Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Erwartungsgemäß haben Sie, Herr
Bundeskanzler, das Ergebnis des Europäischen Rates von
Nizza positiv bewertet.
({0})
Bundeskanzler Gerhard Schröder
Wir schließen uns demgegenüber dem Urteil an, das fast
alle europapolitisch erfahrenen und sachkundigen Beobachter abgegeben haben und das auch in den Medien
- nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa - ganz
überwiegend abgegeben worden ist.
Die Vorbereitungen dieses Treffens der europäischen
Staats- und Regierungschefs waren so schlecht wie selten
zuvor. Die Verhandlungen waren geprägt von egoistischen,
nationalen Interessen, und das Ergebnis ist ernüchternd;
fast könnte man sagen: Es ist geradezu deprimierend.
({1})
Noch nie hat ein Gipfel der europäischen Staats- und
Regierungschefs so lange gedauert und noch nie ist so wenig dabei herausgekommen.
({2})
Herr Bundeskanzler, Sie haben gerade von dieser Stelle
aus mit treuherzigem Gesicht all die Aufgaben beschrieben, die Sie in Nizza eigentlich erledigen wollten.
({3})
Sie haben uns zu dem, was alles gemacht werden muss,
heute Morgen genau dasselbe gesagt, was Sie uns vor
Nizza gesagt haben. Im Abstand von einigen Wochen
könnte man es so zusammenfassen: Der kleinste gemeinsame Nenner der Einzelinteressen bestimmt Inhalt, Umfang und Grenzen dessen, was in Europa zurzeit möglich
ist. Europa ist gegenwärtig erkennbar ohne politische
Führung.
({4})
Nun sind die Ursachen dafür sicherlich sehr vielfältig.
Fortschritt in Europa zu erreichen, Erweiterung und
Vertiefung gleichzeitig zu begründen fällt offenkundig
schwer; vielleicht fällt es sogar schwerer als in früheren
Zeiten. Aber wäre es angesichts dieses Befundes nicht notwendig gewesen, die Gründe für die Probleme, die wir in
der Europäischen Union gegenwärtig haben, etwas sorgfältiger zu untersuchen, als dies heute Morgen in Ihrer
Regierungserklärung geschehen ist? Wäre es nicht gerade
nach den Erfahrungen von Nizza angezeigt gewesen, auch
über die Methode des Fortschritts für Europa nachzudenken und konkrete Vorschläge für die Zukunft zu machen?
Herr Bundeskanzler, Sie sind, so meine ich jedenfalls,
über mindestens zwei Ursachen der Probleme, die die Europäische Union gegenwärtig hat, einfach hinweggegangen. Fortschritt in Europa - das wissen wir aus jahrzehntelanger Erfahrung - ist immer nur dann möglich, wenn
Deutschland und Frankreich gemeinsame Schritte gehen
und dabei auch Initiativen ergreifen. Jedenfalls müssen
sich diese beiden Gründungsländer der Europäischen
Union einig sein. Aber seit Ihrem Regierungsantritt vor
zwei Jahren ist das deutsch-französische Verhältnis so
schlecht, wie es seit Abschluss des Elysée-Vertrages vor
38 Jahren nicht gewesen ist.
({5})
Zu allem Überfluss haben Sie, Herr Bundeskanzler,
zehn Tage vor Nizza hier im Deutschen Bundestag in einer Regierungserklärung ein größeres Stimmengewicht
im Rat gegenüber Frankreich zur entscheidenden Frage
- nicht zu einer von vielen, sondern zur entscheidenden
Frage - des institutionellen Gleichgewichts und der institutionellen Reformen gemacht. Sie mussten damit scheitern und Sie sind damit gescheitert und haben damit den
Gipfel in Nizza ohne Not belastet und überfrachtet.
Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, sind doch
klar: Es gibt überall enttäuschte Erwartungen, der Verdruss über Europa weicht nicht etwa einer neuen Zuversicht, sondern europäisches Handeln findet offenkundig
immer mehr gegen den erklärten Willen eines größeren
Teils der Bevölkerung statt. Müssen wir uns nicht darüber
im Klaren sein, dass gerade in offenen und demokratischen Gesellschaften solche fundamentalen Veränderungen nicht gegen die, sondern nur mit den Menschen zu erzielen sind?
Nun sprechen Sie in Ihrer Regierungserklärung - sicherlich mit guten Gründen - von der Notwendigkeit, eine
europäische Öffentlichkeit herzustellen. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass dies notwendig ist. Aber, Herr
Bundeskanzler, wie wollen Sie denn Öffentlichkeit herstellen, die doch ein Mindestmaß an Verstehen wenigstens
der interessierten Öffentlichkeit voraussetzt, wenn die
handelnden Akteure in Nizza zum Schluss selbst gar nicht
mehr wussten und auch nicht mehr verstanden, was sie da
eigentlich beschlossen haben?
({6})
Bis zum heutigen Tage, fast sechs Wochen nach Abschluss des Vertrages, streiten die Beteiligten um Einzelheiten, die sie doch in Nizza so einvernehmlich beschlossen haben wollen.
Unser Fazit lautet daher: Die Fragen bezüglich der institutionellen Reform, die in Nizza auf der Tagesordnung standen und deren Beantwortung von der Bundesregierung als Voraussetzung für das Funktionieren einer
Union mit 25 oder 27 Mitgliedern bezeichnet worden ist,
sind nicht wirklich beantwortet worden. Wir haben es
auch nach Nizza leider mit so genannten „leftovers“, mit
nicht gelösten großen Problemen, zu tun.
Lassen Sie mich konkrete Beispiele nennen, Herr
Außenminister. Das Abstimmungsverfahren im Rat ist
komplizierter denn je zuvor,
({7})
sodass es der interessierten europäischen Öffentlichkeit
nicht einleuchtend erklärt werden kann. Rund 70 Gegenstände müssen im Rat nach wie vor einstimmig entschieden werden. Dabei waren wir uns doch einig, dass gerade
bei der Abkehr vom Erfordernis der Einstimmigkeit ein
Durchbruch notwendig gewesen wäre. 20, möglicherweise bis zu 27 Kommissare werden in Zukunft in der Europäischen Kommission Verantwortung tragen.
({8})
Was aber aus meiner Sicht noch schwerwiegender ist:
Das Europäische Parlament wird möglicherweise bis zu
900 Mitglieder haben. Es wird der Fall auftreten, dass
größere Staaten, die neu hinzukommen, weniger Mandate
erhalten als kleinere Staaten, die heute schon Mitglied der
Europäischen Union sind. Sie können doch nicht im Ernst
behaupten, dass dies nun der große Erfolg war, den wir
uns alle von Nizza erhofft hatten und der auch nötig gewesen wäre.
({9})
Bei aller notwendigen und berechtigten Kritik will ich
die wenigen positiven Ergebnisse des Europäischen Rates
von Nizza nicht verschweigen.
({10})
Wenn es diese Ergebnisse nicht gäbe und wenn wir die
Tragweite von Nizza für die Erweiterung der Europäischen Union nicht zu bedenken hätten, dann wäre die
Entscheidung über Zustimmung oder Ablehnung der Ratifikation des Vertrages längst gefallen. Es ist in diesem
Zusammenhang natürlich positiv festzustellen, dass die
Proklamation einer Europäischen GrundrechteCharta gelungen ist. Wir bewerten es auch durchaus positiv, dass die verstärkte Zusammenarbeit vereinfacht
worden ist. Ich bin auch mit Ihnen, Herr Bundeskanzler,
der Auffassung, dass es richtig war, den Zeitplan und den
Inhalt eines Post-Nizza-Prozesses festzulegen.
Ich will Ihnen zu dem Zeitplan aber ausdrücklich sagen: Wir halten es für einen großen politischen Fehler,
dass die Staats- und Regierungschefs in Nizza beschlossen haben, diesen Prozess erst im Jahre 2004 zu beginnen.
({11})
Die weitere Diskussion in der Europäischen Union und
die Vorbereitungen für einen nächsten Schritt lassen uns
aber keine Zeit bis zum Jahre 2004. Diese Arbeiten müssen heute, im Jahre 2001, beginnen.
({12})
Das Minimalergebnis von Nizza bedeutet zunächst,
dass die Europäische Union ihr Versprechen, bis zum
1. Januar 2003 die notwendigen institutionellen Reformen
für die Aufnahme neuer Mitglieder anzupacken, nicht
vollständig eingelöst hat. Wir dürfen aber die Versäumnisse von Nizza nicht auf dem Rücken der neuen Beitrittsländer austragen. Wenn also der Erweiterungsfahrplan eingehalten werden soll - wir von der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion wollen ihn einhalten, weil wir
nicht nur um die ökonomische, sondern auch um die politische Dimension der Osterweiterung der Europäischen
Union wissen -, dann sind Nachbesserungen unverzichtbar.
({13})
Es geht dabei nicht nur um die ungelösten institutionellen
Fragen. Es geht eben auch um die seit dem Berliner EUGipfel vom März 1999 bis heute nicht wirklich umgesetzten Reformentscheidungen in der gemeinsamen
Agrarpolitik. Es geht auch um die finanzielle Absicherung
der Osterweiterung.
Lassen Sie mich aber noch einmal auf den so genannten Post-Nizza-Prozess zurückkommen, also auf das, was
nach dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs von
Nizza nun zu geschehen hat. Nach der Reform ist vor der
Reform. Dies ist eine der wenigen positiven Botschaften
von Nizza. Wir begrüßen daher die Erklärung zur Zukunft
der Union. Wir begrüßen insbesondere den Beschluss,
eine weitere Konferenz durchzuführen, um die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Europäischen Union und
den Mitgliedstaaten, die Neugestaltung der Verträge, die
Rolle auch der nationalen Parlamente in der Architektur
Europas und den Status der Charta der Grundrechte festzulegen.
Europa braucht, wie wir es seit langem fordern, einen
Verfassungsvertrag. Aber welche Inhalte soll denn ein
solcher Verfassungsvertrag haben? Die Antwort auf die
Frage nach den Inhalten eines solchen europäischen
Verfassungsvertrages sind die Staats- und Regierungschefs in Nizza ebenfalls schuldig geblieben.
Die wichtigste Frage lautet: Wozu brauchen wir Europa und wie viel Europa wollen wir? Es geht um das genetische Programm der Europäischen Union. Welches
Selbstverständnis, welches Ziel soll die Europäische
Union haben und wie sollen ihre Grenzen definiert werden? Ist eine Union mit möglicherweise 27 oder gar mehr
Mitgliedern als ein homogener Staatenverbund mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten für alle überhaupt
noch zusammenzuhalten?
({14})
Der Hinweis auf Kerneuropa, den Wolfgang Schäuble
und Karl Lamers schon 1994 gegeben haben, ist damals
bei vielen auf große Vorbehalte gestoßen.
({15})
Heute ist uns allen klar, dass das Europa der sechs
Gründungsmitglieder nicht nur institutionell und politisch, sondern auch in seiner Werteorientierung ein anderes Europa war als das heutige oder das künftige. Unsere
Frage lautet: Muss der Kerneuropagedanke nicht zwingend zum unverzichtbaren Strukturmerkmal einer Europäischen Union der Zukunft werden?
Ein weiterer Baustein wird die Kompetenzabgrenzung
sein. Europa ist dort stark, wo es sich auf die Aufgaben
konzentriert, die im gemeinsamen Handeln der Europäer
besser gelöst werden können als im nationalen Alleingang. Maßstab für uns bleibt dabei das Subsidiaritätsprinzip. Zu den wesentlichen Aufgaben der Europäischen
Union gehören zum Beispiel die Sicherung des Binnenmarktes, aber ganz gewiss auch die Außenpolitik, die Sicherheitspolitik und die Verteidigungspolitik, außerdem,
Herr Bundeskanzler, die Asyl- und Flüchtlingspolitik und
grenzüberschreitender Umweltschutz. Demgegenüber
gehören - das müsste uns doch eigentlich klar sein - Bereiche wie zum Beispiel Beschäftigung, Bildung, Gesundheit, Sport, Fremdenverkehr, Raumordnung - alles
Bereiche, um die sich die Europäische Kommission zum
Teil sehr intensiv kümmert - eindeutig in die nationale
Verantwortung.
({16})
Nach den Erfahrungen mit Regierungskonferenzen
- Nizza steht da nicht allein - mehren sich die Stimmen,
die fordern, das Projekt des europäischen Verfassungsvertrages nicht erneut den Regierungen zu übertragen.
({17})
Aus dem Europäischen Parlament hören wir sogar die
Forderung, den Regierungen die Verantwortung für alle
künftigen europäischen Reformprojekte zu entziehen.
Herr Bundeskanzler, auch das ist ein Hinweis auf das Ergebnis von Nizza und darauf, welchen Eindruck Sie dort
bei den Parlamentariern hinterlassen haben.
({18})
Ich sage jedenfalls: Für die Ausarbeitung eines europäischen Verfassungsvertrages macht es Sinn, darüber
nachzudenken, ob denn nicht etwa nach dem Vorbild des
Grundrechtekonvents erneut ein Projekt auf die Tagesordnung gesetzt wird, das für eine umfassende Beteiligung der Parlamente, natürlich der Regierungen, aber
auch der Nichtregierungsorganisationen und vor allem
der Bürger der Europäischen Union genügend Raum
schafft.
({19})
Wenn wir uns einem solchen Verfassungsvertrag nähern,
dann will ich doch daran erinnern, wie die ersten Worte
der amerikanischen Verfassung lauten. Dort steht: „We,
the people“ - wir, das Volk - und nicht: „We, the government“, wir, die Regierung.
({20})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal darauf hinweisen: Diese Aufgaben der Europäischen Union dulden
keinen Aufschub bis in das Jahr 2004. Wir wollen ein starkes, ein handlungsfähiges Europa dort, wo die europäische Handlungsfähigkeit unseren gemeinsamen europäischen Interessen entspricht. Je besser und je früher dies
gelingt, umso mehr wird Europa die Zustimmung der
Menschen gewinnen, sie auch dort zurückgewinnen, wo
sie verloren gegangen ist, und umso besser wird es in Zukunft um Demokratie, Freiheit, Frieden, Wohlstand und
Gerechtigkeit in Europa bestellt sein.
Herzlichen Dank.
({21})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Heute Morgen sollte es eigentlich um die Zukunft Europas gehen, nicht um eine Polemik gegen die
Bundesregierung, Herr Merz.
({0})
Ich weiß nicht, wie man nach der Regierungserklärung
des Bundeskanzlers so grundlegend das Thema verfehlen
kann.
({1})
Aber Sie haben schon im letzten Satz Ihrer Rede im Dezember angekündigt, woran Sie die Bundesregierung, insbesondere den Bundeskanzler, messen würden. Das haben Sie hier einzulösen versucht. Sie haben damals zu
verstehen gegeben, dass Sie möglicherweise unzureichende Fortschritte ausschließlich der Bundesregierung
zur Last legen würden. Herr Merz, Sie übertünchen damit
die Orientierungslosigkeit Ihrer Partei. Wir werden ja sehen, ob auf Ihrem Landesparteitag in Nordrhein-Westfalen der Antrag gegen die Ratifizierung der Beschlüsse
von Nizza eine Mehrheit erhalten wird. Das wird eine
ganz spannende Frage sein, Herr Merz. Wir werden genau
beobachten, wie Sie dort agieren werden, ob Sie zum Beispiel ein solches Risiko in Kauf nehmen werden.
Sie brauchen, was die Haltung der CDU/CSU angeht,
nur die Tickermeldungen vom 11. Dezember zu nehmen:
„Nach Nizza geht es voran“, das war die Reaktion der
CSU, und zwar von Herrn Goppel. Bei Reuters war zu lesen: „Gipfelergebnis löst in der Union gegensätzliches
Echo aus. Während CSU-Chef Edmund Stoiber von einem entscheidenden Schritt nach vorn sprach, übte die
CDU-Vorsitzende Angela Merkel scharfe Kritik. Der
große Wurf für Europa ist nicht gelungen, sagte Frau
Merkel.“
({2})
Herr Merz hat sich damals in dem Sinne geäußert, wie es
heute Morgen hier wieder zu hören war.
Nein, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
bei den unbestreitbaren Verdiensten, die Sie und insbesondere der ehemalige Bundeskanzler in der Europapolitik haben, machen Sie es sich mit einer solchen Rede, wie
sie Herr Merz heute Morgen hier gehalten hat, viel zu einfach. Das ist eigentlich unter Ihrem Niveau.
({3})
Sie kritisieren den Zeitpunkt 2004, Herr Merz. Wir sind
mitten im Post-Nizza-Prozess. Jeder Schritt, der dazu
stattfindet - der Bundeskanzler hat von einigen gesprochen -, ist Bestandteil dieses Prozesses. So viel hätten Sie
in der Tat im Europaparlament lernen können, Herr Merz.
({4})
Sie wiederholen die strategischen Fehler, die Sie schon im
letzten Jahr gemacht haben.
Zunächst einmal ist doch festzuhalten: Die Bundesregierung hat in Nizza gut verhandelt, und zwar im europäischen wie im deutschen Interesse.
({5})
- Herr Hausmann, Sie und andere wissen es doch: Sie hat
das erreicht, was in dieser konkreten Verhandlungssituation möglich war. Leider konnte auch die Bundesregierung nicht verhindern, dass das Ergebnis von Nizza hinter
unseren Erwartungen zurückgeblieben ist. Aber ohne das
große Engagement von Bundeskanzler Gerhard Schröder
wären die Fortschritte noch geringer gewesen. Das wird
allmählich überall in Europa anerkannt, meine Damen
und Herren.
({6})
- Ich komme darauf noch zurück.
Man muss so ehrlich und realistisch sein anzuerkennen, dass nur durch die Einigung in letzter Minute ein
Scheitern des Gipfel von Nizza verhindert werden konnte.
Die Strategie der Bundesregierung und der anderen
Regierungen, ein Scheitern des Gipfel auf jeden Fall zu
verhindern, war richtig. Ein Scheitern hätte niemandem
genutzt und der europäischen Integration mit Sicherheit
geschadet.
In der Tat haben die Ergebnisse, wenn man sie sich
konkret anschaut, nicht die nötige umfassende institutionelle Reform der EU gebracht, und der Bundeskanzler
hat das in seiner Regierungserklärung überhaupt nicht
verschwiegen. Insoweit haben die Kritiker des Ergebnisses von Nizza sicherlich Recht. Aber die Ergebnisse von
Nizza werden ausreichen, um die Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union voranzutreiben.
Wenn diese Änderungen ratifiziert werden, gibt es keine
formellen Hindernisse auf dem Weg zur Erweiterung der
EU mehr.
Also: Das drängendste Ziel des Gipfels von Nizza, die
Voraussetzungen für die Erweiterung zu schaffen, wurde
damit erreicht. Das wird in den Beitrittsländern so gesehen und auch entsprechend beurteilt. Deswegen wird der
Gipfel insgesamt positiv bewertet. Insbesondere in Osteuropa wird die Verhandlungsführung der Bundesregierung und des Bundeskanzlers sehr gewürdigt, nicht zuletzt in Polen. Darauf können wir stolz sein.
({7})
Die im Einzelnen erzielten Ergebnisse sind differenziert
zu betrachten. Die Fortschritte beim Übergang zu Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat werden die Arbeit der EU befördern und uns ohne Frage weiterbringen,
({8})
sind aber insgesamt zu gering, Herr Haussmann. Insbesondere in den Bereichen Steuern, Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik,
({9})
Sozialpolitik, bei den Strukturfonds und der gemeinsamen Handelspolitik sind die erzielten Ergebnisse nicht
ausreichend.
({10})
Dass die Anwendung der verstärkten Zusammenarbeit, das heißt die Möglichkeit, dass Mitgliedstaaten im
Rahmen der EU Integrationsfortschritte machen können,
ohne dass alle Mitgliedstaaten daran mitwirken, verbessert worden ist, ist zu begrüßen. Hier sind wir einen
Schritt weitergekommen. Das werden Sie sicherlich akzeptieren.
Beschlüsse im Ministerrat werden durch die neuen
Entscheidungsverfahren nicht einfacher. Aber hierzu
sage ich - Herr Merz hat sich schon darauf eingelassen -: Eine fundierte Bewertung dieser Frage ist erst
dann möglich, wenn erste Erfahrungen mit den modifizierten Entscheidungsprozeduren gesammelt worden
sind.
Die Tage von Nizza haben uns allen im Parlament, unseren Kollegen im Europäischen Parlament wie auch den
Bürgerinnen und Bürgern in Europa mit fast schmerzhafter Deutlichkeit gezeigt, wie schwierig es ist, in der
Europäischen Union derzeit substanzielle Fortschritte zu
erzielen. Dabei ist es nur bedingt eine Entschuldigung,
dass es in Nizza um nichts Geringeres als die Teilung
bzw. Neuaufteilung von Macht und Einfluss zwischen
den Mitgliedstaaten und den unterschiedlichen Institutionen ging.
Leider - das hat Nizza gezeigt, das will niemand wegdiskutieren - spielen nationale Egoismen immer noch
eine zu bestimmende Rolle, während eigentlich die Einsicht in die Notwendigkeit einer schnellen grundlegenden
Reform der Europäischen Union und ihrer Institutionen
vorherrschen müsste.
({11})
Deshalb werden wir zunächst einmal mit den erzielten
Ergebnissen leben müssen. Vor diesem Hintergrund ist es
mit Sicherheit nicht hilfreich, aus Unzufriedenheit das Ergebnis von Nizza als unzureichend abzulehnen. Ich
glaube nicht, dass sich der Europäische Rat durch eine
Nichtratifizierung der Nizza-Ergebnisse zu größeren
Fortschritten beim Umbau der Europäischen Union und
ihrer Institutionen bewegen ließe.
({12})
Im Gegenteil: Divergierende Tendenzen in der EU würden, Herr Haussmann, vermutlich weiter gestärkt.
({13})
Noch schlimmer ist, dass eine Nichtratifizierung ein
historisch verheerendes Signal an die Beitrittsländer
wäre. Auch Sie von der F.D.P. können das nicht wollen,
Herr Haussmann,
({14})
weil dies mit Sicherheit einen Aufschub des Erweiterungsprozesses nach sich ziehen würde. Angesichts von
Nizza in Larmoyanz zu verfallen oder Europaskepsis zu
kultivieren ist keine Haltung, die den Herausforderungen
der Zukunft gerecht würde. Die Beitrittskandidaten haben
ein Recht darauf, dass die Europäische Union den Beitrittsprozess mit Vernunft, Augenmaß, aber auch mit
ganzer Kraft weiterführt.
Die Ergebnisse von Nizza sind nicht das letzte Wort.
Der Prozess der inneren Reform der Europäischen Union
muss weitergehen. Dies war nicht nur der ausdrückliche
und einvernehmliche Wille der Staats- und Regierungschefs in Nizza, sondern manifestiert sich in der Vereinbarung einer weiteren Regierungskonferenz im Jahre 2004 über die notwendige Weiterentwicklung der europäischen Verträge. Darüber sind wir uns im Parlament
doch fast alle einig. Auch diesen Teil der Beschlüsse müssen Sie einmal zur Kenntnis nehmen und würdigen. Die
Forderungen, die hier aufgenommen wurden, sind doch
auch aus Ihren Reihen gekommen. Sie untergraben mit
dem, was Herr Merz hier heute Morgen gesagt hat, in der
Substanz Ihre eigenen Forderungen.
({15})
Die Vereinbarung dieser Regierungskonferenz, bei der
die Grundfragen der europäischen Integration im Vordergrund stehen sollen, war unser Ziel und ist damit ausdrücklich als Erfolg zu werten. Dem bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber ist zuzustimmen, wenn er die große
Relevanz des Post-Nizza-Prozesses und der Regierungskonferenz von 2004 für die deutschen Länder und den
deutschen Föderalismus betont.
({16})
- Herr Waigel, dass Ihnen das nicht passt, kann ich nachvollziehen angesichts der inneren Gemengelage und Gefühlslage, die bei Ihnen bzw. in der CSU sehr wahrscheinlich nach wie vor anzutreffen ist.
Ohne die umfassende Klärung der Frage, welche Aufgaben die Europäische Union in Relation zu ihren Mitgliedstaaten überhaupt haben soll, könnte sich die EU
überfordern. Denn die Erweiterung macht eine Überprüfung des Aufgabenzuschnitts dringend erforderlich. Die
Europäische Union - auch da sind wir uns fast einig; das
wird im Konkreten aber noch zu diskutieren sein - muss
sich auf die Aufgaben konzentrieren, die einen europäischen Mehrwert mit sich bringen, also auf die Aufgaben,
die die Nationalstaaten in einer globalisierten Welt allein
nicht mehr zufriedenstellend bewältigen können. Die
derzeitige Gewaltenteilung zwischen Europäischer Kommission, Europäischem Rat, Europäischem Parlament
und den nationalen Parlamenten ist keine Basis für ein
bürgernahes und umfassend demokratisches Europa.
Auch hier müssen wir 2004 den Durchbruch schaffen, um
die augenfälligen Defizite in Bezug auf die demokratische
Legitimierung und die Bürgernähe der EU endlich abzubauen.
({17})
Es wäre ein großer Fehler, davon auszugehen, dass die
grundlegende Frage, wie die Europäische Union in Zukunft aussehen soll, nur die Flure in Brüssel und Straßburg sowie die europapolitischen Zirkel und nicht auch
die Köpfe und Herzen der Bürgerinnen und Bürger in Europa immer stärker beschäftigt.
({18})
Die Menschen beschäftigen sich damit. Sie haben aber
eine Wahrnehmung von Europa, die nicht in unserem gemeinsamen Interesse liegen sollte. Ich jedenfalls hielte
es - darauf weise ich nach der heutigen Rede von Herrn
Merz hin; ich dachte eigentlich, das Problem sei ausgestanden - für verfehlt und unverantwortlich, wenn die hier
im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien die vor uns
liegenden europapolitischen Aufgaben nicht als gemeinsame Verantwortung auffassen würden und wenn die in
der Bevölkerung existierenden Unsicherheiten und Ängste über den weiteren Weg Europas zu Wahlkampfzwecken
instrumentalisiert würden. Das wäre unverantwortlich.
({19})
Was wir brauchen - dem stellen wir uns; das tun der
Bundeskanzler, der Bundesaußenminister und hoffentlich
alle Parteien -, ist ein breiter europapolitischer Diskurs,
der die Regierungskonferenz von 2004 und die notwendigen grundlegenden Richtungsentscheidungen konstruktiv
vorbereitet. Wir sind aufgerufen, für Europa mit Worten,
aber auch und vor allem mit Taten nachhaltige Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn ohne Bürgerinnen und Bürger, die von Europa wirklich überzeugt sind, wird ein vereintes, demokratisches und solidarisches Europa nicht
entstehen können.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal an
den Ausruf von Jean Monnet erinnern: „Wir einigen keine
Staaten; wir führen Menschen zusammen.“ Ich bitte Sie:
Lassen Sie uns das gemeinsam in den nächsten Jahren hier
vom deutschen Parlament aus umsetzen.
Vielen Dank.
({20})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Helmut Haussmann, F.D.P.-Fraktion.
({0})
Sehr verehrter Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Damit es
überhaupt keinen Zweifel an der Haltung der Freien
Demokraten gibt: Ich spreche hier für die Fraktion, die
seit Jahrzehnten unbeirrt für die Wiedervereinigung
Europas eingetreten ist. Wir haben in der Ära Brandt/
Scheel gegen den Widerstand vieler Konservativer in
Deutschland die neue Ostpolitik mit durchgesetzt. Wir haben in der Ära Kohl/Genscher ohne wirkliche Unterstützung von Sozialdemokraten und Grünen die einheitliche
europäische Währung durchgesetzt.
({0})
Unser liberaler Außenminister Klaus Kinkel hat in der
letzten Beitrittsrunde gezeigt, dass sich die Erweiterung
und die Vertiefung Europas nie ausschließen dürfen. Ich
kann mit Stolz feststellen: Keine Fraktion im Deutschen
Bundestag hat sich in den letzten zehn Jahren so konsequent, aber auch so aktiv für die Osterweiterung der
Union, also für die Wiedervereinigung Europas, eingesetzt.
({1})
An dieser unserer Überzeugung, dass wir die Osterweiterung der Europäischen Union pünktlich brauchen und
dass wir mit den vagen Zeitplänen der Bundesregierung
unzufrieden sind, hat sich kein Jota geändert und wird sich
kein Jota ändern.
Gerade weil wir so aktiv für die Osterweiterung der
Europäischen Union eintreten, ist das Ergebnis von
Nizza für uns so enttäuschend. Richtig ist: Wer für die
Erweiterung ist, kann dem Vertragsentwurf von Nizza in
der bisher bekannten Form nicht einfach zustimmen.
({2})
Wenn Sie heute in der „FAZ“ lesen, dass der frühere
Präsident des Europäischen Parlaments, der von mir hoch
geschätzte SPD-Kollege Hänsch, wörtlich sagt: „Seit vielen Jahrzehnten gab es in Europa keinen so miserablen
Vertragsentwurf“, sollten Sie mit Ihrem Jubel der Zustimmung vorsichtig sein.
({3})
Es ist eine schwache Leistung, die bereits in Berlin
schwach begann. Die wirklichen Anhänger der europäischen Integration - bei Ihnen, letztlich auch bei den Grünen und der Union - wissen das auch ganz genau. Herr
Fischer, Sie haben das völlig zu Recht im Sonderausschuss gesagt. Wenn Sie heute noch in der Opposition
wären, wären Sie doch der Erste gewesen, der diesen Vertrag in der vorliegenden Form scharf angegriffen hätte,
und zwar aus europäischer Überzeugung zu Recht.
({4})
Der Gipfel von Nizza war zunächst eine große Chance
für Vertiefung und Erweiterung. Sie wurde vertan und
man muss heute fragen - das hat sich schon in Berlin abgezeichnet -: Was ist aus dem wirklich positiven deutschen Markenzeichen „europäische Integration“ der
früheren Regierung Kohl/Kinkel inzwischen geworden?
Das ist nicht nur eine nationale Betrachtung, sondern auch
eine internationale.
Das gemeinsame Ziel im Europaausschuss des Parlaments war: Nizza muss gleichzeitig Handlungsfähigkeit
und Effizienz verbessern sowie die demokratische Legitimation stärken. Diese Ziele wurden definitiv nicht erreicht. Entscheidend war, dass manche Staats- und Regierungschefs - zuletzt auch Bundeskanzler Schröder im
Deutschen Bundestag - leider die Bevölkerungszahlen
der Mitgliedsländer in den Vordergrund gestellt haben.
Wer die Situation in Frankreich ein bisschen beurteilen
kann, weiß, was dies in Frankreich bedeutet. Herr Merz,
Sie sind zu Recht darauf eingegangen. Jeder Regierungschef ließ sich für kleinliche nationale Erfolge feiern. Es
gab in Nizza niemanden, der für wirkliche Integrationsfortschritte nationale Egoismen aufgegeben hätte.
({5})
In der Bundesrepublik Deutschland, dem größten Land
Europas, richtet sich ein solcher Vorwurf naturgemäß gegen die Bundesregierung. Sie ist der besonderen Verantwortung der Deutschen für die Wiedervereinigung der
Europäer nicht gerecht geworden. Herr Fischer, Sie erhalten hier die Quittung dafür, dass Sie sich in europäische
Visionen verstiegen und um das harte Brot der täglichen
Arbeit in Europa zu wenig gekümmert haben, sodass das
deutsch-französische Verhältnis gestört ist.
({6})
Mehr als ein Schulterzucken von Außenminister
Fischer oder Bundeskanzler Schröder darüber, dass sich
nicht alle Hoffnungen erfüllt hätten, war nicht drin. Das
zeigt, dass man zu wenig Hoffnungen hatte. Zu der Bemerkung von Bundeskanzler Schröder, nicht alle Hoffnungen hätten sich erfüllt, muss man sagen: Es waren von
Anfang an schwache Hoffnungen und nicht einmal die haben sich erfüllt.
Bezüglich der Osterweiterung sage ich Ihnen Folgendes voraus: Die Gegner der Osterweiterung werden den
mangelnden Einstieg in Mehrheitsentscheidungen zu
weiteren Verzögerungen missbrauchen. Darin liegt die
große Gefahr für die Osterweiterung.
({7})
Antieuropäische Kräfte sowohl in den derzeitigen als
auch in den künftigen Mitgliedstaaten werden ermuntert,
über das Vetorecht ihrer Regierungen europäische Entscheidungen zu blockieren. Die Erweiterung Europas
braucht gleichzeitig den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen. Sie können Europa mit 25 Mitgliedstaaten nicht
voranbringen, wenn im Prinzip das Vetorecht gilt.
({8})
Die Lösung kann nur darin liegen, dass man die Ergebnisse von Nizza verbessert. Im Europäischen Parlament gibt es nur ein Thema: Was kann man tun, um den
Vertrag von Nizza zu verbessern und ihn so zustimmungsfähig zu machen?
Mit dieser kritischen Haltung, Herr Fischer - Sie werden ja gleich reden -, sind wir nicht alleine. Wir befinden
uns in allerbester Gesellschaft führender europäischer
Integrationsforscher, aller wesentlichen Vertreter im Europaparlament, aber auch der Kommissare, die wie
Verheugen mutig sind und sagen: Das Ergebnis von Nizza
reicht nicht aus. Der Versuch, uns in die Ecke derjenigen
zu stellen, die die Erweiterung angeblich verzögern oder
gar verhindern wollen, ist daher absolut grotesk.
({9})
Das Gegenteil ist der Fall: Gerade weil wir eine schnelle
Erweiterung wollen, können wir den Ergebnissen von
Nizza nicht zustimmen. Wir werden uns zusammen mit
dem Europäischen Parlament an dem Post-Nizza-Prozess
beteiligen, um den Vertrag von Nizza durch Nachbesserungen zustimmungsfähig zu machen.
Nun ist politische Führung in der Europapolitik mehr
denn je gefragt. Herr Bundeskanzler, Herr Außenminister,
Sie als Vertreter des wichtigsten und größten Staates in
Europa müssen dieser Verantwortung gerecht werden.
Deutschland muss auch in Zukunft der Anwalt der europäischen Wiedervereinigung bleiben. Stellen Sie sich
bitte in die Tradition ehemaliger Bundeskanzler, aber
auch ehemaliger Außenminister, denen wir so viele Fortschritte in Europa verdanken. Bringen Sie zunächst das
Verhältnis zu Frankreich wieder in Ordnung.
({10})
Wir alle sollten hier ein kritisches Zeichen setzen, dass
wir mit dem Ergebnis von Nizza im Interesse Europas nicht
zufrieden sind. Beteiligen wir uns an der Verbesserung des
Vertrages von Nizza, damit er zustimmungsfähig wird!
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort
dem Außenminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es entspricht
der Tradition des Hauses, dass in einer Europadebatte - bei anderen Debatten lässt sich anhand des klaren
Pro und Kontras genau verfolgen, wo die Fraktionsgrenzen verlaufen - ein Stück weit quer zu den politischen Lagern diskutiert wird, weil das Europathema kein parteipolitisches Thema ist. Herr Merz, ich finde es schade,
dass Sie hier im Grunde genommen versuchen, Innenpolitik zu machen. Deshalb lassen Sie mich bei der Bewertung der Ergebnisse von Nizza eine klare Gegenposition
zu Ihnen beziehen: „Der Gipfel von Nizza war ein wichtiger und entscheidender Schritt auf dem Weg zur europäischen Einigung. Insofern war er durchaus ein Erfolg.“
({0})
- Ja, das sagte Edmund Stoiber in der 758. Sitzung des
Bundesrates am 21. Dezember 2000.
Sie können nicht kritisieren, dass es in Europa an politischer Führung mangele. Fragen Sie sich lieber einmal
selbst, wie es um die Führung in Ihrer Fraktion bestellt ist,
wenn Sie sich anschauen, welche Haltung die CDU/CSU
einnimmt.
({1})
Herr Kollege Haussmann, ich komme auf die Frage
zurück, weshalb man eigentlich das Ergebnis von Nizza
kritisiert. Kritisiert man das Ergebnis, weil es einem in
dem einen oder anderen Punkt nicht zusagt oder weil man
meint, dass es nicht ausreichend sei? Kritisiert man es und
lehnt man es unter dem Gesichtspunkt ab: Wir wollen es
nicht? Wäre es nicht angemessener - das Parlament kann
in seiner Kritik weiter gehen als die Bundesregierung, die
in die europäische Kompromissstruktur eingebunden ist -,
konstruktiv zu kritisieren? Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass der Bundesrat und die Ministerpräsidenten
offensichtlich die klügere Variante gewählt haben und
dies auch zu entsprechenden Erträgen im Vorfeld von
Nizza geführt hat. Das ist der entscheidende Unterschied.
Gestatten Sie mir, an diesem Punkt klipp und klar zu
sagen: Der europäische Einigungsprozess entscheidet
über die Zukunft aller Mitgliedstaaten im 21. Jahrhundert.
Deswegen wird es ganz entscheidend darauf ankommen,
dass wir diesen Einigungsprozess unter dem Gesichtspunkt der großen historischen Herausforderung der Erweiterung voranbringen. Das hatte der Gipfel von Nizza
zu leisten und er hat es auch geleistet.
({2})
- Das werde ich Ihnen gleich noch erklären. - Nizza hat
entscheidende Fortschritte gebracht - der Bundeskanzler
hat diese dargestellt -, nämlich in der Frage einer wesentlich handhabbarerer verstärkten Zusammenarbeit und in
der Definition des Post-Nizza-Prozesses inklusive der
Abschlussperspektive für das Jahr 2004.
Wenn man dann noch den ersten Schritt hinzunimmt,
nämlich die Annahme der Grundrechte-Charta auf der politischen Ebene, die Erwartung, dass der Beschluss, der
gefasst wurde, 2004 faktisch auf einen Verfassungsprozess zur Kompetenzfrage hinausläuft - in Verbindung mit
der Grundrechte-Charta -, und wenn man dann noch die
Komponente der verstärkten Zusammenarbeit hinzunimmt und sieht, dass wir am 1. Januar des kommenden
Jahres die Euro-Einführung haben, dass wir die beginnende Erweiterung haben und dass wir im Vorfeld von
2006 auch die Notwendigkeit eines neuen Finanzkompromisses haben werden, dann kann ich Ihnen nur sagen:
Wenn Sie diese Parameter anlegen und betrachten, was
Nizza geleistet hat, gleichzeitig aber fordern, dass wir das
deutsch-französische Verhältnis wieder in Ordnung
bringen und Nizza ablehnen sollen, dann müssen Sie mir
einmal erklären, wie Sie das jenseits des Zustands der
Schizophrenie zusammenbringen wollen.
({3})
Sie zitieren Herrn Hänsch - ich habe den Artikel heute
Morgen auch gelesen -, Sie zitieren aber nicht den französischen Außenminister. Wenn wir sagen würden, Nizza
ist gescheitert, und wenn wir die Position der F.D.P. übernehmen würden, wir wollten einen neuen Gipfel, weil
Nizza gescheitert sei, wäre das für das deutsch-französische Verhältnis so ziemlich das Schlimmste, was eine
Bundesregierung machen könnte.
({4})
Herr Haussmann, Sie sind viel zu klug, um so etwas zu
fordern. Das gilt auch für Ihre Fraktion; es gibt bei Ihnen
genügend erfahrene Außenpolitiker. Herr Kollege Kinkel
weiß nur zu gut, worauf so etwas hinauslaufen würde und
dass es jenseits oppositioneller Rhetorik und Forderungen
schlichtweg eine Katastrophe wäre, wenn wir so vorgehen
würden. Insofern ist diese Forderung nicht nur nicht klug,
sondern sie ist gegen die Interessen Deutschlands, sie ist
gegen das Interesse, ein gutes deutsch-französisches Verhältnis zu haben, und sie ist gegen die europäischen Interessen gerichtet. Daher lehnen wir sie ab.
({5})
Meine Damen und Herren, was hatte Nizza tatsächlich
zu leisten? Herr Kollege Merz, es tut mir Leid: Nizza hatte
all das, was Sie dem Bundeskanzler vorgeworfen haben
- was die Vertiefungsperspektive betrifft -, nicht zu leisten. Was Nizza zu leisten hatte, war die Abarbeitung der
„leftovers“, die Sie genannt haben. Sie sind aber nicht auf
ein einziges „leftover“ eingegangen. Gehen wir einmal
die einzelnen Punkte durch; ich möchte mich nicht in Polemik erschöpfen, sondern wirklich diskutieren.
Sie haben den Punkt der Mehrheitsentscheidung genannt. Der Bundeskanzler hat in der Abschlusspressekonferenz gesagt - er hat es wiederholt und ich habe es in der
Sondersitzung des Europaausschusses auch gesagt -, wir
hätten uns in diesem Punkt durchaus ein ambitionierteres
Ergebnis gewünscht.
({6})
- Nein, ich bestätige Sie nicht, sondern ich möchte, dass
wir jetzt ernsthaft über das Problem diskutieren. Zwei
große Problembereiche standen dem entgegen. Das können Sie nicht bei der Bundesregierung abladen; denn wir
waren willens, hier weiter zu gehen, haben aber keine
Einstimmigkeit dafür bekommen.
Der erste große Problembereich ist das, was man mit
Finanz- und Steuerpolitik beschreiben kann. Großbritannien hat von Anfang an und auch schon im Vorfeld
klargemacht, dass seine Bewegungsspielräume auf diesem Gebiet minimal sind. Das ist ein Faktum, das Sie
nicht bei der Bundesregierung abladen können. Ein zweites Ziel von uns war, Mehrheitsentscheidungen in der Außenhandelspolitik zu bekommen. Das wiederum wurde
von anderen Partnern an die Bewegung in der Steuerfrage
geknüpft. Das war die Situation.
Die Bundesregierung war im europäischen Interesse
bereit, bei beiden Punkten weiter zu gehen und Bewegung
hineinzubekommen und auch in anderen Bereichen noch
draufzulegen. Der Bundeskanzler hat dies in verschiedenen Gesprächen angeboten. Dass wir das nicht durchsetzen konnten, können Sie jetzt als Versagen der Bundesregierung kritisieren. Aber das ist doch irreal. Man kann
sich die Dinge doch nicht sozusagen schöner träumen, als
sie tatsächlich sind.
({7})
- Herr Haussmann, kommen Sie mir jetzt nicht mit
„früher“.
({8})
Sie können natürlich sagen: Wenn eine christlich-liberale
Koalition in Nizza gewesen wäre, dann hätte Gott der
Herr ein Einsehen gehabt und ein Wunder gewirkt, sodass
sich die steuerpolitischen Positionen anderer Mitgliedstaaten plötzlich verändert hätten.
