Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich schwöre, dass
ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widVizepräsidentin Anke Fuchs
men, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden,
das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und
verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und
Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.
Frau Bundesministerin, Sie haben den Eid geleistet. Ich gratuliere Ihnen sehr
herzlich und wünsche Ihnen Glück und Erfolg zum Wohle
der Menschen in unserem Land.
({0})
Ich danke Ihnen,
Frau Präsidentin.
Ich darf nun Frau
Bundesministerin Ulla Schmidt bitten, zur Eidesleistung
zu mir zu kommen. Ich bitte Sie, den Eid zu leisten.
({0})
Ich
schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen
Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm
wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes
wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So
wahr mir Gott helfe.
Frau Bundesministerin, Sie haben den im Grundgesetz vorgesehenen Eid
geleistet. Ich darf auch Ihnen Glück und Erfolg zum
Wohle der Menschen in unserem Lande wünschen. Alles
Gute!
({0})
Danke.
Jetzt hat der Herr
Bundeskanzler auch gemerkt, für wen die Blumen waren.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir können nun mit
der Arbeit beginnen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 h auf:
a) Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Verkehrsbericht 2000 - Integrierte Verkehrs-
politik: Unser Konzept für eine mobile Zukunft
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Renate Blank, Norbert Königshofen, Dirk Fischer
({1}), weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU
Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur
- Drucksachen 14/1877, 14/3193 -
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Straßenbaubericht 1998
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Angelika Mertens, Hans-Günter Bruckmann,
Dr. Peter Danckert, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({3}), Franziska
Eichstädt-Bohlig, Winfried Hermann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS-
SES 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Straßenbaubericht 1998
- Drucksachen 14/245, 14/2576, 14/3844 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Mertens
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Angelika Mertens, Hans-Günter
Bruckmann, Dr. Peter Wilhelm Danckert, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Albert Schmidt ({5}),
Franziska Eichstädt-Bohlig, Winfried Hermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Anti-Stau-Programm
- Drucksachen 14/3179, 14/4009 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Renate Blank
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({6})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried
Wolf, Christine Ostrowski, Eva BullingSchröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Flächenhafter Ausbau der Schienenwege im
Bereich Nordbayern, Hessen, Thüringen und
Sachsen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert
Otto ({7}), Dirk Fischer ({8}),
Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU
Weiterbau des Verkehrsprojektes Deutsche
Einheit ({9}) Nr. 8 - Schienenneubaustrecke
Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin
- zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika
Mertens, Hans-Günter Bruckmann, Dr. Peter
Danckert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert
Schmidt ({10}) Franziska EichstädtBohlig, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thüringen/Nordbayern im Rahmen des Verkehrsprojektes Deutsche Einheit ({11}) Nr. 8
Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin
- zu dem Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich
({12}), Hans-Michael Goldmann, Dr.
Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Ja zur Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leipzig-Berlin
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Ausbau der Schienenwege 1999
- Drucksachen 14/2525, 14/2692, 14/2906,
14/2914, 14/2176, 14/4340 Berichterstattung:
Abgeordneter Helmut Wilhelm ({13})
f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Verkehrsbericht 2000
Integrierte Verkehrspolitik: Unser Konzept für
eine mobile Zukunft
- Drucksache 14/4688 ({14}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({15})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
g) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Ausbau der Schienenwege 2000
- Drucksache 14/4048 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, Heidi
Lippmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Interregio für die Regionen erhalten
- Drucksache 14/4543 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({17})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Zum Verkehrsbericht 2000 liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Kurt
Bodewig, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe neue Ministerkolleginnen!
Ich darf Sie gleich bei dieser ersten Gelegenheit ganz
herzlich beglückwünschen.
({0})
Die Probleme in der Verkehrspolitik haben heute eine
besondere Qualität.
({1})
Aber auch die Lösungen, die wir anzubieten haben, haben
eine besondere Qualität. Sie werden ja sehr gespannt
darauf sein. Im Titel des Verkehrsberichts haben wir das
mit den Schlagworten „Integrierte Verkehrspolitik: Unser
Konzept für eine mobile Zukunft“ festgehalten.
Der Verkehrsbericht stellt eine umfassende Bestandsanalyse der Entwicklung des Verkehrs und der Mobilität
in Deutschland dar. Vor allem aber beschreibt er unser integriertes Verkehrskonzept. Das ist das Neue. Hierin
unterscheiden wir uns deutlich von Ihrer Politik.
({2})
Dieser Bericht ist notwendig; unser verkehrspolitisches Erbe ist ja bekannt:
Erstens nenne ich den völlig unterfinanzierten Bundesverkehrswegeplan von 1992.
({3})
Zweitens. Die Bahnreform wurde nicht mit den erforderlichen Investitionen unterfüttert.
Drittens. Sie haben es zugelassen und befördert, dass
Großprojekte der Bahn schöngerechnet und Milliardenlöcher verschwiegen oder beschönigt wurden. Ich glaube,
dass es ein ganz fataler Fehler war, dass Sie wichtige Warnungen in den Wind geschlagen haben.
({4})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Viertens. Es gab kein schlüssiges Konzept für den
Flughafenstandort Deutschland.
Fünftens. Die alte Bundesregierung hat Mitte der 90erJahre zu viele Spatenstiche gemacht und zu wenig für den
Erhalt der Verkehrsinfrastruktur getan. Ich selbst kenne
einige Baustellen, die, obwohl die Spatenstiche schon vor
einigen Jahren erfolgten, immer noch darauf warten, dass
Bagger kommen. Diesem Missstand werden wir jetzt abhelfen.
({5})
Die Bagger werden kommen, weil die Straßen gebaut
werden müssen, damit die Bürger entlastet werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen, dass eine
Politik, die für eine leistungsfähige Infrastruktur sorgt,
eine gute Wirtschaftspolitik und damit auch eine vorausschauende Sozialpolitik ist; denn wir sichern Wohlstand
und Beschäftigung. Infrastrukturinvestitionen sind
hierfür der entscheidende Schritt. Dies galt und gilt vor allem für die neuen Länder. Natürlich werden wir auch in
der Verkehrspolitik den Aufbau Ost fortsetzen. Dafür haben Sie in Ihrer Regierungszeit einen wichtigen Grundstein gelegt. Wir werden die Infrastrukturentwicklung in
den neuen Ländern vorantreiben und wir werden alles
daransetzen, um die Gleichheit der Lebensbedingungen
herzustellen.
