Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 1/18/2001

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widVizepräsidentin Anke Fuchs men, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Bundesministerin, Sie haben den Eid geleistet. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und wünsche Ihnen Glück und Erfolg zum Wohle der Menschen in unserem Land. ({0})

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich darf nun Frau Bundesministerin Ulla Schmidt bitten, zur Eidesleistung zu mir zu kommen. Ich bitte Sie, den Eid zu leisten. ({0})

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Bundesministerin, Sie haben den im Grundgesetz vorgesehenen Eid geleistet. Ich darf auch Ihnen Glück und Erfolg zum Wohle der Menschen in unserem Lande wünschen. Alles Gute! ({0})

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Danke.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Herr Bundeskanzler auch gemerkt, für wen die Blumen waren. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können nun mit der Arbeit beginnen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 h auf: a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Verkehrsbericht 2000 - Integrierte Verkehrs- politik: Unser Konzept für eine mobile Zukunft b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Renate Blank, Norbert Königshofen, Dirk Fischer ({1}), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur - Drucksachen 14/1877, 14/3193 - c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Straßenbaubericht 1998 - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Angelika Mertens, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({3}), Franziska Eichstädt-Bohlig, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Straßenbaubericht 1998 - Drucksachen 14/245, 14/2576, 14/3844 - Berichterstattung: Abgeordnete Angelika Mertens d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Mertens, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Wilhelm Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({5}), Franziska Eichstädt-Bohlig, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Anti-Stau-Programm - Drucksachen 14/3179, 14/4009 - Berichterstattung: Abgeordnete Renate Blank e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Christine Ostrowski, Eva BullingSchröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Flächenhafter Ausbau der Schienenwege im Bereich Nordbayern, Hessen, Thüringen und Sachsen - zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert Otto ({7}), Dirk Fischer ({8}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Weiterbau des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit ({9}) Nr. 8 - Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin - zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Mertens, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({10}) Franziska EichstädtBohlig, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thüringen/Nordbayern im Rahmen des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit ({11}) Nr. 8 Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin - zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich ({12}), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Ja zur Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zum Ausbau der Schienenwege 1999 - Drucksachen 14/2525, 14/2692, 14/2906, 14/2914, 14/2176, 14/4340 Berichterstattung: Abgeordneter Helmut Wilhelm ({13}) f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Verkehrsbericht 2000 Integrierte Verkehrspolitik: Unser Konzept für eine mobile Zukunft - Drucksache 14/4688 ({14}) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({15}) Finanzausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für Tourismus g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2000 - Drucksache 14/4048 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({16}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, Heidi Lippmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Interregio für die Regionen erhalten - Drucksache 14/4543 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss Zum Verkehrsbericht 2000 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Kurt Bodewig, das Wort.

Kurt Bodewig (Minister:in)

Politiker ID: 11003051

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe neue Ministerkolleginnen! Ich darf Sie gleich bei dieser ersten Gelegenheit ganz herzlich beglückwünschen. ({0}) Die Probleme in der Verkehrspolitik haben heute eine besondere Qualität. ({1}) Aber auch die Lösungen, die wir anzubieten haben, haben eine besondere Qualität. Sie werden ja sehr gespannt darauf sein. Im Titel des Verkehrsberichts haben wir das mit den Schlagworten „Integrierte Verkehrspolitik: Unser Konzept für eine mobile Zukunft“ festgehalten. Der Verkehrsbericht stellt eine umfassende Bestandsanalyse der Entwicklung des Verkehrs und der Mobilität in Deutschland dar. Vor allem aber beschreibt er unser integriertes Verkehrskonzept. Das ist das Neue. Hierin unterscheiden wir uns deutlich von Ihrer Politik. ({2}) Dieser Bericht ist notwendig; unser verkehrspolitisches Erbe ist ja bekannt: Erstens nenne ich den völlig unterfinanzierten Bundesverkehrswegeplan von 1992. ({3}) Zweitens. Die Bahnreform wurde nicht mit den erforderlichen Investitionen unterfüttert. Drittens. Sie haben es zugelassen und befördert, dass Großprojekte der Bahn schöngerechnet und Milliardenlöcher verschwiegen oder beschönigt wurden. Ich glaube, dass es ein ganz fataler Fehler war, dass Sie wichtige Warnungen in den Wind geschlagen haben. ({4}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Viertens. Es gab kein schlüssiges Konzept für den Flughafenstandort Deutschland. Fünftens. Die alte Bundesregierung hat Mitte der 90erJahre zu viele Spatenstiche gemacht und zu wenig für den Erhalt der Verkehrsinfrastruktur getan. Ich selbst kenne einige Baustellen, die, obwohl die Spatenstiche schon vor einigen Jahren erfolgten, immer noch darauf warten, dass Bagger kommen. Diesem Missstand werden wir jetzt abhelfen. ({5}) Die Bagger werden kommen, weil die Straßen gebaut werden müssen, damit die Bürger entlastet werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass eine Politik, die für eine leistungsfähige Infrastruktur sorgt, eine gute Wirtschaftspolitik und damit auch eine vorausschauende Sozialpolitik ist; denn wir sichern Wohlstand und Beschäftigung. Infrastrukturinvestitionen sind hierfür der entscheidende Schritt. Dies galt und gilt vor allem für die neuen Länder. Natürlich werden wir auch in der Verkehrspolitik den Aufbau Ost fortsetzen. Dafür haben Sie in Ihrer Regierungszeit einen wichtigen Grundstein gelegt. Wir werden die Infrastrukturentwicklung in den neuen Ländern vorantreiben und wir werden alles daransetzen, um die Gleichheit der Lebensbedingungen herzustellen. ({6}) Deshalb haben wir unser Konzept für eine integrierte Verkehrspolitik entwickelt. Die moderne Gesellschaft ist eine mobile Gesellschaft. Die einfachste und wichtigste Frage für den Bürger lautet: Wie komme ich von A nach B? ({7}) - Das ist eine schlichte Frage, Herr Kollege Oswald; die Antwort ist aber zum Teil komplex und mitunter schwierig. ({8}) - Ich würde mich freuen, wenn Sie zuhörten. Vielleicht können Sie auch etwas lernen. ({9}) Die Antwort wird nur mit intelligenten Lösungen gegeben werden können. Die enge Verbindung von Mobilität und Wohnen, von Stadtentwicklung und Verkehr macht die Dimension dieses Problems deutlich. So ist der öffentliche Personennahverkehr für die Zukunft der Städte und Ballungszentren von großer Bedeutung. Wer wüsste das besser als wir? Mir ist auch wichtig festzustellen: Das Fahrrad wird bei der Vermeidung motorisierten Individualverkehrs in den Städten ebenfalls eine eigenständige Rolle spielen. ({10}) Es muss klar sein: Nur wenn wir alle Verkehrsträger in die künftige Verkehrspolitik einbeziehen, wird die Entwicklung, die auf uns zukommt, zu bewältigen sein. Auf den Punkt gebracht: Mobilität beginnt im Kopf. Deshalb ist der Verkehrsbericht ein Angebot an alle, an Konzepten mitzuarbeiten und Kreativität und intelligente Lösungen in diesem Haus gemeinsam zu entwickeln. Ich denke, diese Innovationsbereitschaft sollte bei allen Voraussetzung sein. Wir werden dies gemeinsam umsetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Verkehr wird weiter wachsen. Wirtschaftliche Entwicklung, E-Commerce, Internethandel, europäische Integration und Osterweiterung der EU lassen für die nächsten Jahre ein erhebliches Verkehrswachstum erwarten. Wir gehen bis zum Jahre 2015 von folgenden Zahlen aus: Der Personenverkehr nimmt um rund 20 Prozent zu, der Güterverkehr um rund 64 Prozent. Dies ist eine deutliche Steigerung und dies bedeutet, dass wir alle daran arbeiten müssen, diese Entwicklung gemeinsam zu bewältigen. Bis zum Jahre 2015 werden wir im Güterverkehr Verkehrsleistungen haben, die voraussichtlich 600 Milliarden Tonnenkilometer betragen werden. Dies ist eine ungeheure Steigerung. Damit ist klar: Wir brauchen eine verkehrs- und investitionspolitische Steuerung. Klar ist aber auch: Es gibt keine Alternative zu Sicherung und Ausbau der Infrastruktur. Wir wissen, dass der Ausbau des Autobahnnetzes nicht unbegrenzt möglich ist. Das gilt vor allem für die Ballungsräume. Hier ist der Verkehr aber am größten und die Kapazitätsgrenzen sind am deutlichsten. Deshalb müssen wir jede Stärke des einzelnen Verkehrsträgers besser nutzen und besser ausgestalten. Ich möchte, dass wir alle Innovationspotenziale, die modernen Technologien, die Steuerung und die Lenkung zusammenführen und nutzen. Schließlich müssen wir alle sinnvollen Konzepte umsetzen, um da, wo es möglich und effizient ist, Verkehr zu vermeiden. Das bedeutet: Verkehrspolitik ist immer auch Bestandteil einer modernen Politik für Stadtentwicklung und Raumordnung. Dies sage ich nicht nur als Verkehrsminister und als Bauminister, sondern auch als Infrastrukturminister. Es wird die entscheidende Frage der Zukunft sein, ob uns diese Integration gelingt. ({11}) Nach der Analyse stehen wir vor den Fragen: Wie wollen wir die Mobilität dauerhaft sichern? Wie wollen wir ihre Effizienz und Umweltverträglichkeit gewährleisten? Mit dem Verkehrsbericht geben wir die Antworten. Ich beginne mit dem schwierigsten Thema. Zur effizienten Nutzung aller Verkehrsträger gehört ein zukunftstaugliches Konzept zur Weiterentwicklung der Bahnreform. Angesichts der Kapazitätsprobleme muss die Schiene deutlich mehr Verkehr aufnehmen. Dazu ist sie heute nicht fähig. Das System Schiene muss besser und schneller werden. Dies wird die Zukunftsaufgabe sein. Das Netz ist an vielen Stellen dringend sanierungsbedürftig. Da in der Vergangenheit die erforderlichen Mittel nicht zur Verfügung gestellt wurden, musste es zwingend zu Hunderten von Langsamfahrstellen kommen. Diese werden wir jetzt beseitigen. ({12}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass hier umgesteuert werden muss, war uns klar. Der Bund hat seine Verantwortung wahrgenommen. Er hat umgesteuert. Wir werden die Investitionen in die Schiene auf rund 9 Milliarden DM pro Jahr erhöhen. Damit haben wir die Investitionen in Schiene und Straße auf gleiche Höhe gebracht. Wir erfüllen damit ein wichtiges Ziel unserer Koalitionsvereinbarung. Ich denke, dies ist ein Grund, positiv in die Zukunft zu schauen. Deshalb hat mir auch die Haushaltsrede im vergangenen Jahr sehr viel Spaß gemacht; denn es ist heute nicht einfach, einen Rekordhaushalt vorlegen zu können. Das bereitet immer wieder Vergnügen. Dieses Vergnügen habe ich gerne. Ich hoffe, es wird mir auch in den kommenden Jahren zuteil. ({13}) Neben den Investitionen brauchen wir auch ordnungspolitische Maßnahmen. Unser Ziel ist es, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Ich rede hier bewusst von der Schiene und nicht von der Bahn, weil ich glaube, dass das System Schiene gestärkt werden muss, wenn wir wollen, dass der Güterverkehr auf der Schiene in den nächsten 15 Jahren verdoppelt wird. Dies wird nur gelingen, wenn wir mehr Wettbewerb auf der Schiene realisieren. Monopole sind nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen in Europa nicht den Kampf der Giganten, sondern die Ergänzung durch den Aufbau mittelständischer Strukturen auf der Schiene. Es gibt hier eine Reihe von positiven Beispielen. Ich nenne nur sektoral aus dem Chemiebereich die BASF. Sie hat mit rail4chem ein eigenes System entwickelt, das funktioniert und auch ökonomisch tragfähig ist. Es gibt aber auch im Personenverkehr in den neuen wie in den alten Bundesländern sehr viele Beispiele. Denken Sie hier nur an die Nord-West-Bahn Niedersachsen. Sie hat seit November 2000 mit 300 Kilometern das größte private Regionalnetz im Personenverkehr. Sie hat nur ein Problem: Sie kann die Nachfrage kaum bewältigen. Ich würde mich freuen, wenn ich solche Probleme öfter auf dem Tisch hätte. ({14}) Die entscheidende Frage lautet: Wie garantieren wir den Wettbewerb und wie garantieren wir, dass Wettbewerb tatsächlich stattfindet? Nun gibt es einige, die glauben, die Patentlösung zu haben: die Trennung von Netz und Betrieb als Heilsbotschaft. Ich fordere da lieber Sorgfalt statt Aktionismus. Wir brauchen zunächst einmal eine effektive Wettbewerbsaufsicht. Dazu novellieren wir das Eisenbahngesetz. Wir werden dem Eisenbahn-Bundesamt die Kompetenz für die Wettbewerbsaufsicht geben. Über weitere Schritte werden wir gegebenenfalls beraten und entscheiden. Ich sage ganz klar: Eine Trennung von Fahrweg und Betrieb schließe ich nicht aus. Wie wir in Zukunft mit Netz und Betrieb umgehen, ist für mich keine ideologische Frage. Entscheidend ist, wie wir mehr Verkehr auf die Schiene bringen. Daran werden wir all unsere politischen Entscheidungen messen. ({15}) Die Zukunft der Schiene und der Erfolg der Bahnreform erfordern allerdings auch den Beitrag der Bahn selbst. Ich glaube, dass dies dem Vorstand, aber auch den Beschäftigten sehr wohl bewusst ist. Die Bahn weiß, dass Modernisierung und Sanierung Hand in Hand gehen müssen. Für mich sind deswegen Bürgerbahn und Börsenbahn Scheinalternativen. Meine Vision ist die Kundenbahn. Letztendlich wird der Kunde über die Zukunft der Bahn entscheiden und die Bahn wird diese Entscheidung positiv gestalten können, wenn sie pünktlich, preiswert und attraktiv ist. Der Kunde wird über die Annahme dieses wichtigen Verkehrsmittels entscheiden. Wir haben die Aufgabe, die Infrastruktur sicherzustellen. Dieser Verpflichtung kommen wir nach. Die Bahn wird sich verändern. Nur wenn sie sich ändert, hat sie Zukunft. Wer aber jetzt Beschwerde führt, weil der Bahnchef neue, effiziente Modelle entwickelt, wird genauso wenig die Zukunft der Bahn sichern wie diejenigen, die nur mehr Geld vom Staat fordern. Das sind nicht die richtigen Wege. Richtig ist, wenn wir Konzepte stützen. Aber diese Konzepte müssen dem Kunden nahe gebracht werden. Das habe ich Herrn Mehdorn in aller Klarheit gesagt. Neue Konzepte müssen mit dem Kunden besprochen werden; denn - das spielt auch beim Interregio eine Rolle auch die Länder sind Kunden. Dies sollte der Bahn bewusst sein. Es ist richtig, Neues zu wagen. Richtig ist der neue Weg eines marktorientierten Cargo-Konzeptes der Bahn. Wo die Bahn nicht fährt, erhalten mittelständische Strukturen neue Wettbewerbschancen. Wir werden sie darin unterstützen. ({16}) Die Schiene - ich sage bewusst „Schiene“ und nicht „Bahn“ - muss mehr Verkehr aufnehmen. Ich habe es eben schon deutlich herausgestellt. Sie muss mit Spediteuren, mit privaten Regional- und Verkehrsbahnen und mit der Binnenschifffahrt zusammenarbeiten. Der kombinierte Verkehr, die Verbindung von Straße und Schiene, aber auch Wasserstraße, muss mobilisiert werden. Was wir in Zukunft bewältigen müssen, erfordert die optimale Ausgestaltung aller Verkehrsträger. Wir werden sie in Angriff nehmen. Dass es für kombinierte Verkehre einen Markt gibt, zeigen Initiativen privater Firmen, zum Beispiel firmeneigene KV-Terminals. Wenn diejenigen, die ein ökonomisches Interesse haben, kombinierten Verkehr betreiben, ist dies das beste Beispiel dafür, dass sich dieser rechnet. Auch dies muss herausgestellt werden. Neben der Modernisierung muss die Bahn ihren Sanierungsprozess konsequent fortsetzen. Wir werden den Konsolidierungsprozess der Bahn begleiten. Ich habe dazu eine Arbeitsgruppe mit den Staatssekretären des Finanz- und des Wirtschaftsministeriums sowie meines Hauses eingesetzt. Wir werden diesen Konsolidierungsprozess auch als Eigentümer der Bahn sehr genau betrachten. Aber eines will ich herausstellen: Wir haben nicht die unternehmerische Verantwortung; sie liegt beim Vorstand der Bahn. Wir haben aber die Verantwortung für die öffentlichen Gelder, die hier eingesetzt werden. Diese Verantwortung werden wir wahrnehmen. ({17}) Mit den von uns eingeleiteten Maßnahmen werden wir die Schiene in den nächsten Jahren deutlich stärken. Dies ist dringend erforderlich, weil auch die Straße an die Grenzen ihrer Kapazität gekommen ist. Es ist deutlich - ob man das hören will oder nicht -: Die Straße ist der Verkehrsträger Nummer eins. Wir haben hier eine Infrastrukturverantwortung, die wir wahrnehmen werden. Das Auto ist für viele Menschen ein Stück mobile Freiheit. Auch dies ist richtig. Nichtsdestotrotz: Intelligente Verkehrssysteme werden dazu führen, dass eine optimale Struktur geschaffen wird und sich die Menschen dafür entscheiden, den für den jeweiligen Anlass richtigen Verkehrsträger zu nutzen. Deswegen gehe ich auch mit diesem Verkehrsmittel ideologiefrei um. Wir haben das Auto, wir haben die Straßen. Wir haben hier eine Infrastrukturverantwortung, die wir wahrnehmen werden. Ich sage gleichzeitig: Wir haben auch eine Verantwortung für die Sicherheit im Straßenverkehr. Der hohe Wert der Mobilität wird sich nur halten lassen, wenn wir einerseits den Verkehrsfluss dauerhaft ermöglichen und andererseits ein hohes Maß an Sicherheit gewährleisten. Mit einem Verkehrssicherheitsprogramm, das wir in den nächsten Wochen vorstellen werden - ich freue mich auf Ihre Anregungen hierzu -, werden wir dieses wichtige Ziel gemeinsam erreichen. Angesichts der großen Zahl von Verkehrstoten, die wir leider noch immer haben, ist diese Verantwortung von uns allen gemeinsam zu tragen. ({18}) Aufgrund Ihrer Sicht durch die ideologisch gefärbte Brille sagen Sie, Rot-Grün werde die Investitionen in die Straße vernachlässigen. Ich kann Ihnen - auch wenn ich verstehe, dass es Sie ärgert, wenn Ihre Erwartungen nicht eintreffen - nur sagen: Wir haben einen Bundesfernstraßenhaushalt mit 10,8 Milliarden DM und den brauchen wir. Dies will ich im Einzelnen begründen. Ich glaube, dass diese Rekordhöhe vor allem deswegen notwendig ist, weil es in Ihrer Regierungszeit zu einem völligen Verfall der Straßen gekommen ist. Diesem Verschleiß der Straßen müssen wir begegnen. ({19}) - So ist es! Bittere Wahrheiten sind schwer zu ertragen. Das verstehe ich. Aber manchmal muss es sein. Wir haben eine besondere Belastung, auch innerstädtisch. Betrachten Sie allein die Belastung durch den LKW-Verkehr. Im Nah- und Regionalverkehr flossen 1999 25 Prozent der Güterverkehrsleistung durch Städte und Gemeinden. Täglich quält sich massenhaft LKWVerkehr durch kleine Ortschaften. Die Menschen empfinden dies als puren Horror. Deswegen denke ich, dass wir richtig gehandelt haben, als wir im Zukunftsinvestitionsprogramm 125 Ortsumgehungen ermöglicht haben, die die Menschen von extremer Belastung durch Staus und Lärm befreien, aber auch die Sicherheit in den Städten und Gemeinden verbessern. Ein solches Programm hat es vorher noch nie gegeben. ({20}) Das ist ein Grund, stolz zu sein. Ich danke auch den Regierungsfraktionen, dass sie hierzu beigetragen haben. Mit dem Anti-Stau-Programm haben wir ebenfalls einen qualitativen Ansatz gewählt. Auch hier geht es ausschließlich um die Vergabe der Mittel nach klar definierten Engpassfaktoren. Nicht die Quote ist entscheidend, sondern die Probleme, die wir lösen müssen. Dies gilt für alle drei Verkehrsträger. 7,4 Milliarden DM werden wir in Schiene, Straße und Wasserstraße investieren. Das ist eine schöne Zahl. Ich freue mich darüber und auch viele andere hier im Raum. ({21}) Wir werden dieses Programm ab 2003 mit einer streckenbezogenen LKW-Gebühr finanzieren. Ich glaube, dass dies auch ein Gebot der Fairness im Wettbewerb zwischen Straße und Schiene und gleichzeitig eine wichtige Hilfe für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe ist. Denn ausländische Billiganbieter werden endlich zur Beteiligung an den Wegekosten unserer Autobahnen herangezogen. Auch dies ist ein richtiger Schritt. ({22}) Hinzu kommt: Jeder 40-Tonner nutzt die Straße 60 000-mal stärker ab als ein PKW. Das ist unsere Zahl. Die Universität Cambridge kommt sogar auf einen Wert von 160 000-facher Druckbelastung. Wer es nicht glauben will, soll sich einmal den Zustand der Straßen anschauen. Neu gebaute Autobahnen sind innerhalb von sieben Jahren verschlissen. Ich denke, dies macht sehr deutlich, dass wir hier umsteuern müssen. ({23}) Für das Güterkraftverkehrsgewerbe ist es dringend erforderlich, dass wir in Europa faire WettbewerbsbedinBundesminister Kurt Bodewig gungen haben. Die Verhandlungen beim EU-Ministerrat in Brüssel waren nicht einfach. Die deutsche Delegation hat hier einen sehr konstruktiven Beitrag geleistet. Wir haben jetzt gemeinsam den Weg zur europäischen Fahrerlizenz eingeschlagen. Das ist der richtige Schritt. Wenn wir illegale Beschäftigung und Sozialdumping im LKW-Gewerbe vermeiden und bekämpfen wollen, dann sollten wir aber nicht auf Europa warten, sondern vorangehen. Ich habe dem Kabinett am Montag unseren Gesetzentwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im Güterkraftverkehr zugeleitet. Mit dieser Novelle können wir schnell deutliche Verbesserungen für das Gewerbe erreichen. Das sind die entscheidenden Fragen für das Gewerbe. Wir lösen sie jetzt und das ist wichtig. ({24}) Integrierte Verkehrspolitik umfasst mehr als Straße und Schiene. Unser Flughafenkonzept ist ein weiterer wichtiger Schritt. Die Anbindung der Flughäfen an den ICE vermeidet innerdeutsche Flüge. Die Slots sind notwendig. Wir stellen uns hier einer sehr schwierigen Aufgabe, die nicht in der Bundeskompetenz liegt. Bund und Länder kommen hier zu gemeinsamen Vorstellungen. Diese schwierige Frage, die Sie nie angepackt haben, versuchen wir jetzt zu lösen. Ich bin sicher, dass wir dies zum einen im Interesse der Ökonomie, der Schaffung neuer Arbeitsplätze, auf einen guten Weg bringen. Zum anderen werden wir aber, auch für die Lärmbelastung, die die Menschen ertragen müssen, Lösungen anbieten. Der Ausgleich dieser beiden Faktoren ist Teil dieses Konzeptes und dies ist sehr wichtig. ({25}) Lassen Sie mich abschließend kurz noch einige Punkte nennen. Wir brauchen die Binnenschifffahrt und entwickeln sie weiter. Die Wasserstraßen haben für uns eine ganz wichtige Funktion, die wir stärken müssen. ({26}) In der Seeschifffahrt setzen wir auf die Sicherung des maritimen Standorts Deutschland. Eine wichtige Funktion hat der Sea-to-Sea-Verkehr; denn auch Nahstrecken auf See müssen wir zur Bewältigung von Gütertransporten nutzen. Dies ist ebenfalls ein ganz wichtiger Schritt. Das Zusammenspiel von Straße und Schiene erfordert die Einbeziehung neuer Konzepte. Steuerung, Navigation, Telematik - das werden Mittel sein, um 30 Prozent Leerfahrten zu vermeiden. Diese ökonomisch unsinnige Situation müssen wir dringend auflösen. Wir brauchen moderne Motoren; ich denke an Brennstoffzellen. Wir brauchen neue Kraftstoffe wie Methanol und Gas. Ich denke an das Einliterauto, das schon angekündigt worden ist. Alle diese Maßnahmen müssen wir zu intelligenten und ökologischen Konzepten verknüpfen. Das ist das neue Denken, das wir anstreben. Dieser Verkehrsbericht bietet dafür gute Voraussetzungen. Mobilität in Deutschland zu sichern bedeutet, sich effizient und umweltgerecht zu verhalten. In einem gemeinsamen, kreativen, innovativen Prozess müssen wir neue Lösungen finden. Sie sind dazu eingeladen. Ich bin mir sicher, dass wir all das machen werden. Herzlichen Dank. ({27})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Bodewig, Sie sind der dritte Verkehrsminister innerhalb von zwei Jahren rot-grüner Bundesregierung, der Verbesserungen bei der Mobilität, der Verbesserungen bei der Infrastruktur in Aussicht stellt. Ich gehe davon aus, dass Sie das in zehn Jahren genauso tun würden. Allerdings ist in Ihrem Hause die Halbwertszeit der Minister so kurz, dass man von einer solchen Erwartung nicht sprechen kann. Sie gehen voll über die Realitäten hinweg, was die Mobilität angeht: Staus sind an der Tagesordnung. Die Züge haben in einer bislang nie gekannten Form Verspätung. ({0}) Im Luftbereich besteht eine ähnliche Situation. Schlaglöcher bringen Gefährdungen für die Menschen auf der Straße mit sich und instandsetzungsbedürftige Brücken werden zu tickenden Zeitbomben. ({1}) - Herr Schmidt, Sie mögen das alles nicht ernst nehmen. Aber das ist die Realität. ({2}) Herr Schmidt, veraltete Schleusen, fehlende Staustufen sowie marode und undichte Kanäle schränken die Binnenschifffahrt ein. Experten sagen, dass die Binnenschifffahrt in den Kanälen bald auf dem Trockenen sitzt und wir bald keine funktionsfähigen Kanäle mehr haben werden, wenn die Infrastruktursanierung dort nicht weitergeführt wird. Dazu ist ganz deutlich zu sagen: Das sind nicht die üblichen Kritiken der Opposition. - Herr Schmidt, hören Sie genau zu! - Es grenzt an Dreistigkeit, zu behaupten, der Bund sei im Bahnbereich seinem Gewährleistungsauftrag nachgekommen. Interregio-Verbindungen und Strecken würden sterben. Es gebe mehr und mehr Langsamfahrstellen, ausgefahrene Weichen, bröckelnde Tunnel, Ausfall von Zügen und Zugverspätungen. Der Güterverkehr sei am Abgrund. ({3}) Das sagen der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, der Naturschutzbund und sieben weitere Institutionen, die die Verbraucher im Verkehrsbereich vertreten. An deren Interessen argumentieren Sie vorbei, wenn Sie sagen: Es wird sich alles irgendwie ändern. Auch heute wieder hat der Minister in bekannter Manier angekündigt, für Infrastrukturfragen eine Arbeitsgruppe einzurichten. Irgendwann wird also etwas geschehen. Das aber ist der falsche Weg! ({4}) Herr Minister, Sie haben aus dem, was Sie selbst in Ihrem Verkehrsbericht richtig analysiert haben, nämlich dass es auf der Straße und auf der Schiene eine Zunahme des Verkehrs gibt, noch immer nicht die richtige Konsequenz gezogen: Sie sprechen immer noch von der Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene. Dieser Ansatz ist falsch, Herr Minister. Denn er trägt nicht. Schon in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass die einzige Verkehrsprognose, die regelmäßig revidiert werden musste, die der Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene war. ({5}) In allen anderen Bereichen trafen die Prognosen zu, aber in diesem Falle nicht. Das ist der Grund dafür, weshalb Sie, Herr Minister, vielleicht doch einmal Konsequenzen ziehen, Akzente anders setzen und die Verbesserung des Verkehrs auf der Straße im Rahmen der geplanten Infrastrukturoffensive nicht nur fordern, sondern dafür auch wirklich etwas tun sollten. ({6}) Herr Minister, Ihre zahlreichen Vorgänger haben zunächst die entsprechenden Ansätze heruntergefahren. Dann wurden sie unzureichend wieder aufgestockt und jetzt sagen Sie, das sei eine Perspektive. Eine Perspektive ist das nur, wenn Sie das über zwei, drei Jahre hinaus machen würden, wenn man deutlich sehen könnte, dass im Hinblick auf diese Investitionen Kontinuität besteht. Das gilt für die Bahn genauso wie für die Straße. Das ist aber nicht der Fall. Herr Eichel hat noch gestern gesagt, dass er in Bezug auf die Finanzierung nur für etwa drei Jahre Aussagen machen könne. Die Zeit danach aber versieht er mit Fragezeichen. Das sind doch keine Grundlagen für eine vernünftige Infrastrukturpolitik, die sich an Kontinuität orientiert. Das ist doch wieder das alte Vorgehen: Heute wird etwas versprochen, wovon gehofft wird, dass wir es morgen wieder vergessen haben. ({7}) Herr Eichel hat in diesem Zusammenhang auf die UMTS-Milliarden hingewiesen. Dazu muss man feststellen: Herr Bodewig, Sie haben von Versäumnissen der alten Bundesregierung gesprochen. ({8}) Wenn Ihnen jetzt im Rahmen der UMTS-Milliarden Mittel zur Verfügung gestellt werden, dann ist dies nur deshalb der Fall, weil wir im Telekommunikationsbereich die dazu notwendige Reform durchgesetzt haben. ({9}) Sonst würden Sie über diese Mittel heute überhaupt nicht verfügen. ({10}) Damals haben wir diese Reform und die Bahnreform gegen Ihren Willen durchgeführt. ({11}) Auch heute noch stellen wir fest, dass Sie die Bahnreform nicht konsequent fortsetzen. Es ist völlig richtig, dass durch die Trennung von Netz und Betrieb nicht alle Probleme der Bahn gelöst werden können, Herr Bodewig. ({12}) Aber wenn wir die Trennung von Netz und Betrieb nicht vorantreiben, dann wird Ihr Schlagwort von der Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene noch obsoleter, als es ohnehin schon ist. Das heißt, Ihre Ansätze, Herr Minister, sind falsch. ({13}) Aus der Sicht der Wirtschaft hört sich das so an: Die Auffassung vieler Verkehrspolitiker, mit teurerem LKW-Verkehr mehr Güter auf die Schiene verlagern zu können, ist falsch. Die Aussage, dass mehr Verkehr auf die Schiene verlagert werden kann, ist falsch. Die Industrie spricht von „unrealistischen Verlagerungsszenarien“. Damit meint sie Sie. Sie sind ja vom Bundesverband der Deutschen Industrie mit zahlreichen Vorschusslorbeeren versehen worden. Aber auch diese welken. Heutzutage ist man dort schlicht und ergreifend der Auffassung, dass Sie die Weichen für die Zukunft nicht richtig stellen. Das müssen Sie sich sagen lassen, und zwar nicht nur von der Opposition. Schauen Sie sich das an, was der ADAC, eine Verbraucherorganisation für Autofahrer, Ihnen ins Stammbuch schreibt: Anstelle einer grundsätzlichen Revision der falschen Weichenstellungen der Vergangenheit, die dazu geführt haben, dass der ohnehin im Bereich der Straße bedarfsfremde Bundesverkehrswegeplan auch noch chronisch unterfinanziert war, tritt die Verwaltung des Mangels und die weitere Kürzung der Mittel. Das sind nicht wir, die das sagen; das sind neutrale Beobachter, Herr Bodewig. Dagegen kommen Sie nicht an, Dr. Klaus W. Lippold ({14}) indem Sie mit einfachen Ansätzen darüber hinwegreden. Ich sage das so deutlich, weil es ungeheuer wichtig ist, dass wir die richtigen Konsequenzen ziehen aus dem Sachverhalt, dass wir als Land in der Mitte Europas uns zunehmend mehr Verkehr gegenübersehen werden - nicht nur Verkehr, der endogen induziert ist, sondern auch Verkehr, der von außen auf uns zukommt. Sie wollen also die Verlagerung des Verkehrs. Aber was bedeutet das denn für den Bereich Bahn? Die Deutsche Bahn streicht ihr Streckennetz zusammen. Die Leistungen im Schienengüterverkehr nehmen ab. Der kombinierte Verkehr schreibt rote Zahlen. Die DB AG plant, von 80 regionalen Rangierbahnhöfen in Zukunft nur noch 40 zu betreiben. Überregionale Güterbahnhöfe und viele der 80 Containerterminals sollen geschlossen werden. Die bisher 2 100 lokalen Verladestellen für Unternehmen mit eigenem Gleisanschluss sollen auf 900 reduziert werden. Dabei muss man wissen: Die Schließung einer einzigen Verladestelle in Ostwürttemberg hat zur Folge, dass allein in dieser Region pro Jahr 16 000 LKW mehr fahren müssen. Jetzt ziehen Sie einmal die Konsequenz in Bezug auf das, was ich gerade gesagt habe, und überlegen Sie, was das für die Frage der Verlagerung von Verkehr von der Straße auf die Schiene bedeutet. Dann merken Sie doch, dass alles, was Sie hier sagen, illusionär ist. Wenn Sie illusionäre Vorstellungen haben, können Sie natürlich keine richtigen Konsequenzen ziehen. Wir brauchen die konsequente Fortführung der Bahnreform. Wir brauchen die Trennung von Netz und Betrieb als Voraussetzung für mehr Wettbewerb. ({15}) Ohne die Trennung von Netz und Betrieb, Herr Bodewig, werden Sie nicht mehr Wettbewerb schaffen. Sie sagen, Sie wollen „andere Kräfte“ aktivieren. Das ist zwar richtig, aber die Aktivierung dieser anderen Kräfte gelingt nur, wenn diese auch auf dem Netz der Bahn zum Zuge kommen können. Anders geht das nicht. Sonst ist das eine falsche Politik, ist das ein falscher Ansatz. Die Experten der Pällmann-Kommission, die der Bundesverkehrsminister selbst eingesetzt hat, haben Ihnen das ja sehr deutlich vorgetragen: Die Vorstellung einer nachhaltigen Entlastung der Bundesfernstraßen durch Verkehrsverlagerungen auf Schiene oder Binnenwasserwege ist mittelfristig unrealistisch. Wenn diese aus Experten bestehende Kommission sagt, das sei mittelfristig unrealistisch, dann meint sie: innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre. De facto wird es auch im Anschluss daran nicht zu erreichen sein. Die Pällmann-Kommission führt weiter aus: Eine Verringerung nachteiliger ökologischer Wirkungen des Automobilverkehrs ist wesentlich wirkungsvoller am System Straße selbst zu erreichen als durch ordnungspolitische Eingriffe mit dem Ziel von Verkehrsverlagerungen. Deshalb ist das, was Sie für die Straße tun, unzureichend. ({16}) Auch wenn nicht alle Problemlösungen über die Straße zu erreichen sein werden, so werden wir doch - langfristig und mit Vision betrachtet - nicht umhinkommen, das deutsche Autobahnnetz komplett dreispurig auszubauen. Wir werden ein Crashprogramm brauchen, das sofort greift. So, wie Sie das angehen wollen, geht es nicht: Sie wollen erst 2003 damit beginnen - der Start ist eigentlich noch überhaupt nicht festgelegt - und der Bundesfinanzminister hat schon jetzt die Hand auf einen Teil der Mittel gelegt. Die Mittelfinanzierung ist de facto nicht sichergestellt, weil die Mittel, die Sie im Wege der Erhebung zusätzlicher Gebühren hereinbekommen wollen, durch den allgemeinen Haushalt von Herrn Eichel geschluckt werden. Ich meine, dass als Konsequenz eine Zweckbindung solcher Gebühren ausschließlich für diesen Verkehrsbereich erfolgen muss. Da Sie die Ökosteuer, das Unsinnigste, was es gibt, nicht abschaffen, muss auch eine teilweise Bindung der Ökosteuereinnahmen für diesen Verkehrsbereich erfolgen. ({17}) Dienstleistungen für Autofahrer werden vom Autofahrer vorfinanziert, nur setzen Sie die Mittel falsch ein. Jetzt sagen Sie nicht, Sie würden sie zur Rentenfinanzierung nutzen. Gut 15 Milliarden DM aus diesem Aufkommen fließen an der Rente vorbei; das ist die Realität. Deshalb ist es wichtig, dass hier die Schwerpunkte anders gesetzt werden. Anders kommen wir der Problematik nicht bei. ({18}) Wir werden zusätzliche Mittel für die Bahn brauchen, nur um die notwendige Realisierung eines sicheren Verkehrs, eines pünktlichen Verkehrs zu erreichen. Ich spreche hierbei noch gar nicht mal von Verlagerung. Wenn Herr Eichel bereits jetzt mehr Mittel für die Bahn kategorisch ausschließt, ist das der falsche Ansatz, Herr Bodewig. Das zeigt, dass Sie sich auch in Zukunft nicht werden durchsetzen können. In diesem Kabinett werden die Weichen anders gestellt, und zwar nicht für, sondern gegen die Infrastruktur. Wir brauchen einen klaren Planungshorizont. Wir brauchen jetzt die Überarbeitung des Bundesverkehrswegeplans. Wir brauchen die Integration des Flugverkehrs in den Bundesverkehrswegeplan. Das alles machen Sie nicht. Sie verschieben dies vielmehr auf die nächste Legislaturperiode, weil sonst das Scheitern Ihrer Politik offensichtlich werden würde. Dies wollen Sie vor der Wahl nicht eingestehen. So einfach ist das. ({19}) Wir brauchen mehr Mittel für die Straße, insbesondere für die Bundesfernstraßen. Wir brauchen ein Crashprogramm. Wir brauchen darüber hinaus aber auch die beschleunigte Einführung von Telematik. Dies sehe ich bei Ihnen immer noch nicht gesichert. Dr. Klaus W. Lippold ({20}) ({21}) Herr Minister, bei der Einführung von Telematik geht es nicht um zusätzliches Abkassieren, sondern darum, wie man in Zukunft die Sicherheit erhöhen kann. Die Frage ist, wie man dieses System für Sicherheitsinformationen nutzen kann. All dies unterschlagen Sie. ({22}) Wir gehen auch davon aus, Herr Minister, dass es notwendig ist, den Flugverkehr einzubeziehen, und dass Sie deutliche Signale dafür setzen, dass auch der Bund Verantwortung für die Entwicklung in diesem Wirtschaftsbereich mitträgt, und dass das Ziel, im Luftverkehr in Europa und weltweit mithalten zu können, realistisch ist und auch durchgesetzt wird. Auch dazu hören wir von Ihnen nichts. Wir hören nur, dass Sie etwas schönreden, aber dann, wenn Sie sich einmal konkret dazu äußern müssen, wo Sie etwas tun können, hören wir von Ihnen nichts. ({23}) Im Rahmen der Diskussion über das Aufbringen neuer Finanzmittel, Herr Minister, sollten wir über die Schaffung einer neuen Institution, einer Fernstraßenfinanzierungsgesellschaft, sprechen, damit die Diskussion darüber aus den Haushaltsdiskussionen herausgenommen wird. Es muss eine Institution mit einer klaren Budgetierung geben, die dann das machen kann, was Sie in dieser Regierung bedauerlicherweise nicht durchsetzen können, nämlich eine klare Zuordnung der Mittel für notwendige Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen. Deshalb ist die Infrastrukturoffensive, die meine Fraktion plant und in einem überschaubaren Zeitraum vorlegen wird, die konkrete Antwort auf die Defizite Ihrer Regierungspolitik, die von allen gesellschaftlichen Gruppen, ({24}) seien es umweltorientierte Gruppen, seien es Wirtschaftsgruppen, in vollem Umfang mitgetragen wird. Sie sollten sich das zu Herzen nehmen und daraus Konsequenzen ziehen. Lassen Sie Ihre Experten wie die der Pällmann-Kommission nicht nur einen Bericht schreiben, sondern setzen Sie das, was diese Experten sagen, auch um! Herzlichen Dank. ({25})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Reinhard Weis, SPD-Fraktion, das Wort.

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der politischen Diskussion liegt die Wahrheit der Argumente oft in der Mitte. Aber ich glaube, die Position, die Herr Lippold hier eingenommen hat, ist so extrem und in der Verkehrspolitik so resignativ, dass ihr eigentlich von den Fachkollegen aus der CDU/CSU-Fraktion widersprochen werden müsste. ({0}) Offensichtlich hat er sich als zuständiger stellvertretender Fraktionsvorsitzender für den Fachbereich von Verkehrspolitik verabschiedet. Das finde ich bedauerlich. Aber ich möchte auf den Verkehrsbericht des Ministers zu sprechen kommen. Der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen hat einen hervorragenden Bericht über den aktuellen Stand der Verkehrspolitik unserer Regierungskoalition vorgelegt. Der Bericht zeigt uns, wie wir mit dem Nebeneinander der verschiedenen Verkehrsträger Schluss machen. Der Bericht zeigt uns auch anhand der Risiken eines ungesteuerten weiteren Verkehrswachstums, wie notwendig es ist, dieses Wachstum sozial und umweltverträglich zu gestalten. Unser Ziel ist das integrierte Verkehrssystem, das Mobilität für Menschen und Güter flächendeckend und umweltverträglich gewährleistet. Erstmalig wird in einem Bundesprogramm die Klammer um alle vier Verkehrsträger, um Schiene, Straße, Wasserstraße und Luftverkehr, gelegt. Dabei liegen - das zeigt der Verkehrsbericht 2000 auf - die wichtigsten und schwierigsten Probleme des Verkehrsbereiches im Güterverkehr. Der Güterverkehr ist aber für den Wirtschaftsstandort Deutschland von herausragender Bedeutung: für die Erhaltung der Produktivität ebenso wie für die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen. ({1}) Seit vielen Jahren wächst der Güterverkehr in Deutschland mit überproportionalen Raten. Alle Prognosen bis zum Jahr 2015 gehen davon aus, dass der Güterverkehr auch weiterhin mit beängstigend hohen Raten zunehmen wird: in den nächsten 15 Jahren um über 60 Prozent. Das wachsende Pro-Kopf-Einkommen in Mittel- und Osteuropa und die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung mit den Beitrittskandidaten werden diesen Prozess noch begünstigen. Auch die neue Technologie des Internets, von der bis vor kurzem noch viele geglaubt haben, dass damit Verkehr überflüssig gemacht werden könnte, beschleunigt mit dem Wachstumsmarkt des E-Commerce den Warenaustausch. Hinzu kommen die guten Konjunkturaussichten in Deutschland und Europa in den nächsten Jahren. Dies sind Prozesse, die wir begrüßen und auch wollen. Aber die Kehrseite dieser positiven Entwicklung darf niemand übersehen: Ohne Steuerung der Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur und ohne Einsatz ordnungspolitischer Instrumente besteht die Gefahr, dass sich das Verkehrswachstum weiter überwiegend auf die Straße konzentriert. Ich widerspreche Ihnen ganz ausdrücklich in Ihren Positionen, Herr Lippold. ({2}) Ziel ist es, einen größeren Anteil des Güterverkehrswachstums als bisher auf die Schiene zu bringen. Bis zum Jahr 2015 wollen wir den Güterfernverkehr auf der Schiene mit rund 600 Milliarden Tonnenkilometer fast verdoppeln. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Wir tragen der Dr. Klaus W. Lippold ({3}) Realität in dem Sinne Rechnung, dass dies nicht der gesamte Zuwachs im Verkehrsaufkommen sein wird. ({4}) Wir haben auch hochrangige Befürworter dieses Ziels. ({5}) Erst am Montagabend hat uns in einem gemeinsamen Gespräch mit den Obleuten des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen die EU-Kommissarin de Palacio gesagt, dass die Grenzen der Globalisierung durch die begrenzten Möglichkeiten der Verkehrsinfrastruktur gesetzt werden. Ich kann ihrer Ansicht nur zustimmen. Ihre Aussage ist eine Bestätigung für unseren integrativen Ansatz. ({6}) Für uns gibt es kein Gegeneinander von Investitionen in die Straße und in die Schiene. Es gilt: Jeder Tonnenkilometer mehr auf der Schiene oder dem Wasser entlastet die Straße. Anders gesagt: Die Erhaltung von Mobilität insgesamt erfordert eine massive Steigerung der Investitionen im Bereich der Schiene. Dieser Verantwortung für die Zukunft der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland und damit für die Mobilität kommen wir nach. Natürlich sind wir nicht einseitig blind. Auch die Straßeninfrastruktur benötigt weitere Investitionen. Der Vorwurf, den Sie gemacht haben, ist völlig unberechtigt. Die alte Bundesregierung, die sich öffentlich so gern als Vorkämpfer des Verkehrsinfrastrukturausbaus, vor allem der Straße, verkauft hat, handelte in Wirklichkeit ganz anders. Sie hat nämlich das Investitionsniveau nicht gehalten, sondern kontinuierlich gesenkt. ({7}) Die Zahl der vielen Spatenstiche und symbolischen Baubeginne hat der staunenden Öffentlichkeit ein falsches Bild suggeriert. Nach den Jahren rückläufiger Investitionstätigkeit haben nun ausgerechnet die rote und die grüne Koalitionsfraktion und die jetzige Bundesregierung wieder Verlässlichkeit in den Bundesfernstraßenbau gebracht. ({8}) Das hat uns allerdings haushaltstechnisch in den vergangenen zwei Jahren gleich mehrere Kraftakte abverlangt. Es ist aber auch das Ergebnis einer klugen Haushaltspolitik, die durch eine außerplanmäßige Schuldentilgung mit den Erlösen aus der Versteigerung von UMTS-Lizenzen zusätzliche Finanzspielräume eröffnete. Ich bedanke mich an dieser Stelle ganz ausdrücklich bei meiner Fraktion dafür, dass sie diese zusätzlichen Finanzspielräume für die Stärkung der beiden Schwerpunkte Verkehrsinfrastruktur sowie Forschung und Ausbildung genutzt hat. ({9}) Im Wesentlichen finanzieren wir drei Komplexe: Wir haben, basierend auf dem noch geltenden Bundesverkehrswegeplan, das Investitionsprogramm für 1999 bis 2002 aufgelegt. In diesem Programm haben wir in absolut verlässlicher Weise Verkehrsinvestitionen von über 76 Milliarden DM gesichert; davon wird die Hälfte auf Investitionen in das Bestandsnetz entfallen, da in diesem Bereich in der Vergangenheit unter Ihrer Verantwortung Ersatzinvestitionen sträflich vernachlässigt wurden. ({10}) Mit dem Anti-Stau-Programm haben wir ein Novum geschaffen, mit dem die dringlichsten Engpässe in den Bereichen Straße, Schiene und Wasserstraße beseitigt werden; ab dem Jahre 2003 werden hier 7,4 Milliarden DM gezielt zur Beseitigung von Engpässen eingesetzt. Dabei werden Schiene und Straße gleichberechtigt berücksichtigt, auch eine Förderung der Wasserstraßen ist in dem Programm enthalten. Effizienzsteigerung und Steigerung der Lebensqualität steht auch im Vordergrund unseres Zukunftsinvestitionsprogramms zum Bau von Ortsumgehungen. An über 120 Orten werden die Bürger - beginnend in diesem Jahr - in den nächsten drei Jahren mit 2,7 Milliarden DM an Investitionsmitteln eine konkrete Entlastung erfahren. ({11}) Ich freue mich für meine Fraktion, dass wir heute eine positive Leistungsbilanz in Sachen Verkehrsinfrastruktur vorlegen können. Ich glaube, wir haben in diesem Bereich mehr geschafft, als wir selbst zu Beginn der Legislaturperiode zu hoffen wagten, nachdem wir einen Blick in die Kassenbücher werfen konnten. Es sei auch ganz deutlich gesagt, dass wir zur Abarbeitung des Infrastrukturdefizits in den ostdeutschen Ländern einen überproportionalen Anteil der Investitionsmittel für diese Bundesländer einsetzen. Minister Bodewig hat deutlich gemacht, dass diese Aufgabe auch in Zukunft abgesichert wird. Hier geht die Bundesregierung mit den Koalitionsfraktionen Hand in Hand. ({12}) - Das hat Minister Bodewig ausdrücklich gewürdigt und ich gebe Ihnen in diesem Punkt Recht. Ich habe das auch nicht kritisiert. Natürlich ist Verkehrspolitik mehr als Infrastrukturpolitik. Für uns stehen noch eine Reihe weiterer Vorhaben auf der Tagesordnung, die wir in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode umsetzen wollen. Ich kann sie wegen der Kürze der Zeit nicht alle aufzählen. Von besonderer Bedeutung aber sind drei: die Bekämpfung der ungleiReinhard Weis ({13}) chen Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verkehrsträgern, die konsequente Weiterführung der Bahnreform und eine Verkehrspolitik unter dem Motto „weg vom Öl“. Ich beginne mit den Wettbewerbsproblemen. Es ist festzustellen, dass die Wettbewerbsbedingungen derzeit unfair sind. Weder zwischen den Verkehrsträgern noch innerhalb der EU herrschen vergleichbare Wettbewerbsverhältnisse. Das Straßengüterverkehrsgewerbe ist in einer schwierigen Situation. Wir wollen eine Harmonisierung der Steuer- und Sozialvorschriften, wir wollen eine Harmonisierung der Kontrollen und die Angleichung der Ahndungen bei Verstößen gegen die Sozialvorschriften. Einige EU-Partner scheinen auf diesem Gebiet noch andere Schwerpunkte zu setzen. Dieser Zustand ist nicht neu; auch die Vorgängerregierungen haben sich bei ihren Bemühungen um faire Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Transportgewerbe bei den EU-Partnern die Zähne ausgebissen. Wir stellen uns aber dieser wichtigen Aufgabe. So ist der europäische Transportmarkt durch Sozialdumping und Subventionswettlauf gekennzeichnet. Gerade die Diskussionen im Jahre 2000 haben uns das ganz deutlich aufgezeigt. Die Beschäftigung illegaler Fahrer aus Drittstaaten gehört zu den unfairen Praktiken, mit denen ausländische Anbieter den deutschen Konkurrenten die Kunden abjagen. Aber auch deutsche Unternehmen beschäftigen diese illegalen Billigarbeitnehmer und heizen den ruinösen Wettbewerb in der Branche an. Natürlich gibt es Probleme mit den Überkapazitäten beim LKW-Laderaum. So kommt es, dass die deutschen Transportunternehmer trotz des insgesamt wachsenden Güterverkehrsmarktes keine wachsenden Erlöse aus diesem Boom erzielen, sondern begründete Existenznöte haben. Unsere Politik ist darauf gerichtet, den gesunden mittelständischen Unternehmen eine langfristige Perspektive auf diesem Markt zurückzugeben und zu sichern. Um es ganz klarzustellen: Das Problem des Transportgewerbes ist nicht die Ökosteuer, Herr Lippold. Das Problem heißt: verzerrter Wettbewerb, Sozialdumping und Überkapazitäten. ({14}) Wir fordern deshalb die Einführung einer EU-Fahrerlizenz für Fahrer aus Drittstaaten, mit denen das legale Beschäftigungsverhältnis überall problemlos kontrolliert werden kann. Der jetzt vorgelegte Referentenentwurf aus dem Hause des Bundesverkehrsministers ist dabei ein wichtiger Baustein. Natürlich spielen im EU-Wettbewerb auch die jeweilige Steuer- und Abgabenlast eine große Rolle. Auch wir kennen die Forderung nach einem Ausgleich für die Wettbewerbsnachteile des heimischen Transportgewerbes. Wir stehen darüber in intensiven und konstruktiven Gesprächen mit dem Transportgewerbe. Eine solche Frage kann jedoch wohl erst im Zusammenhang mit der Einführung der entfernungsabhängigen LKW-Gebühr im Jahr 2003 angegangen werden, wenn wir über zusätzlichen Finanzspielraum verfügen. Vor dem Hintergrund der sowieso schon bestehenden schwierigen Lage des Transportgewerbes stellt die EUOsterweiterung eine zusätzliche Herausforderung dar. Der Güterverkehrsmarkt wird dadurch erheblich erweitert. Der wachsende Handelsaustausch wird deswegen auch eine große Chance für deutsche Verkehrsunternehmen bieten. Aber wegen des deutlichen Lohngefälles zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den mittel- und osteuropäischen Staaten birgt ein ungehinderter Marktzugang auch hohe Risiken. Dieses Lohngefälle kann nicht Gegenstand der Harmonisierung sein. Aber wir wissen, dass es dennoch ein wichtiger Wettbewerbsfaktor ist. Wir halten es deshalb für notwendig, die Beitrittsbedingungen so zu gestalten, dass das Wachstum der Verkehrsleistungen nicht nur umwelt-, sondern auch sozialverträglich bewältigt werden kann. ({15}) Der Bundeskanzler hat sich kürzlich für Übergangsregelungen ausgesprochen. Wir unterstützen ihn beim Bemühen, dies während der schwedischen Ratspräsidentschaft durchzusetzen. Mit der Einführung einer entfernungsabhängigen LKW-Gebühr ab 2003 werden wir wahrscheinlich den wichtigsten Beitrag zum Abbau der Wettbewerbsverzerrungen in Europa leisten. Die Mitfinanzierung unserer Verkehrsinfrastruktur durch ausländische LKW ist ein wichtiges Ziel; denn dadurch wird für mehr Chancengleichheit gesorgt und die Lasten werden besser verteilt. Die Höhe der Gebühr steht noch nicht fest. Aber die viel genannten 25 bis 30 Pfennig pro Tonnenkilometer sind plausibel, weil sie in der Größenordnung der Gebühren unserer Nachbarländer liegen. Natürlich werden wir diese Höhe prüfen, auch im Zusammenhang mit den europäischen Bemühungen um Harmonisierung der Abgabenlast, um für das heimische Gewerbe faire Wettbewerbsbedingungen bei der Steuer- und Abgabenlast herstellen zu können. ({16}) Zum Vorhaben der Sicherung der Zukunft der Bahn möchte ich zwar nicht viel sagen, da meine Kollegin Karin Rehbock-Zureich speziell auf dieses Thema eingehen wird. Aber ich möchte auf die Situation hinweisen, in der wir Bundespolitiker uns befinden. Wir können einerseits als Eigner des bundeseigenen Unternehmens Bahn AG von diesem Unternehmen unter Beachtung des Aktienrechts nur wirtschaftlich vernünftige Entscheidungen verlangen. Andererseits müssen wir als Verkehrspolitiker, die das Ziel haben, dem Schienenverkehr einen größeren Marktanteil zu sichern, unter einem breiteren Blickwinkel Schienenverkehrspolitik machen, um ergänzende Leistungen nicht bundeseigener Schienenverkehrsanbieter zu ermöglichen. Wir werden deshalb die Investitionen in das Schienennetz steigern und den Netzzugang neuer Schienenverkehrsanbieter diskriminierungsfrei sicherstellen. ({17}) Reinhard Weis ({18}) Der dritte Schwerpunkt, den ich ansprechen möchte, ist die Politik „weg vom Öl“. Es handelt sich um eine Aufgabe, die nicht nur für die Verkehrspolitik ansteht. Wir wollen jetzt die Weichen für eine Verkehrspolitik stellen, die uns Mobilität künftig unabhängiger - ich gehe nicht so weit und sage: unabhängig - vom Öl sichert. Wir müssen in Bezug auf die Quelle, die die Energie für den Verkehr liefert, unabhängiger und flexibler werden. Die Besorgnis erregenden Preissteigerungen von Kraftstoffen im Jahr 2000 haben uns deutlich gemacht, wie verletzlich unsere Mobilität sein kann. Bei den alternativen Kraftstoffen und Antriebstechniken für den Individualverkehr stehen wir an der Schwelle zur Markteinführung. Es ist deshalb gut, dass im Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen bereits an einer verkehrswirtschaftlichen Energiestrategie gearbeitet wird. Wir haben die Hoffnung, in wenigen Jahren mit einem oder zwei alternativen Kraftstoffen aufwarten zu können. Die Frage der alternativen Kraftstoffe hat nicht nur eine verkehrswirtschaftliche Komponente, sondern ist auch von hoher umwelt- und wirtschaftspolitischer Bedeutung. Umweltpolitisch stehen wir in der Verpflichtung, den CO2-Ausstoß in der gesamten Bundesrepublik um 25 Prozent zu senken. Der Verkehrsbereich hat dazu noch keinen Beitrag geleistet. Alle Vorteile bei der Kraftstoffeinsparung aus den letzten Jahren sind durch Steigerungen der durchschnittlichen Leistungen der Fahrzeuge und die Vergrößerung der Fahrzeugflotte im Prinzip kompensiert worden. Erst die alternativen Kraftstoffe werden einen echten und dauerhaften Beitrag zur CO2-Minderung ermöglichen. ({19}) Wirtschaftspolitisch sehen wir dahinter natürlich auch einen bedeutenden Zukunftsmarkt, bei dem es um neue Produkte, neue Arbeitsplätze und die Schaffung von Einkommen geht. Deshalb wird es bei der Strategie „weg vom Öl“ eine enge Einbeziehung der Wirtschaft geben. Allerdings stimmen die Preisrelationen zurzeit noch nicht: Alternative Antriebskonzepte führen noch zu deutlich höheren Anschaffungspreisen für PKW und LKW, als das bei herkömmlichen Kraftstoffen der Fall ist. Wir wissen aus leidvoller Erfahrung, dass sich die Nachfrage am Automobilmarkt nicht an unseren politischen Zielen von CO2-Minderung und Umweltschonung ausrichtet, sondern beinhart dem kurzfristigen Preisvorteil folgt. Ich hoffe, dass wir wegen des Interesses der Wirtschaft an diesem neuen Markt wirkungsvolle Wege zur Markteinführung neuer Antriebstechniken und Kraftstoffe finden. Die steuerliche Begünstigung von Bussen mit Erdgasantrieb und die Förderung des Baus von Erdgastankstellen sind ein Beispiel dafür. Abschließend möchte ich folgendes Fazit ziehen: Unser verkehrspolitisches Konzept ist auf die effiziente und umweltverträgliche Absicherung der Mobilitätsbedürfnisse sowohl der Bürger als auch der Unternehmen in Deutschland ausgerichtet. In der ersten Hälfte der Legislaturperiode haben wir dazu einen guten Grundstein gelegt und wir werden diese Linie zielstrebig weiter verfolgen. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({20})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile jetzt dem Kollegen Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Minister Bodewig, ich gebe zu: Ich war auf Ihre heutige Regierungserklärung richtig gespannt, nachdem das Ministerium in der letzten Zeit überwiegend durch eine Rallye von Ministern und Staatssekretären, die neue Sessel besetzt haben, aufgefallen ist. Ich möchte erfahren, wie Sie sich Lösungen der Probleme im Verkehrsbereich vorstellen. Lösungen bestehen für mich nicht darin, dass es Steuererhöhungen gibt. Dazu haben Sie Ihren Beitrag in den letzten zwei Jahren schon geleistet. Immerhin ist der Steueranteil beim Sprit um 21 Pfennig erhöht worden. Die nächsten 3 Pfennig stehen gewissermaßen ante portas, wenn Ende des Jahres der schwefelarme Treibstoff eingeführt wird. Darum ging es eigentlich nicht. Ich möchte gerne wissen, wie Ihre Antworten auf die drängenden Fragen der Bewältigung der Mobilität sind. Ihr Haus hat auf immerhin 76 Seiten im Verkehrsbericht versucht - man sollte vielleicht besser sagen: sich gequält -, die Vorstellungen von integrierter Verkehrspolitik als Konzept für eine mobile Zukunft zu Papier zu bringen. Allerdings, Herr Minister, steht nicht sehr viel Neues drin. ({0}) Es ist eine Aufzählung von Bekanntem, unter anderem von dem Neuen, das wir schon auf den Weg gebracht haben, aber es ist nichts, was zukünftig zur Lösung der Verkehrsprobleme beitragen könnte. ({1}) Der Grund dafür ist, dass Sie wie so oft die Antwort auf die entscheidenden Fragen schuldig geblieben sind. ({2}) Stattdessen müssen wir so erstaunliche Erkenntnisse wie die folgende lesen: Ein großer Teil des Wachstums im Luftverkehr ist ebenfalls auf die zunehmenden internationalen Geschäftsbeziehungen zurückzuführen. Diese Entwicklung, die mit dem Begriff der Globalisierung schlagwortartig umschrieben werden kann, sollte in einem exportorientierten Land wie der Bundesrepublik vor allem als Chance begriffen werden. ({3}) Reinhard Weis ({4}) Das, Herr Minister Bodewig, ist die Qualität Ihres Berichts. Hier ist aus meiner Sicht mit dem Verkehrsbericht 2000 eine Chance vertan worden. ({5}) Ein Land wie die Bundesrepublik, das mitten in Europa die Hauptlast des europäischen Verkehrs trägt, in dem die Verkehrsentwicklung seit 1960 um sage und schreibe 900 Prozent, die Infrastruktur aber gerade einmal um 50 Prozent zugenommen hat, in dem jährliche Staukosten in Höhe von 200 Milliarden DM durch unzureichende Infrastruktur entstehen - die Frage ist nicht, wer von A nach B fährt, sondern die entscheidende Frage ist, wann er dort ankommt ({6}) und das in Kürze auch noch die Hauptlast des aus der EUOsterweiterung entstehenden zusätzlichen Verkehrs mit einer prognostizierten Zunahme um weitere 60 Prozent, davon 80 Prozent auf der Straße, tragen muss - ein solches Land hat bessere Antworten, aber auch eine bessere Regierung verdient. ({7}) Herr Minister Bodewig, der deutsche Autofahrer wird am Ende Ihrer Regierungszeit rund 110 Milliarden DM in die Kassen von Herrn Eichel einzahlen, aber über alle Gliederungen - Kommunen, Länder und Bund - hinweg nur knapp ein Drittel dieses Geldes in Form von Straßenbaumitteln zurückerhalten. Die Ausgabenverteilung des Bundes steht weiterhin im krassen Missverhältnis zum Gewicht der einzelnen Verkehrsträger. Die Eisenbahnen erhalten insgesamt 36,4 Milliarden DM im Jahr, die Fernstraßen 10,35 Milliarden DM, die Wasserstraßen 3,12 Milliarden DM. Die Verkehrsanteile verhalten sich nahezu umgekehrt proportional zu diesen Zahlen. Das ist leider die Realität. Der Bundesverkehrswegeplan ist fürchterlich unterfinanziert. Er liest sich seit Jahren wie ein Märchenbuch. Wir müssen endlich einen ehrlichen Plan aufstellen. ({8}) - Hören Sie doch zu; ich komme darauf noch zu sprechen. Es ist fraglich, ob wir genug Geld haben, um die Infrastruktur auszubauen und auf Dauer zu unterhalten. An diese Fragen wird der Verkehrsminister ganz grundsätzlich drangehen. Das kann zu weit reichenden Konsequenzen führen, etwa zum Privatbetrieb oder zur privaten Errichtung von Straßen, Schienen oder Verkehrswegen. Denn eines kann sich die Bundesrepublik auf keinen Fall leisten: eine ungenügende Infrastruktur! Meine Damen und Herren von Rot-Grün, bevor Sie nervös werden: ({9}) Ich habe soeben den Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel, zitiert, der dies in einem „Stern“-Interview im Juni 1999 gesagt hat. Die Frage ist jetzt, ob sich Herr Bodewig als Verkehrsminister an die wesentlichen Aussagen von Herrn Eichel, nämlich die letzten beiden Sätze, in seinem Bericht gehalten hat. Angesichts eines Streckennetzes von fast 231 000 Kilometern Straße, 42 000 Kilometern Schiene und 7 300 Kilometern Binnenwasserstraße für den überörtlichen Verkehr in Deutschland sind die Antworten im Haushalt und auch im Verkehrsbericht nicht ausreichend. ({10}) In einem hat Hans Eichel ja Recht - wo er Recht hat, hat er Recht -: Ohne ein genügend ausgebautes und vor allen Dingen - das wird immer wichtiger - ausreichend gewartetes und unterhaltenes Infrastrukturnetz kann ein Land wie Deutschland im Wettbewerb der Standorte nicht bestehen. ({11}) Unter Ihrer Regierung ist eine so genannte unabhängige Kommission unter Vorsitz des früheren Bahn- und Telekomvorstandes Dr. Wilhelm Pällmann eingerichtet worden, die am 5. September 2000 weit reichende Ausführungen gemacht hat. ({12}) Von der Umstellung der Finanzierung mit Senkung oder Aufhebung der bisherigen Steuerlast über die Gründung von privaten Betreibergesellschaften für Straßen bis hin zur Trennung von Netz und Betrieb bei der Bahn AG sind viele Handlungsvorschläge gemacht worden. Ihre Reaktion bis jetzt war: Wir werden prüfen. Immerhin habe ich heute, so glaube ich, bei Ihnen, Herr Minister, eine gewisse Tendenz erkannt, dass die Trennung von Netz und Betrieb für Sie zumindest nicht mehr generell ausgeschlossen ist. Schauen wir einmal, was herauskommt. Es wird offensichtlich, dass Sie nur ein wissenschaftlich fundiertes Argument für die geplante Einführung der LKW-Maut ab 1. Januar 2003 gebraucht haben. Sie haben aber dort den Hinweis übersehen, dass bei dieser Umstellung für das Gewerbe eine Kostenreduzierung an anderer Stelle erfolgen müsste. Herr Kollege Weis, Mathematik nach Ihrer Art kann sich nicht rechnen. Sie erzählen uns, mit welchen Segnungen das Anti-Stau-Programm ab 2003 rechnen kann. Dafür ist die Maut eingeplant. Sie erklären uns aber heute, über die Höhe der Maut wüssten Sie noch nicht Bescheid. Das müssten Sie noch klären. Was stimmt denn jetzt? ({13}) Entweder wissen Sie, welches Geld Ihnen zur Verfügung steht und was Sie ausgeben können - dann kennen Sie auch die Höhe der Maut -, oder Sie kennen die Höhe der Horst Friedrich ({14}) Maut noch nicht; dann können Sie das Geld aber auch noch nicht ausgeben. ({15}) Die Rechnung geht nicht auf. Die Pällmann-Kommission geht aber noch weiter. Ich zitiere: Die Vorstellung einer nachhaltigen Entlastung der Bundesfernstraßen durch Verkehrsverlagerungen auf Schiene oder Binnenwasserwege ist mittelfristig unrealistisch. Weiter heißt es: Eine Verringerung nachteiliger ökologischer Wirkungen des Automobilverkehrs ist wesentlich wirkungsvoller am „System Straße“ selbst zu erreichen als durch ordnungspolitische Eingriffe mit dem Ziel von Verkehrsverlagerungen. Weiter: „Ideologisch“ motivierte Eingriffe des Staates in den Wettbewerb der Verkehrsträger mit Mitteln der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung sind abzulehnen. Nächste Aussage: Stattdessen ist die Ausschöpfung der bisher nicht oder nur unzureichend genutzten Potenziale der beiden Verkehrsträger in den Vordergrund zu stellen, also die Verbesserung ihrer Wettbewerbslage aus eigener Kraft. Das, Herr Minister, ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was Sie im Verkehrsbericht 2000 niederlegen. ({16}) Sie leben noch immer in der Vorstellung, dass die Wettbewerbssituation der Bahn alleine dadurch verbessert werden könne, dass der Verkehrsträger Straße verteuert wird. ({17}) Dabei hat die Bahn im Jahre 2000 wieder einmal bewiesen, dass sie nicht in der Lage ist, die ihr zur Verfügung gestellten Investitionsmittel zu verwerten. ({18}) Mehr als 1 Milliarde DM, Herr Schmidt, die für Investitionen zur Verfügung stand, ist eben nicht in Investitionen geflossen, sondern wäre an Herrn Eichel zurückgegeben worden, wenn das Haus nicht einen Kunstgriff vorgenommen hätte und mit diesen Beträgen vorfristig Darlehen aus der Vorfinanzierung für die Strecke München-Nürnberg zurückgezahlt hätte. ({19}) - Das ist die Realität, Herr Schmidt. Wie können Sie das leugnen? Beweisen Sie mir das Gegenteil. Das sind die Fakten. ({20}) - Zu den Aussagen von Herrn Mehdorn über die Situation der Bahn: Vergleichen Sie einmal das, was Herr Mehdorn uns im Ausschuss gesagt hat, mit dem, was im McKinseyBericht - er ist in der „Wirtschaftswoche“ zu lesen - steht. Den Unterschied, dieses Delta zwischen den Aussagen von Herrn Mehdorn und denen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, hätte ich gerne einmal erklärt bekommen. ({21}) Herr Minister, die F.D.P. hat mit mehreren Anträgen wie „Straßenbau statt Autostau“, „Bahnreform fortsetzen Trennung von Netz und Betrieb“ oder zu einem Anti-StauProgramm für den Luftverkehr rechtzeitig auf die Probleme hingewiesen wie auch auf das notwendige Zusammenspiel aller Verkehrsträger nach ihrer jeweiligen Stärke. Sie hat gleichzeitig aufgezeigt, dass wir in einem ersten Schritt vor Ihrem Anti-Stau-Programm Wert darauf legen, dass die schon jetzt vorhandenen Einnahmen aus der LKW-Vignette dem Verkehr zweckgebunden zur Verfügung gestellt werden, so wie Sie es im Anti-Stau-Programm versuchen, es aber in der reinen Form nicht genehmigt bekommen haben. Wir sind weiterhin für die Umsetzung des WIBERAII-Gutachtens, in dem definiert und dokumentiert ist, dass der Bund eigentlich 500 Millionen DM für den Nahverkehr jährlich zu viel an die Länder zahlt. Man kann es auch lassen, aber dann muss man es dem Autofahrer sagen; denn er wird die Zeche bezahlen. Wir sind weiterhin dafür, dass die Möglichkeiten des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes durch weitere Modelle ausgeweitet, untersucht und dargestellt werden, ({22}) und zwar durch Modelle, die sich wirklich realisieren lassen, und nicht durch Modelle, die von vornherein die sich selbst bestätigende Aussage beinhalten, dass das nicht geht. Das muss funktionieren. ({23}) Die F.D.P. ist ebenfalls der Meinung - wir haben als einzige Fraktion seit dem 22. Februar letzten Jahres einen Antrag vorgelegt -, dass eine echte Verbesserung der Horst Friedrich ({24}) Wettbewerbssituation der Bahn nur durch die Trennung von Netz und Betrieb möglich ist. ({25}) Alle Fraktionen, bis auf die SPD, alle Sachverständigen in der Anhörung des Deutschen Bundestages sind der gleichen Meinung. Die SPD muss sich noch bewegen. Wir sind auch der Meinung, dass der Verkehrsträger Luftfahrt - mit einem jährlich prognostizierten Passagierzuwachs von rund 6 Prozent - die Entwicklungsmöglichkeiten in der Luft, am Boden und bei der Flugsicherung erhalten muss, die er benötigt, um diese zusätzliche Nachfrage abzuwickeln. Es ist notwendig, in Ihrem Flughafenkonzept - das steht leider nicht im Bericht - deutlich zu machen, dass wir in Deutschland wenigstens vier zusätzliche Start- und Landebahnen benötigen. Das ist die eigentliche Aufgabe einer Bundesregierung, auch wenn ich weiß, dass Sie sie nicht selber bauen müssen. ({26}) Aber man könnte es wenigstens sagen. ({27}) Ihre Aufgabe, Herr Minister, wäre es, endlich eine einheitliche europäische Bahnpolitik umzusetzen, vor allen Dingen die deutsche Bahn auf die Öffnung der Netze ab 2008 vorzubereiten und in diesem Zeithorizont auch die EU-Osterweiterung, die ab 2003, 2004 oder 2005 kommt, mit zu berücksichtigen. ({28}) Es ist Ihre Aufgabe, das Flughafenkonzept um die entscheidenden Aussagen zu ergänzen, die sich mit dem Bau und dem Ausbau weiterer Start- und Landebahnen in Deutschland befassen, und die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur insbesondere wegen der EU-Osterweiterung um ein Programm und ein Projekt „Grenzüberschreitende Verkehrswege“ zu erweitern und so zu gestalten, dass der Verkehrszuwachs, der kommen wird, tatsächlich aufgefangen werden kann. Sie müssen weiterhin dafür sorgen, dass dem Transrapid außer in China auch in Deutschland eine realistische Verwirklichungschance und dem deutschen Verkehrsgewerbe eine realistische Überlebenschance eingeräumt wird. Ihre Vorschläge gehen ja in die richtige Richtung; die Ergebnisse dieser Vorschläge werden sich wegen des Ablaufs aber erst so spät einstellen, dass es für die große Masse der Gewerbetreibenden zu spät ist. In einer Zeit, in der elf Länder der EU wegen der hohen Treibstoffkosten bereits subventionieren, sagen wir: Wir nehmen diese Lösung. - Das hilft dem Gewerbe nicht weiter. Eines kann ich Ihnen noch sagen: Lassen Sie die Finger von der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes; wenn Sie das tun, erhöht das nicht die Lohnnebenkosten, sondern stärkt die Situation des deutschen Gewerbes ungemein. ({29}) Fazit: Der groß angekündigte Verkehrsbericht, Herr Minister, gewissermaßen Ihre Regierungserklärung, ist aus Sicht der Liberalen eine große Enttäuschung. Lauter alte Ladenhüter, die beim Winterschlussverkauf leider nicht an den Mann gebracht werden konnten; keine wirkliche neue Idee - so werden die Verkehrsprobleme in Deutschland sicher nicht gelöst. ({30})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, Herr Kollege Friedrich, welchen Verkehrsbericht Sie gelesen haben. Der, den ich gelesen habe, ist eine, so finde ich, sehr gute und sehr ehrliche Bestandsaufnahme der Aufgabe, vor der wir stehen. ({0}) Er beschreibt sehr genau, welchen Handlungsbedarf wir mit Regierungsübernahme übernommen haben, welche Schritte bereits eingeleitet wurden, um die anstehenden Probleme zu lösen, und definiert präzise den Umfang der Aufgaben, die noch vor uns liegen. Damit rückt die Bundesregierung die Verkehrspolitik als Gestaltungsaufgabe, die von allen Seiten des Hauses richtig beschrieben worden ist, in den Mittelpunkt und schafft Grundlagen für wichtige anstehende Richtungsentscheidungen, die wir gemeinsam zu treffen haben. Es ist eben keine Trivialität, sondern es gehört zu dieser ehrlichen Bestandsaufnahme, dass darin auch festgehalten wird, dass es im Wesentlichen zwei Trends sind, die die aktuelle und auch die künftige Verkehrsentwicklung prägen. Da ist zum einen der Trend hin zu weltweiter Arbeitsteilung. Diese wird ja immer mit dem Schlagwort Globalisierung etikettiert. Das heißt aber nichts anderes, als dass es mehr Transport und dadurch mehr Verkehr von Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent geben wird. In unserem Land, das im Herzen von Europa liegt, wird sich natürlich auch durch die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten hin der Verkehr auf der Ost-West-Relation verstärken. Das ist völlig klar. Das ist der Preis der Integration und der Freiheit, über den wir sprechen müssen. Als zweiter Trend neben der Globalisierung ist eine zunehmende Individualisierung der Lebensstile zu verzeichnen. Diese bringt entfernungsintensivere Freizeitformen mit sich, an denen wir alle, die wir hier sitzen, mehr oder weniger Anteil haben. Auch das ist eine Horst Friedrich ({1}) schlichte Bestandsaufnahme. Den sich hieraus ergebenden Konsequenzen müssen wir uns stellen. Mit beiden Trends scheinen untrennbar mehr Verkehr und Wachstum beim Gütertransport verbunden zu sein. Es ist dabei festzuhalten - das ist das Merkwürdige und Widersprüchliche an dieser Entwicklung -, dass das Verkehrswachstum, das hierdurch induziert wird, längst nicht automatisch und immer einen gleichzeitigen Zuwachs an Lebensqualität bringt - für die vom Verkehrslärm Betroffenen sowieso nicht, aber auch nicht für diejenigen, die am Verkehr teilnehmen. Der alltägliche Stau auf Autobahnen und den Einfallstraßen in die Städte ist ja nur ein sinnfälliges Beispiel dafür, dass mehr Verkehr nicht automatisch mehr Mobilität und schon gar nicht automatisch mehr Lebensqualität bedeutet. Vor diesem Hintergrund ist es schon richtig und notwendig, so schlichte Dinge zu diskutieren, ob es wirklich einen Gewinn mit sich bringt, Butter aus Irland nach Bayern bzw. Butter aus Süddeutschland in die Gegenrichtung zu transportieren. ({2}) Eine gestaltende Verkehrspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf sich angesichts solcher Fragen nicht schulterzuckend wegducken oder diese Logik kapitulierend hinnehmen, ({3}) sondern muss neue Wege und neue Instrumente finden, um unsinnige Transporte zu vermeiden. ({4}) Auch dafür finden sich in diesem Verkehrsbericht - ich werde darauf zu sprechen kommen - eine ganze Reihe von Ansatzpunkten. Intelligente Mobilität im Sinne von zukunftsfähiger Bewegungsfreiheit heißt künftig noch viel mehr als heute, das jeweils richtige Verkehrsmittel mit seinen spezifischen Systemstärken zu wählen und die verschiedenen Verkehrssysteme noch besser miteinander zu vernetzen. ({5}) Dazu gehören auch neue Konzepte und neue Mobilitätsdienstleistungen. Etliche Automobilhersteller planen zum Beispiel, künftig nicht mehr nur ein Fahrzeug zu verkaufen, sondern die Dienstleistung des Ortswechsels, also die Mobilität. Solche neuen Ansätze kommen nach meiner Auffassung im Verkehrsbericht leider noch zu wenig zum Tragen. Hier müssen wir, wie ich finde, noch weiter diskutieren. Im Verkehrsbericht 2000 kann und muss aber nicht ein vollständiges und ausreichendes Bild der Verkehrspolitik im 21. Jahrhundert entworfen werden, sondern wir sehen ihn als eine gute Bestandsaufnahme und damit als Ausgangsbasis für eine breite gesellschaftliche Diskussion an, über die definiert werden muss, was wir uns künftig an Mobilität überhaupt leisten wollen. Wir brauchen also ein Leitbild. Aus unserer Sicht muss auf der Basis dieses Leitbildes eine zukunftsfähige Mobilität entwickelt werden, die erstens ökologisch verträglich ist, zweitens wirtschaftlich bezahlbar ist und drittens auch verkehrspolitisch Sinn macht. Ein solches Leitbild kann nicht verordnet werden, auch nicht von der Bundesregierung, sondern muss im Dialog entstehen. Es muss dazu motivieren, positive Visionen alltagstauglich und praktikabel umzusetzen und auf konkrete Alltagsprobleme wirkliche Antworten zu bieten. Nur eine solche Verkehrspolitik wird dann auch von der Bevölkerung akzeptiert werden. Ich begrüße es deswegen sehr, dass der Verkehrsbericht 2000 gerade diesen Zusammenhang zwischen Verkehr, Raumordnung und Siedlungsplanung herstellt. Der Raumordnung, Siedlungs- und Verkehrspolitik integrierende Ansatz, der hier in Aussicht gestellt wird, ist richtig. ({6}) Wir werden bei der Umsetzung dieses Ansatzes sehr genau gemeinsam unser Augenmerk darauf zu richten haben, dass diese Vorgaben auch eingelöst werden, denn die Raumordnungspolitik und die Siedlungsplanung von heute bestimmen den Verkehr von morgen. Das muss uns allen klar sein. Deshalb reicht es nicht, nur über Transportketten und Optimierung zu reden, sondern wir müssen auch die Bedingungen für Raumordnung, Städtebau und Siedlungsplanung neu bestimmen. ({7}) Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen hat eine ganze Reihe von konzeptionellen Vorschlägen zu den verschiedenen Verkehrsträgern eingebracht, die zum Teil bereits ins Regierungshandeln eingeflossen sind. Ich finde, dass die grüne Handschrift besonders dort herauszulesen ist, wo es um die Situation und Zukunft der Bahn geht. Das ist ein Schwerpunkt des Berichtes. Ich will das hier gerne noch einmal deutlich hervorheben, um der Bildung von falschen Gerüchten vorzubeugen. Zuvor möchte ich aber dem Fraktionsvorsitzenden, Herrn Merz, bei dieser Gelegenheit sagen, dass ich es ziemlich unangemessen finde, wenn Herr Kollege Lippold solche Fragen zum Anlass für Klamauk nimmt. Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten einen kompetenten Verkehrsexperten zu Beginn in die Debatte geschickt und nicht einen Clown. ({8}) Die Finanzkrise der Deutschen Bahn ist in allererster Linie eine Krise des Netzes. Das Bestandsnetz der Albert Schmidt ({9}) Strecken der Deutschen Bahn ist während der Regierungszeit von Waigel, Wissmann und Kinkel, also während der Regierungszeit von F.D.P. und Union, auf Verschleiß betrieben worden. ({10}) Statt der 9 Milliarden DM, die zu Beginn der Bahnreform als jährliches Investitionsvolumen versprochen waren, wurden von Waigel und Wissmann zuletzt nicht einmal mehr 6 Milliarden DM für den Bahnbau überwiesen. Das Ergebnis ist bekannt. Es ist der teilweise jammervolle Zustand vieler Strecken. Ich finde es zynisch und unverschämt, wenn Sie diesen Zustand, den Sie selbst herbeigeführt haben, auch noch beklagen. ({11}) - Dies ist ein Teil der idiotischen Legende, die Sie ausstreuen. Die rot-grüne Koalition, lieber Kollege Fischer, hat sofort, im ersten Amtsjahr, die Signale umgestellt. Wir haben aus dem Stand die real an die Bahn ausgezahlten Investitionsmittel um 1,3 Milliarden DM pro Jahr gesteigert und tun dies ab dem Haushaltsjahr 2001 für die nächsten drei Jahre nochmals mit jährlich zusätzlichen 2 Milliarden DM. Das heißt, wir haben innerhalb von zwei Jahren die Investitionen in die Bahn um 50 Prozent erhöht. Das war rot-grüne Regierungspolitik. Das ist das Gegenteil von dem, was Sie gemacht haben. ({12}) Diese Summen sind auch notwendig. Sie werden gebraucht, um das Netz schrittweise in Ordnung zu bringen und zu modernisieren. Denn es ist auch eine Legende, dass die Bahn das Geld gar nicht ausgegeben habe. Es ist Schwachsinn, was Sie hier erzählen. ({13}) - Sie können das ja in einer schriftlichen Frage an die Bundesregierung abfragen. Dann bekommen Sie die Antworten und dann haben Sie den Beweis. ({14}) - Wir haben gestern - als Sie sich wahrscheinlich auf Ihre Rede vorbereiten mussten; deswegen hatten Sie wohl keine Zeit teilzunehmen -, mit dem Chef des Unternehmens gesprochen. Uns liegen andere Auskünfte vor. ({15}) Diese Summen sind notwendig, um das System Schiene gegenüber der Straße konkurrenzfähiger zu machen, und zwar insbesondere im Güterverkehr. Das wichtigste Ziel, das im Verkehrsbericht enthalten ist, ist die Verdoppelung des Schienengüterverkehrs innerhalb der nächsten 15 Jahre. Das ist angesichts der Ausgangssituation ein durchaus ambitioniertes Ziel. Es wird nicht einfach werden. Deswegen ist es gut, dass nach Jahren des Rückgangs im Schienengüterverkehr im abgelaufenen Jahr 2000 erstmals wieder ein Wachstum von 11 Prozent zu verzeichnen war. Diesen Trend finden wir gut und wir werden ihn weiter verstärken. ({16}) Um die angepeilte Verdoppelung des Schienengüterverkehrs zu erreichen oder möglichst noch zu übertreffen, werden nach meiner Einschätzung die im Verkehrsbericht beschriebenen Maßnahmen allerdings kaum ausreichen. Nach unserer Auffassung muss insbesondere die LKWAutobahnmaut, die wir ab 2003 erheben werden, bis zum Jahre 2015 über die im Bericht genannten durchschnittlich 40 Pfennig pro Kilometer hinaus erhöht werden und sie muss nach Schweizer Vorbild auf das gesamte Straßennetz ausgeweitet werden. Darüber wird zu gegebener Zeit zu sprechen sein. Ich glaube, dass eine Maut, die nur auf der Autobahn gilt, auf Dauer nicht ausreichend wirksam sein wird. Aber auch die Angebotsseite der Bahn muss verbessert werden. Das ist unbestritten. Ein besseres Angebot im Personen- und im Güterverkehr ist möglich, ohne dass es unbedingt mehr kosten muss, nämlich dann, wenn effizienter gewirtschaftet wird. In diesem Punkt möchte ich den Kollegen Lippold ausdrücklich unterstützen. Der schlichte Abbau von Gleisanschlüssen ist falsch. Wenn es mit dem großen Koloss DB Cargo an dieser Stelle nicht geht, muss aber die Infrastruktur erhalten bleiben, damit kleinere, mittelständische Privatbahnen diese Infrastruktur übernehmen und nutzen können. Das ist unsere Aufgabe und für diese Sicherung wollen wir gemeinsam sorgen. ({17}) Aber nach dem Grundsatz „Investition und Innovation“ - wir brauchen beides - möchte ich auch Dinge ansprechen, die nicht in erster Linie mit Geld zu tun haben. Wir müssen zwei Rahmenbedingungen verbessern: Wir brauchen mehr Chancengleichheit im Verkehrsmarkt und offene Wettbewerbsstrukturen auf der Schiene. Zur Chancengleichheit möchte ich Folgendes sagen: Wir haben in den ersten zwei Jahren unserer Regierungszeit erreicht, dass die Investitionen in die Straße und in die Schiene angeglichen wurden. Das heißt, Straße und Schiene haben die gleichen Chancen. Wir haben ferner erreicht, dass die steuerliche Entlastung der Pendlerinnen und Pendler hinsichtlich der Benutzung von Auto, Bus Albert Schmidt ({18}) und Bahn angeglichen wurde. Auch das ist ein Beitrag zur Chancengleichheit. Wir müssen in einem nächsten Schritt - das sage ich ganz unpolemisch - auch die Harmonisierung bezüglich der Steuern und Abgaben für die Bahn auf europäischer Ebene anpacken. Das bedeutet, die Mehrwertsteuer im Bereich des Güterverkehrs und des Personenfernverkehrs auf das Niveau in anderen europäischen Ländern zu senken. Wenn wir nicht handeln und die Dinge wie bisher treiben lassen, dann werden wir die Harmonisierung nicht erreichen. Wir haben in Deutschland die höchsten Trassenpreise und die höchsten Steuern und Abgaben für die Güterfracht auf der Schiene in ganz Europa. Das kann nicht funktionieren; denn der Markt für den Gütertransport ist ein europäischer Markt und der Frachtverkehr ist zunehmend ein europäischer Verkehr. Wenn wir im Wettbewerb mit anderen europäischen Eisenbahngesellschaften bestehen wollen, müssen wir unsere Bahn genauso gut behandeln, wie es zum Beispiel die Franzosen mit ihrer Bahn tun. ({19}) Ich rede nicht von Subventionen, sondern von einem fairen Wettbewerb der Bahnen in Europa, beim Güterverkehr. Es ist ebenfalls richtig, wenn von der Bahn damit ernst gemacht wird - das wird auch von der Politik unterstützt -, im Bereich des Nahverkehrs mehr Verantwortung nach unten abzugeben und an die Regionen zu übertragen sowie mittelständische Unternehmensstrukturen aufzubauen, um damit kundennähere und kostengünstigere Angebote zu schaffen. Die Mittelstandsinitiative will genau das erreichen. Sie hat aber nicht den Rückzug aus der Fläche zum Ziel, den wir ablehnen. Unter dem RegentKonzept verstehen wir den Aufbau von mittelständischen Unternehmensstrukturen, um kundennähere und kostengünstigere Bahnangebote zu schaffen. Eine weitere Bemerkung zum Thema Wettbewerb - der Kollege Horst Friedrich hat diesen Punkt schon angesprochen -: Die Einführung von mehr Wettbewerb auf der Schiene erweist sich zunehmend als unerlässlich, um für Qualitätsverbesserung und mehr Kosteneffizienz im System Bahn zu sorgen. Die Übertragung des Netzmonopols an den Konzern Deutsche Bahn AG ist meines Erachtens eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass es bis heute zu schwache Wettbewerbsstrukturen im Bereich der Schiene gibt. Nach meiner Auffassung schließen sich Monopol und Innovation grundsätzlich aus. ({20}) Über kurz oder lang steht die Übertragung des Eigentums und der Verantwortung für das Streckennetz auf die öffentliche Hand auf der Tagesordnung, also die Übertragung auf den Bund und im Falle regionaler Netze gegebenenfalls auf die Länder. Um richtig verstanden zu werden: Es ist keine Heilsbotschaft, die ich hier verkünde. Es ist vielmehr eine ganz nüchterne wirtschaftspolitische Überlegung. Das bedeutet nicht die Rückkehr zur Staatsbahn, sondern eine politische Festlegung in Bezug auf die Finanzierung des gewünschten Infrastrukturnetzes. Denn die Bewirtschaftung der Strecken soll nicht durch die Staatsbahn erfolgen, sondern durch die Eisenbahnunternehmen, hier in erster Linie natürlich durch die DB Netz. Diese Unternehmen sind dazu in der Lage. Bezüglich des Nahverkehrsbereichs müssen wir auf der politischen Ebene der Länder definieren, welches Zugangebot gewünscht wird. Aber den Job machen dann die DB Regio und andere Eisenbahnen. Es muss klar sein, welches Verhältnis zwischen Besteller und Erbringer einer Leistung besteht. Ein vergleichbares Modell würde sich auch für den Bereich der Infrastruktur anbieten und würde dort für mehr Effizienz und kostengünstigere Lösungen sorgen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Blank?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Renate Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schmidt, Ihre Ausführungen zum Thema Trennung von Netz und Betrieb stoßen bei uns auf Zustimmung. Aber wenn ich den Verkehrsminister heute Morgen richtig verstanden habe, dann plant er eine Übertragung der Zuständigkeit nur auf das Eisenbahn-Bundesamt. Wie wollen Sie also mit Ihrem Koalitionspartner SPD eine Trennung von Netz und Betrieb erreichen, die von allen Sachverständigen bei der Anhörung zur Bahnreform gefordert wurde?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Blank, Sie haben den Minister falsch verstanden. Ich will jetzt seine Ausführungen nicht erklären - das kann er selbst tun -, muss aber trotzdem sagen, dass ich ihn anders verstanden habe. Ich habe ihn nämlich so verstanden, dass diese Frage nicht mit einem Schnellschuss aus der Hüfte beantwortet werden kann, sondern dass sehr ernsthaft darüber nachgedacht und diskutiert werden muss. ({0}) Ich will Ihnen meine persönliche Auffassung zu diesem Thema sagen. Frau Kollegin Blank, wie Sie wissen, bin ich Realpolitiker. Deshalb trete ich nachdrücklich dafür ein, sich über Zwischenschritte zu verständigen, um dem Ziel näher zu kommen. Das heißt in diesem Falle: Die Einführung einer unabhängigen Wettbewerbsaufsicht über das Eisenbahn-Bundesamt, die bei der Vergabe von Trassen und bei der Trassenpreisbildung quasi als Regulator auftritt, ist ein richtiger, notwendiger und zielführender Schritt, um dem gemeinsamen Ziel eines fairen Wettbewerbs auf der Schiene näher zu kommen. Das ist in der Pipeline; das werden wir tun und das wird uns demnächst hier im Hause beschäftigen. Da sind wir völlig eiAlbert Schmidt ({1}) ner Meinung; es gibt nicht den Dissens, den Sie mit Ihrer Frage zum Ausdruck bringen wollen. Es geht uns auch nicht, liebe Kollegin Blank, um eine wilde Privatisierung à la Großbritannien, sondern es geht im Gegenteil um die Wahrnehmung der öffentlichen Verantwortung und Entscheidungskompetenz für das Streckennetz unter Einbeziehung der freigesetzten Produktivitätspotenziale eines regulierten Wettbewerbs. Dieser Entwicklung sehe ich mit großem Optimismus entgegen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit ein Wort zum Thema Interregio sagen, weil dazu auch ein Antrag des Kollegen Winfried Wolf von der PDS zur Diskussion steht. Ich sage hier ausdrücklich, dass wir - dazu gibt es sogar Parteitagsbeschlüsse - den Erhalt der umsteigefreien Direktverbindungen im Sinne des Interregio oder eines vergleichbaren Zugangebotes für dringend notwendig halten. Das ist ein ganz hohes Qualitätsmerkmal, gerade für touristische Reiseverkehre, aber auch für andere. Wir sind jedoch ebenso der Meinung, dass man in Bezug auf die Zuglinien, die defizitäre Betriebsergebnisse aufzuweisen, miteinander darüber sprechen muss, wer für diese Defizite aufkommt. Die Deutsche Bahn AG ist - daran müssen wir uns alle gewöhnen - keine mildtätige Veranstaltung, sondern ein Unternehmen, das natürlich schwarze Zahlen erwirtschaften muss. Wenn Defizite vorhanden sind, muss man mit den Ländern reden. Ich fordere hier nochmals die Regierungen der Länder - gerade jener Länder, bei denen es noch klemmt - auf, mit der Bahn in einen produktiven Dialog zu treten, um Defizite ausgleichen zu helfen. Denn diese Bundesregierung hat nicht nur die Investitionsmittel für die Bahn erhöht, sondern auch die Regionalisierungsmittel, die an die Länder gezahlt werden, damit sie Nahverkehrszüge bestellen. ({2}) Das ist allein in diesem Jahr eine halbe Milliarde DM mehr als im letzten Jahr. Die Regionalisierungsmittel für die Länder liegen inzwischen bei 13,5 Milliarden DM. Ich frage die Länderminister: Was macht ihr mit diesem Geld, wenn ihr keine Züge bestellt? ({3}) Deswegen kann ich es nicht mehr hören, wenn die Landesregierungen sagen, sie hätten keine Mark, um zum Beispiel einen Defizitausgleich beim Interregio mit zu finanzieren.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Seifert?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, bitte.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Kollege.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Schmidt, Sie sprachen gerade von dem Personentransport der Bahn. Der Minister sagte vorhin, dass die Bundesregierung im Prinzip nur über die finanziellen Mittel Möglichkeiten des Eingriffs habe. Sie haben gerade von Bereichen gesprochen, in die Bundesmittel fließen. Sehen Sie - gerade wenn Sie Wettbewerb fordern - nicht auch die Möglichkeit oder sogar die Pflicht der Bundesregierung, lenkend einzugreifen, dass zum Beispiel eine Regelung geschaffen wird, damit alle Personen die Bahn benutzen können, auch Behinderte, Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, dass fahrzeuggebundene Einstiegshilfen zur Pflicht werden, dass flexible Sitzangebote zur Pflicht werden, damit nicht nur ein oder zwei Rollstuhlfahrer im ICE mitfahren können, sondern auch einmal sechs oder acht, wenn sie gerne gemeinsam verreisen möchten? Sehen Sie nicht Möglichkeiten des Gesetzgebers oder zumindest der Regierung - durch Verordnung -, festzulegen, dass solche Dinge für alle Anbieter - dann ist auch wieder Wettbewerbsgleichheit gegeben - Pflicht werden?