({9})
- Herr Kollege Hintze, ich sehe, dass uns die christliche
Herkunft verbindet. Uns Katholiken ist der Wunderglaube
in der Theologie durchaus zu Eigen, aber nicht in der Politik. Glauben Sie mir! Das wissen Sie doch auch.
({10})
Der zweite Punkt, den Sie, Herr Kollege Merz, angesprochen haben, war die Größe der Kommission. Die
Bundesregierung hat gemeinsam mit der französischen
Regierung von Anfang an gesagt, wir wünschen uns eine
kleinere Kommission. Aber das ist kein „leftover“. Die
kleinen Länder haben sich mit ihrer Forderung durchgesetzt. Sonst hätte es in Nizza kein Ergebnis gegeben. Die
F.D.P. bezieht ja diese Position: Kein Ergebnis ist besser
als dieses Ergebnis. Das ist die Konsequenz der Position
der F.D.P. in Bezug auf die Ablehnung. Das muss man
wissen.
({11})
Die Europäische Volkspartei wird dies ja als größte
Fraktion im Europaparlament mit entscheiden.
({12})
Insofern: Herr Kollege Merz, man begegnet sich, auch
hier im Deutschen Bundestag, immer zweimal. Eine entsprechende Rede werden Sie nach der Ratifizierung noch
einmal halten müssen.
({13})
Ich gehe davon aus, dass die EVP und auch Sie, die
CDU/CSU, der Ratifizierung als gute Europäer und getragen von der europäischen Orientierung trotz aller Kritik, die Sie äußern und die wir teilweise auch nachvollziehen können, zustimmen werden. Davon gehe ich fest
aus.
({14})
Insofern möchte ich hier den konstruktiven Ansatz fortsetzen.
Wir hätten uns eine kleinere Kommission gewünscht.
Aber das war mit den kleinen Mitgliedstaaten nicht
machbar. Nun wird der Bundesregierung vorgehalten: Ihr
müsst die kleinen Mitgliedstaaten pflegen. Das ist richtig.
Der Bundeskanzler hat wirklich sehr viele Reisen gemacht.
({15})
- Mit Österreich besteht eine schöne Initiative in Bezug
auf die Grenzregionen. Herr Haussmann, wären Sie dabei
gewesen, hätten Sie richtig gestört, als wir da zusammengesessen haben.
({16})
Wenn Sie da immer wieder gesagt hätten, ihr mögt euch
nicht, hätten sie bei diesem Gipfel richtig gestört.
({17})
Denn die Kooperation zwischen der österreichischen und
der deutschen Delegation war hervorragend, durch keine
Sprachbarriere getrübt und von vielen gemeinsamen Interessen getragen und geprägt.
({18})
Dies ist in einer gemeinsamen Initiative zum Ausdruck
gekommen, an deren Verwirklichung wir gemeinsames
Interesse haben.
({19})
- Herr Waigel, vergessen wir es.
({20})
- Nein.
({21})
- Ich mache doch keine Show, sondern ich versuche, auf
Ihre Argumente einzugehen.
({22})
- Herr Merz, immer, wenn Ihnen nichts mehr einfällt und
wenn Ihnen in einer lebendigen parlamentarischen Kontroverse die Sachargumente ausgehen, dann sprechen Sie
von Show.
({23})
Herr Minister, gestatten Sie eine kleine Zwischenbemerkung.
Zwischenrufe sind erlaubt. Aber, Herr Waigel, zu rufen: „Herr Präsident, der lügt!“, ist jenseits der zwischen
uns vereinbarten Regeln.
({0})
Herr Präsident, ich habe diesen Zwischenruf in diesem
Fall nicht als aggressiv und ernst gemeint empfunden. Insofern halte ich selbst ihn für nicht rügenswert. Aber das
ist meine ganz persönliche Meinung.
({0})
Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.
Herr Merz, in den europäischen Fragen geht es mir
- das wissen Sie - wirklich nicht um Show. Sie mögen
das, was wir erreicht haben, kritisieren. Aber werfen Sie
mir in diesen Punkten nicht Show vor, nur weil ich nicht
dieselbe langweilige Rhetorik wie andere habe, die hier
vorgetragen haben. Hören Sie doch auf!
({1})
- Nein, ich meine Ihren Oppositionsführer. Ich habe viele
Jahre Regierungserklärungen von dem in europäischen
Fragen von mir sehr geschätzten Dr. Helmut Kohl als
Bundeskanzler morgens um 9 Uhr miterlebt. Daher weiß
ich, wie lebendig diese Regierungserklärung heute Morgen war. Mein Gedächtnis funktioniert sehr gut.
({2})
Zur Sache: Der entscheidende Punkt ist doch, dass die
kleinen Mitgliedstaaten je einen Sitz wollten. Daher war
eine kleinere Kommission nicht durchsetzbar. Auch hier
handelt es sich also nicht um ein „leftover“.
({3})
- Aber Sie haben gesagt, dies sei ein „leftover“.
({4})
- Nein, das Problem ist nicht ungelöst. Wir werden eine
Kommission in der Größenordnung der Mitgliedstaaten
haben, das heißt mit maximal 27 Mitgliedern. Dies läuft
zwar auf eine größere innere Differenzierung hinaus, aber
es ist - im Gegensatz zu Amsterdam - kein „leftover“, wie
Sie es behauptet haben. Das ist für mich der entscheidende
Punkt.
({5})
Der dritte Punkt betrifft das Abstimmungsverfahren.
Ich kann Ihnen sagen: Die Bundesregierung hätte sich das
Verfahren der doppelten Mehrheit gewünscht. Das war
unsere Position,
({6})
und zwar deswegen, weil die Prinzipien der Staatenmehrheit - das Prinzip des Staatenverbundes - und der Bevölkerungsmehrheit - das demokratische Prinzip des Bürgereuropas in der Europäischen Union - die Mehrheitsregeln
eines sich integrierenden bzw. eines, wie ich hoffe, eines
Tages die politische Einheit erreichenden Europas bestimmen. Die Position der Bundesregierung war, die beiden Grundprinzipien - Staatengleichheit und Gleichheit
der Bürgerinnen und Bürger - zur Geltung zu bringen.
({7})
Das setzt angesichts der Größendifferenzen eine gewisse
Gewichtung voraus. Das konnten wir nicht durchsetzen.
({8})
Auf der anderen Seite wird gesagt - wir teilen diese
Auffassung -, dass das deutsch-französische Verhältnis
für die Bundesregierung und für die Koalition - dasselbe
gilt für die Vorgängerregierungen - unverzichtbar ist.
({9})
Es ist das Schwungrad der europäischen Einigung.
({10})
Insofern müssen wir für Positionen unseres Partners Verständnis haben, selbst wenn sie nicht die unsrigen sind,
und wir müssen einen gemeinsamen Weg finden.
({11})
Wir hielten den Vorschlag der französischen Präsidentschaft für das Abstimmungsverfahren - es beinhaltet ein
entsprechendes Sicherheitsnetz - für einen Kompromiss,
der unter dem Gesichtspunkt der Funktionalität, aber auch
des Staatenprinzips und des Demokratieprinzips nicht nur
vertretbar ist, sondern auch unsere Billigung gefunden
hat. Dieses Abstimmungsverfahren ist kein „leftover“.
Die Voraussetzungen, um die Erweiterung jetzt beginnen
zu können, sind damit geschaffen worden.
Allein die Reaktion in den Kandidatenstaaten macht
doch klar, wie viel Hoffnung damit verbunden wird. Deswegen werbe ich emphatisch für die Ratifizierung. Als
überzeugter Integrationist, als überzeugter Europäer weiß
ich selbst, dass viele Hoffnungen in Nizza nicht in Erfüllung gegangen sind. Gleichzeitig hat Nizza aber eine entscheidende Voraussetzung für den Erweiterungsprozess
geschaffen, den wir jetzt zügig vorantreiben müssen. Es
ist zu lange gewartet worden. Gerade die F.D.P. hat immer
wieder zu Recht darauf hingewiesen, dass endlich Nägel
mit Köpfen gemacht werden müssen, das heißt, dass Erweiterung stattfindet.
({12})
- Herr Haussmann, wir werden keine Erweiterung bekommen, wenn dieser Vertrag abgelehnt wird. Das ist
doch die Konsequenz.
Ich komme auf die Chancen des Post-Nizza-Prozesses zu sprechen, was die Vertiefung betrifft. Herr Merz,
Sie haben dem Bundeskanzler offensichtlich nicht zugehört. In der Rede des Bundeskanzlers steckte eine programmatische Orientierung im Hinblick auf die nächsten
Schritte.
({13})
- Nicht „sehr verborgen“! - Ich sage Ihnen: Gerade perspektivisch gesehen sind die weiteren Schritte hin zur politischen Integration von entscheidender Bedeutung. Das
gilt zum Beispiel für die Frage der Kompetenzabgrenzung. Darüber Einigkeit zu erzielen wird im Post-NizzaProzess ein verdammt schweres Unterfangen werden.
Kompetenzabgrenzung lässt sich leicht fordern, aber die
Umsetzung ist - man denke an die unterschiedlichen nationalen Traditionen und Interessen - alles andere als einfach. Gerade die großen Fraktionen im Europaparlament
werden merken, wie schwierig es in der Praxis sein wird,
dieses Thema durchzudeklinieren.
Als letzten Punkt möchte ich das deutsch-französische Verhältnis ansprechen. Ich habe vorhin schon gesagt - der Bundeskanzler hat es nachdrücklich unterstrichen -: Ich finde es unfair, was alles in den Medien und
von Teilen unserer Öffentlichkeit bei der französischen
Präsidentschaft abgeladen wurde. Es gab einen Widerstreit der nationalen Interessen.
Manches in Nizza erinnerte gerade uns Deutsche an
den Versuch der alten Westbundesländer, sich im Prozess
der Erweiterung - es ging damals um den Länderfinanzausgleich - zu arrondieren. Mir kam das alles, was in
Nizza geschah, sehr bekannt vor, weil ich damals selbst
Mitglied einer Landesregierung war. Die alte Union hat
versucht, sich gewissermaßen ihrer selbst vor der großen
historischen Aufgabe der Erweiterung zu vergewissern.
Als die alten Westbundesländer versuchten, ihre Interessen zu arrondieren, hat das den Einigungsprozess nicht
aufgehalten. Es war ein Schritt, der vollzogen wurde. Diesem Schritt folgten weitere. Wie wir gesehen haben, war
dieser Prozess - bei allem, was es zu kritisieren gibt - sehr
erfolgreich.
Das alles bei der französischen Präsidentschaft abzuladen finde ich unfair. Die französische Präsidentschaft
hatte eine extrem schwierige Aufgabe in einem extrem
schwierigen Umfeld zu erfüllen. Das muss man wissen.
Wenn uns an einem guten deutsch-französischen Verhältnis liegt, müssen wir auch und gerade in einer solchen
schwierigen Situation zu unseren französischen Freunden
und Partnern stehen. Die Bundesregierung tut dies. Für
uns ist das deutsch-französische Verhältnis ein unverBundesminister Joseph Fischer
zichtbares Fundament des europäischen Einigungsprozesses, an dem wir weiterarbeiten.
({14})
Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Erinnern wir uns an die letzte
Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Gipfel
in Nizza: Er hat hier vor dem Deutschen Bundestag sehr
behutsam und bedächtig seine Erwartungen formuliert.
Das brachte ihm dann den Vorwurf ein, er agiere leidenschaftslos, und zwar ausgerechnet vom Erfinder der deutschen Leidenschaftskultur, Friedrich Merz. Aber ich
glaube, dem Kanzler war schon damals klar, dass man die
Erwartungen nicht zu hoch stecken darf. Er hat wohl geahnt, dass es nicht so toll wird. Auch wir meinen, dass die
Osterweiterung der Europäischen Union, zu der wir ausdrücklich stehen, kein Thema für kurzschlüssige Antworten auf schwierige Fragen ist.
({0})
Mit dem Gipfel war wohl nur Edmund Stoiber so richtig zufrieden. Ich frage mich jetzt, wie das mit der von der
Union vorgetragenen Kritik zusammenpasst. Ich sehe
natürlich auch schon den langen Anlauf des Kollegen
Friedrich Merz zu der Rolle rückwärts, die er dann antreten wird, wenn es um die Ratifizierung geht.
Wir wollen eine andere Frage stellen, meine Damen
und Herren. Versetzen Sie sich einmal in die Lage eines
europafreundlichen Fernsehzuschauers, der versucht hat,
den Nizza-Prozess in den Medien zu verfolgen. Für ihn
war dieser Vorgang quälend: nicht so sehr, weil es sich
hier um schwierige und andauernde Prozesse handelt,
sondern weil er seine Probleme in dem nicht wiederfand,
was seine Regierung dort verhandelte.
({1})
Dass dies das Problem von Nizza war, haben auch viele
Kommentatoren gesagt.
Nun wird dem geneigten Fernsehzuschauer, der vielleicht auch heute die Rede des Kanzlers gehört hat, gesagt, es werde eigentlich alles gut, wenn er die Regierung
nur weiter gewähren lasse. Dass dieser Mensch in Konflikte kommt, werden Sie doch wohl eingestehen; ich
finde, Sie haben es auch schon eingestanden. Das Problem ist also, dass sowohl die großen Erwartungen als
auch die Sorgen von Bürgerinnen und Bürgern im Zusammenhang mit einer erweiterten Union hier zu wenig
vorkamen. Auf die Ängste wird zu wenig eingegangen
und die Hoffnungen werden zu wenig aufgegriffen.
({2})
Nizza war insofern für sehr viele Bürgerinnen und Bürger
ein Technokratenakt. Die Lust auf Europa hat das nicht
gestärkt.
Die PDS tritt nachdrücklich für die Osterweiterung der
Europäischen Union ein. Wir sagen allerdings: Wer die
Osterweiterung will, muss den Nizza-Vertrag ablehnen
und ihn nachbessern. Das Ja der PDS zur GrundrechteCharta ist ein Beleg dafür, dass wir keine europafeindlichen Gesellen sind. Wie Sie wissen, ist für die Linken
jedes Ja über die eigenen Positionen hinaus ein großer
Schritt, und wir bekennen uns zu diesem Ja. Ich räume
auch ein, dass wir es gegenüber unseren osteuropäischen
Freunden mit der Ablehnung des Nizza-Vertrages schwer
haben. Aber wir meinen, es ist besser, eine schwierige Situation einzugestehen und anzunehmen, als falsche Hoffnungen zu wecken.
({3})
Es gibt bekanntlich auch bei der deutschen Vereinigung
nicht nur Schokoladenseiten.
Für die PDS ist die verabschiedete Sozialagenda nicht
akzeptabel. Faktisch ist in Verbindung mit den ungelösten
Problemen der Stimmengewichtung ein ständiges Vetorecht im Sinne von Sozialdumping festgeschrieben. Ebenso
sind wir gegen den Einstieg in eine Militärmacht mit europäischen Eingreiftruppen. Bei den Problemen der Stimmengewichtung im Ministerrat wurde in Nizza mit der
Entscheidung für die dreifache Mehrheit die Flucht ins
Undurchschaubare angetreten. Wenn Ihnen bei der Stimmenauszählung einmal ein Computer abstürzt, dann gute
Nacht!
Ich möchte noch auf einen besonders bemerkenswerten Aspekt der Regierungserklärung eingehen. Die Beziehungen zu Polen und Frankreich bildeten den Rahmen
der Rede des Bundeskanzlers. Wenn damit die Selbstkritik verbunden ist, für das deutsch-französische Verhältnis
mehr zu tun, um es auf den erforderlichen Kooperationsstand zu bringen, geht das in Ordnung. Ich habe aber in
diesem Zusammenhang auch eine Hoffnung: Die historische Aussöhnung mit Frankreich war für die Aussöhnung mit dem Westen entscheidend. Ebenso historisch
entscheidend sollte und könnte die Aussöhnung mit Polen
sein; sie könnte das Signal für eine neue Dimension der
Verbindung mit dem Osten werden.
({4})
Sie knüpfen dabei zu Recht an Willy Brandt an. Polen
kann dann eine Brücke zwischen dem Westen und dem
Osten im vereinten Europa werden. Diese Vision kann
Wirklichkeit werden, wenn Polen nicht ein Katzentisch in
der Festung Westeuropa eingeräumt wird, sondern ihm
Chancen, zur Brücke in einem neuen Europa zu werden,
eröffnet werden.
({5})
Im Übrigen: Die Tschechen, die Slowaken, die Ungarn
und die Ukrainer werden das nicht übel nehmen, sondern
sehr wohl verstehen.
Herr Bundeskanzler, Sie haben Ihre Hoffnungen für ein
geeintes Europa vorgestellt und die Schwierigkeiten nicht
ausgeblendet. Sie sagen Ja zum Vertrag von Nizza, wir
nicht. Die Osterweiterung der EU wird die sozialistische
Opposition im Bundestag jedoch weiterhin konstruktiv
unterstützen. Kritik kann bekanntlich auch sehr hilfreich
sein.
({6})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte
mich doch noch einmal zu dem äußern, Herr Außenminister, was Sie zur Bewertung der bisherigen Position der
F.D.P. gesagt haben.
Die F.D.P.-Fraktion hat aufgrund ihrer historischen
Verdienste und ihrer inneren Überzeugung ein großes Interesse daran, dass der Osterweiterungsprozess gelingt,
ohne dass sich die Europäische Union in ihrer inneren
Verfasstheit in eine Rückwärtsbewegung begibt. Wir wollen, dass sich die europäische Integration an dem Ziel orientiert, dass wir auch einmal eine europäische Verfassung
bekommen, wie auch immer sie dann intern ausgebildet
sein mag. Davon war unser Einsatz für die GrundrechteCharta gekennzeichnet, die im Moment in der Schublade
liegt, aber 2004 vielleicht Gegenstand des Vertrages werden soll.
Uns treibt im Moment die Sorge um, Herr Außenminister, ob wir mit dem, was jetzt als Ergebnis von Nizza
vorliegt, eine einigermaßen sichere Grundlage für den Erweiterungsprozess schaffen können. Dass es in einigen
Punkten Ergebnisse gegeben hat, ist klar; sonst hätte man
sich nicht so lange auf diesen Prozess vorbereitet und
auch nicht mehrere Tage lang nach einer Lösung suchen
müssen.
Es ist wohl auch unstreitig, dass es nach wie vor erhebliche Defizite gibt. Wir als Parlament, auch als F.D.P.Fraktion, müssen uns fragen, was wir in der Phase nach
Nizza tun können, um nachzubessern und die Risiken eines möglichen Rückschlages gering zu halten bzw. auszuschließen. Das ist unser Anliegen. Das ist unsere Position.
Ich wollte das noch einmal deutlich machen, weil wir
nicht in die Ecke derjenigen gehören, die sagen: Gott sei
Dank haben wir jetzt einen Vorwand dafür, uns aus dem
europäischen Integrationsprozess auszuklinken.
({0})
Herr Minister, Sie haben die Gelegenheit zur Reaktion.
Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, ich möchte
mich für Ihre Erläuterung, was die Haltung der F.D.P.Fraktion betrifft, ausdrücklich bedanken.
Was die Sache, das Ziel, das Sie erläutert haben, angeht, so sehe ich null Unterschied zu dem, was die Bundesregierung und - so nehme ich an - große Teile aller
Fraktionen hier vertreten, nämlich dass der Erweiterungsprozess nicht zu einem Rückschritt bei der Integration führen darf. Da stimme ich Ihnen ohne jede Einschränkung zu. Dies wäre eine fatale, rückwärts laufende
und meines Erachtens den Erweiterungsprozess beschädigende Konsequenz.
Insofern war die Herstellung des Zusammenhangs von
Vertiefung und Erweiterung, wie ihn auch Mitglieder der
früheren Bundesregierungen immer wieder formuliert haben, kein rhetorischer Trick, um sich scheinbar ausschließende Ziele unter einen Hut zu bringen, sondern in
der Sache gerechtfertigt. Davon bin ich überzeugt.
Es gibt in der Europäischen Union der 15 unterschiedliche Sichtweisen zu den Ergebnissen von Nizza. Ich habe
neulich mit einem französischen Kollegen in Paris eine
sehr vertiefende und sehr gute Diskussion geführt. Und
ich sage Ihnen - die Bundesregierung sieht es als ihre ihre
Aufgabe an, dem Parlament diese Botschaft zu vermitteln -: Wir müssen Acht geben, nicht nur unsere Sicht zu
sehen. Die französische Regierung, aber auch die französische Öffentlichkeit nehmen teilweise eine unterschiedliche Bewertung vor. Wir dürfen jetzt durch die Bewertung von Nizza nicht ein zusätzliches deutsch-französisches Problem heraufbeschwören, denn sonst erhalten wir mit Sicherheit das negative Ergebnis, vor dem wir
uns gemeinsam fürchten. Das ist es, worum es mir geht.
Wenn ich hier als Abgeordneter säße - Kollege
Haussmann hat es ja gesagt -, würde ich doch nicht erwarten, dass die Ergebnisse nicht kritisiert werden. Im
Gegenteil: Es ist die Pflicht der Abgeordneten zu kritisieren; das hilft uns auch. Aber unsere gemeinsame Perspektive muss die Ratifikation sein. Wenn wir jetzt in Paris sagen müssten: „Unser Parlament hat gesagt, es ist mit den
Ergebnissen unzufrieden“, würde das zu einem schweren
Konflikt mit Frankreich führen. Wir können 2002 nicht
sagen: Wir wollen eine neue Regierungskonferenz. Ich
hielte das auch in der Sache nicht für richtig.
Allein dieses Argument müsste Sie doch sehr nachdenklich machen, gerade auch vor dem Hintergrund der
großartigen europapolitischen Tradition Ihrer Partei und
der Außenminister, die Sie gestellt haben, und die Sie zu
Recht unterstreichen. Insofern appeliere ich nochmals an
die Freien Demokraten zuzustimmen.
Ich weiß, bei Amsterdam hatten wir die gleiche Situation.
Hätte das Ergebnis von unserer Stimme abgehangen, hätte
ich selbstverständlich trotz meiner Bedenken zugestimmt,
weil ich ein Scheitern eines Europavertrages im Deutschen Bundestag mit meiner Stimme niemals zugelassen
hätte, auch nicht in der Opposition. Ich weiß also um die
Verführung, abzulehnen. Aber Sie sollten gerade aufgrund der ganz anderen, längeren Tradition Ihrer Partei
und Fraktion, aufgrund der großartigen europapolitischen
Tradition der Außenminister, die Sie, angefangen von
Walter Scheel, gestellt haben, ernsthaft darüber nachdenken, ob Sie nicht gerade aus diesem Grund besondere Verpflichtung haben. Deswegen werbe ich für die Zustimmung zur Ratifizierung auch und gerade der liberalen
Partei.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben eben alle
mitverfolgt, wie positiv der Herr Bundesaußenminister
die Ergebnisse des Gipfels von Nizza bewertet hat. Jeder
im Saal kann sich bestimmt ganz gut ausmalen, wie ein
Oppositionsredner Joseph Fischer an diesem Tag und an
dieser Stelle über die Ergebnisse von Nizza gesprochen
hätte, wenn eine CDU/CSU-geführte Regierung mit einem derart dürftigen Ergebnis vor das Plenum dieses Hauses getreten wäre, liebe Freunde.
({0})
Die Frage ist: Hat unsere Regierung bei dieser Regierungskonferenz versagt?
({1})
- Kollege Erler ruft markig in den Raum: Nein!
({2})
Das historische Versäumnis von Nizza ist, dass hinter den Beschlüssen keine Vision erkennbar ist. Wenn
Monnet, Schuman, Adenauer, de Gasperi und andere
so gehandelt hätten, dann hätte es nie europäische Gemeinschaften gegeben und dann hätten wir immer
noch keine Europäische Union. - Dieses vernichtende
Urteil über die handelnden sozialdemokratischen Regierungschefs in Europa hat Ihnen Ihr Parteifreund und
Abgeordneter, der frühere Präsident des Europäischen
Parlaments, Hänsch, bei seiner Rede im Europäischen
Parlament ins Stammbuch geschrieben. Die Aussage lautet: Die Regierungschefs heute haben vor der historischen
Aufgabe versagt.
({3})
- Das will ich gerne tun.
Nizza hatte vier kardinale Konstruktionsfehler, die
rasch überwunden werden müssen, damit die Osterweiterung gelingt.
Erster Konstruktionsfehler: Die Unübersichtlichkeit
der Verträge nimmt zu. Um einen wichtigen Beitrag zur
Handlungsfähigkeit leisten zu können, sollten die Verträge einfacher und transparenter werden. Herausgekommen ist aber wachsende Undurchsichtigkeit. Man schaue
sich nur die Vorschriften über die verstärkte Zusammenarbeit oder den Außenhandel an. Wo Vereinfachung Not
getan hätte, ist es komplizierter geworden. Das ist so, als
wollten die europäischen Rechtsetzer die hawkingsche
Theorie von der fortschreitenden Unordnung durch ihre
Texte belegen.
({4})
Europa wird erst dann wieder Zustimmung finden, wenn
das politische Geschehen in Brüssel und Straßburg transparenter wird. Um dieses zu erreichen, fehlte in Nizza die
Kraft.
Ich möchte noch einen anderen Gedanken anführen: Es
haben nicht nur die Regierungschefs in Nizza versagt,
sondern schon im Vorfeld hat man versagt. Diese Regierungskonferenz wurde miserabel vorbereitet und konnte
in der Tat in Nizza selbst nicht mehr repariert werden.
Wenn man dieses erreicht hätte, wäre das Wunder eingetreten, das der Bundesaußenminister erwähnt hat. Das war
nicht zu erwarten. Die Methode der Regierungskonferenz hat sich erschöpft. Wir müssen sie durch eine kreativere Methode ersetzen. Die nationalen Regierungschefs
- heute hier Bundeskanzler Schröder - feiern ihre kleinen
Pyrrhussiege, während Europa durch das geschwächt
wird, was sie meinen erstritten zu haben.
({5})
Diesen Zusammenhang haben auch die Kollegen von der
F.D.P. angesprochen. Die Osterweiterung ist eine große
historische und moralische Aufgabe. Sie muss aber auch
praktisch geschultert und mit kreativem Geist gefüllt werden. Diese Aufgabe müssen wir jetzt dringend, und zwar
schneller als geplant, angehen. Wir brauchen den Verfassungsvertrag, wir brauchen eine Erarbeitungsform wie bei
der Grundrechte-Charta und wir brauchen klare, visionäre
und kräftige Entscheidungen.
({6})
Ein zweiter Konstruktionsfehler von Nizza ist: Die parlamentarische Demokratie und die Gewaltenteilung sind
nur auf niedrigem Niveau verwirklicht. Warum sind denn
die Bürger über das frustriert, was in Europa passiert? Sie
sind frustriert, weil sie keine Einflussmöglichkeiten sehen. Wenn ihnen die Regierung in einem Land nicht passt,
können sie sie abwählen. Wir haben das schmerzlich erlebt. Auch Sie werden es vielleicht schmerzlich erleben.
Das finden die Bürger aber gut.
In Europa können sie wählen, was sie wollen, es
scheint nichts zu passieren. Das müssen wir ändern. Wir
müssen dem Europäischen Parlament das Recht geben,
den Präsidenten der Kommission zu wählen, und die Bürger müssen das Recht haben, die Kommission auf diesem
Wege wieder abzuwählen, wenn ihnen das Geschehen in
Brüssel nicht passt. Deswegen muss die Konstruktion verändert werden. Zu Zeiten der 68er hieß es: „Alle Macht
den Räten!“, heute heißt es: „Alle Macht dem Rat!“ Der
Rat ist ein Geheimparlament, das hinter verschlossenen
Türen tagt. Das muss geändert werden. Er muss zu einer
zweiten Kammer werden und öffentlich tagen. Die Leute
müssen verfolgen können, was geschieht. Seit dem Orakel von Delphi gab es in Europa keine so undurchsichtige
Entscheidungsinstanz wie den Ministerrat der Europäischen Union. Das wollen wir ändern.
({7})
Dritter Konstruktionsfehler: Die Entscheidungsverfahren werden immer komplizierter. Die Staats- und Regierungschefs haben etwas Tolles geschafft. Sie haben gesagt: Wenn mehr dazukommen, müssen wir es noch
komplizierter machen. Das Quorum für Mehrheitsentscheidungen steigt von 71 auf über 74 Prozent. Damit
werden im Grunde die minimalen Fortschritte, die man
bei dem Übergang von dem Prinzip der Einstimmigkeit
zum Prinzip der qualifizierten Mehrheit erreicht hat, ad
absurdum geführt. Die Echternacher Springprozession ist
gegenüber Europa eine fortschrittliche Veranstaltung. Da
hieß es: zwei Schritte vor, ein Schritt zurück. In Nizza lautete
das Motto: ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. - Das ist der
Grund, warum wir das Ergebnis von Nizza kritisieren.
({8})
Es gehört übrigens zu den Rätseln der schröderschen
Regierungskunst, warum der Kanzler die Frage der
Stimmgewichtung Deutschlands vor der Konferenz in
Nizza im Deutschen Bundestag zu der entscheidenden
Frage erklärt hat, um dann am Ende in Nizza kläglich einzuknicken. Jetzt muss er den Bürgern erklären, wieso die
Stimmgewichtung zwischen anderen Ländern fein austariert wird, während die Größe Deutschlands gegenüber
kleineren aber keine Rolle spielt, und wie der Sand aus
dem deutsch-französischen Getriebe wieder herauszubekommen ist.
Es ist schon interessant, dass um die Stimmgewichtung
im Ministerrat mit Zähnen und Klauen gekämpft wurde,
während die Sitze im Europäischen Parlament mit leichter Hand verteilt wurden, mit so leichter Hand übrigens,
dass Belgien und Portugal im Europäischen Parlament
mehr Sitze als Tschechien und Ungarn bekommen, obwohl beide größer sind als Belgien und Portugal. Das ist
kein fairer Umgang mit Kandidatenstaaten aus Mittelund Osteuropa. Diese haben sich nicht für die Demokratie entschieden, um von Westeuropa dann schlecht behandelt zu werden, liebe Freunde. Das ist Politik nach Gutsherrenart!
({9})
Der vierte Konstruktionsfehler: Es fehlt die große Linie. Es ist vieles im Einzelnen vereinbart worden, es ist
auch manches Ordentliche vereinbart worden. Ich nenne
den Post-Nizza-Prozess und die verstärkte Zusammenarbeit. Leider bleibt das alles Stückwerk, weil ein leitendes Prinzip, eine leitende Idee oder eine leitende Vision
fehlt.
Was kann der Deutsche Bundestag tun? Was kann die
deutsche Regierung tun? Wir können darauf drängen, dass
die schlechten Entscheidungen von Nizza schnell nachgebessert werden. Die Ungerechtigkeit gegenüber Ungarn und Tschechien muss noch vor der Unterschrift korrigiert werden. Ich führe sie darauf zurück, dass dies zu
später Stunde, mitten in der Nacht, festgelegt worden ist.
Herr Bundeskanzler, ich möchte Sie dennoch fragen, wie
es dazu kommen konnte. Der Bundesaußenminister zeigte
sich im Ausschuss überrascht, so, als habe er noch gar
nicht gesehen, dass Belgien und Portugal Tschechien und
Ungarn vorgezogen werden, dass sie mehr Sitze im Europäischen Parlament bekommen, obwohl sie weniger Einwohner haben.
Wir sollten als Deutscher Bundestag mit der Ratifizierung warten, bis im Europäische Parlament abschließend
darüber gesprochen worden ist. Wir sind es den Parlamentskollegen in Europa schuldig, dass wir auch auf ihr
Votum hören. Die Staats- und Regierungschefs haben sie
schlecht genug behandelt. Wir sollten unsere Kollegen
besser behandeln.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Günter Gloser, SPD-Fraktion
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion ist
für die Erweiterung der Europäischen Union. Sie ist
für die endgültige Überwindung der Spaltung Europas.
Deshalb wird sie dem Vertrag von Nizza zustimmen.
({0})
Herr Kollege Hintze, natürlich sind auch wir für vereinfachte Verträge. Aber wir sind gegen Vereinfachungen
in der Politik, so wie sie Ihr Fraktionsvorsitzender in seinen heutigen Ausführungen vorgetragen hat und so wie
Sie und der Kollege Haussmann sie heute ebenfalls vorgetragen haben. Man sollte dies vermeiden, vor allem,
wenn man diesen Prozess über Monate hinweg in dem
entsprechenden Fachausschuss begleitet hat. Deshalb
möchte ich noch auf ein paar Punkte eingehen.
Der Bundeskanzler hat zu Recht gesagt, diese Bundesregierung sei mit einem sehr ehrgeizigen Programm in die
Verhandlungen gegangen. Damit es - auch für die Öffentlichkeit - deutlich wird: Wir in diesem Parlament haben bis auf wenige Ausnahmen diesem ambitionierten
Programm zugestimmt. Eine gemeinsame Initiative dieses Parlamentes hat es nicht gegeben, aber in den entsprechenden Debatten im Deutschen Bundestag und in
den Ausschüssen gab es große Übereinstimmung. Das,
was jetzt - auch in der heutigen Debatte - gesagt wird,
spiegelt den Prozess nicht wider. Genau so, wie heute der
Bundeskanzler und der Bundesaußenminister den NizzaGipfel bewertet haben, nämlich ehrlich und kritisch, ist
auch die Diskussion abgelaufen. Wir haben - das muss
man einmal festhalten - die Signale, die von Nizza gerade
im Hinblick auf die osteuropäischen Länder ausgegangen
sind, erkannt.
Ich war zum Zeitpunkt dieses Gipfels in Warschau. Mir
ist dort noch einmal ganz deutlich geworden, welchen
Stellenwert die Bundesregierung in den Verhandlungen
gehabt hat und dass sich die Bundesregierung für die
Interessen aller Beitrittskandidaten eingesetzt und sich
nicht - wie kürzlich die CSU auf ihrer Tagung - zu bestimmten Äußerungen verstiegen hat. Sie hat beispielsweise nicht über einen isolierten Beitritt Ungarns spekuliert. Nein, die Bundesregierung war Fürsprecher aller
osteuropäischen Beitrittskandidaten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich
müssen wir auch über bestimmte Defizite diskutieren, die
aus der Regierungskonferenz von Nizza resultieren. Dies
ist ebenfalls ein wichtiger Punkt, der eine breitere Öffentlichkeit finden müsste. Ich glaube allerdings, dass wir alle
in diesem Parlament in den nächsten Wochen und Monaten auch die Möglichkeit haben werden, im Hinblick auf
die Regierungskonferenz 2004 über diese Bereiche zu debattieren.
In diesem Zusammenhang möchte ich nur zwei Punkte
deutlich herausstellen und ich freue mich, dass der Bundeskanzler diese in seiner heutigen Regierungserklärung
ebenfalls deutlich gemacht hat. So hat er gesagt, dass er
die Kandidatenländer an der Diskussion über die Zukunftsfähigkeit der Europäischen Union beteiligen
will, obwohl noch kein Beitritt stattgefunden hat. Ich
finde, dies ist ein gutes, dies ist ein deutliches Zeichen an
die Beitrittsländer.
({1})
Ich nenne einen weiteren Punkt, der in allen Fraktionen
diskutiert worden ist, und schließe mich denjenigen an,
die den Ablauf solcher Regierungskonferenzen kritisieren. Ich mache es mir aber nicht so einfach, wie Sie, Herr
Haussmann, es sich teilweise gemacht haben, nach dem
Motto: Die Konferenz war nicht gut vorbereitet; da ist
nicht richtig verhandelt worden.
({2})
Was Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger vorhin in
Bezug auf die Grundrechte-Charta gesagt hat, sollte uns
veranlassen, ernsthaft darüber nachzudenken, wie der
Konvent ein Modell sein könnte, eine größere Beteiligung
der Parlamente an einem solchen Prozess sicherzustellen.
Ich sage aber auch ganz bewusst: Man sollte sich nicht der
Illusion hingeben, zu glauben, die Möglichkeiten, die dieser Konvent bei der Erarbeitung der GrundrechteCharta gut genutzt hat, seien eins zu eins auf die Erarbeitung eines Verfassungsvertrages zu übertragen. In
diesem Bereich wird es ganz bewusst verengte Diskussionen in vielen nationalen Parlamenten geben. Trotzdem
sollten wir Mut zum Risiko haben und versuchen, bei der
Vorbereitung der Regierungskonferenz die Arbeit dieses
Konvents zum Vorbild zu nehmen.
Aufgrund der Diskussionen muss ich noch folgenden
Punkt erwähnen: Es wird immer davon gesprochen, dass
die Bürgerinnen und Bürger wenig Akzeptanz für dieses
Europa und für die Europäische Union zeigen. Wir müssen uns in der Tat überlegen, wer in dieser Europäischen
Union was machen soll. Wir müssen die Frage beantworten: Welche Aufgaben sind auf der nationalen Ebene und
welche Aufgaben sind von den Ländern, von den Regionen und den Kommunen zu leisten?
Andererseits ist es sicherlich wichtig, auch zu klären,
welche Aufgaben die Institutionen untereinander haben.
Wir sollten nicht immer wieder davon sprechen, dass wir
die Bürgerinnen und Bürger bei diesem Prozess mitnehmen müssen. Wir sollten einfach einmal organisieren,
dass sie an diesem Prozess beteiligt werden können. Dazu
gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Lassen Sie mich noch folgenden sehr wichtigen Punkt
anführen - der Bundeskanzler hat ihn schon ausgeführt die EU-Erweiterung. Ich möchte diesen Punkt aber mehr
unter dem Aspekt der Innenpolitik behandeln. Es war ein
deutliches Signal, das auf der Konferenz in Brighton gegeben wurde, was die Freizügigkeit für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betrifft. Aber es gibt noch viele
andere Bereiche. Wir müssen den Erweiterungsprozess
auch innenpolitisch flankieren. Wir wissen um die Chancen und wir wissen bereits heute um die Erfolge dieses
Prozesses. Wir wissen auch, inwieweit Deutschland Vorteile aus diesem Prozess ziehen kann. Wir wissen allerdings auch um die Risiken. Ich appelliere hier insbesondere an einen Teil der Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU-Fraktion: Nutzen Sie die Risiken und die
Ängste, die mit bestimmten Prozessen verbunden sind,
nicht für Wahlkampfzwecke aus! Ergreifen Sie vielmehr
gemeinsam mit uns Initiativen, um diese Risiken politisch
beherrschbar sind zu machen!
({3})
Wenn wir diesen Prozess gestalten und eine Öffentlichkeit herstellen wollen, dann genügt es nicht, wenn wir
im Deutschen Bundestag oder in den entsprechenden
Länderparlamenten diskutieren und Hearings durchführen. Gerade Nizza hat gezeigt, dass wir manchmal
nicht genau Bescheid darüber wissen, welche Prozesse in
den anderen Ländern stattfinden. Es gibt beispielsweise in
Großbritannien und in den skandinavischen Ländern andere Vorstellungen über eine europäische Verfassung.
({4})
Es gibt in einzelnen Ländern andere Vorstellungen darüber, wie zum Beispiel die Sozialsysteme finanziert werden sollen und wie die Ausländerpolitik formuliert werden
soll. Es ist wichtig, einen über die Grenzen hinausgehenden Diskurs zu organisieren, um einander besser zu verstehen. Ich glaube, hier besteht noch ein größerer Nachholbedarf.
Herr Haussmann, Sie haben vorgetragen, warum die
Freien Demokraten
({5})
diesem Vertrag nicht zustimmen werden. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang an eine Diskussion, die wir vor
einigen Jahren in diesem Parlament zum Amsterdamer
Vertrag geführt haben.
({6})
Eine Kollegin aus Ihrer Fraktion hat in dieser Debatte ausgeführt:
Ich kann für die F.D.P.-Bundestagsfraktion nur erklären: Wir werden nach sorgfältiger Analyse und
Prüfung dem Vertrag von Amsterdam zustimmen,
({7})
auch wenn wir nicht verkennen, dass es wünschenswert gewesen wäre, ein Mehr an institutionellen
Reformen schon in diesem Vertragswerk zu vereinbaren.
Die Rednerin fährt an anderer Stelle fort:
Eine Ablehnung des Vertrages von Amsterdam
würde wirklich einen Stillstand bedeuten, würde ein
Zurückschreiten bedeuten, würde bedeuten, dass die
Verbesserungen, die im Vertrag vereinbart worden
sind ... nicht kommen werden. Das wäre nicht nur ein
Rückschritt für den Integrationsprozess Europas.
Vielmehr würde das ja erst recht die Erweiterungsprozesse behindern.
Es war Frau Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die das
in einer Debatte des Deutschen Bundestages 1997 gesagt
hat. Was damals gegolten hat, gilt auch heute.
Vor dem Hintergrund dieser Beitrittsperspektive empfehle ich Ihnen, Herr Kollege Haussmann, aber auch Ihrer Fraktion, diesen Antrag zurückzuziehen und die Beitrittsperspektive im Bundestag in großem Konsens zu
eröffnen.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gerd Müller, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Diese Woche hat gezeigt: Die Bundesregierung ist angeschlagen,
({0})
nicht nur innen-, sondern auch europa- und außenpolitisch.
({1})
Es stellt sich die Frage: Können wir uns in dieser für Europa entscheidenden Phase einen angeschlagenen Außenminister leisten?
({2})
Wird Joseph Fischer vor dem Hintergrund der Ereignisse
dieser Woche im Ausland noch als deutscher Verhandlungspartner akzeptiert?
({3})
Ich meine: nein. Er kann die deutsche Führungsrolle
nicht mehr wahrnehmen. Außerdem ist er im vergangenen
Jahr - es ist traurig, aber wahr - auf der europäischen
Ebene im Ministerrat abgetaucht.
({4})
Das kann sich Deutschland nicht leisten.
({5})
Herr Gloser, ich stimme Ihnen zu: Wir müssen einen
neuen Ansatz finden, auch die Bürger und Bürgerinnen an
der europäischen Diskussion teilhaben zu lassen. Leider
hat Nizza die Dinge weiter verkompliziert. Die Bürger
blicken nicht mehr durch: Wer entscheidet wann, wo,
was? Stichwort BSE: Sind die Schuldigen in der Europäischen Kommission, im Ministerrat oder in der Bundesregierung?
({6})
Wir brauchen einen anderen Ansatz. Die Themen müssen
wieder in den Deutschen Bundestag. Wir müssen in der
Europäischen Union mehr Demokratie wagen. Dazu muss
das nationale Parlament einen wesentlichen Beitrag leisten.