({6})
Deshalb haben wir unser Konzept für eine integrierte
Verkehrspolitik entwickelt. Die moderne Gesellschaft ist
eine mobile Gesellschaft. Die einfachste und wichtigste
Frage für den Bürger lautet: Wie komme ich von A nach B?
({7})
- Das ist eine schlichte Frage, Herr Kollege Oswald; die
Antwort ist aber zum Teil komplex und mitunter schwierig.
({8})
- Ich würde mich freuen, wenn Sie zuhörten. Vielleicht
können Sie auch etwas lernen.
({9})
Die Antwort wird nur mit intelligenten Lösungen gegeben werden können. Die enge Verbindung von Mobilität und Wohnen, von Stadtentwicklung und Verkehr
macht die Dimension dieses Problems deutlich. So ist der
öffentliche Personennahverkehr für die Zukunft der
Städte und Ballungszentren von großer Bedeutung. Wer
wüsste das besser als wir? Mir ist auch wichtig festzustellen: Das Fahrrad wird bei der Vermeidung motorisierten Individualverkehrs in den Städten ebenfalls eine
eigenständige Rolle spielen.
({10})
Es muss klar sein: Nur wenn wir alle Verkehrsträger in
die künftige Verkehrspolitik einbeziehen, wird die Entwicklung, die auf uns zukommt, zu bewältigen sein. Auf
den Punkt gebracht: Mobilität beginnt im Kopf.
Deshalb ist der Verkehrsbericht ein Angebot an alle, an
Konzepten mitzuarbeiten und Kreativität und intelligente
Lösungen in diesem Haus gemeinsam zu entwickeln. Ich
denke, diese Innovationsbereitschaft sollte bei allen
Voraussetzung sein. Wir werden dies gemeinsam umsetzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Verkehr wird
weiter wachsen. Wirtschaftliche Entwicklung, E-Commerce, Internethandel, europäische Integration und Osterweiterung der EU lassen für die nächsten Jahre ein erhebliches Verkehrswachstum erwarten. Wir gehen bis
zum Jahre 2015 von folgenden Zahlen aus: Der Personenverkehr nimmt um rund 20 Prozent zu, der Güterverkehr um rund 64 Prozent. Dies ist eine deutliche Steigerung und dies bedeutet, dass wir alle daran arbeiten
müssen, diese Entwicklung gemeinsam zu bewältigen.
Bis zum Jahre 2015 werden wir im Güterverkehr Verkehrsleistungen haben, die voraussichtlich 600 Milliarden
Tonnenkilometer betragen werden. Dies ist eine ungeheure Steigerung.
Damit ist klar: Wir brauchen eine verkehrs- und investitionspolitische Steuerung. Klar ist aber auch: Es gibt
keine Alternative zu Sicherung und Ausbau der Infrastruktur. Wir wissen, dass der Ausbau des Autobahnnetzes
nicht unbegrenzt möglich ist. Das gilt vor allem für die
Ballungsräume. Hier ist der Verkehr aber am größten und
die Kapazitätsgrenzen sind am deutlichsten. Deshalb
müssen wir jede Stärke des einzelnen Verkehrsträgers
besser nutzen und besser ausgestalten. Ich möchte, dass
wir alle Innovationspotenziale, die modernen Technologien, die Steuerung und die Lenkung zusammenführen
und nutzen. Schließlich müssen wir alle sinnvollen Konzepte umsetzen, um da, wo es möglich und effizient ist,
Verkehr zu vermeiden.
Das bedeutet: Verkehrspolitik ist immer auch Bestandteil einer modernen Politik für Stadtentwicklung und
Raumordnung. Dies sage ich nicht nur als Verkehrsminister und als Bauminister, sondern auch als Infrastrukturminister. Es wird die entscheidende Frage der
Zukunft sein, ob uns diese Integration gelingt.
({11})
Nach der Analyse stehen wir vor den Fragen: Wie wollen wir die Mobilität dauerhaft sichern? Wie wollen wir
ihre Effizienz und Umweltverträglichkeit gewährleisten?
Mit dem Verkehrsbericht geben wir die Antworten.
Ich beginne mit dem schwierigsten Thema. Zur effizienten Nutzung aller Verkehrsträger gehört ein zukunftstaugliches Konzept zur Weiterentwicklung der Bahnreform. Angesichts der Kapazitätsprobleme muss die
Schiene deutlich mehr Verkehr aufnehmen. Dazu ist sie
heute nicht fähig. Das System Schiene muss besser und
schneller werden. Dies wird die Zukunftsaufgabe sein.
Das Netz ist an vielen Stellen dringend sanierungsbedürftig. Da in der Vergangenheit die erforderlichen Mittel
nicht zur Verfügung gestellt wurden, musste es zwingend
zu Hunderten von Langsamfahrstellen kommen. Diese
werden wir jetzt beseitigen.
({12})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass hier umgesteuert werden muss, war uns klar. Der Bund hat seine Verantwortung wahrgenommen. Er hat umgesteuert. Wir
werden die Investitionen in die Schiene auf rund 9 Milliarden DM pro Jahr erhöhen. Damit haben wir die Investitionen in Schiene und Straße auf gleiche Höhe gebracht.
Wir erfüllen damit ein wichtiges Ziel unserer Koalitionsvereinbarung. Ich denke, dies ist ein Grund, positiv in die
Zukunft zu schauen.
Deshalb hat mir auch die Haushaltsrede im vergangenen Jahr sehr viel Spaß gemacht; denn es ist heute nicht
einfach, einen Rekordhaushalt vorlegen zu können. Das
bereitet immer wieder Vergnügen. Dieses Vergnügen habe
ich gerne. Ich hoffe, es wird mir auch in den kommenden
Jahren zuteil.
({13})
Neben den Investitionen brauchen wir auch ordnungspolitische Maßnahmen. Unser Ziel ist es, mehr
Verkehr auf die Schiene zu bringen. Ich rede hier bewusst
von der Schiene und nicht von der Bahn, weil ich glaube,
dass das System Schiene gestärkt werden muss, wenn wir
wollen, dass der Güterverkehr auf der Schiene in den
nächsten 15 Jahren verdoppelt wird. Dies wird nur gelingen, wenn wir mehr Wettbewerb auf der Schiene realisieren. Monopole sind nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen
in Europa nicht den Kampf der Giganten, sondern die Ergänzung durch den Aufbau mittelständischer Strukturen
auf der Schiene.