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Seifert, ich bin sehr dankbar für die Frage, ({0}) denn sie gibt mir Anlass zu einer Grundsatzbemerkung. Ich bin nicht der Auffassung, dass die in eine privatrechtliche Organisationsform überführte Bahn fortwährend durch Staatskommissare dirigiert werden soll, übrigens auch nicht durch grüne Staatskommissare, um das ganz klar zu sagen. Aber in der Verantwortung des Eigentümers dieses Unternehmens, ganz besonders aber in der Verantwortung der dafür vorhandenen Aufsichtsgremien gibt es sehr wohl die Möglichkeit, auf solche Verbesserungen hinzuwirken. Ich kann Ihnen versichern - ich kann Ihnen das auch gerne als Dokumentation zur Verfügung stellen -: Ich habe gerade in den letzten Wochen und Monaten die entsprechenden Unternehmensmanager schriftlich und mündlich wiederholt darum gebeten, gerade in dieser Hinsicht zu weiteren Verbesserungen zu kommen. Das gilt übrigens nicht nur für den ICE, sondern auch für den Interregio, weil dessen Treppeneinstieg so eng ist, dass man mit dem Rollstuhl überhaupt nicht hineinkommt, übrigens ebenso nicht mit dem Fahrrad. Das heißt, auch der Interregio ist als Fahrzeug nicht die Ikone der Innovation. Er ist ein altes Fahrzeug, das 1988 für 15 Jahre aufbereitet wurde und jetzt an die Grenze seiner Lebensdauer kommt, während zum Beispiel ein VT 612 mit Niederflureinstieg für Sie, aber auch für Fahrradtouristen viel komfortabler und bequemer zu benutzen ist. Wenn es da zusätzliche Anregungen und Wünsche gibt, bin ich gerne bereit, das an die richtigen Adressen weiterzutransportieren. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch ein Wort zum Thema Automobilität sagen. Das Auto erbringt heute real den größten Teil der Verkehrsleistung. Es muss so umweltverträglich wie möglich weiterentwickelt Albert Schmidt ({2}) werden. Die Effizienzentwicklung der Motoren sowie die Förderung alternativer Antriebstechniken und Treibstoffe brauchen ein größeres politisches Gewicht als bisher. Dies ist eine Neuausrichtung, die natürlich auch für andere Verkehrsträger gilt. Deshalb ist es sehr positiv, dass diese Dimension nicht nur im Verkehrsbericht angesprochen wird, sondern dass im Rahmen des Zukunftsprogrammes wirklich 300 Millionen DM eingesetzt worden sind. Das haben wir hier im Haus gegen Ihre Stimmen beschlossen, um zum Beispiel die Wasserstoff- und die Brennstoffzellentechnik im Fahrzeugantrieb nach vorne zu bringen. Das ist notwendig, nicht weil die technische Optimierung des Automobils die Generallösung für alle Folgeprobleme der motorisierten Individualverkehre bringt, sondern weil ohne diese technische Dimension die Aufgaben des Klimaschutzes und die Folgen endlicher Ölreserven überhaupt nicht zu bewältigen sind. Die Perspektive eines emissionsfreien Autos muss vorangetrieben werden. Dazu ist diese Regierungskoalition entschlossen. Wir haben dafür auch Geld bereitgestellt. Das ist ein wichtiger Bestandteil des Gesamtkonzepts eines zukunftsfähigen Verkehrssystems. Ich erinnere daran, dass der Katalysator auch das Ergebnis einer Diskussion über das Waldsterben war. Dass das Dreiliterauto heute endlich angeboten und vor allem auch nachgefragt wird, liegt daran, dass Klimaschutz und Abhängigkeit vom Öl einen niedrigeren Benzinverbrauch verlangen und dass wir dies durch die Ökosteuer auch deutlich machen. Deshalb werden wir an diesem Prinzip festhalten. ({3}) Der Verkehrsbericht spricht von 30 Prozent Leerfahrten im Güterverkehr auf der Straße. Auch das zeigt, welche technischen Innovationspotenziale hier liegen. Elektronische und satellitengestützte Logistiksysteme und Flottenmanagement sind Bereiche, die wir entwickeln müssen. Ein Wort zum Fahrrad, dem Verkehrsträger, der bei verkehrspolitischen Diskussionen am häufigsten übersehen und unterschätzt wird. Ich glaube, es ist Zeit, das zu ändern und das Fahrrad zu einem substanziellen Thema der Verkehrspolitik zu machen. Stellen Sie sich nur einmal vor, was los wäre, wenn alle, die heute in den Städten mit dem Rad fahren, auf das Auto umsteigen würden! Wenn wir es umgekehrt schaffen - das ist möglich -, Verkehrsanteile bis zu 30 Prozent in Ballungsräumen durch Fahrradverkehre zu erbringen, dann haben wir nicht nur mehr Lebensqualität in den Städten, sondern auch weniger Emissionen, weniger Flächenverbrauch. Das ist eine Dimension, um die wir uns stärker kümmern müssen. Ich bedauere sehr, dass der Verkehrsbericht 2000 dem Fahrrad gerade einmal eine Spalte widmet. Hier sind die Fraktionen gefordert nachzulegen. Wir werden nächste Woche im Ausschuss gemeinsam eine Anhörung zum Thema Fahrradpolitik haben. Ich hoffe sehr, dass wir hier fraktionsübergreifend noch ein ganzes Stück weiterkommen, um mit einem Masterplan Fahrrad für die Zukunft einen wachsenden, schicken und attraktiven Fahrradverkehr in Deutschland zu sichern. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun ist Ihre Redezeit abgelaufen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. - Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluss sagen: Mobilität ist nicht eine Frage der Verkehrssysteme. Ich denke, dass die Kollegin Faße auch noch etwas über das Binnenschiff sagen wird. Das muss ich jetzt unterlassen. Mobilität spielt sich auch in den Köpfen ab. Bündnis 90/Die Grünen werden auch künftig grundsätzlich Anwalt von Natur und Umwelt sein. Aber Prinzipientreue ist nicht mit geistiger Immobilität zu verwechseln. Deswegen werden wir an neuen Konzepten mitwirken. Wir werden sie vorlegen. Neue Mobilität braucht Bewegung auch in den Köpfen. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Horst Friedrich.

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schmidt, Sie haben meine Ausführungen zur Verwendung von 1,2 Milliarden DM Investitionsmitteln im Jahre 2000 durch die Deutsche Bahn AG als „Schwachsinn“ bezeichnet. Ich habe absolut verlässliche Quellen, die genau den von mir dargestellten Sachverhalt bestätigen. Ich füge hinzu: Dabei handelt es sich nicht um einen Journalisten. Sind Sie bereit, diesen Sachverhalt zur Kenntnis zu nehmen? Wenn nicht, werden wir, eine schriftliche Frage einreichen und darauf eine Antwort bekommen. Diese wird die Regierung aufgrund der Frage des Kollegen Fischer in der gestrigen Verkehrsausschusssitzung ohnehin zu liefern haben. Das, was ich ausgeführt habe, ist der Sachverhalt und nicht das, was Ihnen Herr Mehdorn - wahrscheinlich gestern Abend - gesagt hat.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Schmidt, wollen Sie antworten? - Bitte sehr.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In aller Kürze, Herr Kollege Friedrich: Das Wort „Schwachsinn“ nehme ich mit dem Ausdruck des Bedauerns zurück. Das war nicht kollegial. Wir verstehen uns in der Sachdebatte viel zu gut, als dass ein solcher Ton angemessen wäre. Was den substanziellen Gehalt Ihrer Aussage betrifft, mache ich einen Vorschlag zur Güte: Sie stellen eine schriftliche Frage an die Bundesregierung, in der Sie genau diesen Sachverhalt abfragen. Dann erhalten wir gemeinsam eine Antwort. Dann haben wir es schwarz auf Albert Schmidt ({0}) weiß. Bis dahin habe ich nichts davon zurückzunehmen, was ich hier in der Sache ausgeführt habe. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort der Kollege Winfried Wolf, PDS-Fraktion.

Dr. Winfried Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002830, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten Ende 1998 auf eine Verkehrswende gehofft. Sie hat nicht stattgefunden. Wir hatten Ende 2000 auf neue Akzente durch einen neuen Verkehrsminister gehofft. Diese sind nicht erkennbar. Zwar erleben wir im Verkehrsministerium einen flotten Dreier von Müntefering über Klimmt zu Bodewig. Aber wir erleben vor allem Kontinuität in Negativem, und das noch vorgetragen mit dem Charme einer Büroklammer. Dazu drei Beispiele: Zunächst zum Beispiel Eisenbahnerwohnungen: Vor Weihnachten gab es für 300 000 Menschen eine schöne Bescherung: Deren Wohnungen sollen privatisiert werden. Das ist Kontinuität von Wissmann bis zu Bodewig. Ein Unterschied besteht aber: Bei CDU/CSU und F.D.P. war klar, dass sie dies tun würden; bei der SPD war das ein glatter Wortbruch. ({0}) Zum zweiten Beispiel, zum Mythos der Wirtschaftlichkeit: Immer noch wird gesagt - jetzt gerade auch vom Kollegen Ali Schmidt, dass die Bahn als Gesamtsystem wirtschaftlich, also im Grunde genommen so arbeiten sollte, dass sie auch an die Börse gehen könnte. Man muss sich doch fragen, warum zum Beispiel die Oberammergauer Passionsspiele, ({1}) der Rhein-Main-Donau-Kanal sowie der Rhein und die Loreley nicht an die Börse gehen. ({2}) Das wären Junkbonds bzw. Schrottaktien an der Börse! Übrigens, die Binnenschifffahrt hat einen Kostendeckungsgrad von 8 Prozent. Kein Mensch sagt, Binnenschifffahrtswege und Schiffe sollten an die Börse gehen. Dann wären diese sofort tot. Dies gilt im besonderen Maße für die Bahn. Immer mehr Menschen gewinnen den Eindruck, dass die Wirtschaftlichkeit der Bahn nicht primär eine Frage der Sinnhaftigkeit des Verkehrs ist, sondern eine Frage des Immobiliengeschäftes. ({3}) Eine Schlagzeile im „Focus“ lautete: „Das Megamilliardending: Das 41 000 Kilometer lange Schienennetz ist als Immobilie an der Börse pures Gold wert.“ Das findet momentan in dieser Republik statt. ({4}) Zum dritten Beispiel, zur negativen Kontinuität bei der Verkehrsplanmisswirtschaft: Wir erleben, dass die neue Bundesregierung zunächst einmal keinen neuen Bundesverkehrswegeplan aufstellt, obwohl im Verkehrsbericht ausgeführt wird, dass alle Daten überholt seien. Es werden also vier Jahre lang Sandkastenspielereien gemacht, um angeblich neue Prognosen zu erstellen. Zudem erleben wir, dass schon jetzt falsche Grundlagen für einen neuen Bundesverkehrswegeplan, der ab 2002 gelten soll, aufgestellt werden: Herr Bodewig, Sie sagen, dass, während die Bevölkerungszahl um 2 Prozent wachse, der PKW-Verkehr achtmal schneller, nämlich um 16 Prozent, wachsen solle, dass sich der Luftverkehr ein weiteres Mal verdoppeln solle und dass der LKW-Verkehr um 71 Prozent wachsen solle. Ist diese Art von Wachstum, das überproportional zum Bevölkerungswachstum stattfinden soll, ein Naturgesetz? Genauso hat die Atomlobby in den 70er-Jahren argumentiert, nämlich dass ein Wirtschaftswachstum nur dann erzielt werden könne, wenn das Energiewachstum genauso hoch sein würde. Das ist nicht eingetreten. Im Gegenteil: Heute hat sich das Energiewachstum vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt. Dies gilt auch für den Verkehrsbereich einiger anderer Länder. Sie wissen vielleicht nicht, dass in Schweden, in Dänemark, in den Niederlanden und in der Schweiz die Zahl der PKWs in den letzten zehn Jahren kaum gewachsen ist, dass die PKW-Leistungen stagnieren und diese Länder trotzdem nicht ärmer wurden bzw. in diesen Ländern das gleiche Wirtschaftswachstum wie in den anderen Ländern stattgefunden hat. ({5}) In Wirklichkeit erleben wir eine ganz andere Planwirtschaft; die bestehenden Pläne werden an anderer Stelle eingetütet. Ein Beispiel ist der A3XX, der jetzt A 380 heißt. Die Konzeption bei diesem Flugzeug wird nur aufgehen, wenn es wirklich eine Verdopplung des Flugverkehrs gibt. Es muss sich also Erfolg am Markt einstellen. Habe ich „Markt“ gesagt? - Quatsch, wir zahlen Subventionen in Höhe von 2 Milliarden DM, damit der Flieger überhaupt starten kann! Die Prognosen, die angestellt werden, müssen in materielle Voraussetzungen, zum Beispiel Straßenbau, umgesetzt werden. Ein Herr in diesem Saal, der früher politisch gewichtiger war, hat einmal gesagt: Es kommt darauf an, was hinten herauskommt. Das heißt konkret: Wenn am Ende eines Jahres - auch unter SPD/Grüne - herauskommt, dass das Straßennetz um 800 Kilometer länger wurde, dass das Schienennetz um 300 bis 500 Kilometer kürzer wurde, dass fünf neue Regionalairports und drei neue Landebahnen in Betrieb genommen wurden, dann sind die Konsequenzen klar. Wenn dann noch hinzukommt, dass Fliegen billiger wird, dass Autofahren relativ billig ist und dass die Bahn immer teurer wird, ist es doch logisch, wohin dieses Wachstum führt. ({6}) Albert Schmidt ({7}) Nun sagen Sie, Herr Bodewig, dass auch die Bahn Wachstum verzeichnen werde. Kollege Schmidt sagt, dass sich der Güterverkehr auf der Schiene verdoppeln solle und dass der Personenverkehr auf der Schiene noch einmal um 33 Prozent wachsen solle. Ich glaube, dass diese Kollegen Tomaten auf den Augen haben. Ali Schmidt, Sie sind im Aufsichtsrat der Bahn, Sie haben genauere Daten als ich und wissen es am besten: Die DB Cargo steht vor dem Zusammenbruch. Die durchschnittliche Transportweite des Güterverkehrs liegt bei lediglich 250 Kilometer. Trotzdem sollen massenhaft Gleisanschlüsse und Terminals abgebaut werden. Die DB Cargo sagt, man müsse sich auf eine Transportweite von 400 Kilometer hin orientieren. Real aber findet fast nichts in diesem Bereich statt. Die Zahl der Güterwaggons wurde in den letzten zehn Jahren sogar mehr als halbiert. ({8}) Herr Schmidt, Sie sagen, es gebe heute 1 000 Langsamfahrstellen. Zur Halbzeit der Legislaturperiode hieß es: Oh, wir haben entdeckt, es gibt Langsamfahrstellen. - Darüber gibt es seit Jahren Statistiken. Die Zahl der Langsamfahrstellen hat von Jahr zu Jahr zugenommen. Man muss sich auch Folgendes einmal konkret anschauen: Es ist detailliert geplant, dass die Zahl der Lokführer im Bereich des Fernverkehrs in vier Jahren um 44 Prozent abgebaut wird. Die Beschäftigtenzahl wurde schon halbiert und trotzdem sollen noch einmal 70 000 Stellen abgebaut werden. Der „Spiegel“ dieser Woche dokumentiert zu Recht, dass die Sicherheit auf der Schiene regelmäßig reduziert wird und dass es gerade in diesem Bereich grandiose Fehlleistungen gibt. Hinzu kommt - was von Herrn Mehdorn konkret gesagt wird -, dass es qualitative Verschlechterungen geben wird, dass zum Beispiel die Speisewagen abgeschafft werden sollen und eine Bedienung mit Essen am Platz es dann nur in der ersten Klasse geben soll, dass der Rabatt der Bahn-Card halbiert werden soll, dass man bei gewissen Verbindungen nur noch mit Vorbestellungen in die Bahn hineinkommen soll, dass die Zahl der Bahnhöfe um 1 200 reduziert werden soll. Ich habe hier einen Artikel aus einer Berliner Zeitung, bei dem die Schlagzeile heißt: „Bund will die schönste S-Bahn-Station Berlins verkaufen“. Dieser Verkauf wird ja nicht von irgendwem betrieben, auch nicht von Berlin: Der Bund, das Bundeseisenbahnvermögen, will den Bahnhof am Mexikoplatz verkaufen und den S-BahnAusgang am Mexikoplatz schließen. Das ist die Realität heute: Verkehr auf der Schiene wird regelmäßig abgebaut. ({9}) Beispiel Interregio: Ich finde es bezeichnend, wie das Beispiel Interregio hier diskutiert wird. Denn es steht für einen zerstörerischen Kurs der Bahn. Der Interregio war ein maßgebliches Bindeglied von Nah- und Fernverkehr. Der Interregio war ein absoluter Renner. Bis Mitte der 90er-Jahre hatte er mehr Fahrgäste als IC/EC und mehr Fahrgäste als der ICE. Ab dem Jahr 1996 wurde er - auf Beschluss des Bahnvorstandes - systematisch kaputtgemacht: Systematisch wurden Anschlüsse abgebaut; systematisch wurden Bistro-Waggons herausgenommen; systematisch wurde schlechtes Waggonmaterial eingesetzt. Sie werden jetzt erleben, dass ganze Regionen - Ostfriesland, Oberschwaben, Rügen usw. - vom Fernverkehr abgehängt werden und davon auch der Nahverkehr Nachteile haben wird. Denn wenn die Länder Gelder für den Interregio einsetzen werden, um die Verbindungen zu erhalten, dann fallen die Regionalbahnen hinten herunter. ({10}) Ich glaube, dass erkennbar ist, dass diese Regierung auch unter Verkehrsminister Bodewig die alte Politik fortsetzt: pro Auto, pro Flugverkehr und pro LKW. Ich glaube, dass Impulse von außen kommen müssen, von unten, von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis. Ich bin Herrn Bodewig dankbar, dass er den Begriff „Bürgerbahn statt Börsenbahn“ aufgegriffen hat - eine Initiative, die sich Ende letzten Jahres gegründet hat und deren erstes Ziel eine Kampagne zum Erhalt des Interregios ist. Heute plakatieren ganze Regionen mit der Schlagzeile: „Die Schiene wurde nicht erfunden, um das Rad zurückzudrehen. Interregio muss bleiben, damit es weitergeht!“ ({11}) Ich glaube, dass die Verkehrspolitik seit Krause über Wissmann bis Bodewig das Rad der Geschichte zurückdrehen will. Die Situation bei der Bahn ist heute schon so schlimm, dass die Bahn ernsthaft - so eine Schlagzeile auf Dampfloks zurückgreift. Als Beispiel nenne ich die DB Netz in Ravensburg, Oberschwaben. Im Bahnhof von Ravensburg mussten vor Weihnachten Dampfloks von Nostalgievereinen für Rangierarbeiten eingesetzt werden, weil keine Loks mehr vorhanden waren. Wir erleben ein Zurück zu Tonnenideologien. Hier wird gesagt, Mobilität finde in den Köpfen statt. Wenn hier propagiert wird, dass mit Wirtschaftswachstum gleichzeitig ein Wachstum beim Verkehr verbunden ist, sage ich: Alzheimer. ({12}) Es gibt ein Zurück zu einer Bahn als einer Börsenbahn, die für Geschäftsleute oder für uns Politiker sinnvoll sein kann, aber mit der man um 18.06 Uhr nicht mehr von Rostock nach Berlin kommt, bei der im Rahmen der weiteren Entwicklung ganze Städte abgehängt werden. ({13}) Wir sagen, dass diese Entwicklung umweltschädlich ist, dass sie unsozial ist, dass sie ausgrenzt und damit auch Hoffnungen enttäuscht, auch unsere Hoffnungen auf eine Verkehrswende, die anscheinend woanders herkommen muss. Danke schön. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Karin Rehbock-Zureich für die SPD-Fraktion.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mobilität für Menschen und Güter sowie die Herausforderungen der Globalisierung in einem zusammenwachsenden Europa einerseits und die Verpflichtung, unseren Kindern und Enkelkindern eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen, andererseits werden die Verkehrspolitik der kommenden Jahre bestimmen. Ich danke ganz ausdrücklich der Regierung für die Grundlage dieser neuen Verkehrspolitik, für den Verkehrsbericht 2000. ({0}) Nachhaltige Mobilität wird gerade vor dem Hintergrund der Steigerung des Verkehrsaufkommens im Mittelpunkt einer politischen Strategie stehen. Herr Lippold, ich wundere mich über Ihren Redebeitrag, nach dem Sie die Zuwächse des Güterverkehrs, die 64 Prozent betragen, ausschließlich auf der Straße abwickeln wollen. So haben Sie es in Ihrer Rede dargestellt. Straßenraum wird nicht beliebig vermehrbar sein, die Engpässe spüren wir schon heute. Zur Erhaltung der Mobilität und eines funktionierenden Verkehrssystems wird es notwendig sein, dass die einzelnen Verkehrsträger effizient zusammenwirken. Dies wird Inhalt des neuen Bundesverkehrswegeplans dieser Regierung sein. ({1}) Die Schiene als Bestandteil eines solchen Verkehrssystems ist unverzichtbar. ({2}) Unsere Aufgabe wird es sein, Rahmenbedingungen zu schaffen, um Teile des Zuwachses beim Güterverkehr auf der Schiene abzuwickeln. Dies wird aber nicht im nationalen Alleingang möglich sein. Wir müssen dies europaweit aufgreifen und endlich zu einem transeuropäischen Schienennetz kommen. ({3}) Herr Lippold, Sie haben von einem Crashprogramm gesprochen. Deshalb möchte ich einmal das Crashprogramm der Vorgängerregierung hinsichtlich der Bahn aufgreifen: Es ist nicht richtig, wenn Sie hier behaupten, die Bahnreform sei gegen die SPD gemacht worden. Vielmehr wurde die Bahnreform 1994 parteiübergreifend auf den Weg gebracht. Diese Bahnreform sollte eine Trendwende hin zu mehr Gütern auf der Schiene schaffen. Im Rahmen der Bahnreform wurden damals Finanzmittel für Investitionen in einer Größenordnung von 9 bis 10 Milliarden DM zugesagt. Hier beginnt dieser Crashkurs. Tatsache ist, dass die alte Bundesregierung die Investitionsmittel auf 5,7 Milliarden DM zurückgefahren hat. ({4}) - Das ist so richtig. - Im Jahr 1998 wurden die Mittel auf diesen Betrag reduziert, sodass Investitionen in dem Umfang, in dem sie nötig gewesen wären, nicht mehr geleistet werden konnten. ({5}) Als Regierungsfraktion haben wir gemeinsam mit der Regierung die Investitionsmittel für die Bahn sofort erhöht; denn die Folgen dieses Crashkurses der alten Regierung waren, dass die Gelder für das Bestandsnetz fehlten und dadurch notwendige Investitionen ausblieben. Es wurde auf Kosten der Zukunft gewirtschaftet. Es wurde versäumt, eine Analyse des Zustandes der Bahn zu Beginn der Bahnreform vorzunehmen. Eine solche Analyse hat der jetzige Bahnchef Mehdorn veranlasst. Dabei ist leider herausgekommen - das haben wir auch Ihnen zu verdanken -, dass es mit dem veralteten Netz und dem veralteten Fahrzeugbestand nicht möglich ist, die Ziele der begonnenen Bahnreform zu verwirklichen, mehr Verkehrsleistung auf die Schiene zu bekommen. Das Fazit, das hier gezogen werden muss, lautet, dass das Ziel der Bahnreform nicht erreicht wurde, dass wir aber diese Bahnreform weiterführen wollen. Die Voraussetzung für eine Weiterentwicklung sind natürlich die Finanzen. ({6}) Wir haben 1999 begonnen, die Investitionsmittel auf 7 Milliarden DM zu erhöhen. Wir werden der Bahn 2001 Investitionen in der Größenordnung von 8,8 Milliarden DM zur Verfügung stellen. Wir haben darüber hinaus begonnen, die Darlehen in Baukostenzuschüsse umzuwandeln. Das heißt, dass die Bahn in den kommenden zehn Jahren um rund 4 Milliarden DM zusätzlich entlastet wird. ({7}) Auch sorgen wir dafür - ich möchte mich dem Dank an die gesamte Fraktion anschließen -, dass 2 Milliarden DM pro Jahr aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen nicht in Großprojekte fließen, sondern dazu genutzt werden, das Bestandsnetz auf Vordermann zu bringen. Das Bestandsnetz wird so zu einem funktionierenden Netz, das auf die Wirtschaft insgesamt und auf die Pünktlichkeit im Besonderen positiv wirken wird. Diese dringenden Investitionen in das Netz der Bahn werden es erstmals ermöglichen, dass ein wirtschaftliches Ergebnis im Bereich des Schienenverkehrs zustande kommt. Weiterhin haben wir in einem Anti-Stau-Programm die Schiene mit 560 Millionen DM pro Jahr unterstützt, um Engpassbeseitigung zu betreiben. ({8}) - Herr Fischer, wir betreiben vorausschauende Politik in die Zukunft. Wir haben verabredet, dass wir Chancengleichheit zwischen den Verkehrsträgern herstellen. Dies geschieht unter anderem durch eine streckenbezogene LKW-Gebühr. Aus diesen Geldern werden wir den Betrag ab 2003 aufbringen. ({9}) Eine weitere wichtige Voraussetzung, um Chancengleichheit zwischen den Verkehrsträgern zu erreichen, sind faire Wettbewerbsbedingungen. Ich meine Wettbewerb der Schiene - ich rede ganz bewusst nicht von der DB AG, sondern von der Schiene -, aber auch zwischen den Verkehrsträgern. Wir werden die Kompetenzen des Eisenbahn-Bundesamtes erweitern. Ziel ist die Schaffung einer durchsetzungsfähigen Aufsichtsbehörde, die den diskriminierungsfreien Zugang zum Netz für alle Mitbewerber der DB AG sichert. Es muss von unserer Seite kritisch verfolgt werden, ob der Einstieg, so wie wir ihn jetzt beginnen, ausreicht oder ob wir in der Zukunft die Kompetenzen des Eisenbahn-Bundesamtes weiterstärken müssen. Es ist wichtig, eine Behörde zu schaffen, die die Aufgaben so wahrnimmt, wie sie ihr gestellt werden. ({10}) Ich möchte zu dem viel diskutierten Bereich der Trennung von Netz und Betrieb kommen: Ich halte es für fatal, zu vermitteln, die Trennung von Netz und Betrieb könne sämtliche Schwierigkeiten im Schienenverkehr beseitigen. Dies kann so nicht sein. Wo haben wir in Europa ein positives Beispiel? Das englische Beispiel kann für uns kein Vorbild sein, das französische Konzept steht nur auf dem Papier. Dennoch sagen wir: Es muss die bestmögliche Organisationsform gefunden werden, um Chancengleichheit im Wettbewerb zu garantieren. ({11}) Wir müssen die Chancen und Risiken unterschiedlicher Strukturen abklären. Wir wollen einen Prüfauftrag geben, die Organisationsformen umfassend zu bewerten, um langfristig eine tragfähige Entscheidung treffen zu können: Wie sieht die Zukunft der Organisation von Netz und Betrieb aus? Wir halten nichts davon, mit Schnellschüssen Situationen herbeizuführen, die uns mit England vergleichbare Verhältnisse bescheren würden. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssten nun bitte zum Schluss kommen.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit dem EU-Infrastrukturpaket ist auf europäischer Ebene ein wichtiger Durchbruch für einen gesamteuropäischen Güterverkehr auf der Schiene gelungen. Nur ein grenzenloser Verkehr auf der Schiene ohne Barrieren bringt Wettbewerbsmöglichkeiten und Chancengleichheit mit der Straße. Flankierend unterstützen wir mit dem Einstieg in eine Interoperabilität zwischen den Bahnen in Europa diese Entwicklung. Vom Güterverkehrsgewerbe wurde dies als Urknall im europäischen Verkehr betrachtet.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Es wird in der Zukunft notwendig sein, auch regionale Verkehre an die großen Zentren besser anzuknüpfen. Wir haben dafür Regionalisierungsmittel in einer Größenordnung von 13,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Wir werden in der Zukunft dafür sorgen, dass europäische Güterbahnen, regionale Netze in der Fläche und die großen Linien ein funktionsfähiges Gesamtsystem bilden werden, um Mobilität zu gewährleisten, damit wir in dem Bereich Schiene eine wirtschaftliche und ökologische Voraussetzung zum Wohle unserer Kinder schaffen. Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Eduard Oswald.

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ziel der Verkehrspolitik von CDU und CSU ist es, die Mobilität als Voraussetzung für wirtschaftliches Geschehen und wirtschaftliche Entwicklung in unserem Lande sicherzustellen. Deshalb wollen wir, dass es erstens mit der Verkehrspolitik insgesamt wieder aufwärts geht, dass zweitens die Verkehrsinfrastruktur nicht vernachlässigt wird, drittens das Verkehrsgewerbe den notwendigen Flankenschutz erhält und viertens vor allem die gegenwärtigen Bahnprobleme gelöst werden. ({0}) Ich habe sehr genau beobachtet, dass die Koalitionsfraktionen ganz ehrfürchtig waren und viel Beifall gespendet haben, als Bundesminister Kurt Bodewig hier gesprochen hat. Ich kann sehr gut verstehen, warum die Koalitionsfraktionen Bundesminister Kurt Bodewig so viel Beifall gespendet haben: Sie müssen ihm Mut machen, damit er länger als seine beiden Vorgänger durchhält. ({1}) Wir wollen ein Verkehrssystem, das eine schnelle, flexible, zuverlässige, umweltverträgliche und kostengünstige Mobilität von Personen und Gütern ermöglicht. Dies ist möglich. Dazu brauchen wir - das ist der entscheidende Punkt - alle Verkehrsträger und eine ideologiefreie Verkehrspolitik. ({2}) Jeder von uns weiß, dass das Auto in unserem Land das Verkehrsmittel Nummer eins ist. Tatsache ist, dass es für viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land überhaupt keine Alternativen zum Auto gibt. Im ländlichen Raum ist das Auto auch Nahverkehrsmittel. Viele unserer Bürgerinnen und Bürger sind tagtäglich auf das Auto angewiesen. Verkehrspolitik darf sich daher nicht ständig gegen den Straßenverkehr wenden; vielmehr müssen in der Verkehrspolitik die Realitäten akzeptiert werden. Wer täglich mit dem Auto im Stau steht und zugleich durch immer mehr Steuererhöhungen abkassiert wird, der verliert zu Recht das Verständnis in die Verkehrspolitik. ({3}) Wir brauchen eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur. Wir brauchen nicht nur gut ausgebaute Straßen, sondern auch gut ausgebaute Schienenwege, Wasserstraßen und Flugplätze. Alles muss miteinander verzahnt und vernetzt werden. Die Bundesregierung hat zwar zahlreiche Programme auf den Weg gebracht. Aber nur noch die Experten haben den Durchblick. Mir wäre zügiges Bauen lieber als immer neue Wortschöpfungen und Ankündigungen. Verkehrspolitik muss in den Bauabteilungen und nicht in der Abteilung „Wie komme ich unbeschadet über das Wahljahr 2002 hinweg?“ gemacht werden. ({4}) Ich begrüße es sehr, dass Kurt Bodewig gesagt hat, er möchte ein Infrastrukturminister sein. Nur, dann müssen Sie, lieber Herr Bundesminister, dafür sorgen, dass es anstelle einer Vielzahl von unübersichtlichen Programmen eine solide Finanzausstattung für Investitionen in die Bundesverkehrswege gibt. Tatsache ist doch, dass mit den Investitionsprogrammen eine Fülle von Maßnahmen lediglich anfinanziert und der größere Teil in die Zeit nach 2002 verschoben wird. Ihr Anti-Stau-Programm ist im Grunde genommen ein Verzögerungsprogramm; denn die Mittel werden erst ab 2003 bereitgestellt. ({5}) Die in den Zukunftsinvestitionsprogrammen für Straße und Schiene enthaltenen Ansätze, die durchaus richtig sind, sind alles andere als ausfinanziert. Es geht nicht nur darum, etwas anzufinanzieren. Man muss auch sagen, wie es weitergehen soll. ({6}) Niemand kann sich des Eindruckes erwehren, dass Sie alles tun, damit Sie möglichst ruhig und still und ohne Proteste der Bürger über das Jahr 2002 hinwegkommen. Das beste Beispiel ist die Vorgehensweise beim Bundesverkehrswegeplan. Ich finde es zwar in Ordnung, dass auch die Komponenten Umwelt, Raumordnung und Städtebau in die Bewertungskriterien einbezogen werden. Das ist auch unsere Position. Aber kein Beobachter kann sich des Eindrucks erwehren, dass die Untersuchungen zum Bundesverkehrswegeplan auch das Ziel hatten, das Ganze hinauszuzögern, damit Sie vor Ort nicht sagen müssen, welche Straße Sie nicht bauen wollen. ({7}) Der Bundesverkehrswegeplan ist auch deswegen nicht auf den Weg gebracht worden, weil man sich in der Koalition letzten Endes nicht über die Bedeutung der Straße in unserem Verkehrssystem einig werden konnte. Herr Bundesminister, Sie haben noch viel Arbeit in der Koalition vor sich; denn die Richtigkeit des in der Öffentlichkeit erweckten Eindrucks - es gab vertrauliche Gespräche an der Regierungsbank -, die Grünen hätten ihre Position zum Straßenverkehr und insbesondere zum Auto revidiert, muss in der Praxis erst noch bewiesen werden. ({8}) Wir werden darauf achten, dass sich die Projekte an den absehbaren, von den Bürgern geäußerten Mobilitätsbedürfnissen orientieren. Wir sagen ganz klar und deutlich: Umgehungsstraßen sind auch Menschenschutz; darum muss ihr Bau zügig realisiert werden. ({9}) Wenn heute knapp 2 000 Kilometer des Autobahnnetzes stauanfällig sind und wenn ein zu hohes Verkehrsaufkommen bei einer nicht ausreichenden Kapazität in etwa 40 Prozent der Fälle Stauursache Nummer eins ist, dann bedeutet das, dass wir eine Verbesserung des Verkehrsflusses, ein gezieltes Störfallmanagement und ein koordiniertes Baustellenmanagement brauchen. Unser Ziel sind weniger Stau und mehr Mobilität. Aber ohne zusätzliche Finanzmittel für den Bau wird es nicht gehen. ({10}) Herr Bundesminister, Sie müssen sich zweier Problemfälle in besonderer Weise annehmen: Es geht zum einen um das Autobahnnetz in den alten Bundesländern wir brauchen ein Sonderprogramm zum sechsstreifigen Ausbau der überlasteten Strecken - und zum anderen um Maßnahmen, die im Zuge der EU-Erweiterung von Bedeutung sind. Es geht nicht an, dass unsere Nachbarn bauen, während es bei uns auf dem Feldweg weitergeht oder sich der Verkehr über die Dörfer quält. Das kann nicht akzeptiert werden. ({11}) Wir wollen einen attraktiven und leistungsfähigen Schienenverkehr. Ich bin sehr dankbar dafür, dass hierzu heute sehr vieles schon gesagt worden ist. Dies gilt für den Personenverkehr ebenso wie für den Güterverkehr. Ich will, dass Hartmut Mehdorn für das Unternehmen Bahn Erfolg hat. Er ist Chef des Unternehmens Deutsche Bahn; aber er ist nicht Eisenbahnminister. Die Regierung vertritt den Eigentümer, und das ist der Bund. Die Regierung muss immer sagen, was sie beim Thema „System Schiene“ will und welche Vorstellungen sie im Hinblick auf die Schiene hat. Abtauchen ist in keiner einzigen Phase zulässig. ({12}) Es ist gut, dass Positionen heute klar bezogen worden sind. Das wird von uns ausdrücklich begrüßt. Wir werden daraufhin vieles miteinander zu diskutieren haben. Es gibt Klärungsbedarf. Wir können doch nicht hinnehmen, dass das Güterverkehrsaufkommen auf der Schiene zurückgeht, dass der kombinierte Verkehr, was sein Aufkommen angeht, rückläufig ist und dass sich die Bahn aus der Fläche immer mehr zurückzieht. Ich nehme jetzt bewusst nicht zu Fragen des Unternehmens Bahn Stellung. Dazu ist Richtiges heute schon gesagt worden. Unser Maßstab sind die Zufriedenheit und die Sicherheit der Kunden bei der Benutzung der Bahn. Das sind unverzichtbare Voraussetzungen für den Erfolg des Unternehmens und seiner Mitarbeiter. Wir werden alle Vorschläge im Hinblick darauf prüfen, ob durch sie wieder mehr Verkehr auf die Schiene gebracht wird. Das ist für uns immer der Schlüssel. Wir sind den Bürgerinnen und Bürgern schuldig, dass am Ziel eines flächendeckenden Bahnangebots festgehalten wird. Ziel der Verkehrspolitik muss es sein, Qualität und Leistungsfähigkeit der Schiene mit dem Ziel einer umweltgerechten Mobilität für alle Bürger zu steigern. Wir haben eine Anhörung zur Bahnreform durchgeführt. Ich möchte die Expertenanhörung in drei Punkten zusammenfassen: Erstens. Die Zementierung der Monopolstellung des nationalen staatlichen Bahnunternehmens behindert gegenwärtig den Wettbewerb auf der Schiene. Zweitens. Die Schaffung der Voraussetzungen für den Wettbewerb konkurrierender Unternehmen ist ohne Zweifel die Schicksalsfrage der Bahnreform. Drittens. Der diskriminierungsfreie Zugang zum Schienennetz muss gewährleistet sein. Das bedeutet, dass bei der Fortführung der Bahnreform zwei Bereiche getrennt voneinander behandelt werden müssen, und zwar das System Schiene und das Unternehmen DB AG. In diesem Punkt müssen wir weiter miteinander ringen; Sie haben Ihre Position heute dargestellt. Es besteht überhaupt kein Zweifel: Wir brauchen neuen Schwung für die Bahn. Schwung heißt auch für mich, dass importierte Güter an unseren Grenzen nicht von der Bahn auf LKW umgeladen werden, sondern dass importierte Güter an unseren Grenzen schnell und flexibel befördert werden. Ich will keine Schrumpfbahn, die nur wenige Fernlinien bedient, sondern eine leistungsfähige, flächendeckende und grenzüberschreitende Bahn. Herr Bundesminister, wir müssen auch Fragen der Investitionen klären. Was sagen Sie zum Vorfinanzierungsangebot beispielsweise Baden-Württembergs und Bayerns hinsichtlich der Strecke Stuttgart-Ulm-Augsburg? Was sagen Sie zur ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt? Wie geht es dort weiter? Diese Fragen müssen konkret beantwortet werden. ({13}) Nicht nur die Bahn, sondern das Verkehrsgewerbe insgesamt braucht politischen Flankenschutz. Der Straßengüter- wie auch der Straßenpersonenverkehr, die Binnenschifffahrt und der Luftverkehr brauchen die politische Unterstützung. Sorge bereitet uns dabei vor allem das mittelständisch geprägte deutsche Straßengüterverkehrsgewerbe, das zunehmend in Existenznöte gerät. Die deutschen Spediteure können im Wettbewerb auf dem europäischen Transportmarkt längst nicht mehr mithalten. Es reicht nicht aus, wenn der Bundesverkehrsminister bei der Europäischen Union darum bittet, die sehr unterschiedlichen Unterstützungsmechanismen unserer Nachbarländer zu überprüfen. Wir fordern den Bundesverkehrsminister auf, dass er sich dieser Probleme intensiv annimmt. ({14}) Es ist nicht zu akzeptieren, dass die gestiegenen Kraftstoffkosten in Frankreich, Belgien, Italien und den Niederlanden ausgeglichen werden und die rot-grüne Bundesregierung auch weiterhin zu keiner spürbaren Kompensation für das Verkehrsgewerbe bereit ist. ({15}) Wir brauchen ein Sofortprogramm für das deutsche Transportgewerbe. Natürlich muss die Ökosteuer weg. Daneben aber brauchen wir eine wettbewerbsverträgliche Gestaltung der streckenbezogenen LKW-Gebühr, eine schnelle Lösung der Ökopunkte-Problematik im Alpentransit und die wirkungsvolle Bekämpfung von Dumpinglöhnen und illegaler Kabotage. Wir wollen Taten sehen; das ist der entscheidende Punkt. ({16}) Auch der Straßenpersonenverkehr braucht Unterstützung. Der Omnibus ist nicht nur das Rückgrat des öffentlichen Nahverkehrs, er ist auch bedeutender Wirtschaftsfaktor. Im ländlichen Raum ist der Bus für viele Bürgerinnen und Bürger oftmals das einzige Mobilitätsangebot. Darüber hinaus ist die Bahn im öffentlichen Nahverkehr auf den Bus als Zubringer angewiesen; denn ohne den Bus ist eine Flächenbedienung nicht denkbar. Der Bus darf nicht das Stiefkind der Verkehrspolitik sein. ({17}) Nur der Erhalt einer mittelständischen Struktur im Omnibusgewerbe sichert eine wirtschaftliche und funktionsfähige Mobilität und einen bezahlbaren öffentlichen Personennahverkehr in Deutschland. Wir fordern daher den Bundesverkehrsminister auf, dass er sich bei der Europäischen Union für Lösungen einsetzt, die dem deutschen Omnibusgewerbe einen fairen Wettbewerb ermöglichen. So wie der Omnibus von der regierungsamtlichen Verkehrspolitik leicht übersehen wird, ergeht es auch der Binnenschifffahrt. Damit sie aber im Güterverkehr eine wirtschaftliche und ausbaufähige Alternative zu den Verkehrsträgern Schiene und Straße sein kann, müssen die Rahmenbedingungen weiter verbessert werden. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als CDU und CSU setzen auf alle Verkehrsträger. Dazu gehört auch der Luftverkehr. Wir sehen dringenden Handlungsbedarf vor allem in der Verbesserung der Anbindung der Flughäfen, im Ausbau ihrer Infrastruktur und in der Optimierung der europäischen Flugsicherung. Der Luftverkehrsstandort Deutschland steht im Wettbewerb mit den uns umgebenden Auslandsflughäfen. Deshalb kann es uns nicht gleichgültig sein, wie sich der Luftverkehr in unserem Lande entwickelt. Es geht um die Arbeitsplätze in unserem Land. ({18}) Herr Bundesminister, ich bin sehr froh, dass auch die Frage der Verkehrssicherheit angesprochen worden ist; denn ganz sicher sind wir gemeinsam der Meinung, dass ein Mehr an Mobilität nicht ein Weniger an Sicherheit bedeuten darf. Die Fragen der Verkehrssicherheit müssen stärker im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert werden. Verkehrssicherheit ist eine Aufgabe aller, eine Aufgabe, an der jeder mitwirken muss: von den Talksendungen im Fernsehen bis hin zu den Discobetreibern. Niemand, weder in diesem Hause noch bei der Regierung noch draußen, darf in seinen Bemühungen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit nachlassen. Herr Bundesminister, wir werden Ihre Arbeit kritisch, aber konstruktiv begleiten, weil wir wissen, dass nur ein insgesamt leistungsfähiges Verkehrssystem den Wirtschaftsstandort sichert. Wir brauchen vor allem eine gut ausgebaute Infrastruktur, die eine schnelle, flexible, zuverlässige und kostengünstige Mobilität von Gütern und Personen ermöglicht, damit Deutschland im internationalen Wettbewerb mithalten kann. Ziel der Verkehrspolitik von CDU und CSU ist es, eine weitgehend sichere und zugleich umweltgerechte Mobilität für alle Bürgerinnen und Bürger zu erhalten und zu verbessern. In diesem Sinne werden wir Ihre Arbeit begleiten. ({19})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Annette Faße für die SPD-Fraktion.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Verkehrspolitik der alten Bundesregierung ist erkennbar - ich könnte auch sagen: erfahrbar - gescheitert. Darum, meine Damen und Herren von der Opposition, ist es schon ein starkes Stück, sich heute hier hinzustellen und das, was Herr Lippold geschildert hat, so darzustellen, als sei man daran unschuldig. Es ist schon ein starkes Stück, sich hier so hinzustellen, wenn man weiß, dass die Investitionssummen in den vergangenen Jahren für die Bereiche, die Sie heute so stark betonen, zurückgefahren worden sind. Es ist schon ein starkes Stück, sich heute hier hinzustellen und nicht anzuerkennen, dass sich diese Regierung bemüht, außerhalb des Haushalts zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Herr Oswald, es ist schon ein starkes Stück, dass Sie sich hier hinstellen und sagen, wir bräuchten Ortsumgehungen. Sie wissen doch ganz genau, dass die UMTS-Mittel auch für Ortsumgehungen ausgegeben werden. Glaubwürdig ist das nicht gerade. ({0}) Wir sind sehr selbstbewusst, was das Wahljahr 2002 betrifft. Wir meinen, mit unserer Verkehrspolitik stehen wir gut da - heute und auch im Jahr der Wahl. ({1}) Spatenstichpolitik wird es mit uns nicht mehr geben. Klare Aussagen sind angesagt. Sie haben sie gefordert. Wir haben sie heute und damit auch im Verkehrsbericht gegeben. Wir sind mit der Zusage angetreten, eine effiziente und umweltverträgliche Verkehrspolitik zu gestalten. Daran haben wir in den letzten zwei Jahren hart gearbeitet und werden das auch weiter tun. Wir werden unsere Zusage einhalten. ({2}) Wir wollen ein integriertes Verkehrskonzept gestalten. Wir müssen zum einen flächendeckend und umweltverträglich die Mobilität aller Menschen gewährleisten und zum anderen den Wirtschaftsstandort Deutschland im internationalen Wettbewerb behaupten. Dies ist auch eindeutig Auftrag des Verkehrsberichtes. In einem integrierten Verkehrssystem haben - diese Aussage erwarten Sie ja nun von mir - die Binnen-, die Küsten- und die Seeschifffahrt erhebliche Kapazitätspotenziale. Ich hätte wie bei der Aufstockung des Güterverkehrs bei der Bahn gerne auch für diese Bereiche ein entsprechendes Ziel. Die Transportleistung der Binnenschifffahrt braucht sich aber nicht zu verstecken. ({3}) Sie ist fast gleich hoch mit dem Güterverkehrsaufkommen bei der Bahn heute. Wenn wir beides steigern können, dann wäre das, so denke ich, im Sinne einer Verkehrspolitik, die auch der Umwelt gerecht wird. ({4}) Die Binnenschifffahrt ist trotz oftmals gegenteilig geäußerter Ansichten ein attraktiver und innovativer Wirtschaftszweig. Sie ist ein leistungsstarker und flexibler Handelspartner mit nahezu unbegrenzten Möglichkeiten für die unterschiedlichsten Transportaufgaben. Ein einziger Schubverband kann 650 LKWs ersetzen. Die Binnenschifffahrt ist sicherlich nicht so effizient, was die Fahrzeit betrifft; aber Lieferung just in time kann sie genauso, vielleicht noch besser als andere, gewährleisten. Bei den Verkehrsinvestitionen in den kommenden Jahren werden die Mittel aufgestockt. Aber natürlich kann man immer sagen: Das reicht nicht aus. Die Zeichen sind aber eindeutig: Von den einzelnen Programmen profitiert auch die Binnenschifffahrt. ({5}) Um das Potenzial voll ausschöpfen zu können, gilt es, auch die Häfen als Schnittstellen in den Transportketten zu optimieren. Sie ermöglichen erst die von uns angestrebte effiziente Verknüpfung der Verkehrsträger. Sie sind bedeutende Umschlagplätze des kombinierten Verkehrs und bieten attraktive Möglichkeiten zur stärkeren Verlagerung des Güterverkehrs auf umweltfreundliche Verkehrsträger. Wir haben die Förderung des kombinierten Verkehrs daher als ein bedeutendes Ziel der Verkehrspolitik definiert. Wir holen ihn aus dem Zustand des Eingeschlafenseins bei der alten Regierung heraus und wecken ihn auf. ({6}) Drei Anhörungen haben dazu geführt, dass die SPD-Fraktion ein Eckpunktepapier zur Weiterentwicklung des kombinierten Verkehrs vorgelegt hat. Sie haben ihn schon abgeschrieben; wir werden ihn aufwerten. ({7}) Das können Sie auch am Haushalt sehen. Wir haben die Mittel beim KV für Dritte auf 120 Millionen DM erhöht. Dies kommt einer sinnvollen Verkehrspolitik zugute. Wir stehen dazu, dass der kombinierte Verkehr bei dieser Regierung eine neue Wertigkeit erhalten muss. (Beifall bei der SPD - Zurufe des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.] Die leer stehenden Terminals sind für jeden Verkehrspolitiker ein Ärgernis; das ist vollkommen klar. Die Verantwortung dafür dürfte diese Bundesregierung allerdings nicht haben, Herr Friedrich. ({8}) Wir müssen allerdings bei der KV-Förderung die Förderrichtlinien überarbeiten; wir sind dabei, und das nicht mal eben vom grünen Tisch, sondern unter Einbeziehung der Praktiker. Es gilt vor allen Dingen, den Bau und den Einsatz innovativer Umschlagtechnologien zu unterstützen. Die Umschlagsterminals gehören als Schnittstellen zwischen den Verkehrsträgern zu den systembedingten Hemmnissen im KV. Hier gilt es anzusetzen. Das werden wir tun. Die Forschung gibt uns gute Möglichkeiten, dafür effektiv Gelder einzusetzen. Der Seeverkehr ist für Deutschland als Exportland nicht nur für die Küste, sondern für das ganze Land - ein sehr wichtiger Baustein unserer Verkehrspolitik. Der Bund hat mit den Küstenländern 1999 die gemeinsame Plattform zur deutschen Seehafenpolitik verabschiedet. Das ist ein sehr wichtiger Schritt; denn wir müssen gemeinsam versuchen, uns auch innerhalb der EU zu behaupten. Wenn wir von Wettbewerbsfähigkeit sprechen, müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass unsere Häfen, unsere Werften, unsere Schifffahrt EU-, aber auch weltweit wettbewerbsfähig gemacht werden. Hier gibt es weiterhin große Probleme und große Schwierigkeiten. Die Konferenz „Maritime Wirtschaft“ hat ein Zeichen gesetzt und gesagt, wo es langgehen soll und muss. Für die Küste war dies ein sehr wichtiges Zeichen. Wir sind dabei, die Vorschläge kontinuierlich umzusetzen. ({9}) Das heißt für uns, dass wir im Bereich der Lohn- und Lohnnebenkosten weiteren Handlungsbedarf sehen. Ich schließe da neben der Seeschifffahrt auch die Küsten- und die Binnenschifffahrt ein. Ich hätte sie gerne in die Überprüfung mit einbezogen. Wir wissen, dass unsere Schlepperreedereien in Deutschland im Moment große Probleme haben, und zwar nicht nur mit den Niederländern, sondern besonders auch mit den Dänen. Die Dänen subventionieren 100 Prozent der sozialen Lasten. Da verlieren unsere Schlepper eindeutig jede Ausschreibung. Das zu thematisieren, meine ich, ist auch Sache des Parlaments. Darum gehe ich das hier ganz klar und deutlich an. ({10}) Die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Hafenstandortes Deutschland schließt ein, dass wir einen Tiefwasserhafen benötigen. Welche Entscheidung das Land Niedersachsen gemeinsam mit Bremen und Hamburg hinsichtlich der Standortfrage auch treffen wird - der Bund steht dazu, dann für die notwendigen Hinterlandanbindungen zu sorgen und das Planfeststellungsverfahren zu übernehmen. Das ist eine historische Chance für die Küste. Ich bin zuversichtlich, dass der Bund die Entscheidung konstruktiv begleiten wird. ({11}) Ein weiteres klares Zeichen für den maritimen Bereich ist die Einsetzung des maritimen Koordinators. Hier gibt es zum ersten Mal eine Bündelung der maritimen Interessen. Wir gehen davon aus, dass wir dadurch noch einmal werden deutlich machen können, dass Seehafenpolitik nicht alleine eine Politik der Küste ist, sondern genauso für Bayern und Baden-Württemberg Vorteile bringt. Da werden nämlich sehr viele Produkte hergestellt, die auf den Schiffen dann eingebaut werden. ({12}) Zum Bereich der Sicherheit wurde, was die Straße betrifft, einiges gesagt. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal deutlich sagen, dass sehr zielgerichtet gearbeitet wird, um ein Sicherheits- und Notfallkonzept für Nord- und Ostsee neu zu erstellen. Dabei steht die Vermeidung von Schiffsunfällen natürlich an erster Stelle. Wir haben nicht abgewartet, bis die eingesetzte Expertenkommission Vorschläge gemacht hat. Vielmehr hat die Bundesregierung schon im Vorfeld gehandelt. Es ist richtig, dass hier national, bilateral, aber auch international Handlungsbedarf besteht. In allen drei Bereichen sind wir tätig. Wir wissen, dass in diesem Jahr noch einige Entscheidungen anstehen. Ich nenne die Frage der Schlepperkapazitäten und das Seeunfalluntersuchungsgesetz. Meine Damen und Herren, auch in diesem Bereich haben wir einiges abgearbeitet, was Sie nicht geleistet haben. Das betrifft die Haftungsfragen und auch das Bergungsübereinkommen. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Faße, auch Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Annette Faße (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe es gesehen, Frau Präsidentin. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir treten für eine Verkehrspolitik ein, die alle Verkehrsträger verbindet. Dabei wird auch der Verkehr auf den Wasserstraßen weiterhin einen Schwerpunkt bilden. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Dirk Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Ankündigung des Verkehrsberichtes 2000 hatte der Verkehrsminister Erwartungen geweckt. Diese sind nun der Realität gewichen und es ist Ernüchterung eingetreten. ({0}) Der Bericht wird als Konzept für eine mobile Zukunft verkauft. In dem Bericht ist jedoch das Gute nicht neu und das Neue nicht gut. ({1}) Wenn sich hier Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungskoalition wortreich bemühen, dies als einen verkehrspolitischen Durchbruch zu verkaufen, ist dem entgegenzuhalten, dass dieser Bericht wahrlich kein Durchbruch innerhalb der deutschen Verkehrspolitik ist. ({2}) So wird völlig verkannt, dass leistungsfähige Verkehrswege erforderlich sind, damit auch künftige Verkehrszuwächse reibungslos, sicher und umweltschonend bewältigt werden können. Ich stimme dem Kollegen Weis ausdrücklich darin zu, dass es richtig ist, ganz vorrangig auf die Nutzung der technologischen Potenziale zu setzen und sie auszuschöpfen. Darin liegt meines Erachtens eine realistischere und größere Chance, zeitnah zu Lösungen zu kommen, als in martialischem Dirigismus in Form von Anordnungen des Staates, Verboten und anderen Dingen mehr, die sich nach meiner Auffassung in einem europäischen Binnenmarkt überhaupt nicht durchsetzen lassen werden. ({3}) Meine Damen und Herren, es ist ganz unstreitig, dass die Qualität unseres Verkehrssystems auch im 21. Jahrhundert ein maßgeblicher Faktor für Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum ist. Die Verkehrspolitik der CDU/CSUBundestagsfraktion ist auf Produktivitätssteigerung und Optimierung des Zusammenwirkens aller Verkehrsträger unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen spezifischen Stärken ausgerichtet. Wir haben Konzepte erarbeitet; sie liegen auf dem Tisch. Darin beziehen wir Position zur Infrastruktur, zur Fortführung der Bahnreform, zum Güterkraftverkehr, zur Binnenschifffahrt, zum Omnibusverkehr und sagen den Menschen klar, was wir wollen. ({4}) Der mutige und mit klaren Empfehlungen versehene Schlussbericht der Pällmann-Kommission ist wahrlich richtungsweisend: Umstellung der Finanzierung auf Nutzerfinanzierung, Anwendung des Verursacherprinzips, Ausgliederung der Bundesverkehrswege aus der Bundesverwaltung und deren Organisationsprivatisierung sowie Erweiterung der Möglichkeiten der Privatfinanzierung. Die Bundesregierung muss da jetzt herangehen, schnellstmöglich auf der Basis dieses Berichtes ein Konzept für die Verkehrsinfrastrukturinvestitionen erarbeiten und dem Parlament zur Beratung vorlegen. Wir warten darauf, dass das von Ihnen zügig in Angriff genommen wird. Der Kollege Horst Friedrich hat schon gesagt, dass nicht zugelassen werden darf, dass diese Regierung die Kommissionsergebnisse nur als Argumentationshilfe für die Festsetzung der Höhe der elektronischen LKW-Mautgebühr missbraucht und sie im Übrigen vollständig ignoriert. Diesen Missbrauch werden und dürfen wir nicht zulassen. ({5}) Das gilt auch für einen weiteren Punkt, den der Kollege Horst Friedrich herausgestellt hat und auf den ich noch intensiver eingehe. Die Pällmann-Kommission hat zu Recht gefordert, dass die Einführung von Benutzergebühren durch Entlastungen bei den Verbrauchssteuern kompensiert werden muss. Dieser Punkt ist entscheidend und er ist für uns so wichtig, dass wir darauf achten werden, dass das auch geschieht. Nur so kann eine Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen der Verkehrsträger untereinander und vor allem gegenüber der europäischen Konkurrenz - das ist besonders wichtig - gewährleistet werden. Wir werden jedenfalls nicht länger zuschauen, wie Sie darangehen, unser Gewerbe gerade gegenüber den europäischen Wettbewerbern immer weiter zurückzuwerfen und damit Arbeitsplätze und Unternehmensexistenzen in unserem Lande zu vernichten. Dies ist auch im Zusammenhang mit der Diskussion über die Ökosteuer immer wieder zu Recht angesprochen worden. Das ist ein weiterer Punkt, bei dem aufgepasst werden muss, dass nicht deutsche Verkehrspolitik Arbeitsplätze und Unternehmen in Holland, Frankreich und Italien erzeugt. ({6}) Meine Damen und Herren, wir müssen heute in den Unterhalt sowie die Erneuerung und den Neubau unserer Verkehrsinfrastruktur investieren, damit Schwachstellen und Engpässe auf unseren Verkehrswegen den steigenden Mobilitätsansprüchen von Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland und auch - dies sage ich ausdrücklich - in Europa nicht entgegenstehen. Wir haben als die große europäische Verkehrsdrehscheibe eine Verantwortung für die Mobilität in ganz Europa. Diese Dienstleistungsfunktion hat unser Land für Europa zu bewältigen. Hier müssen wir uns einbringen. ({7}) Wir brauchen weiterhin eine objektive volkswirtschaftliche Bedarfsermittlung und nicht durch Finanzvorgaben oder politisches Credo nach unten manipulierte Bundesverkehrswegepläne. Sie haben selbst gesagt, dass die Länder neue Projekte in erheblichem Umfang angemeldet haben. ({8}) Die Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplans ist dringend nötig. Nach bald zehn Jahren ist eine Aktualisierung volkswirtschaftlicher Daten und Verkehrszahlen sowie insbesondere die Berücksichtigung der in der Zwischenzeit eingetretenen Effekte der deutschen Einheit und der europäischen Grenzöffnung zu berücksichtigen und in den Plan einzubauen. Die Länder brauchen Klarheit für ihre Projekte im Bundesfernstraßenbau. Die Bahn braucht eine sichere Planungsperspektive für einen längeren Zeitraum, nicht nur, Herr Schmidt, für drei Jahre. In Wahrheit braucht sie zehn bis 15 Jahre, um den jeweiligen Planungsvorlauf herstellen zu können. ({9}) Denn es ist doch wirklich dramatisch, dass von Ihnen mehr Geld für Schieneninvestitionen verlangt wird, und die Bahn liefert im Jahre 2000 nicht verbrauchte 1,2 Milliarden DM ab, die sie nicht in das Netz hat investieren können, und dies, weil der Planungsvorlauf nicht ausreichte, um das Geld zu verbauen. Ich finde es traurig, dass sich die Bundesregierung gestern im Verkehrsausschuss entweder geweigert hat, darüber Auskunft zu geben, oder aber die Staatssekretärin über diesen Vorgang nicht informiert war. Oder Sie wollen etwas vertuschen und hinterher aus Investitionskapital Geld machen, mit dem die Bilanz der Bahn kosmetisch überarbeitet werden kann, damit ein in Wahrheit eingetretener betrieblicher Verlust vertuscht werden kann. ({10}) Das läuft im Moment ab! Der Haushaltsausschuss muss sich dringend mit dieser Angelegenheit befassen, damit die volle Wahrheit ans Licht kommt. ({11}) Wie in den 90er-Jahren kann die Bahn wiederum Investitionskapital nicht verbauen, das der Bund bereitgestellt hat. Das ist die volle Wahrheit in diesem Lande. ({12}) Der Aspekt der Vernetzung der Verkehrsträger, der schon im Bundesverkehrswegeplan 1992 enthalten war, muss weiterentwickelt werden. Die Koalitionsvereinbarung verspricht eine Überarbeitung des Planes in dieser Legislaturperiode. Ich teile die Zweifel, die der Kollege Oswald und auch der Kollege Horst Friedrich angesprochen haben, und frage mich, ob dies überhaupt noch gewollt ist. Denn der damalige Parlamentarische Staatssekretär Bodewig hat mir auf meine Anfrage im Oktober 2000 gesagt, dass derzeit eine zuverlässige Festlegung auf den Termin für den Abschluss der Überarbeitung des Planes erschwert sei. Selbst wenn es zu Verzögerungen gegenüber dem ursprünglich eingeplanten Zeitablauf von drei Jahren kommen sollte, würde dies keine Auswirkungen auf die unabdingbar notwendige Kontinuität des Planungs- und Investitionsgeschehens haben. - Nachtigall, ich hör dir trapsen: Immer davon reden, nie daran denken. Ich sage Ihnen voraus: Bis Ende der Legislaturperiode werden wir keinen neuen Plan durchberaten haben, werden wir keine Ausbaugesetze im Deutschen Bundestag beraten und beschlossen haben. Dann haben wir uns eine Legislaturperiode mit schönen Ankündigungen aufgehalten und in der Sache ist überhaupt nichts passiert. Für ein marktwirtschaftlich orientiertes integriertes Gesamtverkehrssystem ist eine Veränderung der Schienenverkehrspolitik unumgänglich. Die Bahnreform ist in einer besonders kritischen Phase. Die DB AG befürchtet mittelfristig hohe Milliardenverluste. Das Ziel der Kapitalmarktfähigkeit ist bedroht. Die Expertenanhörung hat deutlich gemacht, dass wir dringend mehr Wettbewerb im System Schiene brauchen. Die umgehende Trennung von Netz und Betrieb ist für einen diskriminierungsfreien Zugang unabdingbar. Die Schienenverkehrspolitik muss konsequent trennen zwischen dem System Schiene und den Schienenverkehrsunternehmen, ({13}) also der DB AG und anderen nicht bundeseigenen Eisenbahnen sowie europäischen Eisenbahnunternehmen. Wir fordern die Bundesregierung auf, umgehend ein schlüssiges Gesamtkonzept für den Schienenverkehr in Deutschland vorzulegen. Herr Bundesminister Bodewig, wir müssen endlich gemeinsam mehr Schienenverkehrspolitik und weniger ausschließlich Unternehmenspolitik für die DB AG machen. Ihre Ankündigung heute Morgen war für mich hoffnungsvoll, dass wir uns in dieser Richtung gemeinsam engagieren werden. Vom Vorstand der DB AG hingegen erwarten wir ein aktualisiertes Konzept zur Sanierung des Unternehmens. Beim Schienengüterverkehr soll das Aufkommen bis 2010 verdoppelt werden. Mit der vorhandenen InfrastrukDirk Fischer ({14}) tur, mit den derzeitigen Finanzmitteln und unter den aktuellen Rahmenbedingungen sowie mit nur dieser DB AG wird das Vorhaben scheitern. Es muss auch einen Wettbewerb im Kerngeschäft geben, den Mehdorn in Wahrheit verhindern will, indem der Wettbewerb im Sinne der DB AG gesteuert werden soll. ({15}) Das bedeutet: Was Mehdorn ökonomisch gesehen sozusagen in den Mülleimer wirft, das sollen sich andere Unternehmen herausholen und zeigen, dass sie es besser können als die DB AG. Im Regionalverkehr haben private Unternehmen schon nachgewiesen, dass sie dazu in der Lage sind. Diese Art von Wettbewerb à la Mehdorn bringt uns im System Schiene unter gar keinen Umständen voran. ({16}) Herr Minister, da Sie sich heute gegen die Trennung von Netz und Betrieb ausgesprochen haben - ich habe Sie jedenfalls so verstanden -, muss ich Ihnen sagen, dass Ihr Misserfolg vorhersehbar ist. Der Kollege Schmidt sagte vorhin allerdings, dass Sie doch die Trennung wollen, ({17}) nur nicht so schnell. Stellen Sie also bitte klar, ob wir oder der Kollege Schmidt Sie richtig verstanden haben. Dann wissen wir nämlich, wie die parlamentarischen Fronten verlaufen. Die Pällmann-Kommission stellt ernüchternd fest, dass die Schiene bereits dann an ihre Kapazitätsgrenze stoße, wenn auch nur der mittlere Zuwachs des Straßengüterverkehrs eines Jahres auf sie verlagert werde. Personennahverkehr, Personenfernverkehr und Güterverkehr müssen zur effektiveren Nutzung des vorhandenen Netzes entmischt werden. Das heißt aber in Wahrheit, dass sie ihre eigenen Netze erhalten. Dadurch wird ein Investitionsbedarf ausgelöst. Rot-Grün muss endlich den Verkehrsträger Straße ideologiefrei akzeptieren. Die Verkehrsträger Schiene und Wasserstraße müssen dort gestärkt werden, wo sie den größtmöglichen Nutzen für unser Gesamtverkehrssystem stiften können. Die Pällmann-Kommission bringt deutlich zum Ausdruck, dass „ideologische Eingriffe des Staates in den Wettbewerb mit Mitteln der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung abzulehnen sind und stattdessen ... die Verbesserung ihrer Wettbewerbslage aus eigener Kraft“ gefördert werden muss. Zur Stärkung der Binnenschifffahrt brauchen wir investive Mittel, um vor allen Dingen den schlechten Unterhaltungszustand des deutschen Kanalsystems zu beseitigen. ({18}) Binnenhäfen sind wichtige Verkehrsknoten, die fortentwickelt werden müssen, ({19}) damit die Binnenschifffahrt zu einem integralen Bestandteil moderner Transportketten werden kann. ({20}) Untersuchungen haben gezeigt - in diesem Punkt sind wir uns einig; ich begrüße in diesem Zusammenhang das persönliche Engagement der Kollegin Blank und gleichermaßen der Kollegin Faße -, dass in der Tat 30 Prozent der in Deutschland beförderten Güter nicht eilig transportiert werden müssen und damit auf die Binnenschifffahrt verlagerbar sind. Entsprechende Maßnahmen müssen gefördert werden. ({21}) Der Markt der Verlader muss diese Tatsache aber auch akzeptieren. Nicht der Staat, sondern der Kunde entscheidet über die Verladung. ({22}) Wir müssen deshalb die Kunden ansprechen. Ein Flughafenkonzept ist längst überfällig. Bisherige Entwürfe waren eine große Enttäuschung und wurden von den Ländern, den Flughäfen und den Luftfahrtgesellschaften massiv kritisiert. Trotz enormer Wachstumserwartungen im Luftverkehr - Verdoppelung des globalen Luftverkehrs innerhalb der nächsten zehn Jahre und Steigerung des weltweiten Passagieraufkommens auf über 3 Milliarden Passagiere ab 2010 - wollten Sie uns nur einen ideologisch verblendeten und luftverkehrsfeindlichen umweltpolitischen Maßnahmenkatalog liefern. Es gab keine klaren Aussagen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Flughäfen; Ankündigung konkreter Maßnahmen zum Kapazitätsausbau - Fehlanzeige; kein Wort von der Einbeziehung des Luftverkehrs in den Bundesverkehrswegeplan. Präzise formuliert wurde nur zulasten des Luftverkehrs: bei Kerosinbesteuerung und Emissionsabgaben. Wir brauchen aber eine Zukunftsperspektive für den bedarfsgerechten Ausbau der Infrastruktur. Wir brauchen Forderungen für einen sicheren und umweltverträglichen Luftverkehr, die ausgewogen gestaltet sind. Wir brauchen vereinheitlichte und gestraffte Genehmigungsverfahren, um den Flughafenbetreibern Planungssicherheit zu geben. Wir brauchen die weitere Privatisierung des deutschen Flughafensystems. Das wird zur Effizienzsteigerung beitragen. Der Wettbewerb wird neben der Kapazitätserweiterung die sinnvolle Kooperation der Flughäfen untereinander fördern, ({23}) die Vernetzung des Luftverkehrs mit anderen Verkehrsträgern vorantreiben und das Leistungsvermögen der deutschen Flughäfen steigern. Wir haben die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag aufgefordert, in der deutschen Verkehrspolitik Klarheit und Wahrheit herzustellen. Stimmen Sie unserem Antrag zu und schaffen Sie Klarheit in folgenden Punkten: Wenn der Bundesverkehrswegeplan in dieser Legislaturperiode noch fortgeschrieben werden soll, muss Dirk Fischer ({24}) er bald kommen. Wir brauchen bei etwa 7 500 Projekten hinreichend Beratungszeit.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Fischer, das klang schon wie der Schlusssatz. Ihre Redezeit ist zu Ende.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin. - Ergreifen Sie Gesetzesinitiativen für die mittlerweile abgelaufenen Bedarfspläne bei Straße und Schiene und schaffen Sie ein neues Gesetz für die Bundeswasserstraßen. Schaffen Sie ein abgestimmtes Planungskonzept für Unterhalt, Erneuerung und Neubau der Verkehrsinfrastruktur und legen Sie es vor. Das sind die drei Elemente unseres Antrages. Stimmen Sie zu. Dann haben wir Klarheit und ziehen am gleichen Strang. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Reinhard Weis das Wort.

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Bemerkung, die Herr Fischer in seiner Rede gemacht hat, ein bisschen geraderücken. Er hat einen Vorgang geschildert, den wir gestern im Ausschuss diskutiert haben. Dabei hat er hier den Eindruck erweckt, als hätte die Staatssekretärin Mertens eine Frage nicht beantworten wollen, um einen Vorgang zu vertuschen. Herr Fischer fragte im Ausschuss, ob es zutreffend sei, dass die BahnAG Investitionsmittel, die nicht ausgegeben wurden, zur Schuldentilgung eingesetzt habe. Die Antwort der Staatssekretärin darauf war, dass sie zu dieser Frage, die, weil sie nicht unmittelbar mit dem Thema der Ausschusssitzung zusammenhing, nicht vorhersehbar war, die konkreten Zahlen nicht parat habe und die Frage deshalb schriftlich beantworten werde. Ich glaube, dass Herr Fischer vor diesem Hintergrund, dass die Frage schriftlich und damit nachprüfbar beantwortet werden soll, hier nicht den Eindruck erwecken kann, als würde die Staatssekretärin ausweichen und vertuschen wollen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Herr Kollege Fischer, bitte.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Kollege Weis hat den Sachverhalt zutreffend dargestellt. Ich ziehe nur andere Schlussfolgerungen. Denn es ist so, dass dieser Sachverhalt in Deutschland allseits bekannt ist. Mich würde sehr wundern, wenn er im Verkehrsministerium zuletzt bekannt würde. Das kann nur gespielte Ahnungslosigkeit gegenüber dem Parlament sein, und so kann man mit dem Parlament nicht umgehen. ({0}) Wenn, Herr Kollege Weis, gesagt wird, dieses Geld habe man zur vorfristigen Tilgung der Vorausfinanzierung des Konzessionsmodells der Neubaustrecke Nürnberg-Ingolstadt-München verwandt, und auf meine Frage, ob diese Rückforderungen fällig gewesen seien, geantwortet wird, ein Teil sei fällig gewesen, ein anderer Teil sei vorfristig getilgt worden, dann bedeutet das doch nichts anderes, als dass Investitionskapital für die Schiene jetzt cash an die DB AG gegeben wird. Das heißt, ein Bilanzverlust in 2000, der in Wahrheit 1,2 Milliarden DM betragen würde, ist nun plötzlich verschwunden, weil die DB AG diese Cashzahlung einsetzen kann. Wenn ich nach präzisen Zahlen frage und die Kollegin Staatssekretärin Mertens mir sagt, sie kenne sie nicht und würde sie schriftlich nachliefern, dann finde ich das ganz reizend. Ich wage aber nicht, mir vorzustellen, dass der neben ihr sitzende im Ministerium für das Eisenbahnwesen zuständige Abteilungsleiter diesen Sachverhalt und die Zahlen nicht kennt, die sein ganzes Haus kennt. Das habe ich heute Morgen in meiner Rede kritisiert. Wir wünschen als Parlament, so schnell und so umfassend wie möglich über Sachverhalte informiert zu werden. Ich finde es unerträglich, dass wir in der Regel über Verbände und über die Presse informiert werden, während die Bürger draußen denken, die Abgeordneten säßen an der Quelle der Informationen und seien besonders gut informiert. Deswegen bitte ich Sie, mit dafür zu sorgen - da haben Sie eine ganz wichtige Schlüsselfunktion -, die Information des Parlaments und des Fachausschusses so zu gestalten, dass wir solche Kontroversen wie heute Morgen nicht mehr nötig haben. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Iris Gleicke für die SPDFraktion.

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Verkehrsbericht 2000 hat die SPD-geführte Bundesregierung die Zwischenbilanz einer überaus erfolgreichen Politik gezogen. Wir sind nach dem Regierungswechsel mit dem Anspruch aufgetreten, auch in der Verkehrspolitik die überfällige Wende einzuleiten und zu vollziehen. Unsere Verkehrspolitik setzt auf verlässliche, gesicherte Infrastrukturinvestitionen in einem ökonomisch und ökologisch vernünftigen Rahmen. ({0}) Man kann gar nicht oft genug daran erinnern, welche Ausgangssituation wir 1998 bei der Regierungsübernahme vorgefunden haben: völlig zerrüttete Staatsfinanzen, einen riesigen Schuldenberg und einen hoffnungslos unterfinanzierten Bundesverkehrswegeplan. ({1}) Auch in dieser Debatte muss man wieder den Eindruck gewinnen, dass Sie Ihre wohlverdiente Niederlage bei der letzten Bundestagswahl immer noch als eine Art BetriebsDirk Fischer ({2}) unfall betrachten. Die Kolleginnen und Kollegen von der rechten Seite des Hauses haben aus dieser Niederlage so gut wie nichts gelernt. Sie tun immer noch so, als hätten sie alles richtig gemacht und als hätten die Bürgerinnen und Bürger draußen das bloß nicht verstanden. Ganz in diesem Sinne hat Herr Fischer vor einiger Zeit die Rückkehr zur „verlässlichen Verkehrspolitik“ der unionsgeführten Vorgängerregierung gefordert. Das muss man sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel dafür, was Sie unter verlässlicher Verkehrspolitik verstehen. 1994 haben wir - Frau Rehbock-Zureich hat es schon gesagt - im Bundestag gemeinsam die Bahnreform beschlossen. ({3}) Damit sollte eine Trendwende zugunsten der Schiene eingeleitet werden. Darüber waren wir uns alle damals einig. Wir wussten auch, dass das Geld kostet, viel Geld. Deshalb wurden der Bahn im Zuge der Bahnreform Investitionsmittel in Höhe von ungefähr 10 Milliarden DM jährlich zugesagt. 1995 erhielt die Bahn vom Bund immerhin noch Investitionsmittel in Höhe von 9,2 Milliarden DM. 1996 waren es noch 7,2 Milliarden DM, 1997 nur noch 6,7 Milliarden DM. ({4}) Im Wahljahr 1998 waren es noch lächerliche 5,7 Milliarden DM. ({5}) So sieht verlässliche Verkehrspolitik à la CDU/CSU aus. Sie haben die Bahn vor die Wand gefahren! ({6}) Ich will die Kolleginnen und Kollegen einmal daran erinnern, dass Ihr damaliger Finanzminister der Bahn diese notwendigen Investitionsmittel deshalb verweigert hat, weil er gegenüber den europäischen Partnern den Nachweis geringerer Staatsverschuldung erbringen und die Maastricht-Kriterien erfüllen musste. Sie haben damit die Bahn verraten und verkauft. Ihre Debattenbeiträge heute gehen fröhlich nach dem Motto: Haltet den Dieb, er hat mein Messer im Rücken! ({7}) Sie haben die Bahn als eine Art Sparschwein betrachtet und es systematisch geschlachtet. Genau deshalb steckt die Bahn jetzt in der Krise. Genau deshalb ist das Schienennetz zum Teil total marode. ({8}) Das führt dann zwangsläufig zu Verspätungen und dazu, dass die Bahn längst nicht so attraktiv ist, wie sie es sein könnte. ({9}) Wie soll denn der Kunde König sein bei einem Unternehmen, das von Ihnen systematisch an den Bettelstab gebracht worden ist? ({10}) Erst seit 1999, seit der rot-grünen Regierungsübernahme, fließen wieder erhöhte Investitionsmittel. Schon in diesem Jahr liegen die Investitionen wieder bei 8,7 Milliarden DM. Wir machen nämlich beides: Wir konsolidieren den Staatshaushalt und nutzen konsequent alle Spielräume, um dem Unternehmen Bahn zu helfen. Wir stehen zur Bahnreform, und wir werden sie erfolgreich zu Ende führen. ({11}) Dabei muss natürlich eines klar sein: Die Deutsche Bahn AG kann sich nicht darauf beschränken, immer nur mehr Geld zu fordern. ({12}) [F.D.P.]: Ja!) Wir erwarten, dass sie sich an den Bedürfnissen ihrer Kunden orientiert. ({13}) Wir brauchen nämlich eine kundenorientierte und leistungsfähige Bahn ({14}) und für andere Bewerber den diskriminierungsfreien Zugang zum Netz. ({15}) - Da sind wir uns einig. ({16}) Wir brauchen Chancengleichheit und einen fairen Wettbewerb auf der Schiene, wenn wir mehr Güter- und Personenverkehr von der Straße auf die Schiene verlagern wollen. Und genau das wollen wir. Deshalb verfolgen wir ein integriertes Verkehrskonzept, in dem jeder Verkehrsträger seine Vorteile optimal ausspielen kann. Alles andere führt nämlich zwangsläufig dazu, dass die Mobilität auf der Straße irgendwann an sich selbst erstickt. Das weiß jeder, der schon einmal im Stau gestanden hat. Das vermiest jedem den Spaß am Autofahren, belastet die Umwelt und ist wirtschaftlicher Irrsinn. Die Lösung kann nicht darin bestehen, unbegrenzt und immer mehr Straßen auszubauen und neu zu bauen. Das ist schlicht nicht zu bezahlen und vielerorts auch räumlich gar nicht möglich. Bei den Bundesfernstraßen sieht die Hinterlassenschaft der alten Bundesregierung ja nicht besser aus als bei der Bahn; auch das wollen wir ganz klar festhalten. Seit 1992 sind die Ausgaben für den Erhalt immer stärker hinter dem zurückgeblieben, was eigentlich notwendig gewesen wäre. 1992 waren es noch rund 50 Millionen DM zu wenig. Über die Jahre hinweg hat sich dieser Rückstand auf rund 1 Milliarde DM angehäuft. Auch das ist ein Ergebnis der ach so verlässlichen Verkehrspolitik der CDU/ CSU. Deshalb ist es völlig richtig, dass die Bundesregierung im Rahmen ihrer Investitionen einen Schwerpunkt auf den Bestand gesetzt hat. ({17}) Es geht darum, Engpässe dort zu beseitigen, wo dies besonders notwendig ist. Deshalb das Anti-Stau-Programm! Es geht darum, neue Straßen dort zu bauen, wo sie den Bürgerinnen und Bürgern einen optimalen Nutzen bringen. Deshalb das Ortsumgehungsprogramm! Nicht alles, was sinnvoll und wünschenswert wäre, kann allerdings auch sofort umgesetzt werden. Ich bin davon überzeugt, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes dafür Verständnis haben, und zwar deshalb, weil sie merken, dass auf die Verkehrspolitik von Rot-Grün wirklich Verlass ist. ({18}) Früher war es ja so, dass jemand mit dem Hubschrauber angeflogen kam, irgendwo einen Spaten in die Erde gesteckt hat und dann nichts mehr passiert ist. Das war Politik nach Wunsch und Wolke. ({19}) In christliberalen Zeiten sind mehr Luftschlösser als Straßen gebaut worden. Das ist doch nun einmal die Wahrheit! ({20}) Das haben wir geändert. Wir sind zu einer verlässlichen und realistischen Verkehrspolitik zurückgekehrt. Die Verkehrspolitik benötigt diesen Realismus. Sie braucht aber auch Fantasie und Kreativität. Wir benötigen neue Ideen statt alte Hüte. Wir würden uns freuen, wenn Sie von der Opposition mit uns in diesem Sinne in einen kreativen Wettbewerb der Ideen treten würden. Das könnte ja sogar richtig Spaß machen. Aber davon ist leider auch heute nicht viel zu merken gewesen. Meine Damen und Herren, Verlässlichkeit ist für Ostdeutschland ganz besonders wichtig. Wir bekennen uns klar und eindeutig zum Vorrang des Ausbaus der Infrastruktur im Osten. Denn dort ist der Nachholebedarf nach wie vor gewaltig. ({21}) Vieles ist bereits erreicht worden. Aber vieles bleibt noch zu tun. Eines will ich hier deutlich sagen: Der Ausbau der Infrastruktur im Osten ist kein gönnerhaft dargereichtes Geschenk des Westens, für den sich Ostdeutschland artig bedanken müsste. Er ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Er ist die Voraussetzung für das Gelingen der deutschen Einheit. Schönen Dank. ({22})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zuerst zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/3844. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- schlussempfehlung, den Straßenbaubericht 1998 auf Drucksache 14/245 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Entschließungs- antrages der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2576 zu dem Straßenbaube- richt 1998. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh- lung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Anti-Stau-Programm“; das ist die Drucksache 14/4009. Der Ausschuss empfiehlt, den An- trag auf Drucksache 14/3179 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDS-Fraktion an- genommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksa- che 14/4340. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS zum flächenhaften Ausbau der Schienenwege im Bereich Nordbayern, Hessen, Thüringen und Sachsen auf Druck- sache 14/2525 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/2692 zum Weiterbau des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit Nr. 8; das ist die Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leip- zig-Berlin. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich muss noch einmal fragen: Wie war das Abstimmungsverhalten bei der PDS-Fraktion? - Nichtbeteiligung der PDS- Fraktion!1) Diese Beschlussempfehlung ist also gegen die Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.- bei Nichtbeteili- gung der PDS-Fraktion angenommen. Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt eine schriftliche Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 der Geschäfts- ordnung des Kollegen Wolfgang Dehnel, CDU/CSU- Fraktion, vor.2) Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrages der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2906 zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thüringen/Nordbayern im Rahmen des Verkehrsprojekts Deutsche Einheit Nr. 8. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDSFraktion angenommen. Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2914 mit dem Titel „Ja zur Schienenneubaustrecke NürnbergErfurt-Halle/Leipzig-Berlin“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 seiner Beschlussempfehlung, den Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 14/2176 zum Ausbau der Schienenwege 1999 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4688 ({0}), 14/4048 und 14/4543 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offen- sichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschließ- ungsantrag auf Drucksache 14/5081 zum Verkehrsbe- richt 2000 zu überweisen: zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für Arbeit und Sozialord- nung, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit, den Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder, den Ausschuss für Tourismus, den Aus- schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sowie an den Haushaltsausschuss. Gibt es dazu anderwei- tige Vorschläge? - Auch das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 b und 6 c sowie die Zusatzpunkte 2 bis 4 auf: 6 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias Weisheit, Brigitte Adler, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN BSE-Bekämpfung konsequent ausbauen - Drucksache 14/5085 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({2}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kersten Naumann, Dr. Ruth Fuchs, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Soforthilfsprogramm für durch die BSE-Krise betroffenen Kommunen und Landwirte einrichten - Drucksache 14/4924 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({3}) Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Klares Konzept zur Bekämpfung von BSE notwendig - Drucksache 14/5079 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({4}) Ausschuss für Gesundheit ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Verbraucher vor BSE schützen - Landwirten helfen - Drucksache 14/5097 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({5}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Ländlichen Raum gemeinsam mit der Landwirtschaft stärken - Drucksache 14/5080 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eineinviertel Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- wirtschaft, Renate Künast. Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 2 2) Anlage 3 Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({7}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese BSE-Debatte hier im Hause ist sicherlich eine der Debatten, die in diesen Wochen und Monaten am aufmerksamsten verfolgt wird. Warum? Die Zahl der BSE-Fälle in Deutschland steigt ständig; in anderen EUMitgliedstaaten auch. Wir haben mittlerweile 16 durch Tests bestätigte Fälle. Das werden nicht die letzten sein. Interne Schätzungen gehen von 200 bis 500 Fällen in diesem Jahr aus. Es kann sein, dass dies noch zu niedrig geschätzt ist. Nicht nur deshalb wird aufmerksam auf uns geblickt. Ich glaube, die betroffenen Landwirte und die Unternehmen, die in den vor- und nachgelagerten Bereichen der Landwirtschaft tätig sind, sind in großen Schwierigkeiten. Vor meinem Ministerium gibt es die erste Demonstration von Menschen, die in Schlachthöfen arbeiten und sich um ihre Arbeitsplätze Sorgen machen. Für mich aber ist der zentrale Punkt die große Verunsicherung von 80 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Diese wird sicherlich der Grund für eine hohe Einschaltquote bei dieser Debatte sein. Die BSE-Krise zwingt uns, eine Menge grundsätzlicher Fragen zu diskutieren und Antworten darauf zu finden. Ich will sie benennen. Die erste Frage betrifft die Ernährungsgewohnheiten in Deutschland. Warum haben wir eigentlich den Hang, bei der Ernährung immer nur auf das Geld und das Wort „billig“ und nicht auf Qualität und Qualitätsstandards zu schauen? ({8}) Wie steht es um die Industrialisierung der Produktionsprozesse in der Lebensmittelherstellung und auch dort mit den Qualitätsstandards? Auch müssen wir - das sage ich mit Blick auf das Organisatorische - die Organisation und die Effizienz der Verwaltungsstrukturen überdenken. Wir haben die EU, wir haben den Bund und wir haben die Länder. Wir alle hier wissen, dass in den letzten Monaten dort nicht alles zum Besten und nicht wirklich effizient gelaufen ist. Darauf werden wir Antworten finden müssen. ({9}) - Da es meine erste Rede hier ist, nehme ich dies als Vorschusslorbeeren, die Sie mir geben. Sehen Sie mir das nach. ({10}) Die andere Frage, die sich stellt, betrifft die Rolle der Agrarpolitik, die seit Jahren in der Kritik steht. Ich meine, sie steht zu Recht in der Kritik. Warum? Weil eine jahrzehntelang verfehlte Agrarpolitik zu genau der BSEKrise geführt hat, die wir heute haben. ({11}) Wenn die vorige Bundesregierung früher angefangen hätte, hätten wir heute alle nicht dieses Problem. ({12}) Wenn wir früher gelernt hätten, dass bei Agrarpolitik die Verbraucher, die die Produkte schließlich kaufen sollen und wollen, eine stärkere Rolle spielen und ({13}) auch hinsichtlich der Auswirkungen auf ihre Gesundheit stärker aufgeklärt werden müssen, hätten wir heute dieses Problem nicht. Aber wir haben nicht nur grundsätzliche Fragen zu klären. Als Erstes steht jetzt Krisenbewältigung an. Das ist zumindest das, was mich in den ersten Amtstagen beschäftigt hat. Die erste logische Konsequenz dieser Bundesregierung in Sachen Krisenbewältigung ist: aus den Erfahrungen der letzten Monate lernen und endlich die Aufgaben Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft in einem Ministerium bündeln. Ich meine, dies hätte längst unter ein Dach gehört. ({14}) Es sollte klar sein: Dies richtet sich nicht gegen die Landwirte. Ich habe kein Amt gegen irgendjemanden angetreten, sondern ein Amt für Verbraucherschutz, für Ernährung und für die Landwirtschaft. Deshalb sage ich: Die Zeit des Gegeneinander ist vorbei. ({15}) Ich werde deshalb versuchen, alle an einen Tisch zu bekommen und auch langfristig zu planen, wie es weitergeht. Zur Krisenbewältigung sage ich Ihnen eines: Einem Untersuchungsausschuss, über den hier einige diskutieren, würde ich mit Freuden entgegensehen. Ich habe die Akten in den sechs Amtstagen noch nicht alle lesen können, aber wie mir gesagt wurde, gibt es in den Unterlagen der Jahre 1993 bis 1998 höchst interessante Vermerke, ({16}) bis dann endlich auch die Bundesregierung gesagt hat: Gut, wir geben dem Druck, der im Wesentlichen aus der EU kam und auf eine andere Landwirtschaftspolitik hinsichtlich der BSE-Bekämpfung zielte, nach. Wir müssen jetzt den Versuch unternehmen, Gemeinsamkeit bei der BSE-Bekämpfung herzustellen. Das sage ich bewusst auch zu Ihnen. Ich will hier gar keine Konfrontation. Ich sehe genau, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen eine Vielzahl von konkreten Forderungen enthält, die ich zum Beispiel auch im Antrag der CDU/CSU gelesen habe, auch wenn hier die kurz- und mittelfristigen Forderungen ein bisschen vermischt sind. Ich glaube, dass dies eine Aufforderung an die Bundesregierung ist, jetzt endlich einen Maßnahmenkatalog vorzulegen. Ich werde Ihnen diesen in Kürze vorschlagen. Wir haben gestern im Bundeskabinett darüber geredet. Ich habe über den aktuellen Entscheidungsbedarf berichtet. Wir haben uns verständigt, sehr schnell Entscheidungen zu treffen und sie umzusetzen. Auch die Amtschefs haben sich gestern getroffen und einen Katalog verabschiedet. Ich will Ihnen sagen, was zu den aktuellen Maßnahmen gehört, die zu ergreifen sind. Das sind die offene Deklaration und eine Positivliste für erlaubte Futtermittel, damit sich in Zukunft Infektionen, wenn dies der Übertragungsweg ist, nicht wiederholen. Zudem brauchen wir eine verstärkte und konsequente Futtermittelkontrolle, die, wie wir alle wissen, in den Ländern unterschiedlich ausgeprägt stattfindet oder eben auch nicht. Wir brauchen verschärfte Sanktionsvorschriften. Ich möchte ein zeitlich unbefristetes Verfütterungsverbot von Tiermehl und Tierfetten erreichen, auch wenn ich weiß, dass sich andere in der EU damit schwer tun. Wir brauchen verbesserte BSE-Tests und wir brauchen sie für jüngere Tiere. Dies gilt besonders mit Blick auf das 28 Monate alte Tier aus Freising in Bayern. Ich überlege, das Alter für die Anwendung von BSE-Tests von 30 Monaten auf 24 Monate zu reduzieren. Wir brauchen die schrittweise Ausdehnung der Tests auf alle Schlachtrinder. Ein Ziel sollte sein, dass Rindfleisch nur noch dann auf den Markt kommen darf, wenn es auf BSE getestet ist; denn Verbraucherinteressen und Gesundheit haben Priorität. ({17}) Auch brauchen wir bezüglich der Schafe ein nationales Scrapie-Überwachungsprogramm. Wir brauchen ein Verbot der Gewinnung und Verarbeitung von Separatorenfleisch und - das gehört zu den aktuellen Entscheidungen - wir brauchen eine Entsorgung der Altbestände. Es geht um vor Anfang Dezember gelagertes Tiermehl und Tierfette, die noch in den Betrieben lagern und wo die Gefahr besteht, dass diese Mittel noch genutzt werden. ({18}) Eines sage ich klar: Wir wollen den Betroffenen helfen. Ich will die Kooperation zwischen der EU, dem Bund und den Ländern. Ich hoffe, dass die Entscheidungen, die gestern zusammen mit den Amtschefs getroffen worden sind, auf der politischen Ebene Mehrheiten finden. Ich habe zwei Entscheidungen kurzfristig zu treffen, die mir sicherlich nicht leicht fallen werden. Das eine ist die Frage: Bleiben wir bei der Tötung der Gesamtbestände, in denen BSE aufgetreten ist? Ich habe das wissenschaftliche Steering-Komitee auf EU-Ebene gebeten, dieser Frage noch einmal nachzugehen. Wir werden auf dem Agrarrat am 29. und 30. Januar dieses Jahres diesen Punkt auf der Tagesordnung haben, weil ich finde, dass es diese Frage verdient, noch einmal geprüft zu werden. Heute bleibt aber nichts anderes übrig, als zu sagen: Wir bleiben bei der Bestandstötung. Wir verfahren damit anders als Herr Stoiber, der zur Tötung von Einzeltieren oder einer Kohorte übergehen möchte. Wir würden den Bauern damit keinen Gefallen tun. Was hilft es uns, wenn wir nur die Kohorten töten, aber der Bauer um Hilfe bitten muss, die Tiere abzutransportieren, weil weder das Fleisch noch die Milch abgenommen werden? Die Politik muss eine verantwortliche Entscheidung treffen. Ich werde mich davor nicht drücken. ({19}) Wir haben dann noch das Problem des Aufkaufens von Tieren über 30 Monate, für die es keine Käufer gibt. Ich prüfe das. Was immer ich auch entscheiden und welchen Vorschlag ich machen werde: Es wird mir nicht leicht fallen. Eines ist aber klar: Es geht bei all diesen Punkten nicht um die kurzfristigen Interessen der Landwirtschaft. Es geht eindeutig um Verbraucherschutz, Tierschutz und ethische Fragen. Wenn wir eine solche Maßnahme ergreifen, dann garantiert nicht ohne erste Schritte zu einer Wende in der Agrarpolitik, zum Beispiel indem wir die Möglichkeiten der Agenda 2000 endlich nutzen und ausschöpfen; sonst wäre diese Maßnahme garantiert nicht vertretbar. ({20}) Ich werde in der nächsten Zeit intensiv mit den Verbraucherschützern, den Tierschützern und den Verbänden der Land- und Ernährungswirtschaft reden. Ich wende mich nicht nur an die Bauern; denn wenn es eine Wende geben soll, dann sind diejenigen, die als Erste aktiv werden müssen, nicht die Bauern, sondern die Futtermittelindustrie und der Einzelhandel. Auch diese müssen ihren Beitrag leisten. ({21}) Mein Auftrag ist der Verbraucherschutz. Ich werde dabei die Interessen der Landwirte nicht vergessen. Ich weiß aber: Das größte Kapital und das größte Pfund, mit dem die Bauern wuchern können, ist das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher. Deshalb muss die oberste Maxime sein, fehlendes Vertrauen wieder herzustellen. Wie macht man das? Das erreicht man dadurch, dass man in Zukunft einen vorsorgenden Verbraucherschutz praktiziert und nicht erst dann eingreift, wenn die Menschen und die Tiere krank sind und die Höfe in ihrer Existenz gefährdet sind. Vorsorgender Verbraucherschutz ist das Zauberwort. Das ist meines Erachtens in zweifacher Hinsicht gut, und zwar sowohl für die Verbraucher als auch für die deutsche Landwirtschaft. ({22})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Ministerin Künast, dies war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen möchte ich Sie dazu beglückwünschen. ({0}) Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Annette Widmann-Mauz für die CDU/CSU-Fraktion.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Ministerin Künast, meine Fraktion und ich heißen Sie im Deutschen Bundestag herzlich willkommen. Frau Künast, wir freuen uns auf die politischen Auseinandersetzungen mit Ihnen in diesem Haus. ({0}) Ich finde, Sie haben in Ihrer Rede einige sehr sinnvolle Vorschläge für das aktuelle Vorgehen im Rahmen der BSE-Krise gemacht. Es ist schön, dass die Bundesregierung endlich zu Regelungen und Maßnahmen findet, nachdem die Union bereits im November und Dezember viele Maßnahmen vorgeschlagen hat. Es ist Zeit, dass wir an das Umsetzen gehen und uns nicht mit Worten und Proklamationen begnügen. ({1}) Was ist in Deutschland eigentlich passiert? Die Menschen wissen nicht mehr, was sie essen sollen, die Verbraucher sind total verunsichert, die bäuerlichen Betriebe und damit auch der ländliche Raum sind existenziell bedroht und die dafür verantwortlichen Minister sind nicht mehr im Amt. Das ist mit das Ergebnis Ihrer Politik der letzten Monate. ({2}) Seit diese rot-grüne Regierung im Amt ist, wurde der Verbraucherschutz in Deutschland dramatisch vernachlässigt. Wir haben eine Vertrauenskrise bezüglich der Sicherheit von Lebensmitteln, bezüglich der Erzeuger und leider auch bezüglich der Politik. Es herrscht ein Klima eines pauschalen Verdachts. In der BSE-Krise wurde monatelang verharmlost, abgewiegelt, versäumt, ignoriert und - auch das ist mittlerweile gut dokumentiert - bewusst desinformiert. ({3}) Diese Politik hat nicht die Menschen und deren Gesundheit in den Mittelpunkt gestellt, sondern ist bis heute von Kommunikationsdefiziten, Unentschlossenheit und einer nicht zu übersehenden politischen Hilflosigkeit gekennzeichnet. ({4}) Eine Bündelung des Verbraucherschutzes ist notwendig. Ist aber gerade die Ansiedlung im Landwirtschaftsministerium richtig? Parteipolitisch-taktisch mag das sicher so sein, aber ist es auch sachpolitisch richtig? Zunächst besagt es doch nur eines: Schröder will, dass sich die Gesundheitsministerin endlich mit aller Kraft um die Probleme in unserem Gesundheitswesen kümmert, damit der Patient nicht länger auf der Strecke bleibt. Frau Künast, Sie sind neu im Amt. Deshalb will ich Ihnen auch nicht die Fehler Ihres Vorgängers vorhalten, sondern ganz konkret sagen, was wir von Ihnen erwarten. Verbraucherschutz heißt zuallererst Transparenz. Die Fakten müssen auf den Tisch. Die Menschen müssen wissen, wo es für sie Risiken gibt und wie schwerwiegend diese sind. Es darf nicht sein, dass die Bundesregierung - wie geschehen - bereits im April weiß, dass Deutschland ein BSE-Risikoland der zweithöchsten Kategorie ist und nichts tut. Obwohl angesichts der besonderen Ausgangslage und der Kritik aus dem Ausland umfangreiche epidemiologische Untersuchungen durchgeführt werden sollten, um für einen möglichen ersten Fall von BSE in Deutschland gerüstet zu sein, geschah nichts. Es gab keine weiteren Stellungnahmen und keine Vorkehrungen für den Fall der Fälle. ({5}) Es gab keinerlei Planungen und keinerlei Maßnahmen, nichts. Völlig planlos und unvorbereitet hat die BSEKrise deshalb auch diese Bundesregierung getroffen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Widmann-Mauz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Weisheit?