Die CSU wird in den nächsten Wochen ein Gutachten
zur Frage der zukünftigen Mitwirkung des Deutschen
Bundestages bei der europäischen Rechtsetzung vorlegen. Wir brauchen ein maßgebliches Mitwirkungsrecht
bei der europäischen Rechtsetzung.
Herr Gloser, ich nehme das Stichwort COSAC auf.
Natürlich brauchen wir auch eine andere Form der Zusammenarbeit der nationalen Parlamente in Europa. Die
COSAC muss weiterentwickelt werden. Dieses Thema
kann man allerdings in vier oder fünf Minuten inhaltlich
nicht ausreichend diskutieren.
Zu Nizza. Das Ergebnis von Nizza ist nicht befriedigend. Die Frage der Kompetenzabgrenzung - was
macht Brüssel, was verantwortet Deutschland, was wird
von den Ländern und was von den Kommunen verantwortet? - soll jetzt angegangen werden, nicht 2004. Dies
ist ein Kernpunkt des Ergebnisses von Nizza. Wir stellen
mit Freude fest: Diese Forderung der CSU, über Jahre
hinweg erhoben, soll nun endlich umgesetzt werden.
Wenn ich die heutige Debatte und den Vertrag - natürlich im Lichte der Auseinandersetzung in der Entstehungsphase - abwäge, denke ich, dass wir am Ende zu einer Ratifizierung kommen müssen. Wir werden zu einer
Ratifizierung kommen, denn wir können uns nicht weitere
zwei Jahre Ratifizierungsdebatten leisten. Wir müssen
nach vorne gehen und offensiv die Voraussetzungen für
die Erweiterung schaffen. Auf die entscheidenden Fragen
in diesem Zusammenhang hat die Bundesregierung noch
keine Antworten. Es gibt neue „leftovers“; sie hat neue
„leftovers“ geschaffen.
Die Bürgerinnen und Bürger - nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Beitrittsstaaten - wollen wissen, wie das neue Finanzsystem in der Europäischen
Union ausschaut. Wie wird die Osterweiterung finanziert?
Im Augenblick ist der Finanzansatz vollkommen unzureichend. Die Osterweiterung ist bisher nicht finanziert. Es
gibt kein Konzept der Bundesregierung, welchen Weg sie
beschreiten will.
Zur Agenda 2000. Wir brauchen eine grundlegende
Reform der Agrar- und Strukturpolitik in der Europäischen Union. Die CDU/CSU hat bereits vor zwei Jahren
Vorschläge für die Agenda-2000-Verhandlungen vorgelegt.
Ich nehme als Stichworte die nationale Kofinanzierung
und die Deckelung der Finanzförderung der Großbetriebe. Sie sind bei der Agenda 2000 in die Richtung marschiert, die Großbetriebe in Europa zu präferieren. Heute,
im Angesicht der nationalen BSE-Debatte rudern Sie
zurück und nehmen unseren Begriff der flächendeckenden, der bäuerlichen Landwirtschaft auf, die Sie in
den letzten zwei Jahren mit aller Massivität getroffen und
zu zerstören versucht haben.
({7})
Wo ist Ihr Konzept einer zukunftsweisenden Agenda für
die Agrar- und Strukturpolitik?
Die Bürgerinnen und Bürger wollen ein gerechtes
System der Verteilung der Asyl- und Flüchtlingsströme
in der Europäischen Union. Hier handelt es sich um ein
„leftover“ der Schröder-Regierung.
Die entscheidende Frage ist: Ist die Europäische Union
nach Nizza erweiterungsfähig? Ich meine: unter bestimmten Voraussetzungen - ja. Wir müssen - ich kann
das nur noch kurz ansprechen - aber zu einer Differenzierung bei den Beitrittsstaaten kommen. Die Kriterien sind die
Grundlage. Der Erweiterungsprozess darf nicht überdehnt
werden. Der Beschluss, die EU um zwölf Staaten auszuweiten, war ein grundlegender Fehler, auch, dass sogar der
Türkei ein Angebot unterbreitet wurde.
({8})
Hier brauchen wir einen neuen Denkansatz. Nicht jedes
Land, das eine europäische Perspektive sucht, kann Vollmitglied der Europäischen Union werden. Diesen Ländern müssen Möglichkeiten einer abgestuften Integration
geboten werden.
({9})
Ich denke dabei zum Beispiel an die Ukraine und an den
Balkan. Wir können Europa nicht bis zum Ural ausdehnen, ohne zu sagen, wie das funktionieren soll.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Problem
der Bundesregierung ist: Die Lösung dieser zentralen Probleme wird nicht angegangen. Der Kanzler hat kein europäisches Gewicht. Der Außenminister ist angeschlagen.
Deutschland fehlt eine handlungsfähige, erfolgreiche Regierung zur Durchsetzung deutscher Interessen in Europa.
Danke schön.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Markus Meckel, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Müller, mein Eindruck ist,
dass Sie unter einem großen Wirklichkeitsverlust leiden.
({0})
Wenn Sie berücksichtigen, bei welchen wichtigen Punkten, von denen wir alle gesagt haben, dass sie für uns zentral sind, wir vorangekommen sind, können Sie Ihr Urteil
in keiner Weise belegen.
Obwohl wir gemeinsam gern mehr durchbekommen
hätten - das ist gar keine Frage, das ist auch deutlich dargestellt worden -, müssen wir eindeutig feststellen: Dies
war ein historischer und entscheidender Schritt, weil von
nun an das Tor für die Erweiterung offen ist. Das ist die
Perspektive, aus der dies betrachtet werden muss. Dies ist
zehn Jahre nach den Umbrüchen in Europa wahrhaftig
eine historische Perspektive.
Sie haben eben davon gesprochen, dass Joschka Fischer
die deutsche Führungsrolle nicht mehr wahrnehmen
könne. Ich kann Ihnen nur sagen: Er will sie auch gar nicht
wahrnehmen. Wir wollen keine deutsche Führungsrolle,
sondern unseren Platz in diesem integrierten Europa.
({1}).
Mit Führungsrolle hat das aber nichts zu tun. Wir haben
uns schon einmal die Hörner daran gestoßen und ganz Europa ins Verderben geführt.
Ein anderer Begriff, der in diesem Zusammenhang immer wieder falsch benutzt wird , ist der Begriff der europäischen Wiedervereinigung. Wir alle wollen eine europäische Vereinigung, aber ein „Wieder“ gibt es in dieser
Frage nicht. Es gibt keinen historischen Zustand, zu dem
wir in irgendeiner Weise zurückkönnten oder -wollten.
Wir wollen etwas Neues schaffen: ein Europa der Integration, der Freiheit und der Demokratie. Leider haben
wir dies in der Vergangenheit so nicht gehabt.
({2})
Was jetzt getan werden muss - ich denke, das ist ein
wesentlicher Erfolg -, ist, die Zeit bis zur Erweiterung,
das heißt bis zur Teilnahme der ersten Staaten an der Europawahl im Jahr 2004, zu nutzen. Das ist ein ungeheuer
ehrgeiziger und wichtiger Schritt, der gemeinsam von den
Mitgliedstaaten als Zielvorstellung geäußert worden ist.
Dies macht zugleich deutlich: In den Köpfen der Menschen in den Beitrittsstaaten wird die Identifikation mit
Europa in dem halben Jahr zuvor verstärkt, weil es in
diesen Ländern einen Europawahlkampf geben wird. Dies
ist für das gemeinsame Bewusstsein in Europa ungeheuer
wichtig.
({3})
Natürlich ist dies ehrgeizig in Bezug auf die Verhandlungen. Es bewirkt einen ungeheuren Druck bei den
Beitrittsstaaten. Dieser Druck darf nicht nachlassen. Die
Aufgaben sind nach wie vor groß. Wir alle kennen die
schwierigen Bereiche. Aber ich sage gleichzeitig: Auch
uns selbst trifft dieser Druck; denn bei jedem einzelnen
Kapitel und Punkt, über die verhandelt wird, müssen wir
uns als Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Position
einigen. Wir wissen alle, dass dies vor den Wahlen in der
Europäischen Union nicht einfach wird. Aber dies ist
ein zentrales Anliegen. Wir werden uns bemühen müssen, möglichst schnell eigene klare Positionen herauszuarbeiten.
({4})
Ein anderer Punkt ist mir ebenfalls wichtig, den wir
gegenüber den Kandidatenstaaten zur Sprache bringen
wollen. In den letzten Jahren haben immer wieder die
Frage des Beitritts, der Zeitpunkt des Beitritts eine zentrale Rolle gespielt. Ich hoffe, dass wir jetzt nicht mehr
immer nur über die Einzelheiten des Beitritts reden, sondern auch über die Perspektive Europas und über die
Gestaltung des künftigen Europas verhandeln. Das ist ein
Perspektivenwechsel, der durch Nizza ermöglicht worden
ist und den wir wahrnehmen müssen.
Auch ist es gut, wenn wir in bilateralen Gesprächen
versuchen, ein solches Ziel zu erreichen. Wir haben zum
Beispiel im Rahmen der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe geplant, im ersten Halbjahr dieses Jahres ein
gemeinsames Europapapier zu verfassen, das zwar kein
von den Parlamenten verabschiedetes Papier ist, aber den
Versuch darstellt, Positionen abzustimmen und gemeinsam Fragen zu formulieren. Dabei wird man erkennen
können, wie unsere gemeinsame Vorstellung von Europa
aussieht.
Ich möchte noch einmal auf die innenpolitische Perspektive zurückkommen, die Herr Gloser schon angesprochen hat. Es ist wichtig, die Ängste und Befürchtungen, die es in unserer Bevölkerung gibt, ernst zu nehmen.
Dies müssen wir auf zweierlei Weise tun, wobei wir deutlich zwischen irrationalen Ängsten, die auf Unkenntnis
beruhen und durch übertriebene Thesen hervorgerufen
sind, und realen Ängsten differenzieren sollten. Wir brauchen Informationen. Ich danke der Bundesregierung
({5})
und den vielen Initiativen, die durch Informationen deutlich machen, dass viele dieser Befürchtungen irreal sind
und dass die Gefahren nicht so sind, wie sie oft dargestellt
werden.
({6})
Es lässt sich natürlich nicht leugnen, dass es insbesondere in den Grenzregionen zu Belastungen kommt.
Hier ist es zu begrüßen, dass es - dieser Punkt ist schon
angesprochen worden - durch eine gemeinsame Initiative
mit Österreich gelungen ist, deutlich zu machen - das hat
Herr Verheugen als zuständiger Kommissar schon
angekündigt -, dass diese Grenzregionen eine besondere
Unterstützung brauchen. Dazu gehört natürlich zum einen
Geld. Dies darf den Rahmen der Agenda 2000 nicht sprengen, aber es gibt noch Mittel, auf die man zurückgreifen
kann. Zum anderen ist es wichtig, dass es durch eine Flexibilisierung des Beihilferechtes ermöglicht wird, dass Nationalstaaten - bei uns sind auch die Länder angesprochen - in diesen Regionen tätig werden.
({7})
Die Bundesregierung plant entsprechende Schritte. Sie
werden am 6. Februar dieses Jahres die Gelegenheit
haben, eine Rede des Bundeskanzlers zu hören, in der er
erste Überlegungen der Bundesregierung zur Förderung
der Grenzregionen vorgetragen wird. Wir brauchen gerade in diesem Bereich eine regionale Wirtschaftspolitik.
Dazu laufen die Vorbereitungen.
Ich möchte nun einen Punkt ansprechen, der im Rahmen der Integration noch nicht erwähnt wurde, und zwar
die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und
insbesondere die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dabei geht es nicht, wie manche in Zeitungen immer wieder schreiben, um eine europäische
Armee - darauf möchte ich noch einmal deutlich hinweisen -, also nicht darum, dass Europa jetzt aufrüsten
will. Es geht vielmehr um ein gemeinsames europäisches
Handeln in den Fragen der Krisenprävention und des
Krisenmanagements.
Wir sollten ernst nehmen, dass auch der UN-Generalsekretär die Bedeutung der Europäischen Union in diesen
Fragen anerkannt hat und ständige und engere Kooperationen zwischen den UN und der Europäischen Union anstrebt. Bis Ende dieses Jahres sollen sowohl im zivilen als
auch im militärischen Bereich erste operative Einsatzfähigkeiten in Bezug auf das EU-Krisenmanagement
geschaffen werden. Da ist wahrhaftig eine ganze Menge
zu tun.
Der Vorteil der Europäischen Union in diesen Fragen
ist, dass wir anders als bei der NATO, der OSZE oder den
UN verschiedene Kapazitäten zusammenführen können,
und zwar politische, wirtschaftliche und die in Zukunft
aufgebauten militärischen Kapazitäten, um die Krisenprävention bzw. - wenn nicht anders möglich - das Management der Bewältigung von Krisen möglichst konzeptionell und im abgestimmten Handeln umzusetzen.
Dies ist eine ganz zentrale europäische Aufgabe. Hier sind
wir wesentliche Schritte vorangekommen.
Neben dem Aufbau der dafür nötigen Institutionen ist
das Wichtigste der politische Wille. Hier sind alle Beteiligten gefordert. Hier kann man gerade angesichts des
Gipfels in Nizza und angesichts der Vergangenheit die Befürchtungen haben, ob es uns Europäern gelingt, gemeinsam handlungsfähig zu werden.
Es gibt in Europa, in Deutschland und auch unter uns
einige, die dem amerikanischen Handeln gegenüber, das
manchmal durchaus unilateral ist, skeptisch eingestellt
sind und sagen: Dies sollte nicht sein. - Gleichzeitig müssen wir uns aber fragen, ob wir als Europäer in diesen Fragen zu gemeinsamem Handeln fähig sind. Denn nur dann,
wenn dies der Fall ist, werden wir gegenüber Amerika ein
entsprechendes Gewicht einbringen können. So werden
wir die transatlantische Zusammenarbeit auch in Sicherheitsfragen stärken. Dies ist nicht, wie manche in Amerika
denken, ein Widerspruch. Es ist unsere zentrale Aufgabe,
bei deren Bewältigung wir auch auf dem Gipfel in Nizza
ein Stück weit vorangekommen sind und wofür wir in
Zukunft noch einiges zu tun haben.
Ich danke Ihnen.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Herr Kollege Hirche, Sie fragten vorhin, wo der Bundesaußenminister sei. Der Bundesaußenminister hat sich
beim Bundestagspräsidenten entschuldigt: Er nimmt am
Neujahrsempfang des Diplomatischen Korps beim
Bundespräsidenten teil.
({0})
- Hier wurde nach dem Bundesaußenminister gefragt. Ich
habe Ihnen hiermit erläutert, dass er sich ausdrücklich entschuldigt hat.
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zum
Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/5084. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag der F.D.P.? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Antrag ist abgelehnt.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu der Entschließung
des Europäischen Parlaments mit seinen Vorschlägen für
die Regierungskonferenz, Drucksache 14/4980. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion und Enthaltung der F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch - ({1}) Rehabilitation und
Teilhabe behinderter Menschen
- Drucksache 14/5074 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Ich erlaube mir an die Bundesregierung folgende Anregung: Da wir alle nicht wissen müssen, in welchem
Kapitel des Sozialgesetzbuches was enthalten ist, ist es
schön, dass in Klammern hinzugefügt worden ist, um
welches Thema es sich handelt, nämlich um den Bereich
der Rehabilitation. Es wäre gut, wenn man in Zukunft
ebenso verfahren würde. Ich weiß natürlich, worum es
sich handelt; denn ich bin Sozialpolitikerin. Da uns alle
dies interessiert, wage ich, diese Anregung zu geben.
({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Ich höre keinen
Widerspruch. - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister für Arbeit, Walter Riester, das Wort.
Frau Präsidentin! Zunächst einmal herzlichen Dank für die Anregung, ich werde sie aufgreifen.
Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden
Neunten Buch Sozialgesetzbuch zur Rehabilitation
macht die Bundesregierung in der Politik für behinderte
und mit behinderten Menschen ihren zweiten Schritt. Den
ersten Schritt haben wir im letzten Jahr gemacht, indem
wir das Schwerbehindertengesetz verändert haben, und
zwar zusammen mit den Verbänden der Behinderten, der
Wirtschaft, den Gewerkschaften und behinderten Menschen. Ich darf Ihnen kurz bilanzieren: Unser Ziel war und
ist es, in zwei Jahren 50 000 zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten für behinderte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaffen. Eine erste Zwischenbilanz: Die
Arbeitslosigkeit schwerbehinderter Menschen ist im Vergleich mit dem Dezember des zurückliegenden Jahres um
13 000 zurückgegangen. Was mich fast noch mehr freut:
Die Vermittlungsquote ist um 30 Prozent gestiegen.
({0})
Mit der Vorlage des Neunten Buches Sozialgesetzbuch
gehen wir nun konsequent weiter, indem wir uns dafür
einsetzen, dass zur Fürsorge für behinderte Menschen
überall dort, wo es möglich ist, eine Politik entwickelt
wird, die behinderte Menschen in die Lage versetzt,
selbstverantwortlich ihr Leben zu bewältigen.
({1})
Dabei geht es in einem ersten Schritt darum, die
Vielfalt der Angebote der Leistungsträger zu bündeln und
die zum Teil mühsamen Behördengänge, die gemacht
werden müssen, um Leistungen zu erhalten, zu vereinfachen und so die Dienstleistungen zum Menschen zu
bringen. Dies werden wir dadurch erreichen, dass wir auf
Kreisebene Servicestellen einrichten - die ersten Signale
der Leistungsträger zeigen, dass sie mitmachen -, in denen Leistung koordiniert angeboten wird und in denen behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen Informationen bekommen können. Damit hören die Wege von
Pontius zu Pilatus auf, damit hört auf, dass man sich vor
Gerichten darüber streitet, wie weit Zuständigkeit der
Leistungsträger geht. Wir möchten, dass die Dienstleistung zum Menschen kommt.
({2})
Im Sinne einer eigenverantwortlichen Unterstützung
möchten wir, dass diese Leistungen als Wunsch- und
Wahlrecht ausgestaltet werden und Leistungen dort, wo
es sinnvoll ist, als Geldleistungen gewährt werden können. Wir werden darüber hinaus Modellprojekte entwickeln, mit denen geprüft werden soll, ob diese Leistungen
auch in eigenen Budgets ausgewiesen werden können.
Wir möchten damit den unterschiedlichen Interessen und
den unterschiedlichen Voraussetzungen, die Menschen
mit Behinderungen einbringen, auch bei den Leistungen
Rechnung tragen.
Dies ist ein weiterer wichtiger Schritt, der durch einen
dritten Punkt ergänzt wird: Wir wollen eine die Träger
übergreifende Qualitätssicherung der Leistung herbeiführen. Insgesamt wollen wir: Dienstleistung zum Menschen bringen, ein Wahlrecht der Leistung und eine die
Träger übergreifende Qualitätssicherung.
({3})
Konsequent muss die Leistung der medizinischen Rehabilitation und der Eingliederung in den Arbeitsprozess
durch die Leistungen der Träger der Sozialhilfe und der
öffentlichen Jugendhilfe ergänzt werden. Wir werden sie
einbeziehen, um die Gesamtheit der Rehabilitation im
Neunten Buch Sozialgesetzbuch zusammenzufassen.
Dabei werden wir die Leistungen der Sozialhilfe weiterhin als nachrangige Leistungen vorsehen, wollen sie aber
integrieren, um den Leistungsanspruch in seiner Gesamtheit zu fasssen und Übersichtlichkeit herbeizuführen.
Bei den Leistungen der Sozialhilfe für die medizinische Rehabilitation und die Eingliederung wollen wir auf
die Bedürftigkeitsprüfung verzichten und damit sicherstellen, dass von Geburt an Behinderte nicht anders behandelt werden als Menschen, die nach einem Unfall,
zum Beispiel im Kindergarten, behindert werden. Auch
hier muss für Gleichheit gesorgt werden.
Nächster Punkt. In dem von mir angesprochenen
Schwerbehindertengesetz haben wir erstmals festgelegt,
dass schwerbehinderte Menschen bei der Eingliederung
in den Arbeitsprozess Unterstützung durch eine Arbeitsassistenz bekommen, und zwar dort, wo es dringend
notwendig und erforderlich ist. Diese Regelung wollen
wir im Neunten Buch Sozialgesetzbuch konsequent auch
auf andere Leistungsträger ausdehnen; denn ohne Arbeitsassistenz ist es für viele schwerbehinderte Menschen
nicht möglich, den entsprechenden Weg zu gehen.
({4})
Ein nächster wichtiger Punkt, den wir im Gesetz regeln
wollen, betrifft die Menschen, die gehörlos sind. Gehörlose Menschen werden zukünftig einen Rechtsanspruch
auf Unterstützung haben, damit sie sich auf den Ämtern
und bei Inanspruchnahme von Leistungen in der Lautund Gebärdensprache verständlich machen können; denn
ohne Unterstützung bleibt ein Leistungsangebot für
gehörlose Menschen sinnlos. Sie werden dadurch in der
Lage sein, sich in der Laut- und Gebärdensprache verständlich zu machen.
({5})
Damit gehen wir in der Politik für und - ich betone mit behinderten Menschen einen neuen und entscheidenden Schritt, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch
qualitativ. Mir ist dies sehr wichtig. Wir werden - ich
kündige das schon an - als weiteren Schritt das Gleichstellungsgesetz angehen, indem wir den dritten Teil des
betroffenen Bereichs für und mit behinderten Menschen
regeln. Ich bin mir sehr sicher, dass wir unsere Gesellschaft durch diese rechtlichen Schritte und vor allem
durch eine veränderte Praxis menschlicher gestalten. Eine
Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, wie insgesamt
miteinander umgegangen wird und wie mit Behinderungen und Nichtbehinderungen umgegangen wird.
({6})
Für die CDU/CSUFraktion erteile ich das Wort der Kollegin Claudia Nolte.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute in
der Tat um ein sehr entscheidendes Gesetz in der Behindertenpolitik, ein Gesetz, um das lange gerungen wurde
und das die Chance bietet, dass sich der Paradigmenwechsel, den wir in den letzten Jahren in der Behindertenpolitik verfolgen konnten, in einem Gesetz niederschlägt.
({0})
Das ist ein weiterer Schritt in der Rehabilitation und der
Eingliederung von Menschen mit schweren Behinderungen.
Ich bedaure es sehr, dass es in unserer Regierungszeit
nicht gelungen ist, ein SGB IX auf den Weg zu bringen.
({1})
Liebe Kollegen von der SPD und von den Grünen, bei
näherer Betrachtung des Gesetzgebungsverfahrens und
dessen, was wir jetzt vor uns haben, ahne ich langsam,
warum uns das nicht gelungen ist. Wir hatten einfach zu
hohe Ansprüche.
({2})
Auch die Ansprüche und Erwartungen der Behindertenverbände waren damals deutlich höher als heute.
({3})
Um was geht es uns beim SGB IX? Derzeit gibt es ein
leistungsfähiges Eingliederungs- und Rehabilitationsrecht mit hohen Leistungsansprüchen. Wir haben eingespielte Verfahren der Selbstverwaltung und kompetente
Interessensvertretungen im Bereich der Behindertenorganisationen und -verbände. Eigentlich ist das heutige
System gut. Das vorhandene gegliederte System sichert
Kompetenz, Leistungsfähigkeit und Wettbewerb. Aber
das Problem ist, dass das verzweigte System für den Betroffenen intransparent ist, dass er gar nicht so recht weiß,
welche Leistungsansprüche er hat, dass dieses System
sehr stark vom Fürsorgegedanken und weniger von der
Einsicht geprägt ist, dem Betroffenen vor allem ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
Außerdem gibt es oft ein Nebeneinander und weniger
ein Miteinander der Reha-Träger. Dort, wo die Kompetenzen unklar sind, gibt es sehr lange Verfahrenswege.
Deshalb muss es doch in einer neuen Kodifizierung
des Rehabilitations- und Eingliederungsrechtes darum
gehen, größere Transparenz sicherzustellen, den Betroffenen mehr Wahlfreiheit zu ermöglichen, eine bessere
Zusammenarbeit von Leistungsträgern, Einrichtungen
und Betroffenen zu bewerkstelligen sowie eine höhere Effizienz zu erreichen. Das erfordert ein Stück weit auch
eine bessere Abstimmung der einzelnen Leistungsgesetze
aufeinander.
Zudem gab es zu unserer Zeit auch noch die Erwartung,
dass mit einem SGB IX auch Leistungsverbesserungen
verbunden sind. Diesen Zahn hat uns die jetzige Koalition
schon bei der Festlegung der Eckpunkte gezogen. Diesen
Erwartungen ist sie durch den Finanzierungsvorbehalt
konsequent entgegengetreten.
({4})
Das also ist gar nicht erst angedacht worden.
({5})
Aber auch bezüglich der anderen Ziele, über die es in
diesem Haus eigentlich eine große Übereinstimmung
gibt, hat dieses Gesetz die Erwartungen überhaupt nicht
erfüllt.
({6})
Die Regelungen werden komplizierter, sie werden nicht
transparenter, sondern undurchsichtiger,
({7})
und sie sind mit einer größeren Bürokratie verbunden.
Durch die Einführung neuer unbestimmter Rechtsbegriffe
gibt es auch neue Unsicherheiten. Es wird also erst einen
langen Weg durch die Instanzen geben, bis klar ist, welches Recht neu kodifiziert wurde.
({8})
Zudem sind Ansätze vorhanden, die deutlich machen,
dass hier eine andere Philosophie zum Tragen kommt:
weniger Selbstverwaltung und mehr staatlicher Dirigismus.
Auch vom Gesetzestechnischen her finde ich den Entwurf höchst unbefriedigend. Viele Inhalte werden in
Verordnungen abgeschoben. Man muss sich das einmal
vorstellen: Allein in das erste Kapitel haben Sie
16 Verordnungsermächtigungen hineingeschrieben. Ein
Parlament, das das mit sich machen lässt, macht sich bald
selbst überflüssig.
({9})
Letztlich fehlt diesem Entwurf die Vision eines modernen Rehabilitationsrechtes. Eigentlich schreiben Sie den
Status quo fest; Sie machen lediglich aus zwei Gesetzen
eines. So wird zum Beispiel nicht deutlich, wie die
Selbstbestimmung des Betroffenen sichergestellt werden
soll. Wie wollen Sie dem Prinzip „ambulant vor stationär“
zur Durchsetzung verhelfen? Sie schreiben das zwar
hinein, aber machen nicht deutlich, wie das praktische
Verfahren aussehen soll.
({10})
- Ja, die Regelung zum Wunsch- und Wahlrecht ist gekennzeichnet von dem Bemühen, es allen recht machen zu
wollen: den Leistungsträgern, die bezahlen müssen, den
Einrichtungen, deren Existenz gesichert sein soll, aber
auch den Betroffenen.
({11})
So kommt eine Wischiwaschi-Lösung heraus, bei der
überhaupt nicht klar wird, wo Sie stehen. Letztendlich
scheuen Sie den Streit mit den etablierten Einrichtungen.
Diese fehlende Vision wird am deutlichsten, wenn man
sich das Gesetzgebungsverfahren anschaut. Es gab
keinen Entwurf, von dem Sie sagen konnten: Das ist unser
Konzept, damit ist uns ein großer Wurf gelungen.
Stattdessen haben Sie eine Flut von Gesetzentwürfen produziert, mit einer Halbwertzeit, die am Ende drei Wochen
betrug.
({12})
Man ist überhaupt nicht mehr mitgekommen. Anhand der
Änderungen, die gegenüber dem Vorgängerentwurf vorgenommen wurden, konnte man ziemlich genau sehen,
wer der letzte Gesprächspartner des Ministeriums war.
({13})
Sie müssten doch selber eine Konzeption haben, anstatt
zu versuchen, alles glatt zu ziehen und es jedem recht
machen zu wollen. Wie wir wissen, kommt dabei am Ende
nichts Gescheites heraus.
({14})
- Im Gegensatz zu Ihnen habe ich sogar jeden Änderungsentwurf gelesen, lieber Herr Kollege.
Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion noch einmal ganz
deutlich: Wir halten ein Sozialgesetzbuch IX für richtig
und notwendig. Dazu gehört meines Erachtens, dass die
verschiedenen Leistungsgesetze aufeinander abgestimmt
werden - ein Ansatz, der in diesem Gesetzentwurf fehlt.
Ebenso ist es unumgänglich, eine befriedigende Lösung
für die Eingliederungshilfe zu finden, insbesondere für
die Frage des Nachranggrundsatzes.
Es gab einmal eine Opposition aus SPD und Grünen,
die vehement ein Leistungsgesetz für Menschen mit
Behinderung forderte. Tun Sie es doch jetzt, wo Sie es
können, verdammt noch mal!
({15})
Die Sozialhilfeträger zu Rehaträgern zu erklären,
sie aber ausdrücklich im Bundessozialhilfegesetz zu belassen - sodass man dann natürlich auch den Prinzipien
des Bundessozialhilfegesetzes unterworfen ist -, ist einer
der eklatantesten Konstruktionsfehler in diesem Gesetzentwurf. Dadurch kann es am Ende keine befriedigende
Lösung geben. Das wird auch nicht dadurch besser, dass
Sie auf die ursprünglich geplanten Verschlechterungen im
Sozialhilferecht schlussendlich verzichten.
Ein weiterer problematischer Punkt - es kam dazu
schon ein Zwischenruf - sind die Servicestellen. Ich unterstelle einmal, sie sind gut gemeint. Aber bekanntlich ist
das Gegenteil von gut nicht böse oder schlecht, sondern
gut gemeint. Was bedeutet das in der Konsequenz? Die
Servicestellen sollen beraten und unterstützen, sie sollen
entscheidungsreife Vorlagen für die Rehaträger erarbeiten. Sie müssen also professionell arbeiten, haben aber
keine Entscheidungskompetenz. Diese können sie auch
nicht haben, weil letztendlich die Rehaträger entscheiden
müssen, denn sie sind diejenigen, die das Geld geben. Sie
können nicht Finanz- und Entscheidungsverantwortung
trennen.
Dies bedeutet aber letztendlich, dass die Servicestellen
zur Barriere werden. Es kommt zu einem höheren Zeitaufwand, zu mehr Bürokratie, weil eine Stelle erst einmal
alles vorab regelt, was am Ende der Rehaträger noch einmal regelt. Dies führt zu mehr Frust bei den Betroffenen,
aber auch bei denjenigen, die in den Servicestellen und bei
den Rehaträgern arbeiten. Reibungsverluste sind vorprogrammiert. Die Akten werden von einem zum anderen
geschoben werden und jeder wird sagen: Wir sehen gar
nicht ein, wie die anderen das entschieden haben. - So
kann es nicht funktionieren.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich komme zum Schluss.
Die Kollegen geben mir eine Minute ihrer Redezeit ab.
Ich möchte meinen Gedanken noch zu Ende führen.
Wenn Sie das nicht wollen, müssten die Servicestellen
Entscheidungskompetenz bekommen. Aber dann müssten
Sie sich vom gegliederten System verabschieden, hätten
ein Einheitssystem und müssten dafür sorgen, dass Entscheidungs- und Finanzkompetenz zusammenfallen.
Es ist nicht zu verhehlen, dass das ganze Gesetz von
solchen Tendenzen gekennzeichnet ist: mehr Kompetenz
der BAR, mehr Kompetenz und mehr Mitspracherechte
der Länder und der Bundesregierung bei der Versorgungsplanung. Diese Tendenzen heißen wir nicht gut.
Ich bedaure sehr, dass unser Angebot zur Zusammenarbeit von Ihnen zu keinem Moment ernsthaft geprüft
oder gar angenommen worden ist. Ich weiß nicht, wie wir
im Laufe der Beratung unsere grundsätzlichen Bedenken
ausräumen wollen. Wir haben ein wenig den Eindruck,
dass Sie dieses Gesetz gern im Windschatten der Debatte
über die Rente und die Mitbestimmung still durchziehen
wollen.
({0})
Ich hoffe, dass es uns trotzdem im Zuge der Beratungen
gelingt, die groben Schnitzer aus diesem Gesetz zu entfernen.
Vielen Dank.
({1})
Nun erteile ich der
Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen,
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich glaube nicht, dass ausgerechnet dieses Gesetz
sich dazu eignet, es im Windschatten über die Bühne zu
bringen. Wir haben darüber auch sehr offen und viel diskutiert.
Behindert ist man nicht, behindert wird man - die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, diesem ein Ende
zu bereiten. Ich freue mich, dass wir nach der bereits vollzogenen und längst überfälligen Novelle des Schwerbehindertengesetzes heute das nächste große Reformprojekt
auf den Weg bringen, das wir Menschen mit Handicap in
unserer Koalitionsvereinbarung versprochen haben.
({0})
Das SGB IX steht für die Zusammenführung und Vereinfachung des Rehabilitationsrechts.
({1})
Sie haben selbst gerade zugegeben, dass es diesen Anspruch auch tatsächlich erfüllt. Seit vielen Jahren, ja fast
schon Jahrzehnten, wurden immer wieder Bemühungen
gestartet, die Rehabilitationsleistungen in einem neuen
Sozialgesetzbuch zusammenzuführen und so zu vereinheitlichen. Ich bin sehr froh, dass uns dies nach nur eineinhalb Jahren Vorbereitungszeit und Diskussion - wir
sind die erste Bundesregierung überhaupt; auch darauf
haben Sie gerade verwiesen - gelungen ist.
Es ist den beiden Regierungsfraktionen nicht allein
gelungen. Sie haben es vielmehr durch intensive Zusammenarbeit mit den Behindertenverbänden, den Selbsthilfeinitiativen und mit vielen einzelnen Menschen mit
Handicap geschafft, denen wir zu danken haben, dass sie
unsere Arbeit stets kritisch und konstruktiv begleitet
haben.
({2})
Vielfach wurden die Hürden beschrieben, die behinderte Menschen aufgrund der unterschiedlichen Regelungen und Zuständigkeiten zu überwinden haben, um Hilfen
zu bekommen, natürlich ganz zu schweigen von den Hürden, die ihnen das Leben sowieso schon bereitet. Mit
diesem Gesetz vereinfachen wir nicht nur das Rehabilitationsrecht durch die Zusammenführung in einem zentralen Gesetzbuch, sondern garantieren vor allem schnelle
und verlässliche Bearbeitungszeiten.
({3})
Genau dazu schaffen wir die Service- und Beratungsstellen. Ich denke, dass das Ziel erreicht wird. Ich glaube
auch, dass viele darauf sehr lange gewartet haben und jetzt
zu Recht froh sind.
({4})
Meines Erachtens wurden gerade die viel zu langen
Wartezeiten völlig zu Recht kritisiert. Es wurde kritisiert,
dass sich Zuständigkeiten überschneiden und dass
einzelne Rehabilitationsschritte nicht nahtlos ineinander
übergehen. Rehabilitation ist nun einmal ein dynamischer
Prozess und die zum Teil lebensnotwendigen Bedarfe von
Menschen lassen sich nicht durch Gesetzbücher begrenzen und sie enden nicht an den Türen einzelner Institutionen.
Ich möchte den Befürchtungen einiger Rehaträger entgegentreten, dass es mit der Einrichtung gemeinsamer
Servicestellen darum gehe, Zuständigkeiten zu entziehen
oder einen neuen Verwaltungsapparat zu schaffen. Es geht
vielmehr darum, vorhandene Ressourcen zu bündeln.
Dazu zählt für uns neben den bereits verankerten Rehaträgern vor allem die Behindertenselbsthilfe, die in die
Koordinations- und Beratungstätigkeit zukünftig verstärkt einbezogen wird. Auch das ist ein wirklich neuer
Schritt.
Wir begrüßen - der Minister hat darauf hingewiesen -,
dass nach dem Bundessozialhilfegesetz in Zukunft bei der
beruflichen und medizinischen Rehabilitation die Bedürftigkeitsprüfung entfällt. Für viele in den Werkstätten beschäftigte behinderte Menschen bedeutet das, dass
sie ihren Arbeitsplatz in der Werkstatt mit ihrem Einkommen endlich nicht mehr mitfinanzieren müssen. Entfallen
wird damit ebenso die von vielen als entwürdigend empfundene Antragstellung und Überprüfung persönlicher
Lebensverhältnisse.
Damit beenden wir endlich die bislang bestehende Ungerechtigkeit im Leistungsrecht, das immer zwischen
Menschen, die von Geburt an behindert sind, und Menschen, die erst im späteren Leben, zum Beispiel durch einen Unfall oder eine Erkrankung, zu Behinderten wurden,
unterschieden hat. Auch hier wird deutlich: Die Situation
der Menschen mit Handicap steht im Mittelpunkt unserer
Politik.
({5})
Darüber hinaus haben wir im SGB IX endlich eine Lösung der Umwidmungsproblematik der Behinderteneinrichtungen gefunden. Kein Mensch mit Behinderung darf
aus Kostengründen aus einer Einrichtung der Behindertenhilfe in eine Pflegeeinrichtung verlegt werden. Das haben wir seit vielen Jahren fraktionsübergreifend gefordert. Wenn, so sagt dieser Gesetzentwurf, die notwendige
Pflege in der Einrichtung nicht geleistet werden kann und
eine Verlegung aus medizinischen Gründen in eine andere
Einrichtung notwendig ist, dann wird das nicht über den
Kopf des oder der Betroffenen hinweg entschieden. Bei
den Verhandlungen der Einrichtungsträger muss auch der
Wunsch des Menschen mit Behinderung berücksichtigt
werden. Das ist ein großer Erfolg in Richtung Selbstbestimmung.
({6})
Bündnis 90/Die Grünen haben sich besonders dafür
stark gemacht, dass neben der Kompetenz der verschiedenen Rehabilitationsfachgebiete nun auch die bisher
weitgehend ungenutzte und nicht selten an den Rand gedrängte Ressource der Selbsthilfe und des Expertentums
der Betroffenen in den Rehabilitationsprozess eingebracht und gleichberechtigt behandelt wird. Viele Berichte von Betroffenen zeigen, dass es gerade das Zusammentreffen und die vielen kleinen Tipps anderer
Betroffener waren, die sie motiviert haben, mit ihrer Behinderung besser umzugehen, neue Herausforderungen
anzunehmen und sich der persönlichen Situation oder der
Bürokratie nicht ausgeliefert zu fühlen.
Ein anderer für uns vom Bündnis 90/Die Grünen zentraler Aspekt dieses Gesetzentwurfs ist die Stärkung der
Wahlfreiheit von Menschen mit einem Handicap. Wenn
wir es mit der Förderung eines selbstbestimmten Lebens
von behinderten Menschen ernst meinen, dann müssen
wir uns von überkommenen paternalistischen Herangehensweisen in der Behindertenpolitik und in der Behindertenarbeit Schritt für Schritt verabschieden.
({7})
Behinderte Menschen und deren Angehörige müssen wir
stattdessen als kompetente und auch kritische Kundinnen
und Kunden von Dienstleistungen begreifen.
({8})
Die Eröffnung der Inanspruchnahme eines persönlichen
Budgets sowie die damit verbundene Möglichkeit der
Selbstorganisation und der selbstbestimmten Wahl der
Hilfen ist ein echter Quantensprung in der deutschen Behindertenpolitik in Richtung Selbstbestimmung.
({9})
„Persönliches Budget“ darf aber kein anderer Ausdruck für „Einsparungen“ sein. Es ist wie die Sachleistung
ein Leistungsangebot, das die Rehabilitation und die Förderung eines selbstbestimmten Lebens von Menschen mit
Behinderung zum Ziel hat. Vor allem geht es uns darum,
ein weiteres Instrument für die Stärkung der Wahlfreiheit
der Betroffenen zu schaffen, sodass auch weiterhin die
Wahl zwischen verschiedenen Formen der Inanspruchnahme von Leistungen besteht. Hierbei wird das persönliche Budget in Zukunft ein wichtiges Instrument sein.
Wir begrüßen es außerordentlich, dass das SGB IX für
den Bereich des Sozialrechtes die deutsche Gebärdensprache bzw. die lautsprachbegleitenden Gebärden als
Sprache der gehörlosen und ertaubten Menschen anerkennt. Das bedeutet, dass sie zukünftig bei allen Beratungen, zum Beispiel beim Arztbesuch, einen Gebärdensprachedolmetscher oder eine -dolmetscherin hinzuziehen
können. Das ist ein bedeutsamer Schritt für gehörlose und
ertaubte Menschen und ein längst überfälliger Schritt in
eine moderne Gesellschaft ohne Barrieren.
({10})
Das SGB IX ist der erste Schritt, Art. 3 Abs. 3 des
Grundgesetzes „Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden“ umzusetzen. Wo das Sozialrecht
betroffen ist, haben wir einen Antidiskriminierungsgrundsatz mit der nötigen Beweislastumkehr eingeführt.
Wenn also zum Beispiel ein Arbeitgeber in Zukunft einen
Beschäftigten nicht einstellt, dann muss er gegebenenfalls
begründen, dass diese Absage nichts mit der Behinderung
des Arbeitsuchenden zu tun hatte. Auch hier handelt es
sich um einen großen Fortschritt. Das gilt ebenso für die
Verbesserung der Situation von Frauen mit Behinderungen oder von allein erziehenden Müttern oder Vätern
mit behinderten Kindern.
Auch wenn die finanziellen Rahmenbedingungen - darauf ist hingewiesen worden - es nicht erlaubt haben, alle
Wünsche aufzugreifen, so haben wir es hier dennoch mit
einem ganz klaren Abbau von Barrieren im Sozialrecht zu
tun. Wir befinden uns auf einem gutem Weg, was die
Schaffung von 50 000 neuen Arbeitsplätzen für behinderte Menschen angeht, und Sie können sicher sein, dass
sich meine Fraktion auch mit allem Nachdruck dafür einsetzen wird, dass ein Antidiskriminierungsgesetz für
Menschen mit Behinderungen geschaffen wird.
({11})
Das Vertrauen, das wir bei Menschen mit Behinderungen geschaffen haben, sollten wir nicht leichtfertig
aufs Spiel setzen. Es kann nicht sein, dass wir auf der einen Seite hier und heute gemeinsam unser Engagement
für behinderte Menschen kundtun und auf der anderen
Seite den Menschen, für die wir nun Antidiskriminierungsregelungen durchsetzen, das Lebensrecht absprechen.
({12})
Wir müssen uns zu unseren ethischen Grundwerten bekennen und zur Kenntnis nehmen, dass wir Familien mit
den abstrakten Versprechungen der Gentechnik zunehmend verunsichern.