Es gibt hier eine Reihe von positiven Beispielen. Ich
nenne nur sektoral aus dem Chemiebereich die BASF. Sie
hat mit rail4chem ein eigenes System entwickelt, das
funktioniert und auch ökonomisch tragfähig ist.
Es gibt aber auch im Personenverkehr in den neuen wie
in den alten Bundesländern sehr viele Beispiele. Denken
Sie hier nur an die Nord-West-Bahn Niedersachsen. Sie
hat seit November 2000 mit 300 Kilometern das größte
private Regionalnetz im Personenverkehr. Sie hat nur ein
Problem: Sie kann die Nachfrage kaum bewältigen. Ich
würde mich freuen, wenn ich solche Probleme öfter auf
dem Tisch hätte.
({14})
Die entscheidende Frage lautet: Wie garantieren wir
den Wettbewerb und wie garantieren wir, dass Wettbewerb tatsächlich stattfindet? Nun gibt es einige, die glauben, die Patentlösung zu haben: die Trennung von Netz
und Betrieb als Heilsbotschaft. Ich fordere da lieber Sorgfalt statt Aktionismus.
Wir brauchen zunächst einmal eine effektive Wettbewerbsaufsicht. Dazu novellieren wir das Eisenbahngesetz. Wir werden dem Eisenbahn-Bundesamt die Kompetenz für die Wettbewerbsaufsicht geben. Über weitere
Schritte werden wir gegebenenfalls beraten und entscheiden.
Ich sage ganz klar: Eine Trennung von Fahrweg und
Betrieb schließe ich nicht aus. Wie wir in Zukunft mit
Netz und Betrieb umgehen, ist für mich keine ideologische Frage. Entscheidend ist, wie wir mehr Verkehr auf
die Schiene bringen. Daran werden wir all unsere politischen Entscheidungen messen.
({15})
Die Zukunft der Schiene und der Erfolg der Bahnreform erfordern allerdings auch den Beitrag der Bahn
selbst. Ich glaube, dass dies dem Vorstand, aber auch den
Beschäftigten sehr wohl bewusst ist. Die Bahn weiß, dass
Modernisierung und Sanierung Hand in Hand gehen müssen. Für mich sind deswegen Bürgerbahn und Börsenbahn
Scheinalternativen. Meine Vision ist die Kundenbahn.
Letztendlich wird der Kunde über die Zukunft der Bahn
entscheiden und die Bahn wird diese Entscheidung positiv gestalten können, wenn sie pünktlich, preiswert und attraktiv ist. Der Kunde wird über die Annahme dieses
wichtigen Verkehrsmittels entscheiden. Wir haben die
Aufgabe, die Infrastruktur sicherzustellen. Dieser Verpflichtung kommen wir nach.
Die Bahn wird sich verändern. Nur wenn sie sich ändert, hat sie Zukunft. Wer aber jetzt Beschwerde führt,
weil der Bahnchef neue, effiziente Modelle entwickelt,
wird genauso wenig die Zukunft der Bahn sichern wie
diejenigen, die nur mehr Geld vom Staat fordern. Das sind
nicht die richtigen Wege.
Richtig ist, wenn wir Konzepte stützen. Aber diese
Konzepte müssen dem Kunden nahe gebracht werden.
Das habe ich Herrn Mehdorn in aller Klarheit gesagt.
Neue Konzepte müssen mit dem Kunden besprochen werden; denn - das spielt auch beim Interregio eine Rolle auch die Länder sind Kunden. Dies sollte der Bahn bewusst sein.
Es ist richtig, Neues zu wagen. Richtig ist der neue
Weg eines marktorientierten Cargo-Konzeptes der Bahn.
Wo die Bahn nicht fährt, erhalten mittelständische Strukturen neue Wettbewerbschancen. Wir werden sie darin
unterstützen.
({16})
Die Schiene - ich sage bewusst „Schiene“ und nicht
„Bahn“ - muss mehr Verkehr aufnehmen. Ich habe es
eben schon deutlich herausgestellt. Sie muss mit Spediteuren, mit privaten Regional- und Verkehrsbahnen und
mit der Binnenschifffahrt zusammenarbeiten. Der kombinierte Verkehr, die Verbindung von Straße und
Schiene, aber auch Wasserstraße, muss mobilisiert werden. Was wir in Zukunft bewältigen müssen, erfordert die
optimale Ausgestaltung aller Verkehrsträger. Wir werden
sie in Angriff nehmen. Dass es für kombinierte Verkehre
einen Markt gibt, zeigen Initiativen privater Firmen, zum
Beispiel firmeneigene KV-Terminals. Wenn diejenigen,
die ein ökonomisches Interesse haben, kombinierten Verkehr betreiben, ist dies das beste Beispiel dafür, dass sich
dieser rechnet. Auch dies muss herausgestellt werden.
Neben der Modernisierung muss die Bahn ihren Sanierungsprozess konsequent fortsetzen. Wir werden den
Konsolidierungsprozess der Bahn begleiten. Ich habe
dazu eine Arbeitsgruppe mit den Staatssekretären des Finanz- und des Wirtschaftsministeriums sowie meines
Hauses eingesetzt. Wir werden diesen Konsolidierungsprozess auch als Eigentümer der Bahn sehr genau betrachten.
Aber eines will ich herausstellen: Wir haben nicht die
unternehmerische Verantwortung; sie liegt beim Vorstand
der Bahn. Wir haben aber die Verantwortung für die öffentlichen Gelder, die hier eingesetzt werden. Diese Verantwortung werden wir wahrnehmen.
({17})
Mit den von uns eingeleiteten Maßnahmen werden wir
die Schiene in den nächsten Jahren deutlich stärken. Dies
ist dringend erforderlich, weil auch die Straße an die
Grenzen ihrer Kapazität gekommen ist. Es ist deutlich
- ob man das hören will oder nicht -: Die Straße ist der
Verkehrsträger Nummer eins. Wir haben hier eine Infrastrukturverantwortung, die wir wahrnehmen werden. Das
Auto ist für viele Menschen ein Stück mobile Freiheit.