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, sind Sie sich bewusst, dass die Bundesländer die Durchsetzung der entsprechenden Maßnahmen, deren Nichtdurchsetzung Sie jetzt einseitig der Bundesregierung anlasten, immer wieder einstimmig im Bundesrat verhindert haben? Alle Briefwechsel sind veröffentlicht. Über diese haben wir hier schon diskutiert. Hören Sie doch bitte schön damit auf, die Versäumnisse nur der Bundesregierung in die Schuhe zu schieben! ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Weisheit, dass es entsprechende Empfehlungen wissenschaftlicher Experten für die Bundesrepublik in Arbeitskreisen, an denen die Bundesregierung mit mehreren Ressorts beteiligt war, gegeben hat, ist dokumentiert. Diese liegen zwar dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vor. Aber über diese Empfehlungen wurde nicht diskutiert. Aufgrund unseres mehrmaligen und nachhaltigen Nachfragens, wie wir angesichts der Nichtumsetzung der Kennzeichnungspflicht in Großbritannien in der Frage des britischen Rindfleischs vorgehen sollen, wurde uns gerade von Mitgliedern Ihrer Fraktion im Ausschuss ständig Panikmache vorgeworfen. ({0}) Vizepräsidentin Petra Bläss Fragen Sie Ihre Kollegen, die Ihnen das bestätigen werden, und schauen Sie sich die entsprechenden Protokolle an! Hier lässt sich nichts wegdiskutieren. Die Versäumnisse werden zum Beispiel von Ihren Kollegen im Gesundheitsausschuss gar nicht infrage gestellt. So sollte es nicht weitergehen. Wir müssen doch aus den Erfahrungen, die wir in den letzten zwei Jahren gemacht haben, lernen. Es ist wichtig für eine zukunftsbezogene Analyse, auch einen kritischen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Nur so können wir in Zukunft Fehler vermeiden. Darauf kommt es doch für die Verbraucherinnen und Verbraucher in unserem Land an. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Widmann-Mauz, es gibt den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage. - Bitte, Herr Kollege Weisheit.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass wir unseren Blick in die Vergangenheit richten. Aber man sollte dann bitte schön nicht schon 1998 einen Strich ziehen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie mit mir darin übereinstimmen, dass wir bis in das Jahr 1988 zurückblicken müssen, wenn wir aus der Vergangenheit lernen wollen.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Weisheit, die BSE-Krise ist eine Krise, die sicherlich nicht erst im Jahr 1998 begonnen hat; denn die dokumentierten Versäumnisse, die in Großbritannien und auf europäischer Ebene, aber auch in der Bundesrepublik schon vor diesem Zeitpunkt begangen worden sind, waren viel zu groß. Aber, Herr Weisheit, Ihre Fraktion stellt die Bundesregierung und hat den Bundeslandwirtschaftsminister gestellt. Wir debattieren in den letzten Wochen und Monaten, seit wir wissen, dass Deutschland in eine höhere Risikostufe eingruppiert worden ist, im Deutschen Bundestag über die Verantwortung der deutschen Bundesregierung. Es sind schon vor dem Auftreten der ersten BSE-Fälle in der Bundesrepublik Deutschland konkrete Maßnahmen gefordert worden, weil mit ihnen zu rechnen war. Die Bundesregierung hat jedoch nichts getan. Die entsprechenden Maßnahmen sind verschlafen worden. Wenn alles so wunderbar geklappt hätte, dann müssten heute noch zwei andere Minister auf der Regierungsbank sitzen. ({0}) In internen Protokollen zum Beispiel vom April letzten Jahres wurde auch die Möglichkeit der BSE-Infektion von Schafen thematisiert. Auch davon drang nichts nach außen. Höchste Geheimhaltung! Selbst das Parlament und die zuständigen Ausschüsse - das mache ich dem Ministerium schon zum Vorwurf - wurden von dem Verdacht nicht in Kenntnis gesetzt. Bis heute gibt es keine Vorkehrungen für das Scrapie-Problem. Frau Künast, das darf sich in Zukunft nicht wiederholen. Ein zweiter Fall: Das Bundesgesundheitsministerium ist von Medizinern der Universität Göttingen über Prognosen zum Verlauf der Entstehung, Verbreitung und Bekämpfung der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in Kenntnis gesetzt worden. Seit November letzten Jahres geht das Bundesgesundheitsministerium davon aus, dass auch in Deutschland mit der neuen Variante von CJK gerechnet werden muss. In einem internen Arbeitspapier des Bundesgesundheitsministeriums wird gewarnt: Auch in Deutschland könne die stets tödlich verlaufende neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit auftreten. Weder die Öffentlichkeit noch das Parlament sind allerdings darüber je informiert worden. Geschlossene Expertenrunden, interne Arbeitspapiere und Ergebnisse, die zurückgehalten werden, haben mit vorsorgendem Verbraucherschutz - genau dieses Wort haben Sie, Frau Künast, auch heute benutzt - nichts zu tun. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Stellen Sie künftig sicher, dass Sie als Ministerin und die Öffentlichkeit informiert werden und dass in den Fällen, in denen dies zu früh erscheint, weil die Erkenntnisse noch zu gering sind, zumindest die zuständigen Ausschüsse des Parlaments und die Landesregierungen zeitnah in Kenntnis gesetzt werden. Deshalb fordern wir in unserem Antrag, über den wir heute beraten, einen unabhängigen wissenschaftlichen Ausschuss zum Thema „Bekämpfung von BSE“. Wir fordern von Ihnen mehr Transparenz. Machen Sie mit der Geheimniskrämerei Ihrer Vorgänger Schluss! ({1}) Frau Künast, Sie haben mit markigen Gesten angekündigt, Verbraucherschutz werde zur Chefsache. Sie persönlich wollen sich um die Dinge kümmern. Genau das fordern wir von Ihnen. Sie tragen Verantwortung für den Verbraucherschutz in Deutschland. Dazu gehört die Verantwortung für und zur Information. Dazu gehört aber auch der verantwortliche Umgang mit dieser Information, das heißt Sachlichkeit statt Verunsicherung. Sie bewegen sich auf einem sehr schmalen Grat; denn es bedarf großer Sensibilität für die Verbraucher, die - wie zu dieser Uhrzeit - vor ihrem Mittagessen sitzen und gesunde Nahrungsmittel essen wollen, sowie für Menschen, die gesunde Nahrungsmittel produzieren und davon auch leben müssen. So wie Sie in der Sendung „Was nun, ...?“ aufgetreten sind, Frau Künast, geht es wirklich nicht. Ich glaube, das haben Sie selbst mittlerweile eingesehen. Wir brauchen keine Schnellschüsse und keine Kraftmeierei. Wir brauchen Sachlichkeit, Abgewogenheit und konkretes Handeln. Die Verantwortung zur Information und der verantwortliche Umgang mit der Information gehören nämlich zusammen. Wir brauchen keine Hysterie; aber wir dürfen die Menschen in unserem Land auch nicht in falscher Sicherheit wiegen. Die in Ihrem Haus hier und da kursierende Idee - sie klang auch in Ihrer Rede heute ein bisschen an -, Rindfleischprodukte mit einem Testsiegel zu versehen, wäre so ein Fall. Hiermit könnte dem Verbraucher suggeriert werden, es gebe die hundertprozentige Sicherheit. Doch - das wissen Sie - diese Sicherheit gibt es - zumindest derzeit - nicht. Deshalb können wir den Menschen nichts anderes sagen. Den Mut dazu müssen wir haben. Wir erwarten von Ihnen, dass Sie koordinierend tätig werden. Verbraucherschutz bleibt auch nach dem Kabinettsbeschluss eine Querschnittsaufgabe zwischen den Ministerien sowie zwischen dem Bund und den Ländern. Der Föderalismus in Deutschland ist eine gute Grundlage für den Wettbewerb um den besten Verbraucherschutz und übrigens auch um die beste Nahrungsmittelerzeugung. Das, was Sie auch heute wieder so groß als „neue Agrarpolitik“ ankündigen, ist zum Beispiel in Baden-Württemberg schon vor Jahren auf den Weg gebracht worden. ({2}) Zum Beispiel ist die gläserne Produktion bei uns entwickelt worden. Das MEKA-Programm und das SchALVO-Programm fördern, und zwar flächenbezogen, die Extensivierung der Landwirtschaft mit ökologischen Standards, mit Bewirtschaftungs- und Düngebeschränkungen. Hinzu kommt der finanzielle Ausgleich für die Landschaftspflege. Es handelt sich also um ein ganzes Bündel von Maßnahmen. ({3}) Frau Künast, ich lade Sie herzlich ein: Kommen Sie zu mir auf die Schwäbische Alb und schauen Sie sich einmal an, wie das funktionieren kann. Allerdings sollten Sie zuerst Ihre Ressortzuständigkeiten klären; denn wie wir hören, ist der administrativ notwendige Organisationserlass noch gar nicht erfolgt. Dies ist nämlich die Voraussetzung dafür, dass Sie Ministerin für den Verbraucherschutz sind. Erst seit dieser Woche liegt ein erster Entwurf für den Organisationserlass vor. Ich frage mich schon: Ist das vom Kanzleramt verschlafen worden oder wollen Sie erst noch den Wedel-Bericht abwarten? Wie steht es eigentlich damit? Wird der Bericht von Frau Wedel in die Überlegungen überhaupt noch einfließen oder gibt es schon wieder Streit bei Ihnen? Wer wird denn eigentlich bei der Gentechnik das Sagen haben? Wie lange soll das Ganze eigentlich noch dauern? Allein mit markigen Ankündigungen kann man keine Politik machen. Wir brauchen von Ihnen - ich komme zum Schluss den Einsatz für den Vorrang des vorsorgenden Verbraucherschutzes, vor allen Dingen auf europäischer Ebene. Es besteht enormer Handlungsbedarf. Wir brauchen keine Kraftsprüche in Talkshows, sondern Entscheidungen auf der Ebene des Europäischen Rats. Wir werden Sie nicht an den Einschaltquoten, sondern an den Ergebnissen, die Sie erzielen, messen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Norbert Wieczorek, SPD-Fraktion.

Dr. Norbert Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002502, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie haben vorhin einen wichtigen Satz ausgesprochen: Es kommt darauf an, dass wir uns dieser Krise gemeinsam annehmen, wobei natürlich die Interessengegensätze, die vorhanden sind, zum Ausgleich gebracht werden müssen. Ich hoffe - bei meiner Vorrednerin hatte ich eben nicht immer den Eindruck -, dass das auch die Rolle der Opposition sein wird. Das heißt nicht, dass sie keine anderen Meinungen vertreten dürfte; aber wir müssen diese Krise, die eine Krise der gesamten Ernährungswirtschaft darstellt, gemeinsam bewältigen. ({0}) Wir müssen nämlich die Bürger vor gesundheitlichen Risiken schützen und dürfen nicht hinnehmen - ich sage auch das bewusst -, dass unseren Bauern die Existenzgrundlagen wegbrechen. Da lassen jedenfalls wir als Regierungsfraktionen keinen Gegensatz zwischen den Bauern einerseits und den Verbrauchern andererseits zu. Allerdings gilt auch - dies schließt die Vertreter der organisierten Landwirtschaft ein - das Prinzip: Es kann kein „weiter so wie bisher“ geben. ({1}) Das herrschende Leitbild der Wirtschaft, das zu machen, was kurzfristig Profit verspricht, dient nicht dem langfristigen Ertrag, sondern kann - an dieser Stelle gestatte ich mir, einen altmodischen Begriff der Ökonomie zu nutzen - die nachhaltige Wohlfahrt zerstören. ({2}) Das gilt auch und gerade für die Ernährung. Die Warnzeichen sind schon da: BSE seit 1988, Nahrungsmittelallergien, Resistenz gegen Antibiotika, die Diskussion um die Wachstumshormone. Es ist eben nicht nur BSE, auch wenn dies besonders tragisch ist. Die gegenwärige Krise hat hoffentlich endgültig das Bewusstsein für einen grundlegenden Wandel unter dem Begriff der Nachhaltigkeit geweckt. Wir wissen, dass wir dafür Zeit brauchen; aber mit diesem Wandel muss endlich begonnen werden. In der Ernährungspolitik gehört dazu, sich ein lebensnahes Bild von der Landwirtschaft zu machen. Sie stellt heute weder einen rein an der Gewinnmaximierung orientierten agroindustriellen Komplex dar - es gibt Teile davon; dies gilt aber nicht insgesamt -, noch stimmt das Bild von der Ökoidylle auf dem bäuerlichen Familienbetrieb. Vielmehr handelt es sich in der Regel um gut geführte Familienunternehmen oder - in den östlichen Bundesländern - um größere Unternehmen, die auf den Trümmern der DDR-Agrarindustrie mit Rücksicht auf die sie umgebende Natur Nahrungsmittel erzeugen. Zu diesem Bild gehört allerdings auch, dass der sich verschärfende Wettbewerb in der Nahrungsmittelindustrie und im Handel einen Trend zur industriellen Erzeugung fördert und stärkt. Wir müssen ferner feststellen, dass das Interesse des Handels und nicht zuletzt des Verbrauchers, im Wettbewerb oft das billigste Angebot zu wählen, zu diesem Trend beiträgt. Solche Marktergebnisse sind im Interesse der wirtschaftlichen Sicherheit unserer Landwirte und erst recht im Hinblick auf die gesundheitlichen Interessen unserer Bürger nicht akzeptabel. Nun haben wir die Chance, das jetzt geweckte Bewusstsein der Öffentlichkeit zu nutzen, um Reformen im Handeln und Denken bei allen Anbietern und Bürgern als Konsumenten durchzusetzen. ({3}) Kern der BSE-Krise ist die widernatürliche Verfütterung von tierischen Substanzen an Pflanzenfresser. Ruchlos wird es, wo dies trotz Verbot aus rein ökonomischen Gründen noch weiterhin stattgefunden hat. Ich verweise nur darauf, dass es hier nicht allein um Vermischungen geht. Heute konnte man in der „Financial Times“ lesen, dass gestern in Frankreich Ministerien von einem Untersuchungsrichter durchsucht wurden, der der Behauptung nachging, es sei bewusst Tiermehl aus England eingeführt worden, nachdem dies längst verboten war. Sollte dies stimmen, wäre es ein Skandal sondergleichen. Aber dass es hier Unterschleif gegeben hat, wissen wir alle. Deswegen muss man es auch ansprechen. Die Verantwortlichen sind daher nicht nur zu benennen, sondern auch zur Rechenschaft zu ziehen. Falsche Rahmenbedingungen sind dort gesetzt werden, wo es günstiger ist, Kälber mit so genannten Milchaustauschern anstelle von natürlichen Grundlagen aufzuziehen. Für diese Entwicklung gibt es eine historische, gesellschaftliche und politische Verantwortung. Andrea Fischer und Karl-Heinz Funke mag man - im Einzelnen vielleicht zu Recht - Fehler für die Zeit vorwerfen, in der sie an der Regierung waren. Aber eines muss man auch sagen: Wir alle haben schnell auf das Auftreten des ersten BSE-Falles in Deutschland reagiert. ({4}) Bereits am 30. November letzten Jahres, also schon eine Woche nach dem ersten Positivbefund, haben wir das Tiermehlverbotsgesetz mit überwältigender Mehrheit - es gab lediglich ein paar Gegenstimmen - gemeinsam verabschiedet. Der Bundesrat hat einen Tag später zugestimmt. Für die heutige Situation trägt auch - dies meine ich nicht polemisch - die derzeitige Opposition Verantwortung. Es geht nicht an, einen Antrag vorzulegen, der eine jahrelange politische Verantwortung für BSE ignoriert und sich nicht zu einer jahrzehntealten Politik bekennt, die in diese Krise geführt hat. Wir müssen alle gemeinsam aus dieser Krise herauskommen; dies ist mein Plädoyer. ({5}) Dies gilt aber nicht nur für uns im Hause, für die Politik. Es gilt auch für die Verbraucher und damit weitgehend für alle; denn wir müssen uns fragen, wovon wir wirklich unsere Entscheidung beim Fleischeinkauf abhängig gemacht haben. Die Landwirte müssen sich damit auseinander setzen, ob beispielsweise die Rindermast, die weit über die eigene Grünfutterbasis hinausgeht, die geeignete Form für eine gesunde Fleischerzeugung ist. Insbesondere die Landwirtschaftsverbände müssen für sich einmal klären, welcher Vorstellung von Landwirtschaft ihre Lobbyarbeit gilt. Ich füge hinzu: Das Papier der Landwirtschaftsverbände, das gestern erschienen ist, lässt hoffen, dass tatsächlich ein Umdenkungsprozess eingesetzt hat. Ich wäre sehr dafür, dass er fortgesetzt wird und das entsprechend praktiziert wird. Unabhängig davon und nicht durch Schuldzuweisungen zu ersetzen ist jedoch die staatliche Pflicht einer Gesundheitsvorsorge. Ebenso muss es unser Ziel sein, dass der Verbraucher wieder mit Appetit, aber ohne Kahlschlag im Portemonnaie und erst recht ohne Gefährdung seiner Gesundheit deutsches Rindfleisch essen mag. ({6}) Erreichen wir dies, geben wir auch unseren landwirtschaftlichen Erzeugungsbetrieben ihre wirtschaftliche Grundlage auf Dauer zurück; sonst wird das nicht geschehen. Dabei müssen wir angesichts der heutigen Situation zwischen aktuellen Gefahren abwendenden Maßnahmen und einer langfristigen Umsteuerung der Politik und mithin Gestaltung der Landwirtschaft unterscheiden. Ich halte es nach wie vor für unumgänglich, bei Feststellung eines BSE-infizierten Rindes die gesamte Herde zu schlachten. Sollte sich zeigen - Sie haben das angesprochen, Frau Ministerin -, dass das Schweizer Modell der Kohortenschlachtung die gleiche Sicherheit bietet, sehe ich darin nach entsprechender Abstimmung auf EUEbene eine Alternative. Ich halte nach wie vor ein totales und zeitlich unbegrenztes Verbot der Verfütterung von Tiermehl für erforderlich, und zwar nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in der EU und darüber hinaus. Die tierischen Fette sind EU-weit in das Verfütterungsverbot einzubeziehen. ({7}) An dieser Stelle möchte ich betonen, dass gemeinsame strenge EU-Regeln notwendig sind. Dringend muss das Thema auch in den Agrarverhandlungen der WTO, insbesondere mit den USA, angesprochen werden. Der Handelsstreit um die Wachstumshormone beim Rindfleisch, den wir seit Jahren führen, könnte ein Ministreit werden im Vergleich zu dem, was entstehen kann, wenn wir hier nicht für eine Absicherung im internationalen Handel sorgen. Es ist nicht nur Sache der neuen Ministerin, es ist auch Sache des Bundeswirtschaftsministers, ({8}) sehr frühzeitig mit den Amerikanern - auch im Rahmen der WTO - zu sprechen, damit wir unter WTO-Regeln nicht so etwas erhalten, was wir bei dem - zugegebenermaßen von der Menge her unbedeutenden, aber von vehementen Diskussionen begleiteten - Hormonstreit beim Rindfleisch haben. Die EU insgesamt muss dazu gebracht werden, dass in diesen Handelsverhandlungen eine gemeinsame Linie vertreten wird. Ich bitte darum, dass jeder auch diesen Ansatz sieht und ihn unterstützt. ({9}) Nach dieser Abschweifung in einen Bereich, der noch nicht in der Diskussion war - deswegen habe ich ihn hier eingebracht -, möchte ich noch etwas zu den transparenten Erzeugungswegen sagen. Der Landwirt muss wissen, was im Futtermittel für seine Tiere enthalten ist. Der Verbraucher hat einen Anspruch darauf zu wissen, was seine Nahrungsmittel enthalten. Eine umfangreiche und offene Deklaration aller Futtermittelbestandteile ist somit umgehend national und EU-weit durchzusetzen. Um das zu sichern, gilt es, eine flächendeckende Kontrolle der Lebensmittelherstellung und -kennzeichnung auch effektiv zu erreichen und nicht nur im Gesetz- und Verordnungsblatt niederzuschreiben. ({10}) Was wir bei den Kontrollen erlebt haben, sollte uns nahe legen, darauf zu achten. Das heißt, wir müssen auch Geld in die Hand nehmen, um die Prüfer und Prüfeinrichtungen zu finanzieren. Das möchte ich nur einmal diskret an die Adresse der Länderfinanzminister oder der - Agrarminister - wer immer zuständig sein mag - sagen. Das Schlachten von ganzen Herden ist mit erheblichen wirtschaftlichen Konsequenzen für den betroffenen Landwirt verbunden, wie überhaupt die Viehzüchter vom Einbruch der Preise für Rindfleisch wirtschaftlich bedroht sind. Diese Verfahrensweise bleibt aber aus übergeordneten gesundheitlichen Gründen notwendig, solange wir keine Möglichkeit zum Test am lebenden Tier haben, die wir dringend brauchen. ({11}) - Entschuldigung, das kann ich nicht merken. ({12}) - Herr Kollege, ich habe ein Problem; ich sage Ihnen das ganz offen. ({13}) - Darf ich mal ausreden? - Ich kann meine eigene Stimme nicht selber kontrollieren, weil ich durch einen früheren Unfall einen Gehörschaden habe. Deswegen bitte ich, das gleich zu sagen. Vielleicht kann die Regie das entsprechend regeln. Angesichts der notwendigen Schlachtungen trete ich allerdings dafür ein, auf EU-Ebene die Auszahlung von Mitteln aus dem Marktentlastungsprogramm von BSETests zur Erfassung der epidemiologischen Situation abhängig zu machen. Dies erlaubt den Rückgriff der Forschung auf diese Ergebnisse und ermöglicht es uns, abzuschätzen, welches Gefährdungspotenzial bei jüngeren Tieren, die noch nicht getestet sind, an vorhanden ist. Gleiches gilt für die Förderung der Erforschung der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Eines möchte ich hinzufügen - und als Ökonom darf ich Keynes zitieren -: Auf lange Sicht sind wir alle tot. Es hilft uns nicht, wenn dem bäuerlichen Familienbetrieb zum Beispiel in Bayern oder den Nachfolgern aus der industriellen Landwirtschaft der DDR ihre Existenzgrundlage genommen wird. Unser Ziel kann nicht nach dem Motto verfolgt werden: Operation gelungen, Patient tot. Ich appelliere daher noch einmal an alle Verantwortlichen, keinen künstlichen Gegensatz zwischen Verbrauchern und Landwirten zu konstruieren. Ich rufe insbesondere die Vertreter der Landwirtschaft auf, ihre Konsequenzen aus der BSE-Krise zu ziehen und mit der neuen Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ergebnisorientiert zusammenzuarbeiten. ({14}) Frau Ministerin, Ihnen möchte ich eine glückliche Hand bei Ihrer wirklich nicht beneidenswerten Aufgabe wünschen. Ich hoffe, dass die Schwachstellenanalyse, die Frau von Wedel durchführt, Ihnen bei der Neuorganisation in diesem Bereich hilft. Ich als stellvertretender Fraktionsvorsitzender und für diesen Bereich Zuständiger möchte Ihnen bei Ihren Bemühungen nicht nur meine, sondern die Unterstützung der gesamten SPD-Fraktion zusagen. Aber ich möchte Sie auch bitten, die anderen Themen des Verbraucherschutzes, die im Moment nicht in den Schlagzeilen sind, ebenfalls sehr ernst zu nehmen. Hier gibt es noch einiges zu tun. ({15}) Die nächste Krise aus diesem Bereich wird kommen. Unsere Unterstützung haben Sie und ich biete Ihnen vertrauensvolle Zusammenarbeit an, und zwar unabhängig von den Pflichten in einer Koalition. Vielen Dank. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt Kollege Ulrich Heinrich von der F.D.P.-Fraktion.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin Künast, ich darf Ihnen im Namen meiner Fraktion zu Ihrem Amt die herzlichsten Glückwünsche aussprechen, verbunden mit dem Wunsch, dass wir dem gemeinsamen Ziel, nämlich dem vorbeugenden Verbraucherschutz - hier ziehen wir an einem Strang -, näher kommen und dass die Verbraucher das Vertrauen in die Nahrungsmittel zurückgewinnen, die in der Bundesrepublik Deutschland produziert und angeboten werden. ({0}) Trotz aller guten Wünsche und trotz allem, was wir heute als Neuanfang begreifen wollen, müssen wir natürlich noch einmal auf all die Entwicklungen der vergangenen Tage und Monate zurückblicken. Wir konnten feststellen: Nicht nur jetzt im Rahmen der BSE-Krise, sondern auch im Zusammenhang mit der Steuergesetzgebung, mit der Energieverteuerung und mit Kürzungen im Haushalt hat es diese Regierung bei Gott nicht gut mit der Landwirtschaft gemeint. ({1}) Die chaotischen Verhältnisse in der Vergangenheit, die zum Rücktritt von zwei Ministern geführt haben, haben gezeigt, dass diese das Krisenmanagement nicht beherrschten. Ich muss den Vorwurf erweitern: Die Ministerin hat es auch nicht gut gemeint mit den Verbraucherinnen und Verbrauchern in diesem Land. Sie hat es nicht gut gemeint mit der Lebensmittelindustrie und mit dem Lebensmittelhandwerk, die jetzt redlich um ihre Existenz kämpfen. ({2}) Das sind Entwicklungen, die so dramatisch sind, wie ich es im Dezember vorausgesehen habe. ({3}) - Da haben Sie mich als Scharfmacher bezichtigt. In der Zwischenzeit sind zwei Minister zurückgetreten und es steht in Ihrer Regierung alles auf dem Kopf. Ich möchte Sie bitten, das einmal zur Kenntnis zu nehmen und nicht allzu arrogant zu argumentieren. ({4}) Verbraucher und Landwirte sind die Leidtragenden der BSE-Krise. Sie sind bei ihrer Bewältigung das Opfer des Versagens der Bundesregierung und der Länder. ({5}) Mit dem Rücktritt der beiden Minister sind die Gefahren für die Verbraucher noch nicht beseitigt. ({6}) Der Verbraucherschutz ist dadurch noch nicht verbessert worden und die Aufarbeitung der BSE-Krise steht weiterhin aus. ({7}) Hier müssen wir in der Zukunft erst noch die entsprechenden Fakten auf den Tisch gelegt bekommen. Deshalb sind wir sehr interessiert daran, dass der Bericht der Präsidentin des Bundesrechnungshofes sehr bald vorgelegt wird, sodass wir uns mit ihm im Parlament dann noch einmal befassen und die Dinge vertieft, eingehend und in die Zukunft führend diskutieren können. ({8}) Auf der anderen Seite haben der Bundeskanzler, aber auch andere wichtige Politiker in der Republik, zum Beispiel der Ministerpräsident von Bayern, sowie die Grünen die Forderung nach einem Ende der industrialisierten Landwirtschaft erhoben. Diese Forderung ist falsch und zeugt von großer Unkenntnis. - Herr Kollege Schlauch, da können Sie den Kopf schütteln, wie Sie wollen. Das ist so. ({9}) Pauschale Diskriminierungen so genannter Großbetriebe sind fachlich nicht gerechtfertigt. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben bereits vonseiten des Präsidiums angemahnt, dass die Präsenz auf der Regierungsbank erhöht wird. ({0}) Ich bitte jetzt darum, dem Kollegen Ulrich Heinrich wieder die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht findet wieder irgendwo eine neue Krisensitzung statt. Das weiß man nicht. ({0}) Offensichtlich muss derzeit sehr viel Wichtigeres hinter den Kulissen passieren als hier im deutschen Parlament. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Heinrich, jetzt muss ich Sie unterbrechen und Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, offiziell mitteilen - daran habe auch ich nicht gedacht -, dass zeitgleich der Neujahrsempfang des Bundespräsidenten stattfindet. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie noch einmal bitten, jetzt tatsächlich dem Kollegen Ulrich Heinrich zuzuhören. Wir haben das Fehlen gemeldet. Ich denke, das wird auch seine Konsequenzen haben. ({1})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Geben Sie mir doch die Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Rede fortzusetzen. Wir können sonst auch die Sitzung unterbrechen. ({0}) Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass unabhängig von der Betriebsgröße - ({1}) - Also, Frau Präsidentin, offensichtlich ist hier doch keine Ruhe hereinzubekommen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie ein letztes Mal, Ruhe zu bewahren. Das Problem ist erkannt. Ich denke, die Regierung wird ihre Konsequenzen daraus ziehen. ({0}) Ich erteile jetzt das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen Dr. Peter Ramsauer.

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Wenn das Problem jetzt endlich erkannt ist - es ist in der Tat eines -, dürfte es umso leichter fallen - da spreche ich jetzt nicht nur für meine Fraktion -, bis zum Eintreffen weiterer Regierungsmitglieder die Sitzung zu unterbrechen. Ich beantrage das im Namen meiner Fraktion. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich erteile jetzt das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen Wilhelm Schmidt.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst halte ich es für sehr ungewöhnlich, Frau Präsidentin, dass hier mitten in einer laufenden Rede, nämlich in der des Kollegen Heinrich, solche Geschäftsordnungsanträge gestellt werden. Ich stelle den Antrag, diesen Antrag abzuweisen, zumal, wie Sie sehen, gerade auch einige weitere Regierungsmitglieder in den Saal kommen. ({0}) Der Hintergrund für das Fehlen ist der Neujahrsempfang beim Bundespräsidenten - das ist allen bekannt -, bei dem die Regierungsmitglieder erst nach den übrigen Gästen an die Reihe kommen. Auch das ist Ihnen hinlänglich bekannt. Insofern ist es klar, dass weitere Regierungsmitglieder in den nächsten Minuten hierher kommen werden. Das kann ich Ihnen versichern ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sachlage ist tatsächlich ungewöhnlich. Es steht aber der Antrag im Raum, die Sitzung zu unterbrechen. Dementsprechend müssen wir jetzt erst einmal über den Antrag abstimmen. ({0}) Ich würde der Einfachheit halber vorschlagen, dass wir nun erst einmal abstimmen. Nach einer möglichen Sitzungsunterbrechung können wir dann fortfahren. ({1}) Ich glaube, der Kollege Heinrich muss sich um seine Redezeit im Moment keine Sorgen machen. ({2}) Ich erteile das Wort zur Geschäftsordnung der Kollegin Katrin Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich hätte gerne geklärt, worüber wir jetzt abstimmen. Der Herr Kollege hat eine Sitzungsunterbrechung beantragt, bis weitere Mitglieder der Regierung auf der Regierungsbank Platz genommen haben. Die Präsenz auf der Regierungsbank ist inzwischen hergestellt. ({0}) Das heißt, die Sitzung könnte sofort weitergehen. Außer der Ministerin, die für den Bereich zuständig ist, über den wir gerade debattieren, ist eine Reihe von Mitgliedern der Bundesregierung anwesend.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich beende die Aussprache. Wir stimmen jetzt ab, ({0}) es sei denn, es wird eine Sondersitzung des Ältestenrates beantragt. ({1}) - Das Problem als solches hat sich erledigt. Inzwischen haben mehrere Mitglieder des Kabinetts auf der Regierungsbank Platz genommen. Trotzdem lasse ich jetzt abstimmen. ({2}) Es ist der Antrag gestellt worden, die Sitzung zu unterbrechen. ({3}) Ich frage die Kolleginnen und Kollegen des Hauses, wer diesem Antrag, der vonseiten der CDU/CSU gestellt worden ist, stattgeben möchte. - Gegenstimmen? - Die Mehrheit hat sich gegen eine Sitzungsunterbrechung ausgesprochen. ({4}) Damit setzen wir die Debatte fort. Ich erteile jetzt erneut dem Kollegen Ulrich Heinrich das Wort. Ihm verbleibt noch eine Redezeit von vier Minuten. ({5}) - Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die soeben in den Saal gekommen sind, um an der Abstimmung teilzunehmen, auch der Debatte zu folgen. ({6})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich habe es eigentlich noch nie erlebt, dass mitten in einer Rede Abstimmungen stattfinden, dass man an den Platz geschickt wird und anschließend wieder an die Reihe kommt. ({0}) Die BSE-Krise macht einige wohl sehr verwirrt. ({1}) Ich bitte, dass wir die Debatte jetzt so fortsetzen, dass diejenigen, die zuhören wollen, dableiben und dann aber auch zuhören. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Qualität der Produkte nicht von der Größe der Betriebe abhängt, sondern ausschließlich von den Produktionsmethoden, von der Qualifikation des Landwirtes und von den eingesetzten Betriebsmitteln. Wenn Sie sich einmal Betriebe überall im Land ansähen, dann würden Sie sehr schnell feststellen, dass diese Aussage stimmt. ({2}) Die Ursachen der BSE-Krise liegen nicht in der konventionellen Landwirtschaft, sondern in Versäumnissen des Staates und zum Teil in Schlampereien der Mischfutterindustrie. ({3}) Lassen Sie uns jetzt nicht eine falsche Debatte pro oder contra ökologischen Landbau führen. Das entscheidet der Markt und nicht die Politik. ({4}) Die Politik kann allenfalls den Rahmen vorgeben, aber der Markt wird entscheiden. ({5}) Ich habe vorhin bei Herrn Wieczorek wieder durchgehört, die ökologische Landwirtschaft solle nicht so weit gehen, dass der Geldbeutel der Verbraucher geplündert wird. Er hat es jetzt schon wieder für notwendig gehalten, darauf hinzuweisen, dass die Produkte nicht zu teuer werden dürfen. Meine Damen und Herren, das entscheidet der Markt. ({6}) - Der Markt entscheidet. Das Angebot richtet sich nach der Nachfrage: Wenn die Nachfrage nach Ökoprodukten entsprechend hoch ist, wird das Angebot zunehmen. Das sind die normalen marktwirtschaftlichen Regeln. Aber dass Sie davon keine Ahnung haben, weiß ich schon lange, Herr Schlauch. ({7}) Wenn Sie in dieser Frage Erfolg haben wollen, dann muss auch der Bundeskanzler zu einem fairen Dialog mit der gesamten Landwirtschaft zurückfinden. ({8}) Er soll nicht glauben, er könne diese Situation jetzt nutzen, um einen Keil zwischen die so genannten schlechten Funktionäre und die so genannten guten und redlichen Bauern zu treiben.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert? ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, jetzt nicht mehr.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn eine Zwischenfrage gewünscht wird, dann muss ich den Redner fragen, ob er sie zulässt. Ich verstehe daher überhaupt nicht, warum Sie sich aufregen. Im Übrigen lasse ich diese Unruhe auch nicht zu. Herr Kollege Heinrich, Sie haben das Wort.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich muss leider bemerken, dass meine eigene Fraktion zurzeit am lautesten ist. ({0}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass die Landwirte nicht die Täter, sondern die Opfer sind und dass ein wesentlicher Teil der Verantwortung beim staatlichen Handeln liegt, und zwar auf allen Ebenen. Wir sollten ferner zur Kenntnis nehmen, dass die Mischfutterindustrie eine große Mitverantwortung hat; denn den Verschleierungen - sie werden auch Verschleppungen genannt - kann wirksam entgegengetreten werden. Man braucht ihnen nicht machtlos gegenüberzustehen. Wir erwarten in der Zukunft eine Vizepräsidentin Petra Bläss konsequentere und sauberere Trennung bei den einzelnen Chargen. ({1}) Selbstverständlich haben wir einen ganzen Katalog von Forderungen aufgestellt, die entsprechend umgesetzt werden müssen. Ich verweise auf unseren Antrag und möchte Sie zum Schluss bitten - die Präsidentin signalisiert mir gerade, dass meine Redezeit abgelaufen ist -, dass wir versuchen, das von uns gemeinsam gesteckte Ziel zu erreichen, nämlich dass die Landwirte nicht im Stich gelassen werden, dass Verbrauchersicherheit geschaffen wird und dass die Stimmung zugunsten derjenigen umschlägt, die wirtschaftlich tätig sind, die heute aber am Pranger stehen und kaum noch wissen, wohin die Reise geht. Ich bedanke mich. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Kersten Naumann.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nun ist anscheinend allen Politikern klar geworden, dass es einen Neuanfang in der Agrarpolitik geben muss. Dass es dazu aber erst der BSE-Krise bedurfte, ist schon makaber, und zwar für alle Beteiligten. Die spannende Frage ist nur, was in Zukunft anders gemacht werden soll. Die Neuausrichtung der Agrarpolitik sollte darauf zielen, dass die Gesamtlandwirtschaft umwelt- und gesundheitsgerechter produzieren kann. Unbestritten ist doch, dass die überwiegend konventionelle Landwirtschaft voll im Griff der Handelsketten und der Lebensmittelgroßkonzerne ist. Negative Folgen der durch Wettbewerbsdruck beförderten Intensivierung und Rationalisierung bezüglich der Umweltverträglichkeit der landwirtschaftlichen Produktion und der Lebensmittelsicherheit stehen auf der Tagesordnung. Keiner wird bestreiten, dass Pestizide, Hormone und Antibiotika nicht ohne Folgen für Pflanzen, Wasser, Lebensmittel und Mensch sind. Hier besteht zweifellos Handelsbedarf. ({0}) Das künftige Primat der Verbraucherinteressen unterstützt die PDS ausdrücklich. Meine Fraktion wird viele Positionen von Bärbel Höhn unterstützen, so zum Beispiel die Einführung einer Positivliste in das Futtermittelrecht, das Verbot gentechnisch veränderter Futtermittel und die Änderung tierschutzrechtlicher Vorschriften. Für politisch unredlich halte ich es jedoch, dass die BSE-Krise in dem Papier und von führenden Vertretern der Regierungskoalition - allen voran vom Bundeskanzler - zu einer Krise der industrialisierten Agrarproduktion abgestempelt wird. ({1}) Dies suggeriert, dass ein direkter Zusammenhang zwischen BSE und Tierbestands- bzw. Betriebsgröße besteht. Da stimmen mich eher die BSE-Fälle in bäuerlichen Familienbetrieben nachdenklich. Zumindest ist das Erklärungsmuster vorschnell. Es gibt keinen Beleg dafür, dass das Auftreten von BSE eine Folge der Industrialisierung ist. Immerhin erklärten führende Wissenschaftler bei der Ausschusssitzung am 5. Januar dieses Jahres, dass ihnen bei BSE so gut wie alles unklar sei. Da stellt sich schon die Frage, woher die offizielle Politik ihre Klarheit nimmt. Die Einschätzung der Bündnisgrünen nach der Wörlitzer Tagung, dass nicht die Größe der landwirtschaftlichen Betriebe entscheidend sei, sondern die Art und Weise der Bewirtschaftung und Tierhaltung, teile ich. Ich hoffe, liebe Kollegin Höfken, dass damit der Vorschlag von Bärbel Höhn, also die Neuauflage der Degressionsdiskussion, vom Tisch ist. Als PDS unterstützen wir, dass der ökologische Landbau schneller vorangebracht und stärker gefördert werden soll. Allerdings bedarf es für teure Ökoprodukte einer zahlenden Kundschaft. Schließlich haben wir einen liberalisierten EU-Binnenmarkt und damit die Konkurrenz der Billignahrungsmittel. Übrigens unterliegt auch der ökologische Landbau selbst den Gesetzen der Marktwirtschaft. Der Antrag zur nachhaltigen Entwicklung ländlicher Räume enthält trotz vieler allgemeiner Schlagworte und unverständlicher Worthülsen wichtige Aspekte für einen politischen Neuanfang, über die im Ausschuss gesprochen werden muss. Das Prinzip der strategischen Partnerschaft in Form von Netzwerken, wie es in dem Papier heißt, wird das Problem allerdings nicht lösen. Bereits im November hatte die PDS die Bundesregierung aufgefordert, die wahrscheinlichen Auswirkungen der BSE-Krise auf die Einkommenssituation der Landwirte einzuschätzen und zur Vermeidung der Existenzgefährdung von Betrieben für staatliche Hilfe durch direkte Überbrückungszuschüsse zu sorgen. Hilfe suchend wandten sich in den letzten Tagen besorgte Landwirte und Kreisbauernverbände an uns und machten die dramatische Situation deutlich. So berichtet zum Beispiel der Kreisbauerverband Oberhavel davon, dass bereits 150 Arbeitskräfte entlassen werden mussten. Und wenn zurzeit die Gewerkschaft Nahrung - Genuss - Gaststätten vor der Außenstelle des BMVEL in der Wilhelmstraße gegen den drohenden Arbeitsplatzabbau protestiert, kann ich nur hoffen, dass die Sorgen dort nicht verhallen, sondern Niederschlag bei den Politikern und in den von ihnen zu fassenden Beschlüssen finden. Woher aber dann das Geld zur Unterstützung der Betroffenen kommen soll, ist mir schleierhaft. Bundesminister Eichel hat gestern noch erklärt, dass vom Bund dafür kein Geld zur Verfügung gestellt wird. ({2}) Übrigens trägt auch der mit einem Finanzierungsvorbehalt beschlossene Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe nicht unbedingt zur Vertrauensbildung in Bezug auf die Agrarpolitik der Bundesregierung bei. In der Presse wurde dieser Vorgang unter anderem so interpretiert: Bundesfinanzminister Eichel lässt sich wegen der BSEKosten eine Tür offen, die Landwirtschaft soll dafür selber aufkommen. - Wenn diese Interpretation stimmt, halte ich das für mehr als fatal. ({3}) Warum tut sich die Bundesregierung so schwer mit der Entscheidung, das EU-Marktentlastungsprogramm zu nutzen? Ohne Marktentlastung kann den Landwirten nicht geholfen werden. Der Herauskauf von bis zu 400 000 Rindern ist unumgänglich und dient letztendlich dem Landwirt für einen Neuanfang zur Wiedergewinnung des Vertrauens der Verbraucher. Natürlich wollen auch wir, dass nicht länger mit Subventionen Überschüsse produziert werden, deren Beseitigung wiederum Subventionen erfordert. Aber damit ausgerechnet jetzt beginnen zu wollen, da BSE über die Bauern wie eine Art höhere Gewalt hereingebrochen ist, hieße, die Bauern im Regen stehen zu lassen. Und das geht doch wohl nicht. Im Übrigen plädieren wir dafür, dass alle herausgekauften Tiere geschlachtet und auf BSE getestet werden. Das würde zur Aufdeckung des Ausmaßes der Verbreitung von BSE beitragen. Eine Nichttestung aus Kostengründen wäre Verschleierung. Die beiden Anträge zur BSE-Bekämpfung von SPD und Grünen sowie der CDU/CSU enthalten eine Vielzahl von Maßnahmen, die unsere Zustimmung finden. Die Ausschüsse sollten sich dazu durchringen, dem Plenum einen aus beiden Anträgen gebildeten gemeinsamen Beschlussvorschlag vorzulegen. Die PDS-Fraktion verlangt einen agrarpolitischen Neuanfang mit Augenmaß, bei dem die Landwirte, die, vertrauend auf die herrschenden Rahmenbedingungen, in ihre Perspektive investiert haben, nicht vor den Kopf gestoßen werden. ({4}) Gesunde Ernährung und Umwelt liegen im Interesse des Verbrauchers und der Landwirte und sollten Ziel der Politik sein. Dabei ist die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe für die PDS eine Schlüsselfrage. Ob der geplante Neuanfang tatsächlich einer wird, liegt maßgeblich auch in Ihrer Hand, Frau Künast. Ich jedenfalls wünsche Ihnen dazu viel Erfolg und werde Sie kritisch begleiten. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Matthias Weisheit.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich meine Ausführungen zum Thema beginne, erlaube ich mir, Ihnen, Frau Künast, zu Ihrem neuen Amt als Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft herzlich zu gratulieren und Ihnen zur Bewältigung der schwierigen Aufgaben, die vor Ihnen liegen, alles Gute zu wünschen. ({0}) Viel Mut, Beharrlichkeit und Stärke werden notwendig sein, um über Jahrzehnte tief, manchmal zu tief eingefahrene Gleise in der Agrarpolitik zu verlassen. Aber um im Bild zu bleiben: Es braucht auch Geduld und Fingerspitzengefühl, damit der Wagen beim Verlassen der tiefen Gleise nicht zu Bruch geht. Sie, Frau Ministerin, und wir als Regierungsfraktionen nehmen die Herausforderung an, deutsche und europäische Agrarpolitik so zu erneuern, dass die Interessen von Verbrauchern und Erzeugern in gleichem Maße gewahrt sind. Bäuerinnen und Bauern wollen produzieren, was die Verbraucher zu Recht erwarten: gesunde und sichere Lebensmittel zu angemessenen Preisen. Dazu brauchen sie die Unterstützung der Politik, nämlich die politische Gestaltung von Rahmenbedingungen, die sie nicht zu Opfern gewissenloser Zulieferer von Futtermitteln einerseits und gnadenloser Preisdrücker unter den Abnehmern andererseits machen. Wir werden noch häufig über notwendige Schritte in der Agrarpolitik insgesamt diskutieren und entscheiden. Ich sage Ihnen, Frau Ministerin, unsere Mitarbeit und Solidarität zu. Heute geht es um Sofortmaßnahmen, um BSE nachhaltig zu bekämpfen und in mehreren Jahren zu besiegen, höchstmögliche Sicherheit für Verbraucherinnen und Verbraucher herzustellen, den betroffenen Bauern zu helfen, damit sie ihre Produkte wieder verkaufen können, und klarzustellen, dass nicht sie am Pranger stehen, sondern diejenigen, die ihnen aus bloßer Profitgier mit Tiermehl versetztes Rinderfutter angedreht haben, die eine Futtermitteldeklaration durchgesetzt und politisch geduldet haben, die keinerlei Sicherheit für die Bauern bot, die zu gutgläubig und zu lasch bei den Kontrollen waren und die zu lange glaubten, Deutschland sei eine BSE-freie Insel der Seligen. Ich sage dies im vollen Bewusstsein dessen, dass das auch mich persönlich trifft. Aber ich bitte gerade angesichts der Rede von Frau Kollegin Widmann-Mauz darum, uns endlich klarzumachen und in den Debatten zu berücksichtigen, dass wir nicht alleine in diesem Boot sitzen, sondern sehr viele mit darin sitzen. Es geht bei dieser Diskussion auch nicht darum, einen künstlichen Gegensatz zwischen gutem Ökolandbau und bösem konventionellen Landbau aufzubauen, wie du, Uli Heinrich, es vorhin probiert hast. Das wäre absoluter Blödsinn. ({1}) - Nein. Das ist absolut falsch. Wenn wir den Anteil des Ökolandbaus von derzeit in Baden-Württemberg knapp 5 Prozent - in anderen Bundesländern ist er sehr viel geringer; auch in Nordrhein-Westfalen - verdoppeln, haben wir immer noch 90 Prozent konventionelle Landwirtschaft. Es kann überhaupt nicht darum gehen, einen Gegensatz zwischen Gut und Böse aufzubauen; es muss allen geholfen werden. Ich will noch einige Aspekte der letzten Tage beleuchten. Über das Töten der ganzen Herde ist hier schon das Notwendige gesagt worden. Ich möchte noch auf die Herauskaufaktion zur Marktentlastung eingehen. Auch in diesem Hause wurden zum Teil recht abenteuerliche Meinungen geäußert, wie man damit umgehen könne. Wir sollten uns zunächst einmal klarmachen, dass der Rindfleischmarkt zusammengebrochen ist. Tiere über 30 Monate sind kaum verkäuflich. Es fallen aber jedes Jahr 1,5 Millionen Tiere über 30 Monate an, die geschlachtet werden müssen. Dann wachsen neue nach, Kälber kommen auf die Welt. Die Entscheidungen in den Ställen sind längst gefallen. Wir werden diesen Berg von Tieren nicht los. Er ist nicht verkäuflich. Deshalb führt überhaupt kein Weg daran vorbei, diese Tiere zu töten, sie selbstverständlich - das ist unsere Forderung an die EU; in der Bundesrepublik kann es nicht anders gehen - auf BSE zu testen ({2}) und das Fleisch dann zu vernichten, da man es nicht auf den Markt bringen kann. Es gäbe die Alternative - das ist aber Augenwischerei -, es einzufrieren. Ich möchte bloß wissen, wo ich das eingefrorene Fleisch dann verkaufen soll. Wenn das Fleisch zwei Jahre eingefroren ist, erhält es den Stempel „für den menschlichen Verzehr ungeeignet“. Dann ist also ein Verkauf nicht mehr möglich. Nach zwei Jahren wird dieses Fleisch verbrannt. Dann haben wir eine Menge Energie verbraucht, viel Geld ausgegeben und die Menschen angelogen. Es ist festzustellen: 400 000 Rinder sollten - dies ist etwa ein Viertel der Tiere, die ohnehin jedes Jahr geschlachtet werden - getötet, auf BSE untersucht und anschließend vernichtet werden. Wenn man aus dem jetzigen ethischen Dilemma heraus will, dann geht das nur, wenn man langfristig dafür sorgt, dass es in der Fleischproduktion keine Überschüsse mehr gibt. ({3}) In dieser Situation sind wir heute aber nicht. Es bestehen in der Bundesrepublik, europaweit und weltweit Überschüsse. Deswegen kann man nicht anders handeln. Es wurde auch der Vorschlag gemacht, das überschüssige Fleisch an die Entwicklungsländer zu verkaufen. Angesichts dessen kann man wirklich nur silberhell lachen. Wie oft haben wir in diesem Hause in den letzten Jahren darüber diskutiert, welch wahnsinniger Fehler es ist, die mit Entwicklungshilfemitteln aufgebaute Eigenversorgung in den Entwicklungsländern dadurch wieder kaputtzumachen, dass wir Überschüsse aus den Staaten der EU oder aus Amerika billig an diese Länder abgeben! Das führt zu nichts anderem als dazu, dass die dortige Eigenproduktion kaputtgeht. Das ist sicherlich der falsche Weg. Ich glaube nicht, dass man so handeln sollte. Ich wiederhole: Wir können mit diesen 400 000 Tieren nur so umgehen, wie das die Kommission vorschlägt: schlachten, untersuchen und anschließend verbrennen. Einen weiteren Aspekt, den wir in unserem Antrag vergessen haben, muss ich noch anführen - ich gebe zu, dass ich erst gestern Nachmittag in einem Gespräch mit einem Bauern darauf gekommen bin; derzeit ist es ja so, dass man jeden Tag neue Aspekte hinzugewinnt -: Frau Ministerin, bei der Milchquotenregelung muss ganz schnell eine Veränderung herbeigeführt werden. Denn es ist so, dass die Tiere der von BSE betroffenen Betriebe geschlachtet werden und diese Betriebe keine Milch mehr abliefern können. Am 1. April dieses Jahres verlieren sie dann ihre Milchquote, wenn sie diese nicht beliefert haben. Das kann nicht richtig sein. Wir müssen also eine Ausnahmeregelung schaffen, sodass sie ihre Milchquote behalten können. ({4}) Wir müssen es ihnen ermöglichen, mit dieser Milchquote Geld zu verdienen. Das heißt, die betroffenen Betriebe müssen ihre Milchquote kurzfristig verleasen können, und zwar so lange, bis sie einen neuen Bestand aufgebaut haben, oder so lange, bis sie, wenn sie aufhören wollen, an der Börse ihre Quote verkaufen können. Diese Konsequenz ist zu ziehen - sie fehlt in dem vorliegenden Antrag -, um den betroffenen Bauern zu helfen. Wir werden noch eine Menge Gelegenheit haben, in gemeinsamen Diskussionen andere Punkte anzusprechen. Aber insgesamt ist unser Antrag sicherlich dazu geeignet, die Ziele, die wir verfolgen wollen, zu erreichen, nämlich bei den Verbrauchern verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und wieder ein Sicherheitsgefühl herzustellen - das ist das Allerwichtigste - sowie den Bauern wieder eine Existenzgrundlage zu schaffen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Norbert Schindler.

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast, angesichts dieser Debatte ist es schlimm genug, dass man - unter anderen Umständen ist das natürlich in Ordnung beim Neujahrsempfang des Bundespräsidenten Champagner trinkt. Unsere Fraktionsführung war um 11.45 Uhr wieder hier im Hause. Sie waren eine der Letzten in der offiziellen Begrüßungsschlange beim Bundespräsidenten. Das Kabinett hatte vor dem eigentlichen Empfang die Gelegenheit - dies war vom Protokoll so vorgesehen -, mit dem Bundespräsidenten zu sprechen. ({0}) Hier sitzt nur eine Ministerin auf der Regierungsbank. Ich finde es ungeheuerlich, dass die Regierungsbank bei dieser Debatte so schwach besetzt ist, ({1}) bei einem Thema, das seit sechs Wochen den Nerv der Republik trifft. ({2}) Als es gestern darum ging, Gewalt zu verniedlichen, war sogar der Kanzler da, ist der Kanzler in der Not herbeigeeilt. Heute geht es darum, den in der Existenz bedrohten Landwirten beizustehen - es geht gar nicht darum, ihnen die Sorgen zu nehmen - und in der Sache Flagge zu zeigen. Aber man muss sich fragen: Was hat diese Regierung für die Landwirtschaft, für die Ernährungswirtschaft übrig? ({3}) Die Besetzung der Regierungsbank ist ein Bild dafür: Nichts hat sie dafür übrig. ({4}) Trotzdem, Frau Ministerin, unterbreite ich Ihnen das Angebot einer offenen und fairen Zusammenarbeit - auch wenn der Kanzler in den letzten Wochen sehr leichtfertig von „Agrarlobbyisten“ geredet hat. ({5}) In Sachen Agrarlobbyisten soll Gerhard Schröder bitte unterscheiden: Alle Kreisvorsitzenden der Verbände zum Beispiel sind ehrenamtlich tätig. Sie sind nicht mit einem hohen Gehalt abgestellt und über das Betriebsverfassungsgesetz abgesichert, um woanders - auch in den Parlamenten - Politik zu machen. ({6}) Diejenigen, denen man in der Landwirtschaft nur einen Ehrensold bezahlt, sollte man nicht noch zusätzlich mit billigen Schuldzuweisungen überziehen. Dieser Umgang ist eines Kanzlers unseres Staates nicht würdig. ({7}) So wie ich persönlich in meinem Betrieb mit meinem Vermögen hafte, so haften wir für die Konsequenzen, wenn wir nicht dafür sorgen, dass der Markt ordnungsgemäß - auch im Sinne der Gesetzgebung - mit Produkten beliefert wird. Wir sind nicht abgestellt, Lobbypolitik zu betreiben. Dies muss schon einmal deutlich gesagt werden. Bei der Arbeitnehmertagung der SPD letzte Woche hat der Bundeskanzler der Sache die Krone aufgesetzt, indem er gesagt hat, er sei nur bereit, mit „redlichen Bauern“ zu reden, nicht aber mit denen, die auf CDU-Parteitagen das Wort ergreifen. Wir sind doch nicht bei der Christenverbrennung im alten Rom oder bei der Hexenverbrennung im Mittelalter! Wo kommen wir denn da hin? ({8}) Es ist eine Unverschämtheit des Demokraten Schröder, mit bestimmten Leuten, die in der Vergangenheit berechtigte Interessen sachbezogen übergebracht haben, so umzugehen. Tut mir Leid, das muss so gesagt werden. ({9}) Meint der Bundeskanzler mit „Agrarlobbyisten“ Vorstände von Lebensmittelkonzernen, meint er Einkäufer der großen Lebensmittelketten - es gibt nur noch sechs oder sieben, die den Markt diktatorisch beherrschen -, meint er jene, die Fleisch zu Dumpingpreisen in den Supermärkten angeboten haben - das war ein Lockmittel und diente nur dazu, dass die Kundschaft kommt; da wurde sogar noch draufgezahlt -, meint er die Futtermittellieferanten? Da möge er doch bitte differenzieren! Wo war denn die Kontrollinstanz Staat, als es um die Kontrolle von Futtermittelerzeugnissen ging? ({10}) Und noch ein mahnendes Wort: Wo war denn in all den Jahren - ob unter schwarzer oder unter roter Regierung die Wissenschaft? Die Verbraucher in Sicherheit zu wiegen - auch von hier aus, durch Herrn Funke und Frau Fischer - war der verkehrte Weg. ({11}) - Es scheint ja einige trefflich zu berühren, wenn man versucht, sich zu wehren. Ich fordere Herrn Bundeskanzler Schröder, der nächste Woche nach Rheinland-Pfalz kommt, auf - dies ist nicht mehr nur eine Bitte, sondern eine dringende Aufforderung, ob es ihm passt oder nicht -: Kommen Sie auf einen Hof, sehen Sie sich die Not, die Angst der Betroffenen an! Natürlich können Sie die eine oder andere Weinprobe bestreiten, aber schauen Sie auch einmal nach Tierbeständen und danach, was das Kabinett in oberster Verantwortung umzusetzen hat, damit Sie wissen, was man gegenüber der EU-Kommission vertreten muss: Wie ist ein neuer Weg in der Agrarwirtschaft zu definieren? Handelt es sich wirklich um Agrarfabriken oder sind das bäuerliche Familienbetriebe? Was ist denn auf dem Bauerntag in Cottbus gesagt worden? Die teilweise Absenkung der Agrarpreise in der Agenda 2000 ist ein Erfolg, weil jeder sich im Klaren sein musste, dass wir näher an die Preise des Weltmarktes heranmüssen. Zitat des Kanzlers! Bei der Regierungserklärung im März 1999 sagte er: ... in der Agrardebatte sind wir nach langem Ringen zu einer auskömmlichen Lösung gelangt ... Kernstück sind die Preissenkungen bei Getreide und Rindfleisch ... Ich könnte dies fortführen. Wir wurden doch politisch gezwungen, trotz hoher Qualitätsstandards Niedrigstpreise hinzunehmen. ({12}) Wenn dieser korsetthafte Zwang in diesen Tagen wirklich den gesellschaftlichen Bruch bringt, müssen wir uns fragen: Wie sind wir in der Vergangenheit mit unseren Bauern umgegangen? Was passiert mit der WTO? Es sollen neue Richtlinien kommen. Es soll auch für Lebensmittel aus Deutschland Weltmarktpreise geben. Ich frage: Welchen Preis denn, etwa den, der jetzt gezahlt wird? Wie war denn die Agrardebatte im vergangenen September? Lesen Sie einmal Ihre Reden nach. Es ist schon ein starkes Stück, wie man bei uns mit dieser Frage umgeht. ({13})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Ministerin! ({0}) Ich muss Sie doch bitten, wenn hier gesprochen wird, dem Plenum nicht den Rücken zuzuwenden. ({1})

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dies müsste man bei meiner Redezeit auch berücksichtigen. - Wo bleiben die Antworten auf die Fragen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den betroffenen Schlachthöfen, in den Werken dieser Republik? Angesichts der derzeit laufenden hitzigen Diskussion ist auch die Agrargewerkschaft mit großer Sorge erfüllt. Wir brauchen natürlich auch die Hilfe dieser Regierung in Form von vertrauensbildenden Maßnahmen. Diese kann aber nicht so aussehen, dass man versucht, Personen vorzuführen und parteipolitische Schuldzuweisungen zu machen. Frau Ministerin, man soll auch zuhören. Es tut mir Leid, aber daran müssen Sie sich gewöhnen, wenn Sie im Parlament sind. ({0}) - Herr Schmidt, wenn Sie etwas wollen, können Sie eine Zwischenfrage stellen. Ich will in der Sache festhalten: Die Wende durch Düngemittelauflagen, mit Wasser- und Bodenschutzgesetzen, erfolgte beispielhaft in dieser Republik vor etwa zehn, fünfzehn Jahren. Bei der nächsten WTO-Konferenz und der Agrarrunde in Europa besteht die Gefahr, dass wir uns wegen der neuen protektionistischen Zielsetzung dieses Staates auf einer einsamen Insel mit Ketten-Läden, die das Billigste aus dem Weltmarkt anbieten, befinden. Was ist dort kontrolliert worden? Wie sieht heute in der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich dieser importierten Produkte der zwingende Verbraucherschutz, wie sehen die Kontrollen aus? Uns auf Deutschlands Höfen und in der gesamten deutschen Ernährungswirtschaft stranguliert man und wir gehen dabei vor die Hunde. ({1}) So leichtsinnig kann man mit uns nicht umgehen. Es stehen im wahrsten Sinne des Wortes Existenzen auf dem Spiel. Deswegen wäre es schon angebracht gewesen, dass auch der Bundeskanzler in dieser wichtigen Debatte Flagge gezeigt hätte. Ich werbe in doppelter Eigenschaft für einen gläsernen, offenen Weg. Ich komme aus Rheinland-Pfalz und weiß, was auf dem Etikett einer Weinflasche steht. Auf dem Etikett steht zum Beispiel eine fünf für Rheinland-Pfalz, die 102 beispielsweise für den Ort oder eine Betriebsnummer. An der Nummer, die an siebter oder achter Stelle steht, könnte man etwa erkennen, ob es konventionell oder biologisch-dynamisch erzeugt ist. Damit habe ich überhaupt keine Probleme. Zum gläsernen Weg gehören aber auch die Einbeziehung und die Haftung des Lebensmitteleinzelhandels. Welche Kontrollen in der Vergangenheit im nachgelagerten und auch im vorgelagerten Bereich der Futtermittellieferanten stattgefunden haben, wurde schon gesagt. Frau Ministerin, Sie haben heute Morgen einige Ihrer Vorstellungen dazu verkündet. Gehen Sie bitte ohne ideologischen Ballast an diese Fragen. Dann sind wir offen für alle Lösungsansätze. Verfallen Sie nicht wie unser Kanzler in eine Leichtsinnigkeit und versuchen Sie nicht, eine Kabinetts- und Regierungskrise abzuwenden, indem Sie Einzelne öffentlich verdreschen. Den internationalen Weg haben wir als Landwirte in Deutschland in der Vergangenheit nie gewollt. Ich kenne auch die Zitate von Herrn Schröder, als er noch Ministerpräsident war. Mir fehlt aber die Zeit, sie zu zitieren. Wenn ich alles, was gesagt wurde, Revue passieren lasse, erinnere ich mich daran, dass noch im vergangenen September von Rückständigkeit die Rede war. Der Bauernverband sei altmodisch und an neuen Strukturen nicht interessiert. Wenn dies der neue Weg ist, sind wir gerne bereit, alles über Bord zu werfen, was uns gesellschaftspolitisch vorgeworfen und bei dem von den großen Wirtschaftsführern gesagt wurde, es sei altmodisch. Ich bin für eine gut funktionierende bäuerliche Landwirtschaft. Aber dann muss die Regierung auch zu ihr stehen und nicht ihre Meinung ständig verbiegen. Man kommt sich wie ein Ventilator vor, so schnell ändern sich die Ansichten. Das kann keine vernünftige Politik sein.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Schindler, kommen Sie bitte zum Schluss.

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Jetzt noch ein Schlusssatz: ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich glaube, das war ein sehr schöner Schluss.

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn wir alle vernünftig miteinander umgehen, dann werden wir diese Krise schnell bewältigen. Dies darf aber nicht im Tonfall des Kanzlers geschehen: basta! ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte Renate Künast ganz herzlich als Landwirtschafts- und Verbraucherministerin willkommen heißen und ihr unsere Unterstützung zusagen. ({0}) Eben gab es eine Situation, von der die CDU nur geträumt hat: Es saßen hier zwei Landwirtschaftsminister. Denn auch der italienische Landwirtschaftsminister Herr Alfonso Pecoraro Scanio war im Bundestag anwesend. Das ist doch ein Zeichen für eine Wende. ({1}) Ich möchte im Übrigen von dieser Stelle - ich denke: im Namen aller Kollegen - meiner Kollegin Marianne Klappert gute Besserung wünschen, die zurzeit im Krankenhaus liegt und hoffentlich bald wieder bei uns ist. ({2}) Herr Schindler, Sie haben viel von sich gesprochen. ({3}) Was die Äußerungen des Kanzlers angeht, möchte ich sagen: Es geht sehr wohl um persönliche Verantwortung. Die ehemalige Ministerin Fischer und auch der Minister Funke haben Verantwortung wahrgenommen. Was wir bei Herrn Schindler erlebt haben, ist, dass er diese Verantwortung wieder von sich gewiesen hat. In RheinlandPfalz - wir haben dort gerade Wahlkampf - muss man einmal die Überkapazitäten im Weinbau sehen. Wer hat sie zu verantworten? Ich nenne hier auch die Berufsgenossenschaften. Es gab skandalöse Fehlentscheidungen des rheinland-pfälzischen Bauernverbandes mit einigen hundert Millionen DM Kosten für die Landwirtschaft. Rheinland-Pfalz ist außerdem beim Ökolandbau das Schlusslicht. Auch in diesen Bereichen müssen führende Vertreter der so genannten Agrarlobby eine persönliche Verantwortung wahrnehmen. Dieser muss man sich stellen. Auch über die Industrialisierung muss man diskutieren. Die Ursachen von BSE gehen an die Wurzeln der bisherigen Agrarpolitik. Das ist kein Unfall und auch kein Einzelereignis. Es ist auch nicht gottgegeben, sondern zu BSE ist es gekommen, weil das Zusammenwirken von ökonomischen, verbraucherbezogenen und tierhaltungsbezogenen Anforderungen an die Produktion bewusst missachtet wurde. Kadaversuppe hat man den Schweinen in den Trog gegeben und die Nahrungskette ist so zum Entsorgungsweg geworden. Dagegen ist das Suchen nach Nahrungsmitteln im Müll in manchen Entwicklungsländern oder auch bei uns eine ästhetische Angelegenheit. Das Ergebnis ist ein Desaster im ökologischen Sinne, im Hinblick auf die Milliardenschäden, aber auch im Hinblick auf die Ernährungswirtschaft und im Hinblick auf die Beschäftigten - Frau Naumann hat schon auf die Demonstration der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, die gerade stattfindet, hingewiesen. Besonders betroffen sind die landwirtschaftlichen Betriebe. Daraus sind Konsequenzen zu ziehen. Deswegen ist eine Neuorientierung notwendig. ({4}) Das ist keine Einzelfallentscheidung der grünen Fraktion, sondern es gibt eine große Einigkeit in der Regierung und eine große Unterstützung in der Gesellschaft für eine solche Neuorientierung, die überall und in allen Pressekommentaren deutlich wird. Im Übrigen: Auch die Länder haben gestern in dieser Richtung über viele Schritte nachgedacht und wollen sie umsetzen. Neuorientierung heißt, die Ziele der Wiederherstellung der Lebensmittelsicherheit, des Aufzeigens neuer Perspektiven für Landwirtschaft und Ernährungsgewerbe und der Beendigung der Verschwendung von Steuergeldern tatsächlich zu vollziehen sowie diese Ziele in einer neuen Agrarpolitik konkret umzusetzen. Wir hätten eine solche Neuorientierung mit der alten Bundesregierung - CDU/CSU und F.D.P. - nicht geschafft. Ich muss auch sagen: Das von der CDU vorgelegte Laurenz-Meyer-Papier zur BSE-Krise war ein Papier für ein „Weiter so!“, für Montag, Dienstag usw., wie der liebe Laurentius eben so sagt. Wir haben darin keinen einzigen Ansatz einer wirklichen Neuorientierung gefunden. Es geht um eine Verbesserung der Forschung und um ein bisschen Symptombekämpfung, aber nicht um einen ernsthaften Wandel. Man kann auf die unsäglichen Debatten im Hinblick auf die Risikomaterialien oder den von Herrn Ronsöhr in der letzten Ausschusssitzung gestellten Antrag hinweisen, die tierischen Fette nicht aus den Milchaustauschern - die heute als Einfallstor für BSE bekannt sind - herauszunehmen, obwohl klar war, was mit BSE los ist. Ich nenne Herrn Stoiber, der mit seiner Art und Weise, eine Behinderung der Krisenbekämpfung zu erreichen, nur puren Populismus betreibt. ({5}) Das bedeutet nämlich, die Verantwortung nicht wahrnehmen und aus reinem Populismus gegenüber der Klientel nicht das ausbaden zu wollen, was man angerichtet hat. Wir debattieren heute über einen Antrag der Koalitionsfraktionen. In diesem Antrag haben wir uns ganz klar dafür ausgesprochen, bei Feststellung eines BSE-infizierten Rindes aus Gründen der gesundheitlichen und epidemiologischen Vorsorge weiterhin die gesamte Herde zu töten. Das ist aus Gründen des Verbraucherschutzes die einzige Konsequenz. Wir kennen den Übertragungsweg Kuh-Kalb und wir stehen vor der Tatsache, dass alle betroffenen Tiere das gleiche Futter gefressen haben, egal, ob sie in diesem oder jenem Bestand gewesen sind. Es gibt viele ungeklärte Fragen bei den Tests. Deswegen sind wir zu diesen Maßnahmen verpflichtet und müssen dazu auch stehen. In der Schweiz waren die getroffenen Maßnahmen hinsichtlich der Kohortenschlachtung lange nicht so erfolgreich, wie sie hätten sein sollen. Großbritannien hat durch seine Halbherzigkeit ermöglicht, dass sich diese Seuche weltweit verbreitet. Wir haben dafür einzustehen, dass es eine Seuchenbekämpfung gibt. Auch wenn es uns in vielerlei Hinsicht nicht gefallen mag, müssen wir konsequent sein. Wir wollen heute im Bundestag auch beschließen, das Testalter auf 24 Monate zu senken - das hat im Übrigen auch den Vorteil, dass die Auseinandersetzungen auf den Schlachthöfen zum Teil beendet werden -, die Forschung, die schon sehr intensiviert worden ist, noch weiter auszudehnen, für die Verbraucher mit einer offenen Deklaration endlich Transparenz zu schaffen und eine weitere Verbesserung auf EU-Ebene voranzutreiben. Wir haben gestern mit Freude gehört, dass auch der Kommissar Fischler die BSE-Tests im Zusammenhang mit dem Marktentlastungsprogramm unterstützt. Das heißt, man hat hier Rückendeckung für eine weitere Verbesserung. Ich sehe, dass diese neue Politik von der EU-Kommission unterstützt wird. Insofern glaube ich, dass das gut für die Landwirtschaft ist. Wir bemühen uns, sie aus ihrer Isolation und der jetzigen Situation herauszuholen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zöller.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU hätte ich gerne der neuen Gesundheitsministerin gratuliert. Leider Fehlanzeige. Sie ist nicht da. Dass bei diesem wichtigen Thema auch die Staatssekretärin nicht da ist, finde ich nicht in Ordnung. Dafür gibt es auch keine Entschuldigung. ({0}) Frau Ministerin Künast, auch wenn es Ihre erste Rede war, lasse ich Ihnen eines nicht durchgehen: Sie haben hier den Eindruck erweckt, als seien besonders bei der alten Regierung Versäumnisse zu suchen gewesen. Gleichzeitig haben Sie in Ihrer Rede auf Feldern, wo Sie hätten konkret werden sollen, gesagt: Wir müssen noch prüfen. - Es ist eben unredlich, wenn man mit wissenschaftlichen Erkenntnissen von heute eine Beurteilung der Lage von vor einigen Jahren vornimmt. Ich sage nur: Das ist unredlich! Da schließe ich niemanden aus. ({1}) Wenn wir über BSE diskutieren, sollten wir versuchen, etwas mehr Sachlichkeit in die Debatte hineinzubringen. Ich möchte mit Genehmigung der Präsidentin zwei Zitate vortragen. Die „Sächsische Zeitung“ schreibt am 16. Januar 2001: Wer blickt im BSE-Chaos eigentlich noch durch? Die einen wollen bei einem einzelnen BSE-Fall die ganze Herde abschlachten, die anderen nur die Tiere einer Altersgruppe. 400 000 Vierbeiner sollen getötet werden, um den Markt für Rindfleisch vor dem völligen Zusammenbruch zu retten. Zu allem Überfluss verdirbt die frisch gebackene Landwirtschaftsministerin den Deutschen auch noch den Appetit auf Milch und Käse. Es ist wie im Tollhaus. Eine Horrormeldung jagt die andere. Und fast jeder neue Vorschlag, der zur Bekämpfung der BSE-Krise gemacht wird, trägt noch mehr zur Verwirrung bei. Der „Tagesspiegel“ schreibt am gleichen Tag: Das ist also die erste Lehre in der ersten Woche nach Funke und Fischer: Eine Äußerung, die nicht zum Rücktritt einer Ministerin führt, führt stattdessen zur Verunsicherung der Verbraucher. Wenn wir nicht alle gemeinsam dieses Thema endlich sachlich angehen, laufen wir Gefahr, dass die Bevölkerung zu Recht sagt: BSE ist keine Rinderseuche, sondern eine Politikerseuche. ({2}) Deshalb möchte ich versuchen, konkrete Vorschläge zu machen. Wir dürfen bei aller Ernsthaftigkeit dieses Problems nicht durch unüberlegte Schnellschüsse dafür sorgen, dass die Sachlichkeit auf der Strecke bleibt. Ein Grundproblem der BSE-Krise besteht doch darin, dass die Wissenschaftler bis zum heutigen Tag über die genauen Ursachen und die Übertragungswege von BSE noch völlig im Ungewissen sind. Eines scheint jedoch ziemlich sicher zu sein, nämlich dass bei den circa 180 000 BSE-Fällen in Großbritannien Tiermehl die Hauptinfektionsquelle war. Solange wir keine gewichtigeren Argumente haben, müssen wir im Zweifelsfall den Verbraucherschutz in den Vordergrund stellen. Aber das darf nicht dazu führen, dass man die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse völlig außer Acht lässt und täglich neue Möglichkeiten ungeprüft in die Diskussion wirft. Wenn man heute einen Wissenschaftler fragt: „Ist es hundertprozentig ausgeschlossen, dass der BSE-Erreger unter bestimmten Voraussetzungen auch über die Luft übertragen werden kann?“, dann wird er mit Nein antworten müssen. Die Presse wird dann die Überschrift bringen: BSE-Übertragung auch über die Luft möglich! Was sollen die Verbraucher mit solchen Äußerungen und Meldungen anfangen? Gestatten Sie mir folgenden Hinweis: Angst destabilisiert beim Menschen das Immunsystem. Die Schlussfolgerung überlasse ich jedem selbst. ({3}) Wenn es aber sehr wahrscheinlich ist, dass eine Ursache der Übertragung von BSE in der Tiermehlverfütterung und den Milchaustauschern zu vermuten ist, dann müssen wir zunächst alles, aber auch alles tun, um diese Ursache zu bekämpfen. Wenn trotz Tiermehlverfütterungsverbot bei Kontrollen Tiermehl gefunden wird, dann müssen wir zum einen die Kontrollen wesentlich verstärken und zum anderen dafür Sorge tragen, dass dieses Tiermehl gefahrlos und restlos beseitigt wird. In diesem Zusammenhang halte ich den bayerischen Weg, den Landwirten eine kostenlose Untersuchung ihrer Futtermittel zu ermöglichen, für nachahmenswert. Um ein generelles Verbot der Verfütterung von Tiermehl sicherzustellen, muss verhindert werden, dass es durch Verunreinigungen, Verwechslungen oder Vermischungen doch noch in den Nahrungsmittelkreislauf kommt. Deshalb halte ich eine thermische Verwertung für unbedingt notwendig. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, über den in den letzten Tagen verstärkt diskutiert wurde, und zwar die Verschärfung des Bußgeldrahmens. Ich bin hier für ein viel radikaleres Vorgehen. Wer wissentlich die Gesundheit von Menschen und Tieren aufs Spiel setzt, darf nicht mit einer Geldbuße davonkommen. Gewinnmaximierung auf Kosten der Gesundheit darf sich nicht rechnen! ({4}) Die Namen von Tiermehl- und Futtermittelherstellern, die sich nicht an die Vorschriften halten - Gleiches gilt für Wursthersteller, die Erzeugnisse wissentlich falsch als rindfleischfrei deklarieren -, müssen veröffentlicht werden. Das halte ich für eine richtige und wirksame Maßnahme des Verbraucherschutzes. Vielleicht wäre es wirksamer, wenn die Fernsehteams einmal bei solchen Herstellern vor Ort wären und nicht immer nur bei denjenigen Bauern, die nichts dafür können, dass sie in ihrem Stall ein BSE-Rind haben. Dies hätte auch den großen Vorteil, dass diejenigen Hersteller, die aus ethischer Überzeugung schon über Jahre wesentlich kostenintensiver produzieren, nicht mit Herstellern, die sich nicht an die Vorschriften halten, in einen Topf geworfen werden. Ehrlichkeit würde sich dann langfristig wieder lohnen. Aus Verbraucherschutzgründen fordern wir mindestens folgende Maßnahmen: Erstens. Den wahrscheinlichen Übertragungsweg durch Tiermehl und Milchaustauscher gilt es auszuschließen. Um zu vermeiden, dass Tiermehl - auf welche Art auch immer - in den Nahrungskreislauf gelangen kann, ist die Einführung einer Verbrennungspflicht von Tiermehl sinnvoll. Wesentlich intensivere Kontrollen auf allen Ebenen sind durchzuführen. Zweitens: Ausdehnung und Verschärfung der bestehenden Aussonderungspflicht von Risikomaterial auf alle Altersklassen von Rindern. Die Kontamination von Fleisch mit BSE-Erregern im Schlachtprozess ist zu vermeiden. Drittens: klare Kennzeichnungsvorschriften für Tier, Futter und Erzeugnisse. Viertens: die Forcierung der Forschung, um möglichst bald zu einem aussagefähigen BSE-Test am lebenden Rind zu kommen. Fünftens: eine ehrliche Risikobewertung und eine Überprüfung des Schweizer Modells. Sechstens. Ziehen wir auch Lehren aus der BSE-Krise. Wir müssen klären, welche Folgen Eingriffe in den Naturkreislauf haben. Hoffentlich diskutieren wir demnächst genauso intensiv, wenn es um das Klonen von Menschen geht. Siebtens - ich komme zum Schluss -: Mit Schuldzuweisungen ist dem Verbraucher am Allerwenigsten gedient. Wir brauchen ein klares Konzept, das durch gemeinsames Handeln aller Verantwortlichen von Bund, Ländern und Europäischer Union, von Politik, von den unmittelbar Beteiligten, von Wissenschaft und Forschung parteiübergreifend erarbeitet wird. Wir bieten unsere Mitarbeit hierbei an. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Wodarg.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schön, die sachlichen Argumente von Herrn Zöller zu hören. Ich stelle fest, dass vieles davon in unseren Vorschlägen wiederzufinden ist. Die Voraussetzung dafür ist gut, dass wir in den Ausschüssen vernünftige Dinge möglichst zügig auf den Weg bringen. Ich habe mich allerdings über den ersten Teil der Debatte geärgert, in dem wenig Inhaltliches gesagt wurde und auf die jetzige Bundesregierung geschimpft wurde. Ich freue mich, dass die beiden damals zuständigen Minister - ich sehe Herrn Seehofer hier und ich habe auch Herrn Borchert gesehen - anwesend sind. ({0}) Ich möchte bei dieser Gelegenheit meiner Freude Ausdruck verleihen, dass hier zur Sprache kommt, dass nicht nur die Tiermehle, sondern auch die Tierfette - Herr Zöller hat es gesagt - ein Risiko bedeuten. Wie man im Protokoll nachlesen kann, hat der Vorsitzende des Landwirtschaftausschusses das noch im Dezember bestritten. Ich habe 1996 in diesem Hause das erste Mal darauf hingewiesen, dass Tierfette aus TierkörperbeseitigungsWolfgang Zöller anstalten weiterhin an Kälber verfüttert werden und dass ich das für ein großes Risiko halte. Das ist in diesem Hause dreimal wiederholt worden, ohne dass es umgesetzt worden ist. Ich freue mich, dass wir gemeinsam gehandelt haben, auch wenn es sehr schwer gefallen ist und wenn der Prozess des Nachdenkens ein wenig länger gedauert hat.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber gern.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Wodarg, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass in der Sondersitzung von Agrar- und Gesundheitsausschuss, an der Sie nicht teilgenommen haben, der von Ihnen soeben erwähnte Vorsitzende des Agrarausschusses gesagt hat: „Ich sehe im Moment, dass die Theorie von Wodarg eine gewisse Logik hat“? Sind Sie bereit, mit mir dafür zu sorgen, dass zum Beispiel den Bauern in Schleswig-Holstein in der Form geholfen wird, dass die Bestände an Milchaustauschfutter in den Betrieben von der Regierung aufgekauft werden, damit der eine oder andere nicht auf dumme Gedanken kommt?

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Carstensen, das machen wir gerne; ich nehme das zur Kenntnis. Ich freue mich wirklich sehr, wenn hier ein Sinneswandel stattgefunden hat. ({0}) Vielleicht wissen Sie es nicht, lieber Herr Carstensen, aber 1996 hat aus Ihrem Wahlkreis eine Tierärztin an den Kommissar Fischler geschrieben ({1}) und damals schon genau diese Warnung ausgesprochen. Dieser Brief ist seinerzeit und bis heute nicht von Herrn Fischler beantwortet worden. Das heißt, die EU hat davon Kenntnis gehabt und einfach nichts gemacht. Sie hat das Problem totgeschwiegen, wie es auch die damalige Regierung tat. Nun gibt es sowohl innerhalb der EU-Kommission als auch in den Mitgliedsländern der Europäischen Union folgende Schwierigkeit: Das, was wir in Deutschland inzwischen gemeinsam vernünftig geregelt haben, wird dort immer noch nicht gemacht. In anderen EU-Ländern werden immer noch Tierfette Kälbern verfüttert; das ist dort immer noch nicht verboten. Herr Fischler muss jetzt ein solches Verbot unverzüglich umsetzen. Wenn er dies nicht tut, soll er seinen Stuhl räumen, weil er aus den Fehlern, die er gemacht hat, nichts gelernt hat. Es ist höchste Zeit das soll der Bundesregierung den nötigen Rückenwind für ihren Einsatz bei der EU geben -, dass diese Milchaustauscher überall verschwinden und nicht mehr verfüttert werden dürfen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, wenn es nicht auf die Redezeit angerechnet wird. ({0})

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das soll auch nur eine ganz kurze Frage sein. Herr Kollege, Sie haben eben gesagt, dass ein Brief, der für Sie von Wichtigkeit ist, von Herrn Fischler nicht beantwortet wurde. Sind Sie bereit, bei der jetzigen Bundesregierung nachzuprüfen, wie viele Briefe, auch wichtige Briefe, von Bürgern, die sich Sorgen um die Bewältigung der BSEKrise gemacht haben, in letzter Zeit nicht beantwortet worden sind?

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Warum soll ich das machen, wenn die Opposition es schon gemacht hat? Aber Sie können mir das gerne geben. ({0}) - Das war eine kurze Antwort. Ich möchte hinsichtlich der Vorschläge, die in unserem Antrag stehen, noch auf einige besondere Punkte hinweisen. Wir sehen in der Strategie der BSE-Bekämpfung ein Umsteuern. Wenn es bisher hieß, jeder BSE-Fall, der in Deutschland ruchbar werde, verunsichere die Verbraucher diesen Tenor hörte man lange Zeit aus Kreisen der Landwirte und auch der Lebensmittelproduzenten -, so heißt es heute, dass jeder gefundene Fall die Sicherheit der Verbraucher erhöhe, weil er uns Erkenntnisse darüber liefere, wo überall der Erreger sitzt und wo wir ihn bekämpfen könnten. Wir haben damit eine völlig andere Strategie eingeleitet, die wir weiterverfolgen werden und die auch konsequent weiterverfolgt werden muss. Ich möchte deshalb in diesem Zusammenhang noch auf einen Punkt eingehen, der in unserem Antrag nur angedeutet, aber nicht näher ausgeführt worden ist. Es geht um die Erweiterung des Verfütterungsverbotes auch auf Wild, Haustiere und Zootiere. Man hat mir gesagt, dass auch Zirkustiere dazu gehören. Das heißt, dass die Verfütterung von Tiermehl an Tiere überhaupt verboten werden soll. ({1}) - Auch das ist wichtig; ich komme gleich noch darauf. Wir haben jetzt über viele Jahre hinweg einen riesigen Feldversuch gehabt. Das, was nicht mehr an Lebensmittel produzierende Tiere verfüttert werden durfte, hat in den Regalen der Supermärkte und Tierfutterhandlungen gestanden und ist an Hunde, Katzen und sonstige Tiere verfüttert worden. Die Tatsache, dass in letzter Zeit von Tierärzten häufig darauf aufmerksam gemacht wurde, dass auffällige Symptome zum vorzeitigen Tod von Haustieren geführt haben - neurologische Symptomatiken, die durchaus so gedeutet werden können, dass TSE-Fälle bei Haustieren aufgetreten sind -, sollte uns dazu veranlassen, diesen Fällen systematisch nachzugehen und dafür zu sorgen, dass diese Tiere seziert werden, damit wir über diesen Feldversuch, der in ganz Deutschland und auch in anderen Ländern gelaufen ist, Erkenntnisse darüber bekommen, wo überall dieser Erreger schon vorkommt. Nur dann können wir die Ausbreitungskette dieses Erregers unterbrechen. Ich halte das für eine wichtige zusätzliche Maßnahme, über die wir uns in den Ausschüssen noch unterhalten können. Die Verfütterung an Lebensmittel liefernde Tiere haben wir verboten. Wir haben aber nicht daran gedacht, dass auch an wild lebende Tiere Tiermehl verfüttert wird. Tiere, die in freier Wildbahn leben und gejagt werden, sind ja zum Teil nichts anderes als Lebensmittel liefernde Tiere ohne Einzäunung, die gemästet werden und bei deren Mast auch diese Tiermehle eingesetzt werden. ({2}) Das ist bisher nicht in die Gesetzgebung eingeflossen. Das heißt, dass auch die Verfütterung an wild lebende Tiere da, wo sie stattfindet, verboten werden muss. ({3}) Da muss natürlich nachgeguckt werden. Die Kontrollmöglichkeiten müssen überprüft werden. Derjenige, der meint, er könne ein Risiko dadurch vermeiden, dass er im Restaurant Wild bestellt, hat sich zum Teil geirrt. Da besteht trotzdem ein Risiko. Ich denke, dass wir - um auf den Einwand noch einzugehen, den Herr Carstensen brachte - auch auf die Düngemittel achten müssen. Wenn wir überprüfen wollen, ob das Aufbringen von Tiermehl oder von Produkten aus der Tierkörperbeseitigung auf die Böden zur Fertilisierung, also zur Fruchtbarmachung der Böden, Gefahren in sich birgt, dann brauchen wir mit den dazugehörigen Versuchen dafür mindestens fünf bis zehn Jahre. Diese Zeit haben wir einfach nicht; so lange können wir nicht warten. Angesichts der anfallenden großen Menge dieser Stoffe, die man loswerden will - sie werden dann wahrscheinlich erst recht auf die Böden aufgebracht werden, wenn man es nicht verbietet -, muss möglichst schnell eine Verordnung her, die die Aufbringung als Düngemittel auf die Böden verbietet.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Wodarg, „Diese Zeit haben wir einfach nicht“ ist mein Stichwort.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Okay, danke. - Ich freue mich auf die Zusammenarbeit auch mit der Opposition, die lernfähig ist, die nicht mehr allein auf ein Importverbot pocht, das sich angesichts der Tatsache, dass wir auch so viele Fälle haben, als völlig unsinnig erwiesen hat. Von daher lassen Sie uns schnell vernünftige Regelungen treffen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Carstensen das Wort.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, sie soll auch ganz kurz sein. Ich mache sie nicht, um die Debatte zu verlängern oder weil ich unwahrscheinlich viel Lust habe, weiter über BSE zu diskutieren. Ich brauche nur eine Minute, Frau Ministerin, um Ihnen noch einen Punkt mit auf den Weg zu geben, der noch nicht angesprochen worden ist. Ich wäre Ihnen ausgesprochen dankbar, wenn Sie in der Bundesregierung zur Sprache brächten, ob es nicht dringend notwendig ist, den Beitrittskandidaten für die Europäische Union - in Ihrem eigenen Interesse und im Interesse der Europäischen Union - zu empfehlen, die Maßnahmen, die in den derzeitigen Mitgliedsländern der Europäischen Union zur BSE-Bekämpfung durchgeführt werden, bereits jetzt oder möglichst bald einführen. Es wäre fatal, wenn der Beitritt eines Landes aufgrund des offenen Marktes dazu führen würde, dass wir bei der Bekämpfung von BSE wieder einige Schritte zurückfallen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es ist eigentlich nicht der Kollege Wodarg angesprochen worden, sondern die Ministerin. Ich möchte ihr deswegen kurz das Wort geben.