({13})
Natürlich wünschen sich Eltern ein gesundes Kind. Doch
wer bestimmt überhaupt noch, wie viele vorgeburtliche
Untersuchungen eine Frau über sich ergehen lassen muss,
um herauszufinden, wie gesund das Kind in ihr ist? Möglicherweise wird festgestellt, dass das Kind behindert sein
wird. Müssen dann nicht wir Politiker, aber auch unsere
Gesellschaft alles daran setzen, dass die Beantwortung
der Frage, ob das Kind auch wirklich ausgetragen wird,
nicht davon abhängt, ob die Gesellschaft alle notwendige
Unterstützung und Begleitung anbieten kann?
({14})
Ich wünsche mir, dass gesellschaftliches Miteinander
von Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung eine Bereicherung für beide Seiten bleibt, und
bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({15})
Nun erteile ich dem
Kollegen Dr. Heinrich Kolb für die F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte ist der
zumindest vorläufige Abschluss eines Verfahrens, das ich
in zehn Jahren in diesem Hohen Haus noch nicht erlebt
habe und das mir rückblickend wie ein Selbstfindungsprozess der rot-grünen Koalition vorkommt.
({0})
Von der Koalitionsvereinbarung bis heute haben Sie sich
zwei Jahre lang über Eckpunkte, mehrere Diskussionsentwürfe, einen Vor-Referentenentwurf und den jetzigen
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen in einem sehr
zähen Verfahren von Ihren überaus ehrgeizigen Zielen
verabschiedet. Sie legen heute - ich muss es leider so sagen - ein Sammelsurium von Vorschriften vor, das viele
behinderte Menschen und Verbände mit Recht als enttäuschend empfinden. Der große Wurf ist es in jedem Falle
nicht.
({1})
Dass die Bundesregierung, obwohl Bundesminister
Walter Riester den Entwurf gestern der Presse vorgestellt
hat, sich das Vorhaben nicht per Kabinettsbeschluss zu Eigen gemacht hat, unterstreicht in besonderer Weise die
Qualität der Vorlage. Herr Minister Riester, auch die geringe Begeisterung, mit der Sie den Gesetzentwurf heute
hier eingeführt haben, ist darauf ein Hinweis.
({2})
Meine Damen und Herren, die behinderten Menschen
in unserem Lande haben lange auf dieses Gesetz gewartet. Sie haben sehr viele Vorschläge ein- und sehr viel Geduld aufgebracht. Belohnt werden sie dafür leider nicht.
({3})
Ich will einige Punkte nennen. Das Wahl- und Wunschrecht der behinderten Menschen zwischen Geld- und
Sachleistungen - ein begehrter Wunsch der Betroffenen wurde gewährt, aber nur eingeschränkt. Voraussetzung ist
gleiche Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit. Der Nachweis ist vom Behinderten zu erbringen, was im Einzelfall
nur schwer gelingen wird.
Was das persönliche Budget angeht, so wird es nur die
Erprobung im Modellvorhaben geben. Das Ob und Wie
entscheidet allein der Rehabilitationsträger. Das ist - das
muss ich sagen - nach den vielen vollmundigen Ankündigungen und Erklärungen aus den Reihen der Koalition
eine große Enttäuschung für die Betroffenen.
Schon diese beiden Punkte zeigen: Das rot-grüne Glaubensbekenntnis zieht sich bedauerlicherweise auch durch
das SGB IX. Den Menschen wird nicht zugetraut, dass sie
selbst am besten wissen, was gut für sie ist. Für rot-grüne
Politiker kann und muss das - so sieht es aus - nur der
Staat entscheiden. Sie wollen normierte Einheitsleistungen. In dem Bemühen um die Einheitlichkeit der Leistungserbringung weisen sie die Planung und Steuerung
des gesamten Leistungsgeschehens den Rehabilitationsträgern zu. Die freien Träger von Diensten und Einrichtungen werden in ihrem Entwurf zu rein ausführenden
Stellen degradiert.
Für uns aber ist die Ausrichtung auch des SGB IX an
den schon im Bundessozialhilfegesetz und SGB XI bewährten Grundsätzen der Subsidiarität und des Wettbewerbs unverzichtbar.
({4})
Die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung erfordert Wahlfreiheit, das heißt die Möglichkeit, aus
einer möglichst großen Vielfalt von Angeboten freier, im
Wettbewerb stehender Leistungserbringer auszuwählen.
Wir haben die große Sorge, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass mit Ihrer Konzeption gerade für die Menschen
mit schweren geistigen und mit mehrfachen Behinderungen und auch für deren Eltern keine Verbesserungen erreicht werden. Ich sage das wegen des auch weiterhin
geltenden, ja zementierten Grundsatzes der Nachrangigkeit der Sozialhilfe. Ich sage das auch wegen der Festschreibung der lebenslangen Unterhaltspflicht für Eltern
stationär betreuter Menschen mit schwerster geistiger
bzw. mehrfacher Behinderung. Diese Eltern, die oft jahrzehntelang ihr schwerst behindertes Kind zu Hause betreut und versorgt haben, müssen - wie andere Eltern
nicht behinderter Kindern auch - irgendwann einmal das
Gefühl haben dürfen, aus der Pflicht zum Unterhalt entlassen zu werden, Vermögen ansparen und eine Altersversorgung aufbauen zu können, die in etwa dem Niveau vergleichbarer Eltern nicht behinderter Kinder entsprechen.
Wir unterstützen jedenfalls die Forderung, die Heranziehung unterhaltspflichtiger Eltern für die Kosten der
Betreuung, Förderung und Pflege ihrer behinderten Söhne
und Töchter auf den Zeitraum bis zur Vollendung des
27. Lebensjahres zu begrenzen.
({5})
Lassen Sie mich auf einen anderen Punkt zu sprechen
kommen. Die zwangsweise Schaffung der örtlichen Servicestellen der Rehaträger nach § 23 SGB IX bis Ende
2002 ist unglücklich. Sie wird wohl - das steht zu befürchten - nur Kosten verursachen und in Wirklichkeit
nichts bringen. Ich frage: Was soll der Zwang, wo sich
doch die Kostenträger der Reha bereits auf eine weitgehende freiwillige Zusammenarbeit verständigt haben und
wenn am Ende und zuletzt doch wieder der einzelne Rehaträger entscheidet? Ich stimme Frau Nolte zu: Hier wird
nur unnötige Bürokratie geschaffen.
({6})
Ihr Gesetzentwurf beinhaltet erhebliche rechtliche und
finanzielle Risiken. Die Sozialhilfeträger werden auf einen Schlag Rehaträger. Abgrenzungsschwierigkeiten
sind vorprogrammiert. Das gesamte soziale Leistungssystem wird von heute auf morgen geändert, ohne dass vorher in ausreichendem Umfang verfassungsrechtliche oder
finanzielle Überprüfungen vorgenommen worden wären.
Das Rehasystem, meine Damen und Herren von RotGrün, ist auf die Sozialhilfe, die sich als lebenslange
Eingliederungshilfe für Behinderte von kurzfristigen Rehamaßnahmen unterscheidet, nicht zu übertragen. Leistungsverschlechterungen können daher nicht ausgeschlossen werden; eine vollständige Bauchlandung der
Koalition mit ihrem Vorschlag übrigens ebenfalls nicht.
Leider gilt - ich sagte das bereits - auch weiterhin der
Nachranggrundsatz des Bundessozialhilfegesetzes. Das
ist deswegen bedauerlich, weil damit auch in Zukunft
nicht ausgeschlossen werden kann, dass behinderte Menschen in Pflegeeinrichtungen abgeschoben werden, um
Leistungen aus der Pflegeversicherung zu beziehen. Dazu
tragen auch die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen
Bundessozialhilfegesetz und Pflegeversicherung bei. Auf
die Klärung dieses Punktes werden wir in den kommenden Beratungen besonders achten.
Immerhin wird für die erwerbsfähigen Menschen mit
Behinderung das wichtige Thema Arbeitsassistenzen
endlich geregelt. Aber die schwerstbehinderten Menschen
in den Werkstätten haben wieder das Nachsehen, wie
schon zuvor beim Gesetz zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter. Sie gehen leer aus.
Im Übrigen ist festzustellen, dass sich durch den gesamten Gesetzentwurf ein roter Faden von Ungereimtheiten und programmierten Fehlentwicklungen zieht. So ist
zum Beispiel nach § 29 SGB IX die Förderung von Selbsthilfegruppen, -organisationen, oder Kontaktstellen vorgesehen. Die gleiche Bestimmung findet sich in § 20 Abs. 4
SGB V. Wer soll denn nun was fördern? Oder erhalten
diese Gruppen etwa Geld aus beiden Töpfen?
In § 18 SGB IX ist vorgesehen, dass Sachleistungen
der Rehabilitation auch im Ausland erbracht werden können, wenn dort gleiche Qualität und Wirksamkeit billiger
geleistet werden können. Aber ich frage Sie: Warum nur
im Ausland? Warum wird der Vorrang der Belegung der
Eigeneinrichtungen durch die Rentenversicherungsträger
nicht beseitigt?
({7})
Wenn im Ausland Sachleistungen der Rehabilitation bei
nachgewiesener Wirtschaftlichkeit erbracht werden können, warum verwehren Sie das dann privaten Kliniken im
Inland?
({8})
Es bleibt festzuhalten: Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf für ein SGB IX bleibt hinter den Erwartungen der
behinderten Menschen zurück. Er beseitigt nicht den
Nachranggrundsatz der Sozialhilfe. Er bringt zu wenig für
die Behinderten in den Werkstätten und für ihre Familien.
Er schafft eine Fülle von Unsicherheiten für die Rehabilitations- und Sozialhilfeträger.
Ich schlage Ihnen vor, mit dem gesamten Entwurf noch
einmal in die interne Beratung zu gehen. Es hat mehrere
Diskussionsentwürfe gegeben. Da erwartet man fast
schon einen zweiten Referentenentwurf. Wenn Sie das allerdings nicht tun, dann erwartet uns eine Menge Arbeit
im Ausschuss, um den Entwurf der Realität und den Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Um der Sache und
um der Menschen willen sind wir aber auch dazu bereit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dr. Ilja Seifert, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Die große Umwälzung der
bevormundenden Behindertenpolitik findet heute wirklich nicht statt. Aber, à la bonne heure: Erstmalig liegt ein
diskutabler Entwurf auf dem Tisch des Hauses. Alle Achtung! Sie wollen das Finalitätsprinzip einführen und
durchsetzen. Sie wollen dem Wunsch- und Wahlrecht
Geltung verschaffen. Sie wollen die Zuständigkeiten
klären. Sie wollen sogar einen Anspruch der Selbsthilfe
auf Förderung durchsetzen.
Nur, wenn Sie schon Finalitätsprinzip sagen, warum
sagen Sie dann nicht klipp und klar: gleiche Leistung bei
gleichartiger Beeinträchtigung, unabhängig von Art und
Ursache der Beeinträchtigung? Wenn Sie Wunsch- und
Wahlrecht sagen, warum schaffen Sie den § 3 a des BSHG,
den Heimeinweisungsparagraphen, nicht ab? Da können
wir über das Wunsch- und Wahlrecht reden.
({0})
Was zu den Zuständigkeiten zu sagen ist, haben die
Kolleginnen und Kollegen der anderen Opposition bereits
gesagt. Was die Förderung der Selbsthilfe angeht: Wann
gibt es denn endlich eine institutionelle Grundausstattung,
wenigstens für das Telefon und die Miete eines Raumes?
Wo bleiben denn die umfassenden Klagerechte nicht nur
für dieses Gesetz?
Zum Titel. Also, ich bin sehr für Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben der Gemeinschaft.
Wenn Sie diesen Begriff aber inflationär gebrauchen, entwertet er. Das ist so bei Inflation. Es reicht nicht aus, den
Begriff „Rehabilitation“ einfach durch „Teilhabe“ zu ersetzen, wenn man den Inhalt nicht mitverändert.
Machen Sie doch wenigstens den kleinen Schritt und
sagen Sie: In Zukunft muss es zwei Berichte geben, einen
Bericht zur Entwicklung der Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen am Leben der Gemeinschaft
und einen anderen Bericht, der die Entwicklung der Rehabilitation darstellt. Beides zusammen zu sehen ist aber
falsch.
Es ist hier bereits mehrfach gesagt worden: Um ein
Leistungsgesetz handelt es sich leider nicht. Das, was wir
wirklich bräuchten, kommt nicht. Aber Sie hätten wenigstens in bestimmten, relativ kleinen Bereichen etwas tun
können. Zum Beispiel gibt es keine Verbesserung für erwachsene behinderte Menschen in der Familie; Herr Kolb
wies darauf hin. Es gibt keine Verbesserungen für Menschen im Förderbereich der Werkstätten für Behinderte.
An eine Herausnahme der Eingliederungshilfe aus dem
BSHG ist nicht gedacht. Das wäre wirklich etwas Gutes.
Vielleicht - ich biete das an - können wir in der weiteren Diskussion dieses SGB IX wenigstens in ganz kleinen
Schritten hin zu einem Leistungsgesetz entwickeln. Damit wäre nämlich die materielle Ausgestaltung des von Ihnen angekündigten Gleichstellungsgesetzes, das bürgerrechtorientiert sein muss, gegeben. In dieser Hinsicht
biete ich Ihnen ausdrücklich konstruktive Zusammenarbeit an. Aber, meine lieben Kolleginnen und Kollegen auf
der Regierungsbank und von den Koalitionsparteien, eine
schleichende Aushöhlung des gerade vor einem halben
Jahr beschlossenen Schwerbehindertengesetzes durch
dieses SGB IX gibt es mit uns nicht. Versucht das bitte
nicht!
({1})
- Lesen Sie es doch einmal! - Wenn dort ganz unter der
Hand die Prüfpflicht der Arbeitgeber, ob ein Platz mit einem schwerbehinderten Menschen besetzt werden kann,
abgeschafft wird - das können Sie nachlesen -, dann ist
das, gelinde gesagt, ein wenig unfair.
Es reicht ebenfalls nicht aus, wenn Arbeitsassistenz
nur ein einziges Mal erwähnt wird und eben nicht präzisiert, sondern unter den Kostenvorbehalt der Mittel für die
Ausgleichsabgabe gestellt wird. Damit wird sozusagen
der Schwarze Peter den Hauptfürsorgestellen zugeschoben. Der Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz ist ein hohes Gut, das im Schwerbehindertengesetz verankert
wurde. Sie müssen aber irgendwann einmal sagen, wie Sie
sich die Ausgestaltung dieser Arbeitsassistenz vorstellen.
Der Kollegin Nolte stimme ich ausdrücklich zu, dass es
nicht ausreicht, alles mit Verordnungsermächtigungen zu
machen. Entweder beharren wir auf unserem Recht als
Gesetzgeber oder wir sagen: Die Regierung kann machen,
was sie will.
({2})
Das ist aber nicht mein Verständnis von parlamentarischer
Demokratie.
Es gibt akzeptable und diskutable Ansätze, aber wenn
Sie nicht ein wenig zulegen, indem Sie die Mitwirkung der
Betroffenen institutionell stärken und Leistungen anbieten,
die wir in der Gesellschaft wirklich brauchen, dann kann
nicht mehr von Teilhabe die Rede sein, sondern nur noch
von geteilter Aufmerksamkeit. Das brauchen wir nicht.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe,
dass wir zu einer vernünftigen, guten und erfolgreichen
Diskussion kommen.
({3})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zwanzig Jahre warten unsere Mitbürger und Mitbürgerinnen mit Behinderungen und zwanzig Jahre warten Verbände und Interessenvertretungen schon auf ein Sozialgesetzbuch IX. Wir setzen das lang geforderte und längst
überfällige Gesetz endlich um. Wir nehmen den Gleichstellungsauftrag in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes
und Art. XIII des Vertrages von Amsterdam nicht nur
ernst, sondern sozialdemokratische Politik übernimmt
hier eindeutig Verantwortung.
({0})
Behinderte Menschen sind Experten in eigener Sache
mit Fähigkeiten und Kompetenzen. Es gilt, Möglichkeiten zu schaffen, damit diese endlich wahrgenommen werden können. Unser Entwurf eines SGB IX stellt einen
massiven Wendepunkt in der Behindertenpolitik dar. Politik für behinderte Menschen wird durch Politik von und
mit ihnen abgelöst. Das ist ein entscheidendes Ereignis
und damit ereignet sich tatsächlich der geforderte Paradigmenwechsel. Dieser Entwurf, Herr Kolb, findet hohe
Anerkennung bei allen betroffenen Verbänden.
({1})
- Lesen Sie bitte einmal in der Fachliteratur nach, welche
Haltung die jeweiligen Verbände und Vereine einnehmen.
Endlich finden wir in der Behindertenpolitik internationalen Anschluss. Wir reagieren auf die Grundrechte-Charta der EU und auf Diskussionen innerhalb der
Weltgesundheitsorganisation um einen neuen Begriff der
Behinderung.
({2})
Meine Damen und Herren, liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, im Mittelpunkt unseres Neuanfangs steht ein
innovatives Rehabilitationsmanagement. Die einzurichtenden Servicestellen sollen ein optimales Management im Sinne der behinderten Menschen garantieren.
Unsere Behindertenpolitik ist eine Politik der Bewegung
und der Weiterentwicklung.
({3})
Die Politik des Stillstandes, Herr Meckelburg, hat ein
Ende.
({4})
- Warten Sie noch eine Weile! - Man denke nur an den
letzten Entwurf unserer Vorgängerregierung zum
SGB IX, der ohne Diskussion am grünen Tisch entstanden
ist und 1993 von den Verbänden und Betroffenen zum
größten Teil abgelehnt und verworfen wurde. Das sind
wahrscheinlich die hohe Verantwortung und die hohen
Ansprüche, die Sie, Frau Nolte, vorhin erwähnt haben.
Die Betroffenen wollten Ihren Gesetzentwurf nicht. Die
Ansprüche waren wahrscheinlich zu hoch.
({5})
Seither sind von Ihnen nur Ankündigungen zu hören gewesen.
({6})
Wir haben das Gespräch mit den Verbänden und allen
Beteiligten wieder aufgenommen. Unser Wahlversprechen und die Koalitionsvereinbarungen mündeten in Diskussionen mit den Betroffenen, Verbänden und Trägern,
sie führten zu einer gemeinsamen Entwicklung der Eckpunkte und zu insgesamt sechs Arbeitsentwürfen zum
SGB IX. In größtmöglicher partizipativer Demokratie haben wir einen breiten Konsens erreicht. In diesem Sinne
appelliere ich an Sie, meine Damen und Herren, die bei
der Realisierung und Umsetzung des SGB IX mit in der
Verantwortung stehen, mitzuarbeiten. Damit meine ich
ausdrücklich auch die verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Die Teilhabe von behinderten Menschen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und darf nicht durch interfraktionelle Grabenkämpfe blockiert werden. Gemeinsam
und im Sinne eines breiten gesellschaftlichen Konsenses
müssen wir innovative Wege beschreiten. Es ist fatal, kontraproduktive Ängste zu schüren, wo Lösungen gefragt
sind. So gehen wir davon aus, dass die Umsetzung des
SGB IX die Kommunen langfristig nicht zusätzlich belasten wird. Mittelfristig wird sie die Kommunen sogar
entlasten. Die Entbürokratisierung, das heißt verkürzte
Bearbeitungszeiten, werden dazu führen, dass Kosten eingespart werden.
Natürlich bedaure ich, dass das Problem des Rückgriffs
auf das Privatvermögen im Sozialhilferecht noch nicht
umfassend gelöst ist. Das werden wir aber erst mit einer
generellen Reform der Sozialhilfe ändern können.
({7})
Aber der erste Schritt ist bereits getan: Die Bedürftigkeitsprüfung bei Leistungen der Sozialhilfeträger zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben
einschließlich der Leistungen im Arbeitsbereich anerkannter Werkstätten entfällt.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch kurz zwei
Beispiele aus unserem Gesetzentwurf hervorheben, die
zeigen, dass sich eine bürgernahe Modernisierung des Sozialstaates an den Bedürfnissen und Nachfragen behinderter Menschen orientiert und nicht an den Anbietern sozialstaatlicher Leistungen.
Das Anliegen der Betroffenen wird zukünftig im Mittelpunkt stehen. In Diskussionsrunden und in einem regen
Meinungsaustausch und nicht zuletzt in unseren Werkstattgesprächen haben wir die Berücksichtigung besonderer Probleme und Bedürfnisse von behinderten Frauen
im Gesetzentwurf festgeschrieben.
({8})
Die Zeiten, in denen Frauen Bittstellerinnen und Almosenempfängerinnen waren, angewiesen auf soziale Brotkrumen einer Wohlstandsgesellschaft, sind mit dem von uns
eingeleiteten Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik endlich vorbei.
({9})
Unsere sozialdemokratische Reformpolitik setzt auf das
Prinzip des Empowerments. Betroffene Frauen werden zu
Expertinnen in eigener Sache und damit zu Beteiligten.
({10})
Die Interessenvertretungen behinderter Frauen werden in
allen beratenden Gremien mitbestimmen, Herr Meckelburg.
Behinderte Frauen mit Erziehungspflichten erhalten einen
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz. Behinderte Frauen werden in
Zukunft durch geeignete wohnortnahe Angebote gleiche
Chancen im Erwerbsleben erhalten. Betroffene Frauen sehen sich im täglichen Leben immer noch ständig mit
Diskriminierungen konfrontiert. Rollstuhlfahrerinnen
schilderten mir sexuelle Belästigungen. Um es ganz deutlich zu sagen: Diese Frauen können ihre unerträgliche
Hilflosigkeit und ihre Ängste kaum verarbeiten. Die Erweiterung des Rehabilitationssportes ist nur eine der zahlreichen Möglichkeiten, diese Frauengruppe zu unterstützen und ihr Selbstbewusstsein zu stärken.
Es wurde vorhin das Stichwort „Leistungsgesetz“ in
die Debatte eingebracht. Am Rande bemerkt - die eben
angesprochenen Leistungen sind ebenfalls zusätzliche
Leistungen -: Es wird auch Mittel für Haushaltshilfen und
für Reise- und Verpflegungskosten geben.
Abschließend möchte ich noch auf ein Kernstück unseres Reformwerkes, nämlich auf die Früherkennung
und Frühförderung als Komplexleistung, eingehen.
Erstmals sind nicht ärztliche psychologische, heilpädagogische, sozialpädiatrische und psychosoziale Leistungen,
verbunden mit der Beratung von Eltern, in der medizinischen Rehabilitation möglich. Die Resonanz auf § 30, der
einen deutlichen Richtungswechsel aufzeigt, ist nicht nur
bei allen Verbänden und in der Fachwissenschaft, sondern
gerade auch bei den betroffenen Eltern äußerst positiv.
Bitte nehmen Sie das zur Kenntnis.
Herr Kolb, in diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, dass der neue § 40 a BSHG eindeutig klarstellt,
dass die Eingliederungshilfe in einer Behinderteneinrichtung die Pflege mit umfasst. Damit hat das Abschieben von Schwerstbehinderten in Pflegeheime endlich ein
Ende. Verschiebebahnhöfe wird es nicht mehr geben.
({11})
- Prüfen Sie das!
Unsere behinderten Mitbürger und Mitbürgerinnen,
auch Menschen mit temporärer Behinderung und ältere
Menschen, werden nicht mehr in die Rolle der Hilfesuchenden gedrängt; denn das Leitmotiv sozialdemokratischer Behindertenpolitik ist: Teilhabe und Selbstbestimmung sowie Bürgerrechte für alle.
Lassen Sie uns den eingeschlagenen Weg gemeinsam
gehen, damit Integration und Selbstbestimmung behinderter Menschen nicht nur ein Versprechen ist, sondern
zur Selbstverständlichkeit in unserer Zivilgesellschaft
wird.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat nun der
Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei
der Gestaltung eines Sozialgesetzbuches IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - darf es, so
möchte ich feststellen, für uns alle, unabhängig von der
Fraktionsangehörigkeit, nur ein Leitmotiv geben: Wie
können die Beteiligungschancen der rund 7 Millionen behinderten Menschen deutlich verbessert werden? Was
können wir für die Mitwirkungsmöglichkeiten ihrer Angehörigen tun?
Weit mehr als die Hälfte der Betroffenen ist aus Krankheitsgründen schwerbehindert. Die deutlich verlängerte
Lebenszeit führt dazu, dass das Risiko der Behinderung
und der Pflegebedürftigkeit weiter zunimmt. Auch der
Rehabilitationsbedarf wird sich erhöhen. Die von CDU/
CSU und F.D.P. geführte Bundesregierung hatte bereits
erste Antworten darauf gegeben: das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot von 1994 und die Pflegeversicherung von 1995.
Ich hatte gehofft, dass wir auf dieser Basis das SGB IX
gemeinsam aufbauen würden. Doch Ihre Signale waren
gänzlich andere - dazu will ich eine kurze Rückschau halten -, wie ich auch der bisherigen Debatte entnehmen
konnte: Sie verschieben Kosten der Krankenversicherung
auf die Pflegeversicherung, senken massiv die Beiträge
von Arbeitslosen zur Pflegeversicherung und verursachen
dadurch jährliche Verluste von etwa 400 Millionen DM
bei der Pflegeversicherung.
({0})
Silvia Schmidt ({1})
Die unter Norbert Blüm - daran möchte ich erinnern komfortabel aufgebauten Rücklagen drohen nun von
Walter Riester verscherbelt zu werden. Doch Sie spielen
beim SGB IX weiter auf Zeit: Noch im Wahlkampf 1998
haben Sie den Menschen ein Leistungsgesetz des Bundes
versprochen, das - ich zähle jetzt die einzelnen Punkte
auf - die Rechtslage wesentlich vereinfachen, mehr Überschaubarkeit und Effizienz sicherstellen und die Lage der
betroffenen Menschen verbessern sollte.
({2})
Falls Sie es nicht wissen sollten: Heute sind wir im dritten Amtsjahr Ihrer Regierung. Was vorliegt, ist viel Papier. Aber von den hehren Absichten ist wenig übrig geblieben. Es ist ebenfalls festzustellen: Von der rot-grünen
Koalition wird bisher eine Behindertenpolitik mit beschränkter Hoffnung betrieben.
({3})
Ich wiederhole: Im Bundestagswahlkampf von 1998 haben Sie den Menschen ein Bundesleistungsgesetz versprochen.
({4})
Mit Ihrer Vorlage zementieren Sie aber weitgehend die
bestehenden Verhältnisse, die von allen Seiten unstrittig
als dringend reformbedürftig angesehen werden, verehrte
Frau Kollegin Schmidt. Sie nehmen zumeist nur kleine
Veränderungen im Eingliederungsrecht vor, eine Prosa
- so möchte ich feststellen - mit vielen Worten und kleinen Taten.
Im Bundestagswahlkampf 1998 versprachen Sie weniger Bürokratie und mehr Effizienz. In Ihrer Vorlage fordern Sie den Aufbau neuer Behördenstrukturen, die neben
den bestehenden Organisationen arbeiten sollen. Völlig
unklar sind der Status und die Kompetenzen, die dieser
Quasibehörde zugestanden werden sollen. Arbeiten Sie
neben vorhandenen Einrichtungen oder mit diesen zusammen? Das ist hier die Frage.
Unter dem Strich stelle ich daher fest: Nicht weniger,
sondern mehr Bürokratie ist das Ergebnis Ihrer so genannten Reform. Der VDR rechnet allein mit rund
300 Millionen DM an zusätzlichen Verwaltungskosten.
Ich fordere Sie auf: Geben Sie dieses Geld den Betroffenen und den Verbänden, statt es in eine neue Bürokratie
fließen zu lassen.
({5})
Dies wäre eine wirkliche Verbesserung der Beteiligungschancen behinderter Menschen.
Wir haben in Bayern sehr frühzeitig mit den Betroffenen und ihren Verbänden über das heutige Projekt gesprochen. Im Frühjahr des Jahres 2000 haben wir in München eine Anhörung dazu durchgeführt, verehrte Frau
Kollegin Schmidt. Alle eingeladenen Verbände - Caritas,
Blindenbund, die Lebenshilfe, die Diakonie, das Rote
Kreuz, um nur einige zu nennen - haben uns klare Vorstellungen mitgegeben. Sie wünschen ein einheitliches
Bundesleistungsgesetz, das die behindert geborenen und
die später von Behinderung betroffenen Menschen ohne
Bedürftigkeitsprüfung und Rückgriff auf Vermögenswerte gleichstellt. Viele Menschen mit Behinderung oder
auch chronisch erkrankte Menschen empfinden die Einkommens- und Vermögensprüfung nach dem Sozialhilferecht zu Recht als diskriminierend.
Ich sage es noch einmal ausdrücklich: Wir unterstützen
Sie bei der Gestaltung eines einheitlichen Leistungsgesetzes, wie Sie es vor der Wahl versprochen haben. Handeln
Sie jetzt, sonst fühlen sich die Verbände und der betroffene Personenkreis von Ihnen getäuscht und enttäuscht.
Die Betroffenenverbände wünschen eine größere
Überschaubarkeit und eine Vereinfachung des Behindertenrechts. Weiter sollten die Anspruchsvoraussetzungen
bei den verschiedenen Trägern vereinfacht und harmonisiert werden. Dies kann ich bei den über 300 Seiten, die
uns von Ihnen geliefert wurden, nicht feststellen. Schaffen Sie keine neuen Hürden, sondern verfahren Sie nach
dem Modell, dass die vorhandenen Einrichtungen vernetzt werden und stärker kooperieren. Danach sollte die
erste angelaufene Station gemeinsam mit dem Betroffenen ein Konzept erarbeiten und dieses dann mit dem Rehabilitationsträger abstimmen. Das funktioniert aber nur
mit einem einheitlichen Bundesleistungsgesetz, weil
sonst wieder Abgrenzungsprobleme und Rechtsirritationen auftreten werden.
Alle Verbände, die wir angehört haben, waren sich
darin einig, dass es bei der zu erwartenden demographischen Entwicklung keine Deckelung der bisherigen Ausgaben geben darf, wenn nicht notwendige Leistungen gestrichen und das heutige Hilfeniveau für die behinderten
Menschen unterlaufen werden sollen.
Verehrte Frau Kollegin Schmidt, schon bei der Budgetierung im Gesundheitswesen haben Sie den Kern einer
Zweiklassenmedizin gelegt. Ich bin gespannt, wie die
neue Bundesgesundheitsministerin in Zukunft hier verfahren wird. Das gleiche Schicksal droht nun auch bei den
Beteiligungschancen behinderter Menschen.
Die Union und auch die CDU/CSU-Fraktion wollen
ein neues SGB IX. Wir sind bereit, im Deutschen Bundestag, aber auch mit den Bundesländern dafür zu streiten
und unseren Teil dazu beizutragen, dass zwischen Bund
und Ländern eine faire Finanzierung vereinbart wird.
({6})
Achten Sie bitte auf
die Redezeit.
Betrachten Sie unsere
Kritik als konstruktiven Beitrag und als Mitwirkung an
dem ehrgeizigen Ziel, eine gerechte Teilhabe behinderter Menschen zu erreichen.
Deshalb appelliere ich an die Koalition: Zeigen Sie
mehr Mut und ziehen Sie das vorgelegte Konzept der Mittelmäßigkeit zurück. Hören Sie auf die Betroffenen und
ihre Verbände. Dann wird es in diesem Plenum eine große
Mehrheit für das dringend erforderliche Sozialgesetzbuch
geben. Wir alle sind das den betroffenen Menschen schuldig.
({0})
Das Wort hat nun der
Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, Karl-Hermann Haack.
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte mich
auf einige Argumente konzentrieren, die hier von der Opposition vorgebracht worden sind.
Als Erstes möchte ich feststellen: Herr Kolb, Sie sind
ein politischer Schnarchhahn.
({0})
Am Mittwoch ist im Kabinett das SGB IX beschlossen
worden und Sie stellen sich zwei Tage später hier hin und
behaupten, dieses SGB IX sei gar nicht beschlossen. Es ist
beschlossen. Sie haben am Mittwoch geschlafen.
({1})
Als Zweites, Frau Nolte, möchte ich Ihnen sagen, auch
Ihnen allen von der schwarz-gelben Zunft: Die Behindertenverbände, die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen stimmen diesem Gesetzentwurf zu.
({2})
Wir hatten vor einigen Tagen in Potsdam eine abschließende Sitzung mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Freien Wohlfahrtspflege und den Behindertenorganisationen. Sie haben diesem Gesetz zugestimmt.
({3})
Die Bundesvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Frau Stolterfoht, hat dabei gesagt, dieses SGB IX
sei der innovative, qualitative Sprung im Umbau des Sozialstaates.
({4})
Das heißt mit anderen Worten, Sie haben während der Erstellung dieses Gesetzentwurfs gar nicht den Prozess mitbekommen, dem wir uns gestellt haben.
({5})
In der alten Koalition haben Sie dreimal versucht, ein
SGB IX zu schaffen. Sie sind daran in Ihrer alten Koalition gescheitert, weil Sie das mit den sieben sozialen Sicherungssystemen hinter verschlossenen Türen ohne die
Betroffenen auskungeln wollten. Da haben Ihnen die Betroffenenverbände erklärt: So nicht!
Wir haben den Paradigmenwechsel begonnen, indem
wir die Betroffenen und ihre Verbände Schritt für
Schritt einbezogen haben. Kein Punkt - ob das persönliche Budget als Modellversuch, ob die Wahlfreiheit, ob die
Servicestellen, ob die Arbeitsassistenzen -, der die Qualität dieser neuen Politik deutlich macht, ist ohne die Betroffenen erarbeitet worden. Dazu hat es Workshops gegeben, dazu haben wir Vorschläge erarbeitet.
({6})
Das erklärt Ihre Uneinsichtigkeit in die neue Qualität, das
Nichtverständnis der neuen Qualität von Gesetzgebung
dieser Koalition, dass wir Schritt für Schritt Entwürfe vorgelegt haben.
({7})
Wir haben die jeweiligen Ergebnisse von Wochenberatungen und Tagesberatungen veröffentlicht. Ich bin der
Abteilung V im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung dankbar dafür, dass sie das immer wieder neu
formuliert und zur Diskussion gestellt hat, mit der Maßgabe, von allen, die davon betroffen sind, die daran interessiert sind, Rückmeldungen zu erbitten. Diese Rückmeldungen sind gekommen. Also sage ich: Sie sind dabei.
Jetzt komme ich zu drei Punkten. Der erste Punkt: Frau
Nolte beklagt „dunkle Begriffe“. In sieben sozialen Sicherungssystemen, die sich mit den Belangen von behinderten Menschen, von Rehabilitanden beschäftigen, gibt
es sieben unterschiedliche Begrifflichkeiten, sieben unterschiedliche Verfahren für Leistungsgewährung, sieben
unterschiedliche Zugangswege. Dies wird nun vereinheitlicht. Dass die Versicherungssysteme an dieser Frage kein
Gefallen haben, dass sie gern weiter in ihrem Garten gärteln, ist doch logisch.
({8})
Aber wir haben ihnen gesagt: Die Regelung geschieht auf
der Grundlage eines Begriffs, der auf der Ebene der WHO
geprägt worden ist, des Begriffs der gesellschaftlichen
Teilhabe. Damit lösen wir uns aus über 100-jähriger Tradition, Behinderung als Krankheit zu begreifen.
({9})
Nein, meine Damen und Herren, behindert sind wir alle
oder wir werden es. Behinderung ist zu beschreiben mit
„fehlender Kompetenz“, mit „Defiziten“. Wir gleichen
das jetzt aus, indem wir Kompetenzen stärken und Eingliederung ermöglichen. Das ist das Neue.
({10})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schwaetzer?
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Bitte, Frau Kollegin, nur zu.
Herr Kollege, bei
dem großen Behindertenkongress, den Sie veranstaltet
haben, kam in der Diskussion ganz klar heraus, dass diese
Servicestellen nur dann sinnvoll sind,
({0})
wenn sie tatsächlich die Entscheidung der Rehabilitationsträger vorwegnehmen könnten. Sehen Sie in irgendeiner Weise eine Möglichkeit, dies durchzusetzen? Ist es
nicht richtig, was von Behindertenverbänden formuliert
worden ist, dass diese Servicestellen eine reine Augenwischerei sind und eine Doppelarbeit bedeuten, weil sich die
Rehaträger natürlich nicht die letzte Entscheidung vorwegnehmen lassen?
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Ich fange gleich mit
diesem Punkt an. Als Erstes hatte ich gesagt, dass wir eine
neue Begrifflichkeit haben. Als Zweites komme ich jetzt
zu den Servicestellen. Bisher - das hat der Minister schon
gesagt - läuft ein Mensch mit rehabilitativen Ansprüchen
von Pontius zu Pilatus. Ich gebe Ihnen hierzu einige Zahlen an die Hand: 52 Prozent der Menschen wohnen auf
dem Land. Das heißt, die Menschen, die auf dem Land
wohnen, gehen von der Stadt A zur Gemeinde B und zum
Kreishaus C, um dort ihre Leistungen zu erbitten.
({1})
Jetzt fassen wir dies in den Servicestellen zusammen.
Der Grundsatz heißt nun: Die Dienstleistung folgt dem
Menschen und nicht der Mensch der Dienstleistung.
({2})
Dies hat zur Konsequenz, dass die Servicestellen auf
Landkreisebene eingerichtet werden. Die Leistungen
werden somit ortsnah und zeitnah erbracht. Innerhalb einer zeitlichen Begrenzung muss entschieden werden,
sonst hat der Rehabilitand das Recht, selbstständig Leistungen in Anspruch zu nehmen und die Rechnung bezahlen zu lassen.
Als Drittes: Einmal entschieden ist immer entschieden.
Ein anderer Systemträger darf die Biografie eines Behinderten nicht neu interpretieren. Auch damit ist Feierabend.
({3})
Nun komme ich zu Ihrer Frage. An diesem Verfahren
haben die Versicherungssysteme kein Gefallen gefunden.
Ich nenne in diesem Zusammenhang Frau Nolte, die von
den Rechtsverordnungen spricht. Genau das ist der Punkt:
Wir möchten ein System haben, das auf der Ebene der
Selbstverwaltung funktioniert und ortsnah, zeitnah und
kompetent ist - das kann jeweils vernetzt sein. Man ist dabei, ein solches System zu etablieren.
Ich habe mich gestern mit den Vorständen der BfA, der
Unfall- und der Krankenversicherung getroffen. Sie haben mir versprochen: Zum 1. Juli dieses Jahres wird dieses System stehen. Also bewegen wir uns in die richtige
Richtung. Es ist entschieden: Wenn die Servicestelle die
Entscheidung des Rehaträgers vorbereitet hat, dann wird
sie auf dieser Grundlage erfolgen.
({4})
Herr Kollege, ich darf
Sie einen Augenblick unterbrechen. Ich möchte ungern
die Debatte zu sehr verlängern. Herr Koppelin, Sie haben
eine Zusatzfrage?
({0})
- Nein, diese gestatte ich Ihnen nicht mehr, weil Freitagnachmittag ist.
({1})
- Das kann ich entscheiden. - Wollen Sie jetzt eine Zwischenfrage stellen oder nicht?
({2})
Dann formulieren Sie jetzt eine Frage. - Das kann ich entscheiden, Herr Kollege. Da bin ich mir sicher. Ich glaube,
es ist im Sinne des Ablaufs der heutigen Debatte. Ich bin
für Lebendigkeit und Zwischenrufe. Aber wir sollten uns
bemühen, die Debatte nicht allzu sehr zu verlängern. Deswegen habe ich auch die Redezeit von Herrn Haack wieder laufen lassen, um einigermaßen im Zeitplan zu bleiben. Dafür bitte ich um Verständnis.
({3})
Jetzt hat der Kollege Koppelin das Wort zu einer Zwischenfrage.
({4})
- Auch Herr Haack darf nicht überziehen. Er hat Ihre
Frage beantwortet, auch wenn Sie mit der Antwort nicht
zufrieden sind. Während er auf Ihre Frage geantwortet
hat, habe ich seine Redezeit gestoppt. Das sind die Spielregeln dieser Geschäftsordnung.
Jetzt hat der Kollege Koppelin das Wort. Bitte sehr.
Da ich nicht die Gelegenheit zu einer Kurzintervention bekomme - ich bitte um
Verständnis dafür, dass ich das bedaure - und gern etwas
zu dem Stil der Rede gesagt hätte - darüber werden wir an
anderer Stelle reden müssen -, darf ich folgende Frage an
Sie richten.
({0})
- Es geht schon wieder los. Sie sind nicht in der Lage, einmal zuzuhören.
Ich möchte gerne folgende Frage stellen, weil ich mich
zum Thema der Behinderten sehr engagiere.
({1})
- Ich denke, Sie sollten sich Ihre Kommentare sparen und
zuhören.
({2})
Das können Sie anscheinend nicht.
({3})
Ich frage Sie: Finden Sie als Behindertenbeauftragter
der Bundesregierung den Stil, in dem Sie heute Ihre Rede
halten, in Ordnung? Ist es nicht so, dass es bei aller politischen Auseinandersetzung - diese muss natürlich von
der Bundesregierung und allen Fraktionen geführt werden - Aufgabe des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung sein muss, die Interessen der Fraktionen zum
Wohle der Behinderten zusammenzuführen und nicht das
Sprachrohr einer Partei und der grobe Klotz zu sein, der
auf die Oppositionsfraktionen einschlägt? Ich sehe - sehen Sie das nicht auch so? - Ihre Aufgabe darin, diejenigen, die sich in allen Fraktionen zum Wohle der Behinderten engagieren, zusammenzuführen. Finden Sie nicht
auch, dass Ihre Rede heute völlig daneben ist?
({4})
Jetzt hat Kollege
Haack das Wort zur Beantwortung dieser Frage. Bitte
sehr.
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Herr Koppelin, es
liegt vom 19. Mai 2000 eine Entschließung vor, in der
exakt das steht, was wir heute realisieren. Das haben Sie
einmütig mitbeschlossen.
Jetzt sagen Sie - wir müssen uns das anhören -, dass es
nicht richtig ist, dass das SGB IX die Zustimmung der beteiligten Verbände und Organisationen findet.
({0})
Herr Kolb behauptet zudem, es liege kein entsprechender
Kabinettsbeschluss vor.
Ich erkläre Ihnen jetzt den Weg, den wir hier vorsehen:
Nach der geplanten Anhörung werde ich den Vorschlag zu
einer gemeinsamen Sitzung aller Beauftragtem und Berichterstatter der hier im Hause vertretenen politischen
Parteien über diesen Gesetzentwurf machen, mit der Maßgabe, zu einer einheitlichen Beschlussfassung zu kommen.