Auch dies ist richtig. Nichtsdestotrotz: Intelligente Verkehrssysteme werden dazu führen, dass eine optimale
Struktur geschaffen wird und sich die Menschen dafür
entscheiden, den für den jeweiligen Anlass richtigen Verkehrsträger zu nutzen. Deswegen gehe ich auch mit diesem Verkehrsmittel ideologiefrei um. Wir haben das Auto,
wir haben die Straßen. Wir haben hier eine Infrastrukturverantwortung, die wir wahrnehmen werden.
Ich sage gleichzeitig: Wir haben auch eine Verantwortung für die Sicherheit im Straßenverkehr. Der hohe Wert
der Mobilität wird sich nur halten lassen, wenn wir einerseits den Verkehrsfluss dauerhaft ermöglichen und andererseits ein hohes Maß an Sicherheit gewährleisten. Mit
einem Verkehrssicherheitsprogramm, das wir in den
nächsten Wochen vorstellen werden - ich freue mich auf
Ihre Anregungen hierzu -, werden wir dieses wichtige
Ziel gemeinsam erreichen. Angesichts der großen Zahl
von Verkehrstoten, die wir leider noch immer haben, ist
diese Verantwortung von uns allen gemeinsam zu tragen.
({18})
Aufgrund Ihrer Sicht durch die ideologisch gefärbte
Brille sagen Sie, Rot-Grün werde die Investitionen in die
Straße vernachlässigen. Ich kann Ihnen - auch wenn ich
verstehe, dass es Sie ärgert, wenn Ihre Erwartungen nicht
eintreffen - nur sagen: Wir haben einen Bundesfernstraßenhaushalt mit 10,8 Milliarden DM und den brauchen wir. Dies will ich im Einzelnen begründen.
Ich glaube, dass diese Rekordhöhe vor allem deswegen
notwendig ist, weil es in Ihrer Regierungszeit zu einem
völligen Verfall der Straßen gekommen ist. Diesem Verschleiß der Straßen müssen wir begegnen.
({19})
- So ist es! Bittere Wahrheiten sind schwer zu ertragen.
Das verstehe ich. Aber manchmal muss es sein.
Wir haben eine besondere Belastung, auch innerstädtisch. Betrachten Sie allein die Belastung durch den
LKW-Verkehr. Im Nah- und Regionalverkehr flossen
1999 25 Prozent der Güterverkehrsleistung durch Städte
und Gemeinden. Täglich quält sich massenhaft LKWVerkehr durch kleine Ortschaften. Die Menschen empfinden dies als puren Horror. Deswegen denke ich, dass wir
richtig gehandelt haben, als wir im Zukunftsinvestitionsprogramm 125 Ortsumgehungen ermöglicht haben, die
die Menschen von extremer Belastung durch Staus und
Lärm befreien, aber auch die Sicherheit in den Städten
und Gemeinden verbessern. Ein solches Programm hat es
vorher noch nie gegeben.
({20})
Das ist ein Grund, stolz zu sein. Ich danke auch den Regierungsfraktionen, dass sie hierzu beigetragen haben.
Mit dem Anti-Stau-Programm haben wir ebenfalls
einen qualitativen Ansatz gewählt. Auch hier geht es ausschließlich um die Vergabe der Mittel nach klar definierten Engpassfaktoren. Nicht die Quote ist entscheidend, sondern die Probleme, die wir lösen müssen. Dies
gilt für alle drei Verkehrsträger. 7,4 Milliarden DM werden wir in Schiene, Straße und Wasserstraße investieren.
Das ist eine schöne Zahl. Ich freue mich darüber und auch
viele andere hier im Raum.
({21})
Wir werden dieses Programm ab 2003 mit einer
streckenbezogenen LKW-Gebühr finanzieren. Ich glaube,
dass dies auch ein Gebot der Fairness im Wettbewerb zwischen Straße und Schiene und gleichzeitig eine wichtige
Hilfe für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe ist.
Denn ausländische Billiganbieter werden endlich zur Beteiligung an den Wegekosten unserer Autobahnen herangezogen. Auch dies ist ein richtiger Schritt.
({22})
Hinzu kommt: Jeder 40-Tonner nutzt die Straße
60 000-mal stärker ab als ein PKW. Das ist unsere Zahl.
Die Universität Cambridge kommt sogar auf einen Wert
von 160 000-facher Druckbelastung. Wer es nicht glauben
will, soll sich einmal den Zustand der Straßen anschauen.
Neu gebaute Autobahnen sind innerhalb von sieben Jahren verschlissen. Ich denke, dies macht sehr deutlich, dass
wir hier umsteuern müssen.
({23})
Für das Güterkraftverkehrsgewerbe ist es dringend erforderlich, dass wir in Europa faire WettbewerbsbedinBundesminister Kurt Bodewig
gungen haben. Die Verhandlungen beim EU-Ministerrat
in Brüssel waren nicht einfach. Die deutsche Delegation
hat hier einen sehr konstruktiven Beitrag geleistet. Wir
haben jetzt gemeinsam den Weg zur europäischen Fahrerlizenz eingeschlagen. Das ist der richtige Schritt.
Wenn wir illegale Beschäftigung und Sozialdumping
im LKW-Gewerbe vermeiden und bekämpfen wollen,
dann sollten wir aber nicht auf Europa warten, sondern
vorangehen. Ich habe dem Kabinett am Montag unseren
Gesetzentwurf zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung im Güterkraftverkehr zugeleitet. Mit dieser Novelle
können wir schnell deutliche Verbesserungen für das Gewerbe erreichen.
Das sind die entscheidenden Fragen für das Gewerbe.
Wir lösen sie jetzt und das ist wichtig.
({24})
Integrierte Verkehrspolitik umfasst mehr als Straße und
Schiene. Unser Flughafenkonzept ist ein weiterer wichtiger Schritt. Die Anbindung der Flughäfen an den ICE
vermeidet innerdeutsche Flüge. Die Slots sind notwendig.
Wir stellen uns hier einer sehr schwierigen Aufgabe, die
nicht in der Bundeskompetenz liegt. Bund und Länder
kommen hier zu gemeinsamen Vorstellungen. Diese
schwierige Frage, die Sie nie angepackt haben, versuchen
wir jetzt zu lösen. Ich bin sicher, dass wir dies zum einen
im Interesse der Ökonomie, der Schaffung neuer Arbeitsplätze, auf einen guten Weg bringen. Zum anderen
werden wir aber, auch für die Lärmbelastung, die die
Menschen ertragen müssen, Lösungen anbieten. Der Ausgleich dieser beiden Faktoren ist Teil dieses Konzeptes
und dies ist sehr wichtig.