Renate Künast (Minister:in)

Politiker ID: 11003576

Ich sage Ihnen eines zu: Überall da, wo wir der Ansicht sind, dass es EUeinheitliche Regeln geben muss, wie beim Tierfutter und vielen anderen Fragen, gilt das auch für die Beitrittskandidaten. Sonst würde es mit Blick auf die Verbrauchersicherheit keinen Sinn machen. Sie können sicher sein, ich werde es auch bei den Erweiterungsverhandlungen ansprechen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe da- mit die Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4924, 14/5079, 14/5097 und 14/5080 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/5085 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernäh- rung, Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung an den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung überwiesen werden. Sind Sie einverstan- den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Umwelt und Gesundheit - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen Umwelt und Gesundheit Risiken richtig einschätzen - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Klaus W. Lippold ({1}), Wolfgang Lohmann ({2}), Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen Umwelt und Gesundheit Risiken richtig einschätzen - zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: „Umwelt und Gesundheit“ - Drucksachen 14/2767, 14/2300, 14/2771 ({4}), 14/2848, 14/3712 Berichterstattung: Abgeordnete Jutta Müller ({5}) Dr. Reinhard Loske Birgit Homburger b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Winfried Wolf, Kersten Naumann, Dr. Ruth Fuchs und der Fraktion der PDS Verhinderung erneuter Gewässerverunreinigungen durch das Totalherbizid Diuron - Drucksache 14/4710 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Staatssekretärin Gila Altmann.

Gisela Altmann (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002618

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Die heutige Debatte hat gezeigt, dass Umwelt und Gesundheit immer dann ein Topthema sind, wenn es zu so dramatischen Ereignissen wie der BSE-Krise kommt. Sie sind aber in der Regel Folge einer lang andauernden Fehlentwicklung, bei der in Abwägung der unterschiedlichen Interessen der Vorsorgeaspekt im Spannungsfeld mit anderen Interessen oder mit dem wirtschaftlichen Druck das Nachsehen hatte. Abseits von solchen Ereignissen ist in den letzten eineinhalb Jahren das Thema „Umwelt und Gesundheit“ von der Bundesregierung mehrfach in die öffentliche Diskussion gebracht worden: durch das Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen, durch den Bericht „Umwelt und Gesundheit“ des Büros für Technikfolgenabschätzung und durch das gemeinsam vom Gesundheits- und Umweltministerium vorgelegte Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“. Denn auch und gerade vor dem Hintergrund, dass im direkt sichtbaren Bereich vieles besser geworden ist, muss man feststellen, dass die Probleme insgesamt fortbestehen, dass neue Probleme hinzugekommen sind, dass die Wirkungszusammenhänge komplexer und damit auch die Problemlösungen komplizierter geworden sind. Ein Beispiel ist die Belastung in der Umgebung von Bleihütten. Sie ist derart verändert worden, dass augenfällige Auswirkungen wie Bleiränder an den Zahnhälsen von Kindern, die in dieser Umgebung gelebt haben, Gott sei Dank der Vergangenheit angehören. Aber die Belastung der Böden ist geblieben. Wenn man sich einmal anschaut, dass unser Sensibilisierungsgrad bei Lärm, bei Luft und beim Wasser mittlerweile sehr hoch ist, so gilt das für den Schutz des Bodens leider noch nicht. Abgesehen davon, dass wir täglich 120 Hektar Fläche versiegeln - das entspricht 120 Fußballfeldern -, wird der Boden mit Gülle, Düngemitteln und Pestiziden sowie den Immissionen und Emissionen der Industrie belastet. Ein gesunder Boden verliert so nicht nur die Filterfunktion für das Grundwasser; belastete Böden schädigen auch die Lebensmittel und belastete Lebensmittel sind mitverantwortlich für viele Krankheiten wie zum Beispiel Allergien oder Neurodermitis. Deshalb sind Altlastensanierung und Bodenschutz, die Umsetzung der Biozidrichtlinie und eine neue Chemikalienpolitik im Rahmen der EU - man muss leider feststellen, dass die Bewertung von Altchemikalien viel zu schleppend vor sich geht - ganz wichtige Punkte, die zeitnah abgearbeitet werden müssen. Aber es geht auch um Zukunftspolitik. Es geht um Kinder. Sie sind von Umweltbelastungen besonders betroffen. Dadurch, dass sie sich im Wachstum befinden, werden sie durch schädigende Umwelteinflüsse in ihrer physischen, psychischen und sozialen Entwicklung besonders behindert. Wir wissen, dass die StoffwechselumVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer sätze von Kindern gegenüber Erwachsenen deutlich erhöht sind. Kinder nehmen, bezogen auf ihre Körpergröße, deutlich mehr Nahrung und Flüssigkeit auf und atmen ein deutlich höheres Luftvolumen ein als Erwachsene. Das heißt: Was Hänschen an Belastungen aufnimmt, wird Hans nicht mehr los. Bei der Umsetzung des gemeinsamen Aktionsprogramms „Umwelt und Gesundheit“, bei dem es eine beispielhafte Zusammenarbeit der beiden Ressorts Umwelt und Gesundheit gibt, spielen Kinder deshalb eine zentrale Rolle. Ich sage aber auch gleich dazu: Das kann nur ein Anfang sein; denn dieses Thema muss zu einer Querschnittsaufgabe aller Ressorts werden. Ein Ergebnis der gemeinsamen Aktivitäten in diesem Jahr ist deshalb, dass es neben zahlreichen Workshops und Studien ein großes Forum „Kinder, Gesundheit und Umwelt“ geben wird. Ich möchte noch einen anderen Aspekt ansprechen: die Forschung. Auch hier gibt es großen Nachholbedarf. In der Vergangenheit hatte der Bereich Umwelt und Gesundheit nicht den Stellenwert, der ihm eigentlich zukäme und den er hätte haben müssen. Das zeigt sich nicht nur bei BSE, sondern auch beim Einsatz neuer Technologien, ganz besonders im Bereich der Kommunikationstechnologien. Das Wissen über Auswirkungen von Elektrosmog im Bereich von Sendetürmen und bei der Benutzung von Handys wird gerade erst erworben. Es geht darum, die Instrumente und Strategien zur Bewertung von Umweltrisiken zu verbessern und klar definierte, objektivierbare Grundlagen zu schaffen. Verunsicherung und Angst sind da schlechte Ratgeber. Diese Instrumente und Strategien sind ein wesentlicher Aspekt einer vorsorgenden Umwelt- und Gesundheitspolitik. Aber dafür brauchen wir auch gesellschaftlichen Konsens, denn Entscheidungen, die ausgehend von entsprechenden Ergebnissen getroffen werden, werden nicht ohne Konflikte umzusetzen sein. Für all dieses hat die Bundesregierung eine Risikokommission eingerichtet, die die Information und Beteiligung der Öffentlichkeit sowie die Vernetzung von staatlichen Stellen entsprechend fördern soll. Als Letztes möchte ich noch ein Wort über die Kosten verlieren. Sie spielen in der bisherigen Beschlusslage keine zentrale Rolle, aber man muss klarstellen, dass vorsorgender Gesundheitsschutz nicht umsonst zu haben sein wird. Klar ist auch: Vorsorge ist billiger als Nachsorge. Das heißt, im Vergleich zu den gesamtgesellschaftlichen Kosten einer Katastrophe müsste für eine vorausschauende Vorsorgepolitik erfahrungsgemäß nur ein Bruchteil dieser Kosten aufgewendet werden. Auch diese Lehre sollte aus der derzeitigen BSE-Krise gezogen werden. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Vera Lengsfeld.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es bedeutet immer wieder eine Belastung, der Frau Staatssekretärin zuhören zu müssen, wenn sie ihre Berichte abliest. ({0}) Wenn wir heute aber über Umwelt und Gesundheit diskutieren, werden wir uns nicht der Erkenntnis verschließen, dass sich im Augenblick der wohl ungesündeste Arbeitsplatz in Deutschland an der Spitze des Gesundheitsministeriums befindet. Ich meine damit nicht nur den Fall der glücklosen Frau Fischer, die ihr Ressort nie in den Griff bekam, ({1}) sondern vor allem die Grünen selber, die sie schließlich gefeuert haben, weil ihnen klar wurde, dass die Misere der missglückten Gesundheitsreform ihre Wahlchancen gefährdete. Während sich die Grünen in den Verbraucherschutz zu retten versuchen, worauf wir noch zurückkommen werden, darf den Schleudersitz des ungeliebtesten Ministeriums in Schröders Chaos-Kabinett wiederum eine Frau einnehmen. Sie ist allerdings heute nicht da, ansonsten hätte ich ihr gerne gratuliert, aber offensichtlich scheint sich ihre Freude in Grenzen zu halten und sie es eher als Strafe zu empfinden, dass sie diesen Posten einnehmen muss. Ich möchte nur sagen, dass die blöden Pressespekulationen über ihre aushilfsweise Tätigkeit als Barfrau, die ihren Amtsantritt begleiteten, nicht einem gesunden Informationsbedürfnis entsprechen, sondern eher einem krankhaften Verlangen nach Auflagensteigerung um jeden Preis entspringen. Genossen, jetzt könnt ihr einmal klatschen, ich habe nämlich eure Ministerin in Schutz genommen! ({2}) Mich interessieren jedenfalls weniger Frau Schmidts Fähigkeiten, alkoholische Mixturen zuzubereiten, als ihre Qualifikation für ihr neues Amt. Man muss leider feststellen, dass unser Staatschef wohl den Überblick verloren und Frau Schmidt einen Rücktritt zu früh befördert hat. Sie war ja wohl als Ersatz für Herrn Riester vorgesehen. Aber da ist nun einiges durcheinander gekommen. ({3}) Klare Entscheidungen kann man von Herrn Schröder im Augenblick, wo er nur noch mit Notrettungsmanövern für seine auseinander fallende Crew beschäftigt ist, offensichtlich nicht erwarten. Uns wurde zwar auf diese Weise ein Verbraucherministerium beschert, aber die grundlegende Frage, wer die Verbraucher eigentlich vor den Folgen der schröderschen Politik schützt, ist damit nicht beantwortet. ({4}) Um es an unserem Thema festzumachen: Noch nie waren die Menschen so gesund wie heute und noch nie haben sie so lange gelebt. Noch nie haben die Menschen über eine so gesunde und sichere Nahrung wie heute verfügt. Daran ändert auch die BSE-Krise nichts. ({5}) Laut Auskunft des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages gab es im Jahr 2000 übrigens keinen einzigen Fall des Creutzfeldt-Jakob-Syndroms in Deutschland. In Großbritannien gab es innerhalb von zehn Jahren 89 Fälle. Bei keinem einzigen konnte eine direkte Verbindung zu der Rinderkrankheit nachgewiesen werden. Aber statt wie sein Vorbild Tony Blair demonstrativ Rindfleisch essen zu gehen, ({6}) verfällt unser Kanzler der BSE-Hysterie und kündigt den Feldzug gegen die industrielle Landwirtschaft an. Damit gefährdet er die Gesundheit seines Volkes mehr, als es ein BSE-infiziertes Rind je könnte. Denn die Tatsache, dass wir heute über ausreichend gesunde und sichere Lebensmittel verfügen, ist der industriellen Landwirtschaft zu verdanken. Moderne Tierhaltung, die Großproduktion von Pflanzen, Plastikversiegelung, Dosen und Tiefkühltruhen mögen uns zwar von den Lebensmitteln entfremden, für unsere Gesundheit sind sie aber ein Segen. ({7}) Vormoderne Formen der Tierhaltung waren keineswegs humaner. Naturbelassene, unbehandelte Nahrungsmittel sind, wie manche Frischkornbreianhänger am eigenen Leibe schmerzhaft erfahren mussten, keineswegs gesünder als moderne Lebensmittel. Aber die moderne Lebensmittelproduktion ist nicht nur gut für die Gesundheit, sie ist auch ein nicht zu unterschätzender Beitrag für die Umwelt. Intensive Anbaumethoden, mit denen auf immer weniger Fläche immer mehr Menschen ernährt werden können, geben der Natur Gelegenheit, verlorene Räume zurückzuerobern, und bedrohten Arten die Chance, zu überleben. Es ist auch nicht wahr, dass Großproduktion an sich unökologisch sei. Im Gegenteil. Sie kann sehr viel umwelt- und ressourcenschonender betrieben werden als manche der idealisierten Kleinproduktionen. Wir haben das in diesem Hause heute schon besprochen: Wir wissen noch nichts über BSE. Aber sicher ist, dass BSE nichts mit der Technologieentwicklung zu tun hat, sondern mit missbräuchlichen Praktiken und mangelnden Kontrollen. Anstatt jedoch das Problem ernst zu nehmen, die Ursachen zu suchen und abzustellen, wird eine vom Kanzler maßgeblich unterstützte hysterische Diskussion geführt. Dieses Mal kommt die schon überwunden geglaubte Industriekritik im Mäntelchen des Verbraucherschutzes daher. Wir sind aber kein Land von 82 Millionen unschuldigen Verbrauchern, die das Opfer von Wirtschaftsinteressen sind. Vielmehr hat die permanente Nachfrage nach billigen Produkten ohne Wenn und Aber zu einem erheblichen Preisdruck auf die Produzenten geführt. Zu den schwierigsten Aufgaben der Verbraucherpolitik wird es gehören, klar zu machen, dass die Verbraucher auch ihre Eigenverantwortung wahrnehmen müssen. Wie keine andere Gesellschaft zuvor ist die marktwirtschaftliche Gesellschaft Ausdruck des freien Willens aller. Noch nie hat eine Gesellschaft so vielen Menschen eine Chance eröffnet und ein Leben in Wohlstand ermöglicht wie die Marktwirtschaft. Trotzdem werden immer wieder Misstrauen und Angst gegen sie geschürt. Vorhin wurde ja von der ganz linken Seite bezeichnenderweise der Vorwurf erhoben, auch die Biobauern würden sich den marktwirtschaftlichen Kriterien unterwerfen. Das ist offensichtlich das Schlimmste, was Ihnen zu Biobauern einfällt. ({8}) Es ist auch immer wieder behauptet worden, dass BSE nur auftreten könne, weil die freien Kräfte des Marktes ungebändigt wirken dürften. Aber BSE ist im planwirtschaftlich regulierten europäischen Landwirtschaftsgebiet und nicht in den USA aufgetreten, wo sich die Marktkräfte viel freier entfalten können. Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Damit will ich nicht sagen, dass BSE in den USA nicht auftreten könnte, sondern nur klar machen, dass, um ein bekanntes Sprichwort abzuwandeln, die Industriegesellschaft nicht mit BSE durchs Dorf getrieben werden soll. Es ist auch verfehlt, immer wieder das Künstliche zu beklagen und dem Natürlichen gegenüberzustellen. In der Geschichte hat sich das Künstliche immer wieder als die Rettung des Natürlichen erwiesen. Nur die Erfindung der Dampfmaschine und die dadurch mögliche Förderung von Kohle aus großen Tiefen haben die vollständige Abholzung der Wälder in Mitteleuropa verhindert. ({9}) Heute sind die Wälder in Europa und anderswo - trotz gegenteiliger Prognosen - wieder auf dem Vormarsch. Darüber sollten sich die Grünen freuen. ({10}) Vielleicht ist Ihr Lachen, Herr Trittin, ein Ausdruck der Freude. Ich gönne Ihnen diese Freude von ganzem Herzen. ({11}) - Es tut mir Leid, ich habe Ihren Zwischenruf nicht verstanden. Deswegen kann ich nicht darauf eingehen. Ich will ein weiteres Beispiel nennen: Nur Kunstfasern können die pestizidintensive und damit umwelt- und geVera Lengsfeld sundheitsgefährdende Produktion der Naturfaser Baumwolle ersetzen. In der Diskussion um die Gefahren der Chemie wird immer wieder vergessen, dass es vor allen Dingen der Chemie zu verdanken ist, dass die Natur gerettet und die Gesundheit der Menschen erhalten werden kann. Ich will Ihnen dazu ein weiteres Beispiel nennen: Naturmedizin ist heute das mit Abstand größte Artenschutzproblem für seltene Pflanzen und Tiere. Nur wenn es gelingt, die Naturmedizin gleichwertig zu ersetzen, werden viele Arten gerettet werden können. Es ist deshalb eine der wichtigsten Aufgaben der weiteren Entwicklung, künstlichen Ersatz für natürliche Rohstoffe zu finden, um die Natur nicht weiter zu verbrauchen bzw. ihr die Gelegenheit zu geben, sich zu regenerieren. Das nutzt unserer Gesundheit und auch der Umwelt. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Biotechnologie zu. Die Biotechnologie bedient sich - beispielsweise bei der Pflanzenzucht - viel intelligenter der Methoden der Natur als herkömmliche Verfahren. Denn durch Biotechnologie wird das Künstliche natürlich. Um den Soziologen verständlich zu bleiben, könnte man auch sagen, dass die Biotechnik einen Weg aus der viel beklagten Entfremdung von Mensch und Natur bietet. Ob Frau Künast diese Herausforderung produktiv aufnimmt und als Ministerin innovativ gestaltend wirken wird, bleibt abzuwarten. Das große Verdienst der Grünen ist es gewesen, dass sie auf Umweltprobleme aufmerksam gemacht und sie in das öffentliche Bewusstsein gerückt haben. Heute stehen sie der Lösung dieser Probleme allerdings eher im Wege und üben sich in zweifelhaften Mätzchen. Beispielsweise verspricht Herr Trittin in seiner Ökosteuerkampagne der verdutzten Bevölkerung mehr Sex. ({12}) Man darf rätseln, ob er das tut, um in der nächsten Runde von einer Vergnügungssteuer sprechen zu dürfen, oder ob er das tut, weil ihm auf den endlosen Sitzungen der K-Gruppen in seiner Jugend sämtliche Lust abhanden gekommen ist. ({13}) - Ist das ein Angebot, Herr Minister? Seien Sie vorsichtig! Vielleicht komme ich noch darauf zurück. ({14}) Weil wir gerade so heiter sind, möchte ich zum Schluss erwähnen, dass die baden-württembergischen Grünen noch eins draufsetzen. Sie versprechen nämlich auf ihrem Wahlplakat: Grüne - wie soll ich es höflich umschreiben? machen‘s besser. Ich würde den Baden-Württembergern trotz allem dringend davon abraten, das in einem Feldversuch auszuprobieren; ({15}) denn die Potenzprobleme der grünen Partei sind ja doch evident. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Jutta Müller.

Jutta Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001556, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin einigermaßen verwirrt und habe mich die ganze Zeit gefragt, ob ich oder Sie zu einem falschen Tagesordnungspunkt reden. ({0}) Ich möchte daher zunächst den Besuchern auf der Tribüne sagen, was das Thema dieser Debatte ist. ({1}) Es geht beispielsweise um ein Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen zur Verbesserung der umweltbezogenen Gesundheitsbeobachtung und um das Informationsmanagement in unterschiedlichen Bereichen. Es geht ferner um einen Bericht zur Technikfolgenabschätzung. ({2}) - Ich bezweifle, dass Sie das nachgelesen haben; denn sonst hätten Sie nicht einen solchen Unsinn erzählen können. ({3}) Diese Punkte haben wir schon im Ausschuss diskutiert. Meine Fraktion hat mehrere Veranstaltungen zu diesem Thema durchgeführt und mit Wissenschaftlern und mit Betroffenen, aber auch - ich denke, das ist ganz wichtig mit Patienteninitiativen gesprochen. Wir haben festgestellt, dass es hier einen enorm hohen Informationsbedarf gibt. Genau dieser breite gesellschaftliche Diskurs wird von dem Ausschuss, der sich mit der Technikfolgenabschätzung befasst, angeregt. Dieser Bericht, der sich weniger mit den Umweltbelastungen und den daraus entstehenden Krankheiten beschäftigt - das ist in einer Vorstudie gemacht worden -, geht mehr auf die Bewertungskontroversen und Präventionsansätze bei Handlungsoptionen ein. In Bezug auf die Gefährdungspotenziale bestimmter Stoffe und deren Wirkung auf den menschlichen Organismus sowie auf verschiedene Krankheitstypen und deren Ursachen herrscht in dem Sondergutachten des Sachverständigenrates Übereinstimmung. Ebenso wird auf eine große Diskrepanz zwischen der Expertenmeinung und dem Laienverständnis hingewiesen, die das Handeln im Bereich Umwelt und Gesundheit für uns nicht immer leicht macht. Ein Informationssystem mit klaren Zuständigkeiten, starker Vernetzung und hoher Transparenz ist ebenso notwendig wie der von mir schon erwähnte Diskurs unter Einbeziehung aller gesellschaftlich relevanten Gruppen. Ich möchte ein kleines Beispiel nennen. Wir haben in Deutschland mehrere umweltmedizinische Ambulanzen. Bei diesen ist festgestellt worden, dass bei 40 bis 80 Prozent der Patienten, die dort behandelt wurden, Umweltursachen nicht nachgewiesen, aber auch nicht ausgeschlossen werden konnten. Man kann das auch darauf zurückführen, dass unterschiedliche Erhebungs- und Anamneseschemata zur Entstehung unvergleichbarer Daten führen. Die Präventionsansätze bilden im TA-Bericht einen besonderen Schwerpunkt. Die Gesundheitspolitik der vergangenen Regierung war in erster Linie auf die Ausgestaltung und Finanzierung der medizinischen Versorgung gerichtet. Die Prävention soll zukünftig eine größere Berücksichtigung finden. ({4}) Dabei sollte man nicht nur in dem engen Rahmen der medizinischen Prävention bleiben, die die Vermeidung von Krankheiten oder von Krankheitsverschlechterungen zum Ziel hat; auch die Gesundheitsförderung sollte meines Erachtens mehr Gewicht erhalten. Ich meine, dass wir uns hier auch - die Frau Staatssekretärin hat es schon angesprochen - über Finanzierungsmethoden unterhalten müssen. Es sind Vorschläge gemacht worden, beispielsweise die Fondslösung oder die Erweiterung der Möglichkeiten der Beteiligung von Krankenkassen an der Gemeinschaftsaufgabe zur Schaffung einer Gesundheitsförderung. Damit wird die Gesundheitsförderung in Zukunft vielleicht sogar ein Stück weit billiger werden. Die intersektorale Zusammenarbeit auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene soll festere Informationsund Organisationsstrukturen erhalten, um sektorübergreifende Politikansätze im Bereich Umwelt und Gesundheit nachhaltig zu fördern. Der TA-Bericht betont allerdings auch einen hohen Forschungsbedarf nicht nur im Bereich der Umweltbelastungen und der daraus resultierenden Krankheitsbilder, sondern auch hinsichtlich der Wege der Kommunikation und der Präventionsansätze, die zu einer Erhöhung der Gesundheit in der Bevölkerung beitragen können. Das Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ der Bundesregierung hat viele in dem Sondergutachten und dem TA-Bericht angesprochenen Punkte bereits integriert: die systematische Erfassung umweltbedingter gesundheitsschädigender Faktoren, die Bewertung auf der Grundlage neuer Erkenntnisse und die Ableitung entsprechender zielorientierter Maßnahmen. Das Vorsorgeprinzip - das ist das Neue an rot-grüner Umwelt- und Gesundheitspolitik - wird dabei als Grundprinzip der Umweltund Gesundheitspolitik herausgestellt. Damit wird zugleich eine entscheidende Voraussetzung dafür geschaffen, dass Gesundheit für alle möglich ist. ({5}) Wir hatten im vergangenen Jahr nach der Diskussion im Ausschuss zwei unterschiedliche Entschließungsanträge. Ihr Antrag, Frau Lengsfeld, war gar nicht so schlecht und wir waren uns im Grundsatz - das haben wir im Ausschuss diskutiert - eigentlich einig; in weiten Teilen herrschte Übereinstimmung. Ich hatte damals nur gesagt, mir greife der Antrag der CDU/CSU etwas zu kurz; es fehlten einige Punkte. Wir haben zum Beispiel schon damals bemängelt, dass Sie in Ihrem Antrag den ganzen Bereich Lebensmittelsicherheit, Futtermittelsicherheit und Produktsicherheit bei der Ernährung ausgeklammert haben. Wie wir jetzt an der aktuellen Debatte, die sich sicherlich niemand von uns in diesem Ausmaß gewünscht hat, sehen, war das ein Fehler. In unserem Antrag war dieser Bereich enthalten. ({6}) - Sie waren 16 Jahre an der Regierung und haben nichts getan! Deshalb sollten Sie etwas vorsichtig mit solchen Zwischenrufen sein. Die F.D.P. war sogar noch viel länger an der Regierung. ({7}) Wir haben ein Sofortprogramm mit zwölf Punkten vorgeschlagen, das Aufgaben benennt, die sofort und umfassend umgesetzt werden sollen. Ihren Antrag finde ich grundsätzlich nicht schlecht. Aber in ihm fehlt eine ganze Reihe von Punkten. Es wäre schön gewesen, wenn wir es geschafft hätten, uns auf einen gemeinsamen Antrag zu einigen. Ich war vor kurzem auf einer Konferenz hier in Berlin, auf der es um die Innenraumluftqualität ging. Ich denke, das ist ein Punkt, dem wir in Zukunft sehr viel mehr Aufmerksamkeit widmen sollten. Ich habe mit dort anwesenden Experten gesprochen. Bei mir verfestigt sich die Erkenntnis, dass es nicht länger hinnehmbar ist, dass Grenzwerte sich immer an erwachsenen, gesunden Männern orientieren. Das sollten wir jetzt anpacken. Wenn Grenzwerte festgelegt werden, haben wir besonders auf gefährdete und schutzbedürftige Gruppen - alte Menschen oder auch Kinder - zu achten. ({8}) Dass Kinder stärker betroffen sind, ist ganz klar. Dazu werde ich nichts mehr sagen. Das hat die Frau Staatssekretärin hier ausführlich dargestellt. ({9}) Wir werden mit unserem Forum „Kinder, Umwelt und Gesundheit“ dies noch aufnehmen. Bei der Umsetzung des Aktionsprogramms „Umwelt und Gesundheit“ wird zurzeit auch ein Prüfverfahren zur Ermittlung von Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen in die Innenraumluft entwickelt. Damit wird erstmalig in Deutschland ein Verfahren zur Prüfung der Emissionen von Produkten als Grundlage für die Vergabe einer unabhängigen Kennzeichnung eingeführt. Jutta Müller ({10}) Der Ausschuss zur gesundheitlichen Bewertung von Bauprodukten wird zudem ein Konzept erarbeiten, welches die Kategorisierung von VOC-Emissionen aus Bauprodukten im Zusammenhang mit ihrer Wirkung auf die Gesundheit ermöglicht. Neben einer Vielzahl von Maßnahmen, die bereits von BMU und BMG umgesetzt werden - Frau Altmann ist darauf eingegangen -, werden wir neue Organisationsstrukturen, was die Risikobewertung angeht, einführen. Mit der berühmten Kommission aus 22 Experten werden wir den Dialog von Wissenschaft, Behörden, Wirtschaft, Umwelt- und Verbraucherverbänden organisieren können. Das ist, denke ich, ein ganz elementarer Baustein einer neuen Umwelt- und Gesundheitspolitik. In unserem Antrag und im Aktionsprogramm der Bundesregierung haben wir ein anspruchsvolles und verantwortungsvolles Arbeitsprogramm zur Verbesserung des Umwelt- und Gesundheitsschutzes vorgelegt, das wir im Interesse der Menschen zügig umsetzen wollen. Frau Lengsfeld, Sie haben eben gesagt, wir würden Marktwirtschaft verteufeln. Das ist natürlich Blödsinn; das macht kein Mensch. Wir haben aber manchmal durchaus schwierige Diskussionen mit der Industrie zu führen, denen wir uns stellen müssen. Es ist ganz klar, dass es dabei oftmals unterschiedliche Interessen gibt. Die Industrie sagt uns: Ihr dürft uns nicht behindern. Ihr dürft keine Verbote setzen. - Wir werden im Ausschuss über Diuron reden; die PDS hat heute einen Antrag dazu vorgelegt. Auch dazu sagt die Industrie: Wir stehen im Wettbewerb. Diuron dürft ihr nicht verbieten. Ich erinnere mich an eine Dokumentation über das Indien des 21. Jahrhunderts, die vor kurzem im Fernsehen lief und über die ich entsetzt war. Sie begann mit der heilen Computerwelt und den tollen Arbeitsplätzen. Dann fuhr der Berichterstatter weiter in den Norden Indiens, in den so genannten goldenen Korridor. Dort hat man chemische Industrie angesiedelt. Diese chemische Industrie arbeitet fast ausschließlich für europäische Industrieunternehmen und stellt Vorprodukte her. Weil diese europäischen Industrieunternehmen die Preise so stark drücken, dass die indischen Betriebe gar keine Gewinne mehr erzielen könnten, wenn sie ihre Abwässer behandelten oder Maßnahmen zur Luftreinhaltung ergriffen, wird all das dort nicht mehr getan. Links und rechts neben den Fabriken liegen Felder, deren Grundwasser verseucht wird. Ich will mit diesem Beispiel sagen: Wenn unsere Industrie auf den globalen Wettbewerb hinweist, dann müssen wir auch über solche Dinge diskutieren. Globalisierung hat nicht nur etwas mit Geld, sondern auch etwas mit verantwortungsvollem Handeln zu tun. Danke schön. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Marita Sehn.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf den ersten Blick scheint es eine triviale Selbstverständlichkeit zu sein. Denn eine Grundsatzdebatte zum Thema Umwelt und Gesundheit müsste eigentlich überflüssig sein. Jeder vernünftige Mensch wird zustimmen. Natürlich geht es bei der Umweltpolitik auch darum, alles zu tun, was der menschlichen Gesundheit förderlich ist, und alles zu unterlassen, was ihr schadet. Das Ziel der Umweltpolitik, wie es auch von der Weltgesundheitsorganisation beschrieben wurde, ist also verbindlich: Der Zustand der natürlichen Umwelt und der Umgang mit den Ressourcen müssen so gestaltet werden, dass hierdurch zumindest keine Krankheiten entstehen. Über diesen Punkt sind wir uns wohl alle einig. ({0}) Tatsächlich hat die Umweltpolitik vergangener Legislaturperioden viel erreicht. Schutzvorschriften für den Umgang mit gefährlichen Chemikalien sowie Maßnahmen zum Gewässerschutz, zum Klimaschutz und zur Luftreinhaltung sind nur wenige Stichworte. ({1}) - Ja, lieber Dieter Thomae, so ist es. - Alles war und ist genau diesem Ziel, dem der menschlichen Gesundheit, verpflichtet. Es fehlt also nicht an gutem Willen. Auch aktuelle Krisen ändern nichts daran, dass ein Blick auf vergangene Legislaturperioden gerade auch im Hinblick auf die Umweltpolitik viele Erfolge erkennen lässt. Zu Recht wird dies in den Anträgen, über die wir heute diskutieren, überwiegend erwähnt. Ohne Zweifel: Die wissenschaftliche Forschung muss in diesem Bereich noch verstärkt werden. ({2}) Es geht darum, gesundheitliche Gefahren im Umweltbereich besser zu verstehen, sie früher zu erkennen und darüber zu informieren. ({3}) Zur Vorbeugung gegen Krankheit oder gar Epidemien müssen Risiken rechtzeitig erkannt und bewertet, geeignete Schutzmaßnahmen ergriffen und eingetretener Schaden begrenzt werden. Dazu gehören auch der Aufbau von Informations- und Kommunikationsnetzen sowie die breite Veröffentlichung fundierter Ergebnisse der Wissenschaft. Die F.D.P. hat sich stets eindeutig und mit Engagement zu einer Ausweitung der Forschungsaktivitäten im Hinblick auf eine Risikoabschätzung und Risikobewertung im Umweltbereich bekannt und dies nachdrücklich gefordert. ({4}) Insoweit teilen wir die Einschätzungen, wie sie auch im Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgetragen werden. Wir teilen jedoch nicht die vorbehaltlose Herausstellung des Vorsorgeprinzips als Grundprinzip für Jutta Müller ({5}) Umwelt- und Gesundheitspolitik, wie Rot-Grün dies fordert. Gerade unter dem Eindruck aktueller Bedrohungen ist Hysterie der denkbar schlechteste Ratgeber. ({6}) Wenn Sie das Prinzip der Vorsicht überhöhen, dann werden Sie das Prinzip individueller Verantwortlichkeit aushöhlen. ({7}) Dies werden wir Liberale standhaft verweigern. Die F.D.P. lehnt den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ab. Der Grund dafür ist der leichtfertige und unter dem Eindruck aktueller Krisen verführerische, dennoch populistische Umgang mit dem Vorsorgeprinzip. Als alles überwölbende Richtlinie der Politik, Herr Müller, ist das Vorsorgeprinzip nämlich zu unbestimmt. ({8}) Grundvoraussetzung für eine sachgemäße Anwendung des Vorsorgeprinzips ist immer ein fundiertes Wissen. Erst ein solches ermöglicht überhaupt eine Vorsorge, die diesen Namen verdient. Eine angebliche Vorsorge ohne das notwendige Wissen ist bestenfalls blinder Aktionismus ({9}) und schlimmstenfalls eine unnötige Verunsicherung der Menschen. Ich möchte hier an die letzten Wochen erinnern. ({10}) Ein leichtfertig gebrauchtes Vorsichtsprinzip ist ein breites Einfallstor für staatlichen Dirigismus und Paternalismus. Das Vorsorgeprinzip wird den Staat in Versuchung führen, den Bürgern Wissen vorzugaukeln, welches er nicht hat. ({11}) Dabei ist die Wirkung auf die Öffentlichkeit unkalkulierbar: Politisch festgelegte Vorsichtswerte enthalten immer eine Sicherheitsreserve. Diese kann im Einzelfall erheblich überschritten werden, ohne dass tatsächlich eine akute Gefahr besteht. Umgekehrt kann das Einhalten staatlicher Vorsichtswerte Unbedenklichkeit dort vorspiegeln, wo tatsächlich erhebliche Gefahren lauern. Das Vorsorgeprinzip kann auch schnell zu einem staatlichen Bevormundungsprinzip werden. ({12}) Die F.D.P. fordert, neben einer berechtigten Vorsorge ({13}) vor allem die Aufklärung der Bürger zu einem Schwerpunkt der Politik zu machen. Nur ein Bürger, der umfassend um die Risiken weiß, kann selbstständig und eigenverantwortlich handeln. Das Vorgaukeln falscher Sicherheiten durch den Staat führt die Bürger in die geistige Unmündigkeit. Dies wird eine liberale Partei niemals zulassen. ({14}) Vergessen werden darf auch nicht, dass die Bewertung von Risiken durch die Bürger oft eine andere ist als die Bewertung derselben Risiken durch Wissenschaft und Politik. Risiken werden also umso geringer eingeschätzt, je freiwilliger sie eingegangen werden - man denke an das Rauchen oder an Unfallrisiken bei dem Ausüben gefährlicher Sportarten. Diese Tendenz lässt sich auch bei so manchem Politiker beobachten. So wird das Verprügeln von Polizisten und das Werfen mit Steinen - das konnten wir gestern bei Joschka Fischer erleben - auf der einen Seite zum Kampf um die Freiheit hochstilisiert, während man auf der anderen Seite natürlich jeden Einsatz von Gewalt scharf verurteilt. ({15}) Die Gesellschaft als Ganzes tendiert aber zum Nullrisiko. Jedes denkbare Lebensrisiko soll gänzlich und am besten durch den Staat ausgeschlossen werden. Die Vorstellung im Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, es möge eine politisch-gesellschaftliche Diskussion darüber geführt werden, welche Risiken die Gesellschaft bereit ist zu tragen, ist deshalb bestenfalls eine Illusion, schlimmstenfalls eine zynische Veralberung der Bürger. ({16}) Die F.D.P. begrüßt, dass das Problemfeld von Umwelt und Gesundheit in den vergangenen Jahren, unter anderem durch die hier vorliegenden Gutachten, frühzeitig und unabhängig von aktuellen politischen Problemen ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt wurde. Trotz aktueller Krisen mahnen wir zu Besonnenheit. Information und Transparenz sind das Gebot der Stunde für den Bereich Umwelt und Gesundheit. Sie sind die Voraussetzung dafür, dem Bürger eine eigenständige Entscheidung zu ermöglichen - was besser ist als jede staatliche Bevormundung, ({17}) nicht zuletzt auch mit Blick auf den Verbraucherschutz. Einen Vormundschaftsstaat mit Rundumbetreuung der Bürger wird es mit den Liberalen aber nicht geben, ({18}) auch dann nicht, wenn sich der Vormundschaftsstaat anmaßend als Gesundheitsschützer kostümiert. ({19})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich die Rede von Frau Lengsfeld von der CDU gehört habe, war ich baff: Die Menschen werden immer älter, immer gesünder - alles toll! Vor allem genetisch veränderte Lebensmittel sind echt super. In Ihrem Entschließungsantrag dagegen heißt es: Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Allergien werden in ihrem Ausmaß in Öffentlichkeit und Politik in der Regel eher unterschätzt. Ich würde vorschlagen, Sie einigen sich auf eine Position. In der Öffentlichkeit schaut es nicht gut aus, wenn es derart verschiedene Stellungnahmen gibt. Ich jedenfalls war sehr verwirrt. ({0}) Aber jetzt zu unserem Antrag. In unserem Antrag geht es um das Bestreben der Bahn AG, die Wiederzulassung des Totalherbizids Diuron zu erreichen. Dies halten wir für unverantwortlich. Denn Diuron zählt zu den Phenylharnstoffverbindungen, die im menschlichen Organismus zu Stoffen mit Krebs erregender Wirkung umgewandelt werden können. Zudem sind sie toxisch für Kleinstlebewesen im Wasser. Die Bahn war bis zum Verbot des Mittels 1997 größter Anwender von Diuron. Es wurde vor allem als Unkrautvernichtungsmittel in Gleisanlagen eingesetzt. Immer häufiger wurde das giftige Totalherbizid in Brunnen unweit von Gleisanlagen und Bahnhöfen nachgewiesen. Die Unkrautvernichtungspraxis der Bahn brachte damit die unschädliche Versorgung der Bevölkerung mit unbedenklichem Wasser in Gefahr. Es wurden Diuronfunde im oberflächennahen Grundwasser mit Überschreitungen des Grenzwertes von 0,1 Mikrogramm pro Liter um das 40- bis 60fache festgestellt. Diese Fakten haben, auch infolge massiver Proteste seitens der Umweltbewegung, bereits 1996 zur Einstellung der Anwendung von Diuron durch die DB AG geführt. Die Herstellerfirma, Bayer AG, hat das Gift zeitweilig vom Markt genommen; die Anwendung wurde schließlich verboten. Der Bundestag hatte sich seinerzeit mehrfach mit dem Thema beschäftigt. Die SPD wird sich dunkel daran erinnern; schließlich hat sie 1996, seinerzeit in der Opposition, einen mit unserem heutigen Antrag dem Sinn nach fast gleich lautenden Antrag gestellt, welchem die Grünen damals zustimmten. An der durch das Gift hervorgerufenen Gefährdungslage hat sich seitdem wohl nichts geändert. Dieser Ansicht sind auch Wasserversorger wie beispielsweise die Gelsenwasser AG. In einer Pressemitteilung vom 25. Oktober letzten Jahres hat sie sich klar gegen die Wiederzulassung und den Einsatz von Diuron ausgesprochen. Begründet wurde dies mit der humantoxischen Eigenschaft und den enormen Aufwendungen der Wasserwerke für die Entfernung des Giftes aus dem Grundwasser. Die hohe Bedenklichkeit von Diuron für Umwelt und Verbraucher bestätigte im Übrigen auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Sondergutachten „Flächendeckend wirksamer Grundwasserschutz“ von 1998. Die Bahn weiß natürlich ganz genau, dass ihre Argumentation, es gebe keine Alternativen zur chemischen Keule, Unsinn ist. Sowohl in der Schweiz als auch in Österreich werden die Gleise nicht mit Diuron behandelt. Mechanische Maßnahmen wie das Anpflanzen von Gräsern, die das Unkrautwachstum verhindern oder bremsen, sowie die Behandlung mit Dampf sind Beispiele alternativer Unkrautvernichtung. Eine Behandlung mit weniger toxischen Pestiziden, die nur auf die oberirdischen Teile der Pflanzen einwirken und in geringen Mengen ausgebracht werden können, wäre zwar ebenfalls denkbar, halte ich aber auch für eine schlechte Lösung. Doch bei der DB AG steht gegenwärtig das Zeichen auf Schrumpfbahn; sie will sparen. Wenn man diese Pestizide einsetzt, kann man Personal einsparen. Dies geschieht natürlich auf Kosten der Umwelt. Die Rosskur zulasten von Umwelt und Gesundheit rechnet sich besser. Wir fordern deshalb in unserem Antrag die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass die entsprechenden Bundesanstalten und Institute sowie das Umweltbundesamt eine Wiederverwendung der Pflanzenschutzmittel mit dem Wirkstoff Diuron untersagen. Darüber hinaus sollen ähnliche Totalherbizide, die über Abschwemmungen die Gewässer belasten, für Kleinanwender und die Anwendung auf nicht landwirtschaftlich genutzten Freiflächen verboten werden. Im Übrigen hat Umweltminister Schnappauf aus Bayern, CSU, diese Forderung auch schon gestellt. Dazu gab es vorige Woche eine Presseerklärung. Die Kollegen nicken, das heißt, wir könnten hier im Bundestag gemeinsame Sache hinsichtlich des Verbots von Pestiziden machen. Das wäre eine tolle Sache. ({1}) Darauf, der tatsächlichen Vorsorge im Verbraucherschutz mehr Beachtung zu schenken, sollten wir uns in diesem Hause auch angesichts der BSE-Krise wohl einigen können. Die Vorsorge gehört wirklich dazu. Sie wurde von meiner Vorrednerin klein geredet; ich denke aber, das ist eine ganz wichtige Sache. ({2}) Ein Verbot dürfte wohl nicht übermäßig schwer fallen; denn die jetzige Regierung bräuchte nur bei ihrer Position aus der letzten Legislaturperiode zu Diuron und die damalige Regierung bei ihrem seinerzeit vollzogenen Anwendungsverbot zu bleiben. Danke. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Uli Höfken.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe aus der Debatte einen sehr widersprüchlichen Eindruck gewonnen. Dies bezieht sich sowohl auf den Redebeitrag von Frau Lengsfeld als auch auf den von Frau Sehn. Bei Frau Lengsfeld hatte man den Eindruck, als sei die Frage umweltbedingter Krankheiten eine Erfindung einiger spinnerter Grüner. ({0}) Aber blind Fortschrittsgläubige oder Technokraten werden immer erst im Krisenfall nachdenklich. Auf Frau Lengsfeld allerdings trifft offensichtlich nicht einmal dies zu. Der damals übrigens sehr umstrittenen Aussage von Andrea Fischer in der letzten Bundestagsdebatte zu diesem Thema - das war im Frühjahr 2000 - würde heute wahrscheinlich jeder in diesem Hause zustimmen. Damals sagte sie: Es besteht inzwischen auch weitgehend Konsens darüber, dass die heutige Form der Lebensmittelproduktion im Hinblick auf Umwelt und Gesundheit Anlass zur Sorge bereitet. Eines unserer Ziele ist daher, ein integriertes Konzept zur Verbesserung der Lebensmittelqualität und -sicherheit zu entwickeln, das auch eine verstärkte Förderung des ökologischen Landbaus zum Inhalt haben sollte. Von Ihnen viel kritisiert. Nicht nur BSE, sondern auch viele andere Beispiele zeigen, dass Erkenntnisse über gesundheitsgefährdende Umweltfaktoren oft erst dann ernst genommen werden, wenn bereits Gesundheitsschäden entstanden sind. Deshalb muss für die Politik der Vorsorgeaspekt in Zukunft stärker in den Vordergrund gestellt werden. Ich kann Ihre Ausführungen zu diesem Punkt, Frau Sehn, nicht nachvollziehen. Sie sehen Vorsorge als staatliche Bevormundung. Ich meine, dies kann nur ein Plädoyer dafür sein, dass wieder einmal alles so bleibt, wie es ist. ({1}) Ich möchte noch einmal an die Asbestproblematik erinnern. Es hat ewig und drei Tage gedauert, bis Asbest vom Markt genommen wurde. Heute laborieren wir noch immer an den wirtschaftlichen und gesundheitlichen Schäden durch diese Nichtwahrnehmung von Vorsorge herum. ({2}) Ich denke, das ist doch auch im Sinne der Wirtschaftlichkeit eines ganzen Landes kontraproduktiv, sodass man eine solche Argumentation nicht ernsthaft betreiben kann. Gleiches betrifft das Holzschutzmittel Lindan und DDT. In diesem Zusammenhang sind auch die antibiotischen Leistungsförderer zu nennen. Was haben wir im Gesundheitssystem aufgrund von Zulassungen solcher Produkte für Probleme! Es ist doch klar: Bei den komplexen Systemen, die wir im Bereich der Chemie und der Lebensmittelproduktion haben, werden wir niemals sagen können: Die Wissenschaft hat sich hier eindeutig festgelegt. - Es wird immer einen Abwägungsprozess geben. Es ist unser Ansinnen, mit dem Antrag „Umwelt und Gesundheit“ aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und andere Bewertungsweisen, die vorausschauend wirken und damit kostensparender sind, künftig in Angriff zu nehmen. Das ist unser Anliegen und der zentrale Punkt dieser Initiative. ({3}) Nachsorge ist letztlich immer teurer als Vorsorge. Wir müssen deshalb von einer kurzfristigen und nachsorgenden Krisenbewältigungspolitik wegkommen. Was wir brauchen, sind langfristig tragfähige und vorsorgende Konzepte für eine gesunde Umwelt, die nicht krank macht. Die Regierungsfraktionen von SPD und Grünen haben daher einen Antrag mit konkreten Vorschlägen eingebracht, der das Programm „Umwelt und Gesundheit“ vom Umwelt- und vom Gesundheitsministerium und vom der Bundesregierung unterstützt und auf einen Ausbau drängt. Die Eckpunkte unseres Antrages sind schon erwähnt worden; Frau Müller hat sie ausführlich dargestellt. Ich will nur kurz sagen: Die Sammlung und Bewertung aller fachlichen Informationen sowie die Schaffung fundierter fachlicher Grundlagen für umweltbedingte Krankheiten ist schon in Angriff genommen. Aber man muss sehen, dass ein solches Projekt erstmalig ins Leben gerufen wird. Wir haben noch keine Daten. Das zeigt, wie weit wir im Grunde zurückliegen. Es ist eine große Aufgabe, ein Umwelt-Gesundheits-Surveillance-System überhaupt erst einmal aufzubauen. Der nächste Punkt ist die Überprüfung und Verbesserung bestehender Verfahren der Risikobewertung und Standardsetzung. Es ist auch von Frau Müller erwähnt worden, dass Kinder, schwangere Frauen, ältere und kranke Menschen bislang völlig unzureichend in die Bewertung einbezogen werden. Wir haben jetzt in Frankfurt und auch in Rheinland-Pfalz das Problem des US-Housing. Es gibt bestimmte Belastungen aus Wohngiften, die die Menschen heute genauso wie vor vielen Jahren betreffen. Es gibt bis heute kein Standardverfahren zur Bewertung der gesundheitlichen Schäden; das wird Pi mal Daumen gemacht. In Frankfurt gibt es ein städtisches Amt, das einen Versuch in die richtige Richtung macht. Aber es gibt keine gesicherten Grundlagen. ({4}) Weiterhin geht es um die Verbesserung von Diagnose und Therapie in der Umweltmedizin. Das heißt, mehr Forschungsmittel sollen für die Charakterisierung umweltassoziierter Krankheiten und Symptomenkomplexe, die wie MCS schwer zu erfassen sind, ausgegeben werden. Ein Frühwarnsystem soll rechtzeitig auf Gesundheitsgefahren durch Umwelteinflüsse hinweisen. Vorsorgeaspekten muss Vorrang eingeräumt werden. Das bedeutet die Umsetzung konkreter vorbeugender Maßnahmen in der Umwelt- und Gesundheitspolitik. In der Lebensmittelproduktion wird das konsequent angegangen. Ich bin froh, dass wir uns der Konkretisierung von Maßnahmen stark annähern. Aber auch in anderen Themenbereichen sind Maßnahmen nötig. Das betrifft Außenluft und Klima, Innenluft und Bauprodukte, Wasserressourcen und Böden, Kleidung und Textilien, Autolärm, Fluglärm, Discolärm - ich rede von Hörschäden, die bei Jugendlichen auftreten -, Stoffe, Zubereitungen und Produktionsprozesse, wie bei den hormonartigen Stoffen, ionisierte und nicht ionisierte Strahlen. ({5}) - Das Rauchen will ich um Gottes Willen gar nicht ausschließen. Das habe ich unter Tabak und Lebensmittel gefasst. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Gesundheit von Kindern. Wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht die Kranken von morgen sind. Dabei sind sie durch Umwelteinflüsse stärker gefährdet und belastet als Erwachsene. Ich bin mir sicher, dass sich dieser Aufgabe alle Fraktionen des Bundestages stellen werden. Ich hoffe, dass wir in Fragen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes künftig mit einer breiten Mehrheit zusammenarbeiten können. Danke schön. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Bernward Müller.

Bernward Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003194, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vor fast einem Jahr hob die damalige Gesundheitsministerin Frau Fischer gleich zu Beginn der Debatte zum Thema Umwelt und Gesundheit die Wichtigkeit einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit hervor. Leider - darin muss ich Ihnen, Frau Staatssekretärin, widersprechen - haben wir im vergangenen Jahr von dieser Zusammenarbeit nichts bemerkt. ({0}) Im Gegenteil, eines hat die BSE-Problematik deutlich gemacht: Von einer Zusammenarbeit und Abstimmung der Ministerien in Sachsen Verbraucherschutz kann weiß Gott keine Rede sein. Eine Abstimmung ist aber dringend notwendig, um die anstehenden Probleme im Bereich Umwelt und Gesundheit zu lösen. ({1}) Lassen Sie mich etwas zum Arbeitstempo dieser Regierung anmerken. Frau Fischer sprach sich am 24. Februar 2000 dafür aus, in Kürze eine Ad-hoc-Kommission aus hochrangigen Experten einzusetzen, die sich mit bestehenden Verfahren der Risikobewertung auseinander setzen sollte. Die Kommission wurde per Ministererlass am 6. Oktober konstituiert. Eine erste fachliche Sitzung fand im Dezember letzten Jahres statt - mehr als zehn Monate nach der vollmundigen Ankündigung der damaligen Frau Ministerin. Das also bedeutet „ad hoc“ oder „in Kürze“. Aber diese besondere rot-grüne Zeitrechnung ist uns spätestens seit dem „sofortigen Atomausstieg“ bekannt. ({2}) Diese so genannte Risikokommission - sie soll sage und schreibe viermal jährlich tagen - existiert nun tatsächlich. Aber einmal ganz ehrlich: Hat jemand von Ihnen davon schon einmal Notiz genommen? Jetzt sind wir bei einem anderen Punkt: Frau Müller Sie haben es hier sowie bei einer früheren Debatte im Ausschuss angesprochen -, Sie haben damals ein aktives Informationsmanagement gefordert. Ich frage mich auch hier: Wo bleibt die Umsetzung? Sie hatten unseren Antrag mit der Begründung abgelehnt, es fehle der gesellschaftliche Dialog. Ich will Ihnen sagen: Wir brauchen ein kommunikatives Beiwerk dieser Art in unserem Antrag nicht; denn für uns sind Transparenz und Information selbstverständlich. ({3}) Wir müssen nicht erst mit Worten Worte ankündigen, wie Sie das bei Ihrer Politik in schöner Regelmäßigkeit tun. Wir sind mit den Menschen im Dialog, ob Ihnen das passt oder nicht. Ich habe den Eindruck, Sie fühlen sich in einer medienwirksamen populistischen Ankündigungspolitik wohl. Werden Sie aber zum Handeln gezwungen, produzieren Sie unkoordinierte Schnellschüsse oder bewegen sich im Schneckentempo. Das Gutachten des Rates der Sachverständigen für Umweltfragen ist eine ausgezeichnete Grundlage für unsere politische Arbeit. Den Gutachtern gilt mein Dank für die wertvollen Informationen. Insbesondere die Ausführungen über die Gefährdungspotenziale von Allergien, Lärmeinwirkungen, endokrinen Stoffen und ultravioletten Strahlen verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. Ich habe den Eindruck, dass die derzeitige BSEDebatte diese Risiken überschattet und eine notwendige handlungsorientierte Diskussion darüber erstickt. Um einmal die Dimension deutlich zu machen: Wir wissen noch zu wenig über die Folgen von BSE für die menschliche Gesundheit, um fundiert abwägen zu können. Sicher ist aber, dass sich immerhin 70 Prozent der deutschen Bevölkerung durch Straßenverkehrslärm beeinträchtigt fühlen und etwa ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung unter allergischen Symptomen leidet. Es ist höchste Zeit, eine überlegte und auf rationalen Kriterien beruhende Umweltpolitik anzugehen. ({4}) Gestatten Sie mir ein paar mit Rücksicht auf meine Redezeit kurze Ausführungen zum Thema Allergien. Die Zahl der allergischen Erkrankungen hat in den letzten Jahren stark zugenommen und der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. Auch wenn belegt ist, dass Allergien eine genetische Bedingung haben können, sind Wechselbeziehungen zwischen Allergien und Umwelteinflüssen unbestritten. In den Jahren nach der Wiedervereinigung hat sich die Allergiehäufigkeit in den neuen Bundesländern der in den alten Bundesländern angeglichen. Bislang ist die Ursache für diese Entwicklung noch ungeklärt. Obwohl die allergenen Eigenschaften bestimmter Stoffe mittlerweile gut belegt sind, bestehen noch erhebliche Lücken bei den Erkenntnissen über die Wirkungsmechanismen und die Dosis-Wirkung-Beziehungen. Hier gibt es noch erheblichen Forschungsbedarf, zum Beispiel auch im Hinblick auf die Immunisierung von Kleinkindern gegen Allergien. Mit Blick auf die Schwere allergischer Erkrankungen und die wachsende Zahl von Allergikern besteht dringender Handlungsbedarf bei den Maßnahmen zur Vorsorge. Ziel der Maßnahmen muss es sein, erstens die Erkennung, Kennzeichnung und Minimierung Allergie auslösender Umweltfaktoren zu befördern, zweitens dem Anwachsen der Risikopopulation Allergiker entgegenzuwirken und drittens das Fortschreiten bzw. die Chronifizierung der Erkrankungen zu verhindern. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie sind als Sachwalter einer neuen ökologischen Politik angetreten. Sie haben Ihren Wählerinnen und Wählern versprochen, alles besser als die frühere CDU geführte Bundesregierung zu machen. Doch was machen Sie wirklich? - Man kann sagen: Viel Lärm um nichts! ({5}) Dort, wo Sie handeln könnten, lenken Sie mit Alibiveranstaltungen von Ihrer Untätigkeit ab. Was haben Sie bislang Konkretes erreicht? Frau Müller, ich beziehe mich auf das, was Sie vorhin zum Aktionsprogramm gesagt haben. Ein Aktionsprogramm in die Welt zu setzen kann doch nicht alles sein, zumal es, wie mein Kollege Dr. Klaus Lippold schon letztes Jahr anhand einer Synopse nachgewiesen hat, von Frau Dr. Merkel mehr oder weniger abgeschrieben ist. Nein, stattdessen schädigen Sie mit Ihrer Art, Politik zu betreiben, sogar die Menschen, die auf Sie gebaut haben. Ich erinnere nur an die Pseudokrupp-Debatte, die Sie anheizten, als Sie noch nicht gegen Kernkraftwerke waren. ({6}) Kaum hatten Sie mit der Atomenergie ein gutes Thema gefunden, um die Ängste der Menschen für Ihre Politik zu mobilisieren, war aus Ihren Reihen keine Stimme mehr dazu zu hören. Ich sage Ihnen: Sie betreiben Stimmenfang und verwechseln dies mit einer modernen Politik. Kehren Sie zu einer vernünftigen Umweltpolitik um! Wir sollten bei der ganzen Diskussion aber nicht vergessen, dass Deutschland über ein hohes Schutzniveau verfügt. Die Koalition wirft uns zwar immer Untätigkeit vor. Aber eines ist offensichtlich: Noch heute profitieren wir von den Ergebnissen der Umweltpolitik der früheren Bundesregierung unter Dr. Helmut Kohl. ({7}) Die Belastung der Bevölkerung ist erheblich verringert worden, wenn man sich die Schadstoffkonzentrationen anschaut. Die Konzentrationen von Kohlenmonoxid, Schwefeldioxid, Benzol, Schwermetallen wie Blei und Giften wie Quecksilber und Arsen sind deutlich - um über 70 Prozent - gesenkt worden. Das ist ein großer Fortschritt. Ich frage Sie: Was haben Sie außer den unsäglichen Debatten über Ökosteuer und Atomausstieg vorzuweisen? ({8}) Wir brauchen eine Politik, die weder verharmlost noch hysterische Ängste erzeugt. Wenn wir die im Sondergutachten angesprochenen Probleme lösen wollen, müssen wir eine überlegte, auf rationalen Kriterien beruhende Umwelt- und Gesundheitspolitik betreiben. Dazu dient unser Antrag. Ich fordere Sie auf, dies gemeinsam mit der CDU/CSU-Fraktion zu realisieren. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Michael Müller von der SPD-Fraktion das Wort.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Sehn, ich möchte - direkt auf Sie eingehen. Sie, die F.D.P., hatten einmal einen Innenminister in Ihren Reihen, der nicht zu Unrecht als Vorreiter beim Umweltschutz dargestellt wird, nämlich Herrn Baum. Der wichtigste Satz in fast jeder Rede von Herrn Baum war: Wir brauchen einen vorsorgenden Umweltschutz. - Was ist eigentlich schlechte oder gute, was ist eigentlich berechtigte oder unberechtigte Vorsorge? Das ist mir nicht klar. Was sind denn dafür Ihre Kriterien? Ich sage Ihnen: Zwischen der Umweltpolitik und der Gesundheitspolitik gibt es viele Parallelen. Aus der Umweltpolitik wissen wir, dass Reparatur, also Nachsorge, viel teurer als vorsorgender Schutz ist. Genau dasselbe gilt für die Gesundheitspolitik. ({0}) Sie müssen mir einmal erklären, was an Vorsorge so falsch ist. Mir ist das nicht klar. Damit zwischen uns keine Missverständnisse entstehen: Mit solchen Fragen wird immer Schindluder getrieben. Aber wenn Schindluder getrieben wird, dann hat das meistens ein Vorspiel. Die BSE-Geschichte macht das deutlich. Über lange Zeit sind bestimmte Gefahren verharmlost worden. Dann kam ein Bruch und die Vertrauenskrise war umso tiefer. Dass dann zum Teil nicht ganz rationale Reaktionen entstanden sind, ist verständlich. Aber das Problem war nicht die Reaktion, sondern die Vorgeschichte. Bei der Gesundheitspolitik ist es ähnlich: Es gibt seit Jahren zunehmend Warnungen, dass sich die Krankheitsbilder verschieben und dass insbesondere umwelttoxikologische Einflüsse eine erhebliche Rolle spielen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau Kollegin Sehn? Bernward Müller ({0})

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja bitte, klar.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Sehn.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte Sie nach etwas aus dem Bereich der Gesundheitspolitik fragen. Wir wissen relativ viel darüber, was das Rauchen anrichten kann. Da Sie so großen Wert auf eine vorsorgende Gesundheitspolitik legen, möchte ich Sie fragen: Wollen Sie das Rauchen verbieten? ({0})

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben eine unglaubliche Fähigkeit, mit Schwarz-Weiß-Kategorien zu argumentieren. Um es deutlich zu sagen: Ich habe in meinem Leben noch nie geraucht; insofern treffen Sie mich nicht und sprechen mit mir an diesem Punkt den Falschen an. Ich habe ein einziges Mal eine Zigarette im Mund gehabt, um als 14-Jähriger in einen Film ab 16 zu kommen. Das war das einzige Mal überhaupt, dass ich geraucht habe. ({0}) - Es ist wahr, nach der gestrigen Debatte muss man mit solchen Aussagen vorsichtig sein. - Aber daraus eine solche Schlussfolgerung zu ziehen verstehe ich nicht. Es geht um etwas anderes: Es geht doch darum, dass es heute eine solche Zunahme der Anzahl von chronischen Komplexkrankheiten gibt, dass unser traditionelles kuratives System an Grenzen stößt. Also muss man in der Gesundheitspolitik zu anderen Mechanismen kommen, die sehr viel früher einsetzen, die sozusagen die Krankheit vor der Krankheit verhindern. Frau Sehn, ich kann Sie überhaupt nicht verstehen. Sie sprechen bei jeder Gelegenheit von individueller Verantwortung. Vorsorge ist ein klassischer Bereich individueller Verantwortung. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Müller, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage von Frau Sehn?

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Sehn.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Müller, es freut mich sehr, dass wir beide Nichtraucher sind. Ich möchte Ihnen eigentlich nur sagen, was für mich Eigenverantwortung der Menschen bedeutet, gerade wenn man um die Risiken einer Sache weiß. Ich glaube, Sie haben meine Frage eben nicht so recht verstanden. Vielleicht sollten wir darüber nach dem Plenum unter vier Augen weitersprechen.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube schon, dass ich Ihre Frage verstanden habe. Mir ist klar, dass keine Industriegesellschaft ohne Risiko auskommt. Aber die Kernaufgabe der Politik besteht darin, Risiken so gering wie möglich zu halten. Insofern habe ich Ihre Frage sehr wohl verstanden. ({0}) Ich glaube nur, dass die von Ihnen aufgebaute Argumentation, Vorsorge sei Hysterie und daher ein Überziehen, falsch ist. ({1}) - Doch, das haben Sie vorhin gesagt. ({2}) Zu einer modernen Umweltpolitik gehört - genauso wie zu einer modernen Gesundheitspolitik -, so viel wie möglich dafür zu tun, dass Schäden gar nicht erst eintreten. Das ist der eigentliche Kern von Umwelt- und Gesundheitspolitik. ({3}) Auch aus einem anderen Grund ist es für mich sehr wichtig, den Vorbeuge- und Vorsorge-Gedanken zu stärken. Laut einer Erhebung aus den USA hat sich, seitdem es Informationssysteme gibt, mit denen man gesundheitspolitische Fragen über das Internet direkt abrufen kann, in den letzten drei Jahren die Anzahl der Patientennachfragen pro Jahr verzehnfacht. Das heißt, wir erleben eine Veränderung im Verhältnis zwischen Gesundheitsberatung und Patient. Das ist ein weiterer Grund, warum wir politische Weichen stellen müssen, damit kein Schindluder getrieben wird. Mir ist sehr wohl klar, dass dies in diesem Zusammenhang geschehen kann. Gerade deshalb haben wir die Pflicht, durch Umsteuern im Gesundheitssystem einen vernünftigen Rahmen zu setzen. Darum geht es. ({4}) Ich bin 1983 in den Bundestag gekommen. Eine meiner ersten Aktivitäten bestand darin, seit 1985 Anfragen zum Thema Allergie zu stellen. Ich kann Ihnen hier ein Lied davon singen, wie sehr man damals als Außenseiter und Spinner abgetan worden ist. Seinerzeit sagte man, die Leiden seien genetisch bedingt. Heute würde das niemand mehr behaupten. Hätte man früher darauf geachtet, dann hätten wir vielen Entwicklungen eher gegensteuern können, als es heute der Fall ist. Nach einer Schätzung des Düsseldorfer Instituts Med-Plus leiden 25 Millionen Bundesbürger an chronischen umweltbedingten Krankheiten. Das ist mittlerweile eine dramatische Zahl. Selbst die Betriebskrankenkassen beziffern die Zahl der an Allergien Erkrankten auf 14,3 Millionen. Das sind Alarmsignale, zumal solche chronischen Krankheiten oftmals Türöffner für schwerwiegendere Erkrankungen sind, die das Gesundheitssystem sehr teuer zu stehen kommen und überdies viel menschliches Leid hervorrufen. Wer das nicht will, muss früher, also präventiv ansetzen. ({5}) Insoweit gibt es zwischen der Debatte über BSE und dem jetzt von uns diskutierten Thema sehr wohl einige Zusammenhänge. Bei allen diesen Fragen ist es in einer hochkomplexen Industriegesellschaft mit sehr verfestigten Standesorganisationen unglaublich schwierig, die Strukturen zu verändern und umzusteuern. Wir haben lange Zeit erlebt, wie auch die traditionellen Organisationen im Gesundheitssystem alles abgetan haben, was mit dem Thema „umweltbedingte Krankheiten“ zu tun gehabt hat. Wir haben vor einer solchen Sichtweise gewarnt, denn sie ist falsch. Man muss beim Entstehen von Krankheiten nicht nur den Ausbruch der Krankheiten, sondern auch das soziale und ökologische Umfeld sehen. Es ist immer eine Vielzahl von Faktoren für Krankheiten verantwortlich. Das hat nun das Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen sehr präzise und auch sehr überzeugend herausgearbeitet. Deshalb haben wir hier die Chance, in einer wichtigen Frage ein Stück voranzukommen, bei der wir immer deutlicher die Grenzen des traditionellen Gesundheitssystems sehen, das nämlich erst dann einsetzt, wenn Krankheiten ausgebrochen sind. Vor allem sehe ich die Verschlechterung des Immunstatus bei einem großen Teil der Bevölkerung mit Sorge. Der Hinweis auf die Verschlechterung des Immunsystems ist ein Zeichen dafür, dass sich die Gesundheit des Menschen insgesamt verschlechtert oder dass die Menschen immer häufiger zwar nicht krank, aber auch nicht richtig gesund sind. Deshalb ist ein Umsteuern auf eine Stärkung der Körperabwehr und auf vorsorgende und vorbeugende Maßnahmen die richtige Antwort, übrigens auch langfristig für die Verbesserung der Innovationsfähigkeit unseres Gesundheitssystems. Das rein kurative System gerät an Grenzen. In Zukunft wird es sehr viel stärker um Gesundheitsförderung gehen. Das ist jedenfalls unser Ansatz, meine Damen und Herren. ({6}) Ich sage das übrigens auch aus einem anderen Grund, der mir ebenfalls Sorgen bereitet: Die Zahl der Menschen, die angeblich „austherapiert“ sind, denen man im Rahmen des kurativen Systems nicht mehr helfen kann, wird mittlerweile auf fast 2 Millionen geschätzt. Das bedeutet viel menschliches Leid, das nicht zu akzeptieren ist. Auch deshalb brauchen wir hier sehr viel früher ansetzende Hilfen. Meine Damen und Herren, die Diskussion über Umwelt und Gesundheit bietet die Chance, in einem auch volkswirtschaftlich sehr wichtigen Sektor frühzeitig Innovationen anzuregen und Modernisierungsprozesse in Richtung auf eine Verbindung von moderner Wissenschaft und, wie ich es nennen würde, fürsorglicher Medizin einzuleiten. Diese Verbindung scheint mir sehr zukunftsfähig zu sein. Ich glaube nicht, dass die Zukunft im Einkaufen von immer weiteren hoch komplizierten Medizintechniken liegt. Es wird nur ein Schuh daraus, wenn wir Medizintechniken mit fürsorglichen, ganzheitlichen Systemen verbinden. Dies ist High-Tech und High-Care. ({7}) Daher bitte ich darum, dass wir vor dem Hintergrund der Diskussionen der letzten 15 bis 18 Jahre, in denen wir auf diesem Feld leider nur wenig vorangekommen sind ({8}) - doch, das ist so -, diese Debatte als Chance begreifen, auch als Chance für mehr Arbeitsschutz, für mehr Umweltschutz, ({9}) für eine Verbindung von moderner Wissenschaft und Umweltpolitik, für eine Verbesserung der Ausbildung in der Umweltmedizin usw. Ferner sollten wir aufhören, bestimmte Krankheiten nur deswegen, weil sie anders und schwer zu fassen sind, gleich in die Ecke des Spinnertums zu stellen, wie es beispielsweise bei MCS getan wird. ({10}) Es ist ein ernsthaftes Problem. Wir müssen uns auch ernsthaft mit diesen Fragen auseinander setzen. Die Zukunft liegt in der Chance, Gesundheit zu fördern. Sollten wir das gemeinsam tun, haben wir auch die Lektion BSE begriffen. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Wir beginnen mit Tagesordnungspunkt 5 a, der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/3712. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2767 mit dem Titel: Umwelt und Gesundheit. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des Sondergutachtens des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen mit dem Titel „Umwelt und Gesundheit - Risiken richtig einschätzen“ - Drucksache 14/2300 -, den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/2771 ({0}) zu diesem Sondergutachten abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Michael Müller ({1}) Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c, in Kenntnis des Berichts gemäß § 56 a der Geschäfts- ordnung auf Drucksache 14/2848 mit dem Titel: Technik- folgenabschätzung - hier: „Umwelt und Gesundheit“ die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Be- schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- tionen, der PDS und der F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 5 b. Interfraktio- nell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksa- che 14/4710 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- den? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis c auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens ({2}) - Drucksache 14/5068 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 und die Erleichterung seiner Anwendung - Drucksache 14/5011 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({4}) Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung - Drucksache 14/5012 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({5}) Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zur Verwendung uranhaltiger Munition im Rahmen von NATOKampfeinsätzen Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner und Antragsteller hat der Kollege Roland Claus von der PDSFraktion das Wort.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Vorfeld dieser aktuellen Debatte wurden wir gefragt, was die Fraktion der PDS wohl mit dieser Debatte bezweckt. Ich will Ihnen das beantworten. Wir wollen ausdrücklich die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Wirkungen von uranhaltiger Munition. Wir wollen, dass über dieses Thema nicht nur in nicht öffentlichen und von Militärs dominierten Beratungen verhandelt wird. Es geht uns ausdrücklich auch um die damit verbundenen Wirkungen und Gefährdungen für die Zivilbevölkerung und die Soldaten. ({0}) Es ist deshalb notwendig, das hier zu sagen, weil zivile Opfer in der Logik von Militärs leider oftmals gar nicht vorkommen. Wir wollen wissen: Wurden diese Gefährdungen durch uranhaltige Munition in Verantwortung dieser Bundesregierung wissentlich in Kauf genommen? Ich denke, es wird Ihnen nicht entgangen sein, dass die PDS-Fraktion dazu seit langem eine Reihe von Anfragen an die Bundesregierung gerichtet hat. Wir haben dieses Thema also nicht erst gestern entdeckt. Diese Anfragen und die entsprechenden Antworten waren auch einige der Quellen von Veröffentlichungen. Sie werden nun sagen: Aufklärung wollen alle. Das geht ja auch in Ordnung. Wir unterstellen Ihnen nicht, dass Sie das nicht wollten. Insofern sollten auch Sie uns nicht unterstellen, dass wir daran kein Interesse hätten. Im Übrigen denke ich, dass für die Sparte Legenden und Mythen - ich erinnere Sie nur an Racak und den Hufeisenplan - andere zuständig sind. ({1}) Wenn Sie uns allerdings unterstellen, dass die PDS mehr will als die Aufklärung in Einzelfragen, dann kann ich Ihnen dazu nur sagen: Damit liegen Sie ausVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms drücklich richtig. Die PDS will den Krieg als Mittel zur Lösung von Konflikten ächten und ausschließen. Es bleibt bei einem klaren Nein zum Krieg. ({2}) Am 17. Januar 1991, also gestern vor zehn Jahren, wurde der Golfkrieg begonnen. Es wurde uranhaltige Munition verwendet. Danach entstand etwas, das in der Sprache der Fachleute den Begriff „Golfkrieg-Syndrom“ erhielt. Wenngleich auch nicht alle diese Gefahren aufgeklärt sind, muss zumindest eins klar sein: Die Gefahren waren potenziell vorhanden. Die Warnungen und Mahnungen von Forschern auch aus der OSZE wurden aber in den Wind geschlagen. Man hätte in der Politik in einer solchen Situation immer zwei Möglichkeiten gehabt. Man hätte zum einen sagen können: Solange diese Risiken bestehen und solange dies nicht aufgeklärt ist, wird es keinen weiteren Einsatz geben. Diese Erkenntnis hätte das Europäische Parlament, das gestern mit mehr als Zweidrittelmehrheit so beschlossen hat, schon früher haben können. Es hätte zur Ächtung dieser Waffen kommen können. ({3}) Stattdessen ist diese Bundesregierung an einem Vorgang beteiligt, den man wie folgt beschreiben muss: Erstens, weiter diese Munition verschießen; zweitens, ihre Wirkungen verschweigen; drittens, erst unter öffentlichem Druck untersuchen. ({4}) Sprache ist ja zuweilen entlarvend. Nehmen wir doch einmal diesen Begriff, mit dem jetzt operiert wird, der da heißt: abgereichertes Uran - abgereichert, wie Minuswachstum. ({5}) Das hört sich nicht so schlimm an. Aber ich will Ihnen eins sagen: Aus der Physik - man könnte denken, dass der Begriff daher kommt - stammt dieser Begriff nicht. Er ist offenbar zum Zwecke einer Informations- oder Desinformationskampagne von Militärs erfunden worden. ({6}) Deshalb muss man bei dieser Frage auch über Informationspolitik oder besser über Desinformationspolitik reden und über den Umgang mit der Wahrheit. Lange hat sich die Bundesregierung an der Verbreitung der Überlegung mitbeteiligt, hier gäbe es keine Gefahren. Ich will auf den Widerspruch hinweisen. Sie haben auf der einen Seite gesagt: Die Sache ist gefahrlos, und haben auf der anderen Seite bereits Schutzmaßnahmen eingeleitet. So, wie Sie in Nibelungentreue die deutsche Kriegsbeteiligung beschlossen haben, so haben Sie auch in Nibelungentreue die Verwendung der uranhaltigen Munition akzeptiert. ({7}) Das ist alles andere als Bündnispolitik auf gleicher Augenhöhe. Das ist offenbar eine Sicht, die bei den US-Militärs und den dortigen Regierungen vorherrscht und die man so beschreiben könnte: Wie viel müssen denn die lieben Kleinen in Europa wissen und wie viel müssen sie nicht wissen? In einer solchen Situation hat eine Bundesregierung immer zwei Möglichkeiten: zu sagen, man lässt sich so etwas bieten - dann wird man weiter so behandelt und nicht auf gleicher Augenhöhe akzeptiert -, oder zu sagen, man lässt sich so etwas nicht bieten. Das wäre der richtige Weg gewesen. ({8}) Selbst in der ARD wurde gestern darüber gesprochen, dass Deutschland wie drittklassige Verbündete informiert würde. Nun tritt der Bundesverteidigungsminister die Flucht nach vorn an, bestellt den Geschäftsträger der US-Botschaft ein und versucht, den schwarzen Peter weiterzugeben. Insofern kann man sagen, dass die Militärs offenbar zwei Hauptfeinde haben: zum einen die Friedensbewegung und zum anderen die Öffentlichkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Claus.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Die PDS-Fraktion schlägt Ihnen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Aufklärung der Folgen des Einsatzes uranhaltiger Munition vor. Wir haben einen entsprechenden Einsetzungsbeschluss ausgearbeitet. Wir werden ihn vor der Einreichung den anderen beiden Oppositionsfraktionen zuleiten und sie fragen, ob sie den Vorschlag unterstützen wollen. An dem Fragenkatalog der CDU/CSU habe ich gesehen, wie viele Fragen und welche Erwartungen noch bestehen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte jetzt zum Schluss.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie damals für den Einsatz gestimmt haben,-

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, Sie müssen jetzt Ihren Beitrag beenden, Sie haben schon mehr als eine Minute überzogen.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bin bei meinem Schlusssatz. - Da ich Ihnen nicht unterstelle, dass Sie das leichtfertig getan haben, würde ich jetzt gerne wissen, was in Ihnen vorgeht und ob ein Umdenken stattfindet. Die Bundesregierung fordere ich auf, der Öffentlichkeit zu sagen: Es war falsch, sich an diesem Krieg zu beteiligen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Peter Zumkley von der SPD-Fraktion das Wort.

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die derzeitige zuweilen aufgeregt und auch emotional geführte Debatte wird von einigen so geführt, als wäre diese Munition erst im Kosovo zum Einsatz gekommen und nicht schon früher. Gerade auch nach dem, was wir gerade gehört haben, habe ich den Eindruck, dass gelegentlich politische Interessen verfolgt werden, die mit der eigentlichen Sache nichts zu tun haben. ({0}) Auf Anfragen meines Kollegen Georg Pfannenstein aus den Jahren 1995 und 1997 hat die damalige Regierung mitgeteilt, dass keine Gefährdung von uranabgereicherter Munition ausgeht. Umso verwunderlicher finde ich die jetzigen Vorwürfe gegen den Bundesminister der Verteidigung. Er hat seit dem Frühjahr 1999 den Verteidigungsausschuss fortlaufend über den Einsatz uranabgereicherter Munition und die von ihr möglicherweise ausgehenden gesundheitlichen Gefährdungen informiert. Von mangelnder Informationspolitik zu sprechen ist schlichtweg falsch. ({1}) Er hat im Juni 1999, schon zu Beginn des Einmarsches in den Kosovo, zusätzliche Schutzmaßnahmen erlassen, um eine Gefährdung unserer Soldaten auf dem Balkan durch diese Munition auszuschließen. ({2}) Damit hat der Minister seine Fürsorgepflicht voll erfüllt, was im Übrigen zu jeder Zeit der Fall war und ist. ({3}) Ebenfalls durch ihn wurde im Mai 1999 ein unabhängiges wissenschaftliches Institut mit der Untersuchung der Problematik von DU-Munition beauftragt. Er hat in der vergangenen Woche mit einer Gruppe namhafter unabhängiger Wissenschaftler zum Thema DU-Munition Gespräche geführt und die Öffentlichkeit über das Ergebnis unterrichtet. In der gestrigen Sitzung des Verteidigungsausschusses hat der Bundesminister wieder umfassend informiert und die Ausschussmitglieder aufgefordert, weitere Vorschläge zu den laufenden DU-Untersuchungen einzubringen. ({4}) Mir ist nicht bekannt, dass bis jetzt irgendwelche Beiträge - auch nicht von Ihnen - oder Verbesserungsvorschläge eingegangen sind, im Übrigen auch nicht im Ausschuss. ({5}) Meine Damen und Herren, bisher liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es bei Soldaten der Bundeswehr zu Erkrankungen gekommen ist, die auf den Kontakt mit uranabgereicherter Munition oder die Aufnahme von ihr abgeleiteter Substanzen zurückgeführt werden könnten. Gleichwohl unterstützen wir ausdrücklich die zurzeit laufenden nationalen und im Rahmen der NATO durchgeführten Untersuchungen. Das geringste Gefährdungsrisiko - auch die Militärs denken in dieser Frage nicht so, wie Sie glauben - für die Gesundheit der Zivilbevölkerung und der Soldaten, wenn es denn eines gibt, muss umfassend untersucht werden. Dies gilt auch für die Problematik, dass in diesem Zusammenhang angeblich sehr geringe Bestandteile von Plutonium verwendet wurden. Die wissenschaftlichen Untersuchungen sind eingeleitet. Wir begrüßen sie. ({6}) Zurzeit wird DU-Munition von den Verbündeten nicht eingesetzt. Darüber sind wir alle froh. Dies entspricht faktisch dem von uns angestrebten Moratorium und dem Verzicht auf diese Munition. Die Bundeswehr hat und braucht diese Munition nicht. Wir befürworten die gemeinsam mit anderen NATO-Partnern durchgeführte Initiative der Bundesregierung, auf Besitzer von uranabgereicherter Munition einzuwirken, damit diese zukünftig auf deren Einsatz verzichten. ({7}) In jedem Fall geht es um den Schutz der Soldaten und der Zivilbevölkerung gleichermaßen. Beide sind vor eventuellen Folgewirkungen von Munition und Waffen jedweder Art bestmöglich zu schützen. ({8}) In diesem Zusammenhang sollte auch der vielseitigen zivilen Verwendung von uranabgereichertem Material, zum Beispiel im Flugzeugbau, Beachtung geschenkt werden. Eventuelle gesundheitliche Schäden unserer Soldaten durch Röntgenstrahlung, die bei Erzeugung der Radarstrahlen entstehen, müssen sorgfältig untersucht werden. Die vorliegenden Studien beziehen sich auf den Zeitraum von Anfang der 70er- bis Anfang der 90er-Jahre. Die vom Verteidigungsminister in Auftrag gegebene neue Studie wird ausdrücklich begrüßt. Sie dient dazu festzustellen, ob durch mangelnden Schutz, mangelnde technische Kenntnisse oder durch Fahrlässigkeit Erkrankungen entstanden sind, die als Wehrdienstbeschädigung anerkannt werden müssten. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Sollte ein ursächlicher Zusammenhang festgestellt werden, muss den betroffenen Menschen bzw. ihren Angehörigen unverzüglich geholfen werden. Auch ist zu prüfen, ob die Radaranlagen ausreichend abgeschirmt waren und die geltenden Sicherheitsbestimmungen eingehalten wurden. Sollte dies nicht der Fall sein, ist umgehend Abhilfe zu schaffen. Wir werden dies parlamentarisch weiter mit Nachdruck verfolgen. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Anita Schäfer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In dieser Aktuellen Stunde geht es nicht nur um die Frage der Gefährlichkeit der so genannten DU-Munition und um den Umgang mit dieser Munition. Im Besonderen geht es auch um den Umgang des Verteidigungsministers mit diesem Thema, darum, ob er, der für die Soldaten und ihre Gesundheit verantwortlich ist, dieser Verantwortung gerecht wurde. Weiterhin geht es darum, ob er damit der Verantwortung gerecht wurde, die die westliche Staatengemeinschaft durch ihre Intervention im Kosovo auf sich genommen hat. Denn beileibe nicht nur die Soldaten unserer Bundeswehr sind dieser offensichtlich bis heute noch nicht richtig einzuschätzenden Gefahr ausgesetzt, sondern auch die vielen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen, die vor Ort auf dem Balkan Hilfe leisten, und vor allem auch die dortige Bevölkerung. Nach Völkermord und Vertreibung durch Milosevic müssen die Menschen erkennen, dass sie und ihre Kinder unter Umständen seit Jahren in kontaminierten Gebieten leben. Schon im März des vergangenen Jahres habe ich in der Presse auf die Verunsicherung hingewiesen, die unter unseren im Kosovo eingesetzten Soldaten herrscht. Herr Minister Scharping, damals hätte ich mir gewünscht, dass Sie sich vom amerikanischen Botschafter über die Brisanz der DU-Munition hätten unterrichten lassen - nicht erst in dieser Woche ({0}) Warum haben Sie erst jetzt den Informationsaustausch mit dem NATO-Partner forciert? Damals hätten Sie den Sachverhalt mit einer Unterrichtung durch den amerikanischen Botschafter aufklären und informieren können. Durch die gestrige Einbestellung dramatisieren Sie die Angelegenheit unnötig. Hätten Sie bei den Amerikanern früher nachgefragt, hätten Ihnen diese auch früher Auskunft gegeben. Es ist schon sehr bedenklich, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es erst der Todesfälle in den Partnerstaaten bedurfte, die mit der Uranmunition in Zusammenhang gebracht wurden, um den Verteidigungsminister - wenigstens in Grenzen - endlich wachzurütteln. ({1}) Weiterhin wird den Soldaten und der Öffentlichkeit weisgemacht, unsere Bundeswehrsoldaten seien bereits frühzeitig und ausreichend auf den möglichen Kontakt mit DU-Munition vorbereitet gewesen. Der Minister sollte sich einmal die Mühe machen, in den Web-Seiten seines eigenen Hauses zu surfen. Würde er dort die Adresse „www.bundeswehr.de“ anklicken, so würde er quasi regierungsamtlich unter dem Stichwort DU-Munition auch einen Erfahrungsbericht von Angehörigen des Diepholzer Objektschutzbataillons finden. Hier werden ausdrücklich einsatzbezogene Unzulänglichkeiten beim Umgang mit DU-Munition beklagt. ({2}) Der Bericht ist nicht etwa ein alter Hut. Er wurde erst am 29. November letzten Jahres ins Netz gestellt. ({3}) Mit anderen Worten: Die Aussagen des Verteidigungsministers waren bisher von der Wirklichkeit im Kosovo weit entfernt.Vielleicht hat er sie selbst geglaubt, was allerdings nur schwer vorstellbar ist. ({4}) - Das würde ich nicht sagen. - Immerhin kann er die vielen Berichte aus dem Sanitätsdienst nicht übersehen haben, in denen schon frühzeitig auf die Problematik aufmerksam gemacht worden ist. Auch im Verteidigungsausschuss war DU-Munition im Mai des vergangenen Jahres ein Thema. Ein Zwischenbericht, den Staatssekretär Kolbow für Juli vergangenen Jahres angekündigt hatte, hat bis vor einigen Tagen auf sich warten lassen. Es hat eine Reihe von Anfragen an die Bundesregierung gegeben. Aber die Soldaten und ihre Familien wurden in der brodelnden Gerüchteküche allein gelassen. Ich glaube nicht, dass diese Salamitaktik, die wir von Minister Scharping auch in anderen Bereichen gewohnt sind und die schon in vielen Fällen zu Unmut und zur Verstimmung auch in der Bevölkerung geführt hat, dieser sensiblen Materie gerecht wird. ({5}) Es reicht nicht aus, nur immer über das zu informieren, was aus den Medien ohnehin längst bekannt ist. Nun ist auch noch das hochgiftige Plutonium ins Spiel gekommen. Herr Minister Scharping, ich fordere Sie auf: Legen Sie endlich Zahlen, Studien und Fakten auf den Tisch! Nur so werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht. ({6}) Wenigstens in Ihrer Informationspolitik gegenüber den Soldaten, dem Parlament und der Öffentlichkeit sollten Sie nicht zu sehr an Ihrer Amtsbezeichnung kleben. Sie sollten nämlich nicht nur verteidigen, sondern auch offensiv aufklären und offensiv informieren. Hier geht es um die Gesundheit und um das Leben vieler Menschen. In Anbetracht der möglichen Gefährdung durch DU-Munition haben nicht nur unsere Soldaten, sondern auch die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen und die Bevölkerung einen Anspruch auf rückhaltlose Information und auf ungeschminkte Wahrheit. Herr Minister Scharping, es ist zwar zu begrüßen, wenn Sie nun ein Team des Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit in den Kosovo entsenden, auch wenn das für alle Beteiligten und für das Forschungszentrum selbst etwas überraschend kommt. Aber auch diese Maßnahme kommt etwas spät. Ich kann nicht die Befürchtung entkräften, dass bisher nicht alles getan worden ist, um das Wohl und die Gesundheit der Ihnen anvertrauten Soldaten mit allen Mitteln zu schützen. Aber gerade das ist das Gebot der Stunde. Unsere Soldaten und die unserer Fürsorge anvertrauten Menschen vor den möglichen Gefahren durch Informationen und durch entsprechende Maßnahmen zu schützen, muss Vorrang haben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hierbei können Sie sich zweierlei sicher sein: der Kontrolle, aber auch der Unterstützung durch die CDU/CSU-Fraktion. Danke. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Buntenbach vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Befürchtungen von Gesundheitsschäden durch Uranmunition, wie sie jetzt von Soldaten und aus der Zivilbevölkerung geäußert werden, sind nur allzu berechtigt. Die Betroffenen haben das Recht auf eine sorgfältige Untersuchung und darauf, dass schnell Konsequenzen gezogen werden. Die Öffentlichkeit hat das Recht auf eine umfassende Information. Als Allererstes muss verhindert werden, dass die Gesundheitsgefährdung durch DU-Munition noch weitere Kreise zieht. Die Reste der Munition sowie die Reste von Panzern und anderen getroffenen Zielen müssen umgehend sichergestellt und von der NATO vernünftig entsorgt werden, ({0}) und zwar überall dort, wo DU-Munition bis jetzt eingesetzt worden ist: im Kosovo, in Bosnien und im Irak. Wasser und Boden müssen in den betroffenen Gebieten auf Kontamination untersucht werden. Im Südirak spielen Kinder in ausgebrannten Panzern. Wer als Ziel des Krieges im Kosovo formuliert hat, den vertriebenen Menschen die Rückkehr zu ermöglichen, steht in der Verantwortung, sicherzustellen, dass sie nicht in kontaminiertes Gebiet zurückkehren müssen. Den Soldaten und Soldatinnen, den Polizisten und dem Zivilpersonal, aber auch der Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten muss die Möglichkeit zur Gesundheitsuntersuchung gegeben werden, auch zu kontinuierlicher Nachsorge, da Erkrankungen durch Uranmunition noch Jahre später auftreten können. ({1}) Uranmunition bedeutet eine langfristige Gesundheitsgefährdung. Die genaue Risikoanalyse, die in der Wissenschaft ja noch umstritten ist, muss ganz neu erstellt werden, wenn sich herausstellen sollte, dass Plutonium noch zusätzlich enthalten ist. Wenn der Staub, der beim Aufschlag von DU-Granaten entsteht, eingeatmet wird oder durch Wunden in den Körper gelangt, dann setzt er sich im Körper fest und entfaltet über Jahre hinweg als bleibender Strahlungsherd seine radioaktive Wirkung. Außerdem kann dieser kontaminierte Staub über Boden und Wasser in den Nahrungskreislauf gelangen. Die NATO muss offen legen, wo genau DU-Munition eingesetzt worden ist, und auch ihre Erkenntnisse über Erkrankungen und Gesundheitsrisiken auf den Tisch legen. ({2}) Die bisherige Geheimhaltungspolitik der NATO ist nicht hinnehmbar. Dass zum Beispiel noch am 15. Dezember 1997 auf einer SFOR-Pressekonferenz in Bosnien ausdrücklich betont wurde, dass in Bosnien niemals DUMunition eingesetzt wurde, ist eine Irreführung der Öffentlichkeit. Hintergrund scheinen befürchtete Regressforderungen, insbesondere von erkrankten Golfkriegsveteranen, zu sein. Handlungsleitend muss aber der Schutz der Menschen vor den langfristigen Folgen der DU-Munition sein. ({3}) Auch bezogen auf die Lagerung und Erprobung oder Transporte im Gebiet der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR brauchen wir eine umfassende Klarstellung. ({4}) Die Informationspolitik der Bundesregierung kann nicht darin bestehen, festzustellen, dass die Bundeswehr solche Munition nicht einsetzt, wenn klar ist, dass die NATOPartner es tun. Es gibt diesbezüglich langjährige - ich betone: langjährige - Versäumnisse des Bundesverteidigungsministeriums und der NATO. Frau Schäfer, es ist einfach absurd und scheinheilig, wenn man die Verantwortung für das alles allein beim jetzigen Verteidigungsminister abladen wollte. ({5}) - Wir stehen jetzt in der Verantwortung, selbstverständlich. Wir werden ihr auch nachkommen und nach vorne schauen. ({6}) Im Interesse der Zivilbevölkerung und der Soldaten sind eine zügige Aufklärung und weitere umfassende Untersuchungen notwendig. Wir wissen, dass niemandem geholfen ist, wenn das Problem heruntergespielt wird. Die Fakten müssen offen auf den Tisch, und zwar nicht erst dann, wenn sie von der Presse veröffentlicht worden sind; denn sonst wird weiteres Misstrauen genährt. ({7}) Waffen sind grundsätzlich gefährlich - und genau das ist ihr Zweck. Hier allerdings handelt es sich um Munition, die unterschiedslos auf Soldaten und Zivilisten wirkt, und zwar langfristig. Ich halte die internationale Ächtung von Uranmunition für notwendig. Ich begrüße sehr, dass sich die Bundesregierung jetzt dafür verwendet hat, dass die NATO Uranmunition in Zukunft nicht mehr einsetzt und dafür auf internationaler Ebene ein Moratorium erreichen will. Ich hoffe sehr, dass sie damit Erfolg hat. Wir werden sie jedenfalls mit allen Kräften dabei unterstützen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Günther Nolting von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Zumkley, ich stimme Ihnen zu: Bei dem Thema Uranmunition verbieten sich vorschnelle Hysterie und blinde Panikmache. Aber, Herr Kollege Zumkley, ich denke, es verbietet sich auch eine unglaubwürdige Politik der Abwiegelung. ({0}) Herr Minister, was ich in den letzten Tagen beobachtet habe, hat gewaltig mit Abwiegelungspolitik zu tun. Sie, Herr Minister, stehen im Zentrum dieser Politik. ({1}) Frau Kollegin Buntenbach, als Koalitionspartner sind für diese Politik auch die Grünen verantwortlich. ({2}) Warum haben die Grünen die Forderungen nicht schon längst gestellt, die Sie heute vorgetragen haben? Und vor allen Dingen: Warum haben Sie diese Forderungen nicht schon längst umgesetzt? ({3}) Sie sind in der Regierung, Sie stellen den Außenminister und dieser hat bis jetzt nichts getan. Der Verteidigungsminister gehört in einer Situation, die bei den Betroffenen und deren Angehörigen Unbehagen, wenn nicht sogar Verunsicherung oder Angst auslöst, an die Spitze der Aufklärungsbewegung. Der Verteidigungsminister darf sich nicht aufschwingen, erst die Opposition und dann die Medienvertreter wegen einer angeblich hysterischen und unsachlichen Berichterstattung zu attackieren. Was ich in den letzten Tagen den Medien entnommen habe, war ausnahmslos eine um Aufklärung bemühte, meist sehr sachliche Darstellung und Analyse der Tatsachen. ({4}) Herr Minister, Sie sollten daher nicht blinde Medienschelte betreiben, sondern Dank für die zahlreichen überaus sachlichen Darstellungen zum Ausdruck bringen. Aufklärung tut ja auch Not. ({5}) Denn immerhin geht es nicht nur um rund 50 000 Menschen aus unserem Land, die im Auftrag des Deutschen Bundestages in Auslandseinsätzen stellvertretend für die westliche Wertegemeinschaft Hilfe geleistet haben. Es geht auch um viele Zigtausend Bewohner in den betroffenen Gebieten selber, die ebenso ein Recht auf lückenlose Aufklärung haben, ({6}) ein Recht, das ihnen die deutsche Bundesregierung genauso wenig verwehren darf wie alle anderen Regierungen dieser westlichen Wertegemeinschaft; ({7}) denn gerade in der gegenwärtigen Diskussion geht es um unsere Wertvorstellungen, nämlich Frieden, Freiheit und Recht, aber auch Offenheit und Transparenz, ({8}) für die die NATO und die EU stehen und für die wir kämpfen. Meine Damen und Herren, wenn die Forderung nach „brutalstmöglicher Aufklärung“ jemals Berechtigung hatte, dann ist das gegenwärtig der Fall. ({9}) Denn immerhin sind die Informationen, die wir bekommen, alles andere als beruhigend. Zum Beispiel: Welche weiteren Inhaltsstoffe weist die Munition auf? Gibt es neue Gefahren durch Plutonium? Welche genauen Wirkungen erzeugt das Auftreten dieser Munition auf Oberflächen? Welche chemischen Prozesse werden hierbei in Gang gesetzt? Wie wirken sich diese aus? Wie gedenkt die Bundesregierung auf mögliche Langzeitwirkungen einzugehen? ({10}) Herr Kollege Scharping, ich denke, dass Sie diese Aktuelle Stunde zum Anlass nehmen sollten, den Gesichtswinkel Ihrer Nachforschungen deutlich zu erweitern. ({11}) Welchen anderen, über das allgemeine Gefährdungsmaß hinausgehenden Risiken sind Einheimische und Soldaten in Auslandseinsätzen ausgesetzt? Auch hier muss der Bundesminister der Verteidigung seiner Verantwortung nachkommen und darf sich nicht in ministerieller Selbstzufriedenheit ergehen. ({12}) Herr Minister, Ihr Problem sind weder die Opposition noch die Medien. ({13}) Ihr Problem ist Ihre zögerliche, zu Belehrungen neigende Informationspolitik. ({14}) Das haben Sie mittlerweile in aller Deutlichkeit auch von den eigenen Genossen zu hören bekommen. Die Namen brauche ich hier nicht zu erwähnen. Sie konnten das selbst der Presse entnehmen. ({15}) Ein weiteres Phänomen harrt der Aufklärung durch den Bundesverteidigungsminister, nämlich die seltsam schiefe Logik, einerseits Gesundheitsrisiken durch uranhaltige Munition nahezu kategorisch auszuschließen - das haben wir gestern im Verteidigungsausschuss wieder gehört -, ({16}) andererseits aber alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen anzuordnen und gestern sogar den amtierenden Botschafter der USA einzubestellen - ein einmaliger Vorgang in der Politik und in der Diplomatie. ({17}) Herr Minister, sorgen Sie dafür, dass diese Pseudologik aufgegeben wird! ({18}) Herr Minister, im Namen der F.D.P. fordere ich Sie noch einmal auf - wie ich das gestern schon im Verteidigungsausschuss getan habe -: Sorgen Sie für eine eingehende medizinische Untersuchung aller - ich betone: aller - im Ausland eingesetzten Bundeswehrangehörigen auf etwaige Gesundheitsrisiken! Stichproben allein sind völlig unzureichend und ungenügend. ({19}) Setzen Sie sich auf NATO-Ebene für Aufklärung und eventuelle Hilfen für die betroffene Bevölkerung auf dem Balkan ein! Es geht auch hier um die Glaubwürdigkeit der NATO und damit der westlichen Wertegemeinschaft. Legen Sie alle Fakten schonungslos offen, ohne falsche Rücksichtnahmen auf falsche Geheimhaltungsinteressen! Die Betroffenen und die Öffentlichkeit haben ein Anrecht darauf. Ziehen Sie notfalls auch personelle und organisatorische Konsequenzen in Ihrem Haus! Herr Minister, ein BSE-ähnliches Kompetenz- und Verwirrspiel darf sich keinesfalls wiederholen. Im Vordergrund allen Handelns muss das Wohl der Angehörigen der Bundeswehr, muss das Wohl der Menschen stehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({20})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als Nächster hat der Bundesminister Rudolf Scharping das Wort. ({0})

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst festhalten: Es bleibt dabei, dass nach Auffassung der Bundesregierung besser kein Staat diese Munition hätte und besser auch kein Staat diese Munition einsetzte. ({0}) Wir werden unsere Möglichkeiten nutzen, um diese Auffassung zur Geltung zu bringen. Es ist allerdings auch richtig, dass jeder Staat alleine über seine militärischen Mittel und ihren Einsatz entscheidet, auch im Bündnis. Genauso bleibt es richtig, dass es eine gemeinsame Verantwortung gibt, die sich zum einen auf die Risiken für eingesetzte Soldaten, zum anderen aber genauso auf die Risiken für die möglicherweise betroffene Zivilbevölkerung bezieht. Das ist ebenfalls unsere unveränderte Auffassung. Das ist auch der Grund, weshalb ich während des Kosovo-Krieges und auch jetzt gegen jeden Anschein einer ungleichgewichtigen Information innerhalb des Bündnisses und im Rahmen gemeinsamer Verantwortung vorgehen werde. Das habe ich während des Kosovo-Krieges getan und das tue ich jetzt wieder. Ich komme auf diesen Punkt gleich noch einmal zurück. Dann ist gesagt worden, es gebe keine hinreichende Unterrichtung der Öffentlichkeit bzw. des Parlamentes. Ich möchte Sie darüber informieren, welche Unterrichtungen erfolgt sind - es tut mir Leid, dass ich das nachträglich tun muss -: Am 21. April 1999 hat das Bundesministerium der Verteidigung zum ersten Mal in einer Pressekonferenz zu diesem Thema Stellung genommen. An diesem Tag ist hier im Parlament eine Frage nach dem angeblichen Einsatz uranangereicherter Munition beantwortet worden. ({1}) Das Bundesministerium der Verteidigung hat hier im Deutschen Bundestag freundlicherweise die Vermutung angestellt, es könne sich dabei um ein Missverständnis handeln, und, obwohl nicht danach gefragt wurde, auch Fragen nach uranabgereicherter Munition beantwortet. ({2}) Die Bundesregierung und der Bundesminister der Verteidigung haben ebenfalls im Deutschen Bundestag am 7. Mai 1999 alle diesbezüglichen Fragen beantwortet. Die Bundesregierung hat am 20. Mai 1999 im Deutschen Bundestag von sich aus zum ersten Mal auf eine Unterscheidung hingewiesen, die in der Sache getroffen werden muss und die manchmal leider auch in Beiträgen hier im Parlament regelmäßig verwischt wird: Das Risiko, das von der Strahlenbelastung ausgeht, ist nach Auffassung aller Mediziner - nicht etwa nur der der Bundeswehr, sondern auch der unabhängiger Fachleute und Institute - von vernachlässigbar geringem Umfang. Aber wir haben von uns aus, ohne dass wir im Einzelnen danach gefragt worden sind, am 20. Mai 1999 hier im Deutschen Bundestag während des Kosovo-Krieges auf das Risiko toxisch bedingter Erkrankungen wegen der Eigenschaft von Uran als Schwermetall hingewiesen. ({3}) Wir haben in mehreren Sitzungen des Verteidigungsausschusses und des Deutschen Bundestages darauf aufmerksam gemacht, dass diese beiden Risiken nicht miteinander vermengt werden dürfen und dass das zweite Risiko deshalb differenziert zu betrachten ist, weil es ein Unterschied ist, ob man zeitweilig und mit der Möglichkeit von Schutzmaßnahmen in einem Gebiet, in dem diese Munition verwendet wird, eingesetzt wird oder ob man dauerhaft in diesem Gebiet lebt, also Teil der Zivilbevölkerung ist. Das haben wir hier im Deutschen Bundestag zum ersten Mal in aller Deutlichkeit am 20. Mai 1999 festgestellt. ({4}) Am 11. Juni 1999 und am 28. Juni 2000 haben wir das wiederholt. Wir haben den Verteidigungsausschuss am 21. April, am 12. Mai, am 19. Mai und am 8. September 1999 darüber informiert. Dann wird behauptet, die Truppe sei nicht ordentlich informiert worden. Die Truppe ist am 10. Juni 1999, also vor Einrücken in den Kosovo, belehrt worden. Das war in einer Zeit, in der wir noch nicht wussten, ob - geschweige denn in welchem Gebiet und in welchem Umfang - solche Munition eingesetzt werden könnte. Wir hatten keine offizielle Information, aber eine Reihe von Hinweisen durch Gespräche am Rande von NATO-Tagungen und durch den einen oder anderen Brief, der bei uns eingegangen ist. Am 11. Juni 1999 wurde mit dem Einrücken begonnen und am 12. Juni 1999 wurde es durchgeführt. Am 14. Juni 1999 ist ein entsprechender Befehl zur Vorsorge erlassen worden, der ausdrücklich auch auf das Problem der DUMunition hinweist. Diese Befehle sind im Zuge der Informationen, die im Bundesministerium der Verteidigung eingegangen sind, ergänzt und erweitert worden, nämlich am 2. Juli, am 5. Juli, am 15. Juli, am 3.August, am 9. September 1999 usw., usw. ({5}) - Herr Kollege Breuer, Sie versuchen, der Öffentlichkeit und damit leider auch den Soldaten zu suggerieren, es seien nicht regelmäßig und sofort alle Erkenntnisse umgesetzt worden, die im Bundesministerium der Verteidigung deswegen eingingen, weil wir entweder danach gefragt haben oder weil andere sie an uns weitergegeben oder an uns herangetragen haben. Dazu sage ich: Das ist eine böswillige, durch keine einzige Tatsache belegte Unterstellung. ({6}) Der Bundesminister der Verteidigung hat im Oktober 1999 - im Übrigen als Einziger im Bündnis - ein unabhängiges Institut beauftragt, das zu untersuchen, was Sie, Frau Kollegin Buntenbach, hier gefordert haben. Dies ist also schon geschehen. ({7}) Die Gesellschaft für Umwelt und Gesundheit hat auf der Grundlage der Informationen, die wir von der NATO hatten, fünf Stellen innerhalb des Kosovo, an denen sicher DU-Munition eingesetzt worden ist, identifiziert. Es wurden regelmäßig die Strahlung gemessen, Bodenproben genommen, die Nahrungsmittelkette untersucht, mit dem Ergebnis - das übrigens auch im Ausschuss berichtet worden ist; Sie könnten das also wissen; ich hoffe auf gute Information in Ihrer Fraktion -, dass im April 2000 Strahlung nicht mehr feststellbar war. Ich habe in diesem Zusammenhang mehrfach darauf aufmerksam gemacht - und tue das hiermit erneut -, dass damit das Risiko einer Wirkung von Uran als Schwermetall nicht völlig ausgeschlossen ist. Die fünf erwähnten Stellen sind identifiziert und abgesperrt, für die Bevölkerung unzugänglich gemacht worden. Zusätzlich ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass bei Annäherung an diese Stellen oder Arbeiten innerhalb dieses Bereiches ABC-Schutzanzüge und Atemmasken zu tragen sind. Dies ist übrigens eine Vorschrift, die seit dem 14. Juni 1999 besteht und bei regelmäßigen Belehrungen im Kontingent, bei der Vorbereitung und während des Einsatzes, wiederholt wird. Auf der Grundlage von im November 2000 eingegangenen Informationen der Umweltorganisation der Vereinten Nationen werden weitere Stellen zu untersuchen sein. Ich fasse zusammen: Alle Informationen, die uns zugänglich waren oder an die wir herankommen konnten, sind sofort in entsprechende Maßnahmen umgesetzt worden. Sie betreffen das Thema der radioaktiven Wirkung von abgereichertem Uran und sie betreffen die Wirkung von Uran als Schwermetall. Ich will dann noch darauf hinweisen, Frau Kollegin Buntenbach, dass wir - wiederum als Einzige innerhalb der NATO und im Übrigen aus eigenem Antrieb und unter Hinzuziehung von externen, unabhängigen Sachverständigen - nicht nur diese Untersuchung eingeleitet haben, sondern auch die Untersuchung derjenigen Soldaten, die in der Nähe der Flächen eingesetzt worden waren, zum Beispiel als Pioniere mit Erdarbeiten. Diese Soldaten sind mit einer Kontrollgruppe - Soldaten, die nicht auf dem Balkan eingesetzt worden sind - verglichen worden. Deren Ergebnisse wiederum sind verglichen worden mit einer weiteren Personengruppe - „gleichaltrige männliche Bevölkerung“; das hat alles die Gesellschaft für Umwelt und Gesundheit gemacht -, mit dem Ergebnis, dass es keine Abweichung der Untersuchungsergebnisse zwischen diesen drei Personengruppen gibt: erstens im KoBundesminister Rudolf Scharping sovo unmittelbar in der Nähe möglicherweise kontaminierter Flächen eingesetzte Soldaten, zweitens nicht im Kosovo eingesetzte Soldaten, drittens Zivilbevölkerung. Ich frage in allem Ernst, Herr Kollege Nolting: Macht es angesichts dieser Tatsache - wenn also unmittelbar neben möglicherweise kontaminierten Flächen eingesetzte Soldaten keine Auffälligkeiten aufweisen - Sinn, 70 000 Menschen per Anordnung zu untersuchen? ({8}) - Augenblick! Macht es nicht mehr Sinn, zu sagen, jeder, der sich in irgendeiner Weise subjektiv verunsichert und beschwert fühlt, ({9}) hat im Rahmen der freien Heilfürsorge Anspruch auf die Untersuchungen und wird sie auch bekommen? ({10}) Genau das tun wir. ({11}) - Wieso denn „Jetzt auf einmal!“? ({12}) Das habe ich mehrfach öffentlich gesagt. Und was die Nichtregierungsorganisationen und die Bevölkerung angeht: Diese Informationen sind im Rahmen der üblichen Gefahrenbesprechungen, die in regelmäßigen Briefings im Einsatzgebiet stattfinden, auch an die Nichtregierungsorganisationen weitergegeben worden. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Minister, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Ihre Redezeit überschritten ist.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Ich weiß, dass die Überschreitung von Redezeit eine gewisse Konsequenz für Ihr Verfahren hat. Aber ich möchte zu dem aktuellen Punkt trotzdem noch kurz etwas sagen, Herr Präsident.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wenn Sie noch länger reden, hat die Opposition das Recht, in eine allgemeine Debatte einzusteigen.

