitäten und an sonstigen Stellen erkundigt, wie sich das bei diesem Thema gehört. Ich habe auch die Gutachten gelesen, die vom Verteidigungsministerium vorgelegt worden sind, die aber vielfach einfach negiert werden. Hier in der Öffentlichkeit wird darüber gar nicht gesprochen, auch nicht über die Bemühungen, die da laufen; im Verteidigungsausschuss ist es nicht öffentlich, da kann man ja anders damit umgehen. Auch das ist eine Frage der selektiven Wahrnehmung. Das würde also bedeuten, dass man Latenzzeiten mit betrachten muss. Einer der Professoren, die ich angerufen habe, hatte die Meldung gelesen, dass ein Soldat, der im Kosovo war - hinterher stellte sich heraus, in Mostar -, Leukämie hatte. Er sagte mir, dass diese DU-Munition, selbst wenn sie viel gefährlicher wäre, als hier geschildert wird, schon aufgrund der Latenzzeit nicht ursächlich für seine Leukämie hätte sein können. In 30 Jahren wird es aber so sein, dass sich irgendjemand daran erinnert, dass er in der infrage stehenden Zeit ja in Bosnien-Herzegowina oder im Kosovo gewesen ist. Dann wird er sofort eine finale Verbindung herstellen zwischen dem Aufenthalt in diesem Gebiet und der Erkrankung. Da diese Erkrankungen allerdings nicht signalisieren, dass der Auslöser dieses oder jenes gewesen ist, sie beispielsweise auch durch Erbdisposition ausgelöst werden können - natürlich auch durch Rauchen und Ähnliches -, wird man einen Zusammenhang nur über die statistischen Methoden herstellen können, jedoch ohne die Finalität, dass ein gewisser Auslöser möglich oder wahrscheinlich ist. Wenn diese Disposition aber nicht signifikant ist, dann wird es sehr schwierig sein, im Einzelfall die Finalität nachzuweisen. Das gilt genauso im Hinblick auf die Asbestdisposition; nur besteht hierbei ein Vorteil: Asbest kann man im Körper zumindest noch lokalisieren. Das Lokalisieren von Stäuben ist sehr schwierig und das von Strahlen ist unmöglich. Die Frage nach der Herstellung von Verantwortlichkeit kann auch durch größere Massenuntersuchungen nicht mit hundertprozentiger Sicherheit beantwortet werden. Das muss man der Ehrlichkeit halber all denjenigen sagen, die von diesen Dingen betroffen sein könnten. Das heißt: Wenn man behauptet, viele Untersuchungen brächten letztendlich Erkenntnis, dann gaukelt man Sicherheit nur vor. Wer dem Inspekteur des Sanitätswesens aufmerksam zugehört hat, der wird für diese Behauptung Bestätigung finden. Dasselbe gilt für diejenigen, die an Universitäten, welcher Art auch immer, nachfragen. Es gibt weitere umfassende Untersuchungen in der Bundeswehr - ich nehme an, dass Staatssekretär Kolbow darauf eingehen wird -; es gibt eine umfassende Untersuchung zum Beispiel über die Kontaminierung von Wasser. Sie haben verschwiegen, dass vorhergehende Untersuchungen das Ergebnis erbracht haben, dass eine solche Kontaminierung nicht festgestellt werden konnte. In dem Fall besitzt die Radioaktivität ausnahmsweise den Vorteil, dass man sie, sofern noch vorhanden, lokalisieren kann. Das trifft aber nur dann zu, wenn sich die Munition zerlegt hat und wenn Stäube gebildet worden sind. Es trifft nicht zu, wenn die Munition in der Erde stecken geblieben ist und nicht getroffen hat, also unversehrt ist. Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Die Sorgfältigkeit, die das Verteidigungsministerium in diesen Bereichen walten lässt, ist hervorragend. Bisher hat sich herausgestellt, dass eine Gefährdung für die Soldaten durch die eingesetzte DU-Munition auszuschließen ist. Das werden weitere Untersuchungen von im Kosovo eingesetzten Kollektiven - es finden dabei Vergleiche mit anderen Gruppen statt - bestätigen. Ich danke Ihnen für das Zuhören. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ursula Lietz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ursula Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ausgelöst durch die ungenügende Informationspolitik des Verteidigungsministeriums in Bezug auf Geschosse mit abgereichertem Uran präsentiert uns die Fraktion der PDS heute Abend einen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Zunächst einmal muss ich feststellen: Die Informationspolitik, die uns der Verteidigungsminister zu diesem Thema geliefert hat, war schlecht. ({0}) Dadurch ist der Eindruck entstanden, hier solle eher vertuscht und verschwiegen als aufgeklärt werden. Diese Vorwürfe sind mehr als berechtigt und sie sind im Verteidigungsausschuss durch Wortmeldungen mehrerer Fraktionen mehrfach deutlich gemacht worden. Dennoch werden wir dem Antrag der PDS nicht zustimmen. Die CDU/CSU-Fraktion ist der Meinung, dass es keines Untersuchungsausschusses bedarf, um die Vorgänge rund um Besitz und Einsatz von DU-Munition aufzuklären. Zunächst kann ich der PDS aber eine Formalie nicht ersparen. Sehr verehrte Frau Kollegin Lippmann, Sie sollten sich künftig vor der Beantragung eines Untersuchungsausschusses mit dem Grundgesetz vertraut machen. Sie haben einen Untersuchungsausschuss gemäß Art. 44 GG beantragt. Da es sich bei diesem Thema um eine Angelegenheit des Verteidigungsausschusses handelt, hätte Art. 45 a GG und nicht Art. 44 GG bemüht werden müssen. Wenn wir Ihrem Antrag folgten, dann müsste sich der Verteidigungsausschuss selbst als Untersuchungsausschuss konstituieren. ({1}) Verfassungsrechtlich ist Ihr Antrag eindeutig unzulässig. Was soll der Untersuchungsausschuss denn überhaupt bezwecken? Sie wollen geklärt wissen, welche Verantwortung die Bundesregierung für den Einsatz von abgereichertem Uran während des Kosovo-Krieges hatte, welche Bemühungen die Bundesregierung zur Aufklärung angestellt hat und ob sie der Sorgfaltspflicht gegenüber den Bundeswehrsoldaten nachgekommen ist. Wenn man nicht mehr weiter weiß, gründet man einen Arbeitskreis. Lassen Sie mich ganz deutlich sagen: Keines der hier aufgeführten Ziele wird durch einen Untersuchungsausschuss eher erreicht. Keine dieser Fragen hilft den Soldaten jetzt weiter. Worum geht es in der Sache eigentlich? Ich habe schon in meiner Rede am 18. Januar an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass bestimmte Maßnahmen umgesetzt werden müssen. Dazu gehört erstens, dass wir schnell wirklich alle Bundeswehrsoldaten erfassen, die im Kosovo mit DUMunition in Berührung gekommen sind oder gekommen sein könnten. Wir müssen ihnen die Möglichkeit der medizinischen Untersuchung anbieten, übrigens wiederholt, wenn es sein muss, über mehrere Jahre. Diese Untersuchungen müssen mit einheitlichen Standards und in Absprache mit anderen NATO-Partnern, die auf dem Balkan an den Friedensmissionen SFOR und KFOR teilgenommen haben, durchgeführt werden. Zweitens. Wir brauchen schnellstens klares Datenmaterial aller NATO-Länder aus DU-kontaminierten Gebieten im Kosovo, um unsere gemeinsamen Mess- und Erfassungsanstrengungen intensivieren und gemeinsame Datenbanken erstellen zu können. Drittens. Auch über Besitz und Verwendung DU-haltiger Munition in Deutschland, ob durch die Bundeswehr, durch andere Verbündete oder die ehemalige Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte, ist Aufklärung notwendig. Mittlerweile sind wir da ja schon etwas weiter und werden auch ohne einen Untersuchungsausschuss zu Ergebnissen kommen. Zu bemängeln bleibt allerdings ganz klar, dass diese Informationen vonseiten des Verteidigungsministers immer erst scheibchenweise gegeben wurden. Die Einbestellung des amerikanischen Geschäftsträgers sollte dann noch vom eigenen Fehlverhalten ablenken. ({2}) Wir haben die gewünschten Informationen von unseren amerikanischen Freunden mittlerweile bekommen. Wenn sich die Bundesregierung ein wenig um ein besseres Verhältnis zur neuen US-Administration kümmern würde, wäre es ein Leichtes, wieder das Vertrauen herzustellen, das zwischen Deutschland und den USA unter der Regierung Helmut Kohl bestanden hat. ({3}) Wenn der Verteidigungsminister einerseits im Auftrag der Bundesregierung im NATO-Rat um ein Moratorium bei der Verwendung von Munition mit abgereichertem Uran ersucht und andererseits das Thema zynisch vor laufenden Kameras selbst herunterspielt, dann darf sich das größte NATO-Land Europas nicht wundern, wenn seinen Anliegen kaum noch Gewicht beigemessen wird. Bei all diesen drängenden Fragen bringt uns ein Untersuchungsausschuss überhaupt nicht weiter. Er besitzt nicht die fachliche Kompetenz, um solche wissenschaftlichen Fragen fundiert zu klären. Das Ergebnis wäre einmal mehr ein riesiger organisatorischer Aufwand. Das Zusammenstellen der jetzt dringend benötigten Ergebnisse, die den Soldaten und deren Familien die Unsicherheit nehmen und weiterhelfen, würde dadurch sogar eher noch verzögert. Unter Umständen geben wir - auch das halte ich für sehr wichtig und bedenkenswert - ein falsches Signal an unsere Verbündeten, mit denen wir diese Probleme ja gemeinsam lösen sollen. ({4}) Meine Damen und Herren auf der äußersten Linken dieses Hauses, es geht Ihnen primär gar nicht um Aufklärung über den Einsatz von abgereichertem Uran. Wenn Sie ehrlich sind, sagen Sie doch einfach, dass Sie die Lage, in die uns der Verteidigungsminister durch mangelhafte Informationspolitik gebracht hat, dazu nutzen wollen, generell gegen den Balkaneinsatz und die Bundeswehr zu polemisieren und sie schlecht zu reden. Das, meine Damen und Herren von der PDS, werden wir nicht zulassen. ({5}) Wir stehen voll und ganz hinter der Bundeswehr und ihren Soldaten und auch hinter dem Einsatz auf dem Balkan. Das will ich hier ausdrücklich noch einmal betonen. Wir wollen in die Zukunft schauen. Wir wollen, dass jetzt gehandelt wird. Vergangenes kann zwar nicht ungeschehen gemacht werden - es ist Tatsache, dass der Einsatz von uranhaltigen Geschossen während des KosovoKrieges stattgefunden hat -, ({6}) aber jetzt hilft nur noch eine klare, zukunftsweisende Strategie, mit der wir die möglichen negativen Folgen dieses DU-Einsatzes minimieren. Die Tatsache, dass wir einen Untersuchungsausschuss ablehnen, sollte das Verteidigungsministerium auf gar keinen Fall als Freibrief für seine Handlungsweise verstehen. Ganz im Gegenteil: Im Verteidigungsausschuss und auch hier im Plenum wurde der Verteidigungsminister mehrmals aufgefordert, die Karten offen auf den Tisch zu legen; er hat es aber nicht getan. Auf Fragen hat er entweder ausweichend oder gar nicht geantwortet. Stattdessen hat er in seinem Hause immer wieder neue Listen produzieren und verteilen lassen, die seine Aktivitäten unter Beweis stellen sollten.Die erste gab es am 8. Januar. Eine zweite Dokumentation wurde uns am 29. Januar zur Nachbesserung auf den Tisch gelegt. Wir werden weitere Fragen stellen und wir werden Antworten darauf bekommen. Das kann ich Ihnen versprechen. Das Krisenmanagement in dieser Sache ist mangelhaft. Man hat zu viel beschwichtigt, statt den Sachverhalt zu untersuchen und aufzuklären. Dabei hat man sich unnötig in Widersprüche verstrickt: Auf der einen Seite erklärt man DU-Munition für unbedenklich; auf der anderen Seite führt man im Nachhinein strenge Sicherheitsmaßnahmen ein - was richtig ist. Dass da eine Schere aufgeht, hat sich der Verteidigungsminister selber zuzuschreiben. Geradezu peinlich und, wie ich finde, ausgesprochen unsachlich war allerdings der Selbstversuch mit Munition beim letzten Besuch im Kosovo. ({7}) Der Verteidigungsminister weiß sehr wohl, dass, wenn es zu Schäden gekommen sein sollte, diese entweder auf den erst nach Jahren feststellbaren Auswirkungen des Schwermetalls oder auf einer Exposition mit Uranstaub und möglicher Plutoniumwirkung, für die es keine Schwellenwerte gibt, die aber ebenfalls erst nach Jahren - so lange tagt kein Untersuchungsausschuss - erkennbar sind, beruhen. Der Minister hat mit diesem, wie ich finde, sehr unseriösen Auftritt, der auch noch im Verteidigungsausschuss geplant war, aber dort Gott sei Dank nicht stattgefunden hat, einmal mehr zu seiner Unglaubwürdigkeit beigetragen. Die Mehrheit dieses Hauses glaubt ihm bei diesem Thema nicht mehr und die Mehrheit der ihm untergebenen Soldaten scheint dies auch nicht mehr zu tun. Das Verteidigungsministerium mauert bei der Frage nach Asbestkontamination. Das Verteidigungsministerium mauert bei der Frage nach abgereichertem Uran. Man gibt leider auch bei der Frage nach Schädigungen durch Radargeräte kein besonders gutes Bild ab. ({8}) Man erreicht damit, dass die Medien auf Spekulationen angewiesen sind, weil offene Informationen oftmals nicht ausreichen. Briefe von Soldaten, die wir als Abgeordnete in diesen Tagen wahrscheinlich alle empfangen, sprechen da eine beredte Sprache. Sie klagen darüber, dass bei diesem Thema Konfusion herrscht. Es mag sein, dass der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages in den nächsten Jahren noch einiges zu tun bekommt. Aber einen Untersuchungsausschuss dazu brauchen wir nicht. Herr Fink, zu Ihrer Zwischenfrage: Wir haben in diesen Tagen sehr deutlich festgestellt, und zwar am Beispiel des Parteispenden-Untersuchungsausschusses, was dabei herauskommt, wenn ein Untersuchungsausschuss parteipolitisch missbraucht wird. Ein solcher Ausschuss verliert sehr schnell an Durchschlagskraft und Überzeugungskraft. Wenn wir so verfahren würden, würden die Soldaten sehr schnell das Vertrauen in unser Handeln verlieren. Ich danke Ihnen. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Beer, Bündnis 90/Die Grünen.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Munition mit abgereichertem Uran ist ein diffiziles Thema. Zwar ist - da hat Herr Höfer Recht - nicht eindeutig bewiesen, in welchem Ausmaße sie schädlich ist. Allerdings besteht der begründete Verdacht, dass sie zu gesundheitlichen Langzeitschäden für die Zivilbevölkerung und für die eingesetzten Männer und Frauen, ob mit oder ohne Uniform, führt. Dieser Verdacht wird nicht nur durch Aussagen von kritischen Wissenschaftlern, sondern auch durch die steigende Krebsrate bei der Bevölkerung in den Gebieten des Irak, in denen während des zweiten Golfkrieges diese Munition eingesetzt wurde, untermauert. Aus diesem Grunde reicht aus unserer Sicht der begründete Verdacht - es gibt in der Tat zahlreiche Indizien - für eine schnelle, internationale Initiative zur Ächtung uranhaltiger Munition aus. Wir wissen, dass es schwierig wird, dies auf der Ebene der internationalen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen in die Wege zu leiten und umzusetzen. Wir sprechen uns aber ganz klar für rasches Handeln aus. Wir kennen den Streit aus Auseinandersetzungen um das Atomkraftwerk Krümmel und von vielen anderen Standorten, wo ein Gutachten dem anderen widerspricht, wo die Politik sich aus der Verantwortung zieht und wo man den potenziellen Opfern den Nachweis der Ursache überlässt. Das können wir politisch nicht verantworten. Solange der Verdacht besteht, darf diese Munition nicht eingesetzt werden. Deswegen freue ich mich, dass sich auch der Bundeskanzler in dieser Frage sehr klar geäußert hat. Herr Schröder hat nämlich gesagt: Ich halte es nicht für richtig, eine solche Munition zu verwenden. ({0}) Wir bedauern es, dass die richtige Initiative der Bundesregierung - ich halte sie sehr wohl für richtig und wichtig -, zusammen mit der italienischen Regierung ein Moratorium in der NATO formal durchzusetzen, gescheitert ist. Fakt ist aber auch, dass es einen Konsens gibt, diese Munition derzeit nicht einzusetzen. ({1}) Meine Fraktion ist allerdings der Überzeugung, dass diese unklare Positionierung der NATO nicht die endgültige sein kann. ({2}) Die grüne Partei hat sich bereits auf dem Bielefelder Parteitag 1999 für die Ächtung uranhaltiger Munition ausgesprochen. Meine Fraktion hat diesen Beschluss aus dem letzten Jahr im Januar dieses Jahres bekräftigt. Wir werden uns daher aktiv um diese Initiative zur Ächtung von Uranmunition bemühen und unabhängige Institutionen nach Möglichkeit in ihrer Arbeit unterstützen. ({3}) Die Ausführungen der PDS klingen so, als sei die Angelegenheit ad acta gelegt. Das Parlament hat sich aber des Themas angenommen, nicht nur im Verteidigungsausschuss. Auch der Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung hat sich aus aktuellem Anlass mit dem Thema beschäftigt. Wir werden darüber weiter intensiv beraten. Ich sage in Richtung PDS ganz klar: Sie versuchen, ein sehr wichtiges Thema zu instrumentalisieren. ({4}) Wir wollen die Beratung im Ausschuss und einen politischen Konsens der Parteien, den wir brauchen. Auch in der Frage der Antipersonenminen brauchten wir diesen Konsens, um die Ächtung dieser Waffengattung international durchzusetzen. Wir müssen also gründlich vorgehen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Beer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lippmann?

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Beer, stimmen Sie mir zu, dass die Anfragen von verschiedenen Fraktionen, die in den vergangenen Wochen im Verteidigungsausschuss schriftlich eingereicht wurden und an den Verteidigungsminister gerichtet waren, bis heute im Detail nicht beantwortet sind? Stimmen Sie mir des Weiteren zu, dass Sie eines der wenigen Mitglieder dieses Ausschusses sind, das sich ausreichend informiert fühlt? Stimmen Sie mir ferner zu, dass Sie diejenige waren, die im Unterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung einem Antrag auf sofortige Ächtung der DU-Munition nicht zugestimmt hat? Sie haben vielmehr gefordert, man solle erst einmal die gutachterliche Stellungnahme der UN und weiterer Institutionen abwarten. ({0})

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Lippmann, es wird Sie jetzt überraschen, dass ich Ihnen in allen drei Punkten nicht zustimme. Erstens. Auch wir haben sehr ausführliche Fragen zu dem Bereich der DU-Munition gestellt, was die Anwendung auf deutschen Truppenübungsplätzen sowohl durch die Alliierten als auch möglicherweise durch die russischen Streitkräfte betrifft. ({0}) - Entschuldigung, Sie wollten doch eine Antwort haben. Wir haben Eingaben von Soldaten und auch Schreiben von Kollegen aus dem bayerischen Landtag sehr ernst genommen, die seit 1987 die Angelegenheit verfolgen. Wenn die Bundesregierung bzw. das Verteidigungsministerium innerhalb kurzer Zeit geantwortet hätte, dann hätte die Antwort nur aus Phrasen bestehen können. Ich gehe aber davon aus, dass unsere Fragen gründlich geprüft werden, dass wir im parlamentarischen Rahmen aufgrund der Arbeit der Sommer-Kommission eine ausreichende Antwort bekommen und dass wir nicht auf die Schnelle - nach dem Motto „hopp, hopp“ - eine verharmlosende Darstellung auf den Tisch gelegt bekommen. ({1}) - Frau Kollegin, ich bin mit der Antwort noch nicht fertig. Sie haben drei Fragen gestellt. Zweitens. Wir haben klar gemacht, wo die Informationsdefizite liegen, insbesondere was den Einsatz uranhaltiger Munition in Somalia und in Bosnien betrifft. Ich möchte hier nur am Rande darauf hinweisen, dass dieser Vorgang in der Verantwortung der alten Bundesregierung liegt. Drittens. Sie haben vorhin eine falsche Position von mir wiedergegeben. Ich hätte gern gewollt, dass wir eine entsprechende Initiative schneller durchsetzen. Ich habe mich aber auf einen Kompromiss eingelassen. Wir haben uns darauf geeinigt, die entsprechenden Daten abzuwarten, um die Frage beantworten zu können, ob Plutonium in der Munition enthalten ist oder nicht. Wir haben gesagt, wir wollen vorher eine völkerrechtliche Bewertung der Frage. Denn wenn Deutschland noch einmal so erfolgreich wie bei den Antipersonenminen eine internationale Ächtung durchsetzen will - wir sollten das auch im Bereich Splitterbomben prüfen -, dann sollten wir nicht voreilig handeln, sondern diese Initiative mit fundiertem Wissen und Sachverstand einleiten. Das ist im Interesse der Menschen, der Soldaten und aller Beteiligten. Ich komme zum Schluss. Ich verstehe, dass die Opposition - das ist schließlich ihr Geschäft - einen Antrag auf die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses stellt. Ich bin aber überzeugt - das habe ich eben auch ausgeführt -, dass wir keinen politischen Schlagabtausch brauchen, wenn es um die Interessen von Menschenleben, um die Interessen der Soldaten, deren Einsatz wir zu verantworten haben, geht. Wir erwarten vom Bundesverteidigungsministerium, dass die eingesetzte Arbeitsgruppe unter Leitung von Dr. Sommer eine zügige Aufklärung betreibt und dass das Parlament über alle Fragen unterrichtet wird, die noch nicht beantwortet sind. Denn ich bin der Überzeugung, dass nur rasches und transparentes Handeln Grundlage dafür sein kann, verloren gegangenes Vertrauen in die Politik und in die militärische Führung wieder herzustellen. Transparenz, Information und schnelles Handeln, das sind die Dinge, die wir brauchen, und nicht einen Untersuchungsausschuss, der alles bis in den nächsten Wahlkampf zu tragen versucht und dann doch - wie in der Regel in der Vergangenheit - seine Akten ohne Ergebnis schließt. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. lehnt den Antrag der PDS ab, da sich das Thema für einen Untersuchungsausschuss nicht eignet, obwohl ein Fehlverhalten im Bundesverteidigungsministerium sehr wohl nahe liegt. ({0}) Gefragt sind jetzt schnelle Aufklärung und schnelles Handeln. Denn es geht darum, die Ängste von 70 000 deutschen Soldaten, die im Kosovo und in Bosnien eingesetzt waren, und ihren Familien durch die Beseitigung aller Unsicherheiten zu beenden. ({1}) Ein Untersuchungsausschuss ist hierfür zu langsam. Er verstärkt auch eher unbegründete Ängste, als sie schnell abzubauen. Ein Untersuchungsausschuss ist übrigens ein sehr starkes Instrument des Parlaments, das nicht durch allzu häufigen Gebrauch an Wirkung verlieren sollte. Der Antrag der PDS ist überdies befremdlich, da kein Wort vom Schutz der Zivilbevölkerung darin zu lesen ist. Gerade in dem Sektor des Kosovo, in dem unsere Bundeswehr Verantwortung trägt, ist die besagte Munition besonders häufig eingesetzt worden. Die Bevölkerung, gerade Kinder, lebt mit der Gefährdung, die jetzt sehr genau und schnell analysiert werden und zu besonderen Informationskampagnen vor Ort führen muss. Minister Scharping muss sich fragen lassen: Wurde im NATO-Rat vor dem Eingreifen der NATO im Kosovo über die Verwendung von DU-Munition durch die USA gesprochen? Dies liegt deshalb nahe, da die Engländer, die ebenfalls über diese Munition verfügen und sie früher eingesetzt haben, in diesem Fall davon abgesehen haben, sie einzusetzen. Welche Gründe hatten die Engländer, diese Munition nicht einzusetzen? Wurde darüber gesprochen? Hat Scharping bei seinen Gesprächen in Moskau mit dem dortigen Verteidigungsminister Aufklärung darüber erzielt oder auch nur Aufklärung verlangt, ob die sowjetischen Truppen in der DDR, die diese Munition ja auch hatten, mit dieser Munition geübt haben und ob auf den dortigen Übungsplätzen möglicherweise noch immer Gefahren für die Bevölkerung in den neuen Bundesländern lauern? ({2}) Wann gingen dem Bundesverteidigungsministerium Erkenntnisse über die Gefährdung von Personen durch das Einatmen von Feinststäuben zu, die beim Einschlag von DU-Munition entstehen? Wann wurde dem Ministerium bekannt, dass in dieser Munition auch Spuren von Plutonium enthalten waren? Wie wurde auf bekannt gewordene Gefährdungen reagiert? Wurde das Ministerium seiner Informations- und Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten tatsächlich gerecht? Oder ging es zu Unrecht davon aus, dass es sich hier, wie Scharping noch vor zwei Wochen sagte, um eine vernachlässigbare Gefahr handele? Nein, die Tagesbefehle, mit denen die Soldaten angeblich informiert wurden, müssen genau untersucht werden, ob sie ihren Aufgaben gerecht geworden sind. Wie kann es zum Beispiel sein, dass sich Scharping immer wieder auf einen Tagesbefehl vom 14. Juni 1999 beruft, in dem in der Tat in sechs Zeilen von insgesamt 20 Seiten über DU-Munition berichtet und entsprechende Vorsorge nahe gelegt wird? Tatsache ist doch, dass auch die Festplatte von Soldaten, nämlich ihr Gehirn, nicht in Megabytes, in Speicherkapazität, sondern ganz schlicht in Gehirnwindungen bemessen wird. Übrigens: Das gilt nicht nur für Soldaten, sondern auch für Ministerialbeamte. ({3}) Ich möchte den sehen, der einen 20-seitigen Informationsbrief als Vorsorgehandlung bekommt und der danach noch weiß, was in sechs bestimmten Zeilen dieses langen Konvoluts enthalten war. Nein, die Art, wie Scharping mit diesem Problem umgegangen ist, ist nicht in Ordnung. Die Soldaten erwarten von ihrem obersten militärischen Vorgesetzten ein Verhalten, das Vertrauen einflößt, kein Rumgeeiere, bei dem es zunächst heißt, die Gefahr sei vernachlässigbar, und zwei Tage später wird, wie er sich auszudrücken pflegt, der amerikanische Geschäftsträger einbestellt, weil plötzlich für die Soldaten unerträgliche Gefährdungen festgestellt worden seien. Wir erwarten vom Verteidigungsminister in Zukunft ein ganz anderes Verhalten und werden dieses auch einfordern. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ulrike Merten, SPD-Fraktion, das Wort.