({25})
Lassen Sie mich abschließend kurz noch einige Punkte
nennen.
Wir brauchen die Binnenschifffahrt und entwickeln
sie weiter. Die Wasserstraßen haben für uns eine ganz
wichtige Funktion, die wir stärken müssen.
({26})
In der Seeschifffahrt setzen wir auf die Sicherung des
maritimen Standorts Deutschland. Eine wichtige Funktion hat der Sea-to-Sea-Verkehr; denn auch Nahstrecken
auf See müssen wir zur Bewältigung von Gütertransporten nutzen. Dies ist ebenfalls ein ganz wichtiger Schritt.
Das Zusammenspiel von Straße und Schiene erfordert
die Einbeziehung neuer Konzepte. Steuerung, Navigation, Telematik - das werden Mittel sein, um 30 Prozent
Leerfahrten zu vermeiden. Diese ökonomisch unsinnige
Situation müssen wir dringend auflösen.
Wir brauchen moderne Motoren; ich denke an Brennstoffzellen. Wir brauchen neue Kraftstoffe wie Methanol
und Gas. Ich denke an das Einliterauto, das schon angekündigt worden ist.
Alle diese Maßnahmen müssen wir zu intelligenten
und ökologischen Konzepten verknüpfen. Das ist das
neue Denken, das wir anstreben. Dieser Verkehrsbericht
bietet dafür gute Voraussetzungen.
Mobilität in Deutschland zu sichern bedeutet, sich effizient und umweltgerecht zu verhalten. In einem gemeinsamen, kreativen, innovativen Prozess müssen wir
neue Lösungen finden. Sie sind dazu eingeladen. Ich bin
mir sicher, dass wir all das machen werden.
Herzlichen Dank.
({27})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Klaus
Lippold, CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Minister Bodewig, Sie sind der dritte Verkehrsminister innerhalb von zwei Jahren rot-grüner Bundesregierung, der
Verbesserungen bei der Mobilität, der Verbesserungen bei
der Infrastruktur in Aussicht stellt. Ich gehe davon aus,
dass Sie das in zehn Jahren genauso tun würden. Allerdings ist in Ihrem Hause die Halbwertszeit der Minister so
kurz, dass man von einer solchen Erwartung nicht sprechen kann.
Sie gehen voll über die Realitäten hinweg, was die
Mobilität angeht: Staus sind an der Tagesordnung. Die
Züge haben in einer bislang nie gekannten Form Verspätung.
({0})
Im Luftbereich besteht eine ähnliche Situation. Schlaglöcher bringen Gefährdungen für die Menschen auf der
Straße mit sich und instandsetzungsbedürftige Brücken
werden zu tickenden Zeitbomben.
({1})
- Herr Schmidt, Sie mögen das alles nicht ernst nehmen.
Aber das ist die Realität.
({2})
Herr Schmidt, veraltete Schleusen, fehlende Staustufen
sowie marode und undichte Kanäle schränken die Binnenschifffahrt ein. Experten sagen, dass die Binnenschifffahrt in den Kanälen bald auf dem Trockenen sitzt und wir
bald keine funktionsfähigen Kanäle mehr haben werden,
wenn die Infrastruktursanierung dort nicht weitergeführt
wird.
Dazu ist ganz deutlich zu sagen: Das sind nicht die
üblichen Kritiken der Opposition. - Herr Schmidt, hören
Sie genau zu! - Es grenzt an Dreistigkeit, zu behaupten, der
Bund sei im Bahnbereich seinem Gewährleistungsauftrag
nachgekommen. Interregio-Verbindungen und Strecken
würden sterben. Es gebe mehr und mehr Langsamfahrstellen, ausgefahrene Weichen, bröckelnde Tunnel, Ausfall von
Zügen und Zugverspätungen. Der Güterverkehr sei am Abgrund.
({3})
Das sagen der Bund für Umwelt und Naturschutz
Deutschland, der Naturschutzbund und sieben weitere Institutionen, die die Verbraucher im Verkehrsbereich vertreten. An deren Interessen argumentieren Sie vorbei,
wenn Sie sagen: Es wird sich alles irgendwie ändern.
Auch heute wieder hat der Minister in bekannter Manier angekündigt, für Infrastrukturfragen eine Arbeitsgruppe einzurichten. Irgendwann wird also etwas geschehen. Das aber ist der falsche Weg!
({4})
Herr Minister, Sie haben aus dem, was Sie selbst in Ihrem
Verkehrsbericht richtig analysiert haben, nämlich dass es
auf der Straße und auf der Schiene eine Zunahme des Verkehrs gibt, noch immer nicht die richtige Konsequenz
gezogen: Sie sprechen immer noch von der Verlagerung
des Verkehrs auf die Schiene.
Dieser Ansatz ist falsch, Herr Minister. Denn er trägt
nicht. Schon in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass
die einzige Verkehrsprognose, die regelmäßig revidiert
werden musste, die der Verlagerung des Verkehrs von
der Straße auf die Schiene war.
({5})
In allen anderen Bereichen trafen die Prognosen zu, aber
in diesem Falle nicht. Das ist der Grund dafür, weshalb
Sie, Herr Minister, vielleicht doch einmal Konsequenzen
ziehen, Akzente anders setzen und die Verbesserung des
Verkehrs auf der Straße im Rahmen der geplanten Infrastrukturoffensive nicht nur fordern, sondern dafür auch
wirklich etwas tun sollten.
({6})
Herr Minister, Ihre zahlreichen Vorgänger haben
zunächst die entsprechenden Ansätze heruntergefahren.
Dann wurden sie unzureichend wieder aufgestockt und
jetzt sagen Sie, das sei eine Perspektive. Eine Perspektive
ist das nur, wenn Sie das über zwei, drei Jahre hinaus machen würden, wenn man deutlich sehen könnte, dass im
Hinblick auf diese Investitionen Kontinuität besteht. Das
gilt für die Bahn genauso wie für die Straße.
Das ist aber nicht der Fall. Herr Eichel hat noch gestern
gesagt, dass er in Bezug auf die Finanzierung nur für etwa
drei Jahre Aussagen machen könne. Die Zeit danach aber
versieht er mit Fragezeichen. Das sind doch keine Grundlagen für eine vernünftige Infrastrukturpolitik, die sich an
Kontinuität orientiert. Das ist doch wieder das alte Vorgehen: Heute wird etwas versprochen, wovon gehofft wird,
dass wir es morgen wieder vergessen haben.