Rudolf Scharping (Minister:in)

Politiker ID: 11002769

Gut, dann will ich unter Inkaufnahme dieses Risikos - wenn es denn eines wäre - auf etwas aufmerksam machen. ({0}) - Dass die Diskussion in eine allgemeine Debatte überführt wird, ist doch kein Risiko. ({1}) Darüber müssten Sie sich doch eher freuen. Im Zusammenhang mit Informationen - von denen ich zum ersten Mal am Montagabend dieser Woche gehört habe -, dass wegen des Auffindens von Uran 236 möglicherweise die Frage auftaucht, ob Transurane - das ist nicht nur Plutonium - als Spuren in dieser Munition vorhanden sein könnten, habe ich unmittelbar veranlasst, erneut Bodenproben im Kosovo zu nehmen und sie daraufhin zu untersuchen. Ich habe unmittelbar veranlasst, dass die aus der Untersuchung der Soldaten und der Kontrollgruppen noch vorhandenen Proben ebenfalls daraufhin untersucht werden, und zwar durch dasselbe Institut, das dies vorher getan hat. Schließlich - in der Hoffnung, dass ich Ihre Aufmerksamkeit bei einem durchaus ernsten Thema noch einen kurzen Moment beanspruchen darf - habe ich gesagt und dabei komme ich auf meine Eingangsbemerkung zurück -: Es ist nicht vertretbar, dass unter dem Mantel der nationalen Verantwortung für den Einsatz eines militärischen Mittels oder einer Munition innerhalb des Bündnisses unterschiedlich informiert wird. Wir werden dem nachgehen. Das war der Grund, weshalb wir den Geschäftsträger zu einem Gespräch einbestellt und die Ihnen bekannten Erwartungen formuliert haben. Nun wird dieses Thema noch zusätzlich mit etwas anderem vermischt. Das hat etwas mit Fragen zu DU-Versuchen zu tun. Hier muss ich mich zunächst auf das verlassen, was die damalige Bundesregierung dem Deutschen Bundestag 1995 und 1997 mitgeteilt hat. Es muss untersucht werden, ob diese Information komplett gewesen ist. Schließlich möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass dies auch für zum Teil jahrzehntelang zurückliegende Vorgänge im Zusammenhang mit Röntgenstrahlung oder anderem gilt. Ich habe deshalb heute einen entsprechenden Arbeitsstab mit dem Ziel eingesetzt, ({2}) 20, 30 Jahre zurückliegende Vorgänge - zum großen Teil in Ihrer politischen Verantwortung - sorgfältig untersuchen zu lassen und alle Fakten zu der Frage zu erheben, wie es eigentlich mit der Röntgen-, nicht Radarstrahlung ist, die offenkundig schädlich gewirkt hat, alle Fakten zu erheben, die mit der Erprobung von DU-Munition durch Firmen in Deutschland zu tun haben, alle Fakten zu erheben, die - zum größten Teil in Ihrer Regierungszeit - eine Rolle spielen. Ich werde dem langjährigen Mitherausgeber und Herausgeber der „Zeit“ und stellvertretenden Vorsitzenden der Weizsäcker-Kommission, Herrn Dr. Theo Sommer, die Leitung dieses Arbeitsstabes übertragen, weil ich sehr gerne die Verantwortung für das übernehme, was in meiner Amtszeit geschieht oder nicht geschieht. Ich bin aber nicht bereit - das sage ich auch hier im Deutschen Bundestag -, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass 1995 oder 1997 möglicherweise falsche Informationen gegeben worden sind. ({3}) Ich bin nicht bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass es möglicherweise in den 60er-, 70er-Jahren, unter welcher Regierungsverantwortung auch immer, aufgrund mangelnder technischer Kenntnisse oder aufgrund anderer Umstände - das wird aufzuklären sein - einen unzureichenden Schutz an Radargeräten gegeben hat, der Röntgenstrahlung und Exposition mit Röntgenstrahlung ausgelöst haben mag und offenbar ausgelöst hat. Ich bin auch nicht bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass bis Dezember 1997 in Kenntnis des Einsatzes von DU-Munition in Bosnien und Herzegowina in den Jahren 1996 und 1997 spezifisch bezogen auf DUMunition keine einzige Entscheidung getroffen worden ist, obwohl es geboten gewesen wäre. Ich bin auch nicht bereit, mir einen Vorwurf anzuhören, der letzten Endes eher auf die Diskreditierung des Ministers denn auf sachliche Aufklärung hinausläuft. ({4}) Wir haben ganz im Gegensatz zu manchen anderen Debatten sorgfältig, auch auf der Grundlage eines als gering eingeschätzten Risikos, auf der Grundlage von Hinweisen - nicht immer von offiziellen Informationen - alle diese Maßnahmen eingeleitet. Wir werden auch in Zukunft alles tun, was zum Schutz von Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit der Soldaten und übrigens auch der im Kosovo lebenden Zivilbevölkerung notwendig ist und was nach unabhängigem Rat von Medizinern und Wissenschaftlern entsprechend vorgeschlagen wurde. Das haben wir in der Vergangenheit getan und werden es auch in Zukunft tun. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Herr Bundesminister Rudolf Scharping hat deutlich länger als zehn Minuten gesprochen. Die Fraktion der F.D.P. stellt den Antrag, nach Anlage 5 Nr. 7 Abs. 2 in Verbindung mit § 44 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung über die Aktuelle Stunde hinaus eine allgemeine Aussprache über die Ausführungen des Herrn Bundesministers durchzuführen. Die Geschäftsführer haben vereinbart, dass diese Aussprache eine halbe Stunde dauern soll. Die Zeitverteilung in dieser halben Stunde entspricht der üblichen Zeitverteilung bei allgemeinen Aussprachen. ({0}) - Das ist nach unserer Geschäftsordnung so beantragt worden. Sie können es gerne nachlesen. Das ist so. Als erster Redner in der allgemeinen Aussprache hat der Kollege Paul Breuer das Wort.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem ich Herrn Minister Scharping gehört habe, muss ich Ihnen, Herr Minister - er sitzt jetzt auf der Abgeordnetenbank -, Folgendes sagen: Es gibt offenbar einen Scharping aus der vergangenen Woche und einen Scharping aus dieser Woche. In der vergangenen Woche haben Sie in allen deutschen Fernsehanstalten und in allen deutschen Zeitungen den Eindruck zu erwecken versucht - dafür haben Sie Leute vor die Kamera geschickt -, dass das uranabgereicherte Material in der Munition ungefähr so gefährlich sei wie das Badewasser in Hofgastein. Das waren Aussagen, die in Ihrem Auftrag gemacht worden sind. Wenn ich Sie heute höre, dann habe ich das Gefühl, Sie wollen den Eindruck erwecken, Sie hätten jederzeit versucht, auf die Gefahren der DU-Munition hinzuweisen. Das haben Sie nicht. Sie haben abgewiegelt. ({0}) Nun schaue ich mir die Rollenverteilung in der Koalition an. ({1}) Die Grünen tun so, als hätten sie schon immer darauf hingewiesen. ({2}) - Das haben Sie gemacht? - In Ordnung, dann möchte ich aber Folgendes zitieren. Ich beziehe mich auf die Sendung „Monitor“ vom 22. April 1999. Aussage: „Die Gefährlichkeit von Uran-Munition ist umfassend dokumentiert.“ So die Redaktion. „Nur der grüne deutsche Außenminister Joschka Fischer will dies offenbar nicht wahrhaben.“ Auf Anfrage schrieb er noch vor zwei Wochen - das ist jetzt ein Zitat von Joschka Fischer -: Dem Auswärtigen Amt ist bekannt, dass solche Munition im Kosovo-Konflikt zum Einsatz kommen kann. ... Es ist jedoch davon auszugehen, dass Gefährdungen der von Ihnen beschriebenen Art für Mensch und Umwelt nicht auftreten. Heute versuchen Sie den Eindruck zu erwecken, Sie hätten es immer gewusst und sich entsprechend eingesetzt. Sie sind in dieser Bewertung noch nicht einmal bis zu Ihrem eigenen Außenminister vorgedrungen. Das ist die Realität in dieser Bundesregierung. ({3}) Ein weiterer Punkt: Herr Scharping, der offenbar für nichts verantwortlich ist - das sind bei ihm immer die Vorgänger gewesen; ich bin überzeugt, dass er notfalls noch Anleihen bei Bismarck macht -, wollte uns glauben machen, es sei der Minister Rühe gewesen, der nichts veranBundesminister Rudolf Scharping lasst habe. Ich habe Ihnen das gestern in der Ausschusssitzung - was ich selbst sage, kann ich auch öffentlich vortragen - widerlegt und bewiesen, dass Sie selbst der Meinung waren, Herr Rühe habe etwas veranlasst. Im März 2000 haben Sie auf eine Anfrage der PDS, welche Maßnahmen unternommen werden, um die Bundeswehrsoldaten vor einer Kontaminierung mit DU-Munition zu schützen, gesagt: Für den Umgang mit den von DU-Munition getroffenen Fahrzeugen bzw. DU-Munitionsfunden sind bereits 1997 Regelungen getroffen worden. Das betraf einen Zeitpunkt, zu dem Rühe Verteidigungsminister war. Herr Scharping, es geht um Folgendes: Welche Verantwortung haben Sie getragen - nicht Ihre Vorgänger - und welche Verantwortung hat der deutsche Außenminister getragen? Sie müssen endlich einmal kapieren, dass Sie in der Regierung sind und dass Sie - Herr Scharping hat ja sogar ein Kriegstagebuch geschrieben; er hat sich in der deutschen Öffentlichkeit als Feldherr aufgespielt - für diesen Krieg sowie für alles, was getan bzw. nicht getan worden ist, die Verantwortung haben. Um nichts anderes geht es. ({4}) Herr Scharping - es wäre gut, wenn man Ihr geneigtes Ohr einmal erreichen könnte -, ich werfe Ihnen überhaupt nicht vor, dass Sie zum damaligen Zeitpunkt Soldaten leichtfertig in Krisengebiete geschickt haben. ({5}) Damit das völlig klar ist: Ich werfe Ihnen das nicht vor. Was ich Ihnen aber vorwerfe, ist: Sie stellen sich vor die deutsche Öffentlichkeit und vor die Soldaten, denen gegenüber Sie zur Fürsorge verpflichtet sind, ({6}) und versuchen mit Ihrer Haltung - das war bis letzte Woche noch so - „Liebe Leute, worüber regt ihr euch überhaupt auf? Warum macht ihr von der Presse, der Öffentlichkeit und der Opposition eine solche Hysterie?“ den Eindruck zu erwecken, Sie hätten zu allen Zeiten alles im Griff gehabt. Ich will Ihnen eines sagen: Wenn es um derartige Geschichten geht - auch ich kenne die Gefährlichkeit nicht -, wäre ich im Herausblasen solch großer Sprüche etwas vorsichtiger als Sie, da es hier um Fürsorge geht. ({7}) Es geht um nichts anderes. Wenn die Soldaten im Kosovo jetzt noch betonen, sie hätten nicht die richtigen Anweisungen, sieht man, welches Versagen mit Ihrer Person verbunden ist. ({8}) Psychologische Führung ist ein wesentliches Element. Als die Diskussion bei unseren Verbündeten zwischen Weihnachten und Neujahr - sie wurde ja auch vorher schon geführt - begann, war weder vom Verteidigungsministerium noch von Scharping persönlich etwas zu hören. Es war gar nichts zu hören. ({9}) Ich habe direkt nach dem Jahreswechsel im Verteidigungsministerium angerufen und gefragt: Was wird denn eigentlich gemacht? Die im Bereich der Verbündeten geführte Diskussion war noch gar nicht wahrgenommen worden. Der Zwischenbericht, der dem Verteidigungsausschuss im Juli des vergangenen Jahres hätte vorgelegt werden sollen, lag dem Ausschuss bis zum damaligen Zeitpunkt nicht vor. Ich habe dann dafür gesorgt, dass wir ihn bekommen haben. Ich habe ihn öffentlich bekannt gemacht, aber nicht um zu desinformieren, sondern um zu informieren.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Was Sie nicht verstanden haben, Herr Kollege Scharping, ist Folgendes: Die Diskussion und die Debatte wurden bei den Alliierten in Europa geführt. Sie haben den Eindruck erweckt, alles sei ungefährlich, und sich zunächst einmal eine Woche lang überhaupt nicht geäußert. Danach haben Sie diejenigen, die dazu beigetragen haben, dass die deutsche Öffentlichkeit und die Ihnen anvertrauten Soldaten informiert werden, als diejenigen beschimpft, die Hysterie entfacht hätten. Das ist der Fehler, den Sie gemacht haben. Das ist unverantwortlich und das kann man nicht zulassen. ({0}) Die Untersuchungen, die heute vorgenommen werden, haben Sie nicht aus eigenem Antrieb veranlasst, sondern weil Druck vonseiten der Opposition und der Öffentlichkeit kam. ({1}) Sie haben den amerikanischen Botschafter aus Not zu sich gerufen und nicht deshalb, weil Sie die Lage im Griff haben. Das nimmt Ihnen die deutsche Öffentlichkeit nicht ab.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Breuer, Ihre Redezeit ist mehr als abgelaufen. Ansonsten müsste Ihnen Ihre Fraktion mehr Redezeit einräumen.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, vielen Dank. - Ich muss dazu allerdings Folgendes sagen: Die Art und Weise, wie Herr Scharping mit Redezeiten umgeht, offenbart einiges darüber, wie er auch mit anderen Dingen umgeht. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Rudolf Scharping das Wort.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, dass die Kolleginnen und Kollegen der Opposition dafür Verständnis haben, dass man wenigstens den Versuch macht, auf pauschale und nicht belegte Vorwürfe mit Tatsachen zu antworten. Erstens. Ich habe am 10. Januar 2001 mit einer Reihe unabhängiger Wissenschaftler - darunter waren auch anerkannte Arbeitsmediziner - der Universitäten Köln, Bonn und Mainz zusammengesessen, die sich mit Nuklearmedizin beschäftigen. Ich verzichte mit Rücksicht auf die Zeit, alle Namen vorzulesen. Ich habe im Rahmen einer Pressekonferenz darauf aufmerksam gemacht, dass ich manche, längst nicht alle Berichte für fahrlässig halte und dass ich es für ein Problem halte - das ist auch unverändert meine Meinung -, dass der Verdacht und die unbewiesene Behauptung öffentlich einen höheren Stellenwert bekommen als die Tatsachen, die zum Teil im Deutschen Bundestag, in Pressekonferenzen und in den Sitzungen des Verteidigungsausschusses weitergegeben worden sind. Das betrifft, wie gesagt, einige, nicht die Mehrheit. Von diesem Urteil habe ich leider nichts abzustreichen. Zweitens. Herr Kollege Breuer, welcher öffentliche Druck sollte mich denn im Oktober 1999 veranlasst haben, vorsorglich die Untersuchungen einzuleiten, die eingeleitet worden sind? ({0}) - Wir haben die erwähnten Anfragen im Deutschen Bundestag beantwortet. Wir haben - ich wäre dankbar, wenn Sie das in Zukunft in Ihre Beurteilung einbeziehen könnten - schon im Mai 1999 - ich betone: von uns aus - auf das toxische Risiko der Munition hingewiesen. Die Debatte - auch dazu stehe ich unverändert - erreicht in dem Augenblick, in dem der Verdacht auftaucht, dass auch Transurane in der DU-Munition vorhanden sein könnten - selbst wenn es sich nur um geringste Spuren handeln sollte -, schon wegen der öffentlichen Sensibilität, aber vor allen Dingen auch wegen der damit verbundenen Risiken eine andere Ebene. Dann muss man sich anders verhalten, selbst um des Risikos willen, dass es im Verhältnis mit den USA die eine oder andere diplomatische Verstimmung gibt. Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, dass es im Bündnis unterschiedliche Informationen über mögliche Folgen des Einsatzes von Munition eines Bündnispartners bei gemeinsam zu tragender Verantwortung und bei gemeinsam zu tragendem Risiko gibt. Das werde ich nicht hinnehmen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Breuer, Sie haben das Recht zu erwidern.

Paul Breuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000265, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Um direkt darauf einzugehen: Herr Kollege Scharping, der Zwischenbericht über die Untersuchungen der GSF, den Sie für Juli 2000 Jahres zugesagt hatten und der den Verteidigungsausschuss erst im Januar 2001 erreicht hat, nachdem wir insistiert hatten, enthielt nicht nur den Hinweis darauf, dass die Untersuchung von 118 Soldaten - in meinen Augen sind das viel zu wenige - notwendig sei - der Kollege Scharping hört nicht zu; es ist ohnehin schon seltsam, dass Sie nicht auf der Regierungsbank sitzen; ich denke, Herr Scharping, Sie wissen derzeit nicht genau, wo Sie hingehören; entweder gehören Sie auf die Regierungsbank oder in die Fraktionsreihen, was am besten wäre -, ({0}) sondern auch die Empfehlung, Boden- und Trinkwasserproben zu nehmen. Das ist auf Ihre Initiative hin ein halbes Jahr nicht geschehen. Wenn Sie jetzt auf einmal - im Übrigen: 14 Tage später als die Alliierten - Experten in das Kosovo schicken, dann weist das darauf hin, dass Sie im falschen Film waren und die Entwicklung in Deutschland und in Europa 14 Tage lang völlig verschlafen haben. Erwecken Sie hier nicht den Eindruck, als ob Sie immer auf der Höhe der Zeit gewesen wären. Ich weise Ihnen nach, dass das nicht der Fall war. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Hans Peter Bartels von der SPD-Fraktion.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Breuer, es nützt niemandem, am wenigsten den eingesetzten Soldaten und der Zivilbevölkerung, wenn bei diesem schwierigen Thema Sachlichkeit durch Polemik ersetzt wird. ({0}) Wir diskutieren hier über Tatsachen und über Tatsachenbehauptungen, die Sie gern belegen können, wenn Sie finden, Sie seien nicht rechtzeitig informiert worden. Nach meiner Kenntnis hat Staatssekretär Kolbow - es muss nicht immer der Minister sein - den Verteidigungsausschuss bereits zu dem von Ihnen gewünschten Zeitpunkt informiert. ({1}) Es geht also um Tatsachen, Tatsachenbehauptungen, Spekulationen, Vorwürfe und Meinungen, die vielleicht nicht immer leicht auseinander zu halten sind. ({2}) Behauptet wird - wir kommen zu einigen Aspekten, die hier vielleicht noch keine so große Rolle gespielt haben, aber mit der Sache zu tun haben -, amerikanische DU-Munition habe bei Soldaten alliierter Kosovo-Kontingente Leukämie ausgelöst. Das ist unwahrscheinlich. Die UNEP bestätigt das, auch im Hinblick auf die Zivilbevölkerung. Mediziner sagen, Strahlung könne zwar Leukämie auslösen, aber bei weitem nicht so schnell und wohl auch nicht bei so geringer und so kurzzeitiger Strahlung. Der bisher gemeldete eine an Leukämie erkrankte deutsche Soldat war übrigens in Mostar stationiert. Dort hat es keinen DU-Einsatz gegeben. Am Montag dieser Woche fand eine Sitzung der Sanitätsinspekteure der NATO in Brüssel statt. Das Ergebnis: Eine Verbindung zwischen abgereichertem Uran und den in den Medien berichteten Erkrankungen konnte weder durch die dort vorgestellten epidemiologischen Daten der eingesetzten NATO-Soldaten noch durch die in der wissenschaftlichen Fachliteratur veröffentlichten Erkenntnisse festgestellt werden. Es sollen weitere wissenschaftliche Studien auch von unabhängiger Seite durchgeführt werden, durch die die Ursachen für die zum Teil unspezifischen Symptome gefunden werden sollen, die bei einigen Soldaten verbündeter Streitkräfte nach dem Einsatz auf dem Balkan - wie auch nach anderen Auslandseinsätzen - in der Tat aufgetreten sind. Das ist doch alles andere als Abwiegelung, Herr Nolting. Das ist ein Beitrag nicht nur Deutschlands, sondern auch der NATO zur Aufklärung. ({3}) - Schönen Dank! Die Chefs der Sanitätsdienste haben beschlossen, eine Arbeitsgruppe „Präventivmedizin“ damit zu beauftragen, die notwendigen Daten zusammenzufassen und zu bewerten. Ein Bericht dazu soll bis Mai 2001 vorgelegt werden. Natürlich wollen die Sanitätsdienste der NATO - durch diese Diskussion sicherlich aufgeschreckt - in Zukunft noch enger zusammenarbeiten, sodass wir nicht nur auf unsere Erkenntnisse zurückgreifen können, sondern auch auf die der anderen befreundeten Nationen. Behauptet wird auch, der deutsche Verteidigungsminister habe irgendetwas irgendwie verzögert, er habe zu spät informiert oder reagiert. Nun spricht Rudolf Scharping manchmal mit einer eindrucksvollen Bedächtigkeit; aber gehandelt hat er sehr schnell. ({4}) Ich erinnere an seine Weisungen vom 14. Juni 1999, vom 2. Juli 1999, vom 15. Juli 1999 und an den Erlass vom 21. Juli 1999. Das geschah alles unmittelbar in der Phase vor und während des Einrückens in das Kosovo. DU war damals noch gar kein so interessantes öffentliches Thema wie heute; aber der Minister hat die mögliche Gefährdung des deutschen Einsatzkontingents ernst genommen und angemessene Vorkehrungen treffen lassen. Ich sage „mögliche Gefährdungen“; denn offiziell wusste die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, ob DUMunition eingesetzt worden war. ({5}) Offiziell ist das erst später mitgeteilt worden. Aber natürlich oblag ihm eine Fürsorgepflicht, die er wahrgenommen hat. Zu den Sicherheitsmaßnahmen für die Soldaten kommt seit Oktober 1999 eine kontinuierliche Gesundheitsüberwachung der im Umfeld von DU-Fundorten eingesetzten Soldaten hinzu. Sogar die Atemluft im Feldlager wurde gemessen - ohne Befund. Selbstverständlich wird dem neuesten Verdacht - Plutonium - sofort nachgegangen. Auch darauf wird der Urin der Soldaten untersucht. Das geschieht nicht, weil es so sein muss, dass das eine neue große Gefahr ist, sondern weil wir wirklich jedem Hinweis nachgehen sollten. Was mehr hätte getan werden können? Was mehr kann getan werden? Sagen Sie es doch! ({6}) Behauptet wird dennoch, Bundeswehrsoldaten seien einige Zeit der toxischen, chemischen Wirkung, also nicht der Strahlungswirkung, von Uranoxid schutzlos ausgesetzt gewesen. Das ist so wohl nicht richtig. Beim Eintreffen im Einsatzgebiet war den Soldaten befohlen, wie zum Beispiel mit den DU-getroffenen Panzerwracks umzugehen ist. Diese Wracks sind im deutschen Sektor gemessen, gekennzeichnet und abgesperrt worden. Das war übrigens beim deutschen IFOR-/SFOR-Kontingent ab 1996 nicht der Fall. ({7}) Da wurde nicht gemessen. Ich will daraus keinen Vorwurf machen; vielmehr will ich nur feststellen: Auch damals war um Sarajevo DUMunition eingesetzt worden, 11 000 Schuss. Das ist kein Vorwurf; aber auch das gehört zum Komplex DU und Bundeswehr. ({8}) Was mir aber mindestens so problematisch wie DU erscheint, ist die fortgesetzte Gefährdung der Zivilbevölkerung durch nicht weggeräumte Waffen- und Munitionsreste, Minen, Blindgänger usw., worüber selten gesprochen wird. Aber das ist eine real fortdauernde Gefahr. ({9}) Diese Hinterlassenschaften des Krieges müssen jetzt beseitigt werden, und zwar nicht nur im deutschen Sektor. Das schließt DU-Reste ein. Die Bevölkerung im Kosovo und auch in Bosnien muss sich darauf verlassen können, dass die Waffenwirkungen des Krieges vorbei sind. Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Diskussion der letzten Tage auf potenzielle Gefahren für Soldaten, noch dazu für deutsche Soldaten, konzentriert hat. Wir müssen alle Besorgnisse ernst nehmen, nachfragen und aufklären, nicht nur dann, wenn es um Deutsche geht. Wir haben auch einen Teil Verantwortung für Gesundheit und Zukunft der Bevölkerung im Kosovo übernommen. ({10}) Für deren Überleben hat die NATO einen Luftkrieg geführt; für deren Sicherheit sind die KFOR-Soldaten jetzt dort stationiert. ({11}) Lassen Sie uns das Wesentliche nicht aus dem Blick verlieren! Schönen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Günther Nolting von der F.D.P.-Fraktion das Wort. ({0})

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, wir haben es nicht anders erwartet, als dass das, was Sie heute vorgetragen haben, so kam, wie es kam: dass Sie nämlich die Verantwortung ablehnen und auf die Vergangenheit verweisen. Aber Sie tragen nun Verantwortung und haben jetzt die Probleme, die Sie 16 Jahre lang haben wollten. ({0}) Sie haben die Probleme nicht erkannt. ({1}) Ich billige Ihnen ja zu, dass Sie, wie Sie es gestern erklärt haben, einen wohlverdienten Urlaub gemacht haben. Er sei Ihnen gegönnt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Nolting, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharping?

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Darf ich diesen Gedanken noch zu Ende führen? Vielleicht löst sich dann schon einiges auf.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben dann gesagt, dass Sie unmittelbar nach Ihrem Urlaub Maßnahmen ergriffen hätten. Aber sagen Sie mal: Ist Ihr Haus kopflos, wenn Sie im Urlaub sind? Ist dann niemand mehr da, der Verantwortung trägt? Was haben in dieser Zeit die Staatssekretäre gemacht? Sie haben auch heute wieder, Herr Kollege Bartels, abgewiegelt. ({0}) Herr Minister, Sie haben in der letzten Woche erklärt, nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen und aller medizinischer Erfahrung sei das Strahlenrisiko vernachlässigbar. Gestern haben Sie im Verteidigungsausschuss gesagt, das Risiko durch Strahlung sei gleich Null. Jetzt brechen Sie plötzlich in Hektik aus, jetzt werden Kommissionen gegründet ({1}) - doch, ich verstehe es - und jetzt gehen Sie in die Offensive. ({2}) Sie tun dies wohl deshalb, weil Sie unter Druck geraten, und zwar nicht nur unter den Druck der Medien und der Opposition, sondern auch unter Druck aus den eigenen Reihen. ({3}) Herr Kollege Nachtwei, Ihr Koalitionspartner, ({4}) verwandte den Begriff „eine sehr fahrlässige Verharmlosung“. Damit hat er Sie gemeint. ({5}) Aus dem Kanzleramt heißt es: „katastrophales Krisenmanagement“ und „miserable Informationspolitik“. ({6}) Die Vorsitzende der Ethikkommission, Margot von Renesse, SPD, fordert einen Untersuchungsausschuss. Der Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer, ({7}) Ihr Kollege, Ihr Genosse, wirft dem Ministerium schwerwiegende Versäumnisse bei der Aufklärung der Verdachtsmomente gegen die Uranmunition vor. Ich könnte noch andere Kollegen zitieren. Aber ich möchte zum Abschluss die Fraktionsvorsitzende der Grünen zitieren: „Ich bin der Ansicht, dass der Verteidigungsminister hier leider etwas zu defensiv war“.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Nolting, wollen Sie nun die Zwischenfrage genehmigen oder nicht?

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kollege Scharping.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Nolting, könnten Sie mir bitte den Unterschied zwischen den Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der im Februar 1997 entstandenen Kenntnis des Einsatzes von DU-Munition in Bosnien-Herzegowina stehen, und den Maßnahmen erläutern, die seit Juni 1999 zum Teil in Unkenntnis des präzisen Einsatzes - es gab nur Vermutungen - im Zusammenhang mit DU-Munition getroffen worden sind?

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, ich habe Sie auf das aufmerksam gemacht, was Sie in den letzten Tagen in der Öffentlichkeit vorgetragen haben, nämlich dass kein Risiko bestehe. Dies haben Sie im Ausschuss wiederholt. ({0}) Ich hätte gern von Ihnen den Widerspruch aufgeklärt, warum Sie auf der einen Seite sagen, es gebe kein Risiko, auf der anderen Seite hier jetzt aber in Hektik ausbrechen, weil Sie wissen, dass Sie unter Druck geraten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Nolting, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Scharping?

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, ich glaube, das bringt nichts. ({0}) Herr Minister, gehen Sie auf die Fragen ein, die ich vorhin in meinem Redebeitrag gestellt habe. Das wäre sehr hilfreich. Herr Minister, Sie wissen, dass andere auf diese Gefahren sehr frühzeitig aufmerksam gemacht haben: Klaus Töpfer hat gesagt, alle Orte, in denen DU-Munition einschlug, müssen markiert, gesperrt, untersucht und gesäubert werden. Der IAEO-Chef hat gesagt, Menschen, die in Kontakt mit derartigen Waffen gekommen sind, müssen untersucht werden. Deswegen wiederhole ich für die F.D.P. die Forderung - Sie haben dies in Ihrem Redebeitrag vorhin abgelehnt -, dass eingehende medizinische Untersuchungen aller im Ausland eingesetzten Bundeswehrangehörigen auf etwaige Gesundheitsrisiken durchgeführt werden. Stichproben oder das, was Sie vorgeschlagen haben, nämlich dass derjenige, der sich betroffen fühlt, untersucht werden soll, reichen aus unserer Sicht nicht aus. Ich denke auch, dass bezüglich der dort lebenden Zivilbevölkerung - das habe ich vorhin schon gefordert - mehr getan werden muss. Das sind weiter gehende Forderungen, die wir stellen. Ich fordere Sie auf, dem wirklich nachzugehen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich erteile zu einer weiteren Kurzintervention dem Kollegen Rudolf Scharping das Wort.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Nolting, ich möchte auf zwei Dinge hinweisen, nachdem ich dazu im Rahmen einer Zwischenfrage leider keine Gelegenheit bekommen habe. Nachdem im Februar 1997 am Rande einer NATOArbeitstagung erste Informationen über die Verwendung von DU-Munition in Bosnien bekannt geworden sind, sind im Bundesministerium der Verteidigung bis April 1997 fachliche Bewertungen vorgenommen worden. Man hat dann im Dezember 1997 festgehalten, dass früher erlassene Vorschriften im Zusammenhang mit Strahlenkontaminationen aus zerstörten Industrieanlagen etc. als ausreichend angesehen werden könnten. Das unterscheidet sich insofern vollständig von dem, was seit Juni 1999 unternommen worden ist, als das Bundesministerium der Verteidigung im Juni 1999 wesentlich erweiterte Befehle gegeben hat, ABC-Schutztrupps eingesetzt hat und im Herbst 1999 eine Untersuchung betreffend Boden, Ernährungswege, eingesetzte Soldaten eingeleitet hat. Sie können mir vorwerfen, dass Sie den Zwischenbericht im Sommer 2000 nicht bekommen haben, ebenso wie die Naivität, zu glauben, dass der mündliche Vortrag des Parlamentarischen Staatssekretärs Kolbow im Verteidigungsausschuss ausreichend war. Das haben Sie mir nicht im Sommer 2000 vorgehalten; das halten Sie mir jetzt vor. Das ist ganz interessant. Im Übrigen möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie in der gesamten Zeit der regelmäßigen Berichterstattung seit Mai 1999 nicht einen einzigen Vorschlag dazu gemacht haben, was zusätzlich getan werden könnte. ({0}) Wenn Sie sagen, dass man im Zusammenhang mit einer öffentlichen Diskussion, in der jetzt auch noch das Stichwort Plutonium aufgetaucht ist, schnell und entschlossen handeln muss, dann nehme ich das für die Regierung, für das Verteidigungsministerium und auch für mich persönlich in Anspruch. Wir werden das auch weiterhin tun. Sie sind herzlich eingeladen, Ihre Untätigkeit in der Zeit von Juni 1999 bis zum Dezember 2000, ({1}) Untätigkeit im Sinne von Vorschlägen dazu, was besser gemacht werden könnte, in Zukunft zu beenden. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zunächst hat Kollege Nolting das Wort zur Erwiderung. Danach lasse ich noch eine Kurzintervention des Kollegen Christian Schmidt und eine eventuelle Erwiderung zu. Aber dann gibt es keine weitere Kurzintervention. Bitte schön, Herr Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Scharping, wir kennen es ja mittlerweile, dass Sie die Opposition beschimpfen und diese in die Verantwortung ziehen. Sie wissen ganz genau, dass es aus den Reihen der Opposition, der PDS, der Union und der F.D.P., immer wieder Anfragen bezüglich DU-Munition gegeben hat. Herr Kollege Thiele von der F.D.P. hat dazu im Herbst 1999 eine umfangreiche Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Ihr Haus hat darauf - im Herbst 1999 - unter anderem geäußert: Das Bundesministerium der Verteidigung hat keine eigenen Studien/Untersuchungen über Munition mit abgereichertem Uran durchgeführt, da sie diese Munition weder verwendet noch besitzt. Diesen Widerspruch werden Sie aufklären müssen, wenn Sie hier heute als jemand auftreten, der in diesem Bereich ständig für Klarheit und Transparenz gesorgt haben will. ({0}) Wir werden in den nächsten Verteidigungsausschusssitzungen noch viel Gelegenheit haben, uns über diese Frage zu unterhalten. Dort werden Sie dann Rede und Antwort stehen müssen, wahrscheinlich auch hier im deutschen Parlament. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt erteile ich zu einer Kurzintervention dem Kollegen Christian Schmidt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Christian Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002003, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, es gibt überhaupt keinen Anlass, beleidigt zu sein. Hier geht es um einen schwierigen Sachverhalt und um die Frage, in welchem Maß und wie Ihr Haus reagiert hat. Dass es offensichtlich Versäumnisse gibt, hat die letzte Kurzintervention noch einmal nachgewiesen. ({0}) Sie werfen der Opposition vor, sie würde sich am Schwarzer-Peter-Spiel beteiligen. Ich habe den Eindruck, dass das Schwarzer-Peter-Spiel von Ihnen geführt wird. Warum soll denn der von mir persönlich sehr geschätzte Journalist Theo Sommer eine Arbeitsgruppe leiten, die sich mit was weiß ich beschäftigen soll? Ich weise Sie darauf hin, dass in der Causa „HirschBundeskanzleramt“ entsprechende Rechtsgutachten vorliegen, die nicht nur die Problematik, sondern auch den Widersinn solcher Aktionen darstellen. Wer Verantwortung hat, muss sich auch zur Verantwortung bekennen und darf das Problem nicht auf die Zeit abschieben. Der Staatsminister kann abgeschoben werden, aber nicht die Verantwortung. Deswegen erwarte ich, dass sich das Haus um diese Sachen kümmert. Dann wird darüber zu entscheiden sein, welche weiteren Maßnahmen notwendig sind. Ich möchte Sie auch darauf hinweisen, dass ich die Form, in der Sie mit den Amerikanern gesprochen haben, für falsch halte. Man kann mehr erreichen, wenn man partnerschaftlich miteinander spricht. Dann muss man allerdings auch fragen, ob unsere amerikanischen Verbündeten auch all die Fälle, bei denen Unfälle in Deutschland stattgefunden haben, offen gelegt haben. Ich möchte von Ihnen wissen, ob Sie diese Frage angesprochen und geklärt haben. Hören Sie endlich auf, auf die Regierungszeit abzuheben! Es geht hier darum, ob Menschen gefährdet sind oder nicht. ({1}) Ich lasse es nicht zu, dass durch Nebelwerferei versucht wird, den schwarzen Peter wegzuschieben. Jetzt muss derjenige handeln, der in der Verantwortung steht. Nichts mehr und nichts weniger wollen wir. Es geht darum, dass den Menschen bei uns, auch den Zivilisten, die möglicherweise Gefährdungen ausgesetzt waren, Beistand gegeben wird und dass Untersuchungen stattfinden. Das muss auf jeden Fall passieren. Aber davon habe ich noch kein Wort gehört. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Scharping, Sie haben das Recht zur Erwiderung. Bitte schön.

Rudolf Scharping (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002769, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schmidt, ich möchte Sie zunächst darüber informieren, warum ich diesen Arbeitsstab unter Leitung von Herrn Sommer, einem neutralen Fachmann der Sicherheits- und Außenpolitik, eingesetzt habe. Der Kollege Pfannenstein hat am 29. Mai 1995 die Bundesregierung gefragt, ob ihr bekannt sei, ob die USA oder andere NATO-Staaten DU-Munition auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland lagern oder zu Übungszwecken eingesetzt haben und, falls ja, für welche Truppen, Standorte und Übungsplätze dieses zutreffe. Die Bundesregierung hat geantwortet: Nach Erkenntnissen der Bundesregierung haben die in Deutschland stationierten USA-Streitkräfte DU-Munition im Bestand. Ein Verschuss zu Übungszwecken ist in Deutschland mangels geeigneter Übungseinrichtungen nicht möglich und daher untersagt. - Das habe ich überprüft. Es kamen hier eine Reihe von Informationen. Ich erspare mir jetzt noch das Zitieren der Antwort des damaligen Staatsministers im Auswärtigen Amt Helmut Schäfer auf eine entsprechende Frage des Kollegen Pfannenstein im Jahre 1997. Aber angesichts der Hinweise auf Schrobenhausen, Unterlüß oder Grafenwöhr, auf den irrtümlichen Beschuss eines ausgebrannten Panzers, der DU-Munition an Bord gehabt haben soll, möchte ich, dass das mit Blick auf diese Antwort, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms auf die man sich zunächst einmal verlässt, sorgfältig aufgeklärt wird. Ich halte das - unabhängig von der Frage, wer zu welchen Zeiten regiert hat - für richtig. Die Ereignisse liegen ja zum Teil mehr als zwei Jahrzehnte zurück, was die Aufklärung nicht ganz so einfach macht. Herr Kollege Nolting, die Frage des Kollegen Thiele ist korrekt beantwortet worden. Ich habe Ihnen geschildert, dass im Oktober der Vorschlag der Gesellschaft für Gesundheit und Umwelt geprüft wurde, ein entsprechendes Monitoring in Form von Untersuchungen vor Ort wie bei den eingesetzten Soldaten durchzuführen. Darüber ist im November 1999 entschieden worden und dann ist sofort damit bei uns, als einzigem Land innerhalb der NATO - das sage ich noch einmal -, begonnen worden. Ich bitte Sie, die vorliegenden Erkenntnisse noch einmal zu differenzieren: nach dem aus Sicht aller Mediziner fast vernachlässigbar geringen Risiko von Strahlenschäden und nach dem von der Bundesregierung seit Mai 1999 hier im Parlament und andernorts beschriebenen und auch nachgegangenem Risiko toxischer Wirkungen von Uran als Schwermetall. Wenn ich dazu etwas gesagt habe, habe ich immer auf diesen Unterschied aufmerksam gemacht. Ich hätte mich zumindest fahrlässig, wenn nicht sogar dumm verhalten, wenn ich dies nicht getan hätte. Wir haben das aber seit Mai 1999 getan. Wir werden mit derselben Konsequenz und Energie dem Plutonium-Verdacht nachgehen. Hier wird nämlich eine andere neue qualitative Ebene erreicht. Hier ist besonders viel Energie und ein besonderer Aufklärungswille erforderlich. Den haben wir auch. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Beer vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort. ({0})

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zu Joschka fällt mir so viel ein; da bräuchte ich eine Stunde Redezeit. Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass es dem Ernst der Thematik nicht angemessen ist, wenn hier mit Vokabeln wie „Schwarzer Peter hin- und herschieben“ und „Nebelwerfer schmeißen“ agiert wird. Worum geht es? Es geht um den Einsatz uranhaltiger Munition auf dem Balkan, ({0}) übrigens auch im Irak im zweiten Golfkrieg. Es geht konkret um die Anwendung im Rahmen der Luftangriffe gegen Serbien, also um Munitionsreste im Kosovo, in Serbien, in Montenegro und, wie wir nun wissen, auch in Bosnien. Es geht dabei nicht um die Frage, wer einmal an der Regierung war, sondern es geht darum, dass dieses Parlament mit großer Mehrheit beiden Einsätzen zugestimmt hat und damit Verantwortung für den Einsatz selbst, für die Folgen des Einsatzes und damit Verantwortung für die Menschen und die Ökologie übernommen hat. Verantwortung für die Menschen heißt Verantwortung für die Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten, für die Soldaten, denen wir das Mandat erteilt haben, für die internationalen Polizisten, die dort tätig sind, wie auch für die Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und für alle, die versuchen, die Situation auf dem Balkan wieder zu stabilisieren. Wenn wir von uranhaltiger Munition, von abgereichertem Uran reden, dann sind unterschiedliche Risikofaktoren zu nennen. Hierbei geht es um die Strahlung, um die toxischen Stoffe und um das Plutonium. Letzteres wissen wir seit vorgestern. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, kann man nicht auf den Streit reduzieren, ob der Kosovo-Einsatz etwas mit Leukämie zu tun hat. Wir müssen vielmehr alle Einzelheiten gründlich untersuchen. Wir müssen die Soldaten, die dort im Einsatz waren, und die Zivilbevölkerung ermuntern, sich untersuchen zu lassen, und zwar nicht nur einmal, sondern über einen Folgezeitraum von mehreren Jahren hinweg. Denn wir wissen, dass insbesondere die Auswirkungen von Uran und Plutonium nicht von heute auf morgen auftreten, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt. ({1}) Wenn wir von Handeln reden - handeln müssen wir; die Regierung hat das im Fall der Aufklärung durch die NATO, ob uranhaltige Munition auch Plutonium enthält, getan -, dann müssen wir auch - das gehört zu den Sofortmaßnahmen - dort, wo dies möglich ist, der Zivilbevölkerung helfen. Das bedeutet, die Gebiete abzusperren, die Munition zu bergen, zu vernichten und ärztliche Hilfe anzubieten. Über die Frage der Entschädigung wird übrigens später zu reden sein, wenn wissenschaftliche Untersuchungen den Beweis eines Zusammenhangs erbracht haben. Aber - und hier gibt es Differenzen - wir können uns nicht darauf ausruhen, dass wir nur die Wissenschaftler zitieren, die unsere Hoffnung stützen, dass uranhaltige Munition keine direkten Auswirkungen hat. Wir müssen vielmehr auf den drei unterschiedlichen Ebenen, die ich genannt habe, den Verdacht konstatieren, dass Waffen wie die Uranmunition, unterschiedslos gegen Bevölkerung wie Soldaten wirkend, dem humanitären Kriegsvölkerrecht widersprechen. Das ist der Grund, warum wir sagen: Es geht nicht nur um das Moratorium, das wir leider erfolglos versucht haben, in der NATO durchzusetzen. Es geht auch um das Verbot uranhaltiger Munition und um die internationale Ächtung dieser Munition, weil dies für uns auch zur Fürsorgepflicht und zur Verantwortung gehört. Denn die Beweispflicht liegt nicht bei den potenziellen Opfern. Handeln heißt sofort verbieten. ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Transparenz ist das Gebot der Stunde: Transparenz bei Verschwiegenem in den vergangenen Jahren, Transparenz und ein Ende der Geheimnistuerei der NATO und Transparenz in jedem Punkt gegenüber dem zuständigen Verteidigungsausschuss, um verantwortlich die nächsten Schritte festlegen zu können. Diese Transparenz liegt nicht nur in der Verantwortung der Politik: Damit meine ich sowohl das Ministerium als auch den Ausschuss und das Parlament. Wir müssen feststellen, dass unsere Soldaten und sicherlich auch die anderer Streitkräfte, dass auch die Familien zu Recht fragen: Wart ihr sicher genug? Waren alle Maßnahmen getroffen? - Da reicht es nicht, zu sagen, Soldaten seien besser geschützt als die Zivilbevölkerung, sondern wir müssen in beiden Bereichen Vertrauen zurückgewinnen. Deswegen werden wir Grüne mit unserer Kraft und sicherlich auch mit Unterstützung der Bundesregierung diese Transparenz innerhalb der Bundesregierung und der NATO erwirken, und zwar auch für einen letzten Bereich, den ich ansprechen möchte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, Frau Kollegin. Sie haben Ihre Redezeit schon lange überschritten.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Wir bestehen auf Offenheit hinsichtlich aller Versuche der Erprobung in der Bundesrepublik Deutschland, hinsichtlich jeder Art der Nutzung durch Alliierte in der Bundesrepublik Deutschland. Auch das ist notwendig, um Schäden vielleicht noch rechtzeitig zu erkennen und Spätfolgen zu verhindern. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Heidi Lippmann von der PDS-Fraktion das Wort.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst eine Selbstverständlichkeit voranstellen: Es gibt keine sauberen oder humanitären Kriege. Frau Buntenbach, es gibt auch keine Waffe oder keine Munition, die nicht die Gesundheit gefährdet. Das sollten wir hier klarstellen und ich denke, dass mir alle in diesem Hause in diesem Punkt Recht geben. ({0}) Es gibt auch beim Führen von Kriegen Grundregeln, nämlich das Völkerrecht und insbesondere das Kriegsvölkerrecht. Nach dem Kriegsvölkerrecht besteht schon sehr lange die Forderung gerade von den Vereinten Nationen, DU-Munition zu verbieten und zu ächten. ({1}) Wenn Sie, liebe Frau Beer, heute behaupten, dass Sie schon seit zwei Jahren für das Verbot und die Ächtung der DU-Munition eintreten, ({2}) dann frage ich Sie: Weshalb haben Sie das nicht am 24. März und am 15. April 1999 getan, als die Meldungen eintrafen, dass DU-Munition von A-10-Bombern abgeworfen wurde? Weshalb haben Sie damals nicht lautstark bei Ihrem amerikanischen Bündnispartner protestiert und gefordert, auf diese Munition zu verzichten? ({3}) Stattdessen tun Sie heute so, als hätten Sie mit dem Ausruf „mea maxima culpa“ Ihrer Verantwortung für diesen Krieg Genüge getan. Ich habe keinerlei Verständnis dafür, dass Sie heute so tun, als bestehe dieses Phänomen erst seit gestern oder seit Beginn dieses Jahres. ({4}) Spätestens seit 1990, als über 800 000 Geschosse DUMunition im Irak eingesetzt wurden, gibt es Warnungen aus dem Pentagon und aus britischen Regierungskreisen. All dies ist nachzulesen. Es gibt Einzelstudien - wenn auch keine gesicherten Langzeitstudien -, dass die Depleted-uranium-Munition nicht nur eine hochtoxische Wirkung hat, sondern dass aufgrund des Zerfalls in verschiedene Isotope Radioaktivität mit einer bis zu 4,5 Milliarden Jahre anhaltenden Strahlung entsteht, die Böden und Gewässer kontaminiert. Doch dies alles wollten Sie damals nicht gewusst haben. Deswegen erlaube ich Ihnen hier und heute auch nicht, so zu tun, als sei dieses Phänomen neu. ({5}) Worum es Ihrer Regierung und insbesondere dem Verteidigungsminister geht, hat er am Sonntag in einem Fernsehinterview klar gesagt. Er sprach davon, dass in Zukunft alles öffentlich auf den Tisch gelegt werden solle und man dafür eintrete, diese Munition nicht mehr zu verwenden. Er sagte weiterhin - ich zitiere -: ... nicht wegen der gesundheitlichen Risiken, die entstehen mögen und die wir für sehr gering halten, sondern um zu vermeiden, dass die politische Legitimität des Bündnisses ... dadurch untergraben wird, dass man solche Debatten entzündet, die einen sehr geringen sachlichen Kern haben, aber eine hohe emotionale Wirkung. Dies zeigt deutlich, Herr Minister: Ihnen ist die Legitimität des Bündnisses viel wichtiger als die wohlbegründeten Ängste der Menschen ({6}) in der Golfregion, in Bosnien, im Kosovo, in Serbien und in Montenegro. Wir wissen bis heute noch nicht einmal, wie viel DU-Munition dort heruntergegangen ist. Auf verschiedene Anfragen wurde ausweichend geantwortet, es wurde verharmlost und vertuscht. Ähnlich wie beim BSE-Skandal hat man darauf verzichtet, offen mit Informationen zu agieren und die Wahrheit zu sagen. Diese Vertuschungs- und Verharmlosungspolitik und insbesondere das bewusste Sagen der Unwahrheit haben Sie uns auch heute wieder vorgeführt, Herr Minister. Deshalb fordern wir einen Untersuchungsausschuss. ({7}) Wir und auch die CDU/CSU können Ihnen nachweisen, an welcher Stelle Sie die Unwahrheit gesagt haben. Deswegen appelliere ich an alle Kolleginnen und Kollegen, die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss zu unterstützen. Wir fordern ihn nicht nur, weil jetzt auch noch Plutonium in der Munition nachgewiesen wurde. Wir fordern ihn auch, weil es nicht nur ein Skandal, sondern ein Verbrechen ist, den Einsatz derartiger Munition seit Jahrzehnten zu tolerieren. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung. Ich habe am Anfang meiner Rede gesagt: Es gibt keine sauberen und keine humanitären Kriege; es gibt keine saubere und keine humanitäre Munition. Der Schritt hin zu einer Ächtung und zu einem Verbot von DU-Munition ist längst überfällig und notwendig. Doch dieser Schritt reicht bei weitem nicht aus. Viel wichtiger ist es, nicht nur eine bestimmte Munitionsart, sondern Kriege und den Einsatz von Waffen generell zu ächten, um damit Konflikte zu entschärfen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Georg Pfannenstein von der SPD-Fraktion das Wort.

Georg Pfannenstein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002749, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss immer auf der Höhe der Zeit bleiben. Ich habe eben eine Nachricht von 15.40 Uhr aus dem spanischen Verteidigungsministerium gelesen, in der Frederico Trillo ankündigt, dass er sich am Donnerstag mit Verteidigungsminister Scharping in Verbindung setzen will; er will von seinen Erfahrungen profitieren und seinen Rat im Umgang mit den Einsätzen im Kosovo ersuchen. Ich denke, das spricht für unseren Verteidigungsminister. ({0}) - Herr Nolting, weil ich Sie gerade so lachen sehe: Sie haben hier alleine zwei Runden gedreht. Das spricht nicht gerade für Ihre Personaldecke; ich denke, die ist ziemlich dünn. Wie Sie bei der nächsten Bundestagswahl die 10 Prozent erreichen wollen, die Ihnen Möllemann vorgegeben hat, ({1}) bleibt mir schleierhaft. Was die aufgeheizte Diskussion um die DU-Munition eigentlich so schwierig macht, sind zwei Punkte. Erstens: Schon das Wort Uran ist in Deutschland nach einer jahrzehntelangen Debatte um Kernkraft und Kernwaffen ein psychologisches Reizwort. Zweitens: Es gibt noch immer einige Unsicherheiten hinsichtlich möglicher gesundheitlicher Schäden durch die Munition. Weil das so ist, wird auch mit großer Akribie verfolgt, ob es in Deutschland Zwischenfälle mit dieser Munition gegeben hat. Die Liste mutmaßlicher oder tatsächlicher Zwischenfälle ist in der letzten Zeit täglich länger geworden: 1980 will ein deutscher Soldat in Sennelager mehrere Patronen DU-Munition zu Testzwecken verschossen haben. Die Bundeswehr besitzt diese Munition aber nicht. Höchstwahrscheinlich hat er vielmehr die bei der Bundeswehr gebräuchliche Panzer brechende Munition mit Wolframkern abgefeuert. - Die sowjetischen Streitkräfte sollen angeblich in der Altmark jahrelang Munition mit abgereichertem Uran verschossen haben. Beweise dafür hat noch niemand vorgelegt. - Wie wir aber seit einigen Tagen wissen, haben US-Soldaten in zwei Fällen je ein DU-Geschoss versehentlich eingesetzt und abgefeuert: 1985 in Altenwalde/Garlstedt, 1986 in Grafenwöhr. Die DU-Kerne sind entsorgt worden. Das umgebende Erdreich wurde ebenfalls entsorgt. - Ebenfalls neu ist die Information, dass 1988 in Gollhofen ein US-Kampfpanzer bei einer Übung Feuer fing und ausbrannte. Er hatte DU-Munition an Bord. Die Unfallstelle wurde durch amerikanische Militärpolizei abgeriegelt. Zu Schaden ist, Gott sei Dank, niemand gekommen. Zwischenfälle mit der DU-Munition gab es übrigens auch im Ausland. Ende 1995 und Anfang 1996 haben USKampfflugzeuge über einer unbewohnten japanischen Insel versehentlich circa 1 500 Schuss DU-Munition abgefeuert. Die Überreste wurden teilweise eingesammelt. Die japanische Regierung erfuhr aber erst 1997 von diesem Vorfall. Das spricht nicht gerade für die Informationspolitik unserer Verbündeten. Zudem gibt es Befürchtungen, nach denen die US-Luftwaffe auch auf einer Militärbasis in Puerto Rico versehentlich DU-Munition verschossen haben soll. Das Hauptproblem bei diesen tatsächlichen oder mutmaßlichen Zwischenfällen ist die unzureichende Informationspolitik der US-Armee, gerade weil es sich um ein sehr sensibles Thema handelt. Wenn nun die Kollegen von der CDU/CSU der jetzigen Bundesregierung schlechte Informationspolitik vorwerfen, ({2}) dann verpassen sie einen entscheidenden Punkt. - Ihre Sicht, Herr Breuer, ist getrübt, weil Sie alles nur durch die Parteibrille sehen. Das ist uns allen bekannt. 1995 habe ich nämlich bei der damaligen Bundesregierung schriftlich angefragt, ob die USA oder andere Staaten DU-Munition in Deutschland lagern oder zu Übungszwecken eingesetzt haben. Herr Rühe war damals Verteidigungsminister. Aus seinem Haus habe ich die Antwort erhalten, dass die US-Streitkräfte diese Munition in Deutschland lagern. Weiter lautete die Antwort: Ein Verschuss zu Übungszwecken ist in Deutschland mangels geeigneter Übungseinrichtungen nicht möglich und daher untersagt. ({3}) Nach dem versehentlichen Verschuss von DU-Munition in Japan habe ich die Bundesregierung 1997 noch einmal gefragt, wie sie das Risiko eines versehentlichen Verschusses in Deutschland einschätzt und was sie unternimmt, um Risiken auszuschließen und sicherzustellen, dass sie nach einem Zwischenfall umgehend informiert wird. Die Antwort lautete: Die Verbündeten verwenden keine DU-Munition für Schießübungen in Deutschland. Demnach ist ein Risiko durch einen versehentlichen Verschuss von DUMunition auf dem Gebiet der Bundesrepublik nicht gegeben. Das ist der Informationsstand, den die heutige Bundesregierung und damit Verteidigungsminister Scharping 1998 von Ihnen geerbt haben. Wie wir heute wissen, war die Antwort auf meine Anfrage nicht korrekt, um es vornehm auszudrücken. ({4}) Ich gehe davon aus, dass man es im Verteidigungsministerium und im Auswärtigen Amt nicht besser wusste. Aber Herr Rühe hat offensichtlich weder die Berichterstattung über den Golfkrieg noch die parlamentarischen Anfragen noch den Zwischenfall in Japan zum Anlass genommen, sich intensiver um das Thema DU zu kümmern. Wenn heute von Versäumnissen geredet wird, dann müssen wir schon von Ihren Versäumnissen sprechen. ({5}) Wesentlich konstruktiver ist es, wenn Sie sich den Regierungsfraktionen anschließen und sich mit uns dafür einsetzen, dass DU-Munition zumindest vorläufig nicht mehr genutzt wird. ({6}) Denn wo auch immer sie auftaucht, bringt sie Schwierigkeiten mit sich, egal ob diese psychologischer, medizinischer oder gegebenenfalls völkerrechtlicher Art sind. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ursula Lietz.