Ulrike Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei der Diskussion über den Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran hatte ich zeitweilig den Eindruck - ich finde, einige Beiträge heute Abend waren dafür ein beredtes Beispiel -, dass es weniger um die nötige Transparenz und Aufklärung ging als vielmehr um das Erzeugen von Aufregung und um gesteuerte Panikmache. ({0}) Wir wissen doch, welche Assoziationen in den Köpfen bei dem Begriff „Uran“ entstehen. Deswegen ist das verantwortungslos. ({1}) Es ist einfach verantwortungslos, dieses hoch sensible politische Thema parteipolitisch auszuschlachten. ({2}) Nein, nicht die Sorge um die Soldaten und die betroffene Zivilbevölkerung standen im Mittelpunkt des Bemühens der Oppositionsparteien, sondern eindeutig der politische Effekt, was nicht heißt, meine Damen und Herren, dass der zielführende Gedanke jeweils gleicher Natur gewesen wäre. Noch einmal: Es geht um Aufklärung, nicht um Aufregung. Ich will in diesem Zusammenhang nur drei Punkte nennen. Bereits im Februar 1997 - darauf hat auch Minister Scharping hingewiesen -, lange bevor es konkrete Hinweise auf DU gab, sind eindeutige Schutzmaßnahmen getroffen worden. Sie zielten darauf ab, vor Strahlenexposition zu schützen. Ebenso ging es darum, Inkorporation bzw. Kontamination wegen unsachgemäßer Lagerung und kampfbedingter Freisetzung von radioaktiven Stoffen und Abfällen zu verhindern. ({3}) Im Juni 1999 wurde mit der täglichen Weisung des Heeresführungskommandos das einrückende deutsche KFOR-Kontingent darauf hingewiesen, dass möglicherweise DU-Munition gegen gepanzerte Ziele eingesetzt worden sei und dies im Umkreis von 50 Metern zu schwacher radioaktiver Strahlung führen könne. ({4}) Diese Weisungen wurden wiederholt ergänzt und ich sage Ihnen: Es gibt inzwischen kompendiendicke Vorlagen, in denen Sie das genau nachlesen können. Außerdem hat die Bundesregierung schon im Mai 1999 von sich aus auf das toxische Risiko von DUMunition hingewiesen. ({5}) - Frau Lippmann, es wird dadurch nicht richtiger, dass Sie immer lauter rufen. ({6}) Seit diesem Zeitpunkt ist der Bundestag bzw. der Verteidigungsausschuss kontinuierlich - häufig vom Minister selbst - unterrichtet worden. Wenn wir unsere Soldatinnen und Soldaten fragen, fühlen sie sich in der Mehrzahl - in der Mehrzahl! - über DU-Munition durchaus gut informiert. ({7}) Glauben Sie mir, ich habe in den letzten Wochen mit sehr vielen Soldaten gesprochen, die im Einsatz waren, auch mit Soldaten in Augustorf. Diese Region ist ja besonders verunsichert worden. Die Soldaten belastet derzeit nicht so sehr die Sorge vor einer möglichen Gefährdung durch DU-Munition, sondern ({8}) die Verunsicherung ihrer Familien, die sowieso schon verunsichert und besorgt sind, wenn ihre Männer, Freunde und Lebenspartner im Einsatz sind. Diese Verunsicherung schwappt jetzt im Übrigen auch in den Kosovo hinein. Hildebrecht Braun ({9}) Das, was ich eben aufgeführt habe, zeigt ganz deutlich, dass kontinuierliche Aufklärung erfolgt ist und auch weiterhin erfolgt und dass die Soldaten dies sehr wohl wissen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Merten, hier möchte jemand eine Zwischenfrage stellen, und zwar der freundliche Kollege Braun.

Ulrike Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön, Herr Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Merten, Sie sagen, die Soldaten seien aufgeklärt und informiert worden. Trifft es zu - oder ist Ihnen bekannt, ob es zutrifft -, dass Heeresflieger nicht informiert waren, die Soldaten zu beschossenen Panzern geflogen haben, ({0}) die diese entsorgen sollten, weshalb die Heeresflieger mit ihren Hubschraubern in unmittelbarer Nähe solcher Panzer gelandet sind und dort naturgemäß Staub aufgewirbelt haben - das ist beim Landen von Hubschraubern nun einmal so -, mit der Folge, dass sie selbst, aber auch die Soldaten, die sie dorthin transportiert haben, in hohem Maße gefährdet wurden?

Ulrike Merten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003192, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Braun, ich habe eben gesagt, dass sich die Mehrzahl der Soldaten gut aufgeklärt fühlt. Ich glaube, man kann den Aussagen der Soldaten durchaus Glauben schenken. Das, was Sie eben anführten, muss noch einmal sehr genau nachgeprüft werden. Sollte die Aussage zutreffen, können wir auch darüber reden. ({0}) Wir haben, wenn es um Information und Transparenz geht, aber auch immer wieder gesagt: Dies kann nicht nur für Deutschland gelten, sondern die Forderung nach Transparenz und Information müssen wir auch an die USA richten, die als einzige mit Uran gehärtete Munition auf dem Balkan verschossen haben. Festzustellen bleibt: Von der Bundeswehr wurde und wird keine DU-Munition verwendet, weil sie keine besitzt. Ich meine, kein Staat sollte sie verwenden. Aber jenseits der grundsätzlichen Bewertung stand Folgendes auf der Tagesordnung: Ergeben sich Gefährdungen für Soldaten und die Bevölkerung aus den Stäuben von DU-Munition? Welches Gefährdungspotenzial entsteht unter Umständen durch die Kontamination des Bodens? Dieses Problem - ich finde, darauf muss man seriöserweise hinweisen - stellt sich allerdings auch, wenn man auf Uranmunition verzichtete und stattdessen Wolfram einsetzte. ({1}) Das muss man hinzufügen und man darf nicht so tun, als ob man mit dem Verzicht alle Probleme gelöst hätte. Inzwischen wissen wir ziemlich verlässlich, dass für die Soldaten zu keiner Zeit eine ernsthafte Gefährdung durch DU-Munition bestanden hat, immer davon ausgehend, dass die befohlenen Schutzvorschriften eingehalten wurden. Wir können also abschließend noch einmal festhalten: Es gibt weder ein Informationsdefizit geschweige denn schuldhafte bzw. fahrlässige Versäumnisse. Nur wenn solche bestünden, machte ein Untersuchungsausschuss wirklich Sinn. ({2}) Die im Antrag der PDS geforderte Verantwortung der Bundesregierung wurde von dieser zu jeder Zeit wahrgenommen. Darum sparen Sie sich endlich Ihre Aufgeregtheit! Nehmen Sie stattdessen zur Kenntnis, was an Aufklärung geschehen ist und laufend geschieht. Wir lehnen den Antrag der PDS natürlich ab. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir stimmen über den Antrag der Fraktion der PDS auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, Drucksache 14/5145, ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes ({0}) - Drucksache 14/4558 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Benno Zierer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Benno Zierer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002594, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine werten Damen! Meine Herren! Der Schutz von Religionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen sowie ihrer religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen ist, soweit christliche Bekenntnisse betroffen sind, durch den § 166 StGB nur unzureichend gesetzlich geregelt. Der Grund liegt in folgender Voraussetzung, die nach dem bisherigen Gesetz für die Strafbarkeit erfüllt sein muss: Die Beschimpfung muss geeignet sein, den öffentlichen Frieden zu stören. Aber das Vorliegen dieser Eignung wird von den Gerichten bei der Beschimpfung christlicher Bekenntnisse regelmäßig verneint. Die Begründung vonseiten der Gerichte lautet, Christen in Deutschland ließen die Verhöhnung ihres Glaubens in der Regel über sich ergehen. Sie verhalten sich deshalb so, so meine ich, weil es nicht in ihrer Mentalität liegt, gegen eine Verhöhnung mit gewalttätigen Mitteln vorzugehen. Das Fehlen öffentlicher Empörung oder gar mit Gewalt ausgeführter Empörung zeige aber, so die Gerichte, dass die betreffende Verhöhnung nicht geeignet gewesen sei, den öffentlichen Frieden zu stören. ({0}) Die Folge ist: Einstellung des Verfahrens oder Freispruch für die Verhöhnenden und somit im Ergebnis Straflosigkeit der Verhöhnung selbst. Auf diese Weise hat sich § 166 StGB in der Praxis auch bei groben Beschimpfungen religiöser und weltanschaulicher Bekenntnisse, soweit sie christlich sind, als wirkungslos erwiesen. Dieser Zustand der Straflosigkeit ist nicht länger hinnehmbar. ({1}) Auch der laizistische Staat sollte ein natürliches Interesse am Schutz religiöser Glaubensinhalte haben, da der Verlust von Werten, die Orientierung bieten und Solidarität stiften, nicht ohne Auswirkungen auf Staat und Gesellschaft bleiben kann. ({2}) Gerade in der heutigen Zeit mit ihren Sinnkrisen und Beziehungsdefiziten, mit ihrem ausufernden Individualismus kommt religiösen Inhalten und Bekenntnissen eine stabilisierende Wirkung zu. Diese stabilisierende Funktion muss geschützt werden. Die CDU/CSU-Fraktion legt deshalb auf Bundestagsdrucksache 14/4558 einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Das Hohe Haus war bereits im Jahre 1998 mit einem ähnlichen Antrag befasst, der als Gruppenantrag eingebracht worden war. Zu Ende der Legislaturperiode verfiel er dann aber der Diskontinuität. ({3}) Gegenstand des vorliegenden Gesetzentwurfes ist der bessere Schutz religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen durch einen geänderten § 166 StGB. In den beiden Absätzen des bisherigen § 166 StGB wird der Passus, dass die Beschimpfung geeignet sein muss, den öffentlichen Frieden zu stören, gestrichen. Beschimpfung allein soll künftig ausreichen. Ich möchte das noch deutlicher formulieren: Strafbar soll sein, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer beschimpft. ({4}) Um eine Kollision mit der im Grundgesetz verbrieften Meinungs- und Kunstfreiheit zu vermeiden, soll nach dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht schon jedes leicht abfällige religiöse Werturteil als Beschimpfung eingestuft werden, sondern nur eine „durch Form und Inhalt besonders verletzende Äußerung der Missachtung“. Dadurch wird sichergestellt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst dort eine Grenze haben, wo Religionsbeschimpfung als eine Form von psychischer Gewalt bewusst auf Verletzung, Provokation und Tabubruch zielt. Wie die Erfahrungen in der jüngeren Vergangenheit zeigen, nehmen die Angriffe insbesondere auf christliche Bekenntnisse an Schärfe und Intensität zu. Beispiele sind die „Heiligsprechung“ eines Homosexuellen durch eine ehemalige Prostituierte in einem dem päpstlichen Ornat ähnlichen Kleid bei einer Demonstration gegen den Papstbesuch in Berlin im Juni 1996 sowie Nacktaufnahmen auf dem Vierungsaltar des Kölner Doms. Darüber hinaus lassen zahlreiche Spielfilme und Bühnenstücke zunehmend jegliches Maß an Toleranz und Achtung vor der religiösen Überzeugung anderer vermissen. ({5}) Mit Betroffenheit und Empörung haben viele Bürger und kirchliche Stellen auf derartige Angriffe reagiert, und zwar in Form von Strafanzeigen, Eingaben und Beschwerden. Aber in zahlreichen Entscheidungen und Urteilen haben Staatsanwaltschaften und Gerichte die strafrechtliche Verfolgung dieser Angriffe abgelehnt. Die Begründung lautete: Die Beschimpfung sei nicht geeignet gewesen, den öffentlichen Frieden zu stören. Diese ablehnenden Bescheide und Urteile stoßen zunehmend auf Unverständnis. Zu Recht weisen die Betroffenen darauf hin, dass es ihnen nicht zugemutet werden kann, zu friedensstörenden Mitteln zu greifen, um vor gröbsten Verletzungen ihrer religiösen Gefühle geschützt zu werden. Dem Gesetzentwurf liegen deshalb folgende Gedanken zu Grunde: Erstens ist es Pflicht eines jeden, bei der Behandlung von Dingen, die anderen heilig sind oder ihr Weltbild maßgeblich prägen, Zurückhaltung zu üben. ({6}) Zweitens gibt es Handlungen, die diese Pflicht so gröblich verletzen, dass nach allgemeinem Rechtsempfinden eine staatliche Strafe geboten ist. Kardinal Ratzinger ({7}) hat in einem Vortrag über die geistigen Grundlagen Europas Ende November vergangenen Jahres in der Landesvertretung Bayern hier in Berlin Folgendes ausgeführt - ich zitiere ihn wörtlich -: In unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird gottlob jemand bestraft, der den Glauben Israels, sein Gottesbild, seine großen Gestalten verhöhnt. Es wird auch jemand bestraft, der den Koran und die Glaubensüberzeugungen des Islam herabsetzt. Wo es dagegen um Christus und um das Heilige der Christen geht, erscheint die Meinungsfreiheit als das höchste Gut, das einzuschränken die Toleranz und die Freiheit überhaupt gefährden oder gar zerstören würde. Ich meine, diese Worte bezeichnen genau das Ziel, um das es in dem Gesetzentwurf geht, nämlich dass die Ehrfurcht vor dem Heiligen überhaupt, die Ehrfurcht vor Gott auch demjenigen zumutbar ist, der selbst nicht an Gott zu glauben bereit ist. Strafbar soll daher sein, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften den Inhalt des religiösen oder des weltanschaulichen Bekenntnisses anderer beschimpft. Der Begriff des „Beschimpfens“ ist in der Rechtsprechung inhaltlich hinreichend definiert. Daher besteht - darauf möchte ich ausdrücklich hinweisen - keine Gefahr, der novellierte § 166 StGB könne zu einer Waffe im Weltanschauungskampf oder zu einem Zensurparagraphen werden. Die derzeitige Rechtslage ist unbefriedigend. Die Gesetzesänderung ist darum dringend notwendig. Das werden die Koalitionsfraktionen einsehen und werden ihre Zustimmung - das bleibt zu hoffen - nicht verweigern. Haben Sie vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Für die SPD-Fraktion erteile ich dem Kollegen Joachim Stünker das Wort.