Nur, angesichts dessen, dass Sie hier sagen, es liege
kein Kabinettsbeschluss vor, das seien nur Rechtsverordnungen und die Verbände stimmten dem Vorhaben nicht
zu, muss die Musik auch einmal von einer anderen Seite
gespielt werden.
({1})
Das bin ich den Kolleginnen und Kollegen der Koalition,
die an diesem Thema Woche für Woche gearbeitet haben,
und den Damen und Herren aus den betroffenen Verbänden und Organisationen schuldig, die nach Berlin gekommen sind und gesagt haben: Wir arbeiten mit Ihnen
zusammen.
({2})
Frau Kollegin, falls
Sie mir mit diesem Zuruf Parteilichkeit vorwerfen, weise
ich diesen Vorwurf zurück. Das ist nicht in Ordnung. Ich
bemühe mich um einen vernünftigen Ablauf. Ich überlege, was ein „Schnarchhahn“ eigentlich sein soll. Dazu
werde ich nichts Weiteres sagen. Aber ich verwahre mich
dagegen, dass Sie mir unterstellen, ich sei in der Amtsführung parteilich. Das Präsidium hat auch darauf zu achten, dass der Ablauf der parlamentarischen Beratung vernünftig vonstatten geht. Darum bemühe ich mich.
({0})
Herr Kollege, jetzt haben Sie das Wort. Ihre Redezeit
läuft wieder.
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Ich möchte nun auf
den dritten qualitativen Sprung, auf das Thema Wahlfreiheit, zu sprechen kommen. Das bisherige System war dadurch geprägt, dass gesagt wurde: Der Mensch mit Behinderungen ist ein Objekt der Fürsorge. - Nun soll ihm
ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht werden.
An dieser Stelle möchte ich zunächst einmal den Organisationen und Gruppen einen ausdrücklichen Dank aussprechen, die sich in der Vergangenheit, in den letzten
50 bis 100 Jahren, Menschen mit Behinderungen zugewandt haben und ihnen im Rahmen des Fürsorgegedankens ein angemessenes Leben ermöglicht haben und die
nach den vielen Gesprächen der letzten Zeit bereit sind,
mit uns gemeinsam voranzugehen.
({1})
Ich sage Ihnen hier vor dem Deutschen Bundestag:
Dieser Paradigmenwechsel wird nicht nach dem Prinzip
„Entweder-oder“, sondern nach dem Prinzip „Sowohlals-auch“ organisiert werden. Dies bedeutet im Klartext:
Alle diejenigen, die als Betroffene oder als Nichtbetroffene in der Sache engagiert sind, werden gemeinsam die
nächsten Schritte organisieren.
Ein weiterer Punkt: Wahlfreiheit bedeutet konsequenterweise auch, Arbeitsassistenzen zur Verfügung zu stellen. Hier ist festgestellt worden, dass die Einrichtung von
Arbeitsassistenzen auch für Werkstätten und für den vorgelagerten Werkstattbereich gelten müsste.
({2})
In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass nach
der Eingliederungsverordnung an Werkstätten und geschützte Einrichtungen Pauschalen gezahlt werden, die
die Arbeitsassistenz ersetzen. Insofern erübrigt es sich, für
diesen Bereich zusätzlich Geld im Zusammenhang mit
der Arbeitsassistenz zur Verfügung zu stellen.
Was heißt Arbeitsassistenz? Ein Gehörloser hat nun die
Möglichkeit, im Rahmen seines betrieblichen Ablaufes
einen Gebärdendolmetscher zur Seite gestellt zu bekommen. Ein Blinder bzw. ein Sehbehinderter hat nun die
Möglichkeit, eine Vorlesekraft zur Verfügung gestellt zu
bekommen. Ein Rollstuhlfahrer bzw. ein Querschnittsgelähmter hat die Möglichkeit, an Werktagen eine Arbeitsassistenz zur Verfügung gestellt zu bekommen. Bisher
war es so, dass dies per Antrag bei der Hauptfürsorgestelle
genehmigt werden musste. Jetzt besteht hier ein Rechtsanspruch.
Ich denke, dass das ein Beispiel dafür ist, dass wir versuchen, in den Lebensentwürfen von Menschen mit Behinderungen den emanzipativen Gedanken einzuführen
bzw. auf eine sichere Grundlage zu stellen.
({3})
Abschließend zum Thema Bedürftigkeitsprüfung - es
handelt sich bei der Eingliederungshilfe um einen Betrag
von 16 Milliarden DM -: In den diesbezüglichen Verhandlungen mit dem Finanzministerium hatten wir folgendes Modell entwickelt: 15 Milliarden DM fließen
in die Neuformulierung des Bund-Länder-Finanzausgleiches ein, werden aber als Nulllinie definiert. Das
heißt, die Länder müssen akzeptieren, dass der Anteil, den
sie bisher im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes haben tragen müssen, verrechnet wird. Der Bund bezahlt
dann den Aufwuchs für die späteren Jahre.
Das ist vom Bundesfinanzminister und den finanzpolitischen Sprechern der Länder nicht akzeptiert worden.
Deswegen haben wir den Weg gewählt, im Hinblick auf
die Diskussionen in den kommenden Jahren einen Türöffner zu suchen, indem wir die medizinische und berufliche
Rehabilitation, die aus der Eingliederungshilfe bezahlt
wird und bisher dem Bedürftigkeitsprinzip unterworfen
war, von der Heranziehung von Einkommen und Vermögen freistellen.
Herr Kollege, Sie
müssen jetzt zum Schluss kommen.
Karl-Hermann Haack, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Behinderten: Schlusssatz: Die in
dem Gesetz enthaltenen Übergangsfristen haben den
Sinn, den Gesetzgeber und die Beteiligten zu zwingen,
Rechenschaft über das abzulegen, was wir an neuen Instrumenten in das Gesetz hineingenommen haben, um
dann eine weitere Diskussion zu ermöglichen.
Herzlichen Dank.
({0})
Als letzter Redner in
dieser Debatte hat der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zu einigem
von dem, was über eine angeblich neue Zeit in der Behindertenpolitik gesagt worden ist, möchte ich eingangs feststellen: Politik und Gesellschaft setzen sich nicht erst seit
dieser Legislaturperiode für unsere Mitbürgerinnen und
Mitbürger mit Behinderungen ein. Was bei uns in
Deutschland an ambulanten Diensten, Werkstätten und
Wohnheimen für Behinderte in den letzten 20 Jahren geschaffen worden ist, kann sich sehen lassen und zeugt davon, wie sich Politik und Gesellschaft für die behinderten
Mitbürgerinnen und Mitbürger einsetzen.
({0})
Richtig ist, Frau Kollegin, dass ebenfalls seit Jahrzehnten zu Recht der dringende Wunsch besteht, das Recht der
Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen in ein
neues, umfassendes Sozialgesetzbuch zu überführen. Herr
Haack, es ist richtig, dass die Betroffenen und die Verbände die Neufassung des Sozialgesetzbuches begrüßen.
Sie müssen aber auch zugeben - das haben Sie verschwiegen -, dass alle sachlichen Kritikpunkte, die in der heutigen Debatte vorgetragen wurden, von den Verbänden und
Betroffenen nach wie vor geäußert und nicht durch ihre allgemeine Zustimmung zum SGB IX ersetzt werden. Das
haben Sie leider verschwiegen.
({1})
Eine weitere Anmerkung. Ich empfinde es als gut,
wenn in einer Debatte über ein Sozialgesetzbuch mit unendlich vielen organisatorischen Regelungen zur Selbstvergewisserung auch etwas über die ethischen Grundlagen, die uns in der Behindertenpolitik leiten, gesagt wird.
Deswegen begrüße ich, was Frau Kollegin GöringEckardt zum Schluss ihrer Rede vorgetragen hat. Nur,
Frau Göring-Eckardt, mittlerweile kommen mir Zweifel
an der Haltung der Bundesregierung insgesamt, nachdem
der neue Kulturstaatsminister Nida-Rümelin mit seinen
Karl-Hermann Haack
Äußerungen zur Neudefinition der Menschenwürde genau das Gegenteil zum Ausdruck gebracht hat. Wenn die
Menschenwürde, die in unserem Grundgesetz garantiert
ist - uns Politikern ist die Verpflichtung auferlegt, sie in
unserem Handeln und in unserer Politik zu achten -, so
umdefiniert wird, dass Menschenwürde nur noch dem zustehen soll, der über die bewusste Fähigkeit verfügt,
Selbstachtung zu empfinden,
({2})
dann ist das nicht mehr die Menschenwürde, die die Väter unseres Grundgesetzes gemeint haben.
({3})
Nun beklagen sich die Koalition sowie der Herr Bundesbeauftragte und der Herr Bundesminister über die Kritik am SGB IX. Nur die Messlatte hat Rot-Grün hoch
gehängt.
({4})
- So ist es, sie sind unten durch gelaufen.
Vor der Bundestagswahl haben Sie erklärt - ich darf zitieren -:
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich für die Schaffung eines eigenen Leistungsgesetzes ausgesprochen. … Bündnis 90/Die Grünen treten dafür ein,
den ganzheitlichen Charakter der Behindertenhilfe
zu erhalten. Wir fordern ein eigenes Leistungsgesetz
für Behinderte …
So war es in der „Lebenshilfe Zeitung“ vor der Bundestagswahl zu lesen.
Das ist Ihre Messlatte. Vor dieser großen und - wie ich
zugeben muss - schwierigen Aufgabenstellung hat die
Koalition bei der Vorlage ihres Gesetzentwurfes versagt.
({5})
Den Elementen, die Sie mit diesem Gesetzentwurf ändern, fehlt schlichtweg die Logik.
Im Rahmen der Rentenreform wollen Sie ein so genanntes Grundsicherungsgesetz durch das Parlament
bringen. Behinderte Menschen sollen zur Sicherung ihres
Lebensunterhalts Sozialhilfe - die neue Bezeichnung heißt:
bedarfsorientierte Grundsicherung - bekommen. Die Eltern des erwachsenen Behinderten werden beim Unterhalt
nicht mehr herangezogen. Aber für die Leistungen, die
aufgrund der Behinderung im Rahmen der Eingliederungshilfe notwendig werden, soll weiterhin die Sozialhilfe zuständig sein. Wenn es Ihnen mit der Forderung
nach einem Leistungsgesetz ernst gewesen wäre, dann
hätten Sie doch zuallererst diejenigen Leistungen, die
Menschen aufgrund ihrer Behinderung dringend benötigen, aus der Sozialhilfe herausnehmen und in ein Leistungsgesetz überführen müssen.
({6})
Die gebotene Gleichstellung von Behinderten mit Nichtbehinderten verpflichtet den Gesetzgeber doch, zuallererst die Nachteile, die der Behinderte aufgrund seiner Behinderung hat, auszugleichen.
({7})
Besonders widersinnig ist, dass gerade erwachsene
Menschen mit Behinderungen bzw. deren Eltern zur
Deckung der Kosten der für sie notwendigen Hilfen herangezogen werden sollen, wenn sie so schwer behindert
sind, dass sie nicht in einer Werkstätte für Behinderte arbeiten können. Dass Sie innerhalb der Gruppe der Menschen mit Behinderungen eine neue Klassengesellschaft
errichten, dass Sie ausgerechnet diejenigen, die besonders
auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, nämlich die
Schwerst- und Mehrfachbehinderten, benachteiligen, ist
völlig unverständlich.
({8})
Des Weiteren hat man erwartet, dass die bestehenden
Probleme der Abgrenzung zwischen der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe durch das neue Gesetz gelöst
werden. Hier wird mit dem Gesetzentwurf in der Tat für
Klarstellungen gesorgt. Aber eine generelle Klärung wird
wiederum vermieden. Die Klärung dieser Frage wird in
der Zukunft immer dringender werden, weil auch die Zahl
alt gewordener Menschen mit Behinderungen in den
nächsten Jahren zunehmen wird. Dies werden Mitbürgerinnen und Mitbürger sein, die in Werkstätten für Behinderte gearbeitet und durch Beitragszahlungen in die
Pflegekasse einen eigenen Anspruch an die Pflegeversicherung erworben haben.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt und unterstützt grundsätzlich das Vorhaben, ein Sozialgesetzbuch IX zu schaffen. Doch mit dem jetzt von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf wird dieses Ziel leider nur
ungenügend erreicht.
({9})
Letztlich ist das neue Gesetz nur ein zusätzliches Dach für
die weiterhin nebeneinander bestehenden Gesetze. Für
diejenigen, die mit diesem Gesetz umgehen müssen, machen Sie die Anwendung nicht einfacher, wie Sie es versprochen haben, sondern eher komplizierter.
({10})
Sie bringen sich vor allem in Schwierigkeiten, weil Sie
den zentralen Punkt bei der Reform des Behindertenrechts, nämlich die Überführung der Eingliederungshilfe
aus dem Bundessozialhilfegesetz in ein eigenes Leistungsgesetz für Behinderte, entgegen Ihren Wahlversprechungen und Ankündigungen nicht anpacken.
({11})
Deswegen ist zu diesem Gesetzentwurf festzustellen:
Probleme nicht gelöst, mehr Bürokratie! Mit diesem Gesetzentwurf machen Sie eigentlich niemanden so recht
glücklich, wahrscheinlich sich selber auch nicht. Sie machen weder die Menschen mit Behinderungen noch deren
Eltern, noch die vielen engagierten Pädagogen und Pflegekräfte glücklich, die in den Einrichtungen und Diensten
großartige Leistungen für unsere behinderten Mitbürger
Peter Weiß ({12})
und damit auch für die Gesellschaft erbringen. Für ein
solch wichtiges Gesetzgebungsvorhaben sollte gelten:
Wenn man etwas richtig machen will, dann muss man
ganze Sachen machen. Halbe Sachen sollte man lieber
gleich bleiben lassen.
Vielen Dank.
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Bevor ich abstimmen lasse, möchte ich jeden bitten,
darüber nachzudenken, was er von dem Wort „Schnarchhahn“ hält. Ich halte diesen Ausdruck zwar nicht für parlamentarisch; aber ich weiß nicht genau, was ich mir darunter vorstellen soll.
({0})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/5074 zur federführenden Beratung an den
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an den Innenausschuss, den Rechtsausschuss, den
Finanzausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten, den Verteidigungsausschuss, den Ausschuss
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss
für Gesundheit, den Ausschuss für Verkehr, Bau- und
Wohnungswesen, den Ausschuss für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung und den Haushaltsausschuss zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden?
- Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 10 auf:
17. Beratung der Beschlussempfehlungen und der
Berichte des Verteidigungsausschusses ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Breuer,
Ulrich Adam, Georg Janovsky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der Bundeswehr
- zu dem Antrag der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun ({2}), Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr sichern Wehrpflicht aussetzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Wolfgang Gehrcke, Uwe Hiksch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Zukunft durch Abrüstung - Für eine grundlegende Reform der Bundeswehr
- Drucksachen 14/3775, 14/4256, 14/4174,
14/5087, 14/5088, 14/5089 Berichterstattung:
Abgeordente Peter Zumkley
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Dirk Niebel, Birgit Homburger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Wehrpflicht aussetzen
- Drucksache 14/5078 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen
Reinhold Robbe für die SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte
über die Zukunft der Bundeswehr wird im Augenblick ein
wenig überschattet von anderen Themen der Verteidigungs- und der Sicherheitspolitik, wozu ganz sicher auch
die Diskussion über die Verwendung von uranhaltiger
Munition im Zusammenhang mit NATO-Kampfeinsätzen
gehört, die wir gestern hier im Hause geführt haben. Trotzdem ist es nach meiner Auffassung gut, dass wir heute
noch einmal Gelegenheit haben, jenes Thema zu behandeln, das aus den verschiedensten Gründen zu den herausragendsten in der deutschen Öffentlichkeit zählt.
Die Strukturreform der Bundeswehr gehört zu den
größten Reformprojekten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Noch nie zuvor wurde eine so umfassende Erneuerung von Grund auf für einen Bereich des öffentlichen
Lebens in Angriff genommen. Auch wenn es in der Vergangenheit bei der Bundeswehr viele Anpassungen, Umschichtungen, Verkleinerungen und Veränderungen gegeben hat, so stehen wir jetzt vor der Aufgabe, das Heer, die
Luftwaffe, die Marine sowie den Sanitätsdienst vollkommen neu auszurichten und fit zu machen für die Zukunft.
({0})
Von dieser Reform werden mehr Menschen betroffen
sein als von irgendeiner anderen grundlegenden Veränderung sowohl im privatwirtschaftlichen wie im öffentlichen Bereich. Man muss sich immer wieder vor Augen
führen, dass es sich bei der Bundeswehr um den größten
öffentlichen Arbeitgeber handelt, der Hunderttausende
von Menschen zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen sowie zwischen Aachen und Görlitz in Brot
und Arbeit hält. Nicht zuletzt deshalb ist die Reform der
Bundeswehr nicht nur in aller Munde, sondern beschäftigt
intensiv alle Ebenen des privaten, aber auch des öffentlichen Lebens.
Die Notwendigkeit für diese große Reform liegt auf der
Hand. Altbundespräsident Richard von Weizsäcker hat in
seinem uns vorliegenden Bericht aus meiner Sicht sehr
zutreffend darauf hingewiesen und analysiert, dass die
Bundeswehr des Jahres 2000 vor dem Hintergrund der
veränderten Sicherheitslage in Europa und in der Welt zu
groß, falsch zusammengesetzt und zunehmend unmodern
sei. In ihrer heutigen Struktur habe die Bundeswehr, so
heißt es bei von Weizsäcker, keine Zukunft. Veraltetes
Material schmälere die Einsatzfähigkeit und treibe die
Betriebskosten in die Höhe.
Peter Weiß ({1})
Dies sind nur die wichtigsten Feststellungen der
Weizsäcker-Kommission zum Status quo der deutschen
Armee. Aus dieser Lagebeurteilung ergeben sich jetzt
Reformnotwendigkeiten, die der Bundesverteidigungsminister zwischenzeitlich konkretisiert hat. Hierbei bilden drei große Themenbereiche das Fundament für die in
Angriff genommene Reform:
Erstens geht es um die Investition in die Fähigkeiten
der Menschen, es geht um die bestmögliche Aus- und
Fortbildung des Personals, um umfassende Verbesserungen zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes sowie
um die Reform von Besoldungs- und Laufbahnstrukturen.
Zweitens geht es um den Erwerb neuer Fähigkeiten
durch leistungsfähigere Strukturen sowie um die Modernisierung von Material und Ausrüstung.
Drittens schließlich geht es auch um eine grundlegende
Reform der Wehrverwaltung und eine weit gehende
Umgestaltung der Beschaffungs-, Verwaltungs- und Betriebsprozesse einschließlich einer völlig veränderten
Aufgabenverteilung und einer Zusammenarbeit mit der
deutschen Wirtschaft.
Dieser letzte Punkt ist gerade deshalb so interessant,
weil hier im Grunde wirkliches Neuland betreten wird:
Der Bundesverteidigungsminister will durch modernes
Management eine Konzentration der Streitkräfte auf ihre
militärischen Kernaufgaben erreichen und dadurch Spielräume für die dringend notwendigen Investitionen schaffen.
Bei allen unterschiedlichen Bewertungen dessen, was
die Weizsäcker-Kommission erarbeitet und die Bundesregierung an Konsequenzen daraus entwickelt hat, gibt es
zu den grundsätzlichen Fragen der Strukturreform eigentlich eine breite Übereinstimmung im Parlament, wenn
man einmal davon absieht, was die PDS dazu sagt. Aber
das interessiert mich an dieser Stelle eigentlich weniger.
Nun will ich selbstverständlich die Probleme nicht
klein reden, die die CDU/CSU beim Personalumfang, bei
der Finanzausstattung und auch beim vorgelegten Tempo,
mit dem die Bundeswehrreform in Angriff genommen
wurde, erkennt. Ebenso wenig will ich unter den Tisch
kehren, dass die F.D.P.-Fraktion die Strukturreform zum
Anlass nehmen möchte, die Wehrpflicht abzuschaffen,
respektive auszusetzen.
({2})
Opposition wie Koalition bekennen sich aber eindeutig zur Notwendigkeit der Reform und betrachten es auch
als eine nationale Aufgabe, in dieser wichtigen Frage ein
wenig mehr über den parteipolitischen Tellerrand zu
blicken, als dies bei anderen Fragen der Fall ist.
Wir haben in der Debatte über die Strukturreform nunmehr eine Phase erreicht, in der es nach Vorlage der so genannten Grobplanung jetzt um die Feinplanung und damit
auch um Standortentscheidungen geht. Hier ist natürlich
fast jede Kollegin und jeder Kollege im Deutschen Bundestag tangiert, sofern es in ihrem oder seinem Wahlkreis
eine Bundeswehreinrichtung bzw. einen Bundeswehrstandort gibt.
Gewisse Presseveröffentlichungen über mögliche Standortschließungen haben uns einen Vorgeschmack auf das
gegeben, was uns in den kommenden Wochen voraussichtlich noch ins Haus stehen wird. Es liegt in der Natur
der Sache, dass dann, wenn über Standortschließungen öffentlich spekuliert wird, sofort alle Bürgermeister, Landräte, Industrie- und Handelskammern und öffentlichen
Institutionen lautstark Protest einlegen. Derartige Aufgeregtheiten lassen sich nicht vermeiden, auch wenn der
Bundesverteidigungsminister hier zum hundertsten Mal
erklärt hat, dass alle bisherigen Veröffentlichungen über
angebliche Schließungen allein auf Spekulationen beruhen.
({3})
Das ist zunächst einmal ein Stochern im Nebel und hat
nicht unbedingt etwas mit dem zu tun, was wir vielleicht
noch Ende dieses Monats vom Minister konkret hören
werden.
Für die Bundeswehrangehörigen, für die Repräsentanten der betroffenen Standorte und nicht zuletzt auch für
uns als Parlamentarier ist es wichtig zu wissen, dass der
Entscheidungsprozess im Hinblick auf den Umfang der
künftigen Standorte völlig transparent und für jedermann
nachvollziehbar gestaltet wird.
({4})
Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass für den Bundesverteidigungsminister die Fürsorgepflicht gegenüber
den Angehörigen der Bundeswehr an erster Stelle steht.
Die Standortentscheidungen werden also nicht nach Gutsherrenart getroffen oder gar von irgendwelchen politischen Konstellationen vor Ort oder auf Landesebene abhängig gemacht.
Die Kriterien des Verteidigungsministers sind seit langer Zeit bekannt.
({5})
Deshalb will ich als Vertreter eines großen ländlichen
Flächenwahlkreises mit vielen Bundeswehrstandorten unterstreichen, wie wichtig es ist, lieber Peter Ramsauer, dass
neben militärischen Notwendigkeiten auch betriebswirtschaftliche Erfordernisse, die Verantwortung gegenüber
der Fläche und die Auswirkungen von Standortentscheidungen auf die wirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Situation in einer Region berücksichtigt werden. Ich
denke, das muss ganz oben anstehen.
({6})
Unabhängig davon hat Bundesminister Scharping gestern noch einmal alle Mitglieder dieses Hauses ausdrücklich schriftlich gebeten, ihm gegebenenfalls zusätzliche
Kriterien für die Standortentscheidungen zu nennen, damit er diese noch berücksichtigen kann.
({7})
Eine gleiche Aufforderung ist auch an die Ministerpräsidenten der Länder ergangen.
Mit der Bekanntgabe der Standortentscheidungen werden alle offenen Fragen beseitigt werden, die sich in nachvollziehbarer Weise die Soldaten, die Zivilbeschäftigten
und alle direkt oder indirekt Betroffenen und Verantwortlichen im Laufe der zurückliegenden Wochen gestellt
haben. Auch wenn die Umsetzung der Standortentscheidungen nicht von heute auf morgen stattfinden kann,
bringt die Gewissheit über die Zukunft der Standorte den
Betroffenen jene Planungssicherheit, die sie mit Recht
erwarten.
Unsere Aufgabe, liebe Kolleginnen und Kollegen, als
Mitglieder dieses Hauses wird darin bestehen, die weitere
Entwicklung in den Standorten persönlich intensiv und im
Rahmen unserer parlamentarischen Möglichkeiten zu begleiten. Dies dient zum einen einer vernünftigen Umsetzung der Reform und bietet zum anderen die Möglichkeit,
gegenüber den Soldatinnen und Soldaten sowie den Zivilbeschäftigten unsere besondere Verbundenheit mit der
Bundeswehr und mit den dort tätigen Menschen zu dokumentieren.
Ich danke sehr für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun der
Kollege Kurt Rossmanith für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege
Robbe, wir alle in diesem Hohen Hause sind uns darüber
im Klaren, dass die neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen und auch unsere internationalen Verpflichtungen, die wir gegenüber der NATO, der Europäischen
Union und den Vereinten Nationen haben, eine moderne,
einsatzfähige und durchhaltefähige Bundeswehr notwendig machen.
Wir werfen Ihnen vor, dass die Veränderungen der internationalen Sicherheit und der technologischen Möglichkeiten für Sie nicht der entscheidende Maßstab für die
Umstrukturierung unserer Streitkräfte sind; entscheidend
sind vielmehr einzig und allein die Finanzen, die die Bundesregierung einzusparen gedenkt. Unser Bundesminister
der Verteidigung ist für diese Einsparungen mitverantwortlich; denn die Bundesregierung hat den Haushalt gemeinsam beschlossen. Verehrter Herr Minister Scharping,
Sie haben das sicherheitspolitische Feld schlicht und einfach dem Bundesminister der Finanzen, Eichel, überlassen. Diese Tatsache kann man nicht hinnehmen.
({0})
Sie und nicht der Bundesminister der Finanzen, der Ihnen
für diese Aufgabe die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen muss, tragen Verantwortung für die Sicherheits- und für die Verteidigungspolitik in unserem Lande.
Würde sich die Bundeswehrreform nicht nur verbal,
sondern auch inhaltlich und methodisch auf Scharnhorst
beziehen, dann könnte und dürfte sie gar nicht von der
Kassenlage ausgehen. Sie müsste sich zuallererst nach der
Definition der außen- und sicherheitspolitischen Interessenlage unseres Landes richten. Diese Leistung ist bisher weder von Ihnen, Herr Bundesminister Scharping,
noch vom Bundesaußenminister erbracht worden. Nur auf
dieser Grundlage finden unsere Streitkräfte ihr Selbstverständnis und ihre Rolle als wichtigstes Instrument unserer
Sicherheitspolitik.
({1})
Stattdessen diktiert in der SPD-geführten Bundesregierung der Finanzminister einem in der Zwischenzeit auch
politisch angeschlagenen Verteidigungsminister Umfang
und Struktur der Streitkräfte. Dieser wiederum verordnet
eine Reform und lässt gleichzeitig viele Fragen hinsichtlich Ausrüstung, Umfang, Auftrag und Selbstverständnis
unserer Bundeswehr offen. Das Ganze wird ohne eine
vertiefte Diskussion in Parlament und Öffentlichkeit
durchgezogen, so schlicht und einfach nach dem Motto:
Warum soll man über die Zukunft der Bundeswehr debattieren, wenn das einzige Argument sowieso nur die Kassenlage ist?
Ich stelle deshalb fest, dass diese Bundesregierung bisher in keiner Weise ihrer Pflicht nachgekommen ist, eine
sicherheitspolitische Begründung für die laufende Reduzierung der Bundeswehr zu liefern.
({2})
An die Stelle einer echten Reform ist wegen unzureichender Finanzmittel eine bloße Sparaktion durch Rationalisierung, Privatisierung, Truppenreduzierung und Standortschließungen getreten. Die Bundeswehr wird weiter
verkleinert und eine Vielzahl von Standorten wird geschlossen.
Der Verteidigungshaushalt sinkt permanent und der
Verteidigungsminister versucht vergeblich, über den Ausverkauf von Liegenschaften Geld hereinzubekommen.
Allerdings ist jedem schon jetzt klar, dass die Erwartungen, die an die laufenden Privatisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen des Verteidigungsministers gestellt werden, in keiner Weise auch nur annähernd erfüllt
werden.
Gleichzeitig soll aber die Bundeswehr - zumindest verbal - modernisiert werden und es werden militärische Eingreifkräfte für die Vereinten Nationen und auch das größte
Kontingent für die zu schaffende EU-Eingreiftruppe gemeldet. Dass dem Bundesminister der Verteidigung das
Geld dafür nicht gegeben wird und wir bereits heute an
Grenzen stoßen, was die Auftragserfüllung in Bosnien und
im Kosovo anbelangt, spielt dabei offensichtlich keine
allzu große Rolle. Die haushaltspolitischen Realitäten,
Herr Bundesminister Scharping, stimmen in keiner Weise
mit den verteidigungspolitischen Verpflichtungen überein,
die Sie und diese Bundesregierung eingegangen sind. Hier
beginnt für mich außen- und sicherheitspolitisches Abenteurertum; denn die Bundesregierung ist internationale
Verpflichtungen bei der NATO, bei der Europäischen
Union und bei den Vereinten Nationen eingegangen, die
weder personell noch strukturell, materiell und finanziell
abgesichert sind.
({3})
Wir haben von Wildbad Kreuth aus bewusst die Standortfrage angestoßen, weil wir von der miserablen Informationspolitik des Bundesministeriums der Verteidigung genug haben und es an der Zeit ist, dass auch einmal
die betroffenen Gemeinden Gehör finden.
({4})
Noch im letzten Sommer haben Sie, Herr Bundesminister Scharping, öffentlich und, wie man jetzt weiß, wider besseres Wissen nicht nur einmal, sondern in allen
möglichen Diskussionsrunden versichert, wenn überhaupt würden nur Kleinstandorte bis zu einer Dienstpostenzahl von 50 Personen von der Bundeswehrreform betroffen sein, größere Standorte würden nicht geschlossen
und die Bundeswehr bleibe in der Fläche erhalten. Genau
das Gegenteil tun Sie nun:
({5})
Ohne die betroffenen Kommunen zu beteiligen und ohne
Rücksprache mit den Ländern - es werden einfach Treffen vereinbart, auf denen man das Konzept darstellt und
den Ländern sagt, entweder sie akzeptierten es oder sie
akzeptierten es nicht - wird in einem geheimen Küchenkabinett ein Plan entwickelt,
({6})
der eine Vielzahl von Standorten massiven Reduzierungen aussetzt. Ich nenne bei uns im Allgäu nur das Jagdbombergeschwader 34, das auch noch den schönen Namen „Allgäu“ trägt; es soll schlicht und einfach
geschlossen werden. Davon wären 1 500 Personen betroffen. Von Sonthofen soll das ABC-Abwehrbataillon abgezogen werden; auch soll die dortige Feldjägerschule
- das müssen Sie mir einmal erklären - nach Hannover
verlegt werden.
({7})
Wenn Herr Kollege Robbe sagt, Herr Scharping gehe
nicht nach Gutsherrenart vor, dann frage ich, wonach
denn dann. Soll die Feldjägerschule dem Gutsherren
Schröder näher gebracht werden, wenn Sie sie nach Hannover verlegen?
({8})
Glauben Sie mir: Wir werden uns diesem Kahlschlag
massiv widersetzen.
({9})
Wir, die CDU und CSU, haben uns immer als die beiden
Parteien verstanden - wir tun dies auch in Zukunft -, für
die Außen- und Sicherheitspolitik ein ganz wesentliches
Element des Handelns ist.
({10})
Deshalb werden wir einen Kahlschlag nicht hinnehmen,
({11})
was die Standorte anbelangt, und auch keinen Kahlschlag
in unserer Sicherheits- und Außenpolitik.
Herzlichen Dank.
({12})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Angelika Beer.
({0})
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute - durchaus nicht zum ersten Mal, Herr Kollege Rossmanith - in einer wichtigen Zeit der Entscheidungen über die Zukunft der Bundeswehr. Eine
wesentliche Entscheidung bewegt die Öffentlichkeit und
wird von der Opposition, wie eben vorgeführt wurde, in
populistischer Manier aufgebauscht.
({0})
- Es ist gut, dass wir hier auch noch lachen können.
So, wie Sie versuchen, mit der Standortfrage Wahlkampf zu machen und Punkte in Ihren Wahlkreisen zu
sammeln, tun Sie weder der Bundeswehr noch den Standorten, noch den Kommunen einen Gefallen;
({1})
Sie schaffen vielmehr ein Klima der Panik und der Reformverweigerung. Unter dem Strich kann man eigentlich
nur sagen, dass Sie sich der Zukunft der Bundeswehr generell in den Weg stellen.
({2})
Es kommt jetzt darauf an, Planungssicherheit für die
kommenden Jahre zu schaffen. Ich habe neulich mit einem ehemaligen General gesprochen.
({3})
Er sagte: Frau Beer, jeder Politiker, der das Wort in den
Mund nimmt, wird vom Militär belächelt; denn wir haben
diverse Reformen geplant und durchzusetzen versucht
und nie ist eine Planung mit Sicherheit durchgesetzt worden.
Unser politisches Ziel als Koalition ist es - deswegen
sind wir auch Kompromisse eingegangen -, endlich diese
Planungssicherheit zu schaffen. Dazu gehört eine offene,
aber sehr differenzierte, verantwortliche Diskussion über
die Standorte; denn die Standortentscheidung wird Planungssicherheit geben, weil für die Standorte, die erhalten bleiben, signalisiert wird, dass dort nicht gleich wieder nachgebessert werden muss.
({4})
Die Kriterien für die Entscheidungen sind bekannt.
Nachdem die Grobplanung bereits vorgelegt worden ist
und in Kürze die Feinplanung vorliegen wird, können
wir meiner Ansicht nach davon ausgehen, dass diese
Entscheidung nach wirtschaftlichen, sozialverträglichen,
aber auch militärtechnischen Kriterien getroffen wird.
Am 29. Januar werden wir über die Entscheidung des Ministeriums unterrichtet und weiter diskutieren.
Die Bundeswehr ist weder Selbstzweck noch darf sie
als strukturpolitische Maßnahme benutzt werden, wo sich
dies nicht mit sicherheitspolitischen Entscheidungen und
Kriterien vereinbaren lässt. Dass dies in den vergangenen
Jahren in verschiedenen Bundesländern anders gehandhabt wurde, macht die Situation schwierig, ändert aber
nichts an der grundsätzlichen Lage heute.
Die Neuausrichtung der Bundeswehr ist sicherheitspolitisch begründet. Sie ist begründet in der günstigen sicherheitspolitischen Ausgangssituation.
({5})
Sie muss die Aufgabenstellungen der Bundeswehr im
Rahmen der internationalen Organisationen, wie der
UNO, der NATO und der Europäischen Union, berücksichtigen und ist damit auch Bestandteil der Entnationalisierung der Sicherheitspolitik.
Frau Kollegin Beer,
gestatten Sie eine Frage des Kollegen Braun?
Nein,
danke.
({0})
Diese Aufgaben sind eingebettet in eine Konzeption
der Gewaltprävention. Dies soll helfen, Gewalt zu verhindern. Prävention kann - das sehen wir gerade im
Kosovo und in Bosnien - auch Konfliktnachsorge sein.
Die Grundsatzentscheidung für diese Reform wurde
vom Kabinett am 14. Juni gefällt. Jetzt kommen die Konkretisierungen.
({1})
Logische Konsequenz der Neuausrichtung und der Reduzierung der Bundeswehr ist die Überprüfung der Standorte und die Schließung von Liegenschaften und Standorten dort, wo sie nicht mehr benötigt werden.
({2})
Wir Grüne werden - das war insbesondere unser Anliegen - diese Standortreduzierung auch als Chance begreifen. Unsere Koalition hat sich dazu bekannt, dass
Konversion auch Bundesaufgabe ist. Was die Reduzierung in den letzten Jahren angeht, so bestätigen heute
nicht wenige Kommunen, dass durch die Förderung von
Konversionsprojekten ein Gewinn für die Region erzielt
werden konnte. Gleiches wollen wir in den nächsten Monaten und Jahren ebenfalls umsetzen.
({3})
Es ist bekannt, verehrte Damen und Herren, dass wir
als Grüne weiter gehen wollten, sogar weiter als die
Weizsäcker-Kommission. Wir haben gesagt, dass wir
keine Aufwuchsfähigkeit von 500 000 Soldaten mehr
brauchen, weil wir in einer entspannten sicherheitspolitischen Situation leben, und dass in Zukunft andere Aufgaben wahrgenommen werden sollten. Wir sind für eine
Freiwilligenarmee. Aber wir sehen, dass eine Reform ein
offener Prozess ist.
({4})
- Ich sage natürlich etwas zur Wehrpflicht. - Wir werden
Ihrem populistischen Antrag heute nicht zustimmen, weil
wir uns darauf geeinigt haben, einen anderen Weg zu gehen.
({5})
Wir werden aber natürlich in Zukunft weiter über die
Frage der Wehrpflicht diskutieren; denn wir haben - das
ist ein Wesentliches, von Ihnen verschwiegenes Element,
Herr Rossmanith - einen Riesenreformschritt getan: Seit
dem 1. Januar 2001 können Frauen freiwillig in allen Bereichen der Bundeswehr ihren Dienst leisten.Wir werden
die Diskussion führen, ob der Zwang für Männer angesichts der Freiwilligkeit für Frauen weiter aufrechtzuerhalten ist.
({6})
Unsere Position ist bekannt, aber das ist doch nicht der aktuelle Streit. Wir werden vielmehr einen Schritt nach dem
anderen gehen, und zwar gemeinsam.
({7})
Die Freiwilligkeit ist unumstritten. Freiwilligkeit ist
das Ziel unserer Gesellschaft.
({8})
Die freiwillige Übernahme von gesellschaftlichen Aufgaben ist das Hauptaugenmerk für die Jugendlichen
heute. Dort werden wir weiter unseren Weg gehen.
({9})
Ich will noch etwas dazu sagen, warum ich auch den
zweiten Antrag von Ihnen ablehne.
({10})
Sie haben sich zwar inzwischen an die WeizsäckerKommission angenähert - das finde ich gut, weil die
Weizsäcker-Kommission nicht ihren Stellenwert im
Entscheidungsprozess des Kabinetts gefunden hat -, aber
Sie wollen mehr Geld. Ich sage Ihnen: Wir haben eine Anschubfinanzierung für die Reform bereitgestellt.
({11})
Wir haben eine Anschubfinanzierung sichergestellt. Mehr
Geld wird es nicht geben. Vielmehr werden wir alle
Bemühungen des Bundesministers unterstützen, mit denen er versucht, Geld effizienter auszugeben, als es die
Bundesregierung bislang unter Herrn Kohl getan hat.
({12})
Ich komme zum Schluss.
({13})
Die Bundeswehr, ihre Angehörigen, die betroffenen
Gemeinden und Regionen stehen vor schwierigen Zeiten.
Das wollen wir hier überhaupt nicht verniedlichen. Gerade vor dem Hintergrund der internen Umwälzungen und
der zukünftigen Aufgaben bitte ich Sie ausdrücklich um
Unterstützung - statt plattem Populismus, wie eben vorgetragen ({14})
und darum, diese Reformen im Interesse aller, auch im Interesse des Parlaments, ernst zu nehmen und die Differenzen, die Sie ja zugestanden bekommen, hier politisch
auszutragen, aber nicht auf dem Rücken der Kommunen
und erst recht nicht auf dem Rücken der Soldaten. Diese
Demagogie sollten Sie beenden; denn sie ist ein Schritt
nach hinten und nicht ein Schritt nach vorne.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat Kollege
Günther Nolting für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Das forsche Plädoyer aus der bürgerlichen Mitte ist
ein wichtiger Impuls für den gärenden Erkenntnisprozess der Gesellschaft, den der mutlose Verteidigungsminister gern unterbinden würde, der sich
aber nicht stoppen lässt:
({0})
Die Wehrpflicht hat ausgedient.
Diese Aussage stammt nicht aus den Reihen der F.D.P.,
sondern aus der „Braunschweiger Zeitung“ vom September letzten Jahres, nach dem Beschluss des F.D.P.-Bundesparteitages zur Aussetzung der Wehrpflicht. Ich
glaube, besser kann man es nicht sagen.
({1})
Denn hier hat sich die F.D.P. bei einem zentralen
Themengebiet erneut an die Spitze eines Prozesses grundlegender, gesellschaftlicher Neuordnung gestellt.
({2})
Wenn ich heute die Kollegin Beer höre, die sich wieder
einmal vollmundig für die Abschaffung der Wehrpflicht
ausspricht, in der Koalition mit der SPD aber ausdrücklich für die Beibehaltung der Wehrpflicht stimmt, so kann
ich das nur als doppelzüngig, als Wählerbetrug, als infam
bezeichnen.
({3})
Es offenbart in aller Deutlichkeit, Frau Kollegin Beer, wie
die Grünen ihre früheren Überzeugungen nur der puren
Macht wegen wieder einmal über Bord werfen.
({4})
Es ist den Grünen vollkommen gleich, wohin die SPD das
Schiff steuert - Hauptsache, sie sind dabei, und sei es als
blinder Passagier.
({5})
Altbundespräsident Herzog stellte bereits vor mehr als
fünf Jahren fest, dass der demokratische Rechtsstaat dem
jungen Mann die Wehrpflicht nur dann auferlegen darf,
wenn es die äußere Sicherheit des Staates wirklich erfordert. Ob dies in der heutigen Zeit noch zutreffend ist,
stellte sein Nachfolger, Bundespräsident Rau, vor wenigen Wochen ebenfalls in Frage.
({6})
Der Herr Wehrbeauftragte hat vor diesem Hohen Haus
nach reiflicher Überlegung die Empfehlung gegeben, die
von Bundesverteidigungsminister Scharping getroffene
Entscheidung zur Beibehaltung der Wehrpflicht einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.
({7})
- Doch, so hat er es gesagt. - Die objektive Analyse zeigt,
dass es für die Bundesrepublik keinen objektiven sicherheitspolitischen Grund mehr gibt, der den gravierenden
Eingriff in die Freiheitsrechte junger Männer in Form der
Wehrpflicht rechtfertigen würde.
({8})
Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht die Armee
erhalten, die wir gewöhnt sind, sondern müssen die Armee aufstellen, die wir benötigen - so formulierte einst
General de Gaulle. Ich denke, dies ist auch heute noch aktuell.
({9})
Wer die Veränderungen in der sicherheitspolitischen Lage
in Europa nicht erkennt, wird Schwierigkeiten haben, die
Bundeswehr für die Erfüllung künftiger Aufgaben fit zu
machen. Wir hinken bereits heute in diesem Bereich hinter den meisten unserer Verbündeten her; und der Abstand
nimmt zu. Ein grundsätzliches Umsteuern angesichts dieAngelika Beer
ses Prozesses schafft aber Rot-Grün gerade auch in der
Wehrpflichtfrage nicht.