Ursula Lietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Zum wiederholten Male müssen wir uns nun beim Thema „depleted uranium“ mit einer völlig inakzeptablen Informationspolitik vonseiten des Verteidigungsministeriums auseinander setzen. Ich selbst habe dies in der Vergangenheit bereits zweimal erleben dürfen. Der eine Fall war der eines im Januar im Kosovo gestorbenen Soldaten, in dessen Krankenunterlagen es sehr widersprüchliche Aussagen und drei verschiedene Diagnosen gab. Präzise Fragen wurden nicht beantwortet. Die Strafanzeige, die Sie, Herr Verteidigungsminister, bekommen haben, hätten Sie sich durch gute Informationspolitik sparen können. ({0}) Seit zwei Jahren versuche ich, die Aufmerksamkeit des Verteidigungsministeriums auf das Thema „Asbestkontamination von Soldaten“ zu richten. Auch da gab es kaum eine Reaktion und schon gar kein Geld für Untersuchungen. ({1}) Diese Fälle und jetzt der falsche Umgang mit Informationen zum Thema „abgereichertes Uran“ geben ein beredtes Zeugnis davon, dass die Ängste von Soldaten und ihren Familien nicht ernst genommen werden. Auf dem Balkan ist Munition mit abgereichertem Uran zur besonders effektiven Panzerbekämpfung eingesetzt worden. Die Vorteile sind uns allen sehr deutlich geschildert worden. Mögliche Nachteile für die Gesundheit der Soldaten bis hin zu Langzeitwirkungen bei Betroffenen werden von Wissenschaftlern allerdings sehr unterschiedlich beurteilt und von Ihnen, Herr Verteidigungsminister, nicht ehrlich diskutiert. Solange wir so unterschiedliche Meinungen bekannter Wissenschaftler erhalten, solange wenige fundierte Kenntnisse zu diesem Thema vorliegen, können wir es uns nicht leisten, ein Risiko einzugehen. In dem Papier, das wir heute unmittelbar vor der Aktuellen Stunde bekommen haben, ist die Rede davon, dass die NATO eine Sonderkommission zur DU-Munition eingerichtet hat. Das beweist zumindest, dass man auch dort nicht sicher ist, welche Wirkungen dieses Material mit sich bringt. ({2}) Die CDU/CSU-Fraktion fordert Sie deshalb auf: Erstens. Wir brauchen eine zuverlässige Erfassung und valide Reihenuntersuchungen in Form eines Screenings, und zwar über einen längeren Zeitraum, weil wir die Wirkungen über längere Zeiträume überhaupt noch nicht kennen. Diese Untersuchung muss sich auf alle im Kosovo und auf dem Balkan mit DU-Munition in Berührung gekommenen Soldaten erstrecken. Stichprobenuntersuchungen von 50 oder 100 Soldaten von insgesamt 60 000 oder 70 000 reichen natürlich überhaupt nicht aus. ({3}) Diese Untersuchungen sollten in Absprache mit anderen NATO-Ländern nach internationalen und vergleichbaren Standards durchgeführt werden, damit Interpretationsmöglichkeiten so gering wie möglich gehalten werden. Zweitens. Sie müssen gemeinsame Forschungsanstrengungen mit unseren Verbündeten unternehmen, um fundierte Ergebnisse nach WHO-Standard über mögliche Schädigungen - auch über Strahlenschädigungen - zu erhalten, und diese in gemeinsamen Datenbanken integrieren. Drittens. Klares Datenmaterial aller NATO-Länder über Boden- und Wasserproben aus DU-kontaminierten Gebieten muss vorgelegt werden. Unterschiedliche Messergebnisse, so wie sie zum jetzigen Zeitpunkt vorliegen, sind irreführend. Viertens. Schnellste Aufklärung ist zu schaffen über die in der Vergangenheit erfolgte Verwendung von DUMunition in Deutschland durch verbündete, aber auch durch russische Streitkräfte. Fünftens. Herr Verteidigungsminister, die betroffenen Soldaten und ihre Familien leiden unter Ihrer Informationspolitik. Aussagen wie „Die Strahlung ist vergleichbar mit der, der man bei einem Aufenthalt in Hofgastein ausgesetzt ist“ sind zynisch und herablassend ({4}) - das hat er persönlich gesagt; ich habe das im Fernsehen gesehen, verehrter Herr Zumkley -, ({5}) und zwar gerade dann, wenn Sie im NATO-Rat ein Moratorium im Hinblick auf die Verwendung dieser Munition beantragen. Dies ist widersprüchlich und überhaupt nicht glaubwürdig, ({6}) auch dann, wenn gleichzeitig auf der Homepage des Verteidigungsministeriums Folgendes zu lesen ist - ich zitiere -: Vorgekommen sind auch einsatzbezogene Unzulänglichkeiten beim Umgang mit DU-Munition und Asbest. Wenn das aber so ist, Herr Verteidigungsminister, dann frage ich ernsthaft, ob Sie der Fürsorgepflicht gegenüber den betroffenen Soldaten überhaupt gerecht werden und ob nicht zu späte oder gar keine Information die von Ihnen so beklagte Medienhysterie erzeugt hat. Glaubwürdigkeit, Herr Minister, ist etwas, worauf Soldaten und ihre Familien nicht erst jetzt ein Recht haben. Beteuert haben Sie viel, geschehen ist bis heute wenig. ({7}) Als die Medienberichterstattung über Sie hereinbrach, haben Sie den amerikanischen Botschafter herzitiert, damit Sie vor der Presse sagen konnten, er sei der Schuldige. ({8}) Ich frage mich ernsthaft, welchen Stellenwert Deutschland als größtes europäisches Land innerhalb der NATO eigentlich hat, wenn Sie von dort nötige Informationen nicht bekommen. Ich muss Ihnen sagen: Ich glaube Ihren Aussagen nicht. ({9}) Es ist Zeit zu handeln. Es geht nicht darum, hier Panik zu machen, sondern um die Wahrheit, Herr Minister. Es geht darum, dass Sie dafür zu sorgen haben, dass die Bundeswehr durch Ihr Verhalten keinen Schaden nimmt. Hören Sie auf, bei wirklich jedem Problem, mit dem Sie konfrontiert werden, quasi wie ein rhetorisch nur begrenzt geschulter Papagei immer wieder zu rufen: Rühe war es! - Das reicht nicht mehr. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({0}), Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Familienzusammenführung sachgerecht regeln - EU-Richtlinienvorschlag ablehnen - Drucksache 14/4529 ({1}) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. - Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Erwin Marschewski.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben den vorliegenden Antrag ganz bewusst auf die Tagesordnung setzen lassen, weil wir eigentlich dem Herrn Bundesinnenminister - gewissermaßen als Neujahrsgeschenk - eine Freude machen wollten. Nun ist der Bundesinnenminister nicht anwesend. Er ist - vielleicht begründet - verhindert. Frau Staatssekretärin, ich denke, Sie werden ihm dies mitteilen. Denn wir wollten dem Bundesinnenminister hier im Parlament coram publico die Chance geben, das, was er in der Zeitung festgestellt hat, zu wiederholen. Dort hat er gesagt, die Familienrichtlinie der EU gehe viel zu weit. Wir gehen sogar ein Stück weiter: Wir wollen gemeinsam mit Herrn Schily erreichen, dass diese Familienrichtlinie keine Realität wird. Meine Damen und Herren, wir brauchen im Ausländerrecht keine punktuellen Regelungen. Was wir im Zusammenhang mit der Zuwanderung nach Deutschland brauchen, ist ein Gesamtkonzept. Ein solcher Entwurf einer Richtlinie kann nicht das Ergebnis eines Gesamtkonzeptes sein, sondern nur ein Anfang. Das ist die falsche Reihenfolge. Wer komplexeste Problemlösungen - darum handelt es sich ja bei einer Zuwanderungsbegrenzung ohne Gesamtkonzept erledigen will, der verliert zwangsläufig den Überblick. ({0}) Diese Konzeptionslosigkeit ist für Deutschland gefährlich. Sie nimmt uns die Chance, eine Zuwanderungsbegrenzung einzuführen. Bedenken Sie auch, dass Normen, die wir setzen, letzten Endes Ansprüche schaffen, die wir gewähren müssen. Das bedeutet, dass unser Handlungsspielraum beträchtlich eingeschränkt wird. Wir brauchen insgesamt ein Zuwanderungsbegrenzungskonzept, weil einfach zu viele Menschen nach Deutschland kommen wollen, die wir nicht benötigen, und weil zu wenige Leute nach Deutschland kommen, die wir nötig haben. ({1}) - Deswegen, Frau Kollegin - völlig richtig -, stehen Einzellösungen nun wirklich nicht auf der Tagesordnung und macht es keinen Sinn, in nur einem Bereich vorzupreschen. ({2}) Ich habe es bereits gesagt: Wir hatten die Hoffnung, dass der Minister heute einmal anwesend ist. Er hat groß angekündigt, er wolle diese Richtlinie - ich komme gleich auf Einzelheiten zu sprechen - verhindern. Aber wir haben die große Sorge, dass Herr Schily wieder keine Unterstützung aus den eigenen Reihen bekommt. Das ist ja im Bereich deutscher Innenpolitik mittlerweile an der Tagesordnung. So hat der Bundesinnenminister zu Recht gesagt - Sie wissen dies -, die Grenze der Belastbarkeit durch Zuwanderung sei überschritten. Er hatte Recht mit dieser Äußerung. Kaum hatte er diese Äußerung getan, wurde er kritisiert - von der SPD, von den Grünen. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass Herr Appel - Fraktionssprecher der Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen - dem Bundesinnenminister für diese Äußerung den so genannten Peinlichkeitspreis verleihen wollte, von den Angriffen des Herrn Ströbele, der sich wahrscheinlich auch bald wegen seiner Jugendsünden rechtfertigen muss, ganz zu schweigen. Wir sind es gewohnt: Der Bundesinnenminister sagt viel, aber erreicht wenig. Das nächste Thema, Asylrecht: Der Bundesinnenminister hat gesagt - ich gebe das einmal wörtlich wieder -, das subjektive Grundrecht auf Asyl müsse im Zuge einer europäischen Asylregelung nun wirklich abgeschafft werden. Kaum hatte er dies gesagt, kam die Kritik: im Ausschuss von der SPD-Fraktion, von den Grünen und im Kabinett vom Bundeskanzler persönlich. Der Bundeskanzler hat wörtlich zu Herrn Schily gesagt - ich habe dies der Presse entnommen -, zwar könne man Einzelnen nicht die Meinung verbieten, sie sollten sie aber nicht ständig und prononciert in die Öffentlichkeit tragen. ({3}) Und die nächste Schlappe stand bevor: Schily hat gesagt - wie ich gerade erwähnte -, er wolle diese Richtlinie nicht - zumindest nicht so - realisieren. Kaum hatte er dies gesagt, haben Grüne und Sozialisten im Europäischen Parlament für diesen Entwurf, also gegen den Bundesinnenminister, gestimmt. Das war Schlappe Nummer drei. ({4}) Übrigens, Frau Kollegin Lenke: Auch die Liberalen haben dafür gestimmt. Ich weiß nicht, warum; ({5}) es passt nämlich nicht in ihr Gesamtkonzept. Das widerspricht völlig Ihrem Zuwanderungsbegrenzungskonzept, das ich im Übrigen für einen - nicht sonderlich tauglichen Vorschlag halte, der völlig im Gegensatz zu Ihrer sonstigen Politik steht. Aber vielleicht wird sich das ändern, wenn der Herr Westerwelle - der weiß das nämlich selbst - in der Partei die Zügel in die Hand nimmt. Meine Damen und Herren, wir wollten diesen Antrag, wie gesagt, auf die Tagesordnung setzen, um Herrn Schily die Chance zu geben, hier wirklich einmal Ross und Reiter zu nennen und uns auf diese Fragen zu antworten. Aber wir wollten auch die Bevölkerung informieren. Wenn diese Richtlinie in Kraft tritt, werden Hunderttausende Menschen mehr nach Deutschland kommen, und zwar ungesteuert. ({6}) Es wird kein Raum mehr sein für eine gesteuerte Zuwanderung. Zudem werden - auch da hat Schily Recht die Sozialklassen beträchtlich belastet. Das kann nicht sein, ohne dass ein Gesamtkonzept auf dem Tisch liegt. Zu den einzelnen Positionen - ich will nur ein paar aufführen -: Es ist falsch, Personen das Recht zur Familienzusammenführung zu geben, die nur einen befristeten Aufenthaltstitel besitzen. Das kann doch nicht sein. Eine Zuwanderung muss auf Dauer angelegt sein. Es kann nicht sein, jemandem, der nur einen auf ein Jahr befristeten Aufenthaltstitel hat, Familiennachzug zu gewähren. Dies ist am Ende zu hart für den Betroffenen, zu hart für das Ausgangsland und auch nicht verständlich für unser Land. Ein weiterer Punkt: Der Kreis der Nachzugsberechtigten ist zu weit und unbestimmt. Der Kreis der Berechtigten umfasst nicht nur die normale Familie. Sie wollen den Kreis nicht auf die so genannte Kernfamilie beschränken, sondern ihn - das Gegenteil von Kern ist Schale -, auch auf homosexuelle Lebensgemeinschaften ({7}) Erwin Marschewski ({8}) und - hier wird es problematisch - auf heterosexuelle Partnerschaften ausdehnen. ({9}) - Da haben Sie und auch die Bundesregierung doch Erfahrung. Ich weiß, wie oft Partner gewechselt werden, wenn man nicht verheiratet ist; ({10}) übrigens auch, wenn man verheiratet ist. Aber wenn man nicht verheiratet ist, werden die Partner noch häufiger gewechselt. ({11}) Sie wollen jedem ein Zuwanderungsrecht geben. ({12}) - Das steht in der Richtlinie. Das führt doch nur dazu, dass niemand einen Arbeitsplatz nachweisen muss. Niemand braucht Wohnraum nachzuweisen. Auch das steht in der Richtlinie. Niemand braucht Einkünfte nachzuweisen. Niemand braucht eine Krankenversicherung nachzuweisen. Wenn das Wirklichkeit wird, findet die Zuwanderung keine vernünftige Begrenzung. ({13}) Ich bleibe dabei: Wir wollen eine Zuwanderungsbegrenzung. ({14}) Natürlich brauchen wir Zuwanderung nach Deutschland, aber dies muss gesteuert werden. Wir wollen Nein sagen können, wenn wir Menschen nicht benötigen, weil dies nicht vernünftig ist und die Menschen bei uns auch keine Zukunft hätten. ({15}) Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen. Ich bin insbesondere auf die SPD gespannt, vor allem vor dem Hintergrund dessen, was der Bundesinnenminister gesagt hat. Ich war im Innenausschuss und im Plenum des Bundesrates. Im Innenausschuss haben Länder wie Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen gegen diese Richtlinie gestimmt. Diese Richtlinie fand auch im Plenum des Bundesrates keine Unterstützung; zu Recht, weil sie nicht Inhalt eines Gesamtkonzeptes sein kann. Europäische Lösungen können nur auf der Basis von Vernunft und nicht von Schnellschüssen gefunden werden. Vor diesem Hintergrund hoffe ich, dass sich der Bundesinnenminister zum ersten Mal gegenüber der grün-linken Fraktion durchsetzt, Nein zu dieser Familienzusammenführungsrichtlinie sagt und nicht nur ununterbrochen große Sprüche zur Zuwanderung, zum Asylrecht, zur Ablehnung der Familienzusammenführungsrichtlinie macht, aber letzten Endes bei Ihnen, im Ausschuss und in der Fraktion scheitert. ({16}) Ich hoffe auch, dass sich der Bundeskanzler in dieser Frage einmal in der grünen Fraktion und in der SPD-Fraktion durchsetzt. Hier - nicht in der Rentenpolitik - wäre ein Basta des Herrn Bundeskanzlers wirklich sehr angebracht. ({17})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rüdiger Veit.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren und vor allen Dingen lieber Herr Kollege Marschewski! Mit ihrem Antrag strebt die CDU/CSU-Fraktion - wenn man es richtig liest - sogar die Ablehnung des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung insgesamt an. Aber das wird ihr nicht gelingen. Sonst müsste sie sich von Art. 63 des Amsterdamer Vertrages vom Oktober 1997 - damals hat ein Kanzler, der nicht Gerhard Schröder hieß, unterzeichnet - und von den Ergebnissen des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung im Oktober 1999 in Tampere, Finnland, lossagen. Sie müssten sich davon verabschieden, denn auf diesen vertraglichen Grundlagen sollten der Bereich der Menschenrechte genauso wie jener der Asyl- und Flüchtlingspolitik zu einem einheitlichen europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ausgebaut werden. Getrieben von Ängsten vor Überfremdung und Überbevölkerung - das haben wir eben wieder gehört -, zugleich aber diese Ängste weiter schürend, leisten Sie als Union hier einen europapolitischen Offenbarungseid. ({0}) Welch ein Kontrast zur Realität! Nach einer Presseberichterstattung von vorgestern befürchtet der für die Berliner Stadtentwicklung zuständige Senator Strieder einen geradezu dramatischen Bevölkerungsrückgang in Berlin, wenn nicht etwa 200 000 Menschen jährlich allein nach Berlin aus dem Ausland kommen. Ohne exakt diese Zahl zu bestätigen - das will ich gerne dazu sagen -, pflichten ihm jedenfalls im Grundsatz der Regierende Bürgermeister von Berlin Diepgen und sein Innensenator Werthebach - bekanntlich CDU, Herr Kollege Marschewski ({1}) - in der Tat, Kollege Barthel, ein ausgesprochener Hardliner - ausdrücklich bei, wie gestern in der Zeitung zu lesen war. Bei dem Ziel ihres Antrags, nämlich die vollständige Ablehnung der Richtlinie, verkennt die CDU/CSU völlig, Erwin Marschewski ({2}) dass es mit gutem Grund und mit ihrer eigenen Zustimmung schon heute - allerdings in erweiterungsbedürftiger Form - das Recht auf Familienzusammenführung in deutschen Gesetzen gibt. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, müssten es eigentlich begrüßen, dass das Recht auf Familienzusammenführung - jedenfalls in diesem Umfang - in dieser Ihnen bekannten und von Ihnen zugestimmten Form in ganz Europa einheitlich geregelt werden soll. Eine vollständige Ablehnung dieser Richtlinie - das will ich hier deutlich sagen - wollen weder der Bundesrat in seiner Mehrheit noch der deutsche Innenminister, dem Sie laut Begründung Ihres Antrages und so, wie es angekündigt wurde, gegen die deutschen SPD-Europaabgeordneten offenbar zu Hilfe eilen wollten. Herr Marschewski - dazu passt auch, was Sie hier gesagt haben -, Sie sollten sich wie viele in meiner eigenen Fraktion langsam daran gewöhnen, dass manchmal - ich betone: manchmal - der Innenminister Otto Schily mit seinen Positionen einigen Länderinnenministern oder auch den Kollegen hier aus der CDU/CSU-Fraktion größere Freude als seinen eigenen Parteifreunden in Brüssel oder Berlin macht. Aber um darauf aufmerksam zu machen, brauchen Sie wirklich nicht jedes Mal im Parlament einen Antrag zu stellen. Das merken wir auch so. In der Begründung Ihres Ablehnungsantrags führen Sie unter anderem aus, „dass der Richtlinien-Entwurf Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen mit Asylfragen und dem Schutz von Personen, die subsidiären Schutz genießen, vermischt“. Wenn Sie aber genau hinschauen, merken Sie, dass diese Personen gar nicht mehr vom neuen Entwurf aus dem Oktober letzten Jahres berührt werden. Ihrer Meinung nach vermische die Kommission dies alles und habe bei dem Entwurf im Übrigen völlig außer Acht gelassen, zu prüfen, wie viel Zuwanderung und wie viele Personen mit welcher Qualifikation sinnvollerweise zu erwarten seien. Dabei sind Sie es selbst, die die Dinge - übrigens nicht zum ersten Mal - immer wieder vermischen. Sie haben offenbar nicht verstanden - das hat Ihr Beitrag deutlich gemacht -, dass Familienzusammenführung weder Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen ist, noch dass sie etwas mit der Qualifikation von Familienangehörigen zu tun hat. Sie haben deutlich gesagt, es gehe Ihnen in Wahrheit bei diesem Thema erneut um ein Zuwanderungsbegrenzungskonzept, aber nicht um Familienzusammenführung. Ich hätte offen gestanden nicht geglaubt, Sie von der CDU/CSU darauf hinweisen zu müssen, dass das Recht auf Zusammenleben mit und in der Familie ein Menschenrecht ist: geachtet und geschützt, ({3}) und zwar in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention genauso wie in Art. 6 des Grundgesetzes - es ist banal, das hier und heute noch einmal sagen zu müssen, aber Ihnen muss man es offenbar sagen -, das ganz ausdrücklich nicht nur für deutsche Staatsangehörige gilt. In diesem Zusammenhang komme ich auf ein Zitat zurück, das man findet, wenn man im Internet unter dem Stichwort Familienpolitik bei der CDU nachschaut. Ich schicke das deswegen voraus, weil Sie sonst vielleicht glauben, es sei unsere Position. Wir wollen mit unserer Politik - so sagen Sie dort junge Menschen ermutigen, sich für die Familie, für ein Leben mit Kindern und für ein Leben in der Solidarität des Familiennetzes zu entscheiden. Wie wahr, kann ich dazu nur sagen. Daher ist - jedenfalls aus unserer Sicht - der Absicht des Richtlinienentwurfes, den Zuzug von Familienangehörigen zu in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen als Rechtsanspruch auszugestalten, ausdrücklich zuzustimmen, ({4}) auch wenn dies - das muss man sehen - an der einen oder anderen Stelle Änderungen des deutschen Ausländerrechtes bedeuten mag. Anders als Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind wir ausdrücklich damit einverstanden, dass das Nachzugsalter für Kinder von bisher 16 auf 18 Jahre heraufgesetzt wird. Wie wir - angesichts Ihrer Befürchtung, es kämen dann große Massen von Menschen, will ich Ihnen das einmal sagen - der Kindergeldstatistik der Arbeitsämter ziemlich genau entnehmen können, kann es sich dabei um maximal 10 000 junge Menschen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren handeln, die im Übrigen nur möglicherweise und sicherlich nur zum Teil zu ihren Familien nach Deutschland nachreisen würden. Sie wollen das Nachzugsalter sogar auf das 10. Lebensjahr beschränken. Wie dies mit dem Grund- und Menschenrecht auf Zusammenleben in der Familie und mit Ihren eben zitierten Grundsätzen zur Familienpolitik vereinbar ist, müssen Sie uns einmal erklären. Das bleibt nach wie vor Ihr Geheimnis. Anders als Sie halten wir es in Übereinstimmung mit dem Richtlinienentwurf für richtig, dass die wenigen - es mögen 1999 von bundesweit 1 200 Antragstellern vielleicht nur 100 oder 200 Personen gewesen sein - anerkannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge unter 16 Jahren die Möglichkeit haben sollten, ihre Eltern und zumindest weitere minderjährige Geschwister nach Deutschland oder Europa nachkommen zu lassen. Denn diese Kinder und Jugendlichen können nur in dem Land, in dem sie Zuflucht gefunden haben, ein Familienleben realisieren, aber nicht in dem Land, aus dem sie gekommen sind und aus dem sie aus zwingenden Gründen geflohen sind, weil sie keinen Schutz gefunden haben. Neben humanitären Gesichtspunkten - das sei auch den Kommunalpolitikern gesagt - spricht für diese Regelung unter anderem auch, dass anderenfalls die Unterbringung dieser Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen für den Sozial- und Jugendhilfeträger extrem hohe Kosten verursacht. Schließlich sind wir - anders als Sie - der Auffassung, die hier zu ihren Familien nachziehenden Ehegatten und Kinder sollten einen sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu einer Ausbildung haben. Dies fördert ihre Integration erheblich und es ist für unsere öffentlichen Kassen auch nur von Vorteil, wenn die gesamte Familie des Drittstaatsangehörigen durch eigene Erwerbstätigkeit unabhängig von Sozialleistungen ist bzw. möglichst schnell wird. Gänzlich anders, als die Opposition in ihrem Antrag unterstellt, ist dies durchaus keine Bedrohung für den deutschen Arbeitsmarkt. Auch hier helfe ich Ihnen gerne mit ein paar Zahlen weiter: In München ist der Ausländeranteil an der Bevölkerung rund 6 Prozent, in Frankfurt sogar 10 Prozent höher als in Berlin, die Arbeitslosenquote in beiden Städten ist jedoch nicht einmal halb so hoch wie in Berlin. In einem Punkt allerdings - dies will ich gegen Ende meiner Rede sagen - begegnet der Richtlinienentwurf auch in der SPD-Fraktion Bedenken: Einen Rechtsanspruch - ich betone: Rechtsanspruch - für Verwandte der aufsteigenden Linie, also für Eltern und Großeltern, und für volljährige Kinder halten wir für problematisch. Stattdessen sollte diese Entscheidung unter den in der Richtlinie genannten Voraussetzungen in das Ermessen der Ausländerbehörden gestellt werden, und zwar nicht nur bei außergewöhnlichen Härten, wie es jetzt in § 22 des Ausländergesetzes vorgesehen ist, sondern generell erweitert aus vernünftigen humanitären Gründen. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Nach diesen Maßstäben sollten wir Familienzusammenführung in Europa und folglich auch in Deutschland sachgerecht regeln, anstatt bei diesem Thema mit Fantasiezahlen und Schreckensszenarien von bis zu 500 000 - man überbietet sich da gegenseitig - alljährlich zuziehenden Familienangehörigen unserer Bevölkerung Angst einflößen zu wollen, wie die CDU/CSU dies in durchsichtiger populistischer Art und Weise mit ihrem Antrag versucht. Daher ist der Antrag abzulehnen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ina Lenke.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuerst, Herr Marschewski, würde ich mich gerne an Sie wenden. Ich habe mich mit Ihrem Antrag sehr ernsthaft auseinander gesetzt. Wenn Sie jetzt sagen, Sie hätten ihn nur gestellt, um Herrn Schily eins auszuwischen, halte ich das für keine gute Grundlage, über diese Dinge zu reden. ({0}) Die Absicht der CDU/CSU-Fraktion, den EU-Richtlinienvorschlag zur Familienzusammenführung abzulehnen, halte ich für sehr überzogen. Denn der Tenor dieses Antrags ist eine wirkliche Ablehnung eines erweiterten Rechtes auf Familienzusammenführung. Herr Marschewski, Sie haben eigentlich nicht begründet, warum Sie dieser Auffassung sind. Im familienpolitischen Bereich widerspricht sich die CDU/CSU selbst; ({1}) denn obwohl die CDU/CSU doch eigentlich für Familie steht, verhält sie sich sehr restriktiv im Hinblick auf Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen für den Bereich der Zusammenführung ausländischer Familien. Als Liberale sehe ich hier eigentlich keinen so großen Unterschied wie Sie. Herr Marschewski, im familienpolitischen Papier der CDU/CSU - Ihre Partei hat ja dieses Signum - vom Dezember 1999 - ich habe dieses Papier archiviert und darin noch einmal Ihre Positionen nachgelesen - steht, dass die Zahl der nicht ehelichen Lebensgemeinschaften gewachsen ist und dass es - auch das konzedieren Sie - außerhalb der Ehe auch noch andere Verantwortungsgemeinschaften gibt. Aber in Ihrem jetzigen Antrag sprechen Sie sich gegen den Nachzug von homosexuellen Partnern aus. Ich kann das nicht verstehen. Wenn Sie in Ihrem familienpolitischen Papier fordern, dass die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften abgeschafft werden muss, dann müssen Sie doch erkennen, dass die Regelungen der Familienzusammenführung auch für diese Partnerschaften gelten müssen. Daran kommen Sie nicht vorbei. ({2}) Sie, Herr Marschewski, haben behauptet - das fand ich recht heftig; auch andere Kollegen von der CDU/CSU haben sich schon so geäußert -, dass die EU kein Gesamtkonzept zur Einwanderungspolitik vorgelegt habe. Lieber Kollege, Ihre Fraktion hat lange genug eine Koalition mit der F.D.P.-Fraktion gebildet, um zu wissen, dass wir immer die Absicht und den Wunsch hatten, gemeinsam ein Zuwanderungsgesetz zu verabschieden. Das haben Sie nicht mitgetragen. ({3}) Dass Sie das jetzt beklagen und dann auch noch anderen vorwerfen, ist also eine unzutreffende Kritik; denn Sie sind kein Vorreiter in Sachen Zuwanderungsregelungen in der Bundesrepublik Deutschland. Meines Erachtens dürfen Sie sich nicht so verhalten. Ihre Kritik geht ins Leere. Die Aussage im CDU/CSU-Antrag, dass Deutschland nicht mehr Zuwanderung brauche, ist absolut falsch. Wenn Sie sich die im Herbst veröffentlichten Zuwanderungszahlen anschauen, dann werden Sie feststellen, dass es geradezu beängstigend ist - das ist es jedenfalls für mich -, wie stark die Bevölkerung in Deutschland in Zukunft schrumpfen wird. Schätzungen gehen von einem Bevölkerungsrückgang von 22 Millionen Menschen bis zum Jahr 2050 - in diesem Jahr möchte ich noch im Ohrensessel sitzen und beobachten können, was so alles in der Politik geschieht - aus. Dieser Rückgang muss auch durch Zuwanderung abgefedert werden. ({4}) Insoweit muss dringend gehandelt werden. Ich weise nur auf Folgendes hin: Es wird auch einen Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte geben; denn alle europäischen Länder haben ein demographisches Problem. Als Liberale empfinde ich den Tenor des EU-Richtlinienvorschlags als richtig; denn die F.D.P. möchte, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dem Rest der Welt Offenheit signalisieren. Wenn die EU das jetzt signalisiert, werden wir sie dabei ausdrücklich unterstützen. ({5}) Deshalb ist es sicherlich nicht gut, wenn in diesem Richtlinienvorschlag - das stellt man fest, wenn man ihn genau durchliest - vieles verkompliziert wird. Warum sollte die Erlaubnis zur Zuwanderung zum Beispiel nicht an Sprachkenntnisse geknüpft werden? Hier müsste in den Beratungen im Ausschuss noch einiges geklärt werden. Die Kritikpunkte, die die CDU/CSU in ihrem Antrag aufgeführt hat, sind schwarz-weiß. Wer sich den EURichtlinienvorschlag genau durchliest, wird feststellen, dass das Problem der Zuwanderung dort sehr differenziert dargestellt wird und viele Ausnahmetatbestände aufgelistet werden. Es ist in einigen Punkten nicht so, wie es hier von Herrn Marschewski dargestellt worden ist. Wir meinen, dass eine Debatte und dass gesetzliche Regelungen zur Zuwanderung überfällig sind. Wenn auch die CDU/CSU eine solche Debatte möchte, dann sollte sie ein eigenes Konzept vorlegen. Sie von der CDU/CSU haben ja jetzt ein Jahr Zeit und können daran arbeiten. Wir haben schon ganz konkrete Vorschläge zu einer geregelten Zuwanderung gemacht, die Sie abgelehnt haben und zu denen Sie keine Alternativen vorgelegt haben. Deshalb sollte man nach meiner Meinung ernsthaft über diesen EU-Richtlinienvorschlag beraten und sich nicht in irgendwelche Personalstreitigkeiten verlieren. Die politische Zielrichtung des CDU/CSU-Antrags ist für uns nicht relevant. So wollen wir das nicht. Erschreckend ist für mich die politische Überzeugung, die in den vielen Kritikpunkten, die zum Teil mit Verve vorgetragen werden, zutage tritt. Wir sollten uns lieber für eine gute Regelung der Familienzusammenführung einsetzen. Die F.D.P. jedenfalls wird sich Ihrem Antrag mit der gebotenen Ernsthaftigkeit widmen. Wir werden über Ihren Antrag in den entsprechenden Bundestagsausschüssen beraten und schauen, wie die EU-Richtlinie vielleicht noch geändert werden kann. Die Möglichkeit dazu haben Sie uns mit Ihrem Antrag gegeben. Bedenken wir dabei, dass durch die Anwesenheit von ausländischen Familienmitgliedern in Deutschland ein normales Familienleben ermöglicht wird. Die Familie und die Menschen stabilisieren sich und erhalten eine bessere Verwurzelung bei uns in der Bundesrepublik Deutschland. Wir von der F.D.P. werden uns für eine liberale Richtlinie zur Familienzusammenführung in Europa einsetzen. Das ist unser Ziel. Zusammen mit Ihnen allen werden wir in den Ausschüssen versuchen, das zur Erreichung dieses Ziels Notwendige zu erarbeiten. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Marschewski.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Kollegin, ich weiß nicht, wer Ihnen das alles aufgeschrieben hat. Zunächst einmal: Natürlich wollte ich dem Herrn Bundesinnenminister keins auswischen. Ich wollte dem Bundesinnenminister zu Beginn des neuen Jahres nur die Chance geben, zu dem, was er draußen immer sagt, hier Stellung zu beziehen. Ich wiederhole: Wenn er draußen sagt, die Belastbarkeitsgrenze sei erreicht, dann soll er dazu hier etwas sagen. Er hat gesagt: Ich will das Asylrecht ändern. Das wollen vielleicht noch nicht einmal alle von uns so wie er. Er soll etwas zu seinen Vorstellungen sagen. Der Bundesinnenminister hat ganz klar gesagt, der EURichtlinienvorschlag zur Familienzusammenführung sei nicht in Ordnung; es kämen - Zitat aus der Zeitung „Hunderttausende ungesteuert nach Deutschland“. Wenn er nicht begründet verhindert ist, dann möge er hier zumindest anwesend sein und darüber mit uns diskutieren. Diese Chance möchten wir ganz gern haben. Natürlich sind wir immer eine Partei der Familie gewesen. Ich freue mich, dass neuerdings auch die SPD auf diesen Trichter gekommen ist. Nur, Familie heißt für uns nicht zwangsläufig homosexuelle Lebensgemeinschaft. Familie ist etwas anderes. Familie heißt für uns nicht zwangsläufig, dass Nichtverheiratete miteinander leben. Hinzu kommt Folgendes: Ich halte es für falsch, dass nach dieser Richtlinie - der Kollege der SPD hat darauf dankenswerterweise Bezug genommen; ich habe genau zugehört; das wollen Sie vielleicht gar nicht - bis zurück in die zweite, dritte oder vierte Generation Menschen nach Deutschland kommen können, ohne Sozialversicherung, ohne Krankheitsschutz, ohne Wohnung und ohne einen Arbeitsplatz. Auch das hat der Bundesinnenminister kritisiert. Auch wir wollen das nicht. Zu den Kindern. Es ist doch wirklich so, dass die Integration von Kindern insbesondere dann Erfolg verheißt, wenn Kinder in jungem Alter nach Deutschland kommen. Es ist nicht sinnvoll, wenn Kinder mit acht Jahren in ihr Heimatland zurückkehren - was oft passiert - und mit 15 zurückkommen. Sie können dann weder die deutsche Sprache noch wissen sie etwas über die deutsche Kultur. Das erschwert die Integration. Gerade das wollen wir nicht. Zu Ihrem bemerkenswerten Konzept zur Zuwanderung. Vor Ihnen hatten wir längst ein Konzept zur Zuwanderung. Über Ihr Konzept haben wir lange diskutiert. Der Kollege Westerwelle weiß das alles. Ihr Konzept hat unseres Erachtens einen kleinen Haken. Wir haben dieses Konzept in dieser Form abgelehnt, weil es folgende Fragen nicht berücksichtigt: Sollen wir in die Überlegungen die Asylbewerber einbeziehen? Sollen wir in die Überlegungen Art. 6 des Grundgesetzes - Stichwort „Familienbegriff“ - einbeziehen? Sollen wir in die Überlegungen Art. 116 des Grundgesetzes einbeziehen?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Marschewski, eine Kurzintervention soll drei Minuten dauern. Diese Zeit haben Sie reichlich überschritten.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - All das ist bei Ihnen nicht geregelt. Diese Richtlinie bringt keinen Vorteil. Wir wollen eine generelle Zuwanderungsbegrenzung. Erst wenn das geschehen ist, müssen und können die Einzelfälle geregelt werden. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Sie bringen mich ein bisschen in Schwierigkeiten, weil ich nicht weiß, wen speziell Sie angeredet haben. Es waren auf jeden Fall mehrere. Ich gebe jetzt einfach der Kollegin Lenke das Wort.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Marschewski, mit den von Ihnen genannten Beispielen stellen Sie diese Richtlinie so dar, als hätten alle volljährigen Kinder ein Nachzugsrecht, als gelte für alle unverheirateten Lebenspartner und für alle hier lebenden Studenten, dass sie ihre Familien nachholen könnten. Ich will Sie einmal etwas aufklären, weil Sie sich wahrscheinlich die Rede haben aufschreiben lassen. Hätten Sie sich nämlich die Richtlinie selbst durchgelesen, Herr Marschewski, dann hätten Sie etwas ganz anderes darin gefunden. Zum Zuzug lediger Lebenspartner heißt es beispielsweise: Um Missbrauch der Bestimmung zu verhindern, gilt diese nur für den Fall, dass ledige Lebenspartner eine auf Dauer angelegte Beziehung führen. Was soll eigentlich Ihre Schwarz-Weiß-Malerei? Auch volljährige Kinder haben nach dieser Richtlinie nicht immer ein Recht auf Zuzug. Hier steht nur: Es wird eine Bestimmung über volljährige Kinder eingeführt. In besonderen, schwierigen Situationen kann ihnen der Nachzug gestattet werden. Wollen Sie keine solche soziale Komponente in dieser Richtlinie? Ich will sie. Dann haben Sie, glaube ich, auch von Studenten gesprochen. Dazu steht dort: Da jedoch die Dauer des Aufenthalts ... begrenzt ist und sie in einigen Mitgliedstaaten keine Erwerbstätigkeit aufnehmen dürfen, kommen die Studenten nicht in den Genuss derselben Vergünstigungen wie andere dort ansässige Personen. Es sind also Ausnahmen und es gibt für den Staat Ermessensspielräume. Außerdem sind die Bestimmungen enger, als Sie es dargestellt haben. Ihre Rede wäre wirklich ausgewogener gewesen, wenn Sie auch auf das hingewiesen hätten, was in der Richtlinie steht, und nicht nur auf das, was Sie aus der Richtlinie herauslesen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Marschewski, bei Ihrer Rede hatte ich den Eindruck, im falschen Film zu sitzen. Noch am Montag habe ich mit Ihren Kollegen in der Enquete-Kommission „Demographischer Wandel“ gesessen. Wir haben überlegt, wie wir mehr Migranten und Migrantinnen nach Deutschland bekommen, und die Sachverständigen gefragt, woran es liege, dass so viele wieder zurückgehen. Wir werden nämlich im Jahre 2050 22 Millionen Menschen weniger in Deutschland haben. Heute aber legen Sie uns hier ein Papier vor, mit dem jede Großmutter und jedes ältere Kind aus Deutschland fern gehalten werden soll. Für mich ist das ein Beweis dafür, dass Sie in der Integrations- und Migrationspolitik kopflos sind. ({0}) Die von dem neuen EU-Kommissar für Justiz und Inneres, Antonio Vitorino, vorgelegten flüchtlings- und migrationspolitischen Vorschläge zeugen von einer grundlegenden Wende weg von den bisherigen restriktiven Konzepten hin zu einer modernen, weltoffenen und gleichzeitig werteorientierten Asyl- und Einwanderungspolitik. Endlich werden die Vorgaben des Amsterdamer Vertrages ernst genommen und Institutionen wie der UNHCR, Amnesty International und der Europäische Flüchtlingsrat erhalten die Beachtung, die ihnen gebührt. Ausdruck dieser neuen Dynamik ist der erste, heute hier zur Debatte stehende Richtlinienvorschlag, den die Kommission vorgelegt hatte. Er widmet sich dem wichtigsten Instrument der Integration, der Familienzusammenführung. Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie verlangen eine „sachgerechte Lösung“ der Familienzusammenführung. Ihre Vorschläge aber zeigen, dass Sie weder an mehr Rechten oder Gerechtigkeit noch an den sozialen und menschlichen Bedürfnissen der betroffenen Personen interessiert sind. Sie kritisieren, dass die EUKommission eine Richtlinie zur Familienzusammenführung vorgeschlagen hat, ohne ein Gesamtkonzept für Fragen der künftigen Einwanderungs- und Asylpolitik entwickelt zu haben. Dieser Vorwurf ist überholt, denn im November letzten Jahres hat die Kommission zwei grundlegende Mitteilungen zur Migrationspolitik präsentiert. Wir Bündnisgrünen erkennen darin viele erfreuliche Parallelen mit unseren Vorstellungen, die wir vor wenigen Wochen in einem Grundsatzpapier der Öffentlichkeit vorgestellt haben. Die Kommission schlägt nämlich eine grundlegende Kehrtwende von der bisherigen unbarmherzigen Abschottungspolitik der EU mit der Begründung vor, die „Politik der Nullzuwanderung passt nicht mehr in den ({1}) wirtschaftlichen und demographischen Kontext“. Durch die Festungspolitik der EU werden nicht nur Flüchtlinge und Migranten in die Hände krimineller Schlepperbanden getrieben, diese Politik blockiert auch gestalterische Politikansätze. Aus grüner Sicht ist von besonderer Bedeutung, dass die Kommission ebenfalls ein Dreisäulenmodell für ihre Einwanderungspolitik entwickelt hat, das sich mit unseren Vorstellungen weitgehend deckt. - Herr Marschewski, ich bitte Sie, einmal zuzuhören, damit Sie die Konzeption der Grünen mitbekommen, weil Sie behaupteten, wir hätten keine solche Konzeption. Die Kommission und die Grünen unterscheiden drei Kategorien der Zuwanderung: erstens aus humanitären und zweitens aus wirtschaftlichen Gründen, drittens aber auch als Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung. Mit diesem Dreisäulenmodell stellt die Kommission klar, dass es sich hierbei um strukturell unterschiedliche Formen der Einwanderung handelt. Diese können nämlich nicht, wie zum Beispiel bei einer migrationspolitischen Gesamtquote, gegeneinander aufgerechnet werden. Dies ist richtig; denn sowohl beim Asyl als auch bei der Familienzusammenführung handelt es sich um eine Einwanderung aufgrund von Rechtsansprüchen. Diese sind den politischen Opportunitätserwägungen entzogen. Die Familienzusammenführungsrichtlinie ist für uns eine konsequente Umsetzung auch der Schlussfolgerungen von Tampere, nämlich die Rechte von Drittstaatenangehörigen denen der Unionsbürgerinnen und -bürgern anzugleichen. Der Ansatz ist klar: Es gibt keine Menschenrechte erster, zweiter oder dritter Klasse. So sollen auch Flüchtlinge künftig das Recht haben, zusammen mit ihren Familien zu leben. Dieser Grundsatz wurde auch im überarbeiteten Kommissionsvorschlag vom Oktober beibehalten. Wenn Sie von der Union nun kritisieren, dass die Kommission diesen Menschen zu großzügige soziale Rechte gewähren möchte, dann warne ich Sie. Sie stellen sich mit Ihrer Kritik in Widerspruch zu der sonst doch so hoch gehaltenen Idee der Integration. Die Entrechtung und Diskriminierung von Flüchtlingen führt nicht nur zu deren gesellschaftlicher Ausgrenzung, sie gibt diese Menschen auch rassistischen Vorurteilen preis. Wie Sie wissen, ist das die Vorstufe von fremdenfeindlicher Gewalt. Deswegen begrüßen wir den von der Kommission vorgeschlagenen Familienbegriff; denn dieser umfasst auch nicht eheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Ich finde, das ist ein zeitgemäßer und realitätstüchtiger Ansatz. Ihre Kritik, meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, ist Ausdruck einer heuchlerischen Doppelmoral. Wenn Sie immer über die Bedeutung des Schutzes der Familie reden, dann gilt dies offenkundig nur für die deutsche Familie. Diese besteht, wie Sie gerade noch einmal bestätigt haben, in Ihren verstaubten Vorstellungen immer noch aus Vater und Mutter, verheiratet, plus Kind. Sie gehen hiermit nicht nur an den vielfältigen Lebensrealitäten in unserer Gesellschaft vorbei, sondern auch an der gesetzlichen Realität. Wir haben mit unserem Gesetz zur eingetragenen Lebenspartnerschaft auch einen Anspruch auf Nachzug gleichgeschlechtlicher Partner ermöglicht. Wenn Sie Sorge haben, dass da auf den Staat hohe Kosten zukommen, Herr Marschewski, so kann ich Ihnen nur sagen: Es ist ganz genau geregelt, dass das eine Verantwortungsgemeinschaft ist, dass die Partner gegenseitig unterhaltspflichtig sind. Insofern sind Ihre Bedenken hier überhaupt nicht nachvollziehbar. Abschließend noch einige Worte zu den Zahlenspielereien, mit denen Sie in mitunter unverantwortlicher Weise die Ängste von Menschen schüren. Wir haben heute einen jährlichen Zuzug von 60 000 Familienangehörigen. Davon betrifft fast die Hälfte, nämlich rund 25 000, den Nachzug von ausländischen Angehörigen deutscher Staatsangehöriger. Der Kommissionsvorschlag regelt allerdings nur den Nachzug der bereits hier lebenden Drittstaatenangehörigen. Schließlich - das geben Sie in Ihrem Antrag selber zu -: Ihre atemberaubenden Zahlen derjenigen, die mit dem Kommissionsvorschlag einen zusätzlichen Anspruch auf Nachzug nach Deutschland erhalten würden, ergeben sich zum allergrößten Teil durch den Aussiedlerzuzug. Brüssel ist also die falsche Adresse Ihrer Polemik. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wenn Sie sich entschieden haben, die Familienpolitik in das Zentrum Ihres Wahlkampfes zu stellen, dann sollten Sie heute damit beginnen, indem Sie diesen Antrag zurückziehen; denn sonst machen Sie sich unglaubwürdig. Die Familie steht unter dem Schutz des Staates, steht in unserem Grundgesetz. Dieser Schutz des Staates bezieht sich nicht nur auf die deutschen Familien, sondern auch auf die Familien, die aus anderen Ländern kommen und hier bei uns leben. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wir sind der Meinung, dass der von der CDU/CSU vorgelegte Antrag völlig an der Wirklichkeit vorbeigeht. Unserer Ansicht nach wäre es ein großer Fortschritt, wenn die EU-Richtlinien, die nach wie vor erst im Entwurf vorliegen, verabschiedet werden würden. Ich hatte schon befürchtet, Herr Marschewski, dass Sie eine unheilige Allianz mit dem Innenminister vorschlagen würden. Ich hoffe, dass die SPD und die Grünen bei dem bleiben, was sie heute in ihren Reden vorgetragen haben. Denn wenn man sich genau anschaut, was in diesen Richtlinien enthalten ist, dann gibt es eine Menge wichtiger Punkte, die meines Erachtens längst überfällig sind. Ich erinnere an den Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung, der geschaffen werden würde und der die Ermessenswillkür der Ausländerbehörden entsprechend einschränken würde. Der Kreis derjenigen, die einen Anspruch haben, wird außerdem erweitert. Das ist hier schon genannt worden. Das bedeutet, dass alle, die eine Aufenthaltsgenehmigung von einer gewissen Dauer haben, ihre Angehörigen nachziehen lassen können. Das finde ich einen sehr wichtigen Schritt. Der Kreis der Angehörigen, die nachziehen können, wird zudem ausgeweitet, nämlich auf Kinder bis zu 18 Jahren. Das Gesetz sieht bisher nur Kinder bis 16 Jahre vor. Ich finde es ziemlich kinderfeindlich, dass die CDU das Alter sogar auf zehn Jahre beschränken will. Es ist auch genannt worden, dass Homosexuelle ihre Lebenspartner ebenfalls nachziehen lassen können. Das, meine ich, ist grundsätzlich eine sehr wichtige Entscheidung, wenn sie denn so getroffen wird. Herr Marschewski befürchtet das Einsetzen einer Einwanderungsflut. Auch in dem Antrag wird beschworen, dass keine Kontrolle mehr über die Einwanderung möglich wäre. Ich möchte an Debatten erinnern, die dieses Haus diverse Male geführt hat. Es gibt ganz bestimmte Gruppen von Menschen, die Grundrechte haben, die sie in Anspruch nehmen können, sodass sie hier bleiben können. Dazu zählen beispielsweise die Asylbewerber und diejenigen, die ihre Familien nachziehen lassen. Der Familiennachzug ist also ein Menschenrecht - nicht nur nach unserem Grundgesetz. Im Übrigen hat auch die damalige Kohl-Regierung die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet. Da heißt es: Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Ich meine, dass diese Gruppen, egal, wie man zur Einwanderungsdebatte steht und ob man mit Quotenzahlen oder Sonstigem arbeiten will, auf gar keinen Fall hinzugerechnet werden dürfen. Sie haben vielmehr ein Grundrecht darauf, mit ihren Familien hier zu leben, weil sie des Schutzes vor Verfolgung bedürfen oder sie in Not sind. Ich möchte Sie außerdem auf etwas aufmerksam machen, das sich mit diesen Richtlinien, wenn sie durchgesetzt würden, ebenfalls ändern würde. Wir haben gegenwärtig das Problem, dass beispielsweise Menschen, die abgeschoben wurden und die nach ihrer Abschiebung heiraten, nur dann ins Land zurückkehren dürfen, wenn sie die Abschiebekosten aufbringen. Es handelt sich in der Regel um mehrere tausend Mark. Ich habe dazu eine Kleine Anfrage gestellt. Die Bundesregierung hat zwar geantwortet, dass die finanziellen Erwägungen nicht zwingend seien, man könne auch eine Ratenzahlung vereinbaren, aber ich meine, es ist für eine junge Familie eine große Zumutung, gleich mit Schulden belastet zu sein. Diese Menschen haben ein Recht darauf zurückzukommen, ohne sich ihr Familienglück sozusagen erkaufen zu müssen. Das entspricht unter der jetzt gegebenen Bedingung nicht gerade der Menschenwürde. Natürlich gibt es in den Richtlinien auch Punkte - wir werden sie ausführlich im Ausschuss diskutieren -, die aus unserer Sicht ergänzt werden müssen. Es ist zum Beispiel so, dass nicht anerkannte Asylberechtigte, die hier aber Flüchtlingsschutz genießen, ihre Familien nicht nachziehen lassen sollen. Warum und weshalb ist meiner Meinung nach überhaupt nicht nachvollziehbar. Ich meine jedenfalls, dass wir die EU-Richtlinien ausführlich diskutieren, sie wohlwollend behandeln und über entsprechende Ergänzungen nachdenken sollten. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Marschewski, Neujahrsgeschenke nimmt man eigentlich nicht von anderen an, sondern man macht sie sich lieber selber. Dann ist man auch selbstbestimmt und fähig, darüber zu entscheiden. ({0}) Deswegen reklamiere ich bei dieser Frage für uns unseren eigenen Weg und der ist doch ein bisschen anders, als Sie ihn sich vorstellen. ({1}) Es gibt wohl, meine Damen und Herren, kaum ein Papier der EU-Kommission aus dem Bereich der Asyl- und Migrationspolitik, das derzeit so heftig debattiert wird wie dieser Vorschlag der EU zum Recht auf Familienzusammenführung. Ich finde, diese öffentliche Auseinandersetzung tut dem Prozess der europäischen Einigung gut; sie macht das Ganze endlich einmal fassbar und lebendig. Ich begrüße auch ausdrücklich, dass diese Diskussion um ein Thema kreist, das gerade in unserem Grundgesetz einen hohen Wert hat, nämlich den Schutz von Ehe und Familie. Ich halte es schon für bemerkenswert, wie Christdemokraten die Problematik des Zusammenlebens von Menschen dann plötzlich nicht mehr für so wichtig halten, wenn es sich um Migranten handelt. Überlegen Sie sich sehr genau, was Sie damit anrichten, auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Ideologie! ({2}) Eine europäische Zuwanderungspolitik, meine Damen und Herren, gehört zu den großen laufenden Vorhaben der Gemeinschaft. Sie kann damit auch nicht warten, bis die Frist, die uns der Amsterdamer Vertrag gibt, abgelaufen ist. Es ist zugleich eine Aufgabe der nationalen Verhandlungspartner, die besondere Situation im jeweiligen Staat in diese Arbeit einzubringen, den notwendigen Handlungsspielraum auszuloten und auch zu wahren. Genau in dieser Phase befinden wir uns. Es ist überhaupt kein Geheimnis, dass die Bundesregierung gegen einige Punkte der jetzigen Fassung Bedenken hat. Das gilt übrigens auch für die Länder und die Kommunen. Ich sage aber ebenso deutlich: Eine knallharte Ablehnung der Richtlinie, wie sie die CDU/CSU fordert, kommt nicht in Frage. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU, übertragen Ihre sattsam bekannten Standpunkte und Ängste vom nationalen Rahmen auf die Ebene der Union. So einfach lässt sich das EU-Geschäft nun wirklich nicht erledigen. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Teile Ihres Antrages sind von einem unfreundlichen Geist und Ton gegenüber Europa geprägt. Ich will dafür einige Beispiele nennen. Sie sprechen von einer „konzeptionslosen Vermehrung des Familiennachzugs“. Sie sehen den „Begriff Familie faktisch ausgehöhlt“. Sie wittern bei den geplanten Nachzugsregelungen für eingetragene Lebenspartnerschaften „unzählige Missbrauchsmöglichkeiten“ usw. Kurz gesagt, Sie schüren wieder einmal mit dramatischen Vokabeln Sorgen und Unruhe. Ich kann nur dazu ermuntern, die Zuwanderungsdebatte in ruhiges Fahrwasser zu lenken. Das ist angesichts der jüngst veröffentlichten Statistiken nun wirklich auch geboten. ({3}) Ich erinnere zum Beispiel an die Zahl der Asylanträge: Sie war im vergangenen Jahr so niedrig wie seit 1988 nicht mehr. Ruhe und Gelassenheit wären also angebracht. Es ist auch viel besser, konstruktiv an der Richtlinie mitzuarbeiten, denn auf diese Weise haben wir die größten Chancen, unsere Vorstellungen und unsere Interessen in Brüssel zur Geltung zu bringen. Die Kommission, meine Damen und Herren, ist der Motor der europäischen Integration, aber nicht unbedingt der Sachwalter einzelner Mitgliedstaaten. Unsere Aufgabe ist es, den Standpunkt der Bundesrepublik zu vertreten und zu verankern. Dazu sind wir durchaus in der Lage. Es wird Sie vielleicht interessieren, dass der Bundesinnenminister noch im Laufe des Januars mit Kommissar Vitorino zusammenkommt, um unter anderem auch über dieses Thema zu sprechen. Ich will durchaus auch auf einige Probleme verweisen, die die Bundesregierung und übrigens auch die Länder sehen. Dazu gehört zum Beispiel die Tatsache, dass die Kommission im Oktober 2000 eine überarbeitete Fassung vorlegte, in dem neuen Text aber praktisch nur die Änderungswünsche des Europäischen Parlaments berücksichtigt hat, nicht aber die Vorstellungen der Mitgliedstaaten. Vorbehaltlos kann sich das Bundesinnenministerium auch nicht mit den Vorschlägen zum Kindernachzug bis zur Volljährigkeit anfreunden. Wir plädieren für ein flexibleres Verfahren, das den Mitgliedstaaten die Möglichkeit lässt, Altersbegrenzungen zwischen 16 und 18 Jahren festzulegen. ({4}) Wir sind aber jederzeit auch für Ausnahmeregelungen bei Härtefällen oder aus humanitären Gründen. Im Moment wird das ja auch noch so geregelt. Sie von der CDU/CSU wollen nun aber den Kindernachzug nur bis zum Alter von höchstens zehn Jahren gewähren; das richtet sich nun wirklich gegen die Pläne der EU. Ich möchte auch noch die Beseitigung der so genannten Inländerdiskriminierung nennen, wodurch die Zahl von zuziehenden Spätaussiedlern deutlich ansteigen würde. Das ist eine spezielle deutsche Eigenheit, die auch bei den weiteren Verhandlungen mit in die Waagschale geworfen werden muss. Meine Damen und Herren von der Opposition, so ein bisschen müssten Sie sich eigentlich noch an die Jahre Ihrer Regierungsverantwortung erinnern, als Sie sich noch mit dieser Materie beschäftigen mussten. Zur Verabschiedung von Normen zur Familienzusammenführung haben wir uns nämlich in dem bereits erwähnten Art. 63 Nr. 3 des Amsterdamer Vertrages verpflichtet. Dieses Werk, Herr Kollege Marschewski, wurde 1997, also von der damaligen CDU/CSU/F.D.P.-Koalition, abgeschlossen. Darüber, dass Sie jetzt so tun, als ob die Bundesrepublik dieses Rechtssetzungsvorhaben einfach und schlankweg verhindern könnte, kann ich wirklich nur den Kopf schütteln. Außerdem folgt Ihr Antrag einer krausen Logik. Er fordert, die EU-Richtlinie einfach abzulehnen. In der Begründung ist dann von der Notwendigkeit der Überarbeitung die Rede. Was denn nun? Etwas, was man als völlig untauglich ablehnt, kann man nicht anschließend überarbeiten. Sie müssen sich schon entscheiden, welchen Weg Sie einschlagen wollen. Meine Damen und Herren, unser Motto lautet: nicht ablehnen, sondern arbeiten und argumentieren, nicht verhindern, sondern verhandeln. Wir wollen doch auf dem Weg zu einer einheitlichen Zuwanderungspolitik in Europa weiterkommen und wir wollen dabei unsere besonderen Interessen zur Geltung bringen. Das, was Sie dagegen vorschlagen, führt in die Isolation und das wollen wir nicht. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Als Letzte in der Debatte hat jetzt die Kollegin Anke Eymer das Wort.

Anke Eymer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000509, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Bürger und Bürgerinnen haben ein Anrecht darauf, dass wir uns mit diesem wichtigen Thema ernsthaft beschäftigen. Unsere Fraktion will die Integration, wir müssen sie aber auch leisten können. Unser Antrag „Familienzusammenführung sachgerecht regeln - EU-Richtlinienvorschlag ablehnen“ stellt die Forderung nach einem gesamtheitlichen Konzept der Einwanderungs- und Asylpolitik in den Vordergrund. Der EU-Richtlinienvorschlag ist abzulehnen. Er bietet nur punktuelle Regelungen und ermöglicht eine konzeptionslose Vermehrung des Familiennachzugs, ohne die wesentlichen Fragen einer Integration der Zuwanderer zu lösen oder auch nur Lösungsansätze auszugestalten. ({0}) Wir brauchen kein planloses Mehr an Zuwanderern, sondern wir brauchen ein vernünftiges, ausgewogenes Verhältnis von Aufnahmen aus humanitären, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen. Wir brauchen eine umfassende Lösung auch unter Einbeziehung des Asylrechts, ({1}) eine Lösung mit klaren Quoten, eine faire Lastenverteilung in der EU und eine Zuwanderungsbegrenzung, die unseren Integrationsmöglichkeiten Rechnung trägt. ({2}) Ich sage es noch einmal: Wir wollen Integration, wir müssen sie aber auch leisten können. Ein gesamtheitliches Konzept für Deutschland und Europa ist gefordert. Mit dem Vertrag von Amsterdam aus dem Jahre 1999 haben die Mitgliedstaaten die Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungs- und Asylpolitik in die Hände der EU gelegt. Damit haben sie anerkannt, dass dieser Bereich nicht mehr nur national geregelt werden kann. Es muss europaweite Regelungen geben. Was gut gemeint war, wird aber nicht gut gemacht. Die Kommission hat sich als erste Gesetzesinitiative für den Entwurf einer Richtlinie betreffend das Recht auf die Familienzusammenführung entschieden, ohne auch nur im Ansatz ein Gesamtkonzept für die künftige Asylund Einwanderungspolitik erkennen zu lassen. Bisher ist weder erfasst worden, wie viel Zuwanderung durch den Nachzug von Familienangehörigen erfolgt, noch ist abzusehen, mit wie viel Zuwanderung aus welcher Generation und mit welcher Qualifikation durch die von der Kommission vorgeschlagenen Regelungen zu rechnen ist. Die Folgen für das Renten-, Sozial- und Steuersystem der Mitgliedstaaten sind ebenfalls nicht abzuschätzen. ({3}) Die fehlende Gesamtstrategie und die zumindest mangelhaften statistischen Grundlagen bleiben leider nicht die einzigen Kritikpunkte. Die Kommission vermischt Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen mit Asyl. Asyl als Hilfe für jemanden, dessen Leben in seinem Heimatland bedroht ist, ist eine Verpflichtung, die sich die Staaten aus humanitären Gründen auferlegt haben. Bei der Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen ist es das legitime Recht der Staaten, zu entscheiden, welches Maß an Zuwanderung für sie verträglich ist und nach welchen Kriterien sie eine Auswahl treffen. Ein Kardinalfehler im Umgang mit Ausländern wird von der Kommission erneut begangen: Es wird keinerlei Gedanken an die Integration dieser Menschen verschwendet. Man kann Menschen nicht in ein fremdes Land holen, ohne gleichzeitig für ein friedliches und freundschaftliches Zusammenleben von Ausländern und Inländern zu sorgen. Hier muss die Frage gestellt werden: Ist derjenige, der ins Land kommt, integrationswillig und auch integrationsfähig? Andererseits müssen wir aber auch fragen, in welchem Maße unsere Bürger und Bürgerinnen bereit und in der Lage sind, Fremde zu integrieren. All diese Kritikpunkte betreffen nicht nur den Richtlinienentwurf zur Familienzusammenführung. Sie müssen aber bereits in diesem Zusammenhang aufgezeigt werden, da durch diese erste Gesetzesinitiative Rechtsgrundlagen auch für später zu regelnde Bereiche der gemeinsamen Einwanderungspolitik geschaffen werden. Um auf europäischer Ebene zu einer befriedigenden Lösung zu kommen, dürfen wir uns nicht mehr in punktuellen Diskussionen verlieren. Wichtig ist der tatsächliche und unbürokratische Schutz derer, die in ihren Heimatländern an Leib und Leben bedroht sind. Diese Bedingung ist bereits durch die Anerkennung der Genfer Flüchtlingskonvention erreicht. Sie bietet Asylsuchenden den gleichen Schutz wie der entsprechende Artikel des Grundgesetzes. Abschließend ist festzuhalten: Zuwanderungspolitik darf kein bloßes Mehr an Zuwanderung sein, sondern muss ein vernünftiges und ausgewogenes Verhältnis von Aufnahme aus humanitären, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen herstellen. ({4}) Wir lehnen den EU-Richtlinienvorschlag ab. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4529 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie den Zusatzpunkt 6 auf: 8. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Joachim Tappe, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Afrikas Entwicklung unterstützen - Drucksachen 14/3701, 14/4850 Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Tappe Carl-Dieter Spranger Rita Grießhaber Wolfgang Gehrcke ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim Günther, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Für eine europäische Ausrichtung der deutschen Afrikapolitik - Drucksache 14/5090 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Herr Bundesminister Joschka Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Europa und Afrika sind Nachbarkontinente. Allein aus diesem Grund können wir es uns als Europäer nicht erlauben, dass Afrika Anke Eymer ({0}) im Zeitalter der Globalisierung zum vergessenen Kontinent wird. ({1}) Was dort geschieht, geht uns unmittelbar an und hat vielfältige Rückwirkungen auf Deutschland und Europa. Europa hat - dies nicht nur aufgrund seiner kolonialen Geschichte - eine Verantwortung für Afrika. Wir müssen und wollen uns deshalb in Afrika engagieren. Ich bin im vergangenen Jahr zweimal nach Afrika gereist, um mir selbst ein Bild von der dortigen Lage zu verschaffen. Die Besuche in Nigeria, Mosambik und Südafrika haben mir einen anderen Eindruck vermittelt als meine nachfolgenden Besuche in Angola, Burundi und Ruanda. Diese Reisen haben vor allem eines bestätigt: Die Wirklichkeit in Afrika ist heute, 40 Jahre nach der Entkolonisierung, in jeder Hinsicht - politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich - außerordentlich differenziert. Die Ablösung der Militärregierung in Nigeria durch eine demokratisch gewählte Regierung, die Überwindung der Apartheid in Südafrika, der Wiederaufbau der durch Bürgerkrieg zerstörten ehemaligen portugiesischen Kolonien Angola und Mosambik, die Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda, der schwelende Konflikt in Burundi, der blutige Krieg im Kongo, Staatszerfall und Bürgerkrieg in Sierra Leone, zunächst Hunger und Krieg, dann neue Hoffnung für den Frieden am Horn von Afrika, der langjährige Krieg im Süden des Sudans: All dies zusammengenommen zeigt, dass pauschale Ansätze der komplexen Realität unseres Nachbarkontinents nur sehr bedingt gerecht werden können. Wir haben uns deshalb vorgenommen, regionale Strategien zu entwickeln, die dieser Komplexität gerecht werden, und eine Politik der regionalen Stabilisierung zu versuchen. Dabei sind wir uns der begrenzten Reichweite der Afrikapolitik Deutschlands aufgrund der begrenzten Ressourcen bewusst. Allein werden wir nicht wirkungsvoll handeln können. Die Bundesregierung setzt sich deshalb dafür ein, dass die EU in Afrika eine stärkere Rolle übernimmt, was mit manchen Partnern allerdings nicht immer einfach ist. ({2}) Der erste EU-Afrika-Gipfel in Kairo hat den Willen gezeigt, zwischen Afrika und Europa einen Dialog „auf gleicher Augenhöhe“ zu führen. Hieran wollen wir bilateral und auf europäischer Ebene anknüpfen. Das neue LoméNachfolgeabkommen vertieft neben der wirtschaftlichen die politische Partnerschaft. Auch in der GASP muss Afrika einen höheren Stellenwert erhalten. Auch wenn unsere Lösungsansätze immer auf die jeweiligen regionalen Besonderheiten in Afrika bezogen sein müssen, lassen wir uns von übergeordneten Zielen leiten: Erstens: Demokratisierung und die Herrschaft des Rechts. Bürgerliche Freiheiten und die Achtung der Menschenrechte sind nicht der Lohn der Entwicklung, sondern die Voraussetzung dafür. Demokratische Regierungsformen bieten die beste Garantie für eine verantwortliche Regierungsführung, für ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit und - dies ist ganz wichtig für Entwicklung - für die Überwindung von Armut. Das sind nicht Ergebnisse von Entwicklung, sondern Voraussetzungen für Entwicklung. ({3}) Nur so kann der „Fluch“ des Rohstoffreichtums, der Länder wie Sierra Leone, Angola oder Kongo in Bürgerkrieg und Verwüstung gestürzt hat, in einen Segen verwandelt werden. Afrika braucht offene, plurale Gesellschaften, braucht Medienfreiheit und Toleranz zwischen den Ethnien. Klar ist aber auch, dass demokratische Institutionen von innen heraus getragen werden müssen. Sie müssen von der Bevölkerung gewollt und dort kulturell verwurzelt sein und dürfen nicht nur von ausländischen Gebern verlangt werden - eine Erfahrung, die wir in Europa und vor gar nicht langer Zeit auch in Deutschland gemacht haben. Deshalb: Geduld und langer Atem sowie langfristiges Engagement sind notwendig. Wir werden uns darauf konzentrieren, die Rechtssysteme zu stärken und zu fördern. Zweitens: Stärkung regionaler Stabilisierungsbemühungen. Die OAE und afrikanische Regionalorganisationen wie SADC oder ECOWAS haben - trotz ihrer auch in Afrika unbestrittenen Schwächen - Beachtliches erreicht, gerade hinsichtlich des „peace-keeping“. Nigeria hat dabei einen hohen Blutzoll entrichtet, wie die Experten nur zu gut wissen. Aber ich möchte es hier noch einmal betonen: „Peace-keeping“ war in Westafrika im Wesentlichen eine Leistung der Afrikaner. Ihre Fähigkeiten zu Krisenprävention und Konfliktbewältigung werden wir aktiv unterstützen und wir werden bei der Entwicklung von Minderheitenstandards und vertrauensbildenden Maßnahmen europäische Erfahrungen anbieten. Als Beispiele nenne ich die Förderung des OAEKonfliktmanagementzentrums, die Kleinwaffeninitiative und eine restriktive Rüstungsexportpolitik. Auch in der Friedenssicherung gilt der Grundsatz: Vorrang für regionale Lösungsansätze. Das heißt aber nicht, dass wir unsere Erwartungen nicht klar formulieren. Im Kongo hoffen wir nach dem Tod Kabilas auf eine Rückkehr zu geordneten Verhältnissen. Die Lage in Kinshasa ist nach den jüngsten Ereignissen bislang ruhig geblieben. Sie ist jedoch potenziell hochgefährlich. Kongo ist heute der zentrale Konfliktherd der Region und darüber hinaus. Insofern wird es hier entscheidend auf eine Deeskalation ankommen. Ein Auseinanderbrechen dieses Landes könnte das gesamte Umfeld in einen Abgrund von Gewalt und Zerstörung reißen. Es muss deshalb alles getan werden, um dies zu verhindern. ({4}) Die Bundesregierung appelliert an alle am Kongokonflikt Beteiligten, die jetzige dramatische Lage nicht für eiBundesminister Joseph Fischer gene Zwecke auszunutzen. Wir fordern von ihnen die Umsetzung des Abkommens von Lusaka ({5}) und die Unterstützung der Friedensbemühungen der Vereinten Nationen. Jetzt müssen die Voraussetzungen für den Übergang zu einer demokratischen Regierungsform geschaffen werden. Nur dann besteht Hoffnung, dass sich die Lage im Land und in der Region stabilisieren wird. Der Gefährdung der Stabilität im südlichen Afrika durch die politische Instrumentalisierung der Landfrage in Simbabwe muss vor allen Dingen in der Region entschieden begegnet werden. Wir bestehen dabei auf Rechtsstaatlichkeit. Namibia darf dem Beispiel Simbabwes nicht folgen. Die dort geplante Landreform ist unverzichtbar. Wir wollen sie unterstützen, soweit dies in unseren Kräften steht. In den westafrikanischen Krisenländern Guinea, Sierra Leone und Elfenbeinküste hat die Afrikabeauftragte der Bundesregierung in den letzten Tagen politische Gespräche geführt. Wir erwarten eigene Anstrengungen dieser Länder zur Beendigung der Konflikte und zur Partizipation der Bevölkerung beim Übergang zur Demokratie. Die Bundesregierung leistet humanitäre Hilfe und ist zur Unterstützung beim wirtschaftlichen Wiederaufbau und bei der Rückkehr der Flüchtlinge bereit. Neben den eigenen Bemühungen der Afrikaner bleibt Friedenssicherung durch die VN unverzichtbar. Auf keinem anderen Kontinent gibt es so viele gewaltsame Konflikte und so wenig Engagement von außen. Auch hier wollen wir nachhaltig unterstützen. Drittens: Nothilfe. Bei Natur- und Flüchtlingskatastrophen müssen wir schnell und umfassend humanitäre Hilfe leisten. Wir haben dies am Horn von Afrika und in Mosambik getan. Wir hoffen darauf, dass die neuen Krisenmanagementkapazitäten mit der Verbindung von zivilen und militärischen Aktivitäten noch schnellere, noch effizientere, noch punktgenauere europäische Reaktionen möglich machen. Viertens: Förderung nachhaltiger Entwicklung. Dies ist gerade in Afrika ein entscheidender Punkt, für den wir uns einsetzen müssen. Afrika darf sich nicht vom Informationszeitalter abkoppeln. Wir dürfen das nicht zulassen. ({6}) Der Anschluss an das Internet muss auch dort gewährleistet werden. Die Voraussetzungen dafür müssen geschaffen werden. Erziehung und Bildung spielen dabei eine große Rolle. Die Abkopplung von der Wissensgesellschaft dürfen wir nicht zulassen. Ein verstärkter Kampf gegen den Analphabetismus ist erforderlich. ({7}) - Es wird entscheidend sein, dass wir uns mit unseren begrenzten Möglichkeiten gemeinsam mit unseren europäischen Partnern engagieren. Hier gibt es einzelne Ansätze, an die wir anknüpfen können. Das ist von entscheidender Bedeutung. In dem Punkt Informationszeitalter haben wir von der Vorgängerregierung nichts vorgefunden, woran wir hätten anknüpfen können. Das ist ein neues Thema, dem wir uns zuwenden müssen, gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union. Wir dürfen die ärmsten Länder nicht im Teufelskreis der Verschuldung allein lassen. Die Kölner Schuldeninitiative und darüber hinausgehende bilaterale Vereinbarungen setzen in vielen Ländern neue Ressourcen für Armutsbekämpfung und wirtschaftliche Entwicklung frei. Bislang sind Erlassmaßnahmen für 22 hoch verschuldete arme Länder beschlossen worden. Davon liegen 18 in Afrika. Ich denke, das ist ein sehr konkreter, sehr praktischer Schritt aktiver Entwicklungsunterstützung, der sich weiß Gott sehen lassen kann. ({8}) Fünftens. Die Aidsbekämpfung wird von entscheidender Bedeutung sein. Zusammen mit WHO und UNAIDS müssen wir Mittel von europäischer Seite einsetzen. Neue Impfstoffe zu entwickeln und ihren Einsatz materiell zu ermöglichen wird eine große Herausforderung sein. Für uns wird es darum gehen - das hat die Diskussion mit afrikanischen Partnern gezeigt -, dass wir uns von postkolonialen, paternalistischen Vorstellungen lösen, dass wir unser Engagement Afrika gegenüber aufrechterhalten, dass wir unsere begrenzten Ressourcen gemeinsam mit unseren Partnern in Europa in den Punkten zum Einsatz bringen, die ich angesprochen habe, dass wir eine neue Partnerschaft „auf gleicher Augenhöhe“ zwischen Europa und Afrika nicht nur formulieren, sondern auch umsetzen und so eine regionale Stabilisierung auf diesem Kontinent erreichen. Diese regionale Stabilisierung der Sicherheitslage, diese regionale Stabilisierung der Entwicklungsperspektive ist die Voraussetzung dafür, dass Afrika im Zeitalter der Globalisierung nicht von der globalen Entwicklung abgekoppelt wird. Dafür wollen wir uns einsetzen. Vielen Dank. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Karl-Heinz Hornhues.

Prof. Dr. Karl Heinz Hornhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000960, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist das dritte Mal binnen weniger als Jahresfrist, dass wir im Deutschen Bundestag über Afrika sprechen, und das ist gut so. Jedenfalls mir gefällt dies. Das ist eine gewisse Dichte, sie gibt auch die Chance, das eine oder andere, was man beim letzten Mal noch nicht sagen konnte, jetzt einzufügen und andere Gedanken fortzusetzen. Das Einzige, was mich bei der Kontinuität unserer Debatten ein wenig beschwert, ist die Tatsache, dass ihre Basis jeweils Anträge von Fraktionen waren, zu denen kein Konsens gefunden werden konnte. Dies stimmt mich insoweit besorgt, als es gerade bei Themen, die nicht im Mittelpunkt unserer Politik stehen, die alte Tradition gab, wo immer es geht, den Konsens zu suchen. Deswegen lassen Sie mich mit der Anmerkung beginnen, dass ich so ziemlich alles, was Sie, Herr Minister, gesagt haben, und vieles, was in den vorliegenden Anträgen steht, nicht sehr strittig finde. Nur, das wird uns nicht daran hindern, dass wir, so wie Sie von der Koalition im letzten Jahr unseren diesbezüglichen Antrag abgelehnt haben, Ihren Antrag ablehnen. Denn Sie haben natürlich - ich hätte beinahe gesagt: wie sich das gehört - ein paar Dinge vergessen, die Ihnen nicht in den Kram passten und die ich hier nicht nur pflichtgemäß benennen muss, sondern die auch wichtig sind. Denn angesichts all dessen, was hier festgestellt worden ist, muss man fragen: Wie geschieht es denn? Herr Außenminister, solange die Zahl unserer Botschaften in Afrika nicht wieder wächst ({0}) und die personelle Ausstattung nicht größer wird, habe ich Probleme hinsichtlich der Beantwortung der Frage, wie ich das umsetze, was ich will. Auch die markante Art und Weise im Antrag der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, einen geschrumpften Entwicklungshaushalt als umfangreich zu bezeichnen, indem man zum Beispiel sagt: „Relativ gesehen sind die Entwicklungen bei anderen Haushalten noch viel schlimmer gewesen“, ist nicht so, dass die Hoffnung besteht, mit weniger garantiert mehr machen zu können. ({1}) Ab und zu hat man mit mehr Mitteln eher eine Chance, etwas zu erreichen. ({2}) Ich habe damit die beiden wichtigsten Punkte genannt, warum wir am Ende Ihren Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen, ablehnen werden, obwohl in ihm eine ganze Menge Vernünftiges enthalten ist. Vor allem die Aufforderungen an die Bundesregierung sind zum Teil bemerkenswert. Ich möchte vorschlagen, dass die F.D.P., Herr Kollege Irmer, netterweise ihren Antrag nicht zur Abstimmung stellt, sondern ihn in den entsprechenden Ausschuss überweisen lässt. Dann kommt es in einigen Monaten zusammen mit der Antwort der Bundesregierung auf ihre Große Anfrage zu einer erneuten Afrikadebatte, anlässlich der wir eine Zwischenbilanz ziehen und fragen könnten: Was ist nach den Ankündigungen dessen, was man will, konkret geschehen? ({3}) Ich wäre ausgesprochen dankbar, wenn dies so erfolgen würde. ({4}) - Sie signalisieren Zustimmung; dann ist auch dieses Problem gelöst. ({5}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, in diesem Hause haben wir uns wiederholt - dies tun wir auch heute - den Kopf darüber zerbrochen, was wir tun können, damit es in Afrika besser läuft; um es einmal auf diese simple Formel zu bringen. Über die ganzen Jahre hinweg hat sich bei mir der Eindruck festgesetzt: Das Kernproblem in Afrika ist zunehmend und zentral - nicht nur, aber eben auch - die Frage, ob es in Afrika selbst genügend Menschen, Leiter und Lenker von Staaten, Politiker und gesellschaftliche Eliten gibt, die ihre gesamte Kraft darauf verwenden, dass es ihrem Volk und ihrem Land und nicht nur ihnen als Person besser geht. ({6}) Wenn es so ist, dass darin eines der ganz großen Probleme Afrikas liegt - ich behaupte dies -, dann müssen wir uns natürlich auch die Frage stellen, inwieweit wir manche unserer Bemühungen vielleicht einmal überprüfen und uns auf die Bereiche Bildung und Ausbildung konzentrieren sollten, die genau auf diese Führungseliten - seien es nun Journalisten, Soldaten, Polizisten, Richter oder Verwaltungsbeamte - zielen. Angesichts dessen, dass ich von der Sache her Defizitäres entdecke, ist mein Eindruck, dass wir uns manchmal ein wenig schüchtern benehmen im Hinblick auf die Frage, was wir in diesem Zusammenhang einbringen können. Man sollte unsere Vorstellungen nicht dorthin exportieren, sie sind nicht perfekt; dies alles ist richtig. Aber ich weiß manchmal auch nichts Besseres. Deswegen, so glaube ich, ist es sinnvoll und gut, zu prüfen, ob die Zahl der Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes sur place oder in Deutschland, der Inhalt und die Art der Stipendien und vieles andere mehr nicht tatsächlich stärker als bisher in den Mittelpunkt gerückt werden sollten, damit wir in breitester Front im Dialog mit denjenigen stehen, die künftig das Schicksal ihrer Länder bestimmen. Wenn wir dies nicht tun und auch wenn wir uns lange den Kopf zerbrechen und viele gute Ideen haben, werden wir immer wieder an den Realitäten scheitern, die von uns nicht gestaltet werden wollen und sollen. - Dies ist mein Hauptpetitum. Ein zweiter Aspekt: Die Entwicklung im Kongo ist für uns ein Problem. Herr Außenminister, ich habe sehr wohl vernommen, was Sie dazu ausgeführt haben. Ich finde gut, was Sie gesagt haben. Ich hätte nur gerne ergänzend gehört, was Sie schon getan haben. Denn in einer so kritischen Situation geht es oft um Stunden. Gibt es einen Kontakt mit unseren wichtigsten Bündnispartnern in Europa? Ist mit den Amerikanern darüber gesprochen worden, was sie eigentlich vorhaben? Oder ist es so, dass niemand etwas vorhat? ({7}) - Ich weiß. Aber auch Sie wissen, Herr Minister, dass unterhalb der Ebene des Präsidenten die Dinge weiterlaufen. ({8}) Man könnte trotzdem telefonieren; ich wüsste schon ein paar Telefonnummern. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ist mit dem Beauftragten der Länder des südlichen Afrikas, dem Preisträger der Deutschen Afrika-Stiftung, Masire, gesprochen worden, der der Vermittler in diesem Konflikt ist? Hat man ihm Unterstützung angeboten? Braucht er Unterstützung in einer solch kritischen Situation? Meine Bitte geht dahin, nicht nur zu bekunden, was wir wollen, sondern auch die Frage zu beantworten: Was geschieht eigentlich? Was tut man, hat man getan und gedenkt man konkret zu tun? Damit bin ich bei dem Stichwort, das auch Sie gebraucht haben: Europa. Ich bin froh, dass die F.D.P. zugestimmt hat, den Antrag zu Europa in die Beratung zu geben. Denn ich hätte manches zu kritisieren, manches auch nicht zu kritisieren, ({9}) einiges zur Not sogar zu rühmen, Herr Kollege Irmer wenn es denn unbedingt sein muss, tue ich auch dies -, aber dieser Antrag gibt einem die Gelegenheit, das gesamte Thema Europa und Afrika noch einmal näher zu erörtern. Denn es macht keinen Sinn zu sagen: In Europa soll etwas geschehen, die sollen das einmal machen. Vielmehr müssen wir uns stärker fragen: Was können wir denn tun? Was ist unser Input? Was müssen wir einbringen? Ich nenne einige Beispiele. Zwischen der Europäischen Union und Südafrika ist ein Freihandelsabkommen geschlossen worden. Der Vorsitzende der Deutsch-Namibischen Gesellschaft hat uns alle darauf aufmerksam gemacht, was passiert ist: Da mit den Ländern, die mit Südafrika in einer Zollunion verbunden sind, überhaupt nicht gesprochen worden ist, stehen diese vor einem riesigen Ausfall an Staatseinnahmen. Ihnen ist lediglich eine kleine Morgengabe als Ausgleich versprochen worden. Es ist wichtig, dass wir bei all dem, was wir in Afrika tun, bedenken, nicht nur mit Südafrika zu reden, sondern auch die Nachbarn einzubeziehen. Ich war in den letzten Tagen aus einem erfreulichen Anlass in Afrika und habe dort zu meiner großen Freude die Kollegin Eid als Vertreterin der Bundesregierung getroffen, nämlich bei der Amtseinführung des Präsidenten von Ghana, einem bemerkenswerten Vorgang, den ich hier erwähnen möchte, da dies in einem Land geschah, in dem ein Mann, der durchaus eine schillernde Figur war und ist - Rawlings -, in einer Art und Weise abgetreten ist - seine Partei hat ihn abwählen lassen - seine Ämter übergeben hat, dass einem als überzeugter Demokrat beinahe so etwas wie Freudentränen in die Augen steigen konnte. ({10}) Dass die Kollegin Eid davon sehr angetan war, konnte ich ihr nachfühlen - mir ging es genauso -, obwohl ich einige Reihen hinter ihr gesessen habe. ({11}) - Aber nicht sehr weit, was aber am Auswärtigen Amt lag. Das ist ein anderes Thema. ({12}) - Nein, das tat mir nicht weh. Meine Sorge war, dass es das Auswärtige Amt nicht schafft, die Bundesregierung in der ersten Reihe zu platzieren. Das Problem habe ich dann hinreichend mit gelöst. Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich hier noch Folgendes sagen -: Wir neigen dazu, die Bundesregierung anzusehen und dann Europa anzusehen. Bei Europa war ich gerade stehen geblieben. In diesem Zusammenhang geht es mir um Ghana. Ghana ist von Ländern umgeben, die zur CFA-Zone gehören. CFA ist verknüpft mit dem Euro. Was geschieht dort eigentlich weiter? Sie wollen eine eigene Währung einführen. Wie sollen sie das machen? Die Amerikaner sagen: Wir bilden eine Dollar-Region mit Nigeria. Es gibt also eine Reihe von Themen, von denen unter Umständen die Bedeutung und die Entwicklung der Demokratie in diesen Ländern abhängen, die wir ins Blickfeld nehmen müssen, ({13}) nicht nur Europa und nicht nur die Bundesregierung, sondern auch wir in diesem Hohen Hause. Erfreulicherweise haben wir Parlamentariergruppen, die sich mit Afrika beschäftigen, die die Kolleginnen und Kollegen in Afrika besuchen und sie hierher einladen. Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass wir uns diesen Vorgang einmal näher vor Augen führen; denn auch wir haben etwas zu tun. Wenn wir mit Freude feststellen, dass sich im Senegal, in Mali und jetzt in Ghana demokratische Strukturen entwickelt haben, dann muss man genau hinsehen. Dann stellt man nämlich fest, dass manches noch ein Stück Fassade ist, dass die Kolleginnen und Kollegen in den dortigen Parlamenten davon träumen, auch nur ansatzweise solche Arbeitsbedingungen zu haben wie wir. Es stellt sich die Frage, warum ein Programm des Deutschen Bundestages, Frau Präsidentin, das wir vor vielen Jahren einmal gehabt haben, nicht fortgeführt wird, in dessen Rahmen Beamte unserer Verwaltung zwecks Unterstützung in afrikanische Parlamente geschickt und Praktikanten aus diesen Parlamenten zu uns geholt wurden, um den Ländern auf diese Art und Weise, auch mit technischer Ausstattung und einer Fülle von anderen Dingen sehr praktisch und konkret zu demonstrieren, dass wir Parlamentarier ihr Schicksal als Parlamentarier positiv begleiten. Dies sollten wir tun, damit auch die Regierenden merken, dass es Sinn macht, sich mit den Parlamenten in Europa nicht wieder zu überwerfen, indem man der Verlockung der Macht erliegt. Ich habe nämlich bisher nirgendwo in Afrika erkennen können, dass die Demokratie so gefestigt ist, dass man sich in Ruhe zurücklehnen könnte. Ich glaube, auch wir als Parlament haben Anlass genug, darüber nachzudenken, was wir besser machen können. Ich lade Sie ein, das gemeinsam zu tun. Danke schön. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Heidemarie WieczorekZeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus dem, was die beiden Vorredner gesagt haben, ist schon deutlich geworden, dass es auf dem afrikanischen Kontinent eine Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungen gibt. Der Kongo allein ist nicht Afrika. Afrika ist auch nicht einfach nur der Krisenkontinent. Es gibt auch Länder - ich bin Herrn Hornhues dankbar, dass er das eben angesprochen hat -, die weit weniger reich ausgestattet sind als zum Beispiel der Kongo, die also weit ärmer sind, die aber trotzdem zu innerem Frieden, Stabilität, Demokratie und Entwicklungsperspektiven gefunden haben. Sie haben den friedlichen Machtwechsel in Ghana genannt. Das gibt Hoffnung, und das gilt auch für Länder wie Südafrika - bei allen Schwierigkeiten -, Mali, Senegal und Botswana. Dies macht deutlich, dass ein Weg in Richtung einer demokratisch fundierten Entwicklung eingeschlagen worden ist. Auch das ist Afrika. Das ermutigt uns als Entwicklungsministerium und als Bundesregierung, die Zusammenarbeit mit diesen Ländern und diesem Kontinent noch besser zu gestalten. ({0}) Afrika ist und wird in diesem Jahr sowie in den nächsten Jahren der Kontinent sein, bei dem wir einen besonderen Schwerpunkt unserer Entwicklungszusammenarbeit setzen, den wir besonders fördern. Die Erhöhung des Entwicklungshaushaltes um 325 Millionen DM im Jahr 2001 kommt zum großen Teil dem afrikanischen Kontinent zugute. So stocken wir zum Beispiel die Mittel für die Bekämpfung von Aids, für die Entwicklung im Bereich erneuerbarer Energien und Klimaschutz, aber auch für die Förderung lokaler Informationszentren - Stichwort „Verknüpfung bei IT und verhindern, dass ein ganzer Kontinent von den Informationstechnologien abgehängt wird“ - auf. Mittlerweile geht nach Afrika - früher lag Asien an der Spitze - der größte Teil der Mittel für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit, und zwar gehen nach Afrika südlich der Sahara rund 30 Prozent. Der Kontinent Afrika insgesamt bekommt 42 Prozent der gesamten Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit. Hier werden die Schwerpunkte deutlich. Wir werden in diesem Jahr rund 800 Millionen DM im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit für Afrika südlich der Sahara einsetzen. Der Betrag für den gesamten Kontinent beläuft sich auf rund 1 Milliarde DM. Ich möchte an dieser Stelle einmal sagen, dass wir hinsichtlich der Frage, wie wir zu den Menschen in Afrika stehen, nicht nur hehre Afrikadebatten führen sollten, sondern dass sich dies auch im praktischen Denken und Handeln auswirken muss. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich den Vorschlag von Herrn Glos, das Fleisch der 400 000 Rinder in arme Entwicklungsländer zu exportieren, für absolut zynisch und auch für menschenverachtend. ({1}) Ich finde es unglaublich, dass man den Menschen in Afrika das Fleisch liefern will, das wir unseren Verbrauchern zu Recht - das sage ich ausdrücklich - nicht zumuten wollen. ({2}) Wie helfen wir Afrika? Der Kollege Fischer hat es angesprochen: Die Entschuldungsinitiative greift. Ende 2000 ist die Entschuldung für 22 der ärmsten Entwicklungsländer beschlossen worden. 18 dieser Länder liegen in Afrika. Die Entlastung insgesamt für die Staatshaushalte dieser 18 Länder beträgt rund 25 Milliarden USDollar, und zwar nur die erlassenen Schulden gegenüber der Weltbank. Die Entschuldung und Entlastung - das ist mir wichtig - wirkt im Übrigen nicht nur mittel- und langfristig, wie häufig gesagt wird, sondern sie wirkt sofort, schon in diesem Jahr. Es war der Sinn der HIPC-Initiative, nicht sechs Jahre zu warten, bis alle Programme durchgeführt sind, sondern im Gegenzug zur Armutsbekämpfung eine Entlastung sofort spürbar zu machen. Ich möchte an dieser Stelle eine Zahl nennen, die bedeutend ist: Für die afrikanischen Länder heißt dies im Jahr 2001, dass sie 1 Milliarde US-Dollar real an Schuldenerlass haben und diesen Betrag für die Bekämpfung der Armut einsetzen können. Das ist eine zusätzliche Maßnahme zu dem, was wir bilateral machen. ({3}) Ein Land wie Burkina Faso, um nur ein Beispiel zu nennen, wird eine Entlastung von 37 Millionen US-Dollar haben. Das ist durch Entwicklungszusammenarbeit allein nicht zu erreichen. Es gibt ein Thema, das ich für sehr bedenklich halte und das ich in mehreren Reden und Debatten bereits angesprochen habe. Es geht um die drastische Verschlechterung der Terms of Trade für die afrikanischen Länder im Jahr 2000. Sie sind von den damals hohen Ölpreisen und von einem drastischen Verfall der Rohstoffpreise betroffen. Für die afrikanischen Länder, für die Daten vorliegen - diese Zahl muss man sich einmal vorstellen -, ergibt sich allein im Jahr 2000 ein aggregierter Verlust von 5,4 Milliarden US-Dollar. Deshalb hatten wir dieses Thema bei der Jahrestagung der Weltbank im September letzten Jahres auf die Tagesordnung gesetzt. Wir haben mit unserem Drängen durchgesetzt, dass es Sonderhilfen für diese besonders von den Schocks durch die Terms of Trade betroffenen Entwicklungsländer - darunter besonders die afrikanischen Länder - geben wird. Daraus wird aber auch ein anderes Thema ersichtlich. Die Entschuldung der Entwicklungsländer und auch die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit sind zwar sehr wichtig. Ich bin sehr dafür, dass die Mittel dafür weiter erhöht werden. Aber noch viel wichtiger ist es, die Terms of Trade zugunsten der afrikanischen Länder grundsätzlich und dauerhaft zu verbessern; sonst wird es ein Wettlauf, den die afrikanischen Länder immer verlieren. ({4}) Das heißt, ihnen die Chance zu geben, ihre eigene Landwirtschaft zu entwickeln und sich aus der Rolle der bloßen Rohstoffproduzenten und Rohstoffexporteure herausarbeiten zu können. Rund 70 Prozent aller afrikanischen Länder sind nach wie vor Rohstoffexporteure. Nur dann, wenn sie sich von dieser Rolle befreien und auch verarbeitete Produkte absetzen können, können sie mehr Einkommen für ihre Länder erzielen und bessere Anteile am Weltmarkt und am Welthandel erreichen. Deshalb gilt - ich werde das so lange betonen, bis es zu Veränderungen kommt -: Wir müssen dazu beitragen - wir als Bundesregierung für das, aber auch alle anderen EULänder müssen es tun -, dass vor allem den ärmsten Entwicklungsländern ein freier Zugang ohne Zölle und Quoten zu den Märkten der Industrieländer gewährleistet wird, damit sie auch Einkommen erzielen können. ({5}) Sie sollen die Armut in ihren Ländern bekämpfen. Aber dazu brauchen sie Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung. Besonders pervers finde ich, dass wir, die Industrieländer, immer noch das Prinzip der so genannten Tarifeskalation praktizieren. Das heißt, je verarbeiteter ein Produkt ist, desto höher die Zölle. Das hat zur Folge, dass wir die Entwicklungsländer nach wie vor in die Rolle von Rohstoffexporteuren zwingen. Ohne eine Veränderung wird sich nichts Grundsätzliches an der schwierigen und schlechten Ausgangsposition afrikanischer Länder ändern. Die Bundesregierung fordert deshalb die EU-Kommission auf, die Entscheidung über den ursprünglichen Vorschlag von Kommissar Lamy, der den 48 ärmsten Entwicklungsländern freien Zugang zu den EU-Märkten eröffnen wollte, endlich unverändert herbeizuführen und nicht zu verzögern. Die Angelegenheit sollte ursprünglich im Dezember entschieden werden, ist aber bis zum heutigen Tage nicht entschieden. Vor allen Dingen fordere ich die EU-Kommission auf, nicht dem Druck der Zuckerindustrie - darum geht es - nachzugeben und den ursprünglichen Vorschlag, den die EU-Kommission vorgelegt hat, nicht zu verwässern. ({6}) Wenn wir diesen Vorschlag verwirklichen, ist das ein Beitrag zur Veränderung der Terms of Trade zugunsten der afrikanischen Entwicklungsländer. Die Bundesregierung wird sich in diesem Sinne - wie sie es auch bisher getan hat - im Ministerrat der Europäischen Union verhalten. Ich danke Ihnen sehr herzlich. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst sagen, dass wir dem Antrag der Koalition nicht ablehnend gegenüber treten werden, weil wir erkennen, dass in einigen Punkten des Antrags Substanz enthalten ist, mit der wir uns einverstanden erklären können, obwohl wir ihn insgesamt für nicht besonders erhellend halten. Kollege Tappe sagte mir gestern auf dem Rückweg vom Auswärtigen Ausschuss - was heute auch Kollege Hornhues gesagt hat -, dass wir in der Sache gar nicht so weit voneinander entfernt sind und dass es manchmal nur Formalien sind, über die wir uns streiten. Da müsste es doch möglich sein dazu zu kommen, dass das ganze Haus ein Konzept formuliert, das wir uns als Afrikapolitik des Bundestages vorstellen. Wir stellen deshalb unseren eigenen Antrag heute nicht zur Abstimmung, sondern bitten um Überweisung. ({0}) Ich hoffe, dass die Zeit die Koalitionsfraktionen etwas mehr Klugheit lehrt und sie dazu bringen wird, nach einigen Umformulierungen, über die wir mit uns gerne werden reden lassen, dem Antrag vielleicht noch zuzustimmen. Nachdem ich gehört habe, was der Außenminister hier gesagt hat, muss ich feststellen, dass die Afrikapolitik der Bundesregierung - wie viele andere Politikbereiche - durch drei Elemente gekennzeichnet ist: Erstens, es besteht durchaus ein guter Wille; zweitens, es werden viele schöne Worte gemacht; aber es ist drittens wenig bis gar keine Substanz vorhanden. „Die Zeit“ hat im März letzten Jahres Folgendes zu Papier gebracht: Ob finanziell, technisch oder kulturell - überall ist das Engagement der neuen Regierung im Vergleich zu ihrer konservativen Vorgängerin deutlich zurückgegangen. Da werden Finanzhilfen eingefroren, Botschaften aufgelöst und Goethe-Institute geschlossen, als würden südlich der Sahara demnächst die Lichter ausgehen. Das war voriges Jahr und diese Bemerkungen sind vor dem Hintergrund zu verstehen, dass damals der Bundesaußenminister seine geplante Afrikareise wegen Parteiterminen mehrfach hatte verschieben müssen. Das kann vorkommen und ich zolle dem durchaus Respekt. Sie haben ja dann die Reise gemacht und sind bis heute mächtig stolz darauf. Sie waren aber bei dieser Reise in drei Bilderbuchländern, nämlich - Sie haben es eben erwähnt - in Nigeria, Mosambik und Südafrika. Zu diesem Thema hat „Die Welt“ eine schöne Formulierung gebracht: Endlich unterwegs gelang ihm das Kunststück, die eigentlichen Krisenherde weiträumig zu umfliegen. Das Afrika der Kriege und Krisen blieb unberücksichtigt. Sie haben das später nachgeholt, indem Sie Stippvisiten in drei Krisenländern gemacht haben. Das hat jetzt Peter Scholl-Latour sehr schön kommentiert. Ich habe mir das einmal herausgesucht. Er hat seinen Artikel mit „Die seltsame Gorilla-Safari des Joschka Fischer“ überschrieben. Er schrieb weiter, was der deutsche Außenminister bei den Diktatoren in Angola, Burundi und Ruanda eigentlich wollte, sei schwer ersichtlich. Die „Frankfurter Rundschau“ hat das auf die Formel gebracht: Worthülsen in Burundi und Gorillabeobachtung in Ruanda. Die Gorillabeobachtung sei ihm gegönnt; ich habe sie noch nicht gesehen und hätte ihnen auch gern „Grüß Gott!“ gesagt. Aber, Herr Außenminister, auf der Botschafterkonferenz im letzten Herbst haben Sie plötzlich erkannt, dass die Gesamtkonzeption des Afrikakonzeptes nicht mehr zeitgemäß ist. Sie haben das heute wiederholt und ausgeführt, man müsste zu regionalen Ansätzen kommen. Davon habe ich jedoch noch gar nichts gehört, das blieb eine reine Ankündigung. Der Antrag, den die Koalition jetzt vorgelegt hat, spart den Aspekt des regionalen Ansatzes völlig aus. In diesem Antrag ist davon überhaupt keine Rede mehr. ({1}) - Ich habe ihn sogar dreimal gelesen. Es war zwar eine Qual, ihn zu lesen, aber ich habe mir das angetan. Es ist alles inkohärent. Es wird nicht gesagt, was jetzt substanziell geschehen soll. Wir sind der Meinung, dass sich die Deutschen ohnehin übernehmen würden, wenn sie alleine nach Afrika marschieren wollten und sagen würden: Wir helfen euch jetzt bei der Lösung eurer Probleme. Wozu haben wir die Europäische Union, wozu haben wir das Instrument der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der gemeinsamen Strategien in den Verträgen verankert? Welcher Kontinent böte sich - Herr Fischer, Sie selbst haben das erwähnt - aufgrund seiner Historie und aufgrund unserer besonderen Verantwortung mehr als Afrika dafür an, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln? Ich bitte, das jetzt nicht falsch zu verstehen. Wir plädieren keineswegs dafür, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit einzustellen und auf Europa zu übertragen. Das würde zum einen nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang stehen und zum anderen nicht unbedingt hilfreich bei dem Versuch sein, die Koordinierung des vielfältigen Nebeneinanders der Institutionen, die in Afrika tätig sind, zu verbessern. Es gibt ohnehin ein Gestrüpp von zu vielen Organisationen, auch von Regierungsorganisationen sowie europäischen und bilateralen Institutionen, die in diesem Bereich tätig sind. Diese kommen sich zum Teil in die Quere und konterkarieren sich bei ihrer Arbeit zum Teil gegenseitig. Es wäre dringend erforderlich, dieses Gestrüpp zu durchforsten. Wir müssen vor allem auf einem bestehen. Die finanzielle Entwicklungszusammenarbeit, die im Rahmen des Europäischen Entwicklungsfonds geleistet wird, krankt an zwei Dingen: Zum einen wird sie von Nationen wie insbesondere Frankreich und Großbritannien beherrscht, die bei der Vergabe der finanziellen Mittel vor allem die Entwicklungsländer berücksichtigen, die in Form von Aufträgen an französische und englische Firmen für finanzielle Rückflüsse sorgen. Deutschland schneidet bei der Vergabe solcher Aufträge weit unterproportional ab. Ich bitte die Bundesregierung, auf europäischer Ebene dafür zu sorgen, dass diesem Missstand abgeholfen wird. Aus deutschen Kassen werden annähernd 30 Prozent der Mittel des Europäischen Entwicklungsfonds gezahlt. Das, was an deutsche Firmen zurückfließt, ist wenig genug. Das ist zwar nicht der eigentliche Zweck der Entwicklungszusammenarbeit, aber es ist ein Nebenprodukt, das zum Teil für die Akzeptanz des deutschen Steuerzahlers wichtig ist. Außerdem plädieren wir seit langem dafür, dass die Mittel für den Europäischen Entwicklungsfonds in den Haushalt der Europäischen Union eingestellt werden, damit auch hier endlich eine parlamentarische Kontrolle gewährleistet ist.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hedrich?

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, sehr gern.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Irmer, ist Ihnen zufälligerweise bekannt, dass das Europäische Parlament schon jetzt nicht bei den Mitteln seiner parlamentarischen Kontrolle nachkommt, deren Verwendung es eigentlich kontrollieren könnte? So liegen zum Beispiel im EU-Haushalt 14,6 Milliarden Euro - ich wiederhole: Euro - auf Halde und Mittel in Höhe von 6,3 Milliarden Euro bei der Europäischen Union, die aus dem Europäischen Entwicklungsfonds stammen. Das sind insgesamt ungefähr 40 Milliarden DM. Wäre es vor diesem Hintergrund nicht eher angemessen, zu fordern, dass das Europäische Parlament erst einmal die Kontrolle über die Mittel ausüben sollte, für die es schon jetzt zuständig ist, anstatt zu verlangen, dass das Europäische Parlament einen weiteren Zuständigkeitsbereich kontrollieren soll, was es wahrscheinlich auch nicht kann? Sind Ihnen die eben genannten Zahlen bekannt?

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Diese Zahlen waren mir im Einzelnen nicht bekannt. Aber das generelle Problem ist mir natürlich bekannt. Das Problem liegt wohl darin, dass die Europäische Kommission das Geld nicht zur Verfügung stellt. Es gibt ja einen alten Streit zwischen Europäischer Kommission und Europäischem Parlament. Die Kommission behauptet immer, dass sie nur Geld ausgeben dürfe, wenn eine entsprechende Verordnung vom Ministerrat vorliege. Wenn es eine solche Verordnung nicht gibt, dann kann das Europäische Parlament im Grunde gar nichts tun. Aber das ändert nichts an der grundlegenden Berechtigung meiner Uraltforderung, dass der Europäische Entwicklungsfonds in den Haushalt der Europäischen Union überführt werden muss. Im Übrigen übt das Europäische Parlament über die Haushaltskontrolle sehr wohl auch Kontrolle über die Ausgaben des Europäischen Entwicklungsfonds aus. Es ist ja nicht so, dass diese Ausgaben am Europäischen Parlament vorbeiliefen. Die Ausgaben des Europäischen Entwicklungsfonds werden zwar nicht im Rahmen des Haushaltsbewilligungsverfahrens, sehr wohl aber im Rahmen des Haushaltskontrollverfahrens überwacht. Es besteht zum Beispiel die Möglichkeit, dass der Kommission die Entlastung verweigert wird, wenn die Mittel, die im allgemeinen Haushalt für den Fonds zur Verfügung stehen, nicht ordnungsgemäß bewirtschaftet werden. Lassen Sie mich noch eines sagen: Die Europäische Union hat die einmalige Chance, durch vielfältige kulturelle Kontakte einen besonderen Zugang zu den einzelnen Regionen in Afrika zu bekommen. Natürlich ist die koloniale Vergangenheit keineswegs glorios und nicht immer durch Freundschaft und positive Entwicklungen gekennzeichnet. Aber es gibt doch vielfältige starke Bindungen. Wir Deutsche können uns glücklich preisen, dass wir unsere Kolonien sehr frühzeitig verloren haben, sodass wir weniger als manche andere belastet sind. Mir ist bei dem Gedanken nicht wohl, dass manche Länder, wie Frankreich, ihre ehemaligen Kolonien nach wie vor als Chasse gardée betrachten. Insgesamt kann die Europäische Union mehr als einzelne Länder tun. Afrikapolitik wäre deshalb ein klassisches Betätigungsfeld im Hinblick auf die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Strategie gegenüber unserem Nachbarkontinent, von dem ich mich nach wie vor weigere anzuerkennen, dass es nur ein Katastrophenkontinent sei. Gerade das menschliche Potenzial in Afrika gibt Hoffnung, dass wir dort eines Tages eine positive Entwicklung erleben werden. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zum Teil erschütternde Datenlage zu Afrika, etwa die Zahl der Armen, der Flüchtlinge, der Aidskranken oder die Zahlen zur Kindersterblichkeit, ist hier bereits genannt worden oder sie ist allgemein bekannt. Auch über die sozioökonomischen Rahmenbedingungen macht sich zumindest in diesem Haus, so hoffe ich jedenfalls, niemand Illusionen. Auch sie sind dramatisch. Ich werde das alles hier nicht wiederholen. Ich will aber sagen, dass diese Situation - man tut ja gern so - nicht vom Himmel gefallen ist, sondern ganz konkrete Verursacher hat. Ein großer Teil der Verantwortung für das Elend in Afrika ist nun einmal bei uns zu finden. Er ist in einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung, deren Profiteure wir sind, zu finden. Er ist in den Folgen des Kolonialismus und einer nachkolonialen Ordnung zu finden, die Afrika, wenn es denn überhaupt wahrgenommen wird, als Lieferant billiger Rohstoffe begreift, als Region, der die Aufgabe zugewiesen wird, die hoch entwickelten Ökonomien des Nordens mit all jenen Basisgütern zu versorgen, die hier weiterverarbeitet und konsumiert werden und die einen nicht unerheblichen Teil unseres Lebensstandards ausmachen. Dafür werden nicht nur schlechte Preise gezahlt, sondern auch der Regenwald zerstört, mit Monokulturen wird die Desertifikation, die Wüstenbildung, beschleunigt, dafür werden in den Ölförderregionen das Lebensumfeld der Menschen und die Umwelt verseucht oder es wird - man denke an die Diamanten - zumindest billigend in Kauf genommen, dass sich daran verheerende Bürgerkriege entzünden. Ich frage Sie: Wie lange hat es gedauert, bis endlich über die so genannten Blutdiamanten ernsthaft nachgedacht wurde und erste Gegenmaßnahmen eingeleitet wurden? Noch immer stehen die Agrarmärkte des Nordens unter massiver Protektion und sind für die Staaten des Südens kaum geöffnet, während unsere Politiker durch die Welt reisen und die Vorzüge des Freihandels predigen. Wer diese Verantwortung verschweigt oder übergeht, der kann keine wirklichen Lösungen und Lösungswege auftun. ({0}) Aber - dazu müssen ebenfalls klare Worte gesagt wer- den - auch die politischen und ökonomischen Eliten Afri- kas haben in den vergangenen Jahrzehnten oftmals nicht das gehalten, was sie im Zuge der Dekolonisation ver- sprochen haben. Menschenrechtsverletzungen, man- gelnde Demokratie, soziale Ungleichheit, Korruption und gnadenlose Bereicherung sind Missstände, die auch darin ihre Ursachen haben und die nicht selten dazu beigetragen haben, dass sowohl die Ökonomien des Nordens als auch die afrikanischen Eliten vom natürlichen Reichtum dieser Länder profitierten, während breite Bevölkerungsschich- ten mehr und mehr im Elend versinken. Auch das muss benannt werden. Wir müssen uns fragen lassen, wer in der Vergangenheit eigentlich unsere Partner waren, wer die Partner deutscher und europäischer Unternehmen waren und noch immer sind. Selbst wenn die PDS-Fraktion die Eingangsthese des F.D.P.-Antrags teilt, dass ein so genannter Afropessimis- mus - diesen Ausdruck habe ich vorher noch nie gehört - nicht angesagt ist - allein schon deshalb nicht, weil es sehr viel Optimismus und Tatendrang verlangt, endlich zu nachhaltigen Maßnahmen zur Stabilisierung und zur strukturellen Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in Afrika zu kommen -, können wir dem Antrag in seiner gegenwärtigen Form aus vielerlei Grün- den nicht zustimmen; vielmehr müssen wir ihn ablehnen. Ich nenne nur einen Grund: Zum einen verlangt die F.D.P.-Fraktion eine Steigerung der öffentlichen Mittel im Bereich EZ, zumal mit Blick auf Afrika. Zum anderen sol- len wiederum die Mobilisierung privaten Kapitals in der Entwicklungsfinanzierung Vorrang haben und der öffent- liche Anteil an ihr reduziert werden. Zum Dritten schließ- lich sind Sie der Überzeugung, Freihandel und Investitio- nen seien wirkungsvoller als die gesamte öffentliche EZ. Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, steht in ein und demselben Antrag und macht deutlich, dass er entwe- der mit heißer Nadel gestrickt ist oder Ihre Konzeption schlichtweg nicht kohärent ist. Mit unseren Vorstellungen von nachhaltiger und sozial wie ökonomisch sinnvoller Entwicklungskooperation hat er an dieser wie an vielen anderen Stellen jedenfalls nichts gemein. Wir werden das im Ausschuss noch beraten. Dem Antrag der Regierungskoalition werden wir aller- dings auch nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Da- bei sage ich deutlich, dass ich viele der Ansätze und Forderungen grundsätzlich teile. Aber von den Regie- rungsfraktionen erwarte ich einfach, dass ihre Anträge auf klare, abrechenbare Projekte und Schritte abzielen. Ansonsten erwecken sie schnell den Eindruck von Nebel- kerzen. Nur ein Beispiel: Sie erklären unter Ziffer III 1 e), es komme „der Unterstützung von Frauen herausragende Bedeutung zu“. Ich teile dies; das habe ich hier bereits mehrfach gesagt. Aber statt diesen Ansatz auch program- matisch umzusetzen, durfte ich mir in den Haushaltsde- batten von Ihrer Seite anhören, Frauenförderung sei eine Querschnittsaufgabe. Unser Haushaltsantrag auf Einstel- lung gesonderter EZ-Mittel zur Frauenförderung wurde demgemäß abgelehnt. Wie - das interessiert mich nun aber wirklich - soll jetzt die Ziffer III 1 e) konkret projektiert und so umgesetzt werden, dass dieser Antrag qualitativ etwas Neues befördert? Mit welchen Programmen und Mitteln? Aufgrund der Zeit will ich jetzt keine weiteren Beispiele ausführlich darstellen, etwa was den Umgang mit EZMitteln als beliebtes Sanktionsinstrument anbetrifft - auch das kommt in diesem Antrag leider wieder vor -, während Wirtschafts- und militärische Zusammenarbeit im Falle von Demokratiedefiziten eher nicht zur Disposition gestellt werden. Daher erwähne ich zum Abschluss nur noch das, was ich in diesem Antrag erwartet hätte. Eine konkrete Position wäre zum Beispiel gewesen, mit Südafrika in Verhandlungen über die unsäglichen Apartheidschulden zu treten oder einen Erlass dieser Schulden zu fordern. ({1}) Eine konkrete Position wäre gewesen, den Schuldenerlass insgesamt mit neuen Zielgrößen zu versehen. Eine konkrete Position wäre gewesen, in der Aids-Problematik Name, Hausnummer und konkrete Vorhaben inklusive ihrer Finanzierung zu benennen. Eine konkrete Position wäre auch gewesen, zu erklären, wie und in welchem Zeitrahmen der Europäische Entwicklungsfonds reformiert werden soll und wann endlich die Milliarden abfließen werden, die dort aufgelaufen sind. Was - das frage ich Sie - unterscheidet diesen Antrag von dem, was Sie bisher auch schon als Regierungswollen und -handeln verkündet haben? Wo liegt das qualitativ Neue und wie soll es konkret umgesetzt werden? Ein Letztes: Der Außenminister hat mit eindringlichen Worten darauf hingewiesen, dass die Situation im Kongo nicht nur insgesamt äußert kompliziert und schwierig ist, sondern durch die Ereignisse der letzten Tage noch komplizierter geworden ist. Ich bitte die Bundesregierung, vor diesem Hintergrund auf Abschiebungen in den Kongo zu verzichten. Danke. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Werner Schuster.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag lautet „Afrikas Entwicklung unterstützen“ und macht damit schon in der Überschrift deutlich, dass die Priorität im Hinblick auf konkrete Arbeit bei den Afrikanern liegt. Aus Zeitgründen fasse ich meinen Beitrag in sieben kurzen Thesen zusammen. Erstens. Das christliche Abendland hat ein gerütteltes Maß Schuld an der derzeitigen Situation in Afrika. Die Kolonialzeit hat nationalstaatliche Grenzen geschaffen, die heute für manche Bürgerkriege auf einem Kontinent, auf dem es vordem keine Grenzen gab, mit verantwortlich sind. Wir haben viele afrikanische Staaten völlig unvorbereitet in ihre Unabhängigkeit entlassen. Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten es mit der ehemaligen DDR ähnlich gemacht! Afrika war im Kalten Krieg ein Spielball. In Afrika finden Sie vermehrt und inzwischen öffentlich Spuren von schmutzigen Händen von Europäern. Ich erinnere hier nur an Mitterrand junior. Wirtschaftliche Interessen haben alles überlagert. Es ist kein Zufall, dass Öl und Diamanten den betroffenen Ländern Nigeria, Angola oder Zaire kein Glück gebracht haben. Im Übrigen bieten wir Europäer unseren afrikanischen Freunden mit unserem Konsumverhalten ein schlechtes Vorbild. Die Afrikaner werden so stark fremdbestimmt, dass ich mich manchmal frage, ob wir den Afrikanern überhaupt eine realistische Chance einräumen wollen, ihren eigenen Weg zu finden. ({0}) Zweite These. Wir im Norden wollen grundsätzlich positive Meldungen aus Afrika schlicht nicht wahrnehmen. In meinem Geburtsland Tansania fanden Wahlen statt, international beobachtet, fair und frei. Berichtet wurde nicht über die Wahlen, sondern nur über den Kladderadatsch in Sansibar, der nur einen Bruchteil der Menschen betrifft. Letzte Woche wurde die ostafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Das war ein schwieriger, aber entscheidender Schritt in der Region. Haben Sie viel darüber gelesen? In Ghana fand ein Machtwechsel statt, der um Größenordnungen demokratischer ablief als der in den USA. Ich habe es so formuliert: Ghana schlägt Florida. These drei. Es gibt nicht ein Afrika, sondern es gibt 48 Staaten plus 5 Maghrebstaaten. Also brauchen wir differenzierte Länderstrategien. Da sind wir auf einem guten Weg. Ich teile nicht den Afropessimismus dieser Memorandumgruppe, die die Hälfte dieser 48 Staaten schlicht abschreibt und sagt: Null Entwicklungschancen! Das würde ich als Arzt nicht einmal kranken Patienten gegenüber sagen, weil sie dann keinen Lebensmut mehr hätten. Richtig ist, dass sich diese 48 Staaten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln. Das kennen wir aus Europa. Richtig ist auch, dass viele Anträge von CDU/CSU, F.D.P. und der Regierungskoalition inhaltlich meistens übereinstimmen. Wir haben also kein Defizit bei den Konzepten, sondern wir haben ein Umsetzungsdefizit. Herr Hornhues, wir haben Ihnen im Entwicklungsausschuss angeboten, einen gemeinsamen Antrag zu machen. Ich selbst habe acht Jahre lang das bittere Brot essen und unsere eigenen Anträge abschwächen müssen, weil eine Regierungskoalition manche Unverschämtheiten einer Opposition eben nicht übernehmen kann. Es liegt also an Ihnen. Wir reichen Ihnen die Hand. ({1}) These vier. Wichtigstes Ziel muss eine europäische Afrikapolitik sein. Deutschland allein, Herr Minister, ist vorhersehbar überfordert. Aber die 15 plus 1 stellen etwas dar. Also brauchen wir gemeinsame Länderstrategiekonzepte und eine Arbeitsteilung. Nicht jedes europäische Land muss für jedes afrikanische Land das Gleiche tun. Wir brauchen Koordination und Kooperation. Auf nationaler Exekutivebene gibt es so etwas wie einen Ministerrat. Ich frage mich, Herr Hedrich: Warum gibt es eigentlich auf parlamentarischer Ebene kein Äquivalent, zum Beispiel ein parlamentarisches Forum aus Afrikaexperten der jeweiligen Nationalparlamente und des Europaparlaments, um gemeinsam zu eruieren, wie man zu abgestimmten Konzepten kommt? These fünf. Afrikapolitik, Frau Ministerin, bleibt auf lange Sicht die Domäne der Entwicklungspolitik, auch wenn die Entwicklungspolitik - das ist bitter - lernen muss, bescheidener zu sein. Das heißt aber vor allem: Förderung der Zivilgesellschaft. Ohne Zivilgesellschaft gibt es keine stabilen demokratischen Gesellschaften in Afrika. ({2}) Das heißt zweitens, Konfliktprävention. Das heißt drittens: politisch und ökonomisch innerafrikanische regionale Kooperationen. Das heißt viertens: Die Nothilfe muss in eine nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit überführt werden und darf nicht isoliert betrachtet werden. Ich glaube, Frau Ministerin, dass wir beim nächsten Haushalt intern doch noch das eine oder andere an Prioritäten werden umschichten müssen, so schwer es uns fällt. ({3}) These sechs. Erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit setzt einen partnerschaftlichen Dialog voraus. Dialog funktioniert aber erstens nur, wenn er, Herr Minister, auf gleicher Augenhöhe stattfindet. Manchmal habe ich Zweifel, ob alle wichtigen europäischen Politiker das auch nachvollziehen können. Erfolgreiche Zusammenarbeit setzt zweitens die Bereitschaft von uns Europäern voraus, voneinander zu lernen. Dort haben die Nichtregierungsorganisationen einen großen Erfahrungsvorsprung. Drittens: Wir müssen endlich mit dem Lügen aufhören. Wahrhaftigkeit ist gefragt. Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Wir waren irgendwann einmal in Kamerun und haben darum gebeten, dass man dort den Regenwald erhält. Ich glaube, es war der Präsident, der uns aus Caesars „De bello Gallico“ vorgelesen hat und uns gefragt hat: Wo ist eigentlich euer Urwald? Da haben wir die Bringschuld. Umgekehrt habe ich diesen Sommer auf einer Konferenz in Maputo die Forderung gehört: Wir wollen einen Marshallplan. Schon meine Frage: Seid ihr überhaupt in der Lage, eine Struktur für den Marshallplan zu entwickeln?, wurde als Aggression aufgefasst. Ich bin froh, dass sich hier inzwischen etwas bewegt. Die letzte These heißt nämlich: Die Afrikaner sind für ihre Zukunft zuallererst selbst verantwortlich. Diese Verantwortung können wir ihnen in Europa nicht abnehmen, wie wir das im Äthiopien-Eritrea-Konflikt bitter erlebt haben. Auch die afrikanischen Politiker können diese Verantwortung nicht an ihre NGOs delegieren. Das ist ihr originärer Job. Ich bin froh - Herr Tappe hat es hier beim letzten Mal berichtet -, dass sich dieses Bewusstsein bei führenden afrikanischen Politikern offensichtlich zu ändern beginnt. Zum Schluss, Frau Ministerin, Herr Minister: Es wäre zu schön, wenn Sie als das Ministertandem in die deutsche Afrikapolitikgeschichte eingehen würden, das gemeinsam in Berlin und Brüssel für eine kohärente Afrikapolitik so wesentliche Impulse gesetzt hat, dass unser gemeinsamer Traum von Afrika als Kontinent der Zukunft Realität wird. Ich bedanke mich. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist Kollege Rudolf Kraus für die CDU/CSU-Fraktion.