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der rechtspolitische Sinn oder besser gesagt: die Sinnhaftigkeit des vorliegenden Gesetzentwurfes zum gegenwärtigen Zeitpunkt, im Jahre 2001, erschließt sich mir nicht und hat sich mir auch nach Ihren Ausführungen, Herr Kollege, nicht erschlossen. ({0}) In der Überschrift heißt es: „Stärkung des Toleranzgebotes durch einen besseren Schutz religiöser und weltanschaulicher Überzeugung gemäß § 166 StGB“. Was verbirgt sich hinter diesem Oberbegriff? Wo ist die rechtspolitische Notwendigkeit, der sachliche Grund für die begehrte Änderung des Strafgesetzbuches? Welches tatsächliche Verhalten der Bürgerinnen und Bürger soll damit neu unter Strafe gestellt werden? Welche Handlungen sollen damit letztendlich pönalisiert werden? Die Nachforschungen und rechtshistorischen Recherchen, die häufig sehr aufschlussreich sind, haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass uns der vorliegende Gesetzentwurf, wenn er denn beschlossen würde, rechtspolitisch über 30 Jahre zurückwerfen würde. ({1}) Die Unionsfraktion tummelt sich auch in der Rechtspolitik noch immer im Meinungskampf der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Es ist der Reformgesetzgeber des Jahres 1969 gewesen, der mit dem Ersten Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 1969 den bis heute geltenden Tatbestand des § 166 StGB, den Sie nun ändern wollen, geschaffen hat, ({2}) ein Reformgesetzgeber, der - übrigens in der Zeit der einzigen großen Koalition, die es in der Nachkriegsgeschichte gegeben hat - zum Ausgang der Nachkriegsrestauration auch unser Strafgesetzbuch entstaubt hat, der ein liberales Strafrecht geschaffen hat, ein Strafrecht, das nicht der ethisch-moralischen Bevormundung der Staatsbürger zu dienen hat, sondern ein Strafrecht, das den öffentlichen Frieden in den Grenzen der Bundesrepublik zu gewährleisten hat. ({3}) Große Namen in der Rechtswissenschaft, aber insbesondere bedeutende Rechtspolitiker der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. in diesem Hause stehen für diese Liberalisierung des Strafrechts. Der Deutsche Bundestag hatte seinerzeit wegen der großen Bedeutung dieses Nachkriegsvorhabens mit Bedacht den Sonderausschuss für die Strafrechtsreform eingesetzt. Dieser hat seinerzeit in 101 Sitzungen unter großer wissenschaftlicher Beteiligung bedeutender Strafrechtslehrer getagt. Geprägt haben diesen Ausschuss und die damalige Diskussion Namen wie Dr. Güde, Dr. Müller-Emmert, Dr. Dehler, Frau Dr. Diemer-Nicolaus und Herr Schlee um nur einige Namen zu nennen. Sie alle sind Rechtspolitiker, deren Wirken bis heute, quer über die Parteigrenzen hinweg, seine Bedeutung nicht verloren hat. ({4}) Diese Liberalisierung des Strafrechts ist dann noch vor der Bundestagswahl des Jahres 1969, also noch in der Zeit der großen Koalition, in diesem Hohen Hause weit fraktions- und parteiübergreifend beschlossen worden. ({5}) - Herr Kollege Geis, seien Sie doch nicht so aufgeregt, hören Sie doch auch mal zu. ({6}) Nun zu der Neuregelung: Im 11. Abschnitt des Strafgesetzbuches, unter der Überschrift „Straftaten, welche sich auf Religion und Weltanschauung beziehen“, ist in § 166 seit diesem Zeitpunkt die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen unter Strafe gestellt, und zwar im Höchstfall mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren. Aber der Reformgesetzgeber von 1969 hat gegenüber der bis dahin geltenden Regelung mit der Einfügung der so genannten Geeignetheitsklausel diese Handlungen eben nur dann unter Strafe gestellt, wenn sie geeignet sind, den öffentlichen Frieden zu stören. ({7}) Das bedeutet: Nicht der Schutz des geistigen Friedens, sondern die Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens in der Ausprägung, die er durch den Toleranzgedanken erfahren hat, ist Aufgabe des Tatbestandes. Geschützt werden sollen Fairness und Anstand in der religiösen und weltanschaulichen Auseinandersetzung, die als solche durchaus erwünscht ist, aber nicht in der Form friedensstörender Beschimpfungen geführt werden darf. Die Vorschrift schützt damit den öffentlichen Frieden, nicht aber das religiöse Empfinden des Einzelnen und nicht den sachlichen Inhalt religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse. Das war und ist der Kerngehalt der damaligen Neuregelung. ({8}) Mit Ihrem heutigen Änderungsantrag möchten Sie, lieber Herr Geis und liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dies nunmehr wieder umdrehen. Die im Jahre 1969 Mindermeinung gebliebene Auffassung zum Schutzzweck dieser Norm soll 32 Jahre später zur Mehrheitsmeinung gemacht werden. Sie wollen den Schutz dieser Vorschrift wieder dahin ausdehnen, dass die geäußerte Missachtung des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses Dritter als solche unter Strafe gestellt werden soll. Den Protokollen der damaligen umfassenden Ausschusssitzungen und den wissenschaftlichen Aufsätzen ist zu entnehmen, dass seinerzeit zu dieser Frage die gleichen Argumente wie heute hier vorgetragen ausgetauscht worden sind. In der Folgezeit gab es in den Jahren 1986 und 1998 hierzu gleich lautende Gesetzesanträge des Freistaates Bayern, die über den Bundesrat eingebracht worden waren, die aber samt und sonders ohne Erfolg geblieben sind. Ich frage mich: Warum haben Sie in dieser Zeit mit Ihrer Mehrheit nicht das umgesetzt, was Sie uns heute hier wieder vorlegen? Sie haben die Möglichkeit gehabt! ({9}) Ich empfinde es als zynisch, heute in der Opposition diesen Antrag wieder vorzulegen, den Sie damals, 16 Jahre lang, mit eigenen Mehrheiten nicht haben umsetzen können. Herr Kollege Geis, der jetzt vorliegende Antrag ist wortwörtlich abgeschrieben aus den Initiativen von 1986 und 1998. ({10}) Es sind dieselben Begründungen wie seinerzeit. Es haben sich seitdem also rechtstatsächlich betrachtet keine neuen Verhältnisse ergeben, die ein Handeln des Gesetzgebers notwendig machen würden. Die Antwort auf Ihr Begehren bleibt daher auch heute die gleiche wie seinerzeit: Ich und wir stehen ohne Einschränkungen für die Achtung des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses Dritter ein - keine Frage. Diese Achtung findet im Übrigen zum Beispiel in § 167 StGB - Unterschutzstellung der Religionsausübung - ihre weitere Ausprägung. Diese Achtung hat auch uneingeschränkt in allen staatlichen Institutionen zu erfolgen - keine Frage. Die im gesprochenen Wort oder in Darstellungen der Kunst zum Ausdruck gebrachte Missachtung aber, die den öffentlichen Frieden nicht stört, kann und darf in einer säkularisierten Gesellschaft nicht unter Strafe gestellt werden. Das gebietet die Gewährleistung der Meinungsfreiheit nach unserer Verfassung. Ich und jeder andere mag diese geäußerte Missachtung, von der Sie gesprochen haben, missbilligen. Darum geht es hier aber nicht. Insoweit ist aber ein von Amts wegen auszuübender und durchzusetzender staatlicher Strafanspruch, den jeder Staatsanwalt verfolgen muss, nach unserer Überzeugung ausdrücklich fehl am Platze. Der gesellschaftliche Meinungskampf, der Austausch von Argumenten ({11}) darf hier über das Strafrecht letzten Endes nicht ausgeschlossen werden. Wir werden daher diese Vorschrift nicht ändern, Herr Geis. In gewissem Sinne ist aber dieser Vorgang, dass Sie die über 30 Jahre alten Anträge heute wieder vorlegen, symptomatisch, Herr Kollege Geis. ({12}) - Das habe ich doch gerade gesagt. Sie haben nicht zugehört. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, Sie sind - auch rechtspolitisch - konservativ und restaurativ in der Vergangenheit stehen geblieben. Die modernen Anforderungen der heutigen Zeit haben Sie nicht erkannt, ganz zu schweigen von den Anforderungen der Zukunft an die Justiz. ({13}) Sie sind nicht in der Lage, dieser Gesellschaft neue Impulse zu geben. ({14}) Deshalb sind Sie zu Recht im September 1998 abgewählt worden. ({15}) So sind Ihre rechtspolitischen Initiativen in Ihrer Legislaturperiode samt und sonders Ladenhüter aus der Vergangenheit gewesen. ({16}) Sie haben uns bis heute nur alte Gesetzesvorhaben aus der Vergangenheit vorgelegt, ({17}) die durchzusetzen zu Ihrer Regierungszeit mit Ihrem Koalitionspartner nicht gelungen ist und die der Diskontinuität unterlagen. Es sind alles Ladenhüter gewesen, Herr Kollege Geis. ({18}) Nicht in einem einzigen Fall haben Sie eigene Kreativität gezeigt. ({19}) Ich lade Sie daher herzlich ein, Herr Kollege Geis, machen Sie sich fit für den konstruktiven Dialog, lassen Sie uns die justizpolitischen Herausforderungen der Zukunft diskutieren, und hören Sie endlich auf, im 21. Jahrhundert ausschließlich der Vergangenheit zugewandt zu sein. ({20}) Dann können wir in diesem Lande rechtspolitisch fruchtbar diskutieren. Schönen Dank. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, dass die CDU/CSU-Fraktion heute diesen Gesetzentwurf neu einbringt und wir in erster Lesung darüber diskutieren, hängt unter anderem damit zusammen, dass in der letzten Legislaturperiode meine Fraktion dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion nicht zugestimmt hat und wir dafür gesorgt haben, dass es nicht zu einer entsprechenden Beschlussfassung des Parlaments gekommen ist. ({0}) Es ist auch kein Geheimnis, dass gerade für Liberale das Thema „Meinungsfreiheit“ ein Urthema ist. ({1}) Trotzdem wird es Sie vielleicht überraschen, dass ich hier gar nicht mit den Stereotypen arbeiten möchte, die wir bisher zum Teil in der Debatte erlebt haben. ({2}) Denn es ist auch ein anderes wichtiges liberales Thema angesprochen worden, das Thema „Toleranz“. Ich meine, dass die Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Toleranz, Respektieren von Überzeugungen insbesondere einer Minderheit durchaus das Nachdenken wert ist, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst wollte der Gesetzgeber, der in der großen Koalition damals durchaus auch mit dem Willen der F.D.P. den § 166 neu gefasst hatte, die Strafbarkeit nicht beseitigen. Er wollte aber erreichen, dass es eine Klausel gibt, die dafür sorgt, dass nicht jede kleine Handlung tatsächlich vor dem Strafrichter landet, weil auch das die Ausprägung der Meinungsfreiheit tangiert. Aber ich meine, dass nach einer so langen Zeit auch eine Überprüfung angebracht ist, um zu sehen, ob das, was sich damals der Gesetzgeber vorgestellt hat, nämlich gravierende Vorgänge weiter unter Strafe zu stellen, tatsächlich eingetreten ist. Wenn man sich die Urteile anschaut, hat man den Eindruck, dass jedes, aber auch wirklich jedes Argument recht ist, jeweils immer zugunsten von Meinungsfreiheit zu entscheiden. Daher ist dies ein Thema, das heute durchaus viel aktueller ist, als manche glauben. Denn das, was wir im Augenblick an Problemen in dieser Gesellschaft, an Gewalt gegenüber anderen Menschen erleben, hat nach meiner Auffassung auch mit dem Mangel an ethischen Korsettstangen zu tun. ({3}) - Lieber Herr Stünker, warten Sie doch einfach einmal ab, bevor Sie diese Zwischenrufe machen, die mit meinen bisherigen Ausführungen überhaupt nicht zu rechtfertigen sind. ({4}) Ich denke, dass uns die Frage der ethischen Korsettstangen beschäftigen muss. Der Wegfall von Ethik hat unter anderem zu den heutigen Verhältnissen geführt. Ob man dagegen mit dem Strafrecht vorgehen sollte - ich gehe gleich auf Sie ein -, ist eine Frage, auf die wir eine Antwort finden müssen. ({5}) Ich glaube, es wäre eine zu leichte Antwort, wenn wir mit der Strafvorschrift argumentierten. Sie kann da und dort durchaus ergänzend wirken, wie sich das auch bei unserer Diskussion über den Rechtsradikalismus gezeigt hat, bei dem wir zu Strafvorschriften greifen. Von daher sollten wir weder auf der einen noch auf der anderen Seite Zäune aufziehen, sondern uns darüber unterhalten, ob die Strafvorschrift zeitgemäß und notwendig ist und ob wir sie überhaupt brauchen. Was können wir tun, um die ethischen Mängel in der Gesellschaft, die sich an solchen Symptomen zeigen, zu verringern? Auf eine solche ernsthafte Diskussion freue ich mich. Ich will etwas zu Minderheiten sagen. Christen sind in dieser Gesellschaft Minderheiten. Das zeigt, wie gut es dieser Gesellschaft geht; denn alle wissen, dass Religion nur dann bei vielen Menschen Konjunktur hat, wenn sie in Not sind. Eine Minderheit wie die Christen hat Anspruch auf Toleranz in unserer Gesellschaft. Dafür werden wir Freie Demokraten genauso wie für die Meinungsfreiheit eintreten. Wie gesagt: Wir freuen uns auf diese Diskussion und werden uns aktiv in sie einbringen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geschätzter Kollege van Essen, die Frage, ob ethische Orientierungen in Politik und Gesellschaft eine Bedeutung haben, wird sich bei den Themen entscheiden, die wir in dieser Wahlperiode noch diskutieren müssen, nämlich: Was machen wir im Bereich der Forschung und der Medizin? ({0}) Von welchem Menschenbild lassen wir uns leiten? Wie begründen wir die Gesetzgebung in diesem Bereich? Hier gibt es ethische Konflikte, die wir intensiv diskutieren müssen. Dann werden wir auch für die Prinzipien, die dahinter stehen, in der Gesellschaft wieder den nötigen Respekt haben. Der Strafgesetzgeber und der Staatsanwalt werden zur ethischen Orientierung in diesen Fragen durch das Meinungsstrafrecht herzlich wenig beitragen können. ({1}) Pünktlich zur Karnevalszeit präsentiert uns die Union olle bayerische Gesetzeskamellen. ({2}) Der vorliegende Entwurf geht auf eine CSU-Initiative zurück. Er hat in der letzten Wahlperiode im Bundesrat die nötige Mehrheit verfehlt. Dieses Mal wird er im Bundestag scheitern. Zu Recht: Die vorgeschlagene Änderung in § 166 StGB ist überflüssig. Kriminalpolitisch bedeutet sie ein Zurück ins 19. Jahrhundert. Nur zur Erinnerung: 1871 wurde der so genannte Gotteslästerungsparagraph in das Strafgesetzbuch eingeführt. 