({7})
Herr Eichel hat in diesem Zusammenhang auf die
UMTS-Milliarden hingewiesen. Dazu muss man feststellen: Herr Bodewig, Sie haben von Versäumnissen der alten Bundesregierung gesprochen.
({8})
Wenn Ihnen jetzt im Rahmen der UMTS-Milliarden Mittel zur Verfügung gestellt werden, dann ist dies nur deshalb der Fall, weil wir im Telekommunikationsbereich die
dazu notwendige Reform durchgesetzt haben.
({9})
Sonst würden Sie über diese Mittel heute überhaupt nicht
verfügen.
({10})
Damals haben wir diese Reform und die Bahnreform
gegen Ihren Willen durchgeführt.
({11})
Auch heute noch stellen wir fest, dass Sie die Bahnreform
nicht konsequent fortsetzen. Es ist völlig richtig, dass
durch die Trennung von Netz und Betrieb nicht alle Probleme der Bahn gelöst werden können, Herr Bodewig.
({12})
Aber wenn wir die Trennung von Netz und Betrieb nicht
vorantreiben, dann wird Ihr Schlagwort von der Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene noch obsoleter, als es ohnehin schon ist. Das heißt, Ihre Ansätze,
Herr Minister, sind falsch.
({13})
Aus der Sicht der Wirtschaft hört sich das so an:
Die Auffassung vieler Verkehrspolitiker, mit teurerem LKW-Verkehr mehr Güter auf die Schiene verlagern zu können, ist falsch.
Die Aussage, dass mehr Verkehr auf die Schiene verlagert
werden kann, ist falsch. Die Industrie spricht von „unrealistischen Verlagerungsszenarien“. Damit meint sie Sie.
Sie sind ja vom Bundesverband der Deutschen Industrie mit zahlreichen Vorschusslorbeeren versehen worden.
Aber auch diese welken. Heutzutage ist man dort schlicht
und ergreifend der Auffassung, dass Sie die Weichen für
die Zukunft nicht richtig stellen. Das müssen Sie sich sagen lassen, und zwar nicht nur von der Opposition.
Schauen Sie sich das an, was der ADAC, eine Verbraucherorganisation für Autofahrer, Ihnen ins Stammbuch schreibt:
Anstelle einer grundsätzlichen Revision der falschen
Weichenstellungen der Vergangenheit, die dazu geführt haben, dass der ohnehin im Bereich der Straße
bedarfsfremde Bundesverkehrswegeplan auch noch
chronisch unterfinanziert war, tritt die Verwaltung
des Mangels und die weitere Kürzung der Mittel.
Das sind nicht wir, die das sagen; das sind neutrale Beobachter, Herr Bodewig. Dagegen kommen Sie nicht an,
Dr. Klaus W. Lippold ({14})
indem Sie mit einfachen Ansätzen darüber hinwegreden.
Ich sage das so deutlich, weil es ungeheuer wichtig ist,
dass wir die richtigen Konsequenzen ziehen aus dem
Sachverhalt, dass wir als Land in der Mitte Europas uns
zunehmend mehr Verkehr gegenübersehen werden - nicht
nur Verkehr, der endogen induziert ist, sondern auch Verkehr, der von außen auf uns zukommt.
Sie wollen also die Verlagerung des Verkehrs. Aber
was bedeutet das denn für den Bereich Bahn? Die Deutsche Bahn streicht ihr Streckennetz zusammen. Die Leistungen im Schienengüterverkehr nehmen ab. Der kombinierte Verkehr schreibt rote Zahlen. Die DB AG plant, von
80 regionalen Rangierbahnhöfen in Zukunft nur noch 40
zu betreiben. Überregionale Güterbahnhöfe und viele der
80 Containerterminals sollen geschlossen werden. Die
bisher 2 100 lokalen Verladestellen für Unternehmen mit
eigenem Gleisanschluss sollen auf 900 reduziert werden.
Dabei muss man wissen: Die Schließung einer einzigen Verladestelle in Ostwürttemberg hat zur Folge, dass
allein in dieser Region pro Jahr 16 000 LKW mehr fahren
müssen. Jetzt ziehen Sie einmal die Konsequenz in Bezug
auf das, was ich gerade gesagt habe, und überlegen Sie,
was das für die Frage der Verlagerung von Verkehr von
der Straße auf die Schiene bedeutet. Dann merken Sie
doch, dass alles, was Sie hier sagen, illusionär ist. Wenn
Sie illusionäre Vorstellungen haben, können Sie natürlich
keine richtigen Konsequenzen ziehen.
Wir brauchen die konsequente Fortführung der Bahnreform. Wir brauchen die Trennung von Netz und Betrieb
als Voraussetzung für mehr Wettbewerb.
({15})
Ohne die Trennung von Netz und Betrieb, Herr Bodewig,
werden Sie nicht mehr Wettbewerb schaffen. Sie sagen,
Sie wollen „andere Kräfte“ aktivieren. Das ist zwar richtig, aber die Aktivierung dieser anderen Kräfte gelingt
nur, wenn diese auch auf dem Netz der Bahn zum Zuge
kommen können. Anders geht das nicht. Sonst ist das eine
falsche Politik, ist das ein falscher Ansatz.
Die Experten der Pällmann-Kommission, die der Bundesverkehrsminister selbst eingesetzt hat, haben Ihnen das
ja sehr deutlich vorgetragen:
Die Vorstellung einer nachhaltigen Entlastung der
Bundesfernstraßen durch Verkehrsverlagerungen auf
Schiene oder Binnenwasserwege ist mittelfristig unrealistisch.
Wenn diese aus Experten bestehende Kommission sagt,
das sei mittelfristig unrealistisch, dann meint sie: innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre. De facto wird es
auch im Anschluss daran nicht zu erreichen sein.
Die Pällmann-Kommission führt weiter aus:
Eine Verringerung nachteiliger ökologischer Wirkungen des Automobilverkehrs ist wesentlich wirkungsvoller am System Straße selbst zu erreichen als
durch ordnungspolitische Eingriffe mit dem Ziel von
Verkehrsverlagerungen.
Deshalb ist das, was Sie für die Straße tun, unzureichend.