Rudolf Kraus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001202, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die bisherige Debatte zeigt, dass wir in den Zielen hinsichtlich der Afrikapolitik der Bundesrepublik Deutschland in vielen Punkten übereinstimmen. Wir streiten - zu Recht - über die Frage, ob denn die Anstrengungen der Bundesregierung wirklich zureichend sind, diese Ziele zu erreichen. Ich bin hier ähnlicher Meinung wie Kollege Dr. Schuster, der dies natürlich nicht unterstellt. Es wäre besser, wenn wir weiter über diese Wege streiten als über das, was die Ministerin jetzt gemacht hat. Sie unterstellt dem Kollegen Glos etwas, was dieser nicht gesagt hat. ({0}) Ich möchte diese Sache hier mit aller Deutlichkeit aufgreifen. Es ist unfair und grenzt nahe an Verleumdung, was hier gesagt wurde. ({1}) Es wird unterstellt, der Kollege Glos habe vorgeschlagen, Fleisch von Rindern, die aus BSE-auffälligen Beständen kämen und der deutschen Bevölkerung nicht zum Verzehr zuzumuten seien, an die Armen der Welt zu verteilen. Genau das ist nicht der Fall. Es ist vielmehr so, dass überlegt wird, 400 000 Rinder aus Gründen der Marktentlastung zu schlachten, und zwar von BSE nicht betroffenen Beständen. Jedem vernünftigem, normal denkendem Menschen ist es zuwider, wenn Lebensmittel hoher Qualität einfach vernichtet werden. Genau dem wollte Kollege Glos mit seinem Vorschlag Rechnung tragen, dieses Fleisch an diese Länder abzugeben, ({2}) und zwar kostenlos. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. ({3}) - Das ist dummes Zeug, Frau Kollegin; ich komme gleich auf Ihr Argument zu sprechen. Mit anderen Worten: Es handelt sich um Fleisch - ich unterstelle der Ministerin, dass sie weiß, dass auch in Deutschland bis zum heutigen Tag noch Rindfleisch angeboten wird -, das in der gleichen Qualität in Deutschland und in anderen europäischen Ländern angeboten wird. ({4}) Es ist Fleisch von Tieren aus Nicht-BSE-Beständen - das sage ich noch einmal -, die geschlachtet und untersucht werden und dann auf den Markt kommen. Genau das ist der Vorschlag. Sehr viel ernster nehme ich in der Tat, Frau Staatssekretärin Eid, den Einwand, damit würden die Märkte kaputtgemacht werden. Ich glaube das aus folgenden Gründen nicht: Erstens handelt es sich um eine einmalige Aktion, die sich hoffentlich in den nächsten Jahrzehnten nicht wiederholt. Zweitens handelt es sich um kostenlos abgegebenes Fleisch, das von Leuten entgegengenommen werden kann, die sonst überhaupt nicht am Markt teilnehmen, weil sie keine müde Mark haben, um sich so etwas zu kaufen. Das heißt also, das Argument, das Sie vorbringen, würde dann gelten, wenn permanent oder über einen längeren Zeitraum Überschüsse zu subventionierten Dumpingpreisen an Länder geliefert würden, die zu diesen Kosten überhaupt nicht produzieren könnten. Deswegen denke ich, dass es gerechtfertigt ist, über diesen Vorschlag ernsthaft nachzudenken, und er es nicht verdient, in dieser Weise heruntergemacht zu werden. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die Koalitionsfraktionen begrüßen in ihrem Antrag „Afrikas Entwicklung unterstützen“ die Konzentration von 30 Prozent der insgesamt von Deutschland verausgabten Mittel für bilaterale Entwicklungszusammenarbeit auf afrikanische Länder. Diese Zahlenangabe ist aber leider grob irreführend, da der Anteil der Mittel für die Finanzielle und Technische Zusammenarbeit schon zu der Zeit, als die Bundesregierung noch von CDU/CSU und F.D.P. gestellt wurde, an die 30 Prozent betragen hat. Wie wenig aussagekräftig der Hinweis auf einen Anteil von 30 Prozent ist, wird vor allem dann deutlich, wenn man die reale Höhe der Finanzmittel für Afrika im letzten Jahr der von CDU/CSU und F.D.P. geführten Regierung mit der im Haushaltsjahr 2001 vergleicht. Im Jahr 1998 belief sich der reale Betrag noch auf 865 Millionen DM, im Haushalt 2001 ist der Ansatz auf 712 Millionen DM gesunken. Das Vorgehen der Bundesregierung in ihrem Antrag wird damit als untauglicher Versuch entlarvt, darzutun, dass sie wesentlich mehr als früher für Afrika tue. ({5}) Noch in der letzten Afrika-Debatte im Juli letzten Jahres hatte die Fraktion der CDU/CSU ein mangelndes Interesse des Bundesaußenministers an Afrika kritisiert; mittlerweile ist er zweimal in Afrika gewesen. Wir halten das für richtig, glauben aber nicht, dass damit schon ein wirklich überzeugendes Engagement der deutschen Außenpolitik deutlich gemacht werden konnte, das zur Prävention von Konflikten in diesen Regionen ausreicht. ({6}) Immerhin macht der Hinweis im Antrag darauf aufmerksam, dass der Bundesaußenminister bei seinen Reisen einen Konfliktherd im südlichen Afrika außen vor gelassen hat, der für die gesamte Region des südlichen Afrika und für das gesamte Schwarzafrika große Bedeutung erlangen kann. Ich meine die Situation in Simbabwe. Dort stürzt Präsident Mugabe das ehemals prosperierende Land mehr und mehr ins Chaos. Am 6.April 2000 verabschiedete das Parlament von Simbabwe eine Verfassungsänderung, durch die die Regierung ermächtigt wurde, Farmen von Weißen entschädigungslos zu enteignen. Präsident Mugabe ging es dabei darum, die Landfrage, die in der öffentlichen Meinung eine untergeordnete Rolle spielte, für den Wahlkampf zu instrumentalisieren. Er wollte von Versäumnissen ablenken, indem er den Hass auf den weißen Anteil der simbabwischen Bevölkerung schürte. Die Folgen sind desaströs. Simbabwe war früher Nettoexporteur von Lebensmitteln, nun droht eine Lebensmittelknappheit. Die Inflation beträgt 60 Prozent, die Arbeitslosigkeit 50 Prozent. Der Tourismus, eine der Stützen der Wirtschaft, ging um 80 Prozent zurück. Der Presse war in den letzten Tagen auch zu entnehmen, dass 4 000 der 8 500 Ärzte und Schwestern zwischenzeitlich das Land verlassen und eine Arbeit im Ausland aufgenommen haben. In den Krankenhäusern arbeitet inzwischen nicht viel mehr als eine Notbesetzung. Der Zusammenbruch des gesamten Gesundheitssystems ist zu befürchten - und dies vor dem Hintergrund, dass Simbabwe zu den am schwersten von Aids heimgesuchten Ländern zählt. Ursache für diesen Missstand ist die Politik des Präsidenten, dessen Regierung Unsummen für einen aufgeblähten Staats- und Machtapparat und für die Entsendung von 11 000 Soldaten in den Kongo hinauswirft, womit Mugabes Freund Kabila an der Macht gehalten werden sollte. Wie wir heute gehört haben, hat sich die Situation zwischenzeitlich anders entwickelt: Kabilas Sohn hat die Macht übernommen. Im Zusammenhang mit Aids - ich habe das in meiner letzten Rede zu Afrika schon getan - möchte ich auf ein ganz entscheidendes Aufgabenfeld hinweisen, nämlich auf die Notwendigkeit, die Seuche Aids dort zu bekämpfen. Mit Sicherheit hat Aids in etwa das Ausmaß und die Rolle der mittelalterlichen Pest in Europa. Dieses Problem wird auch in der deutschen Öffentlichkeit in seiner Tragweite bis zum heutigen Tag praktisch nicht wahrgenommen. Ich denke, dass es eine große Aufgabe der Regierung sein wird, alles zu tun, um diese Seuche zu bekämpfen, die Prävention mit in Gang zu setzen und - was ganz besonders wichtig ist - dafür zu sorgen, dass den Menschen, die dort betroffen sind, auch Medikamente zugänglich sind, so wie dies in den entwickelten Ländern der Fall ist. ({7}) Ich weiß, dass dies sehr schwierig ist. Aber wenn die Seuche schon nicht völlig verhindert werden kann, müssen wir alles tun, die Firmen dazu zu veranlassen, mit Hilfe des Staates, mit Hilfe der EU Bezahlbares auf den Markt zu bringen. Es ist eine sittliche Forderung erster Güte, dass die Folgen möglichst eingedämmt werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein Wort zum Antrag der F.D.P. Ich bedaure es sehr, aber meine Fraktion hat beschlossen, diesem Antrag nicht zuzustimmen. Insbesondere die Absätze 5, 6 und 7 machen es uns unmöglich, Ihrem Antrag zu folgen. Ich bitte um ein gewisses Verständnis und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin in der Debatte ist für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Kollegin Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ghana wurde schon verschiedentlich als ein Land genannt, in dem ein für das Land selber historischer und für den gesamten Kontinent beispielgebender Machtwechsel stattgefunden hat. Ich bin froh, dass ich für die Bundesregierung in Ghana gewesen bin und dass auch der Kollege Hornhues für die Opposition in Ghana anwesend war. Ich danke aber auch den deutschen Stiftungen, die diesen Prozess in Ghana sehr konstruktiv und beispielhaft begleitet haben. ({0}) Wir sind uns allerdings darüber im Klaren, dass Wahlen alleine nicht ausreichen, um Demokratie mit Substanz zu füllen. Denn nach Feudalismus und Zentralismus müssen viele Gesellschaften erst lernen, pluralistische, dezentrale Strukturen zu verankern. Das wurde hier verschiedentlich bereits gesagt. Die Kollegen Schuster und Hornhues haben schon die Parlamente, also das Herz der verfassten Demokratie, genannt. Hierzu möchte ich noch einiges ausführen. Zunächst will ich die Rolle des burundischen Parlaments seit dem Putsch von Buyoya 1996 würdigen. Dies mag viele von Ihnen überraschen, kommt doch Burundi seit Jahren nicht zur Ruhe. Aber in Burundi hat auch der Deutsche Bundestag eine kleine, durchaus entscheidende Rolle gespielt. Namentlich erwähne ich in diesem Zusammenhang die Abgeordneten Brudlewsky, Schwaetzer, Tappe und Schuster. Ich möchte Ihnen ein Schreiben des Vizepräsidenten des burundischen Parlaments zur Kenntnis geben, weil ich glaube, dass dies ebenfalls beispielhaft ist. Nach meinem Besuch dort im November hat er mir eine E-Mail geschickt. Ich zitiere: Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, ich möchte Sie versichern, dass wir nie den Beitrag Ihres Parlamentes - auch durch Ihren persönlichen Einsatz - für die Versöhnung Burundis vergessen werden. Sie kamen 1995 nach Bujumbura und wir diskutierten. Wir kamen 1996 nach Bonn, eine Gruppe von zehn Parlamentariern, und wir diskutierten mit Ihnen und wir verstanden uns. Dies war der Beginn von wahrhaftigen Verhandlungen. So der heutige Vizepräsident des Parlaments in Burundi. Er schreibt weiter: 1998 erreichten wir dank des Treffens in Bonn eine Partnerschaft, denn der Dialog in Bonn erlaubte es mir und Herrn Bamvuginyumviye, die äußeren Flügel unserer Parteien zu überzeugen, dass wir um Verhandlungen „nicht herumkommen“. Ich muss hinzufügen, dass die beiden Männer, die ich hier zitiere, damals die Fraktionsvorsitzenden der zerstrittenen Parteien waren, die sich bis aufs Blut bekämpft haben, nämlich die Fraktionsvorsitzenden von UPRONA und FRODEBU. Weiter heißt es in dem Brief: Das jetzt unterzeichnete Friedensabkommen ist die Frucht des Dialogs von Bonn. ({1}) Ich möchte ausdrücklich der damaligen Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Süssmuth, dem damaligen Vizepräsidenten, Herrn Klose, und der Vizepräsidentin Frau Vollmer für die Unterstützung meiner Initiative danken. Ich möchte diesen Dank im Deutschen Bundestag erwähnen, damit Sie wissen - es ist vorhin schon angesprochen worden -, dass die Parlamentariergruppen eine wichtige Rolle für die Stärkung der Demokratie in afrikanischen Ländern zu spielen haben. Ich hoffe, dass die Vorsitzenden der Parlamentariergruppen diesen Gedanken weitertragen. ({2}) Dank dieses Erfolges wird das BMZ in diesem Jahr eine Konferenz zur Rolle der Parlamente in Afrika durchführen. Ich hoffe, dass das burundische Beispiel Schule macht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Eid, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, ich will zum Schluss meiner Rede noch eine Bemerkung zur aktuellen Situation machen. Beunruhigende Meldungen, dass der Friedensprozess zwischen Eritreern und Äthiopiern ins Stocken geraten sei, veranlassen mich, an beide Seiten zu appellieren, alles zu tun, damit das Friedensabkommen erfüllt wird. Dort ist festgelegt, dass der UNMIK-Luftkorridor wieder geöffnet wird und dass die Minenlagepläne bekannt gegeben werden, damit mit der Räumung der Minen begonnen werden kann, dass die Mitglieder der Grenzkommission unverzüglich dem UN-Generalsekretär zu benennen sind und dass der Propagandakrieg auf beiden Seiten zu beenden ist. ({0}) Erst wenn Friedenstruppen der UN stationiert und die äthiopischen Truppen vom eritreischen Territorium abgezogen worden sind - nur dann -, werden wir mit beiden Seiten die Entwicklungszusammenarbeit aufnehmen. Einen dauerhaften Frieden wird es nur geben, wenn sich beide Staaten zu wirklich demokratischen Systemen weiterentwickeln, das heißt also, wenn die Intransparenz in der Staatsführung beseitigt wird, wenn die Parlamente zu wirksamen Kontrollinstrumenten der Gesellschaft gegenüber ihren Regierungen werden, wenn die Verfassungen wirklich respektiert und umgesetzt werden und wenn Pluralismus kein Schlagwort mehr ist. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Eid, ich erinnere Sie ein letztes Mal daran, zum Schluss zu kommen. Ich war schon recht großzügig.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine solche Entwicklung wollen und werden wir fördern. Das ist das Ziel unserer zukünftigen Zusammenarbeit für eine friedliche Entwicklung in der Region. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Joachim Tappe für die SPDFraktion.

Joachim Tappe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ausgangspunkt und Anlass für die heutige Debatte - Herr Kollege Hornhues hat darauf aufmerksam gemacht, dass es dankenswerterweise schon die dritte Debatte innerhalb eines knappen Jahres ist - ist der Antrag der Koalitionsfraktionen „Afrikas Entwicklung unterstützen“. Ich möchte gerne den Gedanken von Herrn Hornhues aufnehmen - Herr Irmer hat sich in gleicher Weise geäußert - und durchaus beklagend fragen: Warum ist es eigentlich nicht mehr möglich, im Zusammenhang mit dem Kontinent Afrika unsere alte Tradition wieder aufleben zu lassen, fraktionsübergreifend gemeinsame Anträge zustande zu bringen? ({0}) Wenn ich aus dem Antrag der CDU/CSU „Afrika darf nicht zum vergessenen Kontinent werden“, aus entscheidenden Teilen des sehr kurzfristig vorgelegten Antrages der F.D.P. „Für eine europäische Ausrichtung der deutschen Afrikapolitik“ und aus unserem Antrag eine Synopse erstelle, dann kann man ohne Übertreibung feststellen: Es gibt eine mindestens 90-prozentige Übereinstimmung. Ich würde mir wünschen, dass wir zu der altbewährten Praxis zurückkehren, im Interesse dieses geschundenen Kontinents gemeinsame Anträge, die ein einstimmiges Votum in diesem Hause finden, einzubringen. ({1}) Aber, Herr Irmer, ich möchte gern die Gelegenheit wahrnehmen, eine Kritik, die Sie unter Verwendung eines Zitates am Außenminister geäußert haben, zurückzuweisen. Denn ich habe an der Reise des Außenministers nach Angola, Burundi und Ruanda teilgenommen und muss feststellen: Die Kritik am Außenminister, die von Teilen der Medien im Zusammenhang mit dieser Reise geäußert worden ist, ist unberechtigt; sie ist schlichtweg falsch. Im Gegensatz zu Herrn Scholl-Latour, den Sie ziDr. Uschi Eid tiert haben, war ich dabei. Herrn Scholl-Latour habe ich bei dieser Reise nicht gesehen. Im Gegenteil, ich muss sagen - das tue ich nicht pflichtgemäß -: Der Außenminister hat diese Besuche mit hoher Sensibilität durchgeführt. Ich erinnere mich sehr deutlich an die Moderation eines runden Tisches in Ruanda - im traumatisierten Ruanda - mit vielen Vertretern zivilgesellschaftlicher Gruppen. Das war schon sehr eindrucksvoll. Deshalb möchte ich deutlich machen: Diese Kritik ist unberechtigt. ({2}) Wenn ich alle drei Anträge im Zusammenhang sehe und mich frage, ob wir unseren eigenen Ansprüchen, die wir dort formulieren und artikulieren, nämlich Afrika zu unterstützen, gerecht werden, ergibt sich für mich - mit hoher Aktualität - eine Handlungsnotwendigkeit, die ich hier - bei aller Vorläufigkeit - kurz skizzieren möchte. Der Außenminister hat im Zusammenhang mit dem Kongo-Problem von der Hoffnung auf eine zukünftige friedliche Entwicklung gesprochen und appelliert, dass sich die Key-Player im Kongo zusammensetzen mögen. Diejenigen, die Afrika ein bisschen kennen, und die Afrikaner wissen: Das allein reicht nicht. Deshalb fordere ich die Bundesregierung auf, ernsthaft alle Möglichkeiten zu überprüfen, wie in europäischer Abstimmung die augenblickliche Chance genutzt werden kann, die sich durch den Tod Kabilas für den Kongo und für die ganze Region ergibt. Wir alle wissen, - auch aus unserer eigenen Vergangenheit -, dass die Geschichte besondere Chancen nur einmal vorhält. Deshalb meine ich, dass hier schnelles Handeln gefordert ist. Es könnte durchaus eine Nagelprobe für unser Bekenntnis zu Afrika sein. ({3}) Schnelles Handeln ist auch deswegen erforderlich, damit Terror und Bürgerkrieg - es geht um 2 Millionen Opfer in diesem Land in den letzten drei Jahren - nicht zu einem Dauerzustand werden. Schnelles Handeln erscheint mir ebenso deshalb geboten, damit die - sehr reale - Gefahr gebannt wird, dass ein neuer korrupter und unfähiger Diktator, quasi ein Mobutu 3, das momentane Machtvakuum füllt und der Kongo weiterhin ein Synonym für Staatszerfall und Rechtlosigkeit bleibt. Ich war einige Male im Kongo und habe dort - Frau Eid wird das bestätigen können - eine Vielzahl von Gesprächen mit zivilgesellschaftlichen Gruppen, mit Bürgergruppen führen können, die im Lande bereits vor vielen Jahren, schon unter Mobutu, eine Demokratiebewegung errichtet haben. Deswegen meine ich, dass die Bundesregierung in Absprache mit den Vereinten Nationen und mit der OAU, der Organisation der Afrikanischen Einheit, die Initiative ergreifen sollte, diese „débat national“, die auch Bestandteil des Lusaka-Abkommens ist, zu organisieren, weil in dem derzeitigen chaotischen Zustand eine Selbstorganisation nicht möglich erscheint. ({4}) Ich hatte heute Nachmittag zufälligerweise die Gelegenheit, mit Herrn Diallo, dem Exekutivsekretär des Wüstensekretariats der Vereinten Nationen, zu sprechen. Er ist selber Afrikaner und war in vielen Funktionen in afrikanischen Organisationen, in den Vereinten Nationen tätig. Er hat mich dringend gebeten, diesen Vorschlag hier zu unterbreiten und die Bundesregierung aufzufordern, aktiv zu werden, um das Problem des Kongo, das auch ein Problem Burundis, Ruandas, Ugandas, des Südsudan und von Kongo-Brazzaville ist, anzugehen und damit nicht zu warten. Denn in drei oder vier Wochen ist die Chance nicht mehr da, die wir vielleicht in den nächsten Tagen haben. ({5}) Das ist eine Nagelprobe für unser Bekenntnis, Afrika zu unterstützen. Danke schön. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe die Beschluss- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion des Bündnises 90/ Die Grünen mit dem Titel „Afrikas Entwicklung unter- stützen“ auf. Es handelt sich um die Drucksache 14/4850. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3701 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung von F.D.P. und PDS angenommen. Der Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Für eine europäische Ausrichtung der deutschen Afrikapoli- tik“ auf Drucksache 14/5090 soll an den Auswärtigen Ausschuss - federführend - und den Ausschuss für wirt- schaftliche Zusammenarbeit überwiesen werden. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Brüderle, Hildebrecht Braun ({0}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Schattenwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Mitteln eindämmen - Drucksache 14/3024 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe - Drucksache 14/4658 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Neunter Bericht der Bundesregierung über Erfahrungen bei derAnwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - AÜG - sowie über die Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung - BillBG - Drucksache 14/4220 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin- nen und Kollegen Ludwig Eich, Leyla Onur, Dr. Hans-Peter Friedrich, Dr. Thea Dückert, Dr. Heinrich Kolb sowie Dr. Klaus Grehn haben ihre Reden zu Proto- koll gegeben.1) - Ich sehe keinen Widerspruch im Saal. Deshalb kommen wir sofort zu der Überweisung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3024, 14/4658 und 14/4220 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2000 zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Willi Brase, Klaus Barthel ({5}), Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin Deligöz, Matthias Berninger, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 2000 - Drucksache 14/3244, 14/3331, 14/4305 Berichterstattung: Abgeordnete Willi Brase Antje Hermenau Maritta Böttcher Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen.

Wolf Michael Catenhusen (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000326

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Junge Erwachsene stehen in unserem Lande vor einer Zukunft, die ständig im Wandel ist. Darauf müssen wir sie vorbereiten. Entscheidend dafür ist vor allem auch eine hohe Qualität der beruflichen Bildung. Entscheidend ist auch ein möglichst breiter Zugang für alle zu einer qualifizierten Berufsausbildung. ({0}) Klar ist: Unsere Jugendlichen wollen sich qualifizieren. Wir müssen ihnen allerdings auch allen die Chance dazu geben. Klar ist aber auch: Gesellschaft und Wirtschaft brauchen diese gut und aktuell qualifizierten jungen Leute. Der Qualifizierungsbedarf steigt. Die Politik muss und die Bundesregierung will sich dieser Verantwortung stellen. Wir haben am Ausbildungsstellenmarkt mit dem Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit und den Vereinbarungen im Bündnis für Arbeit in zwei Schritten, nämlich 1999 und 2000, eine wirksame Entspannung erreicht. ({1}) Der Berufsbildungsbericht, dessen Beratungen heute zum Abschluss gebracht werden, dokumentiert die Situation von 1999. Danach wurden damals bundesweit rund 631 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen, 18 500 Verträge mehr als im Vorjahr. Die bessere Bilanz in 1999 war vor allem auf die Ausweitung der öffentlich finanzierten Ausbildung durch das Sofortprogramm zurückzuführen. Heute, nachdem die politischen Entscheidungen und Maßnahmen der Regierung und des Bündnisses für Arbeit zu greifen beginnen, liegen nun auch die Ergebnisse der bis zum 30. September 2000 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge und damit die Ergebnisse der Ausbildungsplatzbilanz 2000 vor. Daran zeigt sich: Die Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt hat sich insgesamt verbessert. Gemessen an den Angebots- und Nachfrageverhältnissen wurde sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern die beste Ausbildungsplatzsituation seit Mitte der 90erJahre erreicht. ({2}) Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 4 In den alten Ländern übersteigt nun wieder das Angebot die Nachfrage um rund 10 500 Plätze. Das ist seit 1996 der höchste Überschuss. In den neuen Ländern hat sich die Lücke zwischen angebotenen und nachgefragten Plätzen auf 8 500 weiter verringert und damit den niedrigsten Wert seit 1995 erreicht. In gleicher Größe standen Anfang Oktober letzten Jahres noch Plätze im Rahmen des BundLänder-Sofortprogrammes und der ergänzenden Länderprogramme sowie des Sofortprogramms 2001 zur Verfügung. Das heißt, rein rechnerisch besteht immer noch die Hoffnung, dass sich diese Ausbildungsplatzlücke in Ostdeutschland jetzt in der Nachvermittlungsphase noch ein Stückchen weiter schließen lässt. ({3}) Dieses gute Ergebnis ist zum einen auf die deutlich gewachsene Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze zurückzuführen. Darauf kann die Wirtschaft, darauf können wir stolz sein. Die Betriebe haben im Jahre 2000 in den alten Ländern rund 12 100 bzw. rund 3 Prozent mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen. In den neuen Ländern sind rund 2 300 bzw. etwas über 2 Prozent mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen worden als im Jahr zuvor. Für Ostdeutschland bedeutet dies: Nach jahrelangen Rückgängen ist dies der erste Anstieg seit 1996. ({4}) Noch positiver sieht die Bilanz der Ausbildungsverträge im Bereich der IT- und Medienberufe aus. Die in diesem Bereich allein im Jahr 2000 mehr als 25 500 abgeschlossenen neuen Ausbildungsverträge sind ein deutlicher Anstieg um 45 Prozent im Vergleich zu 1999. ({5}) Das heißt, wir haben die im Rahmen der IT-Offensive vereinbarte Zielmarke von 40 000 Ausbildungsplätzen in diesen Berufen bereits übertroffen. Das ist ein guter Erfolg. Wir sind sehr zuversichtlich, dass das gemeinsam gesetzte Ziel, bis 2003 60 000 Ausbildungsplätze zu schaffen, bei Fortsetzung unserer Anstrengungen auch erreicht werden kann. Sie wissen, dass wir vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in diesem und im kommenden Jahr im Rahmen der UMTS-Zinsersparnisse mit Mitteln in Höhe von 250 Millionen DM eine weitere Kraftanstrengung unternehmen, indem wir durch eine Modernisierung der Ausstattung von Berufsschulen und vor allem durch Investitionen in eine moderne IT-Infrastruktur der Attraktivität der beruflichen Bildung gerade in diesem Bereich einen weiteren Push versetzen. ({6}) Im letzten Jahr ist aber auch die Nachfrage an Ausbildungsplätzen etwas zurückgegangen. Wir führen dies vor allem darauf zurück, dass im Vorjahr mit dem Jugendsofortprogramm Nachfrage abgeschöpft worden ist. Das ist gut so. Jüngere Menschen sind schneller als in den vorherigen Jahren in eine qualifizierte Ausbildung eingestiegen. Dies und die deutliche Stärkung der betrieblichen Ausbildung haben es ermöglicht, die außerbetrieblichen Ausbildungsplätze zurückzuführen und so Platz für andere Maßnahmen zu schaffen. ({7}) Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge in öffentlich finanzierter Ausbildung sank deshalb in den alten Ländern um knapp 36 Prozent. In den neuen Bundesländern sank die Zahl der neuen öffentlich finanzierten Ausbildungsverträge um 12 000 bzw. um knapp 34 Prozent. Das heißt, dass in diesem Ausbildungsjahr anteilmäßig mehr junge Menschen als vorher das primäre Ziel, nämlich einen betrieblichen Ausbildungsplatz, erreichen konnten. ({8}) Wir sind stolz darauf, dass die Anzahl der Jugendlichen, die zum Stichtag 30. September 2000 noch nicht vermittelt waren, im Vergleich zum Vorjahr in den alten Ländern weiter auf rund 14 200 und in den neuen Ländern noch einmal auf 9 400 gesunken ist. Das heißt, wir haben in den alten Ländern, was die Zahl der nicht vermittelten Bewerberinnen und Bewerber angeht, den niedrigsten Wert seit 1993 erreicht. In den neuen Ländern ist es der niedrigste Wert nicht vermittelter Bewerberinnen und Bewerber seit 1995. Das ist eine Bilanz, die Mut macht. ({9}) Wir können nun feststellen, dass diese Zahl bis Ende Dezember, unterstützt durch die im Ausbildungskonsens des Bündnisses für Arbeit vereinbarten Nachvermittlungsaktionen, um mehr als 50 Prozent gesenkt worden ist. Zum Stichtag Ende Dezember suchten noch rund 7 000 Jugendliche in den alten und rund 4 200 Jugendliche in den neuen Ländern einen Ausbildungsplatz. Rein rechnerisch stehen dem in gleicher Höhe verfügbare betriebliche Programmplätze gegenüber, sodass wir sagen: Bis Februar können wir diese Lücke noch ein Stückchen schließen. ({10}) Meine Damen und Herren, damit beschreiten wir einen Weg, der, rein statistisch gesehen, bundesweit zu einem ausgewogenen Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf dem Lehrstellenmarkt führt. Aber wir wissen auch, dass das nur ein Zwischenschritt ist; denn wir wollen natürlich auch in den Problemregionen - in Ost- wie in Westdeutschland - unsere Anstrengungen fortsetzen, um diese Lücke weiter zu schließen. Wir wollen auch noch ein Stück weiter dahin kommen, dass Jugendliche wieder eine größere Freiheit bei der Wahl eines zukunftssicheren Berufs haben. ({11}) Wir haben es natürlich, wie ich schon erwähnte, nach wie vor mit einem gespaltenen Ausbildungsmarkt zu tun. Einer vergleichsweise entspannten Lage im Westen steht eine anhaltend schwierige Situation im Osten gegenüber. Daran sollte man heute nicht vorbeireden. Auch die leicht steigenden Ausbildungsstellenangebote in Ostdeutschland bedeuten de facto, dass es immer noch für nur rund 60 Prozent der Jugendlichen, die eine Ausbildungsstelle nachfragen, reicht. Deshalb werden wir die staatlichen Ausbildungsplatzprogramme in den neuen Ländern schon jetzt gibt es dazu klare Verabredungen - zumindest bis zum Jahre 2003 fortsetzen. In dem Ausbildungsplatzsonderprogramm, das das BMBF gemeinsam mit den neuen Ländern auflegt, sind in diesem Jahr 16 000 Plätze vorgesehen. Aus dem Jugendsofortprogramm stehen auch 2001 bis zu 2 500 Plätze für die neuen Länder bereit. Dafür stellen wir etwa 370 Millionen DM zur Verfügung. ({12}) Die neuen Länder bleiben in der Solidarität und werden auch ihre Programme fortsetzen. Insbesondere werden wir aber alle Aktivitäten verstärken, um mehr betriebliche Ausbildungsplätze zu gewinnen; denn wir wollen damit auch dazu beitragen, dass nicht die besonders leistungsfähigen und motivierten Jugendlichen in die alten Länder abwandern. Es muss klar sein: Wir geben der Abwanderung junger Menschen aus den neuen Bundesländern, die eine Ausbildung suchen, keine politische Unterstützung. Es muss unser Ziel sein, die Modernisierung der Infrastruktur so fortzusetzen, dass die jungen Menschen ihre Ausbildung in Ostdeutschland abschließen. ({13}) Wenn diese jungen Menschen dann allerdings vor der Gefahr, arbeitslos zu werden, stehen, muss der Staat weiterhin eine gewisse Hilfe leisten können, um ihnen in anderen Regionen unseres Landes Arbeitspraxis zu ermöglichen. Vielleicht kommen sie in besseren Zeiten mit ihrem Know-how und der Erfahrung aus mehrjähriger Berufstätigkeit zurück und vermeiden es dann, dauerhaft arbeitslos zu werden. ({14}) Meine Damen und Herren, wir haben dazu im letzten Jahr mit dem neuen Projekt Regio-Kompetenz-Ausbildung begonnen. Es hat den Aufbau von regionalen Unterstützungsstrukturen zur Mobilisierung von betrieblichen Ausbildungsplätzen durch Organisation von Netzwerken für kleine und mittlere Betriebe, also durch Verbundausbildung in Kooperation von Kammern, Betrieben, Bildungswerken, Bildungsträgern und Beratungseinrichtungen, zum Ziel. Bis einschließlich 2003 sind dafür rund 17 Millionen DM vorgesehen. Vor diesem Hintergrund ist auch das Ergebnis der Beratungen im federführenden Ausschuss zu würdigen; denn wir begrüßen es außerordentlich, dass uns der Beschluss des Ausschusses Rückendeckung für die Strategie gibt, auf der einen Seite die Anstrengungen zur Schließung der Ausbildungslücke fortzusetzen, auf der anderen Seite aber auch gezielte Schritte in Richtung auf die Modernisierung des Systems unserer beruflichen Bildung zu gehen. Ich denke, wir können davon ausgehen, dass mit den weit reichenden Beschlüssen zur inhaltlichen Weiterentwicklung und Modernisierung der beruflichen Bildung, die wir zusammen mit den Sozialpartnern und den Ländern in der Arbeitsgruppe Aus- und Weiterbildung des Bündnisses seit Januar 1999 getroffen haben, Bausteine für eine zukunftsorientierte weitere Modernisierung des beruflichen Bildungssystems geschaffen werden. Wir lassen uns bei unserem Engagement für die Zukunft der jungen Menschen in diesem Bereich der beruflichen Bildung von folgenden Schwerpunkten leiten: Jeder bzw. jede Jugendliche soll die Möglichkeit zu einer Ausbildung erhalten. Sofortprogramm und Ausbildungskonsens gehen weiter. Hier geht es nicht um Umsteuern, aber um ein effizienteres Nachsteuern, um bessere Nachvermittlung. Wir setzen die strategische Modernisierung der beruflichen Bildung fort, das heißt, wir arbeiten zusammen mit den Sozialpartnern auf den verschiedenen Ebenen weiter an der strukturellen Erneuerung der Ausbildungsberufe. Wir werden die Frage der Berufseinmündung Ausgebildeter stärker aufgreifen müssen. Darüber hinaus wollen wir gemeinsam mit den Sozialpartnern in einer breiten Qualifizierungsoffensive die stärkere Verzahnung von beruflicher Erstausbildung und beruflicher Weiterbildung angehen. Ich habe die große Hoffnung, dass die Qualifizierungsoffensive in unserem Lande, die überfällig ist und die die Bemühungen um Lehrstellen für jeden jungen Menschen ergänzen muss, einer der Schwerpunkte des Bündnisses für Arbeit in diesem Jahr und damit auch der Politik unseres Hauses werden wird. ({15}) Ich denke, diese Modernisierung ist überfällig. Wir wollen sie mit den und für die jungen Menschen. Die Entwicklung hin zu mehr Arbeit in unserem Lande ist nur durch eine Modernisierung der Bildung und Ausbildung erreichbar. Deshalb ist die Arbeit an diesem Zukunftsfeld ein Stück Zukunftssicherung für die junge Generation, für unsere Wirtschaft und für unsere Gesellschaft. Schönen Dank. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Heinz Wiese für die CDU/CSU-Fraktion.

Heinz Wiese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003261, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An der Schwelle zum dritten Jahrtausend stehen wir in der Bildungspolitik vor neuen Herausforderungen. Gerade eben wurde es auch vom Herrn Staatssekretär deutlich angesprochen: Das Tempo des Fortschritts - verbunden mit der Vervielfachung des Wissens und den damit einhergehenden Veränderungen - hat dramatisch zugenommen. Weitere Beschleunigungsprozesse stehen uns noch bevor. Der Wert qualifizierter Ausbildung für die Zukunft des Einzelnen und des ganzen Volkes kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wissen und Bildung haben eine überragende Bedeutung für die Wertschöpfung und den Wohlstand unserer Gesellschaft. Sie sind die Voraussetzungen für die aktive Bewältigung des Strukturwandels und gewährleisten die Innovationsfähigkeit Deutschlands. Dies gilt ohne Abstriche auch für den Bereich der beruflichen Bildung. Gerade für junge Menschen ergeben sich aus diesen veränderten Rahmenbedingungen unter anderem folgende Konsequenzen: ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität, das Erfordernis, sich auf neue Anforderungen einzustellen, die Bereitschaft, häufig Arbeitsplatz und Wohnort zu wechseln, die Notwendigkeit, Zeiten der Beschäftigung und Zeiten der Weiterbildung miteinander zu verknüpfen. Künftig wird die Festlegung auf einen bestimmten Beruf als lebenslange Dauererwerbsquelle nicht mehr ausreichen. Wechsel des Berufes werden die Erwerbsbiografien stärker als bisher prägen. Dies müssen wir der jungen Generation rechtzeitig vermitteln. Doch nun zum Berufsbildungsbericht 2000. Darin heißt es unter anderem: Die Ausbildungschancen der Jugendlichen haben sich zwar verbessert, aber dies ist vor allem auf den verstärkten Einsatz öffentlich finanzierter Programme zurückzuführen. Gemeint ist natürlich in erster Linie das JUMP-Programm. Dieses Programm kann zwar Brücken zum ersten Arbeitsmarkt bauen; entscheidend ist aber, dass die Jugendlichen am Ende der Qualifizierung die Chance bekommen, tatsächlich ins Berufsleben einzusteigen. Anderenfalls werden nur Warteschleifen aufgebaut. Langfristig brauchen wir deshalb keine milliardenschweren Programme mit Strohfeuereffekt, sondern Lösungen mit tragfähigen Strukturen. ({0}) Frau Ministerin Bulmahn - sie ist heute leider nicht anwesend - hat bereits in der Debatte zum Berufsbildungsbericht 1999 erklärt, Kollege Tauss, dass die Förderung von Ausbildungsplätzen mit öffentlichen Mitteln nicht zu einem Dauerzustand werden dürfe. Auch der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr Jagoda, betont am laufenden Band, dass Förderprogramme keine Alternative zur betrieblichen Ausbildung darstellen können. Deshalb ist es, glaube ich, höchste Zeit, zumindest in Westdeutschland andere Wege zu gehen. ({1}) Über die Situation im Osten, die besonders prekär ist, wird mein Kollege Rainer Jork nachher sehr deutliche Worte finden. Zur aktuellen Diskussion über den Fachkräftemangel in Deutschland möchte ich nur eine kurze Bemerkung machen. Eine echte Green-Card-Regelung könnte durchaus auf andere Branchen ausgeweitet werden. Wir dürfen dabei aber die Qualifizierung unserer eigenen Jugend nicht vernachlässigen. Wir brauchen beides: Ausbildung und Zuwanderung. Im Zeitalter der Globalisierung ist die Jagd nach den klugen Köpfen in einem weltweiten Bildungsmarkt genauso wenig aufzuhalten wie die Flucht der Gehirne aus der Dritten Welt. Deshalb ist es natürlich wichtig, sich auch dieser Herausforderung zu stellen, genauso wie wir es - auch dies wird von uns immer wieder beklagt - angesichts des Fachkräftemangels auf Dauer nicht verantworten können, dass technische Intelligenz in Deutschland bereits im Alter von 45 Jahren auf dem Abstellgleis landet. Immer mehr Unternehmen suchen überwiegend olympiareife Mitarbeiter. Dies darf so nicht bleiben. ({2}) Für mich gilt immer noch: Lieber mit 50 zur Weiterbildung als mit 60 in Rente! ({3}) Der PC gehört heute zum Alltag der Jugendlichen und ist natürlich für die Wissensvermittlung unabdingbar. Ziel muss es sein, dass jeder Schulabgänger einen Computerführerschein hat. Dieser sollte international vergleichbar sein, wie es schon heute bei IT- und IuK-Zertifikaten der großen Softwarehäuser der Fall ist. Wir begrüßen Maßnahmen zur Verbesserung der Flexibilität und Durchlässigkeit des dualen Systems. Vor allem für die schwer vermittelbaren Jugendlichen mit Lernschwächen oder für solche, die eher praktisch begabt sind, fördern wir teilqualifizierende und modulare Ausbildungsgänge sowie zusätzliche Berufsbilder mit theorievermindertem Anforderungsprofil. Wir glauben - das ist schon immer unsere Überzeugung gewesen -, dass hier Barrieren überwunden werden müssen und wir in absehbarer Zeit mit den Gewerkschaften in einen aktiven Dialog eintreten sollten. In dieser Richtung zeigt das Satellitenmodell des DIHT neue Wege auf. Dies sind geeignete Maßnahmen, um Ungelernte zu qualifizieren und ihnen eine Chance zu geben; denn wir wissen, dass sich die Zahl der Arbeitsplätze für Ungelernte in Deutschland in den nächsten zehn Jahren noch einmal halbieren wird. Wir werden in einer drastischen Situation sein, wenn der Anteil dieser Arbeitsplätze in Deutschland nur noch 10 statt 20 Prozent ausmacht. Wir haben insbesondere die Schwervermittelbaren im Auge; denn gerade ihnen droht die gesellschaftliche Randständigkeit oder Ausgrenzung. Man nennt diese jungen Menschen immer wieder auch „Modernisierungsverlierer“. ({4}) Über sie sollten wir immer wieder reden. Wir dürfen sie nicht aus den Augen verlieren. Die Schere zwischen „Wissensinhabern“ und „Nichtwissenden“ darf auf keinen Fall weiter auseinander klaffen. ({5}) Heinz Wiese ({6}) Wir müssen mehr Jugendliche in den modernen IuK- und Servicebereichen ausbilden. Insbesondere junge Frauen sollten die großen Chancen, die im IT-Bereich liegen, stärker nutzen. Zurzeit sind nur 14 Prozent der Auszubildenden im IT-Bereich weiblich. Dies darf so nicht bleiben. ({7}) Zentrale Kompetenzen für den Arbeitsmarkt von morgen sind Medienkompetenz, interkulturelle Bildung und die Befähigung zu lebensbegleitendem Lernen. Medienkompetenz ist weit mehr als Technikkompetenz. Entscheidend ist die Fähigkeit der Schüler zu verantwortungsbewusstem Umgang mit den neuen Medien. Neben der Medienkompetenz wird interkultureller Bildung eine noch größere Rolle zukommen. Das Jahr 2001 ist das Europäische Jahr der Sprachen. Deshalb fordere ich an dieser Stelle: Jeder Schüler in der Europäischen Union sollte von der Elementarschule bis zum Berufsabschluss Englisch lernen. Dies ist notwendig, um das erforderliche Maß an Flexibilität sowie an Mobilität im Beruf und auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen. Das gilt besonders für die so genannten Global Player. In Baden-Württemberg führen wir aus diesem Grunde bereits in diesem Jahr an 400 Grundschulen und demnächst flächendeckend schon ab der ersten Klasse Englischunterricht ein. Zur Bildung gehört die Vermittlung von Wissen und Werten. Ein gemeinsames Fundament von Wissen und Werten für alle ist unerlässlich. Es ist jedenfalls einfacher, aus einem gebildeten Menschen einen Spezialisten zu machen als umgekehrt. ({8}) Für unser rohstoffarmes Land sind Wissen und Bildung unserer Bürger die wichtigsten Produktionsfaktoren. Bildung und Erziehung müssen aber auch wertorientiert sein. Wertorientierung bleibt der beste Schutz vor politisch und kriminell motivierter Gewalt. Lassen Sie mich zum Abschluss einige Anmerkungen zu unseren Berufsschulen machen: Sie sind leider am stärksten vom Lehrermangel betroffen. Es fehlen unter anderem Handelslehrer sowie Lehrer, die im Bereich der Elektro- und Metalltechnik und der Informationstechnologie unterrichten. Das sind genau die Fächer, in denen die Lehramtsbewerber mit attraktiven Angeboten aus der Wirtschaft abgeworben werden. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat kürzlich errechnet, dass allein 1999 bundesweit 6 600 neue Berufsschullehrer hätten eingestellt werden müssen. Tatsächlich traten aber nur 2 400 Lehrkräfte ihren Dienst an. Gerade bei den Berufsschulen sollten wir deshalb das Lehramt mehr als bisher für Quereinsteiger öffnen. ({9}) Unsere Berufsschulen benötigen die bestmögliche materielle und die ideelle Unterstützung. Wir stehen weiterhin zu dem bewährten dualen Ausbildungssystem. Bildung schafft Zukunft. Dies gilt auch für eine moderne Beruflichkeit. Ich danke Ihnen. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Berufsbildungsbericht 2000 ist ein Teil der rot-grünen Erfolgsgeschichte. Dieser Erfolg zahlt sich, wie die Zahlen gezeigt haben, vor allem für die junge Generation in diesem Land aus. ({0}) Junge Menschen haben wieder eine Chance auf eine gute Ausbildung. Junge Menschen finden Ausbildungsplätze, sie stehen nicht auf der Straße und sind nicht in Warteschleifen. Sie haben eine Zukunft vor sich und gewinnen an Zuversicht. Diese Zuversicht ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern hat eine gute und sehr stabile Grundlage. Wir haben die Zahl der nicht vermittelten Jugendlichen innerhalb kürzester Zeit massiv reduziert; ({1}) in Ostdeutschland sogar um 78 Prozent. Dies ist nicht zuletzt dem JUMP-Programm zu verdanken. Aber ist das dann zu kritisieren? Es ist immer noch besser als zuschauen -, was wir vor 1998 vorgeführt bekommen haben. ({2}) Ich freue mich deshalb, dass wir dieses Programm gerade im Haushaltsjahr 2001 verstetigt haben und dass wir uns dazu entschieden haben, ab 2001 50 Prozent der Mittel für Jugendliche in Ostdeutschland einzusetzen. Bisher waren es 40 Prozent. Wir werden die einzelnen Maßnahmen weiter verstetigen, eben weil sie erfolgreich sind und weil das Programm insgesamt ein Erfolgskonzept ist. ({3}) Durch das Bündnis für Arbeit - JUMP ist nicht alles, Herr Wiese, ich muss Sie hier korrigieren, - ist es uns gelungen, in Industrie und Handwerk, vor allem bei Kleinund Mittelbetrieben, eine größere Bereitschaft zu mehr Ausbildung zu wecken, mehr auszubilden. ({4}) Auch in größeren Unternehmen ist die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge angestiegen. Immer mehr Ausbildungsverträge werden übrigens in neu geschaffenen Berufen abgeschlossen. 50 Berufsbilder wurden bereits neu erarbeitet bzw. befinden sich gerade in Arbeit. ({5}) Heinz Wiese ({6}) - Das ist lächerlich. Da muss sogar ich lachen. - Eines muss ich natürlich auch sagen: Es bleibt noch eine ganze Menge zu tun. Wir diskutieren über den Bildungsbericht 2000 nicht nur, um festzustellen, was gut gelaufen ist, sondern auch, um zu erkennen, wo Verbesserungen notwendig sind. Das duale System, das bei den Betrieben in Westdeutschland sehr begehrt ist, ist in Ostdeutschland noch nicht in Schwung gekommen. Sehr viele Menschen in Ostdeutschland sind ungeduldig, weil die dortige Wirtschaft noch immer nicht den Anschluss an das Niveau der Wirtschaft im Westen gefunden hat. Wir stellen fest, dass es derzeit eine Abwanderung gerade von jungen qualifizierten Fachkräften von Ost nach West gibt. Ostdeutschland wird für eine nachhaltige Verbesserung nach wie vor unsere Solidarität brauchen. Aber diese Solidarität darf sich nicht nur auf den ökonomischen Bereich konzentrieren. Sie muss vielmehr darüber hinausgehen. Ich möchte jetzt ein bisschen abschweifen, weil ich denke, dass gerade das Folgende für den Standort Ostdeutschland wichtig ist. In Ostdeutschland müssen vor allem die Menschen besonders unterstützt werden, die sich für eine offene, gewaltfreie und zivile Gesellschaft einsetzen. ({7}) Gerade in diesem Bereich investiert diese Regierung. Hier liegt einer unserer Schwerpunkte; denn eine gewaltfreie Zivilgesellschaft zu schaffen ist nicht nur eine Frage der Humanität oder der Lebensqualität, sondern auch ein wirtschaftlicher Standortfaktor, der gerade für Ostdeutschland wichtig ist. Wir beobachten immer häufiger, dass sich ausländische Investoren, Spitzenkräfte von internationalem Rang, scheuen, in Ostdeutschland zu investieren und dorthin ihre Betriebe zu verlagern, weil sie das im Moment dort herrschende gesellschaftliche Klima als einen negativen Standortfaktor beurteilen. Ich möchte gleichzeitig hinzufügen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die große Mehrheit der Menschen in Ostdeutschland, in den neuen Bundesländern, hat mit aggressiver Fremdenfeindlichkeit nichts zu tun. Dennoch müssen wir die zivilgesellschaftlichen Strukturen im Osten noch stärker als im Westen fördern. Eine nachhaltige Verbesserung der Ausbildungssituation erfordert nicht zuletzt eine zeitgemäße Veränderung vor allem in den Schulen, in den Universitäten und in der betrieblichen Ausbildung, und zwar nicht nur, weil die Quote der Ausbildungsabbrecher bei 25 Prozent - das ist immerhin ein Viertel all derjenigen, die eine Ausbildung begonnen haben - liegt. Wir müssen in diesem Bereich sowohl für qualitative als auch für quantitative Verbesserungen sorgen. Ein Handlungsbereich wurde durch das JUMP-Programm abgedeckt. Wir müssen zugeben: Nicht überall kommt die Wirtschaft ihrer Verpflichtung nach, genügend Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Daran arbeiten wir, und zwar nicht nur im Bündnis für Arbeit, sondern auch an anderen Stellen. Wir arbeiten übrigens auch daran, dass die Qualität der Ausbildung insgesamt einen höheren Stellenwert bekommt; denn diese ist nicht überall befriedigend. Hier kommen die Schulen ins Spiel. Bildungspolitik findet vor allem in den Ländern statt, in deren Verantwortungsbereich sie liegt. Es muss vielmehr auf den Erwerb von Schlüsselqualifikationen, die zukünftig verlangt werden, gesetzt werden, also nicht nur auf solche Qualifikationen wie Fleiß und Pünktlichkeit, die heutzutage als selbstverständlich gelten, sondern auch auf solche Qualifikationen wie Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und die Kompetenz, Probleme kreativ zu lösen. ({8}) Nicht zuletzt müssen wir in die Menschen investieren; denn wir brauchen mündige und kreative Bürgerinnen und Bürger auch in den Betrieben, in den Ausbildungsstätten und in den Schulen. Um die Schlüsselqualifikationen, die zukünftig gefordert werden, zu vermitteln, reicht der klassische Frontalunterricht nicht aus. Damit junge Menschen ihre Potenziale richtig entwickeln können und die individuellen Fähigkeiten in der Ausbildung besser ausgeschöpft werden können, müssen mehr Freiräume in den Schulen, in den Berufsschulen und auch in der immer mehr individualisierten Arbeitswelt geschaffen werden. Das duale System der beruflichen Ausbildung hat sich an sehr vielen Stellen bewährt; es ist erhaltenswert. Wir müssen uns natürlich Gedanken über die europäische Kompatibilität der hiesigen Ausbildung machen. Wir müssen uns Gedanken über den Umgang mit einzelnen Problemen, zum Beispiel dem der Abbrecherquote, machen. Es gibt Ansätze für Modularisierungen. Firmen wie Siemens oder Volkswagen haben in dieser Hinsicht eine ganze Menge Erfahrungen gemacht, von denen wir profitieren können. Darüber hinaus müssen wir über neue Modelle, zum Beispiel über eine Teilzeitausbildung, nachdenken. Außerdem müssen wir über die Probleme von ausbildungswilligen Jugendlichen nachdenken, die im Vorfeld der Ausbildung auftreten und ihnen das Leben erschweren. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der hier noch nicht behandelt worden ist: die Sozialhilfe. Derzeit ist es in Deutschland nicht möglich, gleichzeitig einer Ausbildung nachzugehen und Sozialhilfe zu beziehen. Das heißt, dass zum Beispiel Jugendliche, die nicht zu Hause wohnen wollen oder können, oder junge Menschen, die ein Kind haben, das sie ernähren müssen, nicht die Möglichkeit haben, allein von ihrer Ausbildungsvergütung ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Sozialminister der Länder haben bereits zugesagt, daran etwas zu ändern. Die Ausgestaltung ist allerdings noch sehr mangelhaft. Gerade mit dem System der Ausbildungsfinanzierung müssen wir uns auch hier weiterhin beschäftigen. Flexibilität wird künftig viel mehr als heute ein Leitbegriff sein; denn schon in ein paar Jahren wird es keinen Überschuss, sondern einen Mangel an Auszubildenden geben. Wir werden immer weniger Auszubildende bekommen. Gerade für die Ausbildungsbetriebe bedeutet das eine Umstellung: Sie müssen sich nicht nur auf eine verstärkte Nachfrage nach Dienstleistungen einstellen, sondern auch darauf, dass die Ausbildungsangebote besser werden, damit Jugendliche zur Annahme einer Ausbildung motiviert werden können. ({9}) Die Koalition wird den erfolgreichen Kurs der beruflichen Bildung und Weiterbildung fortsetzen. ({10}) Wir setzen in unserer Politik auf Dialog und auf Partnerschaft mit den Tarifparteien; wir setzen auf Dialog und Partnerschaft mit den Schulen in den einzelnen Ländern. Wir werden uns trotz dieser Erfolge auch künftig nicht scheuen, manche Probleme beim Namen zu nennen und vor allem entschieden zuzupacken. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute den Berufsbildungsbericht 2000 zur Kenntnis nehmen und zugleich über den Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zu befinden haben, dann müssen wir, obwohl wir über Entwicklungen des Jahres 1999 sprechen, den Blick für die gegenwärtigen Probleme des Arbeitsmarktes und der Berufsausbildung in Deutschland offen halten. In der Tat, bedingt auch durch den Konjunkturaufschwung, hat sich die absolute Zahl der arbeitslosen unter 25-jährigen Jugendlichen seit Dezember 1998 um rund 46 400 verringert. Trotz des höheren Bedarfs an Ausbildungsplätzen durch geburtenstarke Jahrgänge war in den alten Ländern seit 1996 die Zahl der noch unbesetzten betrieblichen Ausbildungsplätze höher als die der unvermittelten Bewerber. Das klingt gut. Das ist schön für die Jugendlichen. Es ist aber in starkem Maße auf die Ausweitung der öffentlich finanzierten Ausbildung zurückzuführen. Genau darin ist die Schwierigkeit zu sehen. Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplatzverträge ging nach Angaben Ihres Ministeriums, Herr Catenhusen, in den alten Ländern um 0,5 Prozent und in den neuen Ländern um bis zu 10 Prozent zurück. Im Osten ist die Anzahl der arbeitslosen Jugendlichen um 11 800 gestiegen. Eine weitere Spaltung von Ost und West ist in dieser Hinsicht unübersehbar. ({0}) Die Chancen der Jugendlichen in Ostdeutschland, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, sind nach wie vor schlecht. 127 300 offenen Ausbildungsstellen standen im Ausbildungsjahr 1999/2000 224 400 Bewerber gegenüber. Trotz des Bewerberrückgangs gegenüber dem Ausbildungsjahr 1998/99 hatten rund 97 000 Jugendliche zu diesem Zeitpunkt noch keine Ausbildungsstelle. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, für die F.D.P. bleibt die Ausbildungsplatzsituation nicht nur ein Thema für die Bundesbildungsministerin, sondern es ist in erster Linie ein Thema für den Bundeswirtschaftsminister. ({1}) Hören Sie endlich auf, mittelstandsfeindliche und ausbildungsplatzvernichtende Gesetze zu verabschieden! ({2}) Der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Herr Philipp, hat die Bundesregierung zu Recht aufgefordert, in einem ersten wichtigen Schritt die nächste Stufe der Steuerreform vorzuziehen, um die derzeit bestehende Benachteiligung der Personengesellschaften auszugleichen. ({3}) Die Mehrheit der mittelständischen Unternehmen gerade im Osten Deutschlands sieht die Steuerpolitik der Bundesregierung als Wachstumshemmnis an. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis! ({4}) Auch die Gewerbesteuer gehört nach unserer Auffassung längst auf den Prüfstand. Mit Steuersenkungen würden Sie mittelständischen Unternehmen helfen und dazu beitragen, dass neue betriebliche Ausbildungsplätze entstehen. ({5}) Die Leistungen der ostdeutschen Unternehmen - der Handwerksunternehmen wie der mittelständischen Unternehmen insgesamt - sind zu würdigen. 60 Prozent der Ausbildungsplätze in der ostdeutschen Wirtschaft werden von Unternehmen geschaffen. Aber es sind eben noch 70 Prozent davon staatlich subventioniert. Das ist der Zustand im Osten Deutschlands. Es ist natürlich eine andere Situation als in den alten Bundesländern. Aber man darf diese Situation nicht ignorieren. Wenn bereits unser Bundestagspräsident, Herr Kollege Thierse, darauf hinweist, sollte man es auch ernst nehmen, obwohl ich nichts von Schwarzmalerei halte. ({6}) Ich halte viel davon, dass man die Situation gerade beim Aufbau Ost differenziert betrachtet. In Ostdeutschland gibt es sowohl strukturschwache als auch strukturstarke Regionen. ({7}) Man muss aber auch überdenken, wie es mit der Mobilitätshilfe weitergehen soll. Erlauben Sie mir, Herrn Thierse zu zitieren: Die konjunkturelle Abkoppelung des Ostens und die damit zusammenhängende verschärfte Ost-WestSpaltung des Arbeitsmarktes führen zwangsläufig zu steigender Abwanderung qualifizierter und mobiler Arbeitskräfte sowie Auszubildender von Ost nach West. Das ist eben das Problem. Wollen wir weiterhin eine Landverschickung Jugendlicher gezielt fördern oder wollen wir die Mobilität junger Menschen motivieren, ohne sie staatlich zu subventionieren? In einer international geprägten Wirtschaftslandschaft ist es wichtig, dass junge Leute Mobilität an den Tag legen. Aber es stellt keine Lösung für den Osten dar, wenn man Mobilitätshilfen gewährt. Das Ziel kann doch nicht sein, im Osten Deutschlands ein Altersheim zu schaffen und junge Menschen in den Westen auswandern zu lassen. ({8}) Nehmen Sie den Aufbau Ost ernst und schaffen Sie den jungen Menschen Perspektiven in ihren Heimatregionen! Betreiben Sie eine echte Mittelstandspolitik und bringen Sie den Mut für eine wirkliche Reform des dualen Systems der Berufsausbildung und der beruflichen Weiterbildung auf! ({9}) Schaffen Sie ein Klima des Aufbruchs und damit ein besseres Klima auch für die Ausbildungsplatzsituation im Osten Deutschlands! ({10}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich weiß eigentlich gar nicht, warum Sie sich aufregen. Sie haben uns einen Entschließungsantrag vorgelegt, der eine selbstkritische Bewertung der Ausbildungsplatzsituation in Deutschland und insbesondere in den neuen Bundesländern enthält, und haben zugegeben, dass betriebliche Ausbildungsplätze fehlen. Dann sollten Sie hier auch nicht ständig die Problembeschreibung verneinen, die ich vornehme. Lassen Sie uns endlich Taten insbesondere von der Bundesregierung sehen und nicht nur schöne Worte hören! ({11}) Wir müssen natürlich die Reform der Berufsausbildung vorantreiben. Die F.D.P. hat vorgeschlagen, in der Modularisierung der beruflichen Ausbildung auf der Basis von Grundberufen mit anschließenden Spezialisierungsrichtungen weiterzukommen. Natürlich haben wir dabei leistungsstarke und leistungsschwache junge Menschen gleichermaßen im Auge. ({12}) Einerseits erhalten die jungen Menschen in einem solchen System eine echte Chance für einen Einstieg in den Beruf. Andererseits gewinnt man durch die Modularisierung mehr Flexibilität in der Ausbildung, die dem Wandel der Berufsbilder, aber auch dem drohenden Fachkräftemangel gerecht wird. ({13}) Zuletzt ein Blick auf Europa. Dieses Thema ist uns besonders wichtig. Die Ausbildung muss internationaler werden. Mit Blick auf ein weiter zusammenwachsendes Europa unter Berücksichtigung des baldigen Beitritts der ersten mittel- und osteuropäischen Staaten sehe ich im Gegensatz zur innerdeutschen Mobilitätshilfe große Chancen für eine europäische Berufsausbildung. Die guten Daten, die wir auch für die Nutzung des Euro-Passes seit 1. Januar 2000 haben, bestätigen dies.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Pieper, der Blick nach Europa darf nur ein kurzer sein; denn Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich glaube, dass wir gerade hier weiterkommen müssen. Wir werden Vorschläge dafür unterbreiten, dass die Berufsausbildung auf dem europäischen Bildungsmarkt von jungen Menschen verstärkt genutzt werden kann. Das, denke ich, ist ein wichtiges Ziel, das wir alle ins Auge fassen sollten. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Wendeschock hat, denke ich, nun auch jene erreicht, die meinten, der Markt werde es schon richten. Die Warnungen vor einer Vertiefung der Kluft zwischen West- und Ostdeutschland sind zwar allesamt nicht neu, aber darum nicht weniger richtig. Neu ist allerdings, dass nun auch die CDU/CSU die Entvölkerung des Ostens entdeckt, eine Entwicklung, die vor allem auf die Strukturentscheidungen der Ära Kohl zurückgeht. Maßnahmevorschläge gegen die Abwanderung der Jugend - von Streichung der Mobilitätshilfen bis zum Vorschlag aus Sachsen, Rückkehrprämien von 5 000 DM zu zahlen - zeigen die Hilflosigkeit der Politik auf diesem Gebiet. Wer wollte denn wirklich für 5 000 DM dorthin zurückkehren, wo man ihm schon vorher keine Perspektive bieten konnte? Die Jobmaschine steht nun einmal nicht im Osten, sondern im Süden Deutschlands. Von dort aus werden die Patenschaften mit den Ostarbeitsämtern organisiert, und zwar mit circa 10-prozentigen Erfolgsquoten vor allem bei Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen. Dass sich das alles marktwirtschaftlich besser rechnet als sozial flankierende Strukturmaßnahmen, lässt uns die BDA wissen. Mobilitätshilfen haben in 2000 nur 134 Millionen DM gekostet, ABM dagegen 7,2 Milliarden DM. Durch die schwache wirtschaftliche Entwicklung und die damit einhergehende hohe Arbeitslosigkeit werden weite Teile der Bevölkerung Ostdeutschlands von den wichtigen Lernprozessen in der Arbeit abgekoppelt. Die Zahl der im Berufsleben stehenden Menschen ist seit 1989 rückläufig. Es stieg nicht nur die Arbeitslosigkeit. Auch die Dauer der Arbeitslosigkeit erhöhte sich ebenso wie die Langzeitarbeitslosigkeit bei gleichzeitig sinkender Wiederbeschäftigungsquote der Arbeitslosen. Zwei Drittel der Arbeitslosen blieben auf Dauer im Kreislauf zwischen registrierter Arbeitslosigkeit, Umschulung und ABM, also außerhalb von Lernprozessen in der eigentlichen Arbeitswelt. Damit ist die Entwertung beruflicher Kompetenzen programmiert. Das Dilemma setzt sich in der Berufsausbildung fort. Die Angebot-Nachfrage-Relation ist im Osten nach wie vor am schlechtesten. Viele Jugendliche müssen auf Angebote der zweiten oder dritten Wahl ausweichen, da die Zahl der betrieblichen Stellen nicht einmal für die Hälfte ausreicht. Die jüngste Steigerung der Zahl der abgeschlossenen betrieblichen Ausbildungsverträge um 2 Prozent in 2000 bereits als positiven Trend hinsichtlich des Engagements der Wirtschaft zu feiern geht wohl doch am Problem vorbei. ({0}) Denn erstens beruht diese Steigerung auf einem Rückgang um bis zu 10 Prozent im letzten Jahr. Zweitens sind wir damit gerade einmal auf dem Niveau von 1997/98 angekommen. Und drittens gab es trotz aller Nachvermittlungsaktionen zum Jahresende immer noch fast 30 000 unversorgte Bewerberinnen und Bewerber; denn es fallen circa 11 000 aus Ihrer Statistik heraus. Die Arbeitgeber haben ihr Versprechen also zum wiederholten Male nicht eingehalten. Damit meine ich nicht die Kleinbetriebe in den neuen Ländern, die ohnehin die höchsten Ausbildungsquoten haben. Hinzu kommt, dass im Osten etwa jede dritte den Arbeitsämtern gemeldete Stelle auf ein Sonderprogramm zurückzuführen ist. Rund 14 000 Jugendliche aus dem Osten nahmen 1999 eine Ausbildung in den alten Bundesländern auf. Deutliche regionale Unterschiede gibt es auch in der schulischen Ausbildung. Auch die Probleme der so genannten zweiten Schwelle haben im Osten andere Dimensionen: Nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung haben sich hier 1998 39 Prozent der Absolventen zunächst einmal arbeitslos melden müssen. Dabei ist die Ausbildungsquote in den neuen Ländern deutlich höher als in den alten; 1998 waren dort 6,2 Prozent aller Beschäftigten Auszubildende. Am geringsten war die Ausbildungsquote in Großund Mittelbetrieben der alten Länder mit 3,7 Prozent bzw. mit 3,9 Prozent, am höchsten in Kleinbetrieben der neuen Länder mit 7,2 Prozent. Die Tatsache, dass die Ausbildungsquote bei den Großbetrieben am geringsten ist, wird auch dadurch nicht besser, dass sich diese Betriebe immerhin zu 85 Prozent überhaupt an der Ausbildung beteiligen. Diejenigen, die das Jahrhundertgeschäft mit der Transformation Ostdeutschlands gemacht haben, sind weit weg, wenn es gilt, das Desaster für die Jugendlichen zu mildern, die auch zehn Jahre nach der Wende viermal schlechtere Startchancen haben. Auch die hoch gelobten Fördermaßnahmen von Bund und Ländern haben für die Jugendlichen im Osten keinen durchschlagenden Erfolg gebracht. Während die Jugendarbeitslosenquote im Westen sank, stieg sie zum Ende des Jahres 2000 im Osten sogar um 11 Prozent. Der Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland kommt also genau dort nicht voran, wo es am nötigsten wäre. Noch immer finden Tausende von Jugendlichen weder einen Ausbildungsplatz noch berufliche Perspektiven. Deshalb möchte ich zum Schluss festhalten: Lehrstellenmangel ist für uns nicht zuerst eine Frage des Wirtschaftsstandortes, sondern vor allem eine Frage der Entwicklungsperspektive der Jugendlichen. Dafür, dass diese im Osten gleiche Chancen haben, ist auch die Politik zuständig; hier ist sie in der Verantwortung. Die Wirtschaft löst das Problem ganz offensichtlich nicht, sollte aber als Nutznießer finanziell an der Ausgestaltung qualitativ gleichwertiger, zukunftsträchtiger Ausbildungsgänge beteiligt werden. Deshalb - und nur deshalb - halten wir an der Forderung nach einem Gesetz zur solidarischen Umlagefinanzierung fest. Denn auch das jetzt hoch gelobte Bündnis für Arbeit - ich will nicht falsch verstanden werden: ich achte jeden Schritt nach vorn - hat genau an diesem Punkt noch keinen Schritt nach vorn getan. ({1}) Die einzige Möglichkeit, die wir sehen, ist daher, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Willi Brase für die SPD-Fraktion.

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem von den Koalitionsfraktionen vorgelegten Entschließungsantrag wird die Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt grundsätzlich positiv beschrieben. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Bundesregierung erhebliche Anstrengungen auf dem Gebiet der beruflichen Bildung unternommen hat. Ich nenne hier nur Stichworte: Orientierung an dem Ausbildungskonsens im Rahmen der Arbeitsgruppe Ausund Weiterbildung des Bündnisses für Arbeit, das JUMPProgramm, die zweite Phase der Früherkennung des Qualifikationsbedarfes, die Offensive zum Abbau des ITFachkräftemangels, die Erhöhung der Flexibilität, die Durchlässigkeit des dualen Systems und - aus jüngster Zeit - die Bereitstellung von 255 Millionen DM zur Modernisierung der Berufsschulen aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm. ({0}) Meine Damen und Herren von der F.D.P., ich stelle fest: Wir haben von Ihnen heute zu diesen Tatsachen kein einziges Wort gehört. ({1}) Sie betreiben auch bei der Debatte zur beruflichen Bildung die Strategie nach dem Motto: Totalverriss und Wegschauen. Die konjunkturelle Entwicklung wird von Ihnen nicht zur Kenntnis genommen, im Gegenteil. Ich bin ganz sicher: Wir werden hier noch einiges nach vorn bringen können. Ihnen ist offensichtlich einfach nicht klarzumachen, dass diese sattsam bekannte Verselbstständigung der parlamentarischen Auseinandersetzung von den Menschen immer mehr durchschaut wird. Nur sollten Sie sich dann über zunehmende Politikfeindlichkeit und Wahlenthaltung nicht wundern. Setzen Sie sich doch endlich einmal mit den Konzepten, die wir vorlegen, auseinander! ({2}) Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die von Ihnen und insbesondere von der F.D.P. propagierten Konzepte auf die Durchlöcherung bundeseinheitlicher Ausbildungsordnungen, auf Kurzausbildungs- und Schmalspurberufe, aber noch mehr auf maßgeschneiderte, rein auf den Betrieb bezogene Ausbildungsordnungen sowie auf Ausdünnung der Basisberufe zugunsten weiterer Modularisierung hinauslaufen. Anders herum formuliert: Das Satellitenmodell zum Beispiel des DIHT wird von den zuständigen Sozialpartnern abgelehnt. Es ist doch schon spannend, dass eine bestimmte Dachorganisation ein Modell verfolgt, das die eigenen Arbeitgeberverbände als nicht tragbar und nicht gut für die Zukunft ansehen. ({3}) Sie können davon ausgehen, dass wir als Mehrheitsfraktion dieses nicht mitmachen werden. Ich denke, dass wir den jungen Leuten etwas Neues sagen und Perspektiven bieten müssen. Das wollen wir machen. Meine Damen und Herren, die grundsätzlich positive Lage befreit uns aber nicht von der Verpflichtung, die Reformanstrengungen fortzuführen. ({4}) Die Ausbildungsplatzsituation stellt sich regional sehr unterschiedlich dar; vor allem in den östlichen Bundesländern reichen die Angebote der Betriebe nicht aus. Durch regionale Nachvermittlungsaktionen müssen hier noch Reserven erschlossen werden. Angesichts der schwierigen Situation in den neuen Bundesländern müssen das JUMP-Programm weitergeführt, die Ausbildungsförderung Ost auf hohem Niveau beibehalten und gleichzeitig in den regionalen Ausbildungskonsensrunden dauerhaft zusätzliche Ausbildungsplätze mobilisiert werden. ({5}) Ich verweise in diesem Zusammenhang gerne auf die Daten des IAB-Betriebspanels, denenzufolge im Dienstleistungsbereich ein hohes ungenutztes Ausbildungspotenzial brachliegt. Sie können das nachlesen: Vor allem im Bereich der freien Berufe, im Gesundheitswesen, in der Wirtschaftswerbung, in Architekturbüros und im Gaststätten- und Beherbungsgewerbe sind noch riesige Kapazitäten vorhanden. Diese sollten wir gemeinsam vor Ort erschließen. Das eröffnet Zukunftschancen für junge Menschen. Es gibt deshalb aus unserer Sicht überhaupt keinen Anlass für die Behauptung, die hin und wieder aufgestellt wird und die man dann lesen kann, die Bundesregierung hätte ihre Parole, dass der Aufbau Ost Chefsache sei, jedenfalls bezüglich des Feldes berufliche Bildung, ad acta gelegt. Jetzt komme ich doch noch darauf, was Sie, Frau Pieper gesagt haben. Eine Landverschickung von Ost nach West wird sicherlich von niemandem hier im Parlament gewünscht oder gefordert. Wenn wir es aber nicht schaffen, dafür zu sorgen, dass ausreichend Ausbildungsplätze in den östlichen Bundesländern zur Verfügung gestellt werden, dann ist es besser, dass die jungen Leute sich in den angrenzenden Regionen ausbilden lassen und danach wieder zurückgehen. ({6}) - Das hat damit überhaupt nichts zu tun, Frau Pieper, das wissen Sie auch. Das Gleiche macht schon seit längerem das Land Sachsen. Auch dort wurde ein Mobilisierungsprogramm auf den Weg gebracht. Wenn die jungen Leute nach der Ausbildung in die neuen Bundesländer zurückkehren, brauchen sie die Mobilitätshilfe nicht zurückzuzahlen; bleiben sie in den westlichen Ländern, müssen sie einen Teil dieser Hilfe zurückzuzahlen. Ich finde, dieser Weg ist richtig. Wir werden ihn unterstützen. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesellschaftliche Verantwortung zur Zukunftssicherung der Jugend bündelt sich in der regionalen Bereitschaft und Fähigkeit der beteiligten Partner, für die Sicherung und Schaffung ausreichender und qualifizierter Ausbildungsplätze zu sorgen. Dass sie nah an den Betrieben liegen, nah an den Jugendlichen und nah an den Berufsschulen, sehen wir als eine ständige Aufgabe an. Hier wollen wir das Erreichte noch weiter vorantreiben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brase, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Böttcher?

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Brase, Sie haben eben noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig die regionale Bereitschaft ist. Geben Sie mir Recht, dass es angesichts der Tatsache, dass die 100 größten ostdeutschen Unternehmen gemeinsam nicht mehr als ein Viertel der Umsätze von zum Beispiel Daimler-Chrysler verbuchen können, dass von den 190 größten deutschen Unternehmen kein einziges seinen Sitz in den neuen Ländern hat und sämtliche größere Ostunternehmen von westdeutschen Mutterkonzernen abhängig sind, ein sehr kompliziertes Unterfangen ist, diese zu stärken? Es ist doch klar, dass selbst eine 100-prozentige Beteiligung der Großunternehmen bei der Ausbildung den Jugendlichen im Osten dann noch lange nichts bringt. Würde wirklich die Möglichkeit - Sie haben es Landverschickung genannt; so weit möchte ich nicht gehen -, im Westteil des Landes eine Ausbildung zu absolvieren, das Problem lösen, dass die Jugendlichen, wenn sie zurückkommen, keinen Arbeitsplatz bekommen? Glauben Sie das wirklich?

Willi Brase (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003054, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe nie gesagt, dass wir mit einer Orientierung hin zu den westlichen Ländern automatisch eine Antwort auf die Ausbildungsplatzprobleme und -wünsche der Jugendlichen geben können. Ich habe nur gesagt: Wenn wir es in den Regionen teilweise nicht schaffen, im Konsens ausreichend Ausbildungsplätze zu organisieren, so liegt dies nicht nur an größeren Unternehmen bzw. an Unternehmen, die ihren Firmensitz in den westlichen Bundesländern haben. Am Beispiel der Dienstleistungsberufe aufgrund des Betriebpanel kann man sehr gut nachvollziehen, dass es hier jede Menge Reserven gibt. Es kommt darauf an, diese vor Ort zu mobilisieren. Dass das möglich ist, zeigen viele Beispiele aus den so genannten alten bzw. westlichen, südlichen oder nördlichen Ländern der Bundesrepublik Deutschland. Hier wollen wir ansetzen. Das wollen wir vorantreiben. ({0}) Ich möchte gerne noch einige Anregungen für die weitere Diskussion geben, wenn es darum geht, wie wir in der beruflichen Bildung - auch vor dem Hintergrund verbesserter Zahlen - wieder weiter nach vorn kommen. Von Wissenschaft bis Unternehmen wird ein erhöhter Veränderungs- und Modernisierungsbedarf für die berufliche Bildung reklamiert. Uns und auch mir erscheint es notwendig, dass wir das Leitbild der beruflichen Bildung vor dem Hintergrund der rasanten Veränderung der Arbeitswelt überprüfen. Eine moderne Berufsausbildung muss sich stärker an einem Facharbeiter-, an einem Arbeitnehmerbild orientieren, das sich vielleicht wie folgt beschreiben lässt: Die zukünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beteiligen sich aktiv und gestaltend an den betrieblichen Geschäfts- und Innovationsprozessen und an der betrieblichen Organisationsentwicklung. Sie tun dies in sozialer, ökonomischer und ökologischer Verantwortung. Anders formuliert: Es geht um die Mitgestaltung der Arbeitswelt durch die aktiv handelnden Personen, das heißt die Beschäftigten und auch die Auszubildenden. Dieser Mitgestaltungsaspekt hat Konsequenzen für die berufliche Bildung. Wir wollen und wir werden ihm künftig mehr Beachtung schenken. ({1}) Es kann zweitens nicht bestritten werden, dass bei der Neuordnung der Ausbildungsberufe große Fortschritte mit Blick auf das oft kritisierte Problem der mangelnden Zeitnähe erreicht worden sind. Wir haben in Punkt 6 des Entschließungsantrages gefordert, die Offensive zum Abbau des IT-Fachkräftemangels der Bundesregierung, die ich ausdrücklich begrüße, auf alle Ebenen des Bildungssystems und nicht zuletzt auf die berufliche Bildung auszuweiten. Die IT-Revolution ist nicht primär ein Akademikerproblem, sondern in vorderster Front ein Problem auf der Ebene der Facharbeiterinnen und Facharbeiter. Ein dritter Punkt bei der notwendigen Weiterentwicklung des Berufskonzeptes ist der Tatbestand, dass das Wissen über Arbeitszusammenhänge und Arbeitsprozesse immer mehr zu einem zentralen, berufskonstituierenden Merkmal wird. Dies führt aus meiner Sicht - ich weiß, dass das nicht unumstritten ist - zu der Notwendigkeit, die vorhandene ausgeprägte horizontale Spezialisierung der Ausbildungsberufe zu vermindern. Wir brauchen keine Ausbildung zum Zweiradkaufmann, wie vom DIHT gefordert, wir wollen Fehlentwicklungen verhindern, wie ich sie gerade geschildert habe. Zu diesem dritten Punkt - das will ich deutlich machen liegt ein hochinteressantes Reformprojekt auf dem Tisch. In einem Modellversuch zur Reform der beruflichen Bildung bei VW, gestartet am 1. September 1999, werden diese und andere Entwicklungsperspektiven umgesetzt. In diesem Modellprojekt geht es unter der Zielorientierung der Verringerung der horizontalen Spezialisierung um die Entwicklung von Kernberufen. Lassen Sie mich zwei Beispiele nennen. Aus den Berufen Kommunikationselektroniker/in, Fachrichtung Informationstechnik, Energieelektroniker/in, Fachrichtung Betriebstechnik, und lndustrieelektroniker/in, Fachrichtung Produktionstechnik, wird in diesem Modellprojekt der Kemberuf Industrieelektroniker/in entwickelt. Aus den Berufen Kauffrau/Kaufmann für Bürokommunikation, Automobilkauffrau/-kaufmann und Industriekauffrau/-kaufmann alter Prägung wird der neue Kernberuf Industriekauffrau/-kaufmann entwickelt. In diesem Modellvorhaben werden 3 900 Auszubildende in 29 Berufen vorrangig in fünf ausgewählten Industrieberufen qualifiziert und vorangebracht. Dieses Modellvorhaben zeigt deutlich, dass sich die Berufsausbildung stärker auf Geschäfts- und Produktionsprozesse beziehen soll, so wie dies übrigens auch im Bündnispapier zur „Strukturellen Weiterentwicklung der dualen Berufsausbildung“ vom 22. Oktober 1999 gefordert wird. Dies setzt eine enge Abstimmung aller an der Ausbildung Beteiligten zwingend voraus. Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, der vorangetrieben werden muss, ist die Kooperation der Lernorte. Die Bundesregierung hat dies deutlich erkannt. Wir verweisen auf den entsprechenden BLK-Modellversuch. Dieser Aspekt der Kooperation der Lernorte muss bundesweit zum Grundsatz der beruflichen Bildung werden. Denn dann wird berufliche Bildung eher passgenau durchgeführt. ({2}) Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der stark in der Diskussion ist: die Situation der Berufsschullehrer. In Punkt 9 unseres Antrages wird gefordert, im Rahmen der Initiative der Bundesregierung „Schulen ans Netz“ die Qualifikation des Lehrpersonals zu einem Schwerpunkt zu machen. Der DGB-Vorsitzende Schulte hat unlängst gefordert, dass der Stellenwert der Berufsschule gesteigert werden müsse. Wir unterstützen ihn in diesem Punkt. Der Lehrermangel an den Berufsschulen entwickelt sich mehr und mehr zu einem „alarmierenden Zustand“, so unlängst die „Berliner Zeitung“. Es gibt möglicherweise - das wurde eben schon gesagt - eine Personallücke von 6 600 Berufsschullehrern. Besonders wichtig dabei ist, festzustellen, dass der größte Mangel in den Bereichen Maschinenbau, Elektrotechnik und - man will es nicht glauben - in dem Zukunftssektor überhaupt, in der Informationstechnologie, liegt. Es stellt sich immer klarer heraus, dass das Gehalt eine große Rolle bei dem zu beobachtenden Trend der Abwanderung in die Wirtschaft spielt. Wir haben erkannt, dass bezüglich dieses Problems der Berufsschulen gehandelt werden muss. Die Bundesregierung hat aus den ZIP-Mitteln 255 Millionen DM zur Modernisierung der Berufsschulen mit der Auflage zugesagt, Mitnahmeeffekte auszuschließen. Diese schnelle Reaktion wird von meiner Fraktion ausdrücklich begrüßt. ({3}) Die Bundesregierung hat eine Steilvorlage an die Länder geliefert. Die Kosten für die berufliche Bildung werden damit deutlich verringert. Die Länder sind nun gefordert, sich daran ein Beispiel zu nehmen und mögliche frei werdende Mittel für höhere Bezüge der Berufsschullehrer auszugeben, sodass wir bei der Beseitigung des Berufsschullehrermangels einen kleinen Schritt nach vorne kommen. Die Bundesregierung sollte prüfen, ob bei erfolgreicher Umsetzung des Modernisierungsprogramms das Programm auch über 2002 sinnvollerweise seine Fortsetzung finden kann. ({4}) Der Ausgleich der gleichberechtigten Interessen von Jugendlichen und Unternehmen, von Schulen und der Gesellschaft ist Ausdruck der Reformfähigkeit und bedeutet Zukunftssicherung. Reform als einseitige Orientierung an Unternehmensinteressen lehnen wir ab; sie wird den Ansprüchen und den berechtigten Interessen der Jugendlichen nicht gerecht. Ein großer Teil der jungen Menschen sieht heute noch und auch weiterhin seine Perspektive in der dualen Berufsausbildung. Zugleich gilt mehr denn je, in der Wissensgesellschaft neben den einschlägigen Reformen im Bereich von Hochschule und Forschung die Bereiche berufliche Erstausbildung und lebensbegleitendes Lernen nach vorne zu bringen. Das Bildungssystem in seiner Gesamtheit bleibt nur dann reform- und entwicklungsfähig, wenn der entscheidende Faktor der Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht ausgespart wird. ({5}) Es ist richtig, was der IG-Metall-Vorsitzende Zwickel in diesem Zusammenhang kürzlich deutlich gemacht hat. Bildung muss ein Thema für das Bündnis für Arbeit werden. Es kann nicht angehen, dass sich 80 Prozent aller Weiterbildungsangebote an nur 30 Prozent der Belegschaften richten und für die anderen diesbezüglich nichts getan wird. ({6}) Das werden wir nicht mitmachen. Wir werden vielmehr den notwendigen Prozess vorantreiben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Rainer Jork.

Dr. - Ing. Rainer Jork (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001033, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist überaus sinnvoll, in den Ausschüssen und hier im Plenum des Deutschen Bundestages über Berufsbildung und über die Lage auf dem Lehrstellenmarkt zu diskutieren. Schließlich geht es um eine Zukunftsfrage, die uns alle und nicht nur die jungen Menschen betrifft. Es geht um Themen wie die strukturelle Erneuerung, die Modernisierung und Aktualisierung der Ausbildung. Es geht aber auch um die Ausbildungsplatzsituation. Wenn ich mich erneut primär der Ausbildungssituation in den neuen Bundesländern widme, dann liegt das neben meiner begrenzten Redezeit an der nach wie vor besonders prekären Situation in den neuen Bundesländern hinsichtlich der Bereitstellung betrieblicher Lehrstellen. In der ersten Ausschusssitzung dieser Periode hörten wir aus dem Mund des Sprechers der SPD, dass nun ein Epochenwechsel eintreten werde. Zwei Jahre danach darf man sicher fragen, wie denn dieser Epochenwechsel in der Praxis aussieht. Dazu will ich einige aktuelle Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit nennen, die Sie alle kennen und die die Zahlen ergänzen, die wir schon gehört haben. Im Bundesgebiet West haben wir eine Jugendarbeitslosigkeit von 8,9 Prozent, im Bundesgebiet Ost von 22,9 Prozent. Sachsen-Anhalt mit 24,6 Prozent und Mecklenburg-Vorpommern mit 24,1 Prozent sind Spitzenreiter. Die allgemeine Arbeitslosigkeit liegt im Westen bei 7,8 Prozent, im Osten bei 17,4 Prozent. Das ist - ungeachtet der bereits diskutierten Abwanderung - eine Verschlechterung gegenüber früher. ({0}) In dem Entschließungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 10. Mai vorigen Jahres zu dem Berufsbildungsbericht auf Drucksache 14/3244, über den wir heute beraten und beschließen, steht allerhand. Ich möchte auf zwei Punkte eingehen, weil sie mir, vor allem unter dem Blickwinkel der Situation in den neuen Bundesländern, besonders wichtig sind und weil, obwohl ich bereits am 27. September vorigen Jahres im Ausschuss und am 10. November vorigen Jahres im Plenum darauf hingewiesen habe, bislang keinerlei Reaktion erfolgt ist. Schauen wir uns den Antrag einmal an. Da steht: Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt hat sich verbessert. Weiter heißt es: Diese Verbesserung der Ausbildungssituation ist den Bemühungen der rot-grünen Bundesregierung zu verdanken. ({1}) Dann muss die Bundesregierung ja wohl auch primär dafür verantwortlich sein. Die Zahlen haben wir ja gehört. Aber es gibt auch noch ein „Forum Bildung“. Wir haben in der Abgeordneteninformation Nr. 5 des BMBF vom 27. November vorigen Jahres lesen können, dass auch einige andere einbezogen werden sollen, zum Beispiel die Länder, die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber, die Vertreter der Wissenschaft, der Kirchen, der Studierenden, der Auszubildenden. Danach sollten unter Hinzuziehung externer Experten „in zwei Jahren Konzepte zur Weiterentwicklung unseres Bildungswesens“ vorliegen. Es geht also um Konzepte, die erst in der nächsten Wahlperiode vorliegen werden, da diese Wahlperiode in zwei Jahren zu Ende sein wird. Das wird dann bestimmt vor allem für Jungen und Mädchen spannend sein, die heute keine Lehrstelle haben. Wird so ein Epochenwechsel vorbereitet? Welche Rolle spielt dabei die Wirtschaft? Wir haben heute schon darüber gesprochen. Gilt das Prinzip Hoffnung als Epochenwechsel? Das genügt weder dem Anspruch der SPD noch deren Versprechungen und den berechtigten Erwartungen der Jugendlichen. ({2}) Was wird in dem Informationsblatt für Abgeordnete unter der Überschrift „Neue Chancen für Auszubildende“ angeboten? Als „neue Chancen“ werden bewährte Methoden wie Verbundausbildung, neue Berufe, Fortführung des Ausbildungsprogramms Ost, Ausbildungsplatzentwickler, finanzielle Förderung angeboten - alles gut, wohlgemerkt. Da stimme ich mit Ihnen völlig überein, Herr Brase. Ich habe bei dem, was Sie an der Stelle gesagt haben, keine Abstriche zu machen. Aber das alles ist seit Jahren bekannt. Es ist nichts Neues, es bedeutet nur eine Verstetigung, die man nicht als Neues verkaufen kann. Was also ist wirklich neu? ({3}) Zu dem dritten Punkt Ihres Entschließungsantrages. Dort steht - ich verkürze es ein bisschen -: Der Bundestag begrüßt die Weiterführung des Sofortprogramms zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit. ({4}) - Klar, Herr Tauss. Jetzt geht es weiter: In diesem Zusammenhang sollten auch Möglichkeiten der Standardisierung der Maßnahmen geprüft werden. „Standardisierung“ bedeutet nichts anderes, als nach einem Muster zu vereinheitlichen. Was soll das angesichts nachgewiesenermaßen recht unterschiedlicher Ausgangsbedingungen, nicht nur in Ost und West, sondern auch regional in den einzelnen Bundesländern? Herr Schwanitz sagte am 14. Januar im Fernsehen, dass die Förderung differenziert und regional erfolgen solle. Das ist das genaue Gegenteil. ({5}) Warum ist dieser Antrag nicht der Realität angepasst worden? Seit wann hat die SPD eine Scheu nachzubessern? Das ist doch ein Wort, das wir uns inzwischen eingeprägt haben. Warum wird dieser irrsinnige Untersuchungsauftrag nicht gestrichen? Lesen Sie einmal das Thierse-Papier! Lesen Sie einmal die Ergebnisse unserer Anhörungen zu den Lehrstellen, die ich am 30. Juni vorigen Jahres in diesem Hause übergeben habe! Ich bedanke mich ausdrücklich für die ehrliche Bestandsaufnahme, die der Präsident des Bundestages und stellvertretende SPD-Vorsitzende Thierse veranlasst hat. Auch wenn es manchem hier und dort, aus welchen Gründen auch immer, nicht gefällt: Hier wird problemspezifischer Handlungsbedarf aufgezeigt. ({6}) - Das wird Sie interessieren, Herr Tauss, besonders vor Ihrem gewerkschaftlichen Hintergrund. Lassen Sie mich zitieren: Seit 1998 ist die Arbeitslosenquote im Osten vom 1,8-Fachen im Jahr 2000 auf das 2,3-Fache der Arbeitslosenquote im Westen gestiegen. Weiter: Jugendarbeitslosigkeit ist eines der gravierendsten Probleme in Ostdeutschland. 150 000 Arbeitslose sind unter 25 Jahre alt, 15 Prozent mehr als 1998 ... Frau Kollegin Deligöz, hier haben Sie etwas verpasst. Das haben Sie nicht gehört. Das sollten Sie wissen. Sie haben vorhin das Gegenteil behauptet. Die Problemlage, die ich eben beschrieb und die Sie sich schriftlich haben zuarbeiten lassen, wurde von der Koalition mit Durchschnittsangaben oder Unkenntnis sträflich ignoriert. Hier ist eine nachhaltige Besserung nötig. Ich zitiere weiter aus dem Papier: Die konjunkturelle Abkoppelung ... führt zwangsläufig zu steigender Abwanderung ... Ferner - ganz wichtig; Frau Pieper sprach das an -: Sparen kann man im Fall Ostdeutschlands nur, wenn man in die wirtschaftliche Entwicklung investiert! Das bedeutet auch, dass in einem Ministerium allein das Problem nicht lösbar ist. Davon redete ich schon wiederholt. Weiter: Deshalb kann auch eine Politik der „Verstetigung“ den bereits stattfindenden Vertrauensverlust nicht mehr kompensieren ... Verstetigung ist das, was Sie machen - nichts Neues. Nach dieser umfassenden Analyse warten wir nun aber gespannt auf konsequente und konkrete Schlussfolgerungen in der praktischen Politik, um zu bessern und auch zu ermutigen. Bitte tun Sie endlich etwas für den Epochenwechsel - wenn Sie es schon so nennen -, den Sie versprochen haben, und nicht nur für Verstetigung! Sie brauchen offenbar sehr viel Zeit. ({7}) Wenn die enormen Beträge des Sofortprogramms sachgerecht eingesetzt worden wären, dann hätten effektivere und nachhaltigere Ergebnisse erreicht werden können. ({8}) Praktische Politik muss die eigenen ideologischen und programmatischen Ansprüche infrage stellen. Was ist also aus dem angekündigten Epochenwechsel in der Bildungspolitik, speziell bei unserem Thema, geworden? Zögern, Gleichverteilen, „Weiter so“, nichts Grundsätzliches; zuerst Handeln, dann Nachbessern und Nachdenken; das Prinzip Hoffnung für die Zeit nach der Wahl. Ich möchte ausdrücklich anerkennen, wo die Bundesregierung positiv auf die Lehrstellensituation eingewirkt hat und einwirkt - ich wiederhole, Kollege Brase, das, was Sie gesagt haben -: natürlich die finanzielle Förderung auf hohem Niveau, aber auch anderes. Ich zitiere: Bei der strukturellen „Weiterentwicklung der dualen Berufsausbildung“ wird eine „künftige Gliederung ... in Elemente gemeinsamer Qualifikation und in Wahlpflichtelemente“ zur „Differenzierung der Ausbildung für Leistungsschwächere und Leistungsstärkere“ unterstützt. - So eine Presseerklärung der Arbeits-, Sozial-, Kultus- und Wirtschaftsministerkonferenz vom 6. Dezember vorigen Jahres. Das sind für mich die Module, die wir lange fordern. Das ist für mich das Satellitenmodell, das Ihnen, Herr Brase, nicht passt. Andere haben sich entschlossen, genau das anzuwenden, weil das vernünftig ist. Das ist der Ansatz zu neuen Methoden. Im gleichen Sinne finde ich es sinnvoll, dass Berufsfachkommissionen eingerichtet werden sollen. Das hat das BIBB am 20. Dezember 2000 in einer Presseerklärung veröffentlicht. Es geht dort um die Aktualisierung, einen schnellen Basiskontakt und die Abstimmung derer, die mit dem Thema zu tun haben. Aber es bleibt offen, was wir, die CDU/CSU-Fraktion, wiederholt vorschlugen und was nun auch in dem Papier von Thierse steht: Erstens. Fördern Sie die Wirtschaft in den neuen Bundesländern konsequent, damit sie tun kann, was sie soll und will: Lehrlinge ausbilden! Zweitens. Berücksichtigen Sie regionale Spezifika, damit die Abwanderung eingedämmt wird! Drittens. Reagieren Sie aktuell und zeitnah im Interesse der jungen Leute, frei von Vorbehalten und Wahlterminen! Viertens. Gehen Sie das überaus komplexe Anliegen durch koordinierte Maßnahmen an! Ich sagte schon: Das ist in einem Ministerium allein nicht zu machen. Herr Schwanewitz fehlt ja jetzt. Das ist ein Thema, das er ansprechen sollte. Ein Ministerium allein schafft das nicht. ({9}) - Schönen Dank. Ich sehe ihn so selten, dass ich es vergessen habe. Ich kann die Koalition nur bitten: Haben Sie den Mut zu wirklich neuen Wegen und Methoden, zu einem tatsächlichen Epochenwechsel, ({10}) der, Herr Tauss, nicht nur verbal zu realisieren ist. Hier geht es um Praxis. Danke. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/4305. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Kenntnisnahme des Berufsbildungsberichts 2000 auf Drucksache 14/3244. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Annahme des Entschließungsantrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zum Berufsbildungsbericht 2000. Es handelt sich um die Drucksache 14/3331. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Nooke, Dr. Norbert Lammert, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Gesamtkonzeption für Berliner Gedenkstätten für die Opfer der SED-Diktatur notwendig - Drucksache 14/4641 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({0}) Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen. Der Kollege Werner Schulz ({1}) vom Bünd- nis 90/Die Grünen hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) - Auch hier sehe ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Günter Nooke.