1969 - Herr Stünker hat es dargelegt - wurde er reformiert. Wer im Sinne des heutigen Unionentwurfes jede Form gotteslästerlicher Äußerungen rückhaltlos unter Strafe stellen will, verletzt letztendlich das Grundgesetz. ({3}) Meinungs- und Kunstfreiheit werden in bedenklicher Weise tangiert. Religions- und kirchenkritische Äußerungen werden nahezu verboten. ({4}) Herr Kollege, Sie selber haben in Agenturmeldungen die Hosen heruntergelassen und gezeigt, worum es Ihnen ging. Ihnen ging es zum einen um den Fall einer - zugegeben - geschmacklosen Aktion auf einer Demonstration. Zum anderen ging es Ihnen um ein Theaterstück, das Sie verbieten möchten. ({5}) Ich habe das Stück nicht gesehen, aber ich vermute, es unterliegt im weitesten Sinne der Kulturfreiheit. Wenn sich manche Menschen beleidigt fühlen, dass Jesus als Homosexueller in einem Theaterstück erscheint, dann stellt sich die Frage, wer mit welcher Auffassung wen beleidigt, wenn er dies für eine gedankliche Unmöglichkeit und Beschimpfung hält. Sie haben dieses Theaterstück als Beispiel dafür genannt, was Sie mit § 166 StGB unter Strafe stellen wollen. ({6}) Sie haben die Grenzen dessen überschritten, was durch die Kunst- und Kulturfreiheit geschützt ist. ({7}) Allein die Worte Gott oder Christus in einem humorvollen oder satirischen Kontext in den Mund zu nehmen wäre für die Bürgerinnen und Bürger viel zu riskant. Will man als Strafgesetzgeber in diesem Bereich überhaupt reagieren, braucht man tatbestandliche Korrektive. Bei § 166 ist es die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens. Würden wir an dieser notwendigen Strafbarkeitsschwelle nicht festhalten, könnten wir gleich ein Gesetz zur Bekämpfung sämtlicher Geschmacklosigkeiten auf den Weg bringen, weil das meiste davon fürwahr geschmacklos ist. ({8}) Dann aber, meine Damen und Herren von der Union, hätte sich Ihr neuer Generalsekretär mit seinem den Bundeskanzler diffamierenden Rentenplakat längst strafbar gemacht. ({9}) Ich gebe meiner Kollegin von der SPD-Fraktion, Frau von Renesse, Recht: Einer Strafrechtskeule, wie sie die CDU/CSU heute hier vorschlägt, bedarf es nicht, abgesehen davon, dass sich die ohnehin überlasteten Ermittlungsbehörden über die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nicht besonders freuen würden. Auch den Strafrichtern am Amtsgericht täten wir keinen Gefallen, müssten sie doch künftig Verfassungsrichter spielen; denn in jedem Einzelfall wäre zu prüfen, ob die Meinungs- oder Kunstfreiheit nicht höherwertig einzuschätzen ist. Dann könnte genau das passieren, was Sie von der Union auch nicht wollen können: Manche Geschmacklosigkeiten würden mit der Publizität eines Strafverfahrens quasi per Richterspruch hoffähig gemacht. ({10}) Das wäre wirklich das falsche Signal. Aber ich will auch noch aus persönlicher Betroffenheit sprechen, nämlich als karnevalserprobter Kölner. Mancher Büttenredner in meiner Heimatstadt müsste jetzt, hätte Ihr Gesetz eine Chance, sein Manuskript überprüfen und gegebenenfalls umschreiben. Dieses Zurück zum tierischen Ernst wird es mit uns nicht geben; es wäre auch keinem Rheinländer wirklich zuzumuten. Gehen Sie nämlich gedanklich einmal in die Geschichte der christlichen Religion und Kultur zurück, werden Sie feststellen, dass es für einen Katholiken immer dazugehörte, dass die Welt während des Karnevals Kopf steht und am Aschermittwoch mit der Buße die Absolution kommt. Dazu gehört es auch, sich über den örtlichen Bischof lustig zu machen, was in den letzten Jahrhunderten auch nicht immer nur geschmackvoll war. Aber es gehörte zur christlichen Kultur dazu, so etwas möglich zu machen. ({11}) Meine Herren von der Union, es würde auch helfen, wenn Sie sich die geltende Rechtslage etwas genauer anschauten, weil ein Punkt, den Sie in der Begründung Ihres Gesetzentwurfs anführen, nämlich dass Nackte einen Gottesdienst stören oder ein Gotteshaus betreten, nach § 167 zweifelsfrei und völlig zu Recht wegen Störung der Religionsausübung strafbar ist. Selbstverständlich ist so etwas in einem Gotteshaus nicht zulässig. ({12}) - Das war eine Aktion im Kölner Dom. ({13}) Selbst wenn ein Schwein ans Kreuz genagelt und dies im Internet verbreitet wird, wird das heute nach § 166 bestraft. ({14}) - Ich kann Ihnen das Urteil schicken. So urteilt die Rechtsprechung heute. Sie sind darüber offenbar schlecht informiert, Herr Geis. Der Vollständigkeit halber weise ich darauf hin, dass manche Arten von Beschimpfungen oder negativen Äußerungen über Religionsgemeinschaften auch als Volksverhetzung oder Beleidigung bestraft werden können.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beck, Sie müssen bitte Ihre Rede beenden. Sie sind schon deutlich über der Zeit.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Ich kann mich noch sehr gut an einige Vorfälle erinnern, bei denen auf Grundlage des heutigen § 166 Karnevalsveranstalter umdisponieren und Plakate oder TünnesKreuze abhängen mussten. Diese Dinge wurden nur wegen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens einer breiten Öffentlichkeit überhaupt bekannt. In der Regel wurden die Verfahren hinterher - zu Recht - eingestellt, weil diese Dinge nicht den öffentlichen Frieden gestört haben, sondern allenfalls eine Einzelperson sich in ihrer Meinung gestört fühlte. Letztendlich waren dies Meinungsäußerungen, die wir im politischen Meinungsstreit oder durch Plakate von Parteizentralen üblicherweise auch übereinander verbreiten. Man kann bei vielen Dingen darüber diskutieren, ob man sie gut oder schlecht findet, man kann oft auch darüber diskutieren, wie man miteinander umgeht. Das ist dann aber ein kultureller, ethischer Diskurs, wie es Herr van Essen angesprochen hat. Aber wir dürfen nicht alles, was wir schlecht finden, immer schon gleich bestrafen. ({0}) Wir müssen hier über die Anerkennung der Werte in der Gesellschaft streiten, ohne immer gleich zum Hilfsmittel des Strafrechtes zu greifen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile für eine Kurzintervention der Kollegin Margot von Renesse das Wort.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Kurzintervention bezieht sich auf die Rede des Kollegen van Essen. Herr Kollege van Essen, es ist sicherlich richtig, dass wir in manchen Punkten eine Verwilderung der Sitten erleben und dabei merkwürdigerweise auf die Symbole der christlichen Kirche Bezug genommen wird und das häufig - wie der Kollege Beck sagte - nicht immer sehr geschmackvoll, ja im Gegenteil sogar außerordentlich geschmacklos. Es ist, als ob Leute im Anschluss an die großen Kirchenkritiker des 18./19. Jahrhunderts noch heute dazu aufgerufen wären, einer machtvollen inquisitionshaltigen Kirche nun endlich nach dem Motto „Écrasez l’infâme“ die Zügel anzulegen und ihren Mut und ihren Geist zu beweisen. Das ist nicht der Fall. Man stellt das merkwürdigerweise auch bei Leuten, die von Muslimen und anderen Religionen große Behutsamkeit verlangen und mitunter sogar selbst an den Tag legen, fest. Beleidigt und beschimpft wird oft die arme Witwe, die in die Kirche geht. Sie ist diejenige, die geschützt werden muss, aber auch geschützt wird, und zwar durch den Paragraphen, den Herr Beck angesprochen hat, der Störungen des Gottesdienstes durch Beleidigung und durch andere Dinge unter Strafe stellt. Ich habe aber Probleme damit, wenn das Strafrecht benutzt wird. Wenn Sie von einem ethischen Diskurs sprechen, geben wir Ihnen alle Recht. Der ethische Diskurs wird aber in der Regel nicht durch das Strafrecht verbessert. Wenn Sie von ethischen Korsettstangen sprechen, die Sie im Strafrecht vermuten, fürchte ich, Sie werden mit ethischen Brechstangen arbeiten. Das bringt in der Regel weder den Menschen Geschmack bei, noch bringt es Toleranz. Es bringt aber unter Umständen - wie Herr Beck richtig sagte - freisprechende Urteile, die ein entsprechendes Verhalten mit TÜV-Stempel versehen, was wir alle als Übel empfinden würden. ({0}) Volker Beck ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege van Essen.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin von Renesse, die Einschätzung, dass es in diesem Bereich Gefahren gibt, teile ich mit Ihnen. Ich teile auch die Auffassung, dass das Strafrecht bei Diskussionen durchaus nicht immer hilfreich ist, insbesondere dann, wenn das eintritt, was Sie gerade dargestellt haben, nämlich dass ein Verfahren gegen Betroffene mit Freisprüchen oder Einstellungen endet. Auch darin stimme ich Ihnen zu. Trotzdem denke ich - das war meine Anregung -, dass wir diesen Antrag zum Anlass nehmen sollten, über diese Fragen zu diskutieren. Wir sollten das Thema nicht so behandeln, wie es heute in der Debatte zum Teil geschehen ist, als das Problem dargestellt wurde, als sei es rückwärts gewandt, wenn wir uns heute damit beschäftigen und uns dafür interessieren. Das Ganze wurde in die Nähe des Karnevals gerückt. Ich glaube, dass man in diesen Fragen mit einer tieferen Herangehensweise nach einer Antwort suchen muss. Ich denke auch, dass darüber diskutiert werden kann, darf und muss, welche Auswirkungen es auf die Gesellschaft hat, wenn Gesellschaften kein Tabu mehr kennen. Auch das ist eine Frage, die mich persönlich beschäftigt. Wenn wir einen solchen gesellschaftspolitischen Diskurs führen, halte ich das für außerordentlich hilfreich und förderlich und dann werden wir auch die Frage, ob das Strafrecht dabei eher förderlich oder eher hinderlich ist - was Ihre Überzeugung ist -, viel besser beantworten können. Das Thema ist für sich betrachtet bereits einer Diskussion wert. Bei dieser Auffassung bleibe ich. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Heinrich Fink, PDS-Fraktion.