Was macht der Herr Verteidigungsminister?
({10})
Herr Scharping betätigte sich lange Zeit als Ankündigungsminister; eine Ankündigung jagte die nächste. Dann
mutierte er zum Bremser der überfälligen Bundeswehrreform und jetzt spielt er die Rolle eines Abwiegelungs- und
Verschleierungsministers. Das wird beim Thema Uranmunition und in der Stationierungsfrage offensichtlich.
({11})
20 000 Wehrpflichtige weniger gibt es allein in diesem
Jahr in der Bundeswehr. Herr Minister Scharping, das ist
die totale Bankrotterklärung Ihrer Bundeswehrreform.
({12})
Das Leerlaufen ganzer Bataillone und Standorte hat nur
einen einzigen Grund. Der Grund ist Ihr Chaoshaushalt,
der schon seit seiner Einbringung in das Parlament nur
zwei Parameter kennt: eine überzogene Ausgabenseite
und eine unseriöse Einnahmenseite.
({13})
Herr Minister, Sie werden bald Ihren finanzpolitischen
Offenbarungseid leisten müssen.
({14})
Nein, meine Damen und Herren, in Deutschland darf die
Frage der Wehrform nicht von der Kassenlage abhängig
gemacht werden. Daher fordern wir Sie auf: Statten Sie
die Bundeswehr mit den finanziellen Mitteln aus, die für
eine wirkliche Reform notwendig sind. Dann kann zum
Beispiel für eine solide Anschubfinanzierung, für eine
wirkliche Attraktivitätssteigerung und für eine auftragsgerechte Ausstattung gesorgt werden.
({15})
Die F.D.P. stellt sich den Herausforderungen der Zukunft an die Streitkräfte. Wir geben ein klares Bekenntnis
zur Aussetzung der Wehrpflicht ab, aber eben nicht zu deren Abschaffung. Gleichzeitig stellen wir uns aber auch
der Verantwortung in punkto Gewinnung geeigneten
Nachwuchses für die Bundeswehr und wollen andere Vorteile der Wehrpflichtarmee beibehalten, die es ja zweifelsohne gibt. Wir sind für eine intelligente Reform der
Bundeswehr, ganz im Sinne der Empfehlungen der
Weizsäcker-Kommission.
({16})
Folgerichtig, Herr Kollege Robbe, plädieren wir für die
Schaffung von 30 000 Haushaltsstellen für Kurzzeitsoldaten mit einer Dienstzeit von 12 bis 24 Monaten, eine angemessene Besoldung und die Option - bei Vorliegen entsprechender Eignung und Leistung -, den Dienst in der
Bundeswehr verlängern zu können.
Eigentlich müsste Ihnen, Herr Kollege Scharping,
schon heute der Angstschweiß auf der Stirn stehen.
({17})
Sie werden nämlich in kurzer Zeit wieder von den Realitäten eingeholt werden, die Sie heute noch beharrlich
leugnen, gerade so wie bereits bei dem Thema „Frauen in
den Streitkräften“.
({18})
Denn auch in der Frage der Wehrgerechtigkeit wird der
politische Kurs der rot-grünen Bundesregierung wieder
einmal durch eine Gerichtsentscheidung bestimmt werden, nicht durch eine auf sachgerechter Analyse der Fakten beruhende politische Entscheidung, wie sie auch der
Herr Bundespräsident angemahnt hat. Das stellt Ihrer rotgrünen Politik ein Armutszeugnis aus.
({19})
Die Wehrpflicht ist nicht nur sicherheitspolitisch nicht
mehr geboten, sie ist auch in höchstem Maße ungerecht.
({20})
Nach dem Modell der rot-grünen Bundesregierung werden in Zukunft nur wenig mehr als 20 Prozent der jungen
Männer zum Wehrdienst und gut 30 Prozent zum Zivildienst, also dem Ersatzdienst, herangezogen werden.
Über 40 Prozent hingegen werden überhaupt keinen
Pflichtdienst für den Staat leisten müssen. Dass in Zukunft der Ersatzdienst die Wehrpflicht legitimiert, kann
nicht richtig sein. Dies geht an der Verfassungsrealität
vorbei.
({21})
Meine Damen und Herren, die Bundeswehr eignet sich
wahrlich nicht als Experimentierfeld.
({22})
Herr Minister, ich fordere Sie auf: Schaffen Sie hier Klarheit und stürzen Sie die Bundeswehr nicht in kurzer Zeit
erneut in eine Struktur- und Organisationsdiskussion.
Auf den Punkt gebracht: Die Bundeswehr muss dringend reformiert werden. Dazu bedarf es einer ausreichenden Anschubfinanzierung, einer dauerhaften Erhöhung
des Wehretats um 2 Milliarden DM, eines Programmgesetzes und ganz zweifelsfrei der Aussetzung der Wehrpflicht. Wir haben heute entsprechende Anträge gestellt.
Ich bitte Sie um Zustimmung.
({23})
Herr Minister, Sie haben uns am gestrigen Tage angeschrieben. Ich habe dieses Schreiben zur zukünftigen
Stationierung zur Kenntnis genommen. Sie sprechen
darin von einer Auflistung der Kriterien. Diese sind zwar
im Ausschuss vorgetragen worden, schriftlich haben wir
sie jedoch noch nicht erhalten. Wir wissen auch nicht,
welche Vorstellungen Sie haben. Insofern habe ich Ihr
Schreiben mit Verwunderung aufgenommen. Offensichtlich wollen Sie jetzt in allerkürzester Zeit das Parlament doch noch beteiligen. Sie setzen uns eine Frist von
wenigen Tagen, nämlich bis zum 24. Januar. Ich habe Sie
schon vor der Einsetzung der Weizsäcker-Kommission
aufgefordert, das Parlament zu beteiligen. Das haben Sie
abgelehnt.
({24})
Sie haben das Parlament auch an der Grobplanung nicht
beteiligt und an der gegenwärtigen Feinplanung beteiligen Sie das Parlament ebenfalls nicht.
({25})
Sie haben Ihre Entscheidungen zum Teil zuerst den Medienvertretern vorgestellt und nicht dem Parlament. Insofern können Sie von uns nicht erwarten, dass wir uns in
dieser kritischen Stationierungsfrage, die Sie als Regierung allein zu entscheiden haben, sozusagen einkaufen
lassen. Dieses Spiel werden wir nicht mitmachen.
({26})
Herr Kollege Nolting,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Nicht das Parlament regiert, sondern es kontrolliert die Regierung. Dieser Kontrolle werden wir auch in Zukunft nachkommen.
Vielen Dank.
({0})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Heidi Lippmann
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Nolting hat gerade auf das
undemokratische Verfahren hingewiesen. Ich kann sagen: Die drei Anträge aus den Oppositionsparteien, die hier
vorliegen, haben eine Gemeinsamkeit.
({0})
Sie sind nämlich alle drei Ausdruck dieses undemokratischen und unparlamentarischen Verfahrens vonseiten der
Regierung im Umgang mit der Bundeswehrreform. Zwischen den Anträgen von F.D.P. und PDS gibt es sogar
noch eine inhaltliche Übereinstimmung, denn beide fordern die Abschaffung bzw. Aussetzung der Wehrpflicht.
Doch das war es dann auch schon an Gemeinsamkeiten. Denn im Gegensatz zu der großen Militärkoalition
hier im Haus lehnen wir den Umbau der Bundeswehr zur
schnellen Eingreiftruppe entschieden ab, und zwar nicht
nur deshalb, weil die neuen Einsatzoptionen unseres Erachtens verfassungswidrig sind, sondern weil wir Friedenssicherung und Friedenserzwingung mit militärischen
Mitteln ablehnen.
Wirksame Sicherheitsvorsorge kann Deutschland nur
mit präventiver Politik betreiben. „Präventiv“ meinen wir
nicht im militärischen Sinne. Vielmehr sollen ressortübergreifende Lösungsansätze zur Beseitigung von Konfliktursachen gesucht werden. Die Ursachen für Konflikte, wie zum
Beispiel Armut, Hunger, unerträgliche soziale Gegensätze,
Ressourcenknappheit, Umweltdegradation und eine Weltwirtschaftsordnung, die einseitig auf die Industriestaaten ausgerichtet ist, sind mit militärischen Mitteln nicht zu beseitigen. Diesen Ursachen kann man nur begegnen, indem
sich Europa und auch die Bundesrepublik Deutschland
für Gewaltverzicht, für gemeinsame Sicherheit ohne militärische Mittel, für einen friedlichen Interessenausgleich
und für eine Weltordnung einsetzen, in der alle Seiten auf
Hegemonieansprüche verzichten. Das erreicht man weder
durch den Aufbau einer europäischen Eingreiftruppe noch
durch die Stärkung der Rolle der NATO zur Durchsetzung
wirtschaftlicher und geostrategischer Interessen. Man erreicht es auch nicht durch Rüstungsexporte. Diese tragen
ganz im Gegenteil zu einer Verschärfung der Situation
bei.
Wir haben Ihnen deshalb einen Antrag vorgelegt, in
dem wir Sie auffordern, die Umwandlung der Bundeswehr zu einer hochmobilen, über weite Entfernungen einsetzbaren Interventionsarmee zu stoppen und die künftige
Ausrichtung strikt auf die im Grundgesetz festgelegten
originären Aufgaben zu beschränken. Angesichts der sicherheitspolitischen Lage der Bundesrepublik, die noch
nie so günstig war, ist der Verzicht auf jegliche militärischen Mittel eine langfristige Option, für die wir uns einsetzen. Dass das nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen ist, ist uns allen klar. Deshalb sprechen wir uns
für einen schrittweisen und sozialverträglichen Abbau
des Personalbestandes der Bundeswehr auf vorerst
100 000 Soldaten aus, die - das ist ganz besonders wichtig - strukturell nicht angriffsfähig sind.
Bisher von der Bundeswehr übernommene Aufgaben
müssen auf zivile Strukturen übertragen werden, so zum
Beispiel im Bereich der humanitären Hilfe und des Katastrophenschutzes durch die Einrichtung eines „Green
Corps“ und durch die Stärkung ziviler Friedensmissionen.
Um dies sozialverträglich zu gestalten, ist die Einrichtung
eines Amtes für Konversion und für Abrüstung dringend erforderlich; denn jede Standortschließung macht
deutlich - das kann man auch der aktuellen Debatte entnehmen -, dass mangelnde Konversionsplanung den Regionen großen Schaden zufügt.
Natürlich setzen wir uns auch - ebenso wie neuerdings
die F.D.P. ({1})
für die Abschaffung der Wehrpflicht ein. Die Wehrpflicht oder der ersatzweise Zivildienst sind nicht nur aus
sicherheitspolitischen Gründen Relikte aus Zeiten des
Kalten Krieges, sondern auch ohne jeglichen demokratischen Wert. Spätestens bei der Grundgesetzänderung,
durch die den Frauen der Dienst an der Waffe ermöglicht
wurde, hätte man die Wehrpflicht abschaffen oder zumindest aussetzen müssen. Dieses Versäumnis muss dringend
beseitigt werden. Wenn nämlich junge Männer nach wie
vor gezwungen werden, einen Zwangsdienst zu verrichten, entspricht dies nicht dem Gleichheitsgrundsatz. Es ist
vielmehr undemokratisch und diskriminierend.
Halten Sie nicht länger - Herr Nolting hat es schon gesagt - aus sozialpolitischen Gründen an der Wehrpflicht
fest, weil Sie die Zivildienstleistenden brauchen, sondern
schaffen Sie endlich die dringend erforderlichen dauerhaften Arbeitsplätze, damit die bisherige Arbeit der Zivildienstleistenden erledigt werden kann!
({2})
Lassen Sie mich noch einmal auf die Debatte zurückkommen, die wir gestern hier geführt haben. Diese zeigt,
wie dringend erforderlich eine fundierte Auswertung des
grundgesetz- und völkerrechtswidrigen NATO-Angriffskrieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ist, nicht
nur, was den Einsatz von Munition und Waffensystemen
betrifft, sondern insbesondere auch hinsichtlich der Ursachen. Das Fazit, das Sie alle hier im Hause aus diesem
Krieg gezogen haben, entspricht ausschließlich militärischem Denken und zieht sich wie ein roter Faden auch
durch die Debatte über den Bundeswehrumbau. Es geht
Ihnen nicht darum, eine umfassende Ursachen- und Fehleranalyse zu betreiben, sondern lediglich darum, die militärischen Defizite für künftige Einsätze auszugleichen.
Das ist nicht nur ein falscher, sondern auch - abgesehen
von den unzähligen Milliarden DM, die dieser Weg kosten wird - ein gefährlicher und ein tödlicher Weg.
Lassen Sie uns endlich über die Ursachen und Fehler
reden, zum Beispiel über die Interpretation der Ereignisse
von Racak, die von Ihnen allen ohne fundiertes Hintergrundwissen innerhalb von wenigen Stunden zum Massaker erklärt wurden und so letztendlich neben anderen Faktoren zum Auslöser des NATO-Angriffes wurden! Legen
Sie dem Parlament und der Öffentlichkeit umgehend eine
Analyse und Bilanz vor, die vielleicht einen kleinen
Hauch von Selbstkritik und etwas weniger Selbstherrlichkeit enthält, Herr Minister Scharping! Machen Sie endlich
Schluss damit, mit den Wählern und den Medien wie mit
kleinen Kindern umzugehen, wie die „FAZ“ gestern
schrieb.
Die deutsche Beteiligung an dem NATO-Angriffskrieg
war damals nicht humanitär und sie ist auch heute nicht
humanitär.
Frau Kollegin Lippmann,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Mein letzter Satz. - Kommen Sie endlich zur Vernunft! Statt militärischer Optionen und qualitativer Aufrüstung brauchen wir den
Ausbau ziviler Instrumente zur Konfliktlösung und -vermeidung.
({0})
Der nächste Redner ist
der Kollege Manfred Opel für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft der
Bundeswehr ist zugleich die Zukunft unserer Sicherheit.
Weil dies so ist, hätte ich - nicht nur ich, sondern sicherlich auch die Bundeswehr, die Bürgerinnen und Bürger,
die Gemeinden, die Sie angesprochen haben - erwartet,
dass hier ein großer visionärer Wurf vor uns ausgebreitet
wird, wie denn die Opposition alles anders, alles besser
machen würde als die Bundesregierung. Was ich gehört
habe, waren nur Verunsicherung, Kritikasterei, Kleinkrämerei, aber überhaupt nichts von einem eigenen Konzept.
({0})
- Herr Nolting, ich bin sehr gerne bereit, auf Sie persönlich einzugehen, weil Sie hier Ihre Fraktion vertreten haben.
({1})
Sie haben den Antrag der CDU/CSU mit keinem Wort erwähnt.
({2})
Sie haben nicht erwähnt, dass Sie diesen Antrag im Verteidigungsausschuss abgelehnt haben. Stattdessen machen Sie uns glauben, Sie würden mit der CDU/CSU
übereinstimmen. Das tun Sie aber gar nicht.
({3})
Dann haben Sie die „Braunschweiger Zeitung“ zitiert
und so getan, als sei das ein Zitat, auf dem Sie sich ausruhen können. Ich möchte in aller Bescheidenheit daran erinnern, dass Sie, verehrter Herr Nolting, auf jenem Parteitag, den Sie zitiert haben, gegen den Antrag, den Sie
hier verteidigen, gestimmt haben.
({4})
Sie waren immer für die Wehrpflicht und nicht dagegen.
Heute tun Sie so, als seien Sie der Vormann der Gegner
der Wehrpflicht gewesen. Aber das ist nicht der Fall.
({5})
Das weiß die Bundeswehr und das wissen wir.
Das ist keine Politik; so sollten wir alle uns in diesem Parlament nicht bewegen. Sie sollten sich zu dem
bekennen, was Sie immer gesagt haben, und nicht so tun,
als seien Sie schon immer der Vorreiter einer ganz anderen Politik gewesen; denn diese haben Sie selbst jahrelang
nicht mitgetragen.
({6})
Hier wird so getan, als sei diese Bundesregierung der
Innovation in der Bundeswehr nicht zugeneigt. Genau das
Gegenteil ist der Fall. Ich erinnere daran, dass jahrelang
versucht wurde, so etwas wie eine Streitkräftebasis herauszuarbeiten. Es wurde versucht, das zusammenzufassen, was den Friedensauftrag der Bundeswehr ausmacht.
Diese Bundesregierung hat es in kurzer Zeit geschafft, einen eigenen Inspekteur der Streitkräftebasis zu schaffen
und dadurch die Streitkräfte zu entlasten. Jahrelang haben
der Bundeswehr-Verband und wir gefordert, man solle einen eigenen Schüleretat einführen, um die Truppe zu entlasten. Genau dies hat der Minister in seinem berühmten
Eckpfeilerpapier gemacht und das ist richtig so. Er hat
auch ein Controlling eingeführt, das wir jahrelang gefordert haben; Sie haben das nicht getan. Außerdem hat er
einen so genannten IT-Direktor, einen Direktor für Informationstechnologie, eingesetzt, damit die vielen Hunderte Insellösungen, die in Ihre Verantwortung fallen,
endlich überwunden werden können.
Das zeigt, dass diese Bundesregierung gehandelt hat.
Sie ist weitergegangen und hat sich nicht darum geschert,
was es um sie herum an Verunsicherung gab.
Da der Kollege Rossmanith hier so getan hat, als sei
diese Bundesregierung nicht in der Lage, den Bundeswehretat zu finanzieren,
({7})
möchte ich daran erinnern, dass ein Finanzminister aus Ihrer Partei im Verteidigungsetat einfach gestrichen hat.
({8})
Er hat Haushaltssicherungsgesetze gemacht. Ich weiß,
wie Herr Breuer damals Sturm dagegen gelaufen ist. Sie
sind auch dagegen Sturm gelaufen, den Umfang der Bundeswehr von 370 000 auf 340 000 zu reduzieren. Und was
ist passiert? Kein Mensch hat auf Sie gehört. Rühe und
Waigel haben gemacht, was sie wollten, und haben auf die
Sicherheitspolitiker der Union überhaupt nicht gehört.
({9})
Sie haben einige Befürchtungen geäußert, die schlicht
und einfach nicht wahr sind.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rossmanith?
Mit größtem Vergnügen, Frau
Präsidentin!
Lieber Kollege
Opel, sind Sie bereit, die Zahlen, die ich Ihnen jetzt nennen werde, auch entsprechend zu bestätigen, weil es halt
die Fakten sind und sie bereits die Ist-Ergebnisse darstellen? Der Verteidigungshaushalt lag im Jahre 1996 bei
47,2 Milliarden DM, der Haushalt 2000 bei 45,3 Milliarden DM, und der Haushalt für das Jahr 2001 liegt derzeit
bei 46,8 Milliarden DM. Hier sind aber bereits die 2 Milliarden DM für den Bosnien- und den Kosovo-Einsatz aus
dem Einzelplan 60 eingeflossen.
Herr Kollege Rossmanith, ich
bin bereit, Ihnen zu bestätigen, dass Sie einen Schuldenberg von 1 504 Milliarden DM hinterlassen haben, der im
Haushalt 2000 82 Milliarden DM Zinsen, also einen
Schuldendienst bedeutet, der fast doppelt so hoch ist wie
der Verteidigungshaushalt, sodass wir für Zinsen bezahlen müssen und nicht für das bezahlen können, was wir eigentlich wollen, für unsere Bundeswehr. Das kann ich Ihnen gern bestätigen.
({0})
Herr Kollege Opel, es
gibt eine zweite Frage des Kollegen Rossmanith.
Gern, wenn sie von der gleichen Qualität ist.
Herr Kollege
Opel, ist Ihnen bekannt, dass im Jahre 1990 unser Land
mit großer Dankbarkeit die Wiedervereinigung erlangt hat
und dass daher enorme Kosten, jährlich bis zu 150 Milliarden DM Nettotransfers in die neuen Bundesländer,
übernommen werden mussten,
({0})
um die Hinterlassenschaften des real existierenden Sozialismus nach und nach zu beseitigen?
Herr Kollege, Sie wissen ganz
genau, dass mir das sehr nahe ist und dass mir das bewusst
ist.
({0})
Nur, Herr Kollege, Sie wissen, dass wir einen Solidaritätszuschlag erhoben haben und dass dies nicht die Bundesregierung, sondern die Bürgerinnen und Bürger dieses
Landes bezahlen. Ihre Darstellung ist schlicht und einfach
falsch. Schon vor 1990 sind Sie in den Schuldenstaat gegangen und danach taten Sie es auch. Dazu sollten Sie
sich bekennen, das wäre wenigstens ehrlich.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
die Gleichgewichtigkeit von Streitkräften und Verwaltung
in der Bundeswehr zu beachten. Wenn wir von BundesManfred Opel
wehr sprechen, sprechen wir von beidem. Wir sprechen
von der Gesamtbundeswehr und auch von der Peripherie,
von den Gemeinden.
Der Minister ist kritisiert worden, weil er gestern genau das machte, was Sie immer gefordert haben. Er hat
Ihnen die Chance gegeben, Herr Nolting, zu einem Kriterienkatalog beizutragen. Diesen Kriterienkatalog müssen Sie doch kennen. Sie brauchen nur die Protokolle des
Verteidigungsausschusses zu lesen, dann wissen Sie das.
Auf der einen Seite tun Sie so, als würde der Minister Sie
nicht teilhaben lassen. Aber auf der anderen Seite lehnen
Sie es ab mitzuwirken, wenn er Sie teilhaben lässt.
({2})
Sie können doch nicht so tun, als hätte die Bundeswehrreform Sie überfallen. Sie haben das WeizsäckerGutachten, das Eckwertepapier, das Eckpfeilerpapier, Sie
haben alle Daten. Tragen Sie endlich dazu bei, seien Sie
konstruktiv! Ich bemerke, dass Sie destruktiv sind. Dies
bedauere ich sehr. Das hat die Bundeswehr nicht verdient,
Herr Nolting.
({3}))
Ich möchte Sie daran erinnern, dass diese Bundeswehr einen völlig neuen Auftrag hat. Frau Lippmann - Sie ist leider
jetzt nicht da -, diese Bundeswehr ist keine Interventionsarmee. Die Bundeswehr hat den neuen Schwerpunkt Bündnisverteidigung. Wir waren über Jahre Sicherheitsempfänger.
Jetzt haben wir die Möglichkeit, Sicherheitsgeber zu sein.
Dies bedeutet, dass wir die gesamte Bundeswehr umstrukturieren müssen. Von einer Interventionsarmee zu reden ist
daher gänzlich falsch.
({4})
Herr Kollege, es gibt
eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting.
Mit dem größten Vergnügen,
Frau Präsidentin.
Herr Kollege
Opel, ist Ihnen bekannt, dass es eine Weizsäcker-Kommission gegeben hat, in der aktive Politiker nicht mitgearbeitet haben und - aus der Sicht des Ministers - gar
nicht mitarbeiten sollten?
({0})
Ist Ihnen bekannt, dass das Parlament, als es um die Grobplanung ging, nicht in die Planung einbezogen wurde? Ist
Ihnen bekannt, dass bei der Feinausplanung, die stattfand,
das Parlament wieder nicht beteiligt wurde,
({1})
dass bei den Standortentscheidungen des Ministers das
Parlament im Vorfeld nicht beteiligt wurde und dass uns
jetzt eine Frist von wenigen Tagen gesetzt wurde, in der
wir uns beteiligen sollen? Wir werden damit unter erheblichen Druck gesetzt und sollen offenbar eingekauft werden. Ist Ihnen das alles bekannt?
Herr Kollege Nolting, es gibt
verantwortliches Regierungshandeln. Dafür haben wir
eine Regierung. Ich bin dankbar, dass diese Regierung
ihre Verantwortung wahrgenommen hat.
Jetzt aber zu dem Punkt „Beteiligung des Parlamentes“. Wir haben in der Opposition jahrelang eine parlamentarische Wehrstrukturkommission gefordert. Sie
haben diese immer abgelehnt. Das ist die ganze Wahrheit.
({0})
Herr Kollege Opel, es
gibt eine Frage der Kollegin Lippmann.
Ich verweise darauf, dass dies die letzte Frage ist, die
ich bei diesem Redner zulasse. Es ist bereits 13.30 Uhr
und wir haben noch zwei weitere Tagesordnungspunkte.
Frau Kollegin Lippmann, bitte.
Herr Kollege Opel, Sie haben mich gerade direkt angesprochen und darauf hingewiesen, dass wir nicht länger Sicherheitsnehmer, sondern
Sicherheitsgeber seien. Ich frage Sie in Anbetracht der
gestrigen Debatte, die wir geführt haben, ganz konkret:
Wem geben wir welche Sicherheit und vor allem in welcher Form? Haben wir den Menschen, die Sie damals in
Jugoslawien bombardiert haben, Sicherheit gegeben?
({0})
Halten Sie nach wie vor an der Interpretation des „humanitären Krieges“ fest? Ist das Sicherheit, die wir
geben? Geben wir durch die derzeitigen Planungen den
Soldaten und vor allem ihren Familien Sicherheit? In
welcher Form garantieren wir diese Sicherheit?
Sind Sie nicht vielmehr der Auffassung, dass wir durch
Krisenprävention und mit nicht militärischen Mitteln
Sicherheit geben müssten,
({1})
wozu der Umbau der Bundeswehr und ihr Engagement in
der WEU und der NATO sicherlich nicht gehören?
Verehrte Frau Lippmann, eines
ist richtig: Die Krisenprävention - einschließlich nicht
militärischer Mittel - ist vordringlich. Wir wollen den
Frieden ohne den Einsatz von Militär.
Aber ich muss Ihnen auch sagen: Wir leben in Sicherheit. Wir erkennen den Wert der Sicherheit nicht, so lange
sie vorhanden ist. Wir spüren diesen ihren Wert erst, wenn
sie gefährdet oder nicht mehr vorhanden ist. Diese Sicherheit haben wir durch unsere Bundeswehr und vor allem
aufgrund unserer Alliierten lange Zeit bewahrt.
Sowohl Art. 5 des NATO-Vertrages wie auch des
WEU-Vertrages legt fest, dass wir uns gegenseitig beistehen. Lange genug haben uns die Alliierten beigestanden.
Wir wollen in Zukunft den Alliierten beistehen, vor allem
in der vergrößerten NATO. Das ist unsere Aufgabe. Das
heißt, dass wir in Zukunft Sicherheitsgeber sein werden.
Das bedeutet, dass wir die Bundeswehr umstrukturieren
müssen.
({0})
Wir haben weiter eine völlig neue Operationsführung.
Wir haben sie deswegen, weil das Gefecht schneller
geworden ist. Bei jedem Wetter und zu jeder Tageszeit
muss man einsatzbereit sein. Dies bedeutet eine völlig
neue Führung in den Streitkräften. Mit unseren Streitkräften müssen wir uns weiterentwickeln. Das hat auch
Auswirkungen auf die Struktur und die Stationierung.
Wir haben auch eine neue Technologie, die mehr Präzision, mehr Datenverarbeitung und eine verbesserte Einsatzfähigkeit nach sich zieht. Dies bedingt eine neue
Struktur. Eine neue Struktur hat zwangsläufig eine neue
Stationierung zur Folge. Es ist völlig egal, wie groß die
Geldmittel für die Bundeswehr sind. Jeder in der politischen Verantwortung hätte eine Umstrukturierung
vornehmen müssen. Es gehört eben auch zur Wahrheit,
dass man sich dazu bekennt. Und es gehört zur Zukunft
der Bundeswehr, dass man dies tut.
Wir alle gemeinsam - die Gemeinden, die Soldaten, die
Bundeswehrangehörigen in Zivil und vor allen Dingen
wir in diesem Hohen Hause - müssen diese Umstrukturierung mittragen. Wir müssen zur Sicherheit der Bundeswehrangehörigen und ihrer Familien und nicht zu ihrer
Verunsicherung beitragen. Das ist unsere Aufgabe, die im
Zentrum dessen steht, was von der Politik erwartet wird.
({1})
- Verehrter Herr Breuer, mit Ihrem Zwischenruf machen
Sie genau das Gegenteil. Wir versuchen dadurch, dass wir
eine klare Zeitvorgabe für unsere Entscheidung haben,
klarzumachen
({2})
- lassen Sie mich doch einfach ausreden -, dass wir eine
mit den Gemeinden und Ländern abgestimmte Politik
wollen. Der Minister hat mit dem Ministerpräsidenten
gesprochen. Er hat Ihnen alles das dargestellt, was auf der
Tagesordnung steht.
({3})
- Sie mögen es nicht wahrgenommen haben. Aber das ist
Ihr Problem. Alle anderen, zum Beispiel die Soldaten,
haben es wahrgenommen.
({4})
Wenn man mit Kommandeuren und Soldaten spricht,
dann sagen diese, dass sie Ihre Verunsicherungskampagne
überhaupt nicht verstehen. Sie haben zur Bundesregierung und zum Verteidigungsminister Vertrauen.
Unbeschadet dessen, welche Klänge man heute aus
dem Bundeswehr-Verband hört - dies bedauere ich ausdrücklich; ich bin seit 1958 Mitglied dieses Verbandes
und habe solche Klänge noch nie gehört -,
({5})
wird die Bundeswehr die Zukunft gewinnen. Wir werden
die Zukunft der Bundeswehr garantieren und damit die
Sicherheit unseres Landes.
Vielen Dank.
({6})
Der nächste Redner
für die CDU/CSU ist der Kollege Thomas Kossendey.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit meinem
Beitrag auf zwei Aspekte eingehen, die heute noch gar
nicht erwähnt worden sind: die Situation der Zivilbediensteten und die Kooperation der Bundeswehr mit der Wirtschaft.
Lassen Sie mich zu Anfang feststellen, Herr Minister:
Was das Ziel angeht, stimmen wir mit Ihnen überein. Wir
wollen mehr als früher - das haben wir seit Beginn der
90er-Jahre deutlich gemacht - den Sachverstand der
Wirtschaft in die Bundeswehr hineintragen und wir
wollen die Auftragserfüllung der Bundeswehr durch die
öffentliche Hand auf das sachlich und rechtlich
notwendige Maß beschränken. Sosehr wir uns aber in
diesen Zielen einig sein mögen, so sehr haben wir Zweifel
angesichts des Weges, den Sie in diesem Zusammenhang
eingeschlagen haben. Lassen Sie mich das an drei Problemkreisen verdeutlichen.
Zunächst zum Stichwort Zivilbedienstete. Unseres Erachtens haben Sie sich - unklugerweise - unter einen
Zeitdruck gesetzt, der Sie geradezu zwingt, Fehler zu
machen, Enttäuschungen zu provozieren und Verunsicherung zu schaffen. Wer in den nächsten Jahren über
40 000 Zivilbedienstete einsparen will, der gerät schnell
in die Situation, dass er einsparen muss, koste es, was es
wolle. Dies trifft umso mehr zu, als die einzusparende
Zahl der Zivilbediensteten nicht das Ergebnis einer Planung ist, sondern letztendlich eher einer Vorgabe des Finanzministers folgt.
Sie sagen im Hinblick auf die Zivilbediensteten zum
Beispiel: Eine so weit gehende Arbeitsplatzgarantie, wie
ich sie ihnen gebe, haben sie noch nie gehabt. Was die
Vertreter der Gewerkschaften bei den jetzt stattfindenden
Tarifverhandlungen allerdings erleben, ist, dass das politische Versprechen, das Sie gegeben haben, von Ihren
Vertretern in den Tarifkommissionen nicht akzeptiert
wird. Sie haben im Gegenteil in den ersten Besprechungen mit den Tarifpartnern deutlich gemacht, dass das Innenministerium einer Arbeitsplatzgarantie, wie sie die
Bediensteten erwarten, nie zustimmen wird. Das muss die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Bundeswehr
verunsichern.
Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass es sich bei
diesen Mitarbeitern nicht um Kostenstellen mit zwei
Ohren handelt, sondern um Menschen, die zusammen mit
ihren Familien in Sorge sind um ihren Arbeitsplatz.
({0})
Wenn diese spüren, dass über sie nur verfügt wird, statt
dass mit ihnen gesprochen wird, dann lähmt das die Motivation.
({1})
Wenn Sie darüber hinaus keine Gelegenheit ungenutzt
lassen, die Leistung dieser Mitarbeiter in ein falsches
Licht zu rücken bzw. sie manchmal sogar der Lächerlichkeit auszusetzen, muss das demotivierend wirken. Ich
will Ihnen dafür ein Beispiel nennen. Auf der Kommandeurtagung haben Sie, Herr Minister Scharping, gesagt
- ich zitiere wörtlich -:
Kürzlich erzählten mir Menschen,
- natürlich anonym ich solle mir mal die WBV in München etwas
genauer angucken. Das habe ich dann getan. Da arbeiten etwas über 900 Menschen auf deutlich über
80 000 qm Büroflächen. Das ist unwirtschaftlich.
Und auch das ist nur ein Beispiel für manches andere,
das ich erwähnen könnte.
Tatsache ist: Das Bundeswehrverwaltungszentrum
in München hat eine Gebäudenutzfläche von circa
88 000 Quadratmetern. Sämtliche überbauten Flächen, also
Büros, Flure, Keller, Toiletten und Wirtschaftsräume, sind
darin enthalten. In diesem Bundeswehrverwaltungszentrum arbeiten außer der Wehrbereichsverwaltung noch
zehn weitere Dienststellen: die Standortverwaltung, das
Kreiswehrersatzamt, das Rechenzentrum, die MAD-Stelle,
das Truppendienstgericht usw. Die Wehrbereichsverwaltung VI hat für sich allein eine Hauptnutzfläche von
15 000 Quadratmetern, was bei 900 Bediensteten genau
den Vorgaben entspricht, die Ihr Ministerkollege in dem
dafür zuständigen Ressort vorgegeben hat.
({2})
Ich finde, wer auf diese Art und Weise über die Zivilbediensteten spricht, macht sich nicht unbedingt verdient
um sie. Lassen Sie doch diese rhetorischen Taschenspielertricks. Sie helfen Ihnen und uns nicht und sie verunsichern die Menschen.
({3})
Besser wäre es, Herr Minister, Sie würden die
Beispiele ernst nehmen, die gezeigt haben, dass man Geld
und Personal sparen kann, wenn man intern optimiert und
investiert, und zwar entsprechend dem Grundsatz, den
Richard von Weizsäcker in seinem viel zitierten Bericht
angeführt hat: Sparen kostet. So ist zum Beispiel in der
Standortverwaltung in Schwanewede 1994 unter Volker
Rühe ein Optimierungsmodell ins Werk gesetzt worden,
das den Bediensteten die Möglichkeit gegeben hat, nach
einer Investition von 2,3 Millionen DM selber zu sparen.
Nachdem diese Investition getätigt worden ist, wird in
dieser Standortverwaltung jedes Jahr ein Betrag von
ungefähr 2,4 Millionen DM eingespart. Das zeigt sehr
deutlich, wie wichtig es ist, zunächst eine Anschubfinanzierung zu geben, wenn man sparen will. Für eine
solche Anschubfinanzierung ist in Ihrem Haushalt aber
weniger Geld vorgesehen, als notwendig wäre. Letztendlich spüren die Menschen, dass Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen. Und das verunsichert.
Genauso verhält es sich bei der Kooperation mit der
Wirtschaft. Es haben zwei große Festveranstaltungen
stattgefunden. Der Kanzler und Sie haben sich im Rampenlicht zusammen mit der deutschen Industrie gesonnt das ist für Sozialdemokraten zugegebenermaßen ein fantastisches Erlebnis. Solche Veranstaltungen helfen allerdings der deutschen Wirtschaft nicht in dem Maße, wie sie
es erhofft hat. Es sind Kooperationsverträge unterschrieben worden; Sie sagen, es hätten über 600 Firmen
unterschrieben. Wenn man aber fragt, was diese Firmen
konkret von diesen Verträgen haben, wird uns mitgeteilt,
vielleicht zwei Dutzend dieser Firmen hätten Verträge mit
der Bundeswehr geschlossen.
({4})
In den Bereichen, in denen Sie Möglichkeiten einer alternativen Finanzierung hätten - Sie persönlich haben
vielleicht keine Berührungsängste -, ist Ihr Ministerium
noch zu sehr im alten Denken verhaftet, um die Chancen,
die es dort gibt, wirklich zu nutzen. Ich will als Beispiele
nur das Wehrforschungsschiff und den Aufklärungssatelliten nennen.
({5})
- Verehrter Herr Kollege Zumkley, Ihr Zwischenruf ist
nicht von der Qualität, wie ich es von Ihren sonstigen
Beiträgen kenne. Streichen Sie ihn einfach wieder!
({6})
Es wird häufig eingewandt, das Grundgesetz stünde
einer Privatisierung entgegen. Herr Minister, Sie wollten
eine Gesellschaft gründen, die dazu in der Lage ist, die
Bundeswehr nach privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten aufzumöbeln. Ich glaube, diese Gesellschaft wäre
besser erst gegründet worden, nachdem Sie mit dem
Sachverstand Ihres Hauses den rechtlichen Rahmen
abgesteckt hätten. Im Augenblick ist Frau FugmannHeesing, die ich als kompetente Geschäftsführerin dieser
Gesellschaft schätze, dabei, den rechtlichen Rahmen, in
dem sie arbeiten kann, selbst auszuloten. Das kann nicht
in Ordnung sein. Sie sollten den Sachverstand Ihres
Hauses und der nachgeordneten Behörden viel intensiver
nutzen, als das in der Vergangenheit geschehen ist.
Im Zusammenhang mit dem Beispiel GEBB bitte ich
Sie zu überlegen: Sie wollen, dass Ihnen die GEBB durch
Grundstücksverkäufe in diesem Jahr einen Betrag von
nahezu 1 Milliarde DM für den Haushalt erwirtschaftet.
Ohne dieses Geld wäre der Spielraum für Investitionen
sehr klein. Sind denn die Grundstücke, die verkauft werden sollen, schon identifiziert? Sind sie schon einmal bewertet worden? Wer aus den Kreisen der deutschen Industrie oder der deutschen Makler solche Grundstücke
kaufen will, wird klugerweise bis zum Jahresende warten,
weil dann Ihre finanzielle Situation immer prekärer wird
und möglicherweise eine Situation eintritt, in der über den
Preis noch verhandelt werden kann.
Manches von dem, was Sie angefangen haben, ist
schön und richtig gedacht, in manchen Fällen haben Sie
nur Ansätze weitergedacht, die schon vorhanden waren.
Die Wege sind mir allerdings noch viel zu verschlungen,
um wirklich erfolgreich zum Ziel zu führen. Herr Minister, ich sage Ihnen sehr deutlich: Wir bieten Ihnen ausdrücklich an, an diesem Thema gemeinsam weiterzuarbeiten. Es ist ein viel zu wichtiges Thema, mit dem
Weichen für die Zukunft der Bundeswehr gestellt werden,
als dass wir es nur einer Partei dieses Hauses überlassen
sollten. Sie müssen sich aber ernsthaft bemühen, die Pläne
ins Werk zu setzen.
Ich nenne Ihnen als Beispiel nur das Marinearsenal in
Wilhelmshaven. Hier könnten wir den Dreiklang von Industrie, militärischen und zivilen Mitarbeitern ganz prima
durchexerzieren. Im Arsenal ist eine Menge an Vorleistungen erbracht worden; die Strukturen sind flacher geworden, es sind nahezu die Hälfte der ursprünglichen Dienstposten eingespart worden. Es bietet sich für eine intensive
und verbesserte Kooperation mit der Wirtschaft an. Wir
sollten einmal gemeinsam im Ausschuss erörtern, wie wir
vor dem Hintergrund dieses Beispiels die Kooperation
zwischen Bundeswehr und Wirtschaft erfolgreich praktizieren können.
Zum Schluss eine persönliche Bemerkung: Diese
schwierige Arbeit für die Bundeswehr, für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im zivilen und militärischen
Bereich, erfordert in den kommenden Jahren die ungeteilte Aufmerksamkeit des Ministers. Die Menschen in
der Bundeswehr werden große Belastungen auf sich
nehmen müssen; manche Karriereplanung wird jäh unterbrochen und mancher Lebenslauf wird sich nicht so realisieren lassen, wie er geplant war. Ich glaube, es ist nicht
gerade sehr motivierend, wenn die betroffenen Menschen,
die in schwierigen Situationen stecken, im Fernsehen hören, dass Sie in den letzten Monaten gelernt haben, eine
Akte auch einmal etwas früher aus der Hand zu legen.
Nein, diese Menschen müssen das Gefühl haben, dass Sie
das Heft fest in der Hand haben und dass Ihre politische
Aufmerksamkeit ungeteilt den Sorgen und Problemen der
Menschen gilt, die in der Bundeswehr für unsere Sicherheit sorgen.
Schönen Dank.
({7})
Kompliment, Herr
Kollege, genau auf die Minute. Nächster Redner für die
Fraktion der Bündnisgrünen ist der Kollege Winfried
Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur
Diskussion und Abstimmung stehen heute mehrere Anträge der versammelten, aber sehr uneinigen Opposition.
({0})
Beiträge zur Debatte über die anstehende Bundeswehrreform, die selbstverständlich der öffentlichen und kritischen Begleitung bedarf, sind grundsätzlich zu begrüßen.
Die militärpolitische Debatte wird und wurde auch in
diesem Haus immer wieder durch viel parteipolitisches
Getöse geprägt. Herr Breuer, Sie gehörten zu denjenigen,
die dazu sehr viel beigetragen haben. Aber die heutigen
Anträge belegen erstaunlicherweise, dass es in relativ vielen Punkten Konsens gibt. Wahrscheinlich war der Konsens in diesem Hause - wenn man es historisch betrachtet - noch nie so groß. Wegen der Kürze der Zeit kann ich
allerdings nur auf die Differenzen eingehen.
({1})
Die CDU/CSU votiert für eine geringfügige Reduzierung des Bundeswehrumfanges und für einen Anstieg
der Militärausgaben. Wie Sie das mit ihrem Anspruch,
den Bundeshaushalt zu konsolidieren, vereinbaren wollen,
lassen Sie wohlweislich unausgesprochen.
({2})
Die F.D.P. orientiert sich in ihrem Antrag stark am - zu
Recht gelobten - Bericht der Weizsäcker-Kommission.