({16})
Auch wenn nicht alle Problemlösungen über die Straße
zu erreichen sein werden, so werden wir doch - langfristig und mit Vision betrachtet - nicht umhinkommen, das
deutsche Autobahnnetz komplett dreispurig auszubauen.
Wir werden ein Crashprogramm brauchen, das sofort
greift.
So, wie Sie das angehen wollen, geht es nicht: Sie wollen erst 2003 damit beginnen - der Start ist eigentlich
noch überhaupt nicht festgelegt - und der Bundesfinanzminister hat schon jetzt die Hand auf einen Teil der Mittel
gelegt. Die Mittelfinanzierung ist de facto nicht sichergestellt, weil die Mittel, die Sie im Wege der Erhebung zusätzlicher Gebühren hereinbekommen wollen, durch den
allgemeinen Haushalt von Herrn Eichel geschluckt werden. Ich meine, dass als Konsequenz eine Zweckbindung
solcher Gebühren ausschließlich für diesen Verkehrsbereich erfolgen muss. Da Sie die Ökosteuer, das Unsinnigste, was es gibt, nicht abschaffen, muss auch eine teilweise
Bindung der Ökosteuereinnahmen für diesen Verkehrsbereich erfolgen.
({17})
Dienstleistungen für Autofahrer werden vom Autofahrer vorfinanziert, nur setzen Sie die Mittel falsch ein. Jetzt
sagen Sie nicht, Sie würden sie zur Rentenfinanzierung
nutzen. Gut 15 Milliarden DM aus diesem Aufkommen
fließen an der Rente vorbei; das ist die Realität. Deshalb
ist es wichtig, dass hier die Schwerpunkte anders gesetzt
werden. Anders kommen wir der Problematik nicht bei.
({18})
Wir werden zusätzliche Mittel für die Bahn brauchen,
nur um die notwendige Realisierung eines sicheren Verkehrs, eines pünktlichen Verkehrs zu erreichen. Ich spreche hierbei noch gar nicht mal von Verlagerung. Wenn
Herr Eichel bereits jetzt mehr Mittel für die Bahn kategorisch ausschließt, ist das der falsche Ansatz, Herr
Bodewig. Das zeigt, dass Sie sich auch in Zukunft nicht
werden durchsetzen können. In diesem Kabinett werden
die Weichen anders gestellt, und zwar nicht für, sondern
gegen die Infrastruktur.
Wir brauchen einen klaren Planungshorizont. Wir
brauchen jetzt die Überarbeitung des Bundesverkehrswegeplans. Wir brauchen die Integration des Flugverkehrs in
den Bundesverkehrswegeplan. Das alles machen Sie
nicht. Sie verschieben dies vielmehr auf die nächste Legislaturperiode, weil sonst das Scheitern Ihrer Politik offensichtlich werden würde. Dies wollen Sie vor der Wahl
nicht eingestehen. So einfach ist das.
({19})
Wir brauchen mehr Mittel für die Straße, insbesondere
für die Bundesfernstraßen. Wir brauchen ein Crashprogramm. Wir brauchen darüber hinaus aber auch die beschleunigte Einführung von Telematik. Dies sehe ich bei
Ihnen immer noch nicht gesichert.
Dr. Klaus W. Lippold ({20})
({21})
Herr Minister, bei der Einführung von Telematik geht es
nicht um zusätzliches Abkassieren, sondern darum, wie
man in Zukunft die Sicherheit erhöhen kann. Die Frage
ist, wie man dieses System für Sicherheitsinformationen
nutzen kann. All dies unterschlagen Sie.
({22})
Wir gehen auch davon aus, Herr Minister, dass es notwendig ist, den Flugverkehr einzubeziehen, und dass Sie
deutliche Signale dafür setzen, dass auch der Bund Verantwortung für die Entwicklung in diesem Wirtschaftsbereich mitträgt, und dass das Ziel, im Luftverkehr in Europa und weltweit mithalten zu können, realistisch ist und
auch durchgesetzt wird. Auch dazu hören wir von Ihnen
nichts. Wir hören nur, dass Sie etwas schönreden, aber
dann, wenn Sie sich einmal konkret dazu äußern müssen,
wo Sie etwas tun können, hören wir von Ihnen nichts.
({23})
Im Rahmen der Diskussion über das Aufbringen neuer
Finanzmittel, Herr Minister, sollten wir über die Schaffung einer neuen Institution, einer Fernstraßenfinanzierungsgesellschaft, sprechen, damit die Diskussion darüber aus den Haushaltsdiskussionen herausgenommen
wird. Es muss eine Institution mit einer klaren Budgetierung geben, die dann das machen kann, was Sie in dieser
Regierung bedauerlicherweise nicht durchsetzen können,
nämlich eine klare Zuordnung der Mittel für notwendige
Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen.
Deshalb ist die Infrastrukturoffensive, die meine Fraktion plant und in einem überschaubaren Zeitraum vorlegen wird, die konkrete Antwort auf die Defizite Ihrer Regierungspolitik, die von allen gesellschaftlichen Gruppen,
({24})
seien es umweltorientierte Gruppen, seien es Wirtschaftsgruppen, in vollem Umfang mitgetragen wird. Sie sollten
sich das zu Herzen nehmen und daraus Konsequenzen
ziehen.
Lassen Sie Ihre Experten wie die der Pällmann-Kommission nicht nur einen Bericht schreiben, sondern setzen
Sie das, was diese Experten sagen, auch um!
Herzlichen Dank.
({25})
Ich erteile dem Kollegen Reinhard Weis, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der politischen Diskussion liegt die Wahrheit der Argumente oft in der Mitte.
Aber ich glaube, die Position, die Herr Lippold hier eingenommen hat, ist so extrem und in der Verkehrspolitik so
resignativ, dass ihr eigentlich von den Fachkollegen aus
der CDU/CSU-Fraktion widersprochen werden müsste.
({0})
Offensichtlich hat er sich als zuständiger stellvertretender
Fraktionsvorsitzender für den Fachbereich von Verkehrspolitik verabschiedet. Das finde ich bedauerlich.
Aber ich möchte auf den Verkehrsbericht des Ministers
zu sprechen kommen. Der Bundesminister für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen hat einen hervorragenden Bericht über den aktuellen Stand der Verkehrspolitik unserer
Regierungskoalition vorgelegt. Der Bericht zeigt uns, wie
wir mit dem Nebeneinander der verschiedenen Verkehrsträger Schluss machen. Der Bericht zeigt uns auch anhand
der Risiken eines ungesteuerten weiteren Verkehrswachstums, wie notwendig es ist, dieses Wachstum sozial und
umweltverträglich zu gestalten.