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr verehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Stärkung des Toleranzgebotes, wie sie der vorliegende Gesetzentwurf fordert, hätte unsere Gesellschaft dringend nötig. Ich denke an die tägliche Demütigung von Ausländern, Obdachlosen und das Verhalten von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber den Schwächsten in unserem Lande. Leider aber soll nicht denen gegenüber Toleranz stabilisiert werden, sondern es geht - so wie es im Gesetzentwurf gefordert wird - um einen besseren Schutz religiöser Überzeugungen. Diesem Anliegen stimme ich als Christ natürlich zu, bin aber der Meinung, dass eine christliche, religiöse Überzeugung durch die bestehenden Gesetze - das hat der Kollege Stünker ausgeführt - hinreichend gewährleistet ist. Allerdings lassen mich Beispiele aus jüngster Zeit daran zweifeln, dass Toleranz auch gegenüber persönlichen Überzeugungen von Angehörigen nicht christlicher Religionen gewährleistet wird. Ich erinnere dabei an Diskussionen darüber, ob es toleriert werden kann, dass eine Frau nach islamischem Brauch an einer deutschen Schule mit Kopftuch unterrichtet oder ob einer islamischen Gemeinschaft erlaubt werden kann, in einem auch von Christen bewohnten Viertel eine Moschee zu errichten. In diesen Diskussionen ist ein bedrohlicher Mangel an Toleranz sichtbar. ({0}) Im vorliegenden Entwurf wird aber die Notwendigkeit der Stärkung des Toleranzgebotes speziell Christen gegenüber gefordert und der öffentliche Friede der Gesellschaft dem untergeordnet. Öffentlicher Friede ist für mich ein wichtiges demokratisches Rechtsgut, das gerade von Christen aus Glaubensüberzeugung geschützt werden muss. Wo im Weltanschauungsstreit mit künstlerischen Mitteln oder aber banal Spielregeln der Zumutbarkeit verletzt werden, sollten zumindest Christen prüfen, ob sie gerade im Konflikt zur Klärung nicht Freiheitsstrafen durch den Gesetzgeber, sondern biblische Kriterien zur Verständigung gelten lassen sollten - haben doch gerade Christen einen spezifischen Beitrag zum Schutz der Meinungsfreiheit zu leisten. Wir möchten die Schutzpflicht des Staates, „dafür Sorge zu tragen, dass in der Gesellschaft die Voraussetzungen dafür gegeben sind, von der Glaubens- und Gewissensfreiheit auch tatsächlich Gebrauch zu machen“, dadurch stärken, dass § 166 Abs. 1 und 2 Strafgesetzbuch nicht geändert wird, sondern der Erhalt des öffentlichen Friedens das Kriterium bleibt. Das zweifellos wichtige Toleranzgebot muss an anderer Stelle diskutiert und vom Gesetzgeber weitreichend verbindlich gemacht werden. Da stimme ich dem Kollegen van Essen voll und ganz zu. Aber dazu bedarf es anderer Formulierungen, weil dann die Toleranz gegenüber Religionen und Weltanschauungen ausländischer Mitbürger im Mittelpunkt zu stehen hat. Dabei wäre grobe Beschimpfung als Tathandlung ein Aspekt unter vielen anderen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Drucksache wird ein Vorfall nicht expliziert erwähnt; Kollege Beck hat darauf hingewiesen. Es ist zu vermuten, dass er der aktuelle Anlass für die parlamentarische Initiative der Union ist. Es ist das zweifellos umstrittene Stück „Corpus Christi“, das in seinem Uraufführungsland Baden-Württemberg zu heftigen Diskussionen und sogar zu Demonstrationen wegen Beleidigung christlichen Glaubens geführt hat. Ich werde mich gerade wegen des Respekts vor der Freiheit der Kunst hüten, hier meine Meinung zur Qualität des Stückes und der Aufführung abzugeben, sondern möchte nur fragen: Ist es nicht gerade Sinn von Kunst, hier von Theater, zu provozieren, herauszufordern? Der öffentliche Friede, so ist festgestellt worden, wurde nicht gestört. Ich frage mich allerdings nach den Kriterien dafür, wann religiöse Gefühle verletzt werden. Gibt es doch viele Mitbürgerinnen und Mitbürger, die sich keineswegs verletzt fühlen durch Nachrichten von verhungerten Kindern und ermordeten Ordensfrauen in Lateinamerika,

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Fink, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

- die aber auf eine ironische Darstellung einer profanen Heiligsprechung durch eine Staffage-Päpstin mit einem Aufschrei reagieren. Das ist natürlich geschmacklos. Ich bezweifle nicht den Schmerz der Verletzung, aber welche Art von Gefühl hat ein Recht auf Rechtsschutz? Verehrte Kolleginnen und Kollegen, besonders von der CDU/CSU, aus den wenigen von mir genannten Gründen stimmen wir dem Entwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes nicht zu. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Norbert Geis das Wort zu einer Kurzintervention.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte überhaupt nicht verschweigen, dass die Anregung, diesen Gesetzentwurf in dieser Legislaturperiode erneut einzubringen, von den beiden großen Kirchen gekommen ist. Das ist wahr. ({0}) - Auch von der evangelischen Kirche. - Aber es geht nicht nur um den Schutz der christlichen Überzeugung, sondern es geht natürlich generell um den Schutz der religiösen Überzeugung eines jeden, nicht nur der religiösen Überzeugung eines Christen. Es geht auch um den Schutz der weltanschaulichen Überzeugung eines jeden, nicht nur der weltanschaulichen Überzeugung eines Christen. Das ist generell so. Es wird hier sehr stark abgestellt auf die Christen, was wahr ist, weil ja das Moment des öffentlichen Friedens für Christen oft nicht in Anspruch genommen werden kann oder auch nicht in Anspruch genommen wird seitens der Gerichte. Deswegen unternehmen wir den Versuch, diesen Gesetzentwurf erneut einzubringen. Ich möchte noch einen zweiten Gedanken hinzufügen. Wenn man die gesetzliche Regelung im Strafgesetzbuch so lässt, wie sie im Augenblick ist, dann ist sie das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist. Mit Recht haben die Grünen in der letzten Legislaturperiode den Antrag eingebracht, diesen § 166 ganz zu streichen. Das ist nämlich, Herr Stünker, die Konsequenz. So, wie dieser Paragraph jetzt im Gesetzbuch steht, findet er keine Handhabe. Ich möchte die Anregung von Herrn van Essen aufgreifen und bitte, einmal ernsthaft darüber nachzudenken, ob wir nicht doch zu einer Regelung kommen können, mit der wir dem Anliegen, das in diesem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommen soll, gerecht werden. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/4558 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulf Fink, Rainer Eppelmann, Katherina Reiche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Kriegsfolgen- und Kriegslastenbeseitigung in den neuen Ländern - Drucksache 14/5092 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Ulf Fink, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir befassen uns heute, wenn auch zu später Stunde, mit dem Antrag der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, der die Kriegsfolgen- und die Kriegslastenbeseitigung in den neuen Bundesländern zum Inhalt hat. Wir fordern in diesem Antrag die Bundesregierung auf, zu prüfen, ob aus dem Bundeshaushalt zusätzliche finanzielle Mittel bereitgestellt werden können, um private Haushalte, Städte und Gemeinden in den neuen Bundesländern, die von Bomben und Munitionsfunden aus dem Zweiten Weltkrieg betroffen sind, in angemessener Weise zu unterstützen. Zehn Jahre nach der staatlichen Wiedervereinigung machen sich nämlich die Folgen und die Lasten des Zweiten Weltkriegs in Ostdeutschland noch immer wesentlich deutlicher als im alten Bundesgebiet bemerkbar. Die ständig wiederkehrenden Meldungen über neue Blindgängerund Munitionsfunde aus dem Zweiten Weltkrieg zeigen: Auf diesem Gebiet muss gehandelt werden. ({0}) Durch ein neu entwickeltes geographisches Informationssystem ist es in Brandenburg möglich geworden, die vorhandenen Luftbildaufnahmen der ehemaligen Alliierten neu auszuwerten und die belasteten Flächen genauer zu bestimmen. Wir wussten schon früher, dass Brandenburg das Bundesland ist, das durch Kampfmittel am allermeisten belastet ist. Wir haben damals angenommen, dass es sich um eine Fläche von 180 000 Hektar handelt. Mittlerweile wissen wir dank dieses neu entwickelten geographischen Informationssystems, dass nicht nur 180 000 Hektar, sondern sage und schreibe 400 000 Hektar Land kampfmittelbelastet sind. Dabei sind die früher militärisch genutzten Flächen, also die so genannten Konversionsflächen, noch nicht mitgerechnet, die man mit mindestens weiteren 100 000 Hektar in Rechnung stellen muss. Brandenburg ist damit unbestreitbar das Bundesland mit der größten kampfmittelbelasteten Fläche. Ein Blick in die Geschichte zeigt, woran das liegt: In Brandenburg haben die großen Schlachten um die Seelower Höhen und um Halbe/Teupitz stattgefunden, von den Bombenangriffen rund um Berlin ganz zu schweigen. Von Blindgängerfunden sind die Brandenburger Städte Oranienburg, Neuruppin, Potsdam und Frankfurt/Oder besonders belastet. Allein im Stadtgebiet von Oranienburg sind seit 1990 mehr als 90 Blindgänger entfernt worden. Leider gibt es nach wie vor keine endgültige Entwarnung. Im Gegenteil: Als außerordentlich tückisch erweisen sich Blindgänger mit chemischen Langzeitzündern, die vorwiegend in Oranienburg und Lehnitz aufgefunden werden. So kam es in der Vergangenheit zu unvorhergesehenen Detonationen mit Schäden an Sachen und Personen. Es freut mich sehr, dass heute als Zuschauer der Bürgermeister von Oranienburg und wichtige Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung an dieser Debatte teilnehmen. ({1}) Neben der latenten Gefahr, die von Bomben- und Munitionsüberresten ausgeht, besteht ein großes Problem auch in den immensen Kosten, die mit der Auffindung, Bergung und Beseitigung des brisanten Materials verbunden sind. Im Moment ist die Kostenfrage wie folgt geregelt: Die finanziellen Aufwendungen des staatlichen Munitionsbergungsdienstes oder der privaten Bergungsunternehmen werden grundsätzlich von den Landeshaushalten übernommen. Es handelt sich dabei aber nur um die Kosten, die mit der Bergung und dem Abtransport der Kampfmittel selbst verbunden sind. Folgekosten, die durch den Einsatz der Feuerwehr, Maßnahmen der Ordnungsämter oder eine etwaige Staatshaftung entstehen, tragen die betroffenen Städte und Gemeinden selbst. Auch der von einem Blindgängerfund betroffene Bürger kann von den Kosten grundsätzlich nicht freigestellt werden. Will er bauen, obwohl die Wahrscheinlichkeit eines Bombenfundes besteht, muss er in jedem Falle für die Gebühren aufkommen, die zum Beispiel im Zusammenhang mit der Auswertung der Luftbildaufnahmen entstehen. Beauftragt er unmittelbar ein Kampfmittelräumungsunternehmen mit der Suche, muss er die Kosten der Suche selbst bezahlen. Hat der Bürger im guten Glauben bereits gebaut und wird im Nachhinein ein Blindgänger auf seinem Grundstück gefunden, ist er in ordnungsrechtlicher Hinsicht ein Zustandsstörer. Für Maßnahmen, die er dann veranlasst, um eine Bergung zu ermöglichen, haftet er grundsätzlich mit seinem privaten Vermögen. Jeder kann sich vorstellen, dass das den Ruin von Menschen bedeuten kann. ({2}) Erst kürzlich musste ein ganzes Wohnhaus in Lehnitz abgerissen werden, weil sich unter dem Gebäude ein Blindgänger befand. Nun hätten Bürger und Städte kostenmäßig gar nichts zu befürchten, wenn es sich bei den aufgefundenen Blindgängern und Munitionsüberresten ausschließlich um deutsche, das heißt ehemals reichseigene Munition handeln würde; denn dann würde eine Kostenübernahme durch den Bund aufgrund des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes erfolgen. Nur handelt es sich hier nicht um Kampfmittel des Deutschen Reiches, sondern um Kampfmittel der ehemaligen Alliierten, sodass keiner zahlt. Ich meine - das muss in dieser Klarheit hier gesagt werden -, es haben nicht Oranienburg, Neuruppin oder Frankfurt/ Oder und auch nicht das Land Brandenburg den Zweiten Weltkrieg geführt, sondern wenn einer dafür verantwortlich ist, ist es das Deutsche Reich. Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches ist nicht Oranienburg, ist nicht Neuruppin, ist nicht Brandenburg, sondern nun einmal der Bund. ({3}) Insofern ist es doch nur recht und billig, dass der Bund als Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches seine Verpflichtungen auch für alliierte Kampfmittelfunde und die damit verbundenen Kosten anerkennt. In diesem Zusammenhang bietet es sich an, auch das Thema Konversionsflächen in die politische Diskussion mit einfließen zu lassen. Auch hier gibt es nämlich eine Fülle massiver und ungelöster Probleme. So können zum Beispiel bei mir im nördlichen Teil des Oberhavelkreises bei Fürstenberg riesige Flächen bisher nicht genutzt werden, weil dort eben nach wie vor Bomben gefunden werden - von anders kontaminierten Flächen nicht zu reden. Hier muss ergänzend Zusätzliches getan werden. Beim vorliegenden Antrag, den wir zuerst einmal in den Ausschüssen beraten werden, handelt es sich um einen Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Ich bin meinen - heute zwar nicht vollständig anwesenden - 244 Unionskollegen dafür dankbar, dass sie einmütig für diesen Antrag gestimmt haben. Das war keine Selbstverständlichkeit. Deswegen möchte ich den Mitgliedern der CDU/CSUBundestagsfraktion meinen Dank aussprechen. Meine Hoffnung ist, dass es gelingt, auch die Mitglieder der anderen Fraktionen, natürlich insbesondere der Regierungsfraktionen, für die Unterstützung dieses Antrags zu gewinnen. Ich zähle dabei auf die ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen in den Regierungsfraktionen, besonders natürlich auf die Brandenburger Abgeordneten. ({4}) Ich hoffe sehr, dass es den Mitgliedern der Regierungsfraktionen doch nicht unmöglich ist, die Bundesregierung aufzufordern, zu prüfen, ob sie nicht den Bürgern und Gemeinden in den neuen Bundesländern besser als bisher helfen kann. Das dürfte doch nicht zu viel verlangt sein. ({5}) Es wäre nur ein Umweg, erst einmal in den Petitionsausschuss, in diesen oder jenen Ausschuss zu gehen. Der Antrag ist so klar, so eindeutig, sachlich so begründet, dass man eigentlich auch ohne Ausschussberatung über ihn abstimmen könnte. Nun gut, jetzt soll er erst einmal an die Ausschüsse gehen. Dennoch hoffe ich sehr, dass das endgültige Votum des Deutschen Bundestages nicht lange auf sich warten lässt, dass die Regierungsfraktionen mithelfen, dass wir rasch durch die mitberatenden Ausschüsse - den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder und den Innenausschuss - kommen, um dann zu einem Votum im Haushaltsausschuss zu kommen. Ich meine, es dürfte nicht zu viel verlangt sein zu sagen: Lasst uns gemeinsam helfen, dass wir spätestens im März einen solchen Beschluss des Deutschen Bundestages vorliegen haben! Die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern haben es verdient. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Angelika Krüger-Leißner, SPD-Fraktion.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ganz besonders begrüße ich zuerst die vielen Oranienburger, die heute gekommen sind. ({0}) Es sind, glaube ich, sogar mehr als wir hier unten. Aber das ist der späten Zeit geschuldet. Ich finde es ganz richtig, dass der Bürgermeister heute mit vielen Stadtverordneten hier ist und diese Debatte verfolgt. Es geht um ein brisantes Thema in vielen Städten und vielen Ländern. Für uns Oranienburger ist es das Thema Nummer eins. Seit 1991 vergeht nicht ein Monat, manchmal sogar nicht einmal eine Woche, wo wir nicht von den Meldungen in der Presse erschreckt werden. So konnten wir zum Beispiel am 17. Mai des letzten Jahres lesen: In Oranienburg ist am Mittwoch erneut eine amerikanische Zehn-Zentner-Bombe aus dem 2. Weltkrieg entschärft worden. Für die 71. Bombenentschärfung seit der Wende hatten rund 4 500 Menschen für mehrere Stunden ihre Wohnungen verlassen müssen. Durch die weiträumigen Absperrungen wurden der Personennahverkehr unterbrochen und die Bundesund Wasserstraßen gesperrt. Nachrichten wie diese kennen die Oranienburger, aber auch die Marwitzer, die Lehnitzer und die Hennigsdorfer zur Genüge. Das ist keine Seltenheit mehr. Die Schlagzeilen der letzten Jahre lauteten oft „Bombenlast bedroht eine Stadt“, „Oranienburg ist ein Pulverfass“ oder „Bombensorgen ohne Ende“. Immer standen diese Meldungen in engem Zusammenhang mit den bevorstehenden Evakuierungen, die die Kitas, die Schulen, die Betriebe, alle öffentlichen Einrichtungen, sogar die Stadtverwaltung selbst betrafen und vor allem viele Bürger aus ihren Wohnungen holten. Damit waren natürlich auch viele Sorgen und Ängste sowie die Frage verbunden, wie es weitergehen wird. Oranienburg war als Zentrum der Rüstungsindustrie im Zweiten Weltkrieg häufig das Ziel von Luftangriffen der Alliierten. Wir wissen das. 60 Prozent der Stadt wurden von über 22 000 Bomben der Alliierten zerstört. So verwundert es nicht, dass besonders dieses Gebiet in Deutschland mehr als 50 Jahre nach Kriegsende nach wie vor ein Schwerpunkt der Kampfmittelräumung ist und die einzelnen Bürger, die Stadt und auch das Land Brandenburg in besonderem Maße belastet sind, ganz zu schweigen von den Bauverzögerungen, den Auswirkungen der Medienpräsenz zu diesem Thema auf Unternehmer und Investoren und den damit verbundenen Standortnachteilen. So verwundert es ebenfalls nicht, dass seit 1997 verstärkt der Hilferuf nach finanzieller Unterstützung erging, sowohl an das Land Brandenburg als auch nach Bonn. An dieser Stelle muss man sich fragen: Wer trägt denn nun eigentlich die Lasten und die Folgekosten bei der Kampfmittelberäumung? Gibt es Lücken im Gesetz oder Unklarheiten in der Zuständigkeit? Wie sieht die Situation konkret aus? Ich will auf diese Fragen kurz eingehen. Grundsätzlich ist die Beseitigung von Kampfmitteln aus der Zeit der beiden Weltkriege nach der föderalen Kompetenzverteilung des Grundgesetzes eine Aufgabe der Länder, an der sich der Bund in nicht unerheblichem Maße beteiligt. Man kann dies in Art. 30, Art. 83 und Art. 104 a des Grundgesetzes nachlesen. Der Bund erstattet den Ländern aufgrund einer seit den 50er-Jahren bestehenden so genannten Staatspraxis, die sich auf Art. 120 des Grundgesetzes und auf das Allgemeine Kriegsfolgengesetz stützt, die Aufwendungen für die Kampfmittelberäumung auf bundeseigenen Liegenschaften sowie für die Bergung und Vernichtung so genannter reichseigener Munition. Entsprechend dieser Staatspraxis werden den Ländern die Kosten für die geborgene ehemalige reichseigene Munition auf Antrag erstattet. Dies gilt nicht für die Beseitigung der Kampfmittel der früheren Alliierten. Diese Kosten bleiben beim Land und den betroffenen Städten und Gemeinden hängen. Auf die Kommunen, im speziellen Fall auf die Stadt Oranienburg, fallen alle Kosten, die durch die Aufwendungen im Zusammenhang mit den Bombenentschärfungen entstehen, wie zum Beispiel Kosten für Absperrungen, Evakuierungen, Einsatz von Ordnungskräften oder bauliche Folgekosten wie Baufreimachung. Lassen Sie uns nun gemeinsam nachvollziehen, was in den letzten Jahren auf dieser gesetzlichen Grundlage passiert ist. Schon in den Jahren 1995, 1996 und 1997 wandten sich der Bürgermeister der Stadt Oranienburg und die Stadtverordnetenversammlung mit der Bitte um Hilfe an das Land Brandenburg. Der damalige Innenminister Alwin Ziel hat dieses Anliegen sehr ernst genommen und sich intensiv für eine gezielte Bombensuche auf der Grundlage der Auswertung von angekauften amerikanischen Luftbildern eingesetzt. Der staatliche Munitionsbergungsdienst des Landes Brandenburg hat allein für diese Region 1996 7,5 Millionen DM, 1997 9,5 Millionen DM, 1998 10,2 Millionen DM, 1999 6,1 Millionen DM und im letzten Jahr 8,3 Millionen DM aufgebracht. Dieses Jahr geht es weiter. Um die Relation zu verdeutlichen: Das sind nur ein Drittel der Gesamtkosten für das Land Brandenburg. Dennoch reichen diese Mittel nicht aus, alle Kosten, insbesondere die Folgekosten, zu decken. So gelang es dem damaligen Innenminister, noch zusätzliche Mittel aus dem Ausgleichsfonds des Landes für die Gemeinden und Städte als Sonderregelung zu organisieren. Aber für die Stadt Oranienburg blieben und bleiben trotz großer Unterstützung des Landes nach wie vor noch erhebliche Lasten. So erging in dem brisanten Jahr 1997 der Hilferuf auch nach Bonn. Bürgermeister und Stadtverordnetenvorsitzende schrieben an den damaligen Bundesinnenminister Kanther und an den Bundesverteidigungsminister Rühe und erwarteten Unterstützung. ({1}) Zwei Abgeordnete der F.D.P., Jörg van Essen - er ist noch anwesend - und Jürgen Türk, gaben den Oranienburgern Rückendeckung. Ich frage nun Sie, Herr Fink: Was haben Sie während dieser Zeit unternommen, um den Oranienburgern zu helfen? ({2}) Die Antwort kennen wir: nichts. So erhielt die Stadt Oranienburg vom Bundesinnenminister eine freundliche Absage. „Finanzielle Unterstützungen bei der Bewältigung der Probleme können nicht zugesagt werden“, hieß es. Auch Herr Rühe sagte den Oranienburgern keine finanzielle Unterstützung zu, aber die Hilfe in dringenden Notfällen der Evakuierung und zur Absicherung der Gefahrenbereiche durch die Soldaten vor Ort. An dieser Stelle möchte ich den Soldaten der Märkischen Kaserne in Lehnitz für ihre engagierte und stetige Zusammenarbeit bei der Kampfmittelberäumung herzlich danken. Auf sie war und ist immer Verlass. ({3}) - So ist es. Infolge der gesamten Entwicklung beschloss im September des letzten Jahres die Stadtverordnetenversammlung von Oranienburg und dann auch die Lehnitzer Gemeinde im November, sich an den Landtag und an den Deutschen Bundestag mit einer Petition zu wenden. Beide Antworten liegen noch nicht vor. Dafür haben wir nun einen CDU/CSU-Antrag auf dem Tisch des Hauses liegen. Man muss sich zunächst die Frage stellen: Ist dieser Antrag geeignet, die Probleme, die wir in Oranienburg, in Brandenburg, aber auch in Deutschland insgesamt mit der Kampfmittelberäumung haben, zu lösen? Neben der durchaus richtigen Auflistung der Zuständigkeiten von Gemeinde, Land und Bund stellen die Antragsteller in Punkt I fest, dass der Bund nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz in den Fällen, in denen es sich um Kampfmittel der Alliierten handelt, nicht zuständig ist, also keine Handlungsgrundlage gegeben ist. Gerade um diese Kampfmittel aber handelt es sich in den vorher genannten Fällen in Oranienburg und Umgebung überwiegend. Dessen ungeachtet wird von der CDU/CSU in Punkt II gefordert, dass die Bundesregierung prüfen soll, ob nicht zusätzliche finanzielle Mittel für die Stadt, die Gemeinde, aber auch für Privatpersonen in den neuen Bundesländern bereitgestellt werden können. Ich denke, jeder der hier Anwesenden, vor allem aber die vielen Oranienburger zu Hause können sich denken, welchen Erfolg ein solcher Antrag haben kann. Ich frage mich also: Was soll er bewirken? Für wen ist er gemacht? Warum geht er nicht an die Wurzel allen Übels, sondern zielt nur auf Almosen oder auf eine einmalige Aktion ab, die die Problematik, die wir in den nächsten Jahren weiterhin haben werden, nicht grundlegend wird beseitigen helfen? Selbst der jetzige Innenminister des Landes Brandenburg, Herr Jörg Schönbohm, hat bereits erkannt, dass es sich bei den Kampfmitteln aus dem Zweiten Weltkrieg „um ein Problem handelt, das auch weitere Generationen beschäftigen wird“. Ich frage weiter: Ist es überhaupt nur ein Problem der neuen Bundesländer, das es rechtfertigt, eine Sonderlösung für diese zu schaffen? Und wenn ja: Warum wurde sie nicht 1990 mit dem Einigungsvertrag in Angriff genommen? ({4}) Sie sehen, der Antrag wirft eine Menge Fragen auf, die meiner Ansicht nach nicht genügend durchdacht sind. Ich fürchte, er wird zur Lösung dieser Problematik keine befriedigende Antwort geben können. Er sieht aus wie ein Schnellschuss, der mit den Ängsten und Sorgen, vor allem aber mit den Hoffnungen der Menschen ein böses Spiel treibt. Ich frage mich: Kann er so, wie er gestellt ist, die Erwartungen überhaupt erfüllen oder verspielt er nicht die Chance einer neuen, grundlegenden Regelung? ({5}) Eines kommt mir besonders fraglich vor. Warum ist nicht von den Antragstellern auch das Land Brandenburg einbezogen worden, das an einer grundsätzlichen Regelung ein besonderes Interesse haben müsste? Meine Herren von der Opposition - Damen sind leider keine mehr anwesend -, purer politischer Aktionismus ist schon immer ein schlechter Berater gewesen und bringt in der Sache letztendlich keinen entscheidenden Schritt voran. Ich muss Ihnen deutlich sagen: Das ist auch nicht die politische Ebene, auf der ich mich bewegen möchte. ({6}) Ich nehme das Anliegen und die Besorgnis der Bürgerinnen und Bürger in meinem Wahlkreis sehr ernst. Selbstverständlich werden die zuständigen Ausschüsse - dies ist in erster Linie der Haushaltsausschuss und in zweiter Linie der Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder - diesen Antrag beraten und prüfen. Aber das ist mir zu wenig.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Krüger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fink?