Günter Nooke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Zu den Errungenschaften unseres Rechtsstaates gehört zweifellos die Pflege der demokratischen Erinnerungskultur. Ein Grundprinzip dieser Erinnerungskultur ist die Aufklärung, und zwar deshalb, um das Aufkommen von Legenden und Lügen zu verhindern. So gesehen sind Gedenkstätten der stärkste Pfeiler der demokratischen Erinnerungskultur. Gedenkstätten - zumal die an authentischen Orten - zwingen uns zum Hinsehen und befördern somit Wahrhaftigkeit, um einmal dieses gewaltige Wort zu gebrauchen. Dieser Sache war sich dieses Hohe Haus immer bewusst. Nicht zuletzt die beiden Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages, die sich in den beiden vorhergehenden Legislaturperioden vor allem mit der Aufarbeitung und den Folgen der SED-Diktatur beschäftigten, kamen zu folgendem Ergebnis: Demokratische Erinnerungskultur gehört zu den Bestandteilen unseres Rechtsstaates so wie dessen Institutionen selbst. Als Mitglied des Kuratoriums zur Errichtung eines Mahnmals für die ermordeten Juden Europas und zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust kann ich bestätigen, dass bei allen demokratischen Kräften trotz aller - zum Teil auch kontroversen - Debatten der Wille zur Pflege einer Erinnerungskultur, auch bezogen auf die jüngste Geschichte im vergangenen Jahrhundert, vorhanden ist. Wer die öffentlichen Debatten verfolgt, der wird schnell Folgendes bestätigen können: Diesem Land mangelt es gewiss nicht an Gedenken, Gedenkstätten und entsprechenden Diskussionen darüber. Ganze Feuilletons von Zeitungen scheinen von diesem Thema zu leben. Es gibt durchaus honorige Leute, die sagen, dass dies bereits zu einer gewissen Gedenkmüdigkeit geführt hat. Aber liegt das tatsächlich daran, dass es in diesem Lande zu viel Gedenken gibt? Oder ist nicht vielmehr zu fragen, woran in diesem Lande überwiegend gedacht wird, wenn es um die Erinnerung an Widerstand und Opfer zweier Diktaturen geht? Wir müssen uns schon die Frage stellen, ob die Akzente unserer Erinnerungskultur mit deren ganz praktischen Bestandteilen, nämlich mit den Gedenkstätten, ausgewogen und entsprechend den Erfahrungen unserer Geschichte gesetzt sind. Dies ist jetzt nicht der Ort, um eine Debatte über die Frage zu führen, ob das Erinnern an die eine Diktatur mit dem Erinnern an die zweite Diktatur gleichgesetzt werden sollte. Das ist hier wirklich nicht mein Thema. Wir haben in diesem Lande keine Defizite, was die Diskussion über diese Frage anbelangt. Aber es besteht sicherlich bei den meisten Mitgliedern dieses Hauses kein Zweifel daran, dass die Erinnerung an die SEDDiktatur ebenso ein wesentlicher Bestandteil der von mir angesprochenen Erinnerungskultur ist wie das Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus. ({0}) Es besteht sicherlich auch kein Zweifel in diesem Hause daran, dass gerade Berlin einer der wichtigsten Orte - vielleicht der wichtigste Ort - für das Gedenken an die SED-Opfer ist. Somit kommt entsprechenden Berliner Gedenkstätten fast immer eine nationale Bedeutung zu; denn hier in Berlin waren nun einmal die politischen Zentren der Macht und des Unterdrückungsapparates der DDR. Diese Gedenkstätten haben eine nationale Bedeutung im eigentlichen Sinne. Das sollte gerade auch, wenn es um die Frage geht, in welcher Weise Mittel zur Pflege und praktischen Arbeit dieser Gedenkstätten zur Verfügung gestellt werden, bedacht werden. Ich hielte es für ein gutes Zeichen, wenn sich der neue Staatsminister für Kultur und Medien, Herr Nida-Rümelin, der Gedenkstätten der SED-Diktatur annähme. ({1}) Die Hälfte des Engagements, das Ihr Vorgänger für das Gedenken an den Stätten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aufgebracht hat, würde mir schon reichen. ({2}) Die CDU/CSU-Fraktion hat den vorliegenden Antrag eingebracht, weil - um es kurz zu sagen - den Erinnerungsstätten für die Opfer der SED-Diktatur und die kommunistische Gewaltherrschaft in der Hauptstadt bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wenn das an Berlin lag, dann will ich Ihnen nicht völlig widersprechen, aber es ist eben auch eine nationale Aufgabe. Sowohl die Mauergedenkstätte und das Dokumentationszentrum in der Bernauer Straße als auch die ehemalige Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen sowie die Zentrale der Staatssicherheit in der Normannenstraße sind authentische Stätten der Erinnerung. ({3}) Für alle drei Gedenkstätten gilt, dass ihre perspektivische Finanzierung derzeit nicht gesichert ist. Noch nicht ein- mal die Mittel für notwendige Bau- und Instandhaltungs- arbeiten sind so in die entsprechenden Haushalte einge- stellt, dass - um es formal-bürokratisch zu sagen - Planungssicherheit besteht. Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 5 ({4}) - Aufarbeiten wollen wir schon. Schauen Sie sich einmal an, was die Enquete-Kommissionen mit Ihrer Unterstützung beschlossen haben. Unsere Fraktion hält es dabei für außerordentlich wichtig, dass für die genannten Gedenkstätten eine verbindende Gesamtkonzeption - darum geht es in unserem Antrag - erstellt werden muss. Dass sich hier insbesondere der Bund in deutlich stärkerem Maße engagieren muss, liegt meines Erachtens auf der Hand. Unsere Sorge, dass dieser Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte in Bezug auf die hier schon wiederholt erwähnte Erinnerungskultur sozusagen unter die Räder kommt, nährt sich aus bisherigen Erfahrungen. Es sei daran erinnert, dass am 13. August 1998 das Mauer-Denkmal in der Bernauer Straße als nationales Denkmal eingeweiht wurde. Die Kosten hatte der Bund übernommen, während das Land Berlin für den Unterhalt des Denkmals zuständig war und ist. Übrigens: Im Vergleich zu den Ausgaben beispielsweise für verschiedene Denkmäler und Gedenkstätten zur Erinnerung an den Holocaust, zu denen ich als Kuratoriumsmitglied für die Errichtung des Holocaust-Mahnmals stehe - ich sage das ausdrücklich -, handelt es sich in diesen Fällen um extrem niedrige Ausgaben. Um es - seit Jahren gibt es dafür ein geläufiges Wort - anders auszudrücken: Es handelt sich um Peanuts. Für mich war es eine ernüchternde Erfahrung, als ich am 13. August vergangenen Jahres in einem Brief an die Bundesregierung fragte, wie denn der Staatsminister für Kultur und Medien an die Opfer der Berliner Mauer zu gedenken beabsichtige. Von der Protokollabteilung des Innenministeriums erhielt ich den lakonischen Hinweis, dass eine offizielle Feierstunde oder ein Gedenken am nationalen Denkmal oder anderswo nicht vorgesehen seien. Meine Damen und Herren, am 13. August 2000, dem 39. Jahrestag des Mauerbaus, wurde von der Bundesregierung schlichtweg nichts getan. Dieser Termin wurde einfach vergessen. ({5}) Um es noch einigermaßen diplomatisch auszudrücken: Dies war einer Bundesregierung unwürdig und müsste den Opfern gegenüber eigentlich peinlich gewesen sein. ({6}) Ich hoffe, dass es bei der Bundesregierung wenigstens zu irgendeiner Gefühlsregung geführt hat. Die SPD-Fraktion - ich will das auch sagen - erklärte damals lakonisch, das Gedenken sei Sache des Parlamentes. Doch nicht einmal der Bundestagspräsident interessierte sich an diesem 13. August dafür und ich glaube, diese Aussage ist schlichtweg verlogen, wenn ich an die Größe der von Schröder und Thierse am 9. November des vergangenen Jahres vor der Synagoge in der Oranienburger Straße niedergelegten Kränze denke. ({7}) - Das ist leider so. Entweder gedenkt das Parlament oder die Regierung hat eine Verantwortung für beide Diktaturen. ({8}) Das möchte ich aber nicht weiter ausführen, sondern die Gelegenheit lieber dafür nutzen, schon rechtzeitig daran zu erinnern, dass in diesem Jahr immerhin der 40. Jahrestag des Mauerbaus begangen wird, Herr Staatsminister. Ich hoffe, dass wenigstens diesmal die Protokoll-abteilung des Innenministeriums dem Minister diesen Hinweis auf Wiedervorlage für den 13. August dieses Jahres legt. Ich will die Gelegenheit des 40. Jahrestages des Baus der Berliner Mauer, die das herausragende Symbol nicht nur für die Teilung der Stadt, sondern auch für die Teilung unseres Landes, die Teilung Europas und die Teilung der Welt war, auch dafür nutzen,die Bundesregierung an ihre Verantwortung zu erinnern. Es wäre gerade für einen neuen Kulturstaatsminister, Herrn Nida-Rümelin, eine außerordentlich gute Gelegenheit, unabhängig von der Kulturhoheit der Länder nationales Engagement zu zeigen. ({9}) Ich fordere den Herrn Staatsminister und die Bundesregierung deshalb im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf, mit den verantwortlichen Mitarbeitern der anfangs genannten Gedenkstätten mit dem Ziel in Kontakt zu treten - das ist auch in unserem vorliegenden Antrag zu lesen -, erstens eine verbindende Gesamtkonzeption einschließlich der notwendigen Finanzierung zu erarbeiten, sich zweitens dafür einzusetzen, dass die notwendigen Bau-, Sanierungs- und Erhaltungsmaßnahmen unverzüglich in Angriff genommen werden können, und drittens für die genannten Gedenkstätten die Voraussetzungen für eine hinreichende Planungssicherheit auch für die Zukunft ihrer Arbeit zu schaffen. ({10}) Lassen Sie mich mit einem Wort des ehemaligen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck, schließen, das er aus Anlass einer Sitzung der EnqueteKommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ in Bezug auf die Notwendigkeit der Gedenkstätten sagte: Wir gewinnen, wenn wir die Diktatur vorurteilsfrei und offen bearbeiten, eine deutliche Annäherung an die eigene Demokratie. Wir nehmen sie ernster trotz der sie prägenden Widersprüche. Danke schön. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika KrügerLeißner von der SPD-Fraktion das Wort.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh, dass ich nach Herrn Nooke reden kann, um einiges klarstellen zu können. Uns liegt ein Antrag der CDU/CSUFraktion vor, der ein verstärktes Engagement der Bundesregierung im Bereich der Gedenkstätten und hier speziell für drei Gedenkstätten für die Opfer der SED-Diktatur fordert. Nach dem ersten Durchlesen des Antrages erinnert man sich an unsere jahrelange sehr umfangreiche und intensive Arbeit in der Enquete-Kommission „Aufarbeitung der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur“ im Prozess der deutschen Einheit. Wir denken an die Diskussionen, an die Debatten zur Gedenkstättenkonzeption des Bundes und an den zuletzt vorgelegten Bericht der Bundesregierung über die Beteiligung des Bundes an den Gedenkstätten. Dabei stellen sich die Fragen nach ausreichenden Grundlagen und Rahmenbedingungen für die Arbeit der Gedenkstätten, nach ihren Möglichkeiten und Grenzen künftiger Arbeit, nach spezifischen Aspekten ihrer Tätigkeit und nach der engeren Verknüpfung der zahlreich bestehenden Gedenkstätten. Für die drei explizit aufgeführten Gedenkstätten, um die sich die Antragsteller bemühen, sind diese Fragen noch einmal zu durchdenken. Liebe Kollegen, ich erinnere mich, dass wir in den wesentlichen Grundfragen zur Gedenkstättenkonzeption überfraktionell ein Einvernehmen herstellen konnten. ({0}) Das ist an Herrn Nooke möglicherweise vorbeigegangen. ({1}) Mit diesem umfassenden Konzept, das auf Erkenntnissen langjähriger Zusammenarbeit mit den Ländern, den zahlreichen Gedenkstätten und den Experten beruht, haben wir zugleich ein gesamtgesellschaftlich getragenes Konzept entwickelt. In ihm haben wir den authentischen Orten der beiden Diktaturen in Deutschland die höchste Priorität eingeräumt. Sie sind die stärksten Pfeiler der demokratischen Erinnerungskultur, sind sie doch die Orte der freien und offenen Auseinandersetzung mit der Geschichte unseres Landes. Als Lernorte haben sie ein ungeheures, einmaliges Erinnerungs- und Aufklärungspotenzial, das in der aktuellen politischen Situation für individuelles und gesellschaftliches Handeln von herausragender Bedeutung ist. Die Bewahrung der Erinnerung und die Unterstützung der Arbeit der Gedenkstätten ist auch deshalb eine gesamtgesellschaftliche Arbeit, da sie nur in Kooperation von Bund und Ländern, mit privater Initiative und durch Vereine und Verbände geleistet werden kann. Die drei im Antrag benannten Berliner Gedenkstätten in der Bernauer Straße, in Hohenschönhausen und in der Normannenstraße haben eine besondere Stellung in der Reihe der nach der Wende sehr zahlreich entstandenen Gedenkstätten an authentischen Orten in den neuen Bundesländern. Die Geschichte, die sie repräsentieren und mit ihren Ausstellungen lebendig halten, ist ebenso vielfältig, wie die 45 Jahre dauernde Nachkriegsgeschichte und Existenz der DDR an Brüchen und Ereignissen reich ist. Sie stehen ohne Zweifel in einem besonderen Licht, das sich in der zentral historischen Rolle Berlins als Hauptstadt der DDR begründet, da sich hier auch jene zentralen Institutionen und Organisationen angesiedelt hatten, die die politische Verfolgung der Gegner planten und organisierten. Die von großer Heterogenität geprägte Gedenkstättenlandschaft in Berlin erinnert in vielfältiger Weise an die Repressionen der 50er-, 60er-, 70er- und 80er-Jahre mit ihren spezifischen Formen politischer Verfolgung und Hafterfahrung. An diesen authentischen Orten können wir eindringlich und nachhaltig wahrnehmen, wie man Millionen Menschen über ein Netzwerk dieser Diktaturen zu lenken und einzuschüchtern wusste und wie sich Verweigerung, Opposition und Widerstand regten. Diese Erinnerung zu bewahren ist für die Bundesregierung und das Land Berlin an diesen drei Gedenkorten von besonderer Bedeutung, dokumentieren sie doch zugleich ihren spezifischen Charakter, wie Hohenschönhausen als Ort der Opfer, die Normannenstraße als Ort der Täter und die Bernauer Straße als Ort der Repression, und damit zugleich auch ihre Vernetzung. Aus Ihrem Antrag, werte Kollegen der CDU/CSU, ist der Ruf nach einem verstärkten Engagement des Bundes in konzeptioneller und finanzieller Hinsicht nicht zu überhören. Wenn dem so sein soll, dann stellen sich für mich folgende Fragen: Was haben der Bund und das Land Berlin für diese herausgehobenen Gedenkstätten bisher getan? Gibt es vielleicht Versäumnisse in der gemeinsamen Verantwortung für diese Orte? Ist die Bedeutung dieser drei Gedenkstätten in der Vergangenheit nicht hinreichend berücksichtigt worden? Bei genauem Hinschauen, werter Kollege Nooke, wird deutlich, dass dem nicht so ist. Der Bund nimmt seine gesamtstaatliche Verantwortung für die Gedenkstätten in Berlin sehr wohl wahr. Ich denke, dass er dies sogar in hervorgehobener Weise wie in keinem anderen Bundesland tut. Dazu einige Zahlen. Auf der Grundlage der Kriterien in der Gedenkstättenkonzeption beteiligt er sich durch die hälftige institutionelle Förderung an vier Gedenkstätten, darunter auch Hohenschönhausen. Zu den drei historischen Museen, die der Bund bisher zu 100 Prozent finanziert, ist in diesem Jahr das Jüdische Museum hinzugekommen. ({2}) - Warten Sie doch ab! - Zu den vier geförderten Denkmälern gehört auch das Denkmal Berliner Mauer. Dazu kommen noch mehrere Projektförderungen. Wir haben uns in der Gedenkstättenförderung auf eine zumindest hälftige Beteiligung des jeweiligen Sitzlandes verständigt. Ich erinnere Sie daran, dass dies im Einvernehmen mit den Ländern erfolgt ist, sichert sie doch so die gemeinsam notwendige und angemessene Förderung wie die gemeinsame Verantwortung und Mitwirkung in den Gremien der Gedenkstätten bzw. Stiftungen. ({3}) Von diesem Grundsatz der gesamtstaatlichen Verantwortung und Repräsentanz wollen wir nicht abgehen, wird sie doch sowohl der historischen Verantwortung des Gesamtstaats als auch der grundsätzlichen und verfassungsmäßigen föderalen Kompetenz der Länder gerecht. In Anerkennung dessen ist demnach die in Ihrem Antrag beschriebene Forderung, Herr Nooke, wohl in erster Linie zunächst an das Land Berlin heranzutragen. Unter der Beachtung der Kompetenzordnung des Grundgesetzes und in Anerkennung der dezentralen Gedenkstättenlandschaft in der Bundesrepublik kann es nicht Aufgabe des Bundes sein, eine Konzeption für einzelne Gedenkstätten oder für die Beziehung der Gedenkstätten untereinander zu erarbeiten. Die konzeptionelle Arbeit muss an den Gedenkstätten selbst geschehen; dort sind die notwendige Kompetenz und die dafür zuständigen Gremien vorhanden. Einer der wichtigsten Grundsätze in der Gedenkstättenkonzeption war die Wahrung der Unabhängigkeit der Gedenkstätten. Schon aus diesem Grunde werden wir keine inhaltlichen Vorgaben machen. Dennoch habe ich für Ihre Forderung Verständnis, wird doch auch Ihre Unzufriedenheit mit dem bisher Erreichten sowie die Sorge um die weitere Arbeit und die finanzielle Sicherstellung aus Ihrem Antrag deutlich. Ohne auf die Umstände der Entwicklung dieser drei Gedenkstätten näher eingehen zu können, glaube ich, dass wir im elften Jahr nach der Wende konzeptionell schon hätten weiter sein und damit eine sichere finanzielle Grundlage für die Arbeit hätten haben können. Lassen Sie mich den gegenwärtigen Stand genauer betrachten: Das Denkmal Berliner Mauer wurde 1998 an einem signifikanten Ort in der Bernauer Straße eröffnet. An keiner anderen Stelle in Berlin war die Trennung von Ost und West durch die Mauer so unmittelbar gravierend erfolgt. So gelingt es dort in hervorragender Weise, umfassende Informationen über das Grenzsystem und das Ausmaß der menschenverachtenden Grenzanlagen am authentischen Ort zu vermitteln. Das Denkmal wurde mit rund 2,3 Millionen DM vom Bund finanziert und nach Fertigstellung vom Senat von Berlin übernommen. Gegenüber der Gedenkstätte hat das Land Berlin ein Dokumentationszentrum eingerichtet. Derzeit wird eine Ausstellung anlässlich des 40. Jahrestages des Mauerbaus vorbereitet. Sie wird vom Bund im Rahmen der Gedenkstättenkonzeption zu 50 Prozent mitfinanziert. Auf dieser Grundlage könnte auch die weitere Finanzierung erfolgen. Dies muss aber für das Jahr 2001 und die folgenden Jahre durch das Land Berlin mit dem Bund verhandelt werden; der Rahmen dafür ist gegeben. Die Gedenkstätte Hohenschönhausen, die von 1950 bis 1989 zentrale Untersuchungshaftanstalt in der DDR war, wurde 1995 gemeinsam vom Bund und dem Land Berlin gegründet. Dieses Dokumentations- und Begegnungszentrum ist zugleich Forschungsstätte für die Geschichte der Haftanstalt und wird bereits von einer selbstständigen Stiftung nach Berliner Landesrecht getragen. Vertreter von Bund und Land arbeiten gemeinsam im Stiftungsrat, Vertreter der Opferverbände, Sachverständige und die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte sind im Stiftungsrat vertreten. Grundlage für ihr Zusammenwirken ist eine vom Arbeitsausschuss der Gedenkstätte erarbeitete Nutzungs- und Gestaltungskonzeption. Seit 1995 wird diese Gedenkstätte vom Land Berlin und vom Bund zu je 50 Prozent finanziert. In diesem Jahr stehen 1,97 Millionen DM an Haushaltsmitteln zur Verfügung, zuzüglich 9,8 Millionen DM für die notwendigen Instandsetzungs- und Sanierungskosten bis 2004. Auch diese Mittel teilen sich der Bund und das Land Berlin. Ich sehe hier keinen Handlungsbedarf. Was die dritte genannte Gedenkstätte - die Zentrale der ehemaligen Staatssicherheit, das Haus I in der Normannenstraße - betrifft, teile ich Ihre Sorgen. Ich bin froh, dass sich auch hier einiges bewegt hat. Dazu folgende Fakten: Erstens. Der Bund und das Land Berlin sind sich darin einig, dass die Sicherung von Haus I als Ort historischer Dokumentation von großer Bedeutung ist. ({4}) Zweitens. Die Grundlage für ein weiteres Vorgehen muss eine wissenschaftliche Konzeption zur Nutzung sein - eine solche fehlt bisher -, die der besonderen historischen Bedeutung des Ortes gerecht wird. Drittens. Der Bund und das Land Berlin haben zu diesem Zweck eine Fachkommission berufen, die ihre Arbeit bereits aufgenommen hat. Die Geschäftsführung liegt beim Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Herrn Gutzeit; Vorsitzender dieser Kommission ist Siegfried Vergin, den wir in dieser Frage alle noch als Experten kennen. Viertens. Als Ergebnis der Arbeit der Fachkommission erwarten wir neben einem Nutzungskonzept auch ein wissenschaftlich und museumspädagogisch fundiertes Konzept, das eine grundlegende Ausstellung zur Tätigkeit des MfS als Ort der Täter ermöglichen soll. Die zu erarbeitenden Leitlinien für die künftige Nutzung des Hauses I sollen eine inhaltliche Perspektive vorgeben und Grundlage für das weitere politische Vorgehen vom Land Berlin und vom Bund sein. In diesem Zusammenhang erwarten wir auch eine Klärung der von Ihnen angesprochenen Frage nach der Kooperation zwischen den Einrichtungen, also ein Gesamtkonzept. Der Bericht der Fachkommission soll im Sommer dieses Jahres vorliegen. Er wird Grundlage für unsere weiteren Beratungen sein. Dazu gehört dann auch die brisante Frage der Sanierungsmaßnahmen, die sich im zweistelligen Millionenbereich bewegen werden. Die Entscheidung über die künftige Nutzung, die Kooperation mit den anderen beiden Gedenkstätten, die Sanierung und die Finanzierung sind also nach Lage der Dinge frühestens im Herbst möglich. Lassen wir also den Fachleuten diese Zeit zur intensiven Arbeit und Abwägung. ({5}) Diskutieren wir weiter, wenn die Ergebnisse der Fachkommission auf dem Tisch liegen. Sie sehen, Herr Nooke, die Dinge sind auf den Weg gebracht. ({6}) - Haben Sie nicht zugehört? ({7}) Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Jürgen Türk von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Jürgen Türk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002348, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer wie ich als gelernter DDR-Bürger erfahren hat, wie schwer es ist, unter den Bedingungen einer Diktatur aufrecht zu gehen, den erfüllt es schon mit einer gewissen Trauer, wenn er sieht, dass die Erinnerungsstätten einstiger Unterdrückung jetzt langsam verfallen. So sieht der Iststand aus. Das haben die vielen Opfer, die den Weg zur friedlichen Revolution in der DDR bereiteten, nicht verdient. ({0}) Wir wissen ja, das menschliche Gedächtnis ist schwach. Es braucht einfach Orte und Gegenstände, an denen sich die Erinnerung festmachen lässt. Was könnte eindrücklicher als das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen sein, das fast „unversehrt“ erhalten geblieben ist. Fatalerweise lassen wir es jetzt verfallen, weil notwendige Mittel für den Gedenkstättenbetrieb und die bauliche Instandhaltung noch fehlen. Machen wir uns nichts vor: Das, was uns etwas wert ist, lassen wir uns auch etwas kosten. Das ist im privaten wie im staatlichen Bereich so. Deshalb wäre es aus meiner Sicht ein falsches Signal, insbesondere in Richtung Osten, ausgerechnet bei der Bewahrung der Erinnerung an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft eine falsche Sparsamkeit, die es auch gibt, an den Tag zu legen. ({1}) Die Menschen, die in Hohenschönhausen und in der Normannenstraße schreckliche Qualen erlitten haben, besaßen Zivilcourage, eine Eigenschaft, an der es in Deutschland und auch anderswo häufig mangelt und die man deshalb gar nicht hoch genug bewerten kann und muss. ({2}) Wenn das Leid der Verfolgten einen Sinn gehabt haben soll, dann den, die nachwachsende Generation auch gegen etwaige Wiederholungsversuche zur Schaffung einer kommunistischen Diktatur zu immunisieren. Deshalb findet der gestellte Antrag, eine Gesamtkonzeption für die Opfergedenkstätten in Berlin zu erstellen - Sie haben heute gesagt, dass sie auf dem Weg sei - sowie deren langfristige Finanzierung zu sichern, meine volle Unterstützung. ({3}) Ein letzter Satz: Ein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen Bund und Berlin - das spielen wir immer, wenn wir uns herausmogeln wollen - bringt uns nicht weiter, Frau Krüger-Leißner. ({4}) Sie haben das heute richtig gestellt. Für den neuen Staatsminister wird es sicherlich zu seinen ersten wichtigen Aufgaben gehören, dafür zu sorgen, dass der Bund und Berlin eine Gesamtkonzeption vorlegen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Der Kollege Werner Schulz vom Bündnis 90/Die Grünen hat seine Rede zu Protokoll gegeben. Als nächster Rednerin gebe ich das Wort der Kollegin Petra Pau von der PDS-Fraktion.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Nooke, zwei Botschaften bzw. Anliegen des CDU/CSU-Antrages teile ich ausdrücklich. Es stimmt: Eine Gesamtkonzeption für die Gedenkstätten steht aus. Eine langfristige und damit auch perspektivgebende Finanzierung ist nicht geklärt. Ausgangs- und auch Zielpunkt Ihres Antrages greifen aber meines Erachtens zu kurz. Meine geringe Redezeit ermöglicht es mir nicht, zu den von Ihnen vorgenommenen Gleichsetzungen und Aufrechnungen unterschiedlichen Gedenkens, welche sich aus meiner Sicht verbieten, Stellung zu nehmen. Deshalb möchte ich nur etwas dazu sagen, warum in Ihrem Antrag einiges zu kurz greift. Meines Erachtens geht es eben nicht nur um die Verwaltung des Gedenkens und um das Erhalten von Gedenkstätten; vielmehr wird es sehr lange, nämlich Zeit ihres Bestehens, auch um wissenschaftliche Begleitung und um Aufarbeitung gehen. Das muss Bestandteil einer Gesamtkonzeption und eines Finanzierungskonzeptes sein. ({0}) Sie sollten den Fokus Ihrer Betrachtung erweitern. Wo ist das Haus am Checkpoint Charlie mit dem, was es in dieser Topographie des Gedenkens zu leisten hat? ({1}) Was ist mit der inzwischen abgeschlossenen Markierung des Grenzverlaufs in der Innenstadt? Auch hierzu gehört eine Begleitung, eine Erklärung - nicht nur für die vielen Gäste dieser Stadt, sondern vor allen Dingen auch für die nachwachsenden Generationen. Selbst wir fragen uns doch heute, wenn wir an diesen Orten sind: Wie war denn das damals? Wir haben kaum noch Erinnerungen. Was machen wir mit unseren Kindern und unseren Enkeln? Auf welche Art und Weise können wir ihnen das erfahrbar machen, was nicht mehr sinnlich erfahrbar ist? Auch ein paar Sünden gehören dazu. Kollege Nooke, es reicht nicht auf die Bundesregierung oder auf Teile des Berliner Senates zu schauen. Wenn ich mich recht entsinne, dann hat den Abriss des Wachtturms am Checkpoint Charlie genauso wie den Abriss des Turmes am Potsdamer Platz ein CDU-geführter Berliner Senat zu verantworten. ({2}) Wenn über ein Gesamtkonzept geredet wird, dann sollten wir uns auch mit der gesamten Geschichte und den Zeugen, die noch zur Verfügung standen, auseinander setzen. In der Konzeption der Gedenkstättenlandschaft müssen strukturelle Defizite behoben werden. Ein Vorschlag für die weitere parlamentarische Behandlung: Lassen Sie uns doch über eine Stiftung des Bundes nachdenken! Lassen Sie uns darüber beraten, was machbar ist, möglichst in Verbindung mit dem Forschungsverbund der Freien Universität „SED-Unrechtsregime“! Ich denke, das wäre wünschenswert, damit wir nicht immer wieder dann, wenn ein Problem auftaucht, über Stückwerk debattieren müssen. Danke schön. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4641 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll abweichend von der Tagesordnung beim Ausschuss für Kultur und Medien liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung 4. Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kulturpolitik 1999 - Drucksache 14/4312 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({0}) Auswärtiger Ausschuss Sportausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt - es handelt sich um die Reden der Kolleginnen Monika Griefahn, Rita Süssmuth,1) Rita Grießhaber, Ulrich Irmer, Dr. Heinrich Fink und Staatsminister Dr. Zöpel - zu Protokoll genom- men werden.2) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4312 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ({1}), Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Soziokultur - Drucksachen 14/1575, 14/4020 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über meinen Parlamentarischen Geschäftsführer habe ich Ihren gut gemeinten Hinweis erhalten, Herr Präsident, dass auch in der Hälfte der mir zustehenden Redezeit dieses Thema Ihrer Einschätzung nach erschöpfend zu behandeln sei. Die Wahrheit ist, dass sicherlich nicht nur nach der Wahrnehmung der im Bereich der Soziokultur engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch die doppelte Redezeit nicht ausreichen würde, ({0}) die vielfältigen Aspekte angemessen darzustellen, mit denen sich der Deutsche Bundestag wenn überhaupt, dann eher zu selten als zu häufig beschäftigt. Deswegen hoffe ich, mir Ihr Wohlwollen nicht gänzlich zu verscherzen, wenn ich Ihnen feierlich zusage, mich um eine Kürzung der vorgegebenen Redezeit zu bemühen, auch wenn ich vielleicht nicht ganz die von Ihnen vorgegebene Maßeinheit erreiche. ({1}) - Mindestens der erste Teil war offenkundig auch von den Koalitionsfraktionen nicht zu beanstanden. Vielleicht hält sich das so; das wollen wir einmal abwarten. Jedenfalls bin ich für den nächsten Teil auch ganz zu- versichtlich. Ich möchte nämlich die erste Gelegenheit 1) Redebeitrag wird in einem späteren Bericht abgedruckt. 2) Anlage 6 nutzen, bei einer kulturpolitischen Debatte im Deutschen Bundestag den neuen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Namen meiner Fraktion herzlich zu begrüßen. ({2}) - An diese Konstellation werden Sie sich ohnehin gewöhnen müssen, Herr Nida-Rümelin, dass die Ausführungen der Opposition jedenfalls in Kultur und Medienfragen regelmäßig stürmischen Beifall insbesondere Ihrer Koalitionsfreunde erzeugen. Das mag die bei Ihnen ohnehin sicherlich hinreichend vorhandene Motivation zur Übernahme des Amtes weiter stabilisieren. Ich wiederhole, was ich bereits im Ausschuss gesagt habe: Wir sind zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bereit. Konstruktiv heißt: Wir werden immer dann hart streiten, wenn es uns als notwendig erscheint; aber wir werden uns in Zukunft wie in der Vergangenheit darum bemühen, dass dabei nicht der Streit zur Hauptsache wird, sondern die Sache Hauptsache bleibt, und dass dieses gemeinsame Ringen am Ende die Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten der Kultur vergrößert. ({3}) - Gäbe ich der Versuchung nach, auf diesen Zwischenruf einzugehen, Herr Kollege Hirche, würde dies die gut gemeinten Bemühungen um Kürzung der Redezeit vollends atomisieren. Deswegen bitte ich um Verständnis, dass ich das nicht tue. ({4}) Ich sehe für eine solche auch in Zukunft enge Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinweg insgesamt gute Voraussetzungen, übrigens auch bei diesem Thema, zumal die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich auf eine frühere Anfrage der damaligen Opposition und auf die seinerzeitige Antwort der damaligen Bundesregierung Bezug nimmt. Um auch an dieser Stelle die Kontinuität kulturpolitischer Bemühungen im Protokoll festzuhalten, weise ich darauf hin, dass die Bundesregierung Wert darauf legt, dass die in der seinerzeitigen Antwort der damaligen Bundesregierung vorgenommenen Bewertungen hinsichtlich der Bedeutung der Soziokultur und ihrer Legitimation innerhalb des kulturellen Lebens unverändert Gültigkeit besitzen. Nun ist das vielleicht nicht so sonderlich aufregend, weil man sich über die Überschriften immer leichter als über das Eingemachte einigt. Wir haben im Übrigen nicht nur, aber auch bei diesem Thema das bekannt delikate Verhältnis unterschiedlicher Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Deswegen freue ich mich ganz besonders, dass zur Verdeutlichung unseres Interesses an einer konstruktiven, unverkrampften und nicht ideologisch bornierten Zusammenarbeit von Bund und Ländern der Staatsminister für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Freistaates Bayern die Mühe nicht gescheut hat, an dieser Debatte teilzunehmen, und damit unser Interesse an einem konstruktiven Verhältnis der Zusammenarbeit eindruckvoll unterstreicht. ({5}) - Ich bin schon über das Wort „auch“ ganz gerührt, weil es ein Maß an Selbsterkenntnis deutlich macht, das nicht in jeder Debatte bei Ihren Zwischenrufen, Herr Tauss, zu erkennen war. Wir haben die Große Anfrage zum Thema Soziokultur am 7. September 1999 eingebracht. Die Bundesregierung hat zweimal um Fristverlängerung gebeten und nach zehnmonatiger Bearbeitung dieses Themas endlich ihre Antwort vorgelegt. Dies könnte zwei Schlussfolgerungen nahe legen. Die eine Schlussfolgerung ist die, dass das frühere Lieblingsthema sozialdemokratischer Kulturpolitik in der neuen sozialdemokratischen oder rot-grünen Wahrnehmung von Kulturpolitik den Stellenwert nicht mehr hat, der über viele Jahre behauptet wurde. Die andere denkbare Interpretation könnte sein, dass man sich so nachhaltig und so gründlich um möglichst materialreiche Informationen zum Gegenstand bemühen wollte, dass dies einen so ungewöhnlich langen Beantwortungszeitraum erfordert hat. Ich entnehme Ihrer Gestik, Herr Staatsminister, dass Ihnen die zweite Interpretation viel besser gefällt als die erste. Das überrascht mich nicht. Meine Vermutung ist, dass es vielleicht eine Kombination des einen mit dem anderen sein könnte. Denn ich will gar nicht bestreiten, sondern will im Gegenteil mit Respekt anerkennen, dass die Antwort der Bundesregierung eine ganze Reihe von Zahlen, Daten und Fakten enthält, wie man das mit gutem Recht von der Beantwortung einer Großen Anfrage einer Fraktion in diesem Hause erwarten kann. Gleichwohl bleiben die daraus gezogenen Schlussfolgerungen deutlich nicht nur hinter den Erwartungen zurück, die wir als Opposition gegenüber den Auskünften der Bundesregierung haben, sondern ganz offenkundig auch hinter den Erwartungen und Ansprüchen, die im Bereich der Soziokultur und der soziokulturellen Zentren bei der Behandlung dieses Themas bestehen. In den kulturpolitischen Mitteilungen der Kulturpolitischen Gesellschaft gibt es eine interessante Beurteilung dieses Dokuments. Unter der Überschrift „Loblied auf die Soziokultur“ bemüht sich der Autor Norbert Sievers um eine Bewertung der Auskünfte der Bundesregierung. Ich darf einen Satz, der aus meiner Sicht ein Schlüsselsatz ist, vortragen - ich zitiere mit freundlicher Genehmigung des Herrn Präsidenten -: Insgesamt liegt mit der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zum Thema Soziokultur eine sehr informative und in den Aussagen der Bundesregierung positive Stellungnahme vor, die für Interessenten zur Lektüre und für die Akteure zur politischen Legitimationsarbeit empfohlen werden kann, auch wenn sie der Soziokultur in der Sache nicht sehr weiterhilft. So zeigt sich die Bundesregierung geDr. Norbert Lammert genüber den steuerpolitischen Forderungen und arbeitsmarktpolitischen Anregungen sehr reserviert. ({6}) Ohne jedes Tremolo in der Stimme: Sosehr ich die Bemühungen um Klärung von Sachfragen würdige, so dürftig scheinen mir und offenkundig auch vielen in der Szene die Schlussfolgerungen zu sein, die daraus gezogen werden. Natürlich kommt es auf Letzteres mindestens so sehr an wie auf Ersteres. Dass hier die Bundesregierung eine Verantwortung hat, entspricht auch ihrer eigenen Wahrnehmung. Denn in der Antwort der Bundesregierung wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass hier nicht nur eine besondere Verantwortung von Ländern, Städten und Gemeinden bestehe, sondern dass - ich zitiere - „die Bundesregierung entsprechende Initiativen, Einrichtungen und Projekte im Rahmen ihrer Zuständigkeit sowie ihrer gesamtstaatlichen Aufgaben, insbesondere bei der Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen für das kulturelle Schaffen, unterstützen kann“. Wir hätten uns gewünscht und werden auch darauf bestehen, dass da nachgearbeitet wird, dass an dieser Stelle die eigene Verantwortung nicht nur rhetorisch reklamiert, sondern auch mit Initiativen unterlegt wird. Davon kann nachweislich dieses Papiers bislang leider noch keine Rede sein. ({7}) Ich will das an einigen wenigen Punkten verdeutlichen, verehrte Kolleginnen und Kollegen. Die Bundesregierung weist darauf hin, dass sich die Soziokultur als ein dynamisch entwickelndes Praxisfeld, das auf eigenständige Weise Kultur, Soziales und Kunst zu verknüpfen sucht und das mit der Forderung, Kulturpolitik und Querschnittsaufgaben zu verstehen, Ernst macht, inzwischen etabliert hat, dass sie inzwischen ein mehr oder weniger selbstverständlicher Bestandteil der Kulturszene geworden ist. Dem wollen wir nicht widersprechen. Aber auch hier bleibt die Frage offen, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden und ob insbesondere das Verständnis der jetzigen wie der damaligen Bundesregierung in der Kulturarbeit vor Ort, also auch und gerade auf der kommunalen Ebene, eine entsprechende Resonanz gefunden hat. Unser begründeter Eindruck ist, dass dies an manchen Stellen noch nicht der Fall ist. Ich stehe gar nicht an einzuräumen, dass das auch für manche unionsgeführten Kommunen gilt, bei denen hinsichtlich des Stellenwertes der Arbeit der Soziokultur und soziokultureller Zentren immer wieder Überzeugungsarbeit geleistet werden muss. ({8}) Ein zweiter Punkt, den ich anführen möchte, ist die zu Recht erfolgte freundliche Würdigung der ehrenamtlichen Tätigkeit, ohne die die Arbeit in den allermeisten dieser soziokulturellen Zentren ganz gewiss nicht möglich wäre. ({9}) - Ich bedanke mich für die Zustimmung aus den Reihen der Koalition. ({10}) Ich will nur darauf hinweisen - zumal uns das Thema Ehrenamt in diesem Jahr in vielfältigen Varianten begleiten wird -, dass wir allesamt damit nicht das Missverständnis verbinden dürfen, dass die beliebige Belastung ehrenamtlich Tätiger an die Stelle von professionellem Engagement bzw. öffentlicher Förderung treten dürfte. Deswegen stehen wir gerade hier - zumal sowohl die alte als auch die neue Bundesregierung einen solchen Stellenwert der Soziokultur ausdrücklich bestätigen - in einer gemeinsamen Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dieser Stellenwert in der operativen Kulturpolitik seinen Niederschlag findet. Dritte Bemerkung. Es ist ganz sicher kein Zufall und auch ausdrücklich nicht falsch, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort darauf hinweist, dass die Soziokultur und ihre Einrichtungen in einer Zeit gefährlicher gesellschaftlicher Entwicklungen, wie Gewaltbereitschaft, Arbeitslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit und Generationenkonflikte, viele hilfreiche und unterstützende Arbeiten leisten. Das ist ohne Zweifel zutreffend. Auffällig ist, dass an dieser wie an mancher anderen Stelle die Aufgaben der Soziokultur und ihrer Zentren im allgemeinen gesellschaftlichen Bereich sehr viel stärker akzentuiert werden als in dem Bereich, den sie im Namen führen und mit dem sie mal mehr und mal weniger erfolgreich Förderansprüche geltend machen, nämlich im Bereich der Kulturarbeit. Viertens. Ich will auch ein praktisches Problem ansprechen, ohne den Punkt verallgemeinern zu wollen: Unter der Vielzahl der Zentren - es sind weit über 400, die wir inzwischen in der Bundesrepublik haben - mit ganz unterschiedlichen, zum Teil auch im Jahresverlauf wechselnden Schwerpunkten gibt es vielerlei Aktivitäten, die mit Kultur nur noch ganz wenig, mit Gesellschaftspolitik ganz viel zu tun haben und von denen manche meinen, dass das in einem demokratischen Staat immer legitime Interesse an Organisation von Demonstrationen auch gegen demokratisch zustande gekommene Ratsentscheidungen aus Kulturmitteln gefördert werden müsste. Das halte ich nun allerdings sowohl für eine Übertreibung als auch für ein Missverständnis der Aufgabe von Soziokultur und von soziokulturellen Zentren. Ich entnehme dem strahlenden Lächeln meines Kollegen Barthel, dass auch an dieser Stelle eine nahtlose Übereinstimmung zwischen der Opposition und der Mehrheitsfraktion im Deutschen Bundestag besteht. Das erleichtert die Arbeit des neuen Staatsministers ungemein; ({11}) denn er braucht gar nicht zu überprüfen, ob die gut gemeinten Empfehlungen der Opposition auch im eigenen Lager Unterstützung finden. Ich habe schon darauf verwiesen, dass der richtige Hinweis auf die besondere Verantwortung von Ländern und Kommunen nicht zu einer Abstinenz des Bundes führen darf, schon gar nicht dann, wenn eigene Gestaltungsmöglichkeiten ausdrücklich eingeräumt werden. Ich will deswegen nur stichwortartig darauf hinweisen, dass beispielsweise die Förderung über Modellprojekte durchaus möglich ist. Das möchte ich vor allen Dingen auch ausdrücklich für den fünften Punkt reklamieren, nämlich für den Qualifikationsbedarf, der hier sowohl bei hauptamtlichen als auch insbesondere bei ehrenamtlichen Mitarbeitern ganz sicher besteht. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, ob und wie hier etwa über Modellprojekte eine Unterstützung der kommunalen Arbeit erfolgen kann. Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass die Bundesregierung wiederum grundsätzlich zutreffend, wie ich glaube, auf die wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Effekte der Soziokultur und der Arbeit in soziokulturellen Zentren verweist. Hier fällt allerdings auf, dass es überhaupt keine Zahlen und Daten gibt, auf denen sich diese positive Einschätzung der Beschäftigungswirkung gründet. Diese Daten liegen entweder nicht vor oder sie sind nicht aufgearbeitet. Hier scheint mir ein sinnvolles Feld der kulturwissenschaftlichen Expertise zu liegen. Auch angesichts der Bundesforderung, die inzwischen für das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft vereinbart worden ist, bestehen sicher Möglichkeiten, über die Arbeit solcher Initiativen etwas mehr Klarheit zu gewinnen, auch über die tatsächlichen Wirkungen für Beschäftigung und Wachstum. Ich fasse zusammen. Wir haben die Große Anfrage auch und gerade deswegen eingebracht, weil sich Kulturpolitik - auch Kulturpolitik des Bundes - nicht auf preußischen Kulturbesitz, auf die Berliner Opernkrise, auf die eine oder andere mit Glanz und Gloria versehene kulturpolitische Initiative und auch nicht auf die Bemühungen um einen möglichst angemessen dotierten Hauptstadtkulturvertrag reduzieren darf. Wir wollten mit dieser Großen Anfrage die Aufmerksamkeit auch auf einen oft vernachlässigten, jedenfalls nicht im Mittelpunkt stehenden Bereich der Kulturpolitik lenken, in dem im Übrigen insgesamt gesehen mindestens so viele Menschen direkt und indirekt beschäftigt oder beteiligt sind wie in den großen, glanzvollen Kultureinrichtungen. Deswegen, verehrter Herr Staatsminister und liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt: Wer Kultur für alle möglich machen will, muss sich besonders um den Teil der Kulturszene kümmern, von dem wenig Glanz und noch weniger Gloria zu erwarten ist, aber in dem die Voraussetzungen für Nachhaltigkeit auch in der Kulturpolitik geschaffen werden. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Lammert, ich darf Sie vielleicht doch darauf hinweisen, dass Redner nicht der Zustimmung des Präsidenten bedürfen, um Zitate vorzutragen. Ich glaube, diese Entscheidung wurde schon in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts getroffen und sollte eigentlich allgemein bekannt sein.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bitte ausdrücklich um Nachsicht, dass ich für die völlig unnötige Bitte um Genehmigung unnötige Redezeit in Anspruch genommen habe. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Er hat seine Zeit ausgeschöpft. Als nächste Rednerin hat die Kollegin Hanna Wolf von der SPD-Fraktion das Wort.

Hanna Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte dem Herrn Staatsminister im Namen meiner Fraktion einen guten Start hier im Deutschen Bundestag wünschen. Ich freue mich natürlich als Münchener Abgeordnete, dass er aus München kommt. Diese Bemerkung darf erlaubt sein. ({0}) Bevor ich auf den Begriff „Soziokultur“ eingehe, möchte ich zunächst einen Dank aussprechen. Ich möchte all denen danken, die in diesem Bereich arbeiten und durch ihr Engagement und ihr Schaffen Soziokultur verkörpern. ({1}) Ein ganz besonderer Dank gilt den vielen Freiwilligen und Ehrenamtlichen. Ich stimme Herrn Lammert zu: Ohne sie wäre diese Arbeit nicht machbar. Deswegen gilt ihnen an erster Stelle mein Dank. ({2}) Die Bundesregierung schätzt die Soziokultur und fördert diesen Beitrag zur Zivilgesellschaft, soweit es ihr verfassungsrechtlich möglich ist. Ich bin Ihnen, Herr Lammert, sehr dankbar, dass Sie und Ihre Fraktion diese Große Anfrage gestellt haben. Haben wir doch jetzt Gelegenheit, wenn auch etwas spät, hier noch einmal auf die Bedeutung von Soziokultur hinzuweisen. Der Begriff entstand in den 70er-Jahren als Folge der Studentenbewegung und anderer sozialer Bewegungen, wie zum Beispiel auch der Frauenbewegung. Unter ihr verstand man zunächst eine Gegenbewegung zum bürgerlichen Kulturbetrieb und wollte vor allem Kultur für alle fördern und praktizieren, die kreative Selbstständigkeit möglichst vieler Menschen fördern, den Zugang zu Kunst und Kultur erleichtern und die Kultur wieder in die gesellschaftliche Wirklichkeit des Alltagslebens einbinden. Das Motto „Kultur für alle“ sollte helfen, auch so genannte kulturferne Bevölkerungsschichten an der Kultur teilhaben zu lassen. Ich glaube, das ist mit ihrer Arbeit gelungen. Heute besteht die Gefahr, dass sich Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus, Generationenkonflikt und Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft ausbreiten. Die soziokulturelle Arbeit wird von daher immer wichtiger. ({3}) Heute gibt es insgesamt 80 Verbände. Allein 383 Einrichtungen sind in der Bundesvereinigung soziokultureller Zentren organisiert, 300 Einrichtungen im Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen, aber dazu kommen auch kommunikations-, medien- und museumspädagogische Einrichtungen. Die Zentren unterscheiden sich schon strukturell von den Kultureinrichtungen der so genannten Hochkultur. Ihre Arbeitsansätze und inhaltlichen Schwerpunkte richten sich zum Beispiel nach folgenden Grundsätzen: Betonung des erweiterten Kulturbegriffs, Förderung der künstlerischen Eigenbetätigung, Integration verschiedener Altersgruppen, Förderung von Frauenkultur, Einbeziehung sozialer und ethnischer Minderheiten, Gewährleistung von demokratischen Organisationsformen und selbstverwalteten Entscheidungsstrukturen. Unsere Verfassung teilt die Pflege von Kunst und Kultur - also auch die Förderung der Soziokultur - den Ländern und Kommunen zu. Die kulturpolitischen Zielsetzungen und Maßnahmen des Bundes konzentrieren sich daher vor allem auf die Verbesserung und Fortentwicklung der Rahmenbedingungen, den Aufbau und die Förderung gesamtstaatlich bedeutsamer kultureller Einrichtungen und die Bewahrung des kulturellen Erbes. Der Bund kann also die Soziokultur nur im Rahmen der Zuteilung an Fonds und im Rahmen der Modellförderung bedenken. Modellförderung heißt in der Konsequenz aber auch, dass die Länder und Kommunen eine Anschlussförderung für Folgeprojekte bereitstellen. Die Zentren selbst rufen keineswegs nach einer Überversorgung mit öffentlichen Geldern. Sie sind ihrerseits auch auf ihre finanzielle Eigenständigkeit bedacht, um ihr Prinzip der Selbstständigkeit zu leben. Allerdings darf das „Nagen am Hungertuch“ nicht so weit gehen, dass um der Eigenwirtschaftlichkeit willen wichtige, kostenträchtige Programmbereiche zurückstehen oder sogar entfallen. ({4}) Die Zentren erwirtschaften fast die Hälfte ihres Etats selbst. Ein Viertel kommt von den Kommunen, ein Zehntel von den Bundesländern und vom Bund kommen aus den schon erwähnten Gründen 0,25 Prozent. Die einzelnen Bundesländer bewerten die Bedeutung der soziokulturellen Zentren sehr unterschiedlich. Gerade die neuen Bundesländer - dies möchte ich besonders herausstellen - schätzen diese Einrichtungen besonders hoch ein, da hier vor allem in der Jugendbildung ein großer Bedarf an kulturpolitischer Arbeit besteht. ({5}) Beim statistischen Ländervergleich fällt allerdings auf - jetzt ist Minister Zehetmair leider nicht mehr anwesend, ich war schon erstaunt, dass er zu diesem Thema kommt -, dass Bayern kein einziges soziokulturelles Zentrum fördert. ({6}) Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass es hier nur zwölf Zentren gibt, gerade einmal so viel wie im kleinsten Bundesland Bremen. ({7}) Diese zwölf Zentren werden ausschließlich von den Kommunen gefördert. ({8}) So zahlt die Stadt München für den soziokulturellen Bereich fast 1 Million DM. Es lohne nicht, Anträge an den Kultusminister Zehetmair zu stellen, so hört man aus der soziokulturellen Praxis. Es gebe ja doch kein Geld. ({9}) Das ist nicht nur peinlich, es ist auch beschämend in einer Zeit, in der in der übrigen Bundesrepublik mit den Mitteln der Soziokultur gegen den drohenden Rechtsradikalismus vorgegangen wird. ({10}) Ganz anders dagegen Brandenburg und Sachsen. In Brandenburg wird der Stellenwert der Soziokultur besonders hoch bewertet. Die soziokulturellen Zentren werden als ein bedeutender, Demokratie bildender, gesellschaftspolitischer Faktor gerade in der Jugendbildung angesehen. Der Landesanteil Brandenburgs an der Förderung liegt durchschnittlich bei 35 Prozent. In Sachsen gibt es 47 Mitgliedseinrichtungen der Bundesvereinigung. Die Zentren sind sowohl kulturelle Dienstleister als auch Orte für gesellschaftspolitische, soziale und stadtentwicklungspolitische Fragestellungen. In der Bundesrepublik Deutschland sind die soziokulturellen Zentren inzwischen flächendeckend verbreitet. Sie sind kein Phänomen von Großstädten mit studentischem Milieu. ({11}) Hanna Wolf ({12}) Diese Zentren gehören inzwischen zur Grundausstattung der kulturellen Infrastruktur. - Wieso „im Gegenteil“, Frau Kollegin? Ich will ja gerade betonen, dass es überall welche gibt. Denn in der Großen Anfrage wurde auch gefragt, ob es sie nur in den Großstädten gibt. Die Antwort lautet: Nein. Rund 51 Prozent der Mitgliedseinrichtungen der Bundesvereinigung befinden sich in Städten mit über 100 000 Einwohnern. In Klein- und Mittelstädten und im ländlichen Raum haben sich in den letzten zehn Jahren soziokulturelle Zentren gebildet. Sie sind hier häufig der alleinige Anbieter von kulturellen Veranstaltungen und Aktivitäten und erfüllen als einzige die Aufgabe der kulturellen Grundversorgung. Der Erfolg der soziokulturellen Zentren zeigt sich auch an der wachsenden Zahl der Besucher und Besucherinnen. Seit 1994 hat sich die Zahl um 35,3 Prozent erhöht, obwohl nur 6,2 Prozent mehr Zentren gebaut wurden. Im Schnitt kamen 1998 auf jedes Zentrum 59 000 Besucher. In Ostdeutschland haben allein 5,3 Millionen Menschen die Zentren der Bundesvereinigung besucht. Ich finde, dies ist eine herausragende Zahl. ({13}) Die Bekämpfung von Gewaltbereitschaft und Ausländerfeindlichkeit ist der Bundesregierung besonders wichtig. Sie hat daher noch im Jahr 2000 erhebliche Fördermittel für Modellprojekte bereitgestellt, die sich mit dem Thema „Kultur und Konflikt“ beschäftigen. ({14}) Die Soziokultur hat eine emanzipatorische und integrative Wirkung, die sich aus ihrem freiheitlichen und demokratischen Ansatz entwickelt hat. Ich freue mich daher, dass Staatsminister Nida-Rümelin heute in seiner ersten Rede im Deutschen Bundestag zu diesem Thema sprechen wird. ({15}) Die soziokulturellen Zentren freuen sich natürlich über die Würdigung ihrer Arbeit. Dies geschieht heute Abend. Aber sie erwarten auch, dass in einer komplizierter werdenden Lebenswelt die finanzielle Ausstattung auf die entsprechend komplizierter werdenden Aufgaben zugeschnitten wird. Ich kann die Länder nur auffordern - der Bund ist natürlich auch gemeint -, diese Politik im Sinne des Kulturföderalismus nachhaltig zu unterstützen. Dabei appelliere ich besonders an diejenigen Länder, die sich wie Bayern bisher vornehm zurückgehalten haben. Vom Erfolg der Soziokultur profitieren wir schließlich alle. Vielen Dank. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch im Namen der F.D.P.-Fraktion möchte ich Ihnen, Herr Staatsminister Professor Nida-Rümelin, sehr herzlich zu Ihrer Ernennung gratulieren. Ich wünsche Ihnen für Ihre sicherlich nicht ganz einfache Aufgabe eine energische wie auch glückliche Hand. ({0}) Der Begriff „Soziokultur“ ist einem Kommunalpolitiker, der in den westdeutschen Bundesländern in den 70erund 80er-Jahren aktiv gewesen ist, ganz selbstverständlich geworden. Dieser Begriff entwickelte sich mit der Arbeit der soziokulturellen Zentren, die in vielen Städten und Gemeinden damals sozusagen als Kontrapunkt zu der etablierten Kulturarbeit entstanden sind, die damals noch eine hohe Zugangsschwelle aufwies. Die Soziokultur verstand sich als kulturelle Einrichtung für alle gesellschaftlichen Gruppen und stand vor allem auch für die Einbeziehung sozialer und ethnischer Minderheiten. ({1}) An dieser Konzeption hat sich bis heute nichts grundlegend geändert. Sie ist aber in dem Maße weiterentwickelt worden, wie es notwendig war. Immerhin besuchen jährlich etwa 22 Millionen Bürger die Veranstaltungen in soziokulturellen Zentren wie Konzerte, Ausstellungen, Kurse und Seminare. Der Bedarf an solchen Veranstaltungen, aber auch die Inanspruchnahme steigen. Daran sieht man, dass soziokulturelle Zentren ein ganz selbstverständlicher Bestandteil der kulturellen Infrastruktur von Kommunen sein müssen. So wird es auch in der Antwort auf die Große Anfrage formuliert. Die Statistiken, die ebenfalls in der Antwort aufgeführt werden, zeigen aber ein etwas anderes Bild. Soziokulturelle Zentren sind noch nicht ein selbstverständlicher Bestandteil kultureller Infrastruktur. In vielen Bereichen unseres Landes fehlen sie. Damit fehlt ein wichtiges Stück alltagsorientierter und lebensweltorientierter Kulturarbeit in den Gemeinden, die heute in einem sich sehr stark verändernden kulturellen Umfeld wichtiger denn je wird. ({2}) Diese Zentren stehen in Konkurrenz zu einer immer stärker werdenden Event-Kultur. Wir leben in der Zeit der Globalisierung der Märkte und der Mediatisierung. Natürlich ist auch die Kultur von dieser Entwicklung betroffen. Die Frage ist nur, ob am Ende dieses Prozesses eine kommerzielle World Culture steht, deren Grundgesetz das Wettbewerbsrecht, deren Verfassungsgericht die World Trade Organization und deren Souverän Aktionäre sind, oder ob wir eine Weltkultur im Sinne Goethes erhalten, die Ausdruck nicht nur wirtschaftlichen Erfolges, sondern bedeutender humanitärer und künstlerischer Leistungen aus dem Geist eigenständiger Kulturen ist. ({3}) Soziokultur erfährt vor dem Hintergrund der Globalisierung eine neue und bisher weder in der Großen Anfrage noch in der Antwort auf diese Anfrage diskutierte BedeuHanna Wolf ({4}) tung. Im Mikrokosmos der Kommunen, der Stadtteile und der Bezirke von Städten setzen soziokulturelle Zentren einen individuell- und gruppenorientierten kreativen Gegenpol zur globalisierten Massenkultur. Die Globalisierung lässt Normen durch rasch wechselnde Informationslagen und durch undurchsichtige Verflechtungen erodieren. Bei immer mehr Menschen wächst damit das Verlangen nach Orientierung, nach neuen Angeboten und nach neuen Erfahrungen. Allerdings wächst in gleichem Umfang offensichtlich auch das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen, nach Spiritualität ohne Religion und nach Esoterik. ({5}) - In der Tat, Frau Kollegin, nach Esoterik. Gerade diese letzten Tendenzen bergen allerdings die Gefahr einer Fundamentalisierung. Das schafft einen Gegenpol und bedeutet eine zusätzliche Aufgabe für die Arbeit in den soziokulturellen Zentren. Das Angebot von Kulturarbeit, die auf Werten und Normen aufbaut und damit zur Schaffung und zum Leben von Werten und Normen beitragen kann, und die freie Beschäftigung mit Kultur in Sozial- und Jugendpflege können entscheidend dazu beitragen, den fundamentalen Ansprüchen vorzubeugen. ({6}) Kultur ist das Gegenmittel zu Intoleranz und Hass. ({7}) Kulturaustausch ist der Weg zu Weltoffenheit und Toleranz. Deswegen erfahren soziokulturelle Zentren gerade in dieser globalisierten Welt eine neue Bedeutung. Vor diesem Hintergrund erfährt auch die Finanzierung von Soziokultur eine neue Dimension. Richtig ist natürlich, dass dies zuvörderst eine Aufgabe der Kommunen ist. Dennoch stellt die Bundesregierung Mittel bereit und hat offensichtlich vor, diese zu erhöhen; wir begrüßen das. Nicht eingegangen ist die Bundesregierung aber auf das, was in dieser Situation für den Fortbestand und die Arbeit der soziokulturellen Zentren von entscheidender Bedeutung ist, nämlich eine Definition steuerlicher Rahmenbedingungen, die sie leben lässt, und zwar steuerlicher Rahmenbedingungen sowohl für den wirtschaftlichen Betrieb - Frau Kollegin Wolf hat eben schon darauf hingewiesen, dass über 50 Prozent der Finanzierung aus Eigeneinnahmen erfolgen; das bedeutet, dass hier ganz dringend steuerliche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, damit diese Eigeneinnahmen in der Kulturarbeit eingesetzt werden können - als auch für die Künstler. Das ist eine Aufgabe, die die Bundesregierung noch vor sich hat. Wenn sie sie in Angriff nehmen will, wird sie von uns die entsprechende Unterstützung erfahren. Ich denke, das ist notwendig. Danke schön. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Christian Simmert vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Christian Simmert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003237, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auch im Namen meiner Fraktion den Herrn Staatsminister hier willkommen heißen und hoffe, dass wir in diesem Haus - nicht nur heute, sondern auch in Zukunft - eine gute Debatte und eine Reihe von spannenden Diskussionen haben werden und zu guten Entscheidungen kommen werden. Soziokulturelle Zentren bieten einen Raum für die gegründete Initiative und für das Theaterprojekt genauso wie für politische Debatten. Herr Lammert, wenn das dazu führt, dass daraus das demokratische Recht eines friedlichen Protestes entwickelt werden kann, dann begrüße ich das im Hinblick auf die Stärkung der Zivilgesellschaft. So viel zu Ihrem Einwurf, dass man das nicht unter dem Label Kulturfinanzierung laufen lassen könne. Politische Debatten - dies macht auch die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage deutlich - spielen natürlich eine Rolle. Die soziokulturellen Zentren sind heute ein Bestandteil der Demokratiebewegung von unten, ein Beweis für Selbstorganisation und gelebtes Miteinander. Es handelt sich dabei vor allem um einen Bereich, der bis heute neue Möglichkeiten des Mit- und Nebeneinanders schafft, um einen Bereich, der neue Arbeitsstrukturen in der Selbstorganisation so weit wie möglich beibehalten hat, aber auch um einen Bereich im Spannungsfeld zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen, zwischen autonom und eingebunden in staatliche Förderstrukturen, zwischen Bedarfsorientierung und lang entwickeltem politischen Anspruch. Diese Gratwanderung spiegelt sich auch in ihrem Verhältnis zur staatlichen Anbindung generell wider. Deshalb müssen wir differenziert mit den soziokulturellen Zentren umgehen. Als regionalgesellschaftliche Motoren sollen die Zentren möglichst aus Eigeninitiative entstehen und ihr Angebot an der Nachfrage der Menschen ausrichten. Deshalb dürfen sie auch nicht mit möglichst bundesweit abgefragten Kriterien und Vorhaben zugeschüttet werden. Sie brauchen aber gleichzeitig Planungssicherheit. Obwohl vielerorts die ehemals bisweilen doch recht konflikthafte Beziehung zu den kommunalen Parlamenten inzwischen einer guten Kooperation mit Kultur- und Jugendhilfeausschüssen gewichen ist, fehlt es oftmals an längerfristigen Zusagen über das aktuelle Haushaltsjahr hinaus. Beauftragte für Soziokultur zum Beispiel wären für die Zentren sicherlich eine große Hilfe. Bei der Landesförderung sieht es oftmals ähnlich aus. Das Land Bayern - wir haben es gerade schon gehört kennt die Soziokultur gar nicht und setzt stattdessen auf Projektförderung bestimmter Sparten im kulturellen Bereich wie Musik oder Theater. Dies wird sich nun, liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU, die leider heute hier nicht so zahlreich anwesend sind, nach der Beratung dieser Anfrage hoffentlich ändern. Doch Planungssicherheit im Sinne der Sicherstellung einer notwendigen Infrastruktur der soziokulturellen Zentren ist Grundlage der Arbeit vor Ort. Bürgerschaftliches Engagement - das macht schließlich circa ein Drittel der Aktiven aus - bedarf der hauptamtlichen Zuarbeit, der festen Arbeits- und damit auch Koordinationsstrukturen. Hauptamtliche brauchen aber auch für sich Planungssicherheit. Zielorientierte Weiterbildung ist hier wichtig. Deshalb möchte ich auch in Zeiten leerer Kassen an die Länder und Kommunen appellieren, diese bürgerorientierten Bereiche der Kulturarbeit wichtig zu nehmen und ihre Existenz sicherzustellen. ({0}) Beispiele für eine mehrjährige Planungssicherheit wie etwa in Essen machen hier Mut und ermöglichen erst eine längerfristig angelegte Stadtteil- und Stadtentwicklungsarbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun sind wir hier nicht in Bayern oder in Nordrhein-Westfalen, sondern im Deutschen Bundestag. Deshalb geht es hier natürlich vor allem um die Rahmenbedingungen der Soziokultur. Die Erfolgsgeschichte der Bottom-up-Kulturlandschaft sollte im Rahmen der Kulturforschung stärkere Beachtung finden. Vor allem aber sollte die Vernetzungsstruktur und damit Verbandskultur der soziokulturellen Zentren sichergestellt werden. Gerade als an der Basis entwickelte Strukturen müssen sich die Zentren austauschen und voneinander lernen, aber auch in gesamtgesellschaftliche Vorhaben integriert werden können. Hier denke ich ganz besonders an einen Punkt, den wir hier im Hause in den letzten Monaten immer wieder diskutiert haben - die Kollegin Wolf hat ihn angesprochen -: die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Fremdenhass in diesem Land. Besonders in den neuen Bundesländern - aber nicht nur dort -, wo nach der Wende viele Strukturen im kulturellen Bereich verschwunden sind, wo sich kaum eine andere am Bedarf vor allem junger Menschen ausgerichtete Angebotsstruktur entwickelt hat, leisten die soziokulturellen Zentren einen absolut wichtigen Beitrag. Dieser Beitrag muss in den von der Bundesregierung neu aufgelegten Programmen natürlich Unterstützung finden. Denn ihre Kulturarbeit nimmt seit gut einem Jahrzehnt eine der größten Herausforderungen dieser Gesellschaft an, nämlich Generationen, Geschlechter und ethnische Minderheiten zusammenzuführen und ihnen Möglichkeiten zur eigenen Verwirklichung zu geben. Die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ stellt sich vielen Fragen, die auch von den soziokulturellen Zentren an die Politik herangetragen werden. Wir wollen klären, wie steuerrechtliche Hindernisse für diese wichtige Kulturarbeit abgebaut werden können. Dazu gehört die Entwicklung von Strategien, um die Zentren möglichst weitgehend auf eigene Füße zu stellen und deshalb zu ermöglichen, erwirtschaftete Überschüsse in andere Bereiche zu überführen. Die Zentren dürfen eben nicht nur irgendwie dem Marktgeschehen überlassen werden. Hier muss die Enquete-Kommission Vorschläge erarbeiten und muss die Politik insgesamt handeln. Wir stehen aber auch grundsätzlich vor der Herausforderung, den Bereich des freiwilligen Engagements in unserem Land neu zu regeln. Die aus grüner Sicht unausweichliche Konversion des Zivildienstes sowie die Bereitschaft vieler junger Menschen zu freiwilligem Engagement machen dies notwendig. Deshalb schlagen Bündnis 90/Die Grünen im Zusammenhang mit einer Ausweitung des freiwilligen sozialen Jahres und des freiwilligen ökologischen Jahres ein freiwilliges kulturelles Jahr als einen wichtigen Lerndienst vor. ({1}) Die Hauptamtlichenstruktur als eine Säule der Arbeit der Zentren muss, wie bereits gesagt, hauptsächlich über die öffentlichen Haushalte der Länder und Kommunen sichergestellt werden. Die Bundesregierung sollte jedoch prüfen, ob die Bundesvereinigung soziokultureller Zentren als Dachverband nicht zum Beispiel im Haushalt der Bundesregierung verstärkt gefördert werden kann, um so auch die Projektfinanzierung zu verstetigen. Sicherlich ist es nicht wünschenswert, die Zentren grundsätzlich der Arbeitsmarktpolitik zu unterwerfen. Es wäre vielmehr wünschenswert, wenn bei der ABM-Zielgruppendefinition der BA der soziokulturelle Bereich benannt werden könnte. Denn Stellen schaffen Kultur und Kultur schafft Stellen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Professor Dr. Heinrich Fink von der PDS-Fraktion das Wort.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße auch die Mitarbeiter des Deutschen Kulturrates und die anwesenden Vertreter der Bundesvereinigung der soziokulturellen Zentren, die heute Abend zu so später Stunde noch hier bei uns sind. ({0}) Staatsminister Nida-Rümelin hat gestern anlässlich seines Introitus im Kulturausschuss erklärt, dass die Soziokultur nicht überflüssig ist. Denn die sozialen und kulturellen Spannungen haben zugenommen. Sie machen es erforderlich, den Anspruch einer Kultur für alle in neuer Weise aufzunehmen. Meine Fraktion begrüßt, dass dieses Thema nun zum Gegenstand der parlamentarischen Debatte auf Bundesebene geworden ist. Der Antwort der Bundesregierung entnehmen wir eine hohe Wertschätzung dieses kulturellen Bereiches und die Absicht, die Soziokultur weiter zu unterstützen. Die beabsichtigte Erhöhung der Mittel für den Fonds „Soziokultur“ ab dem Jahre 2001 ist ein wichtiges förderpolitisches Signal. - So weit das Erfreuliche. Problematisch aber ist die beschönigende Einschätzung der Situation. Die existenziellen Probleme der soziokulturellen Zentren in den Kommunen, die zu Schließungen und zum Abbau von Angeboten vor allem in den neuen Bundesländern führen, bleiben ebenso ausgeblendet wie die Finanz- und Legitimationskrise kommunaler Kulturpolitik. Offen bleibt, wie dieser Bereich perspektivisch gesichert und seiner kulturellen Bedeutung gemäß gefördert werden kann. Die laufende Förderung ist im Wesentlichen Sache der Kommunen und Länder. Aber der Bund setzt die Rahmenbedingungen für deren Arbeit. Es liegt eine ganze Reihe von Reformvorschlägen der Kulturverbände vor, so zum Beispiel zum Steuerrecht, zur Besteuerung ausländischer Künstler und zu den Bedingungen des Ehrenamtes, die, wie ich bisher gehört und gesehen habe, von der Bundesregierung noch nicht aufgegriffen wurden. Die Bundesvereinigung soziokultureller Zentren hat in ihrer Stellungnahme erneut ihre Forderung an die Bundeskulturpolitik formuliert, die wir in wesentlichen Punkten unterstützen. Aus Sicht der PDS ist entscheidend, die Finanzkraft der Kommunen durch eine Gemeindefinanzreform zu stärken. Die Kommunen müssen wieder in die Lage versetzt werden, ihre kulturellen Aufgaben wahrnehmen zu können. Erst auf dieser Grundlage können sie wieder Handlungsspielraum gewinnen und selbstbestimmt darüber entscheiden, wofür sie ihre Mittel ausgeben. ({1}) Wenn die vielgestaltige soziokulturelle Szene freier Träger, die sich in den letzten Jahren auch in den neuen Bundesländern entwickelt hat, weiterhin erhalten bleiben soll, bedarf es einer kontinuierlichen Förderung und einer Verankerung in den kommunalen Etats. Die Probleme mangelnder struktureller Grundsicherung, kurzfristiger Beschäftigungen über ABM-Stellen und des Ehrenamtes als Dauerprovisorien müssen gelöst werden. Auch in diesem Bereich sind feste Stellen erforderlich, um die Kontinuität der Arbeit zu gewährleisten. ({2}) Wir halten es für dringend erforderlich, Lösungen für die Probleme des zweiten Arbeitsmarktes zu finden. Wie Sie wissen, setzt sich die PDS für eine öffentlich geförderte Beschäftigung im sozialen und kulturellen Bereich ein. Im Gegensatz zum instabilen und diskriminierenden Charakter der jetzigen Arbeitsfördermaßnahmen sollen hier Beschäftigungsverhältnisse entstehen, die auf Dauer angelegt sind und nach Tarif bezahlt werden. Von der Bundesregierung erwarten wir, dass sie dem Hohelied auf die Soziokultur entsprechende Taten folgen lässt. Ein wichtiger Schritt zur Unterstützung der soziokulturellen Praxis wäre die institutionelle Förderung der Bundesvereinigung soziokultureller Zentren. Diese war zugesagt. Lösen Sie dieses Versprechen ein! Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat der Staatsminister für Kultur, Herr Nida-Rümelin, das Wort. Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister beim Bundeskanzler ({0}): Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn ich mich nicht irre, wurde heute vor 130 Jahren der preußische König Wilhelm in Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen. Das war erst möglich, nachdem der bayerische König ihm die Kaiserwürde angetragen hat. Ich halte das für eine ganz gute Verbindung und - verstehen Sie die Tendenz, dass sich Bayern offensichtlich in Berlin zunehmend Berliner oder - wenn Sie so wollen preußischen Dienstherren unterstellen, nicht falsch - Bayern und Preußen für unterdessen gleichberechtigt. Das wird auch - so habe ich es verstanden - durch die Anwesenheit des Staatsministers aus Bayern, dort zuständig für Kunst und Wissenschaft, unterstrichen. In den 70er-Jahren hat es einen großen Aufbruch gegeben. Es ist vielleicht nur ein Gebot der Fairness, daran zu erinnern, dass dieser Aufbruch, ein Aufbruch zu neuen Ufern der Kulturpolitik, ein Paradigmenwechsel, politisch sehr umstritten war. Es ging im Kern darum, von einem - ich sage das ganz bewusst, auch wenn ich vielleicht familiär aus einer ähnlichen Tradition komme - bildungsbürgerlich verengten Kulturbegriff wegzukommen und die Partizipation, die Teilhabe oder - so könnte man in einem nächsten Schritt sagen - die kulturelle Verfasstheit dieser Gesellschaft ernst zu nehmen. ({1}) In meinen Augen ist dieser Aufbruch in einem Maße erfolgreich gewesen, wie es wohl die Protagonisten dieser Zeit selbst kaum gemeint haben. Da will ich vielleicht noch etwas deutlicher werden als in der Ihnen schriftlich vorliegenden Antwort der Bundesregierung. Alle statistischen Daten zeigen, dass die kulturelle Partizipation der Bevölkerung in Deutschland in einem Maße angestiegen ist - und dass das letztlich eine Folge dieser Jahre des Aufbruchs ist -, wie wir alle es im Grunde - oder die, die damals aktiv waren - nicht haben erhoffen können. Das ist erst mal ein toller Erfolg, ein Erfolg der Kulturpolitik insgesamt in Deutschland. ({2}) Drei Dinge sind wesentlich für mich und ich habe - auch aus zweieinhalb Jahren Kulturpolitik in der Kommune München - den Eindruck, dass das unterdessen eine Art politischer Konsens ist: zum Ersten erweiterter Kulturbegriff, also nicht die besagte Engführung, zum Zweiten als ein zentrales Ziel - und das hängt mit dem ersten zusammen - Partizipation, die Einbeziehung auch derjenigen, die von ihrer Sozialisation, von ihrem sozialen Hintergrund her Zugangsbarrieren vor den kulturellen Angeboten überwinden müssen, und schließlich - und das wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten immer wichtiger werden - der Aspekt der kulturellen Integration. In einem Land, das so stark wie das unsere von Einwanderung geprägt war - das ist unterdessen auch weithin anerkannt - und in Zukunft von mehr Einwanderung geprägt sein wird, ist das eine Herausforderung an die Kulturpolitik insgesamt. ({3}) Mein Eindruck ist, dass die Soziokultur die Grundlage für ein solches Verständnis kultureller Integration gelegt hat. Jetzt bringe ich noch ein Aber. Dieses Aber nehme ich sehr wichtig, es darf aber auch nicht missverstanden werden. Wenn Sie zurückblicken, stellen Sie fest: Seit den 70er-Jahren hat es mehrere Versuche gegeben, die Kulturpolitik zu instrumentalisieren. Ich halte keinen dieser Versuche für die Kultur, für die Rolle der Kunst, auch dem Stellenwert, den Kultur in der Lebensform jedes Bürgers und jeder Bürgerin einnimmt, angemessen, ({4}) weder die ökonomische Instrumentalisierung, die wir vor allem aus den 80er- und den frühen 90er-Jahren sehr stark in Erinnerung haben - der Standortfaktor Kultur kann nicht alles sein; es kann ein Randaspekt sein, ist aber nicht das zentrale Moment -, noch die soziale Instrumentalisierung. Kultur legitimiert sich nicht lediglich dadurch, ein soziales Bindemittel zu sein und die Beteiligung an kulturellen Einrichtungen zu erleichtern. ({5}) Meine Vorredner haben die wesentlichen Daten schon genannt. Es kann keine Rede davon sein, dass die Soziokultur ihren Höhepunkt etwa überschritten habe und ihre Bedeutung nun wieder zurückgehe - die Daten sind in der Antwort enthalten -: Es gibt ein Plus von 30 Prozent zwischen 1994 und 1998 auf 22 Millionen Besucher und eine Gesamtförderung in Höhe von 160 Millionen DM. Eine Zahl aber ist nicht genannt worden und die finde ich faszinierend: Bei dem Gesamt der kulturellen Angebote in den Kommunen, in den Ländern und auch im Bund sind die Adressaten in der Tendenz älter als der Bevölkerungsdurchschnitt. Daneben gibt es eine spezifische Förderung der Jugend- und Kinderkultur, also der Phase der kulturellen Entwicklung, die noch sehr stark von der Familie geprägt ist. Die Jahre dazwischen - also von etwa 15 bis 30 Jahren - sind für die Kulturpolitik nicht so stark prägend. Typischerweise entfernen sich diese Jahrgänge stärker von den kulturellen Angeboten der Kommunen und der Gemeinden. Auch dazu gibt es Daten, allerdings nicht in dieser Antwort. Das Interessante ist, dass 50 Prozent der Besucher soziokultureller Einrichtungen zwischen 15 und 30 Jahre alt sind. Das ist ein weit überproportionaler Anteil an der Bevölkerung. Das ist ein großes Kompliment für die kulturellen Einrichtungen, die der Staat anbietet. ({6}) Es ist von den Gefahren gesprochen worden und es wurde zu Recht darauf hingewiesen, man solle beachten, dass gerade die Einrichtungen der Soziokultur unter den in den Kommunen gegebenen beengten Bedingungen oft in Schwierigkeiten geraten. Darauf ist nur am Rande eingegangen worden, aber ich möchte das in Erinnerung rufen. Auch dieser Punkt ist in der Antwort enthalten. Es gibt eine spezifische Herausforderung, die ich darin sehe, dass der Markt Angebote unterbreitet, die er früher nicht unterbreitet hat. Das kann man erst einmal begrüßen. Es ist gut, wenn der Markt kulturelle Angebote macht, die auch nachgefragt werden. Darin liegt aber auch eine Gefahr. Und zwar könnte das öffentliche Gut Kultur - öffentliches Gut heißt auch zugängliches Gut, ein Gut, das für alle gleichermaßen zugänglich ist - zu einem teilbaren, zu einem individuellem Gut werden, das je nach Geldbeutel konsumiert wird; bitte erlauben Sie diesen unpassenden Begriff. ({7}) Deswegen halte ich es für ganz wichtig, dass man die soziokulturellen Zentren angesichts dieser Konkurrenz stärkt. ({8}) Ich möchte drei Stichworte zu den Perspektiven nennen. Erstens. Viele soziokulturelle Einrichtungen bedürfen heute der professionellen Unterstützung in einem höheren Maße, als das in der Vergangenheit der Fall war eine Erfahrung, die ich auch in München gemacht habe. Das hängt auch mit dem Verhalten der Bürgerinnen und Bürger zusammen, die langfristige Bindungen und Engagement in der Form, wie wir das aus der Vergangenheit kannten, so nicht mehr praktizieren. Als Stichwort ist also Teilprofessionalisierung zu nennen. Zunehmende Professionalisierung in diesen Einrichtungen wiederspricht nicht dem zivilgesellschaftlichen Gedanken. Als zweites Stichwort ist die interkulturelle Verständigung zu nennen. Interkulturelle Verständigung ist eine ganz wichtige Aufgabe soziokultureller Zentren, und zwar nicht in dem kollektivistischen Verständnis, dass sich Gruppen begegnen. Es begegnen sich immer einzelne Bürgerinnen und Bürger. ({9}) Keine Klischees, keine simplen, oft auf Folklore verkürzten Verständnisse der kulturellen Herkunft, sondern die Begegnung der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer jeweiligen kulturellen Vielfalt stehen im Vordergrund. Zum Dritten möchte ich schließlich etwas ansprechen, das weit über den Bereich der Soziokultur hinausreicht. Durch die stärkere Integration gerade der zeitgenössischen, oft unbequemen Kunst müssen neue inhaltliche Impulse in die Lebenswelt der Bürgerschaft ausgesendet werden. Das kann nirgendwo besser als in solchen soziokulturellen Zentren geleistet werden. ({10}) Staatsminister Dr. Julian Nida-Rümelin Weil dies der Beginn einer Zusammenarbeit ist, erlauben Sie mir zum Schluss, dass ich drei Stichworte für die Kulturarbeit und die Kulturpolitik generell aufgreife, die auch für die Soziokultur eine wichtige Rolle spielen. Das eine ist - darum muss es uns gemeinsam gehen -, die Balance zwischen Repertoire und Innovation zu wahren oder, wo sie nicht besteht, wieder herzustellen. Wir müssen aufpassen, dass die Fortentwicklung der Künste keinen Fadenriss bekommt. Es gibt Sparten, um die ich mir Sorgen mache, zum Beispiel E-Musik. Also: Innovation stärken. Das Repertoire ist stark, muss aber natürlich gefördert werden. Wir müssen aufpassen, dass wir die zeitgenössische Kunstentwicklung nicht aus dem Blick verlieren. ({11}) Zweites Stichwort: Die eigentlichen Protagonisten der Kultur sind die Künstlerinnen und Künstler. Sie schaffen und arbeiten unter oft sehr schwierigen Bedingungen. Es besteht nach wie vor ein krasses Missverhältnis zwischen dem expandierenden Markt mit künstlerischen Produkten auf der einen Seite und den Existenzbedingungen der vielen, der großen Mehrzahl der Künstlerinnen und Künstler in diesem Land auf der anderen Seite. Ich glaube, die Förderung der eigentlichen Protagonisten der Kultur muss im Mittelpunkt jeder Kulturpolitik stehen. ({12}) Letztes Stichwort: Zivilgesellschaft. Sie wurde heute schon angesprochen. In den soziokulturellen Zentren ist ein Ferment zivilgesellschaftlichen Engagements. Sie stehen an der Schnittstelle zwischen Staat und bürgerschaftlichem Engagement. Ohne staatliche Unterstützung würden viele soziokulturelle Zentren nicht existieren können. Das heißt, sie sind gewissermaßen ein Angebot in der demokratischen Gesellschaft an die Bürgerschaft und an den Staat, zusammenzuwirken, um diese Form von Kooperationen aufrechtzuerhalten. Die Zivilgesellschaft ist etwas, das gerade unter den erschwerten Bedingungen von Desintegration und sozialer Marginalisierung besonders auch in den Städten bedroht ist. Die Zivilgesellschaft muss das aushalten und Gegenkräfte entwickeln. ({13}) Die Kulturpolitik - auch die Kulturpolitik des Bundes wird, so hoffe ich, dazu beitragen. Ich jedenfalls freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit Ihnen. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Staatsminister, ich beglückwünsche Sie im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede vor dem Deutschen Bundestag. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Eine Abstimmung steht nicht an, da es sich um die Beratung einer Großen Anfrage handelt. Deshalb rufe ich jetzt die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b sowie den Zusatzpunkt 7 auf: 20a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 14/5066 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Hans-Joachim Otto ({2}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Reform der Künstlersozialversicherung gerecht gestalten - Drucksache 14/4929 ({3}) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Heinrich Fink, Dr. Heidi Knake-Werner, Pia Maier, Maritta Böttcher und der Fraktion der PDS Für eine grundlegende Reform der Künstlersozialversicherung - Drucksache 14/5086 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({5}) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Auch hier gibt es eine Vereinbarung, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden. Ich setze Ihr Einverständnis voraus. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Angelika Krüger-Leißner, Andreas Storm, Dr. Antje Vollmer, Dr. Irmgard Schwaetzer, Heinrich Fink und der Parlamentarischen Staatssekretärin Ulrike Mascher.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/5066, 14/4929 neu und 14/5086 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Christina Schenk, Dr. Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke, Staatsminister Dr. Julian Nida-Rümelin 1) Anlage 7 weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur beruflichen Gleichstellung von Prostituierten und anderer sexuell Dienstleistender - Drucksache 14/4456 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Gesundheit Es werden eine Reihe von Reden zu Protokoll gegeben, nämlich die der Kolleginnen Anni Brandt-Elsweier, Margot von Renesse, Ilse Falk, Irmingard Schewe-Gerigk und Ina Lenke.1) Die Kollegin Christina Schenk von der PDS-Fraktion wird ihre Rede halten. Frau Schenk, bitte.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Prostitution ist in Deutschland nicht verboten, aber nach wie vor als Beruf nicht anerkannt. Wir haben es mit einer Doppelmoral zu tun, die Prostituierte heimlich begehrt und zugleich öffentlich verschmäht. Mehr als eine Million Männer und auch einige Frauen nehmen täglich die Dienste von Prostituierten in Anspruch; unter ihnen Banker, Bauarbeiter und Politiker. Allein stehende Männer gehören genauso zu den Kunden wie verheiratete Familienväter. Jährlich werden in diesem Bereich etwa 12,5 Milliarden DM umgesetzt. Der Staat hält das Steuersäckel offen und verdient kräftig mit. Ich erinnere mich noch gut an die Debatte zu diesem Thema in der vergangenen Legislaturperiode. Unter den damaligen Oppositionsparteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS herrschte Einigkeit darüber, dass die Diskriminierung der beruflichen Tätigkeit von Prostituierten beendet werden müsse. Selbst vonseiten der CDU wurde die Doppelmoral beklagt. Entsprechend hoffnungsvoll las sich dann auch die rot-grüne Koalitionsvereinbarung, in der versprochen wurde, die rechtliche und soziale Situation von Prostituierten zu verbessern. Leider ist es bei den Willensbekundungen und Ankündigungen geblieben. Daher hat die PDS einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die berufliche Anerkennung von Anbietern sexueller Dienstleistungen vorsieht. Zunächst wird in dem Gesetzentwurf klargestellt, dass das Verdikt der Sittenwidrigkeit für sexuelle Dienstleistungen nicht zutrifft, indem diese in das Dienstvertragsrecht des BGB eingeordnet werden. Damit wären die zwischen Prostituierten und Freiern geschlossenen Verträge ebenso rechtswirksam wie die über die Erbringung anderer Dienstleistungen. Des Weiteren sollen alle strafrechtlichen Sondervorschriften gestrichen werden, die die freie Berufsausübung von Prostituierten und Strichern behindern bzw. verhindern. Aufgehoben werden sollen auch die Sperrgebietsverordnung und das Werbeverbot für Prostitution. Die Beseitigung der rechtlichen Diskriminierung von Prostituierten ist lange überfällig. Erst vor kurzem hat ein Berliner Gericht klargestellt, dass Prostitution nicht länger als sittenwidrig gelten kann. Es hatte im Vorfeld seiner Urteilsfindung Stellungnahmen von einer Vielzahl von gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen eingeholt. Die Antworten - seien es die vom Deutschen Juristinnenbund, von der Industrie- und Handelskammer oder von der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen - haben die Richter zu dem Schluss geführt, dass Prostitution heute von der Mehrheit der Bevölkerung als „Teil unseres Zusammenlebens“ akzeptiert wird. Das deckt sich mit Umfrageergebnissen aus dem Jahr 1999, nach denen mehr als 68 Prozent der Bundesbürger und Bundesbürgerinnen eine rechtliche Anerkennung von Prostituierten befürworten. Die notwendige Akzeptanz für ein solches Gesetzesvorhaben ist also da. Das Problem ist klar und die Lösung liegt auf der Hand. Wir haben es - so meine ich - in diesem Fall mit einer rechtlich durchaus übersichtlichen und nicht sonderlich komplizierten Materie zu tun. Ich habe deshalb überhaupt kein Verständnis für weitere Verzögerungen. Die Huren und Stricher erwarten, dass endlich etwas geschieht. ({0}) Ich bedaure auch, dass von den anderen Fraktionen die Reden zu Protokoll gegeben worden sind und somit das Angebot zu einem ersten Austausch über unseren Gesetz- entwurf von Ihnen ausgeschlagen wird. Das Problem ist: Noch immer gilt Prostitution als sit- tenwidrig - mit den allgemein bekannten Folgen: Prosti- tuierte dürfen zwar Steuern auf ihre Arbeit zahlen, können aber nicht ihren Lohn einklagen. Sie müssen gegen Vor- kasse arbeiten, weil sie im Nachhinein gegen den Freier keinerlei Ansprüche haben. Ein Freier, der die Prostitu- ierte um das vereinbarte Entgelt prellt, macht sich nicht einmal wegen Betruges strafbar. Prostituierte können keine regulären Arbeitsverträge mit Clubs oder Bordellen abschließen und der Zugang zu den Sozialkassen ist ihnen verwehrt. Diverse Strafvorschriften, die vorgeblich die Frauen vor Ausbeutung schützen sollen, bewirken genau das Gegenteil: Die Bordellbetreiberin, die für gute Ar- beitsbedingungen sorgt, macht sich strafbar. Da reicht es schon, wenn im Zimmer ein Waschbecken vorhanden ist oder Kondome - ein sicherlich unerlässliches Arbeitsmit- tel - bereitliegen. Hingegen genießt der Betreiber eines Eros-Centers, der lediglich eine überhöhte Zimmermiete kassiert und sonst nichts leistet, den Schutz der Rechts- lage und bleibt straffrei. Die Sperrgebietsverordnung, die es den Gemeinden gestattet, Prostitution auf bestimmte Straßenzüge oder Gebiete zu begrenzen, drängt Prostituierte und Stricher geradezu in die Hände von Zuhältern und abzockenden Hausbesitzern. Besonders pikant ist, dass Prostituierte aufgrund des Werbeverbotes in ihren Anzeigen nicht ein- mal darauf hinweisen dürfen, dass sie ausschließlich Safer Sex praktizieren. Ich fordere insbesondere Sie, meine Damen und Her- ren von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen, auf, endlich zu Potte zu kommen, entweder etwas Eigenes vor- zulegen oder sich intensiv mit dem Gesetzentwurf der PDS zu befassen. Ich persönlich bin davon überzeugt, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms 1) Anlage 8 dass unser Gesetzentwurf die Basis für die weiteren Beratungen darstellt und unter Umständen sogar die Basis für einen gemeinsamen, parteiübergreifenden Konsens, wie er sich bereits in der 13. Legislaturperiode abgezeichnet hat, sein kann. In diesem Sinne kann ich Ihnen versichern: Die PDS ist zu einer zügigen Beratung in den Ausschüssen bereit. Wir erwarten, dass bald etwas geschieht. Danke. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/4456 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Hildebrecht Braun ({0}), Rainer Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Senkung des Entgelts für die Beförderung von Briefsendungen im Geltungsbereich der Exklusivlizenz nach § 51 Postgesetz - Drucksache 14/4417 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Hierzu werden die Reden zu Protokoll gegeben, und zwar die von den Kollegen Klaus Barthel ({1}), Elmar Müller ({2}), Rainer Funke, Gerhard Jüttemann, der Kollegin Michaele Hustedt1) sowie des Parlamentarischen Staatssekretärs Siegmar Mosdorf. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4417 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({3}), Wolfgang Zeitlmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Personenstandsgesetzes - Drucksache 14/4425 ({4}) Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Reden sind zu Protokoll gegeben, und zwar die des Kollegen Harald Friese und der Kolleginnen Renate Diemers, Irmingard Schewe-Gerigk, Ina Lenke und Hei- demarie Lüth.2) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/4425 ({6}) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes und der Bundespflegesatzverordnung ({7}) - Drucksache 14/5082 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Auch hier werden die Reden zu Protokoll gegeben, und zwar die der Kollegen Horst Schmidbauer ({8}), Dr. Hans Georg Faust, Dr. Dieter Thomae und der Kollegin- nen Katrin Göring-Eckardt und Dr. Ruth Fuchs.3) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5082 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 19. Januar 2001, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.