Das macht ihn um einiges diskussionswürdiger. Wenn die
F.D.P. sagt, die Wehrpflicht sei „sicherheitspolitisch nicht
mehr zwingend erforderlich“, dann hat sie nach bündnisgrüner, aber bekanntlich nicht nach regierungsamtlicher
Auffassung Recht.
({3})
- Herr Nolting, Sie blasen sich hier immer so fantastisch
auf, als hätten Sie völlig vergessen, dass es einen kleinen
Unterschied zwischen Parteipositionen, Fraktionspositionen und Kompromisspositionen gibt, die man in Koalitionen vereinbaren muss. Das hat nichts mit Unglaubwürdigkeit zu tun. Das ist normaler Parlamentarismus,
sonst gar nichts.
({4})
Wenn Sie gestatten, gehe ich weiter auf Sie ein, Herr
Nolting. Immerhin sind Sie derjenige in Ihrer Fraktion
gewesen, der zumindest bis zum Sommer letzten Jahres
besonders eifrig durch die Lande gezogen ist und immer
wieder verkündet hat: Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch unverzichtbar. Ich frage Sie: Was hat sich seit
dem letzten Sommer sicherheitspolitisch so grundlegend
für die Bundesrepublik geändert,
({5})
dass Sie jetzt zu der entgegengesetzten Schlussfolgerung
kommen? Sie verstehen, dass hier der Eindruck sehr nahe
liegt, dass nicht Sachargumente und gewandelte Überzeugungen eine Rolle gespielt haben, sondern das bekannte
Fähnlein im parteipolitischen Winde. In diesem Zusammenhang ist mir die Auffassung Ihres Kollegen van Essen,
der überzeugter Reserveoffizier ist, aufgefallen. Ich teile
sie zwar nicht, aber er hat Respekt verdient, weil er an
seiner Überzeugung festgehalten hat.
Herr Kollege
Nachtwei, der Kollege Nolting möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein, wir brauchen keine weiteren Aufblasveranstaltungen.
({0})
Der PDS-Antrag sollte genauer zur Kenntnis genommen werden. Die PDS erkennt nämlich erstmalig den
Verteidigungsauftrag der Bundeswehr auch im Bündniszusammenhang an. Ich vermute, dass die meisten
PDS-Anhänger davon noch gar nichts wissen; denn wenn
sie es wüssten, wären viele von ihnen sicherlich sehr irritiert. Allerdings werden im PDS-Antrag die Konsequenzen verschwiegen. Bündnisverteidigung ist heute und in
Zukunft nicht ohne hochmobile und flexible Kräfte
möglich, also nicht ohne die Fähigkeiten, die fast mit denjenigen deckungsgleich sind, die man für so genannte
Kriseneinsätze benötigt.
Es ist allerdings auffällig, dass sich die drei Oppositionsfraktionen in ihren Anträgen genau in diesem Punkt
ausschweigen, nämlich über den Auftrag der Krisenbewältigung, der ja eigentlich im Mittelpunkt der laufenden
Bundeswehrreform steht. Die PDS erteilt ihm ganz kategorisch eine Absage und setzt militärische Krisenbewältigung im Grunde mit imperialistischem Interventionismus
gleich. Sie negieren dabei allerdings Kleinigkeiten, nämlich zum Beispiel die zurzeit unverzichtbare Rolle von
SFOR und KFOR auf dem Balkan, ohne die es keine
Gewalteindämmung gäbe. Eine kategorische Absage
Ihrerseits liefe darauf hinaus, Blauhelmtruppen überall
- vom Golan bis Zypern - abzuziehen. Das allerdings
wären Gewaltförderungsmaßnahmen nach PDS-Art.
CDU/CSU und F.D.P. dagegen kommen im Grunde
nicht über die übliche Terminologie zur militärischen
Krisenbewältigung hinaus und verpassen damit die
Chance, die zu Recht viel geforderte große Debatte zur
Bundeswehrreform etwas voranzubringen. Dabei drängen sich doch die großen und bisher nicht geklärten Fragen auf - Sie entschuldigen, wenn ich mich in diesen
Punkten im Plenum ab und zu wiederhole; aber da dies auf
so wenig Widerhall stößt, muss man das ab und zu wiederholen.
Wir schaffen keine Interventionsarmee, wohl aber eine
interventionsfähige Armee.
({1})
Gleichzeitig wollen wir nicht von einer militärpolitischen
Zurückhaltung, die Tradition der Bundeswehr ist, abrücken. Darin besteht hier Einigkeit.
({2})
Ehrlicherweise müssen wir allerdings sagen: Die Absicht
alleine reicht nicht. Vielmehr brauchen wir eine genauere
Klärung und Verständigung über die Voraussetzungen,
Ziele und Grenzen von Kriseneinsätzen.
Angesichts der Nachgeschichte des Kosovo-Krieges
stellt sich vermehrt die Frage, wie künftig bei multilateralen Kriseneinsätzen der Primat der Politik und die parlamentarische Kontrolle wirksam gestärkt werden können. Dies ist auch im Zusammenhang mit der Diskussion
um uranhaltige Munition und der Frage, ob möglicherweise gar ein Anteil Plutonium enthalten ist, ein sehr
wichtiger Punkt.
Und schließlich: Die Integration der Bundeswehr in die
Gesellschaft ist eine demokratische und rechtstaatliche
Errungenschaft der Bundesrepublik. Daher geht es auch
um die Frage: Wie kann diese Errungenschaft bewahrt
und stabilisiert werden angesichts einer ganz anderen Realität, was die Einsätze der Bundeswehr angeht, angesichts einer real schrumpfenden Wehrpflicht und angesichts weiterer Standortschließungen?
Wir als Sicherheitspolitikerinnen und -politiker können
uns nicht damit begnügen, dass Fragen der Bundeswehr
nur dann breites öffentliches Interesse finden, wenn
sozusagen bestimmte Nerven der Gesellschaft betroffen
sind
Herr Kollege
Nachtwei, Sie müssen zum Schluss kommen.
- ja, ich komme zum Schluss -, also zum Beispiel die regionale Betroffenheit durch Standortschließungen, die
schwer einzuschätzenden Gesundheitsrisiken durch Strahlen, Munitionsreste usw.
In einigen Wochen wird die Bundesregierung ihr
Weißbuch zur Sicherheitspolitik vorlegen. Das ist eine
vorzügliche Gelegenheit, über sicherheitspolitische Zukunftsfragen breit zu diskutieren, zu mehr Klärung und
Verständigung zu kommen. Dazu sollten alle Fraktionen
ihren Beitrag leisten.
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt das Wort dem Kollegen Günther
Nolting, F.D.P.-Fraktion.
({0})
Herr Kollege
Nachtwei, wir haben ja in den vergangenen Jahren
verschiedene Veranstaltungen gemeinsam besucht und
haben dort gemeinsam diskutiert. Wir beide mögen die
sicherheitspolitische Lage unterschiedlich einschätzen.
Die Mehrheit meiner Partei ist der Auffassung - Sie haben das ja zitiert -, dass die Wehrpflicht aufgrund der sicherheitspolitischen Lage, die sich ja nun wirklich verbessert hat, nicht mehr zwingend notwendig ist.
Herr Kollege Nachtwei, Sie werden sich allerdings
daran erinnern können, dass ich immer gesagt habe: Die
Wehrpflicht ist dann infrage gestellt, wenn Wehrgerechtigkeit nicht mehr gegeben ist. Mit dem Modell,
das jetzt von Rot-Grün präsentiert wird, bewegen wir uns
auf eine absolute Wehrungerechtigkeit zu.
({0})
Sie werden sich daran erinnern können, dass ich auch
immer gesagt habe: Der Grundwehrdienst muss die
Wehrpflicht legitimieren und nicht der Ersatzdienst. Nach
dem rot-grünen Modell aber wird es pro Jahr bedeutend
mehr Zivildienstleistende als Grundwehrdienstleistende
geben. Das heißt, in Zukunft legitimiert sich die Wehrpflicht aus dem Ersatzdienst. Das kann nicht richtig sein.
Auch früher habe ich immer erklärt, dass dann die
Wehrpflicht nicht mehr zu halten ist.
Ein letzter Punkt: Ich möchte nicht, dass das Bundesverfassungsgericht in dieser Frage eine Entscheidung
trifft, die wir als Parlament nachvollziehen müssen. Ich
möchte, dass politische Entscheidungen hier im Parlament getroffen werden, so wie das der Herr Bundespräsident auf der Kommandeurtagung angemahnt hat.
In diesem Sinne habe ich meine Ausführungen hier für
die F.D.P.-Fraktion gemacht. Sie können mir nicht irgendwelche Dinge unterstellen. Ich habe diese Meinung in den
vergangenen Jahren immer vertreten. Es ist leider so
gekommen, wie ich es früher befürchtet habe. Deswegen
plädiere auch ich mittlerweile für ein Aussetzen der
Wehrpflicht; nichts anderes.
Herr Kollege
Nachtwei, möchten Sie erwidern?
({0})
- Der Kollege verzichtet auf eine Erwiderung.
Ich erteile jetzt dem Kollegen Paul Breuer für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir reden hier über die Bundeswehr,
ein absolut sensibles und wichtiges Instrument der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, dem wir Deutschen
sehr viel verdanken. Deswegen sollte man diese Debatte
nicht an einem frühen Freitagnachmittag führen. Diese
Debatte gehört eigentlich ins Zentrum einer Sitzungswoche.
Herr Kollege Opel, ich nehme gern auf, was Sie vorhin
hinsichtlich meiner Bemühungen in den 90er-Jahren
gesagt haben. Das haben Sie gar nicht falsch dargestellt.
Ich habe in den 90er-Jahren davor gewarnt, voreilig die
Bundeswehr zu verkleinern und ihr finanziell den Boden
zu entziehen; denn ich war der Meinung, dass in Deutschland viel zu viel über die Friedensdividende und viel zu
wenig über die sicherheitspolitische Rolle des vereinigten Deutschlands in der Mitte Europas als Sicherheits- und Stabilitätsanker für unseren Kontinent geredet
wurde.
Die Frage ist, ob wir im Vorfeld der heutigen Debatte
genügend über unsere sicherheitspolitische Rolle geredet
haben. Haben wir, haben Sie, Herr Minister Scharping, der
deutschen Öffentlichkeit klargemacht, dass es Risiken
gibt, für die wir Vorsorge leisten müssen? Es gibt Risiken
in Europa, um Europa und darüber hinaus, die sich negativ auf unsere Stabilität hier vor der Haustür auswirken
können. Ich bezweifle, ob diese Diskussion überhaupt verantwortlich genug geführt worden ist.
Die sicherheitspolitische Diskussion ist ausgeblieben,
das Pferd ist vom Schwanz her aufgezäumt worden. Es
wurde über Geld, aber nicht über die Begründung für die
Investitionen und die Reform geredet. Das ist ein Versagen des Bundesverteidigungsministers Scharping.
({0})
Sie wissen, dass wir hinsichtlich der Zielsetzung in
manchen Punkten übereinstimmen, aber ich zweifle sehr
stark an der Richtigkeit Ihrer Strategie.
Ich habe mir noch einmal einen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 4. Oktober 1999 hervorgeholt. In
diesem Artikel wird über die legendäre Tagung in Decimonannu, Sardinien, berichtet.
({1})
Auf dieser legendären Tagung tritt Herr Scharping auf
- ich komme gleich zu Zitaten - und sagt sehr deutlich:
Bei den eingegangenen sicherheitspolitischen Verpflichtungen gegenüber der Europäischen Union und der NATO
ergäben sich für die Bundeswehr in den nächsten zehn
Jahren Mehrkosten in Höhe von 20 Milliarden DM. Dazu
kämen noch zwischen 10 und 20 Milliarden DM, die sich
durch den Investitionsstau der vergangenen Jahre angehäuft hätten. Das heißt, 30 bis 40 Milliarden DM in zehn
Jahren, sprich 3 bis 4 Milliarden DM plus pro Jahr.
Zum Sparen bei der Bundeswehr und den gleichzeitig
gestiegenen Anforderungen sagte Scharping damals - ich
zitiere -:
Wenn man beides erreichen will, kann man die Bundeswehr auch gleich einstellen. Das ist dann ehrlicher.
Wenn man also gleichzeitig sparen und die Vertragsverpflichtungen erfüllen will - sagt Scharping -, kann
man die Bundeswehr einstellen. Ich stelle jetzt fest: Es ist
leider das geschehen, wovor Scharping gewarnt hat.
({2})
Die Vertragsverpflichtungen gegenüber der NATO, in
Europa und gegenüber der UNO sind eingegangen worden und gleichzeitig wird der Verteidigungshaushalt im
mittelfristigen Finanzrahmen in einer unverantwortlichen
Art und Weise herabgefahren.
({3})
Herr Scharping, was nun? Das ist die Situation, in der Sie
sich jetzt befinden.
Jetzt gehe ich einmal auf die Risiken und den deutschen Beitrag ein. Hinsichtlich des anstehenden Umbaus
der Bundeswehr besteht Übereinstimmung darüber, dass
die Einsatzfähigkeit, die Verfügbarkeit und die Durchhaltefähigkeit der Streitkräfte erhöht werden müssen. Wir
sagen dazu - das geht aus unserem Antrag deutlich hervor; dort kann man es nachlesen -: Wir müssen die Erhöhung der Krisenreaktionsfähigkeit mit einer nach wie
vor notwendigen Vorsorge auf dem Gebiet der Landesverteidigungsfähigkeit verbinden, die mit der Bündnisverteidigung fest verklammert ist.
Wie sieht die Realität aus? Zur Realität gehört - es geht
um unsere Mitverantwortung - der Stabilitätsanker
Deutschland. Realität ist, dass wir unsere Bündnisverpflichtungen in der Zukunft nicht einhalten können. Herr
Scharping hat der NATO zugesagt, dass wir Deutschen
ein Divisionsäquivalent für die Dauer eines Jahres abstellen, und zwar in einem NATO-Partnerland. Herr
Scharping, ich sage Ihnen voraus: Bei den jetzt anstehenden Planungen wird sich erweisen, dass Sie eine halbe
Division für ein halbes Jahr aufstellen können und dass
Sie den eingegangenen Vertrag nicht erfüllen.
({4})
Herr Scharping, was nun? Als Nächstes stellt sich für
mich die Frage der personellen Ressourcen und der damit
verbundenen Vorsorge.
Ich komme zur Wehrpflicht. Ich teile das, was Kollegen der SPD eben zur Wehrpflicht gesagt haben: Die
Wehrpflicht ist ein wesentlicher Bestandteil der sicherheitspolitischen Vorsorge für die Zukunft. Die Wehrpflicht schafft die Möglichkeit, dass sich die Bundeswehr
an veränderte sicherheitspolitische Situationen anpassen
kann. Was die F.D.P. macht, ist nichts anderes als umfallen. Kollege Günther Nolting, du verbiegst dich hier in einer Art und Weise, die ich nicht verstehen kann.
({5})
Der Umgang mit der Wehrpflicht vonseiten der SPD ist
jedoch nicht in Ordnung. Ein zu starkes Absenken der Anzahl der Wehrpflichtigen führt dazu, dass Wehrungerechtigkeit entsteht und die Legitimationsbasis für die Wehrpflicht immer schwieriger wird. Das muss leider gesagt
werden.
({6})
Es muss Wehrgerechtigkeit herrschen und es muss Vorsorge geleistet werden. Sie leisten dem Missverständnis
junger Leute Vorschub, es komme auf ihren Beitrag für
die deutsche Sicherheit nicht mehr an. Das ist ein riesiger
Fehler.
({7})
Deswegen sagen wir: Wenn es 30 000 Stellen für Wehrpflichtige mehr gibt, dann herrschen Glaubwürdigkeit
und Gerechtigkeit. Herr Scharping, bessern Sie nach!
({8})
Was die Finanzausstattung angeht, so sagen wir: Man
wird mittelfristig über die - nach heutigem Geldwert berechnet - 50-Milliarden-DM-Grenze hinausgehen müssen. Hier ist gesagt worden: Nennen Sie doch die Finanzierung! - Ich sage Ihnen einmal eines: Die mittelfristige
Finanzplanung sieht als zukünftige Finanzbasis der Bundeswehr knapp 44 Milliarden DM vor. Jeder Experte sagt:
Wenn man die Bundeswehr modernisieren und sie vernünftig, überlegen ausstatten will, reicht das bei weitem
nicht aus. Wenn das nicht geschieht, können wir aufgrund
unserer Verantwortung keinen deutschen Soldaten in irgendeinen Einsatz schicken; das müssen Sie verstehen.
Das ist nicht möglich, wenn man gleichzeitig an dieser Finanzbasis festhält.
Wenn Sie fragen: „Wo nehmt ihr das Geld her?“, dann
antworte ich: Herr Zumkley und andere Kollegen, der
Unterschiedsbetrag von 6 bis 7 Milliarden DM pro Jahr
entspricht in etwa der Differenz in der Steuerschätzung
für ein halbes Jahr. Wenn Sie es bei einem Bundeshaushalt von über 450 Milliarden DM nicht schaffen, diesen
Differenzbetrag für die Stabilitätspolitik Deutschlands
aufzubringen, dann frage ich: Wozu sind Sie überhaupt
noch in der Lage? Das muss doch deutlich gesagt
werden.
({9})
Die großen Versprechungen des Bundesverteidigungsministers Scharping im Hinblick auf die Programme zur
Verbesserung der sozialen Attraktivität der Bundeswehr stehen ebenfalls auf dem Prüfstand. Ich habe ein
Schreiben aus dem Bundesfinanzministerium vom
27. Dezember 2000 an den Bundesminister des Inneren
dabei. Mein lieber Georg Pfannenstein, ich bin
davon überzeugt: Auch Sie besitzen das Schreiben. In
diesem Schreiben wird deutlich, dass der Kabinettsbeschluss - es gebe ein Attraktivitätsprogramm; die Soldaten der Bundeswehr bekämen eine bessere Finanzausstattung, bessere Start- und Aufstiegschancen -, auf den
Sie sich berufen, Herr Scharping, Lug und Trug ist. Hier
wird deutlich, dass der Finanzminister eine völlig andere
Linie als Sie fährt. Was kommt, ist keine Verbesserung in
den Aufstiegschancen und der Attraktivität. Den Soldaten droht vielmehr eine Verschlechterung, ein Eingriff in
ihre Heilfürsorge.
Herr Minister, Sie stehen in der Gefahr, über Ihre
heutige Unglaubwürdigkeit hinaus auch künftig in der
Bundeswehr unglaubwürdig zu werden. Sie stehen in der
Gefahr, Ihrer Verantwortung überhaupt nicht gerecht zu
werden, was den Umbau der Bundeswehr angeht. Hier
muss Aufklärung geleistet werden. Tun Sie es heute am
Rednerpult des Deutschen Bundestages!
Ich bedanke mich.
({10})
Es spricht jetzt der
Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer eine Diskussion über die Zukunft der Bundeswehr führen will, führt eine Diskussion über die Zukunft
der Sicherheit unseres Landes, seiner Partner und seiner
Freunde. Die Bundeswehr selbst hat zu dieser Sicherheit
in den vergangenen Jahrzehnten zuverlässig, gut, verantwortungsbewusst, leistungsstark und motiviert beigetragen.
({0})
Es wäre auch gut, wenn jeder hier in diesem Hause dies
akzeptierte.
Die Zukunft der Bundeswehr bestimmt sich zunächst
durch die Veränderungen, die eingetreten sind und die
jedenfalls in großen Teilen positiv sind. Sie bestimmt
sich auch durch die Aufgaben, die sich daraus ergeben:
äußere Sicherheit gemeinsam zu gewährleisten, Kooperation mit Partnern zu suchen, wo immer möglich, zum
Beispiel mit Russland, und im Übrigen zur Krisenprävention und Krisenbewältigung fähig zu sein. Die
Aufgaben sind unverändert, die Situation ist allerdings
grundlegend verändert. Folglich braucht man dafür auch
neue Fähigkeiten.
Dem trägt die Entscheidung der Bundesregierung vom
14. Juni des Jahres 2000 Rechnung. Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Kollegen Robbe, Opel und Nachtwei,
dass sie auf diese Umstände hingewiesen haben. Ohne eine
solche grundsätzliche Orientierung und, wie ich hoffe,
Übereinstimmung ist die Zukunft der Bundeswehr nicht zu
gestalten.
({1})
Auf der Grundlage dieser jetzt grob umrissenen Situationsbeschreibung ist mehreres zu tun. Im Rahmen der
Grobausplanung, also der Festlegung der grundsätzlichen Strukturen, sind dann Entscheidungen getroffen
worden. Sie sind übrigens auch hier im Deutschen Bundestag debattiert worden. Bedauerlicherweise hat die Opposition zu großen Teilen die damals zur Verfügung stehende Redezeit - ich füge hinzu: bei einer günstigeren
Debattenzeit - mit Standort- und Gelddebatten anstatt mit
außen- und sicherheitspolitischen Debatten verbracht.
({2})
Insofern sollten Sie, Herr Kollege Breuer, nicht beklagen,
was Sie selbst angerichtet haben, sondern Ihr Verhalten
ändern.
Wir haben in der Zeit seit der letzten Regierungserklärung und den Entscheidungen über die grundlegenden
Strukturen der Streitkräfte Folgendes gemacht: Wir haben
eine Priorisierungskonferenz zu den Rüstungsvorhaben
durchgeführt. Daraus entsteht ein Material- und Ausrüstungskonzept, das Ende des Monats oder im Februar
2001 vorliegen wird. Obwohl es in erstaunlich kurzer Zeit
vorliegen wird, ist es sehr gründlich erarbeitet worden.
({3})
Wir werden zum gleichen Zeitpunkt einen Bundeswehrplan vorlegen. Ich verbinde das mit der Bemerkung,
dass Sie 1997/98 einen Bundeswehrplan gegen den sachverständigen Rat der Militärs nicht vorgelegt haben, dass
Sie den Bundestag mit einem so genannten Datenberg abgespeist haben und dass Sie auf diese Weise verschleiern
wollten, was Ihnen ehemalige Spitzenmilitärs gerne und
im Zweifel öffentlich bestätigen, dass Sie die Lücke zwischen Ihren politischen Vorstellungen hinsichtlich Finanzen sowie Investitionen und Ausrüstungserfordernissen
der Bundeswehr im Wahlkampf 1998 nicht sichtbar werden lassen wollten. Das ist auch eine Tatsache.
({4})
Im Übrigen werden wir in den ersten Märztagen einen
Gesetzentwurf vorlegen, in dem alle erforderlichen Veränderungen zum Wehrdienstgesetz, zur Laufbahnverordnung, zum Soldatengesetz usw. enthalten sein werden.
Herr Kollege Breuer, ich will Ihnen Ihr Engagement
nicht absprechen. Aber es wird nicht dadurch glaubwürdiger, dass Sie damals zum sachlich Falschen hörbar geschwiegen haben, weil es die parteipolitisch Richtigen getan haben, während Sie sich heute zum sachlich Richtigen
dröhnend auf Nebenkriegsschauplätzen äußern, weil es
die angeblich parteipolitisch Falschen tun.
({5})
- Ich habe gesagt „hörbar geschwiegen“. Sie haben zum
sachlich Falschen hörbar geschwiegen, während Sie sich
jetzt zum sachlich Richtigen dröhnend auf Nebenkriegsschauplätzen bewegen.
Sie hätten vorher eine Frage stellen können; das ist unter Kollegen ab und zu üblich.
({6})
Dann hätte ich Sie darüber informiert, dass ich Kenntnis
von dem Schreiben eines Unterabteilungsleiters aus dem
Bundesfinanzministerium vom 27. Dezember habe, dass
ich darüber am vergangenen Dienstagabend mit dem Bundesfinanzminister gesprochen habe, dass der Bundesfinanzminister, der Bundesinnenminister und der Bundesverteidigungsminister sich einig sind, dass nicht dieses
Schreiben der Maßstab der Gesetzgebung ist, sondern der
Beschluss der Bundesregierung vom 14. Juni 2000.
({7})
Im Übrigen: Wenn Sie damit fortfahren, das Verhalten
eines illoyalen Beamten, dem Sie auch eine Information
verdanken - das ist Teil der Illoyalität -, zum Anlass zu
nehmen, hier im Parlament Anklage gegen die Regierung
zu erheben, anstatt vorher zu fragen, wie der Sachstand
wirklich ist, dann betreiben Sie genau die Verunsicherung,
die Sie hinterher lautstark und dröhnend beklagen.
({8})
Ich habe hier schon mehrfach vorgetragen, wie die
Zahlen zum Haushalt sind. Daher will ich es jetzt nicht im
Einzelnen darstellen.
Damit sind wir bei dem Thema Feinausplanung, also
der genauen Festlegung dessen, was auf der Grundlage
der Entscheidungen über die Strukturen der Bundeswehr
im Einzelnen zu tun sein wird. Sie wissen, dass ich in
1999 und 2000 25 Anhörungen mit Kompaniechefs,
Kompaniefeldwebeln, Bataillonskommandeuren und vielen anderen durchgeführt habe. Ein Ergebnis dieser Anhörungen und der Gespräche mit den militärischen Stäben
war, dass es angesichts der Einsatzerfordernisse der Bundeswehr dringend notwendig ist, die innere Stärke der
militärischen Einheiten zu verbessern, also beispielsweise
die von Kompanien und Bataillonen. Das werden wir tun.
Herr Minister, es gibt
den Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen Paul
Breuer. Lassen Sie sie zu?
Vermutlich bezieht sie sich auf einen zurückliegenden
Sachverhalt. Deswegen habe ich in diesem Fall ausnahmsweise nicht die Absicht, sie zuzulassen. - Sie müssen schneller reagieren, Herr Kollege Breuer.
Es ist also notwendig, die militärischen Einheiten,
Kompanien und Bataillone, zu stärken. Das hat mit dem
zu tun, was die Militärs Führerdichte nennen. Ferner muss
die Verbindung von Ausbildungsmöglichkeiten und Einsatznotwendigkeiten verbessert werden. Auch das hat etwas damit zu tun, wie eine Brigade, wie ein Bataillon im
Einzelnen zusammengesetzt ist.
Das Ergebnis dieser Anhörungen mit mehreren Tausend Angehörigen in den Streitkräften und der Erörterungen mit den militärischen Stäben hat dazu geführt, dass
wir entsprechende Entscheidungen im Rahmen der Festlegung der so genannten Feinstrukturen der Streitkräfte
treffen werden. Das verbessert die Ausbildungsmöglichkeiten.
Herr Kollege Breuer, ich setze mich mit der Bundeswehr auseinander. Da müssen Sie nicht lachen.
({0})
- Ich stehe Ihnen gerne für ein Gespräch zur Verfügung.
Aber es tut mir Leid: Sie brauchen zu lange, um aus einem
Sachverhalt, den ich schildere, eine Zwischenfrage zu
entwickeln.
Das Stichwort ist gefallen: Es besteht ein weiterer Wunsch nach einer Zwischenfrage.
Aber gerne.
({0})
- Das ist der Kollege Braun.
Herr Minister Scharping, Sie sprechen von verbesserten Ausbildungsmöglichkeiten als einem Motiv für die Feinausplanung, wie sie in den nächsten Tagen veröffentlicht werden
wird. Nun pfeifen es die Spatzen von allen Dächern, dass
Teil dieser Feinausplanung die Verlegung der Schule für
Feldjäger und Stabsdienst von der Generaloberst-BeckKaserne von Sonthofen nach Hannover sein soll. Ich frage
Sie: Gehen Sie wirklich davon aus, dass die Schule - übrigens die Schule, in der die ersten Lehrgänge der Bundeswehr überhaupt stattgefunden haben - sich dort nicht bewährt hat oder dass es für die Soldaten, die dort in einer
ganz besonderen Umgebung ihre Ausbildung bekommen,
besser wäre, nach Hannover versetzt zu werden? Oder
stehen nicht in Wirklichkeit andere Erwägungen im Hintergrund, vielleicht die Überlegung, dass ein besonderer
Zuwachs an Sicherheit durch Bundeswehrfeldjäger in
dieser Stadt, die sich früher als Stadt der Chaostage einen
Namen erworben hat, notwendig sei?
Ich darf auch gleich meine Zusatzfrage stellen. Können
wir über diese Entscheidung eventuell noch einmal reden? Denn eine solche Entscheidung widerspricht den anderen Kriterien Ihres Konzepts, wonach es nämlich darauf
ankommt, wie viele freigesetzte Soldaten und Zivilbedienstete eine Region aufnehmen kann.
Herr Kollege Braun, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu,
dass man Kriterien sorgfältig und zuverlässig entwickeln
und dann auch anwenden muss. Ich habe mehrfach öffentlich, auch im Parlament, über diese Kriterien gesprochen. Ich lade Sie herzlich ein, Vorschläge wie diesen
zu machen. Ich nehme diesen selbstverständlich an. Soweit es weitere Vorschläge hinsichtlich der Kriterien und
ihrer Anwendung gibt - es gibt ja einige Kollegen im
Deutschen Bundestag, die mir solche Vorschläge machen -,
sage ich Ihnen zu, dass diese sorgfältig geprüft und mit einer begründeten Entscheidung versehen werden. Das
Ganze geschieht nicht par ordre du mufti. Wir werden
über den Inhalt der Entscheidung sinnvoll miteinander reden können.
Wenn Sie gestatten, komme ich noch einmal auf die
wichtigen Punkte der inneren Stärke der Einheiten und
der Verbindung von Ausbildung, Einsatzerfordernissen,
Nachwuchsgewinnung usw. zurück. Ich will Ihnen hier
ausdrücklich ankündigen, dass es entsprechend den Ergebnissen der Grobausplanung auch zu Anpassungen
der Personalumfänge kommen wird.
Vor diesem Hintergrund werden Sie vielleicht noch etwas besser verstehen, dass man zunächst einmal wissen
muss, wie es bei der Bundeswehr insgesamt aussieht:
Welche Umfänge hat sie? Was sind ihre Aufgaben? Wie
werden diese wahrgenommen? Man muss erst einmal
wissen, was zu stationieren ist, bevor man anfängt zu stationieren. In diesem letzten Prozess befinden wir uns zurzeit. Ich bedanke mich bei den Fraktionen ausdrücklich
für das Einverständnis. Ich habe auch angeregt, am Montag, dem 29. Januar 2001, eine Sondersitzung des Verteidigungsausschusses durchzuführen, um über dieses Ressortkonzept zureden.
Wir werden auch offiziell die Ministerpräsidenten einbeziehen. Das ist in einer ersten Runde geschehen und es
wird auch eine zweite Runde geben. Wir werden ebenfalls
mit Gemeinden reden; das weiß jeder. Insofern gibt es
klare Kriterien: militärische Kriterien, Kriterien in der
Personalführung und -fürsorge, Kriterien im zivilen Umfeld der Standorte, Kriterien im finanziellen und wirtschaftlichen Bereich, neben dem, was das Grundraster
- wenn ich das einmal so sagen darf - bildet. Das sind in
erster Linie die militärischen Erfordernisse, beispielsweise die Nähe zu Übungs- und Ausbildungsstätten, die
internationale, multinationale Einbettung der Bundeswehr, die sich daraus ergebenden Einheiten und Verbände,
wie die deutsch-französische Brigade, das deutsch-niederländische Korps, die amerikanisch-deutschen Einheiten, das dänisch-polnisch-deutsche Korps usw. Diese
Fixpunkte sind vorhanden. Aus ihnen kann man etwas
Vernünftiges entwickeln.
Wer, soweit es um Stationierungsfragen geht, den Eindruck zu erwecken versucht, das Ganze sei gewissermaßen einer x-beliebigen politischen Willkür ausgeliefert, der liegt schlicht falsch.
Herr Kollege Kossendey, ich möchte dem ausdrücklichen Dank für die zurzeit jedenfalls von manchen in der
CDU/CSU geübte ruhige Tonlage und sachlich abgewogene Erörterung noch etwas hinzufügen, das mit Ihnen
und Ihren Bemerkungen zu tun hat; denn dies soll ja eine
Debatte sein: Selbstverständlich haben auch die zivilen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr Anspruch auf die gleiche Fürsorge. Dieser Anspruch wird
auch eingelöst werden.
Die Frage der Reduzierung der Zahl von Dienstposten
- ich habe auch darauf im Deutschen Bundestag hier und
da hingewiesen - darf nicht mit der Beseitigung oder Reduzierung der Zahl von Arbeitsplätzen verwechselt werden. Die Kooperation mit der Wirtschaft wird dazu
führen, dass ein Teil dieser Arbeitsplätze nicht mehr bei
der Bundeswehr, sondern in kooperativen Firmen zwischen Bundeswehr und privaten Unternehmen angesiedelt sein wird.
({0})
- Die Größenordnung, Herr Kollege Kossendey, ist nicht
aus der Luft gegriffen. Sie wissen so gut wie ich, dass man
in den 80er- und 90er-Jahren - jedenfalls noch vor der
deutschen Einheit - ein entsprechendes Verhältnis von
militärischen und zivilen Angehörigen der Bundeswehr
hatte. Das war durchaus begründet und nicht aus der Luft
gegriffen; das war durch vielfältige Entwicklungen und
Argumente untermauert.
({1})
Wir müssen ungefähr zu dem damaligen Verhältnis zurückkehren. Ich entnehme Ihrer Gestik, dass Sie dem im
Grunde genommen zustimmen. Wenn es sich aber so verhält, dann ist die Größenordnung richtig gewählt.
Ich will im Übrigen noch einmal darauf aufmerksam
machen, dass ich ganz bewusst dafür plädiert habe - Gott
sei Dank ist die Bundesregierung dem gefolgt -, nicht einen Zeitpunkt zu nennen, an dem diese Zahl von Dienstposten erreicht sein muss.
({2})
Das haben Sie bei Ihrer Argumentation womöglich übersehen. Das hat damit zu tun - genau das wurde ja auch von
Ihrer Seite gesagt -, dass erst der Umfang, die Qualität
und die Intensität der Kooperation sowie auch das Vorankommen der Modernisierungsprozesse in der Verwaltung
der Bundeswehr darüber entscheiden, in welchem Zeitraum diese Zahl von Dienstposten erreicht werden kann.
Ich werde also bei den hier zu treffenden Entscheidungen
ganz sorgfältig darauf achten, so wie übrigens auch bei
den Veräußerungen, dass nicht das kurzfristige Interesse
die langfristige Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit beschädigt.
({3})
Meine Damen und Herren, da ich vermute, dass Sie
mich ansonsten erneut fälschlicherweise einer mangelhaften Informationspolitik zeihen würden, möchte ich Sie
zum Abschluss meiner Bemerkungen noch über etwas
informieren, was nicht unmittelbar mit dem Gegenstand
der Debatte zu tun hat, aber mit der Diskussion um Streitkräfte insgesamt schon. Ich habe heute am späten Mittag
durch einen Anruf von USAREUR - wo überprüft wird,
ob und in welchem Umfang es möglicherweise Unfälle
mit DU-Munition gegeben hat - Folgendes erfahren: Es
ist davon auszugehen, dass es am 28. Februar 1985 einen
solchen Unfall in Schweinfurt gegeben hat. Es ist davon
auszugehen, dass 1986 in Grafenwöhr versehentlich DUMunition verschossen worden ist. Es wird geprüft, ob ein
Kampfpanzer auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr,
der 1988 ausgebrannt ist, möglicherweise DU-Munition
enthielt. Es muss überprüft werden, ob ein Kampfpanzer
in Gollhofen, der 1988 ausgebrannt ist, DU-Munition enthielt. Dasselbe ist für Vorfälle zu überprüfen, die sich
1981 in Fulda und im März 1982 in Lampertheim ereigneten, und schließlich für Vorfälle, die sich im September
1988 in Oberaltertheim und 1990 in Wildflecken ereigneten. Zuletzt ist zu überprüfen, ob es 1985 in Garlstedt-Altenwede zu einem irrtümlichen Verschuss kam.
Ich sage Ihnen das deshalb, weil ich hier nicht noch
einmal eine Diskussion erleben möchte nach dem Motto:
Der informiert uns nicht.
({4})
Das hat nie gestimmt und wird auch in Zukunft nie so passieren.
({5})
Deshalb will ich auch darauf verzichten, diese Fakten
noch einmal mit den Antworten zu konfrontieren, die
1995 und 1997 auf die Anfragen des Kollegen
Pfannenstein gegeben wurden. Das können Sie selber tun.
({6})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen und dabei zuerst
zu den Beschlussempfehlungen des Verteidigungsausschusses.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung zu dem Antrag
der Fraktion der CDU/CSU zur Zukunft der Bundeswehr
auf Drucksache 14/5087. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/3775 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung zu dem Antrag
der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Zukunftsfähigkeit
der Bundeswehr sichern - Wehrpflicht aussetzen“ auf
Drucksache 14/5088. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4256 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung zu dem Antrag
der Fraktion der PDS mit dem Titel „Zukunft durch Abrüstung - Für eine grundlegende Reform der Bundeswehr“ auf Drucksache 14/5089. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/4174 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5078 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch ({0})
- Drucksache 14/4053 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({2})
- Drucksache 14/5095 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Jäger
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. und ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS
vor.
Die Kolleginnen und Kollegen Renate Jäger, Heinz
Schemken, Ekin Deligöz, Dr. Irmgard Schwaetzer sowie
Pia Maier haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) - Ich
stelle größtes Einverständnis des Hauses fest.
Wir kommen daher sofort zur Abstimmung, und zwar
über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Ände-
rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch in der Aus-
schussfassung. Es handelt sich hierbei um die Drucksa-
chen 14/4053 und 14/5095.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der F.D.P.
auf Drucksache 14/5111 vor, über den wir zuerst abstim-
men. Wer stimmt für den Änderungsantrag der F.D.P.? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ände-
rungsantrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei
Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die
Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P.
angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Druck-
sache 14/5096. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ent-
schließungsantrag ist gegen die Stimmen der PDS-Frak-
tion abgelehnt.
1) Anlage 3
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({3}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({4}), Ernst
Burgbacher, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Klaus
Haupt, Jürgen Türk, weiterer Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P.
Wettbewerbsbedingungen für die deutsche
Tourismuswirtschaft im Euro-Land
- Drucksachen 14/591, 14/1079, 14/1159,
14/4704 Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst Burgbacher
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner in dieser Debatte ist für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Ernst
Burgbacher.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren über
das Thema Tourismus wieder am Freitagnachmittag. Der
Saal füllt sich. Wir bleiben noch hier und geben mit dieser von der F.D.P. beantragten Debatte den parlamentarischen Startschuss für das Jahr des Tourismus.
Darüber, dass dieses Jahr des Tourismus notwendig ist,
gab es große Übereinstimmung. Ich denke, unser Antrag,
der Ihnen heute vorliegt, kann im Jahr des Tourismus auch
der Regierung und dem Parlament eine Handlungsanweisung geben. Er weist insbesondere auf eine Problematik
hin, die in aller Regel viel zu wenig beachtet wird:
Zum 1. Januar 2002 wird der Euro als Bargeld eingeführt werden. Dies wird den Wettbewerb gerade im Tourismus radikal verändern. Wir Liberalen waren an der
Spitze der Befürworter des Euro. Wenn mehr Wettbewerb
herrscht, so ist dies gut für die Verbraucher.
({0})
Aber dann müssen wir unsere Anbieter, vom Familienbetrieb in der Gastronomie bis hin zum Reiseveranstalter,
auch in die Lage versetzen, diesem Wettbewerb standzuhalten. Hierfür besteht politischer Handlungsbedarf. Insoweit muss eine Menge von Vorschriften überprüft, müssen Wettbewerbshindernisse abgebaut werden. Darum
geht es.
Ganz konkret: Unsere Tourismuswirtschaft ist in vielen
Punkten benachteiligt. Ich nenne als erstes Beispiel - auch
das steht in unserem Antrag - die Mehrwertsteuersätze
in der Hotellerie. Es kann doch nicht sein, dass bei einheitlicher Währung der Gast in einem Hotel in Straßburg
5 Prozent und in Kehl - wenn er über die Rheinbrücke gegangen ist - 16 Prozent Mehrwertsteuer zahlen muss. Das
kann angesichts des europäischen Wettbewerbs nicht sein.
Deshalb appelliere ich an Sie: Stimmen Sie endlich dem
reduzierten Mehrwertsteuersatz für die Hotellerie zu!
({1})
Es kann auch nicht sein, dass die Ökosteuer weitere
Belastungen mit sich bringt. Ich will an dieser Stelle nicht
mehr auf das Prinzip der Ökosteuer eingehen. Aber ich
muss schon feststellen, dass die deutsche Bustouristik in
einem harten Konkurrenzkampf mit ihren ausländischen
und EU-Wettbewerbern steht. Wenn Sie sich zum Beispiel
den Wettbewerb der baden-württembergischen Busunternehmer mit ihren französischen Konkurrenten anschauen,
dann können Sie feststellen, dass die Belastungen für sie
aufgrund der Ökosteuer ständig steigen und dass es auf
der französischen Seite noch Subventionen gibt. Das bedeutet, dass unsere Busunternehmer in diesem Wettbewerb praktisch nicht mehr mithalten können.
({2})
Deshalb fordere ich Sie auf: Weg mit dieser Ökosteuer!
Zumindest sollte es einen Verzicht auf weitere Erhöhungen geben.
({3})
Die Tatsache, dass Sie das ökologisch sinnvolle Verkehrsmittel Bus noch bestrafen, zeigt, wie schizophren
das Prinzip der Ökosteuer überhaupt ist.
({4})
Wir von der F.D.P. versuchen massiv, Sie dazu zu bewegen, die unsägliche Trinkgeldbesteuerung endlich
abzuschaffen.
({5})
- Wenn ich einer jungen Dame oder einem jungen Herrn
Trinkgeld für guten Service gebe, dann möchte ich nicht,
dass davon das Finanzamt, die BfA oder die AOK profitiert.
({6})
Wir reden im Augenblick über die Wettbewerbsfähigkeit.
Lieber Kollege Brecht, in Frankreich soll nach Aussage
der Bundesregierung das Trinkgeld besteuert werden. Ich
habe aber weder einen Betroffenen noch einen Politiker
antreffen können, der ein entsprechendes Gesetz kennt. Es
wird eben in der Praxis nicht angewandt. Darum geht es
doch.
Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD: Ich freue mich sehr, dass immer mehr von Ihnen
sich - auch öffentlich - auf den Weg hin zu F.D.P.-Positionen begeben.
({7})
Es ist im Übrigen immer gut, sich der F.D.P. anzunähern.
({8})
Ich sage Ihnen deshalb: Gehen Sie auf diesem Weg weiter! Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass
Sie unseren vernünftigen Antrag vielleicht doch unterstützen.