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Krüger-Leißner, ich habe von Ihnen gehört, dass Sie dieses Problem ebenfalls für lösungsbedürftig halten. Sie haben gesagt, dass Ihnen dieser Antrag noch nicht weit genug gehe, sondern dass er die Probleme noch tiefgreifender lösen sollte. Deshalb frage ich Sie: Sie sind seit zwei Jahren im Deutschen Bundestag. Warum haben Sie noch keine eigene Initiative ergriffen? ({0})

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist wirklich eine bodenlose Frechheit. Ihre Kollegen von der F.D.P. haben 1997 versucht, die Stadt zu unterstützen. Da waren Sie ganz still und haben sich nicht gerührt. Aber jetzt machen Sie den Mund auf. Ich bin noch nicht am Ende meiner Rede. Ich habe eine Initiative ergriffen ({0}) und hoffe, dass Sie sich dieser anschließen können. ({1}) - Wenn ich weiterreden darf, werde ich gern noch etwas dazu sagen. Ich habe gesagt, es ist mir zu wenig, was in dem Antrag steht, zumal er erhebliche Mängel hat. Ich habe mich in diesen Tagen an den Innenminister des Landes Brandenburg mit der Bitte gewandt, gemeinsam mit der Stadt Oranienburg, den weiteren betroffenen Gemeinden, dem Landkreis und den Landtagsabgeordneten und mir über eine neue generelle Lösung in der Kampfmittelberäumung zu beraten und auch an die gesetzlichen Grundlagen zu gehen. ({2}) Ich könnte mir aufgrund der besonderen Betroffenheit des Landes Brandenburg eine Initiative, gerichtet an alle anderen Bundesländer, ob alt oder neu, vorstellen, die bis in den Bundesrat hineingeht. ({3}) Denn eines ist klarzustellen: Die Beseitigung von Kriegslasten und -gefahren aus dem Zweiten Weltkrieg ist keine teilungsbedingte Sonderlast der neuen Länder, sondern eine Aufgabe, die in ganz Deutschland zu leisten war und weiterhin zu leisten ist. ({4}) - Auch wenn es Ihnen nicht passt: Auch an dieser Stelle ist der Antrag falsch. Denn auch in Nordrhein-Westfalen sind heute noch viele Gemeinden von diesen Lasten betroffen. ({5}) Ich gehe davon aus, dass der Innenminister des Landes Brandenburg angesichts der Brisanz dieses Themas an dieser Beratung interessiert ist und sie so bald wie möglich einberuft. Ich lade Sie, Herr Fink, abschließend dazu ein, sich daran zu beteiligen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Jürgen Koppelin, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bekenne ganz offen, dass meine Fraktion sehr viel Sympathie für den Inhalt des Antrages hat und ebenfalls der Auffassung ist, dass wir dieses Problem lösen müssen. Aber es gibt durchaus auch Bedenkenswertes, das die Kollegin gerade vorgetragen hat. Das wollen wir nicht außer Acht lassen. ({0}) Insofern spreche ich auch als Haushälter meiner Fraktion, obwohl ich mich freue, dass der Kollege Jörg van Essen anwesend ist, der dies früher bereits unterstützt hat. Er ist nicht nur Jurist, was ja bekannt ist. - Ich habe mir einiges dazu aufschreiben lassen, wie die Juristen zu dem Thema stehen, aber das will ich Ihnen ersparen, weil ich denke, dass dies den Betroffenen nicht hilft. - Er kommt auch aus Hamm. Ich habe mir sagen lassen, dass Hamm die Partnerstadt von Oranienburg ist. Deswegen freue ich mich außerordentlich, dass er hier ist. ({1}) In der Sache können wir vielleicht Übereinstimmung erzielen und insofern werden wir auch nach Lösungen suchen. Aber wir versuchen vor allem deshalb Lösungen zu finden, weil es nicht angehen kann - das ist ja an Beispielen deutlich geworden -, dass die betroffenen Bürger darunter leiden, dass es ein Kompetenzgerangel gibt. Irgendwie muss die Politik eine Lösung finden. ({2}) Wir können es nicht hin und her schieben, während der Bürger in einem Haus sitzt, unter dem man etwas gefunden hat. Was mich stört - das sage ich in Richtung Union ganz offen -, ist, dass Sie sich - ich will es einmal so ausdrücken - nicht fair genug mit der Angelegenheit beschäftigt haben. Mich stört einfach, dass Sie nur von den neuen Bundesländern sprechen. ({3}) Ich lade Sie herzlich ein, nach Kiel oder nach Hamburg zu kommen. Sie hören dort mindestens einmal pro Woche in den Verkehrsmeldungen, dass Straßen gesperrt sind, weil etwas geräumt werden muss. Was sagen mir denn meine Freunde in Schleswig-Holstein, Hamburg oder anderswo, ({4}) wenn wir das beschließen? Sie sagen: Entschuldigung, warum wir denn nicht? Es ist doch nicht nur ein Problem der neuen Bundesländer. Wir haben alle das Problem, der eine mehr, der andere weniger. Das will ich nicht bestreiten. Kollege Fink, eine weitere Bemerkung kann ich mir allerdings auch nicht verkneifen. Anscheinend haben Sie die Verantwortung des Landes völlig außer Acht gelassen. ({5}) Wo ist die Initiative des Landes Brandenburg im Bundesrat? Wo ist die Initiative anderer Länder? Wir wären ja durchaus bereit, uns dann darüber zu unterhalten. Sie stellen den Innenminister in Brandenburg. Da können Sie sich nicht vor der Verantwortung drücken. Haben Sie denn einmal mit Ihrem Innenminister gesprochen? Haben Sie ihm diesen Antrag vorgelegt und haben Sie gefragt, ob er nicht über eine Bundesratsinitiative aktiv werden könne? Sie haben uns hier nicht mitgeteilt, was Ihr Innenminister dazu sagt. Insofern, als mir das Hin- und Herschieben der Verantwortung nicht gefällt, unterstütze ich ausdrücklich das, was meine Vorrednerin gesagt hat. Ich könnte es mir jetzt ganz leicht machen. Ich habe einmal nachgesehen: Sie waren über mehrere Jahre hinweg auch Landesvorsitzender der CDU in Brandenburg. Seinerzeit hätten Sie auch die Initiative ergreifen können. Das ist doch eine wichtige Funktion gewesen. ({6}) Ich will in dieser Polemik und in dieser Art nicht weitermachen, weil es den Betroffenen nicht hilft. ({7}) Wir versprechen als Freie Demokraten: Wir sind bereit - auch im Haushaltsausschuss -, den Betroffenen, vor allem den Privaten, zu helfen. Aber ich erwarte auch die Initiative der Bundesländer im Bundesrat. Das ist für mich das Entscheidende. Unser guter Wille ist da. Der Wille ist aber da - ich sage es noch einmal -, weil wir die Betroffenen nicht darunter leiden lassen können, dass sie die Probleme haben. Ich habe vorhin bereits die Rechtsprechung erwähnt. Ich will Ihnen das nicht alles vortragen. Zustandsstörer - so haben Sie es, glaube ich, gesagt - lautet dann plötzlich die Bezeichnung. Was sind das überhaupt für Begriffe? Der Betroffene erfährt davon und steht plötzlich vor dem Nichts. Das kann nicht angehen. Dabei wollen wir ihn nicht alleine lassen. Insofern haben Sie unsere Unterstützung bei der Beratung. Ob es in die Richtung geht, die Sie mit Ihren Formulierungen anstreben, bezweifle ich erheblich. Das Ziel wird sein, den Betroffenen zu helfen. Das jedenfalls ist die Zielsetzung der Freien Demokraten. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Antje Hermenau, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Antje Hermenau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002673, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass alle, die heute Abend zu diesem Thema sprechen, die sich mit dem Thema beschäftigt haben, Verständnis für die Sorgen der Betroffenen haben, ist klar. Trotzdem weiß ich nicht, ob dieser etwas melodramatische Auftritt, der sich mit der Einführung von Herrn Fink hier zusammengebraut hat, gerechtfertigt ist. Es ist natürlich wohlfeil, jetzt, wo im Bundeshaushalt ein Konsolidierungskurs begonnen hat, ({0}) mit solchen Anträgen zu kommen. Ich werde ja sehen, wie Sie reagieren, wenn wir den Länderfinanzausgleich im Sonderausschuss regeln, wenn wir dafür sorgen wollen, dass die ostdeutschen Länder und vor allen Dingen die ostdeutschen Kommunen in ihrer Finanzkraft deutlich besser gestellt und damit vielleicht auch selbst in die Lage versetzt werden, diese Probleme anzupacken. ({1}) Dann werden wir sehen, wie Sie sich verhalten und ob Sie in der Lage sind, ostdeutsche Interessen in diesem Bereich wahrzunehmen und uns da zu unterstützen. Ich denke, es macht wenig Sinn, eine Einzelfrage herauszugreifen und diese dann kleckerweise finanziell zu lösen. Es ist sinnvoller, wenn wir versuchen, im Länderfinanzausgleich die Kommunen und die Länder im Osten insgesamt deutlich besser zu stellen. ({2}) Es sind schon Einzelmaßnahmen ergriffen worden; das müssten Sie auch wissen. Beispielsweise sind 200 Millionen DM in den Bundeshaushalt eingestellt worden, um eine Verbrennungsanlage zu bauen, die chemische Kampfstoffe beseitigt. Sie geht meines Wissens dieses Jahr in den Probebetrieb, ist im Prinzip also fertig. Es ist also schon begonnen worden. Fraglich ist jedoch, ob es sinnvoll ist, die Probleme kleckerweise zu lösen. Wir wissen im Prinzip seit zehn Jahren, dass es in den fünf neuen Ländern - ich komme aus Sachsen, da haben wir ähnliche Probleme - keine zu DDR-Zeiten durchgeführte ordentliche flächendeckende Räumung gegeben hat. Das war vielleicht auch nicht möglich, weil uns die Alliierten-Karten, auf denen die Abwürfe verzeichnet waren, nicht vorlagen. Es gibt vielleicht auch einen gewissen Nachholbedarf; das will ich gar nicht bestreiten. Es geht aber nicht so weit, dass man sagen könnte, dass sei eine nur ostdeutsche Problematik. Wenn wir uns daran orientieren, plädiere ich dafür, die Verwaltungspraxis beizubehalten, aber zu versuchen, die Finanzierung zu stabilisieren. Im Prinzip scheitert es ja daran, dass die Länder und Kommunen nicht genug Geld haben, um dort tätig werden zu können. Ob wir jetzt in dem Beratungsverfahren noch einmal prüfen, inwieweit man bezüglich der Alliierten-Munition noch einmal extra verhandeln kann, würde ich gern im Paket diskutieren, und zwar mit den betroffenen Ländern im Zusammenhang mit dem Länderfinanzausgleich, um eine gemeinsame Lösung zu finden; denn das wäre für die anderen, für die westdeutschen Bundesländer genauso interessant. Diesen Weg halte ich für gangbar und würde jetzt keinen Schnellschuss aus dem Bundeshaushalt befürworten. Das wäre nicht vernünftig. Sie könnten es sich leicht machen. Aber im Prinzip ist diese Problematik schon seit den 50er-Jahren auch im Altbundesgebiet Thema gewesen. Die ostdeutschen Länder sind nun schon zehn Jahre lang Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland - jetzt ist es Ihnen eingefallen. Ich denke, es ist eine sehr offensichtliche Veranstaltung, die Sie hier betrieben haben. Das schadet dem Thema und nutzt der Sache überhaupt nicht. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Rolf Kutzmutz von der PDS-Fraktion.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manchmal sind lange Redezeiten nicht nützlich; denn wir alle verfügen über dieselben Informationen. Ich habe teilweise in den Presseerklärungen des Innenministeriums und denen des Munitionsbergungsdienstes nachlesen können, was Kollegen hier gesagt haben. Ich will es nicht wiederholen. Wir alle können Meldungen nachvollziehen, die besagen, dass Bombenfunde dazu geführt haben, dass - wie in Oranienburg - bis zu 10 000 Menschen von Evakuierungen betroffen sind. All das bewegt uns. Ich kann aber bei allen Auffassungsunterschieden, die wir manchmal haben, eines nicht nachvollziehen, liebe Kollegen von den Koalitionsfraktionen. Wenn Sie sagen, es schade der Sache, dass hier etwas aufgerufen worden sei, dann muss ich sagen: Wenn es nicht aufgerufen worden wäre, würde überhaupt nicht darüber gesprochen. ({0}) - Ja, Herr Nooke, manchmal müssen wir es selber machen. Wenn es nicht aufgerufen worden wäre, hätten wir heute Abend nicht diskutiert, es gäbe keinen Anlass, im Ausschuss zu beraten. Für die Bürger in Oranienburg, in Neuruppin, in Brandenburg, aber auch in den alten Bundesländern - da gebe ich Ihnen, Herr Koppelin, schon Recht spielt es eine Rolle. Nur, eines ist Fakt: In den ostdeutschen Kommunen spielt es auch deshalb eine noch größere Rolle, weil sie finanziell nicht so ausgestattet sind wie Kommunen in den alten Bundesländern. Das wissen Sie auch. ({1}) - Sie können nicht die Sozis, wie Sie sagen, auch noch dafür verantwortlich machen, dass die Amerikaner ihre Messblätter nicht an uns, sondern an Sie geliefert haben. Das will ich der Klarheit halber feststellen. Deshalb sollten wir uns auch ernsthaft damit beschäftigen. In Neuruppin ist kürzlich eine Straße aufgerissen worden, die gebaut worden war, weil man die Messblätter zu spät bekommen hat. Es bestand ein Verdacht. Bei Bestehen eines Verdachtes muss so etwas getan werden. Die 120 000 DM, die das gekostet hat, müssen jetzt erst einmal aufgebracht werden. Baut ein Bürger ein Haus - Herr Fink hat darauf hingewiesen; ich will das hier wiederholen -, hat er großes Glück, wenn er es auf einem als unbelastet deklarierten Grundstück tun kann. Er hat auch Glück, wenn er, soll sein geplantes Bauvorhaben in einer Gegend durchgeführt werden, in der sich eventuell Munition befindet, noch rechtzeitig gewarnt wird. Schlimmer wird es, wenn das Haus bereits steht. Auch da gebe ich den Kollegen der CDU/CSU Recht: Das ist insbesondere für Privatleute ein Problem, weil dann die Kosten natürlich eine immense Größenordnung erreichen. Hier wurde gesagt - ich unterstreiche das -, der vorliegende Antrag greife ein für viele Menschen und Kommunen insbesondere im Osten schwerwiegendes Problem auf, und zwar auch deshalb, weil er ein Prüfauftrag ist. Der Antrag besteht aus ganzen vier Zeilen, wenn man ihn richtig liest. Es ist doch überhaupt nicht gerechtfertigt, sich darüber aufzuregen. Wir können in den zuständigen Ausschüssen kritisch darüber sprechen. Wir müssen dann eine Lösung finden, die möglichst vielen Menschen konkret hilft. Nur, lassen Sie uns nicht zu lange warten. Man kann einen solchen Antrag auch zerreden. ({2}) Herr Kollege Fink, dabei ist völlig legitim, dass Sie offensichtlich einem Vorhaben des Innenministers des Landes Brandenburg etwas nachgeholfen haben. Denn in einer Presseerklärung wird darauf verwiesen, dass das Land erstens natürlich in der Fürsorgepflicht steht und zweitens überlegen sollte, ob nicht eine Bundesratsinitiative ergriffen wird. Das hat nun die Fraktion der CDU/CSU für das Land Brandenburg übernommen. Auch das halte ich für legitim. Im Interesse der Kommunen, der Länder und der betroffenen Menschen sowie im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der staatlichen Munitionsbergungsdienste und der privaten Kampfmittelräumungsfirmen - das sind schlimme Worte; denn sie sind sehr lang möchte ich feststellen: Lassen Sie uns schnell beraten und schnell helfen. Trotz Schnelligkeit kann man durchaus einen Beschluss fassen, der allen helfen kann. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Antrags auf Drucksache 14/5092 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Februar 2001, 9 Uhr, ein. Ich wünsche allerseits eine angenehme Nachtruhe. Die Sitzung ist geschlossen.