Vizepräsidentin Petra Bläss
An die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU sage ich: Die von Ihnen angestrebte Erhöhung
der Freibeträge löst das Problem nicht und sie ist im Übrigen auch systemfremd. Wir müssen endlich gesetzlich
festlegen, dass Trinkgeld eine Schenkung für eine gute
Leistung ist und nicht mit dem Einkommen besteuert
werden darf.
({9})
Wir müssen ein Weiteres tun - ich plädiere nachdrücklich dafür -: Nutzen wir doch die Einführung des Euro
dazu, unsere Gesetze, Vorschriften und Standards vorbehaltlos daraufhin zu überprüfen, was notwendig und was
EU-wettbewerbstauglich ist! Schaffen wir all die Regelungen ab, die diesen Wettbewerb behindern! Ich glaube,
das wäre in der Tat Supersprit für unsere deutsche Wirtschaft.
({10})
Lassen Sie mich in aller Kürze einen letzten Punkt ansprechen. Wir brauchen Bewegung auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb appelliere ich an Sie: Wenn Sie dem Einwanderungsbegrenzungsgesetz der F.D.P. zustimmen,
dann brauchen wir die von Ihren propagierte Green Card
nicht mehr. So schaffen wir Freiraum für die deutsche
Wirtschaft.
Wirtschaftsminister Müller hat viel angekündigt. Er
spricht laufend davon, was er für den Tourismus alles tun
will. Er hat aber leider in keinem einzigen Punkt bisher
gehandelt. Er hat sich heute in der „Welt“ gegen eine Ausweitung der Betriebsratsgremien im Rahmen der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes ausgesprochen.
Der DGB geht schon vehement dagegen an. Lieber Herr
Müller, wir werden Ihr Handeln beobachten. Es reicht
nicht aus, nur anzukündigen. Jetzt muss endlich gehandelt
werden.
Ich danke Ihnen.
({11})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Birgit Roth.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das Thema
„Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Tourismuswirtschaft im Euro-Land“ ist für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, für uns Tourismus- und Wirtschaftspolitiker von ganz enormer Bedeutung. Denn der
Tourismus ist eine der wachsenden Dienstleistungsbranchen, die wir haben, weil sich die Wettbewerbsbedingungen in den letzten beiden Jahren ganz klar verbessert haben.
({0})
Der Tourismus hat ein ganz enormes Wachstums- und
Beschäftigungspotenzial, weil sich die Wettbewerbsbedingungen verbessert haben, weil Reformen durchgeführt
worden sind - wir beide wissen ganz genau, dass es in den
letzten Jahren einen großen Reformstau gab, und wir haben damit aufgeräumt -, weil es wieder eine andere Stimmung gibt.
({1})
Ich möchte Ihnen im Folgenden anhand von Fakten
und Zahlen zeigen, dass sich die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen bei uns verbessert haben.
Sie wissen ganz genau, dass der Tourismusbereich
mittlerweile einen Anteil von 8 Prozent am Bruttosozialprodukt hat. Allein diese Zahl spricht für sich. Wir haben
mittlerweile 2,8 Millionen Arbeitsplätze in diesem Bereich. Was für mich als junge Abgeordnete ganz besonders wichtig ist: Wir gehen davon aus, dass der Tourismussektor circa 90 000 Ausbildungsplätze bereitstellt.
({2})
Da wollen Sie sagen, dass die Wettbewerbsbedingungen
hier nicht stimmig seien? Das passt doch nicht zueinander.
Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit ergreifen,
den vielen mittelständischen Betrieben in der Tourismusbranche zu danken, dass sie ihre Verantwortung gerade
gegenüber der Jugend annehmen.
({3})
Denn Jugend braucht eine Zukunft, Jugend braucht Ausbildungsplätze und Jugend braucht eine Perspektive.
Doch zurück zu den Fakten, Herr Burgbacher:
({4})
Die Beherbergungsbetriebe hatten 1999 über 100 Millionen Gäste. Das ist eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 5,6 Prozent. Nehmen Sie die Übernachtungen.
Bei den Übernachtungen liegen wir bei ungefähr 308 Millionen. Auch hier haben wir eine Steigerung, und zwar
von ungefähr 4,6 Prozent. Nehmen Sie die Zahl der
Ankünfte von ausländischen Gästen. Hier haben wir eine
Steigerung von circa 8,8 Prozent. Bei den Übernachtungen von ausländischen Gästen haben wir einen Zuwachs
gegenüber dem letzten Jahr von 9 Prozentpunkten.
({5})
- Danke schön für die Zustimmung! Sie haben es genau
auf den Punkt gebracht.
({6})
Besser hätte ich es nicht sagen können.
Schauen Sie sich die Inlandsreisen an. Auch hier verzeichnen wir einen deutlichen Anstieg. Nehmen Sie den
Geschäftsreiseverkehr. Hier haben wir die gleichen Steigerungsraten. Sie können auch einen Bereich wie den
Städtetourismus herausgreifen, zum Beispiel Berlin.
Berlin ist natürlich Hauptstadt und eine Stadt mit sehr
großer Vielfalt, keine Frage. In Berlin haben wir bei den
Zahlen der Gäste und der Übernachtungen zweistellige
Zuwächse zu verzeichnen.
Wie kann es denn, wenn ich Ihnen hier alle möglichen
Bereiche aufzählen kann, die Steigerungen gegenüber
dem Vorjahr aufweisen können, sein, dass die Wettbewerbsbedingungen nicht in Ordnung sind? Das passt doch
nicht zusammen.
Die Entwicklungen, die ich gerade angeschnitten habe,
sind auch das Ergebnis der rot-grünen Reformpolitik der
letzten zwei Jahre, durch die sich viel bewegt hat.
({7})
Denn wir, Herr Burgbacher, machen eine aktive Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir haben die Staatsverschuldung reduziert. Wir haben eine Steuerreform durchgeführt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Familien
und die Unternehmen gleichermaßen entlastet.
({8})
Wir gehen von einem ungefähren Entlastungsvolumen
von ungefähr 75 Milliarden DM aus. Das ist aktive Wirtschaftspolitik. Da sagen Sie, die Wettbewerbsbedingungen in diesem Lande würden nicht stimmen!
Nehmen wir die Prognosen für dieses Jahr. Wir gehen
davon aus, dass wir auch dieses Jahr ein Wirtschaftswachstum von 2,8 Prozentpunkten haben werden.
({9})
Auch das ist im Vergleich zu den letzten Jahren kein
schwaches Ergebnis.
Oder nehmen Sie die Zahlen der Arbeitslosigkeit. Im
Vergleich zu den letzten fünf Jahren haben wir folgende
Situation: Es ist ein Tiefstand erreicht worden. Natürlich
genügt der momentane Abbau der Arbeitslosigkeit noch
nicht. Aber wir stellen uns weiterhin der Herausforderung, diese zu reduzieren. Ich weiß noch ganz genau: Vor
zwei, zweieinhalb Jahren war die Schmerzgrenze von
4 Millionen Arbeitslosen erreicht, wenn nicht sogar überschritten. Deswegen meine ich: Wir sind genau auf dem
richtigen Weg. Schauen Sie sich die Zahlen und die Fakten an!
({10})
Mit Verlaub, werte Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P., wenn ich mir die Beschlussempfehlung anschaue,
die vor uns liegt, konstatiere ich: Dem Ganzen gingen eine
Große Anfrage und ein Entschließungsantrag voraus. Von
den ursprünglichen Kritikpunkten sind nicht sehr viele
übrig geblieben. Ich kann das jetzt in zwei Richtungen interpretieren: Entweder haben wir Sie mit unseren Positionen überzeugt
({11})
oder wir haben in den letzten zwei Jahren enorm viel von
dem abgearbeitet, was Sie in den letzten 16 Jahren nicht
gemacht haben.
({12})
Stichwort Trinkgeldbesteuerung: Herr Burgbacher,
wann ist denn die Trinkgeldbesteuerung realisiert worden? Da muss ich einfach auch die Frage stellen: Warum
haben Sie denn während der letzten Legislaturperiode die
Trinkgeldbesteuerung nicht abgeschafft? Ich glaube, so
kommen wir hier nicht weiter.
Was Sie auch immer kritisieren, ist die Änderung bei
den 630-Mark-Beschäftigungsverhältnissen. Sie wissen, ich teile Ihre Kritik an dieser Stelle in keiner Art und
Weise. Aber ich möchte Sie noch einmal an den Missbrauch erinnern, der in diesem Bereich vorgefallen ist.
Hier musste etwas geändert werden.
({13})
Sind wir uns nicht alle darin einig, dass die entscheidende Herausforderung gerade auch im Tourismusbereich
die Servicequalität ist? Denn Deutschland ist Hochpreisland, auch für den Urlauber. Das Entscheidende wird die
Servicequalität sein, die wir jetzt und in den nächsten Jahren anbieten werden. Wird ein Betrieb, der mit gut ausgebildetem Fachpersonal arbeitet, nicht einen besseren Service anbieten können als ein Betrieb, der mit sehr vielen
630-Mark-Beschäftigten arbeitet, zu dem eine permanente Fluktuation zu verzeichnen ist?
Sie kritisieren auch, dass jetzt Flexibilität nicht mehr
vorhanden sei. Sie wissen ganz genau, dass es Ausnahmeregelungen für Engpässe in der Hochsaison gibt, sei es
für das Gastronomiegewerbe, sei es für die Landwirtschaft, nämlich die 50-Tage-Regelung. Ich bitte auch, dies
in Rechnung zu stellen.
Um das Tourismusgewerbe und den Tourismusstandort
Deutschland weiterhin zu fördern, ist dieses Jahr zum
„Jahr des Tourismus“ ausgerufen worden. Dabei stehen
die Vernetzung und Vermarktung von unterschiedlichen
touristischen Highlights in den einzelnen Bundesländern
im Vordergrund, natürlich auch in Zusammenarbeit und in
Absprache mit der Tourismuswirtschaft.
Sie haben Minister Müller angesprochen und sind auf
ganz andere Bereiche gekommen.
({14})
- In diesem Sinne möchte ich auch eine Bemerkung machen. Ich halte nicht viel davon, zu sagen, Herr Müller
habe nur angekündigt. Nehmen Sie nur einmal die Energiepolitik. Gerade auf diesem Felde hat er sehr viel bewegt. Wenn ich auf die Regierungsbank schaue, sehe ich
Frau Staatssekretärin Wolf. Dass wir jetzt eine Mittelstandsbeauftragte haben, kann ich nur voll unterstützen.
Ich danke Herrn Minister Müller, dass er dem Mittelstand
diese politische Bedeutung zumisst und dass wir hier eine
neue Stelle haben.
({15})
Ich meine, wir sind gerade im Bereich der Tourismuswirtschaft auf dem besten Wege. Dieser Bereich hat eine
positive Perspektive. Auch die Politik der letzten zwei
Birgit Roth ({16})
Jahre hat dies unterstützt und sie wird es weiter unterstützen.
Vielen Dank.
({17})
Für die CDU/CSU
spricht jetzt der Kollege Ernst Hinsken.
Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Verehrte Frau Präsidentin! Die meisten haben bereits den „Heimtourismus“ angetreten.
({0})
Einige interessierte Kolleginnen und Kollegen sind noch
anwesend. Ich meine, es ist wert, auf das von der F.D.P.
gestellte Thema „Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Tourismuswirtschaft im Euro-Land“ einzugehen.
Aber bevor ich das tue, möchte ich Ihnen, Frau Wolf,
herzlich gratulieren. Sie sind zur neuen Parlamentarischen Staatssekretärin im Wirtschaftsministerium berufen
worden. Sie tragen nun Verantwortung auch für den Mittelstand. Ich wünsche Ihnen eine allzeit glückliche Hand,
darf aber schon bei dieser Gelegenheit darauf verweisen,
dass wir Sie sehr kritisch begleiten und prüfen werden, ob
das, was Sie früher gesagt haben, jetzt, wenn Sie der Exekutive angehören, auch umgesetzt wird. Alles Gute und
auf gute Zusammenarbeit!
({1})
Nun möchte ich insbesondere auf das eingehen, was
Frau Kollegin Roth aus ihrer Sicht vorgetragen hat, und
manches geraderücken. Liebe Frau Kollegin Roth, ich
pflichte Ihnen bei, wenn Sie darauf verweisen, dass gerade der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsbereich ist.
Das, was Sie ausgeführt haben, müsste noch durch die Information ergänzt werden, dass in dieser Wirtschaftssparte über 100 000 Ausbildungsplätze nicht nur bereitgestellt werden, sondern auch besetzt sind.
Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass der
Anteil an der Bruttowertschöpfung bei circa 300 Milliarden DM liegt. Aber um was geht es vor allen Dingen bei
dieser Debatte? Der Kollege Burgbacher hat bereits darauf verwiesen. Es geht darum, Rahmenbedingungen in
dem sich verfestigenden Europa zu schaffen, damit wir
mit dieser „Leitökonomie der Zukunft“, wie die Tourismuswirtschaft bezeichnet wird, auch weiterhin dabei
sind.
({2})
Wenn innerhalb Europas in den nächsten zehn Jahren
zu den 25 Millionen Arbeitsplätzen 2,5 Millionen Arbeitsplätze hinzukommen, dann hoffe und wünsche ich, dass
die Bundesrepublik Deutschland in der Hotellerie, Gastronomie und allem, was zu diesem Bereich zählt, mit
400 000 bis 450 000 Arbeitsplätzen dabei ist. Das wird
aber nur der Fall sein, wenn die Rahmenbedingungen
stimmen. Bei ihnen liegt einiges im Argen.
({3})
Sie kennen sicherlich alle den Film mit dem Titel:
„Denn sie wissen nicht, was sie tun“. Ich erwähne diesen
Titel deshalb, weil ich genau das Gegenteil von dem
meine, verehrte Frau Kollegin Roth, was Sie eben ausgeführt haben. Man muss feststellen, dass zutrifft, was der
Titel dieses Films besagt, dass scheinbar einige von Ihnen
- sogar die Mehrheit - nicht wissen, was sie tun; denn
dem Mittelstand wird ein Negativum nach dem anderen
aufgebürdet:
({4})
630-DM-Regelung, Ökosteuer, Recht auf Teilzeit, Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes und, und, und.
Ich frage mich: Wissen Sie denn überhaupt, was Sie tun?
({5})
- Nein, das wissen Sie nicht.
({6})
Sie würden sonst nicht solche blumigen Reden halten und
sich weigern, Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich
sind, damit sich die Tourismuswirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin entfalten kann.
({7})
Es gibt eben Landesteile, in denen der Tourismus von entscheidender Bedeutung ist, wie zum Beispiel in meiner
Heimat oder in der meines Kollegen Kurt Rossmanith im
Allgäu. In diesen Regionen ist er ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, den man nicht vernachlässigen kann. Vielmehr braucht er Rahmenbedingungen, damit das Ganze
weiterhin läuft.
Frau Kollegin Roth, ich wundere mich nicht - das ist
das Gegenteil von dem, was Sie ausgeführt haben -, dass
trotz der Gäste- und Übernachtungszahlen die Tourismuswirtschaft in Deutschland einfach nicht richtig in Fahrt
kommt. Lassen Sie mich zur Lage feststellen: Die Zahl
unserer Gäste ist im Jahr 1999 gegenüber dem Vorjahr um
6 Prozent gestiegen und hat erstmals die Zahl von
100 Millionen überschritten. Die Übernachtungszahlen
sind um 4,6 Prozent auf insgesamt 308 Millionen Übernachtungen gestiegen. Nun möchte ich nicht den Vergleich mit Spanien oder Griechenland ziehen, wo die Zahl
- prozentual gesehen - doppelt so hoch ist. Es ist nicht
von der Hand zu weisen: Diese Zahlen sind bestechend.
Aber ich möchte auf etwas verweisen, weil Sie vorhin
mit Ihren Aussagen nicht ganz richtig lagen. Deshalb gilt
es, diese zurechtzurücken. Die Zahl der Beschäftigten
im Gastgewerbe ist im Gegensatz zu den Übernachtungszahlen im ersten Halbjahr des Jahres 2000 um
3,7 Prozent zurückgegangen. Weiterhin sehe ich mit
großer Sorge, dass 42 Prozent aller Gastronomiebetriebe
in der Bundesrepublik Deutschland trotz guter Umsatzentwicklung Ertragsverluste verzeichnen mussten. Auch
das kann nicht wegdiskutiert werden, verehrte Frau Wolf.
Gerade aufgrund dieser Zahlen sehen Sie, was Sie tun
müssen, um dem Mittelstand den notwendigen Schub zu
Birgit Roth ({8})
geben, damit er nach vorne kommt. Wenn jetzt im Wirtschaftsministerium zwei Staatssekretäre, nämlich der
Kollege Mosdorf für den Tourismus und Sie, Frau Kollegin Wolf, für den Mittelstand, verantwortlich zeichnen,
dann darf es nicht heißen: „Quantität sticht Qualität“, sondern dann sollte auch die Qualität erhöht werden. Man
sollte sich hier gegenseitig ergänzen, Ideen aufnehmen
und etwas bewegen.
Wenn man mit den betroffenen Verbänden und den verantwortlichen Unternehmen spricht,
({9})
dann stellt man fest, dass sehr vieles im Argen liegt. Die
Umfrage des Dehoga im Sommer 2000, die in seinem
Konjunkturbericht veröffentlicht wurde, hat zum Beispiel
ergeben, dass vor allem kleine und mittlere gastronomische Betriebe massiv von Existenzsorgen und -nöten geplagt sind.
Auch bei dieser Debatte muss man sich natürlich fragen:
Worauf ist das zurückzuführen? Was sind die eigentlichen
Ursachen? Auf der einen Seite beklagt der Deutsche Hotelund Gaststättenverband, dass ihm 80 000 Mitarbeiter fehlen.
({10})
Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass allein seit
April 1999 100 000 nebenberuflich Beschäftigte von der
Bildfläche verschwunden sind. Das bewegt mich.
Vorhin wurde davon gesprochen, dass der Tourismus
ein wichtiger Wirtschaftszweig ist. Dem ist meines Erachtens hinzuzufügen: Die Zahl der Übernachtungen
- diese Zahl ist für den Tourismusbereich wichtig - würde
sich erhöhen, wenn man auch diejenigen erfassen würde,
die in Hotels und Herbergen übernachten, die weniger als
neun Betten haben.
Ich habe mir die Arbeit gemacht, das einmal hochzurechnen, und bin auf folgende Zahlen gekommen:
({11})
- Richtig, das haben wir im Ausschuss schon gehört, Frau
Voß. Aber hier wurde noch nicht darauf hingewiesen. Ich
richte mich hier ja nicht an Sie, die Sie im Ausschuss, der
nicht öffentlich tagt, sicherlich ab und zu ganz gut aufpassen. Dies muss hier im Plenum noch einmal dargestellt
werden. - Circa 50 bis 70 Millionen zusätzliche Übernachtungen sind zu verzeichnen. Auch das ist ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Wenn man nämlich eine Übernachtung mit 80 DM ansetzt - auf dem Lande ist das noch
so billig, Frau Schnieber-Jastram; da kostet eine Übernachtung nicht so viel wie in Hamburg ({12})
und dies hochrechnet, dann kommt man auf einen Betrag
von ungefähr 5 bis 6 Milliarden DM.
Ich habe hier die Möglichkeit, all das aufzugreifen, was
negativ ist. In diesem Zusammenhang ist natürlich nicht
von der Hand zu weisen, was Hotellerie und Gastronomie
und die gesamte Tourismuswirtschaft erneut beunruhigt:
die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes. Dazu muss
ich Ihnen sagen: Wir werden höllisch aufpassen, dass hier
nicht Maßnahmen ergriffen werden und Gesetzesvorlagen durchgehen, die insbesondere die kleinen und mittleren Betriebe schädigen und das Selbstständigsein nicht
mehr interessant machen. Da müssen wir vor allem heran;
dies brennt uns besonders auf den Nägeln.
({13})
Lassen Sie mich darauf verweisen, dass nicht nur eine
Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes ins Haus steht,
sondern dass vor allen Dingen auch die Ökosteuer - ich
bin dankbar, dass Kollege Burgbacher sie angesprochen
hat - eine große Belastung ist. Den meisten Mitbürgern ist
überhaupt nicht bewusst, dass ein mittelständischer Betrieb allein durch die Ökosteuer jährlich mit ungefähr
10 000 DM zusätzlich belastet wird.
({14})
- Das ist eine zusätzliche Belastung.
Herr Kollege Kubatschka, hinzu kommt, dass die Ökosteuer, die die Betriebe belastet, zu einer Mineralölsteuererhöhung geführt hat. Wenn ein Hamburger, Frau Kollegin Schnieber-Jastram, bereit ist, zu mir oder zu Kurt
Rossmanith ins Allgäu bzw. in den Bayerischen Wald oder
in den Schwarzwald zu fahren,
({15})
und wenn er 1 000 Kilometer hin und 1 000 Kilometer
zurückfährt - vielleicht kommen noch ein paar Kilometer
hinzu -, dann hat er bei einem Spritverbrauch von 10 Liter pro 100 Kilometer allein aufgrund der Ökosteuer
42 DM mehr zu zahlen.
({16})
Wissen Sie, was das ist? - Das ist dreimal Schweinebraten umsonst. So muss das gesehen werden. Das ist Politik
gegen den kleinen Mann und gegen den Mittelstand. Das
muss hier angesprochen werden. Darum pflichte ich
Herrn Kollegen Burgbacher bei: Diese Ökosteuer muss
weg, und zwar lieber heute als morgen.
({17})
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ein weiteres Ungemach droht durch die ersatzlose Streichung des Rabattgesetzes und der Zugabeverordnung. In diesem Zusammenhang ist vor allem zu sehen, dass kleine und
mittlere Betriebe nicht in der Lage sind, eine breite Angebotspalette zugrunde zu legen. Hier ist man auf die Güter
beschränkt, die man anbietet. Diese Tatsache beinhaltet,
dass man von der Abschaffung des Rabattgesetzes negativ tangiert wird. Deshalb bin ich gegen eine ersatzlose
Streichung. Diesem Umstand muss Rechnung getragen
werden.
Verehrte Frau Präsidentin, ich spreche die letzten zwei
Sätze, dann bin ich schon fertig.
Sie haben so nette Urlaubseinladungen ausgesprochen, da kann ich nicht widerstehen.
Herzlichen Dank. - Ich
meine, dass es sich im Hinblick auf die neuen Bundesländer für manchen Deutschen lohnen würde, nicht nur ins
Ausland zu reisen, sondern im eigenen Lande zu bleiben
und die Schönheiten kennen zu lernen, die ihm dort geboten werden.
Deshalb die letzte Bemerkung: Kollege Burgbacher
hat eingangs darauf verwiesen, er verstehe es nicht, dass
auf der einen Seite das Jahr des Tourismus eingeläutet
werde - was wir alle begrüßen und gutheißen -, während
auf der anderen Seite die Bundesregierung nicht bereit
sei, hierfür einen einzigen Pfennig zur Verfügung zu stellen.
({0})
- Ja, sicher.
Deshalb bin ich der Meinung, man sollte Nägel mit
Köpfen machen und nicht nur ideell auf die Verbände und
Mitbürger einwirken, den Urlaub in Deutschland zu verbringen, einen Aha-Effekt zu erleben. Vielmehr sollte die
Bundesregierung in die Tasche greifen und die Mittel bereitstellen, die man benötigt, um im Jahr 2001 den Tourismus in Deutschland so attraktiv zu machen, dass viele
Mitbürger im eigenen Land bleiben und die Wirtschaft auf
diese Weise mit ankurbeln.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Jetzt spricht die Kollegin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Hinsken, wir haben Nägel mit Köpfen gemacht, aber
die scheinen Ihnen wehzutun. Die F.D.P. fühlt sich offensichtlich schon seit vielen Monaten um den Schlaf gebracht, denkt sie an die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Tourismuswirtschaft. Bei dem Versuch, sich in den
Schlaf zu zählen, stocken Sie allerdings immer bei der
Zahl 630.
Diese Zahl macht den Freien Demokraten im Zusammenhang mit der Neuregelung der so genannten 630-DMJobs noch immer sehr zu schaffen,
({0})
obwohl sie auf jeden empirischen Beleg für die schlafraubenden Probleme verzichten und stattdessen eine Verunsicherung in der Branche lediglich konstatieren.
({1})
Der Grund dafür ist schnell genannt: Die Regelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse ist vor fast
zwei Jahren in Kraft getreten und hat sich längst bewährt.
({2})
Etwa 100 000 Arbeitsverhältnisse geringfügig Beschäftigter - Herr Hinsken sagte es auch gerade - sind durch
die Regelung in Beschäftigungsverhältnisse mit Sozialversicherungspflicht übergegangen. Dadurch wurde eine
weitere Erosion der Finanzgrundlagen der Sozialversicherung - die uns alle betreffen würde - verhindert.
({3})
Das haben wir so gewollt und das haben wir auch geschafft.
Zu Ihrer Beruhigung sei auch noch angefügt, dass
durch diese Neuregelung, die ja nun inzwischen so neu
nicht mehr ist, im europäischen Vergleich keine Wettbewerbsnachteile entstanden sind. Der Bundesregierung ist
es mit dieser Regelung sogar gelungen, in wirtschaftlicher
Hinsicht einen weiteren Schritt in Richtung europäische
Einheit zu gehen. In Frankreich, Spanien und Italien Länder, die für ihre touristische Anziehungskraft und Bedeutung bekannt sind - gibt es keinerlei Sozialversicherungsfreiheit.
Der Regelung ist es auch zu danken, dass es sich wieder lohnt, fachkundiges Personal einzustellen.
({4})
Etwa 30 bis 40 Prozent der Stellen im Bereich von Hotellerie und Gastronomie waren zeitweise 630-DM-Jobs.
Gern griff man in diesem Bereich auf ungelernte Kräfte
zurück. Was dabei auf der Strecke blieb, war die Qualität
und das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.,
wäre ein Grund für tiefe Augenringe mangels Schlaf gewesen.
Gegen die unruhigen Nächte der F.D.P. gibt es ein weiteres Mittel: Holen Sie sich mehr Gelassenheit durch einen ideologisch ungetrübten Blick in die Wirklichkeit.
Nach einer aktuellen Umfrage des Instituts der deutschen
Wirtschaft, Herr Burgbacher, erwartet man für den Wirtschaftszweig Tourismus für das Jahr 2001 einen Anstieg
der Beschäftigtenzahl.
Zu der von Ihnen geforderten Einführung eines verminderten Mehrwertsteuersatzes für die deutsche Hotellerie möchte ich nur anmerken, dass die F.D.P. während
vieler, allzu vieler Jahre die Wirtschaftspolitik der
Bundesrepublik geprägt hat, ohne diesem jetzt von Ihnen
in der Opposition erkannten Handlungsbedarf jemals zu
entsprechen. Aber bei allem Respekt, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der F.D.P.-Fraktion, im jetzigen, dem
Nachlass Ihrer Regierungsjahre geschuldeten Haushaltskonsolidierungsprozess so nebenbei Steuermindereinnahmen von 1,3 Milliarden DM, die Ihre Forderungen zur
Folge hätten, zu veranlassen, ist wirklich nicht zu verantworten und zeigt Ihren traumtänzerischen Umgang mit
diesem Metier.
Neben der Bundesregierung ist auch die Deutsche Zentrale für Tourismus, DZT, um ein bestmögliches Erscheinungsbild des Reiselandes Deutschland im europäischen
Ausland bemüht. Wir unterstützen diese Arbeit, indem der
überwiegende Teil des Finanzbedarfs der DZT durch Mittel des Bundes gedeckt wird.
Im Übrigen übertrifft das Wachstum des Tourismus in
Deutschland die durchschnittliche Wachstumsrate in Europa. Den Abwärtstrend, den Sie uns hier suggerieren
wollen, gibt es in dieser Art im Tourismus in Deutschland
wirklich nicht.
Auf Zustimmung stößt bei uns natürlich die Forderung
nach einer Integration der Tourismuspolitik in andere
Gemeinschaftspolitiken. Aber Sie wissen, hier ziehen wir
im Tourismusausschuss ohnehin an einem Strang. Ihrer
Forderung nach einem intensiveren nationalen Dialog
zwischen Politik und Tourismuswirtschaft hat die Bundesregierung bereits entsprochen. Mit der neuen Mittelstandsbeauftragten der Bundesregierung, der Parlamentarischen
Staatssekretärin Margareta Wolf, wird es möglich sein,
die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Tourismusbranche noch ertragreicher zu gestalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.-Fraktion, dass Sie in Ermangelung substanzieller Einwendungen gegen unsere Tourismuspolitik auch wieder das Jammerlied der Ökosteuer singen würden, überrascht uns
natürlich nicht. Aber Ihre mies machenden Behauptungen
werden durch ewiges Wiederholen ja nicht besser. Zahlen,
die den Niedergang des Tourismus in Deutschland belegen, haben Sie gar nicht. Ich kann Sie nur noch einmal auf
die Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft verweisen, in der auch die Frage nach der Stimmungslage der
Unternehmen im Wirtschaftszweig Tourismus gestellt
wurde. Sie ist - hört, hört! - im Vergleich zum vorhergehenden Jahreswechsel besser, und das, obwohl am 1. Januar
2001 die dritte Stufe der Ökosteuer in Kraft getreten ist.
Herr Burgbacher, zu dem Beispiel mit den Bussen
möchte ich sagen: Am 8. Januar dieses Jahres waren Diesel und Benzin jenseits der Grenze zu Frankreich teurer
als mit Ökosteuer auf der deutschen Seite der Grenze. Sie
erfinden mit Ihren realitätsfernen, irrlichternden Vorstellungen die Welle rückwärts und den Mölle seitwärts. Deswegen kann man zu dem Entschließungsantrag Ihrer
Fraktion nur noch humorvoll sagen: Alles Mölle-Welle,
oder was?
({5})
Zum Abschluss der
Debatte spricht noch einmal die Kollegin Birgit Roth für
die SPD-Fraktion.
Herr Hinsken, mein Ausschussvorsitzender, Sie wissen, dass ich das, was Sie gesagt haben, in dieser Form nicht stehen lassen kann. Ich
möchte nur auf drei Punkte, die Sie angesprochen haben,
eingehen.
Erstens. Sie haben gesagt, es gebe im Tourismusbereich einen Beschäftigungsrückgang von 3,7 Prozent.
Das ist in dieser Form nicht richtig. Es gibt zwar einen
Rückgang, aber Sie müssen sehen, dass sich dieser Rückgang auf die Reduzierung der 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse zurückführen lässt. Mit Verlaub,
630-Mark-Jobs sind keine richtigen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze.
({0})
Wir wollen mit unserer sozialdemokratischen Politik die
Schaffung von modernen, zukunftsweisenden sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen fördern.
Sie wissen ganz genau - ich hatte das schon vorhin angesprochen -, was für ein Missbrauch in puncto 630Mark-Jobs betrieben worden ist. Sie müssen bedenken,
wer auf der Basis von 630 DM arbeitet. Das sind in erster
Linie Frauen. Frauen werden in unserer Gesellschaft noch
immer schlechter als Männer bezahlt, haben Familienpause und erziehen die Kinder. Sie haben dementsprechend eine geringere Rente. Die Durchschnittsrente der
Frauen in den alten Bundesländern liegt momentan bei
1 000 DM. Erklären Sie mir bitte, wie man mit 1 000 DM
über die Runden kommen soll! Das geht einfach nicht.
Daran sind auch die 630-Mark-Beschäftigungsverhältnisse schuld. Deswegen haben wir genau in diesen Bereich eingegriffen.
({1})
Frau Kollegin Roth,
der Kollege Hinsken möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich möchte den Gedanken erst noch zu Ende führen.
Sie müssen mir auch erklären: Warum muss jemand,
der samstags arbeitet und Überstunden macht, sein Geld
versteuern, während jemand, der neben seinem Hauptberuf auf der Basis von 630 DM arbeitet, dies nicht machen muss? Das ist nicht logisch. Auch deswegen ist es
auch geändert worden.
({0})
Frau Kollegin Roth, sind
Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Zahlen, die
ich hier wiedergab, vom Deutschen Hotel- und Gaststättengewerbe stammen ({0})
aufgrund mehrmaligen Hinterfragens muss ich diese als
authentisch und richtig einordnen - und insofern das, was
Sie hier behaupten, nämlich dass der Rückgang in erster
Linie auf die Abnahme der 630-DM-Beschäftigungen zurückzuführen sei, nicht stimmt?
Herr Hinsken, ich beziehe mich auf eine Studie des DIW. Darin heißt es, dass
der Grund für den Rückgang vor allem in der Rückführung der 630-DM-Beschäftigungen liege.
({0})
- Dann haben wir einen Dissens in dieser Frage.
({1})
Zur Ökosteuer. Was haben wir denn in diesem Bereich
getan? Auf der einen Seite ist der Faktor Energie verteuert worden, aber auf der anderen Seite ist - ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie auch dies einmal erwähnen würden - der Faktor Arbeit günstiger geworden, weil die
Lohnnebenkosten reduziert worden sind.
({2})
Das kommt - aber das wird von Ihrer Seite nicht erwähnt - sowohl den Arbeitgebern als auch den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugute,
({3})
und zwar auch im Hotellerie- und Gastronomiegewerbe.
({4})
- Das stimmt! Ich glaube, auch hier haben wir einen Dissens. Aber ich bin dankbar, dass wir darüber diskutieren.
Zu einem weiteren Thema muss ich noch etwas sagen,
nämlich dem Recht auf Teilzeit. Herr Hinsken, wenn Sie
dieses Thema anschneiden, dann müssen Sie bitte hinzufügen, dass ein Recht auf Teilzeit nur in Betrieben mit
mehr als 15 Beschäftigten greift und darüber hinaus ein
Einvernehmen mit dem Unternehmen - „wenn es der Arbeitsplatz erlaubt“ - erfordert. Ich sehe, dass dieser Bereich kompromissfähig ist und zwischen Arbeitgeber und
Arbeitnehmer bzw. Arbeitnehmerin abgesprochen wird.
({5})
Was ist denn der Hintergrund dieser Regelung? Weil es
Studien gibt, die ganz klar belegen, dass potenziell drei
bis vier Millionen Beschäftigte bereit sind, Teilzeit zu arbeiten,
({6})
und dadurch ungefähr zwei bis drei Millionen neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze - da wollen wir
hin - entstehen können. Aus diesem Grunde halte ich das
Recht auf Teilzeit für richtig.
({7})
- Warum, Herr Burgbacher, soll es die Schwarzarbeit begünstigen, wenn jemand einen Teilzeitarbeitsplatz anstrebt?
({8})
Ich sehe überhaupt keine logische Verbindung zur
Schwarzarbeit, wenn sich zwei Beschäftigte einen Arbeitsplatz teilen. Meines Erachtens gibt es diese auch
nicht.
({9})
- Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das Gleiche täten.
Danke schön.
({10})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus zu dem Entschließungsantrag der
Fraktion der F.D.P. zu ihrer Großen Anfrage mit dem Titel „Wettbewerbsbedingungen für die deutsche Tourismuswirtschaft im Euro-Land“; es handelt sich um die
Drucksache 14/4704. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/1159 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der
CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Ich rufe den letzten Tagesordnungspunkt für heute auf,
den Tagesordnungspunkt 23:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. UweJens Rössel, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
UMTS-Milliarden für die Einführung einer
kommunalen Investitionspauschale des Bundes
- Drucksache 14/4557 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst redet der Kollege
Dr. Uwe-Jens Rössel für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung heißt es:
Wir wollen die Finanzkraft der Gemeinden stärken
und das Gemeindefinanzsystem einer umfassenden
Prüfung unterziehen.
Passiert ist aber fast gar nichts. Für die übergroße
Mehrheit der Städte, Gemeinden und Landkreise in der
Bundesrepublik hat sich die finanzielle Situation in den
letzten Jahren eher verschlechtert. Kommunale Selbstverwaltung rückt in immer weitere Ferne. Einige Fakten: Die
Verschuldung der Kommunen hat sich dramatisch zugespitzt und liegt derzeit bei rund 202 Milliarden DM, ein
Zuwachs von etwa 8 Milliarden DM seit dem vergangenen Jahr.
Besonders prekär und niederschmetternd ist die Lage
mancher ostdeutscher Kommunalhaushalte, vor allem in
strukturschwachen Regionen. Außerdem sind die kommunalen Investitionen dauerhaft rückläufig. Ende des
Jahres 2000 lagen sie - ich sage ausdrücklich: preisbereinigt, also vergleichbar - etwa 30 Prozent unter dem Stand
des Jahres 1992.
({0})
- Umso schlimmer, Kollege Kutzmutz, weil die Auswirkungen besonders schlimm sind. - Es geht um weniger
Aufträge für das Bauhandwerk, für das Baunebenhandwerk und für das Gewerbe insgesamt. Dies hat zur Folge,
dass der Arbeitsmarkt weiter belastet wird, die Arbeitslosigkeit daher zunimmt.
Die vielerorts dramatische Situation der Kommunalfinanzen hat natürlich viele lokale Ursachen, die hier nicht
zur Debatte stehen. Auch die Länder kommen ausnahmslos schlecht weg, wenn es um die finanzielle Unterstützung für die Kommunen geht. Hierzu kann ich wohl kein
positives Beispiel benennen.
Aber auch die Politik der rot-grünen Bundesregierung
hat direkt bzw. indirekt dafür gesorgt, dass die Finanzausstattung der Kommunen weiter sehr angespannt bleibt,
sich sogar verschlechtert hat.
Hierzu einige Fakten: Durch die verschiedenen seit
1998 unter Rot-Grün verabschiedeten Steuergesetze werden den Kommunen im Jahre 2001 etwa 6,5 Milliarden
DM an eigenen Einnahmen fehlen. Dazu kommt, dass
auch die Länder durch die Steuergesetzgebung der Bundesregierung erheblich belastet werden, weniger Steuereinnahmen haben, was über den so genannten Finanzausgleich teilweise auf die Kommunen durchschlägt. Dies
führt für die Kommunen im Jahre 2001 zu weiteren Mindereinnahmen in Höhe von 4,8 Milliarden DM. Insgesamt
ergibt sich also die Summe von 11,3 Milliarden DM weniger Einnahmen seitens der Kommunen - ein unverantwortlicher Zustand.
Auch auf der Ausgabenseite führt die Politik der rotgrünen Bundesregierung zwar zu einer Sanierung des
Bundeshaushaltes, die aber sehr stark zulasten der Kommunen geht. Zwei Beispiele: Erstens. Die originäre Arbeitslosenhilfe wurde mit dem Haushaltsanierungsgesetz
gestrichen. Die Kommunen müssen daraufhin etwa
900 Millionen DM mehr an Sozialhilfe aus ihren Budgets
aufbringen.
Zweitens. Der Bundesanteil am Unterhaltsvorschuss
für Alleinerziehende wurde mit eben diesem Gesetz drastisch gesenkt. Die Kommunen müssen die dadurch entstehenden Ausfälle in Höhe von 400 Millionen DM tragen.
Notwendig ist jetzt eine umfassende Reform der Kommunalfinanzierung. Als einen ersten Schritt dazu sieht die
PDS-Fraktion die Möglichkeit, eine Investitionspauschale des Bundes einführen, die ab dem Jahr 2002 im
Haushalts verankert wird und vom Bund zu bezahlen
wäre. Der Bundeshaushalt sollte diesen Beitrag aufbringen, hat er sich doch in den zurückliegenden zehn Jahren
in einer milliardenschweren Größenordnung auf Kosten
der Kommunen saniert. Wir sehen die Chance als gegeben, diese Entscheidung, die politische Weitsicht voraussetzt, zu treffen, auch unter einem Bundesfinanzminister,
der die Situation der Kommunen kennen müsste, ist er
doch viele Jahre Oberbürgermeister einer hessischen
Großstadt gewesen.
Diese Investitionspauschale des Bundes sollte ohne
Zwischenebenen und bürokratische Hürden vom Bund direkt an die Kommunen weitergeleitet werden. Sie soll unter Wahrung der kommunalen Selbstbestimmung vor Ort,
für Investitionen im sozialen und soziokulturellen Bereich und auch im Bildungsbereich eingesetzt werden.
Wir legen außerordentlich großen Wert auf eine unbürokratische Bereitstellung der Mittel durch den Bund,
({1})
weil die Kommunen endlich die Chance erhalten müssen - Kollege Schmidt, auch Sie kennen das aus Ihrem
Wahlkreis -,
({2})
eigenverantwortlich zu entscheiden.
({3})
- Dass dies zulässig ist, zeigt die Tatsache, dass der Bund
1991 und 1993 eine solche Investitionspauschale für Ostdeutschland eingerichtet hatte.
({4})
Wir wollen sie ausdrücklich nicht nur für ostdeutsche
Kommunen, sondern auch für strukturschwache Regionen im Altbundesgebiet und deren Kommunen einrichten.
Wir wollen keine ausschließlich ostbezogene, sondern
eine gesamtdeutsche Lösung.
Gerade der Mittelstand braucht die Kommunen als
Auftraggeber, Herr Schmidt. Daran mangelt es bekanntlich. Die Auftragslage ist sehr schwierig, und zwar auch
oder gerade weil die Kommunen als Auftraggeber immer
mehr ausfallen.
({5})
Eine kommunale Investitionspauschale des Bundes
könnte helfen, diese Chance zu nutzen. Eine kommunale
Investitionspauschale könnte dazu beitragen, eine Trendwende bei den Kommunalfinanzen einzuleiten und die
Einnahmeausfälle für die Kommunen aufgrund der Steuergesetzgebung zumindest teilweise zu kompensieren.
Diese Einnahmeausfälle werden in den nächsten Jahren in
verstärktem Maße auftreten und für die Bürgerinnen und
Bürger weitere Einschnitte im soziokulturellen Bereich
bedeuten. Das will die PDS nicht hinnehmen. Deshalb
schlägt sie vor, eine kommunale Investitionspauschale
des Bundes alsbald einzurichten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und ein schönes
Wochenende.
({6})
Für die guten Wün-
sche bin eigentlich ich zuständig.
Die Kolleginnen und Kollegen Hans Georg Wagner,
Peter Götz, Antje Hermenau und Gerhard Schüßler haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) - Ich sehe Einverständnis im ganzen Haus.
Deshalb kommen wir sofort zur Überweisung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4557 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 24. Januar 2001, 13 Uhr, ein.
Ich schließe mich den guten Wünschen meines Kollegen Uwe-Jens Rössel ausdrücklich an und wünsche Ihnen
allen ein nicht allzu arbeitsreiches Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.