Unser Ziel ist das integrierte Verkehrssystem, das
Mobilität für Menschen und Güter flächendeckend und
umweltverträglich gewährleistet. Erstmalig wird in einem
Bundesprogramm die Klammer um alle vier Verkehrsträger, um Schiene, Straße, Wasserstraße und Luftverkehr,
gelegt. Dabei liegen - das zeigt der Verkehrsbericht 2000
auf - die wichtigsten und schwierigsten Probleme des
Verkehrsbereiches im Güterverkehr. Der Güterverkehr
ist aber für den Wirtschaftsstandort Deutschland von herausragender Bedeutung: für die Erhaltung der Produktivität ebenso wie für die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen.
({1})
Seit vielen Jahren wächst der Güterverkehr in Deutschland mit überproportionalen Raten. Alle Prognosen bis
zum Jahr 2015 gehen davon aus, dass der Güterverkehr
auch weiterhin mit beängstigend hohen Raten zunehmen
wird: in den nächsten 15 Jahren um über 60 Prozent. Das
wachsende Pro-Kopf-Einkommen in Mittel- und Osteuropa und die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung
mit den Beitrittskandidaten werden diesen Prozess noch
begünstigen. Auch die neue Technologie des Internets,
von der bis vor kurzem noch viele geglaubt haben, dass
damit Verkehr überflüssig gemacht werden könnte, beschleunigt mit dem Wachstumsmarkt des E-Commerce
den Warenaustausch. Hinzu kommen die guten Konjunkturaussichten in Deutschland und Europa in den nächsten
Jahren. Dies sind Prozesse, die wir begrüßen und auch
wollen. Aber die Kehrseite dieser positiven Entwicklung
darf niemand übersehen: Ohne Steuerung der Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur und ohne Einsatz ordnungspolitischer Instrumente besteht die Gefahr, dass sich
das Verkehrswachstum weiter überwiegend auf die Straße
konzentriert. Ich widerspreche Ihnen ganz ausdrücklich in
Ihren Positionen, Herr Lippold.
({2})
Ziel ist es, einen größeren Anteil des Güterverkehrswachstums als bisher auf die Schiene zu bringen. Bis zum
Jahr 2015 wollen wir den Güterfernverkehr auf der
Schiene mit rund 600 Milliarden Tonnenkilometer fast
verdoppeln. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Wir tragen der
Dr. Klaus W. Lippold ({3})
Realität in dem Sinne Rechnung, dass dies nicht der
gesamte Zuwachs im Verkehrsaufkommen sein wird.
({4})
Wir haben auch hochrangige Befürworter dieses Ziels.
({5})
Erst am Montagabend hat uns in einem gemeinsamen
Gespräch mit den Obleuten des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen die EU-Kommissarin de
Palacio gesagt, dass die Grenzen der Globalisierung durch
die begrenzten Möglichkeiten der Verkehrsinfrastruktur
gesetzt werden. Ich kann ihrer Ansicht nur zustimmen.
Ihre Aussage ist eine Bestätigung für unseren integrativen
Ansatz.
({6})
Für uns gibt es kein Gegeneinander von Investitionen
in die Straße und in die Schiene. Es gilt: Jeder Tonnenkilometer mehr auf der Schiene oder dem Wasser entlastet
die Straße. Anders gesagt: Die Erhaltung von Mobilität
insgesamt erfordert eine massive Steigerung der Investitionen im Bereich der Schiene. Dieser Verantwortung für
die Zukunft der Verkehrsinfrastruktur in Deutschland und
damit für die Mobilität kommen wir nach.
Natürlich sind wir nicht einseitig blind. Auch die
Straßeninfrastruktur benötigt weitere Investitionen.
Der Vorwurf, den Sie gemacht haben, ist völlig unberechtigt. Die alte Bundesregierung, die sich öffentlich
so gern als Vorkämpfer des Verkehrsinfrastrukturausbaus,
vor allem der Straße, verkauft hat, handelte in Wirklichkeit ganz anders. Sie hat nämlich das Investitionsniveau
nicht gehalten, sondern kontinuierlich gesenkt.
({7})
Die Zahl der vielen Spatenstiche und symbolischen Baubeginne hat der staunenden Öffentlichkeit ein falsches
Bild suggeriert.
Nach den Jahren rückläufiger Investitionstätigkeit haben nun ausgerechnet die rote und die grüne Koalitionsfraktion und die jetzige Bundesregierung wieder Verlässlichkeit in den Bundesfernstraßenbau gebracht.
({8})
Das hat uns allerdings haushaltstechnisch in den vergangenen zwei Jahren gleich mehrere Kraftakte abverlangt.
Es ist aber auch das Ergebnis einer klugen Haushaltspolitik, die durch eine außerplanmäßige Schuldentilgung mit
den Erlösen aus der Versteigerung von UMTS-Lizenzen
zusätzliche Finanzspielräume eröffnete.
Ich bedanke mich an dieser Stelle ganz ausdrücklich
bei meiner Fraktion dafür, dass sie diese zusätzlichen Finanzspielräume für die Stärkung der beiden Schwerpunkte Verkehrsinfrastruktur sowie Forschung und Ausbildung genutzt hat.
({9})
Im Wesentlichen finanzieren wir drei Komplexe: Wir
haben, basierend auf dem noch geltenden Bundesverkehrswegeplan, das Investitionsprogramm für 1999 bis
2002 aufgelegt. In diesem Programm haben wir in absolut verlässlicher Weise Verkehrsinvestitionen von über
76 Milliarden DM gesichert; davon wird die Hälfte auf
Investitionen in das Bestandsnetz entfallen, da in diesem
Bereich in der Vergangenheit unter Ihrer Verantwortung
Ersatzinvestitionen sträflich vernachlässigt wurden.
({10})
Mit dem Anti-Stau-Programm haben wir ein Novum
geschaffen, mit dem die dringlichsten Engpässe in den
Bereichen Straße, Schiene und Wasserstraße beseitigt
werden; ab dem Jahre 2003 werden hier 7,4 Milliarden DM gezielt zur Beseitigung von Engpässen eingesetzt. Dabei werden Schiene und Straße gleichberechtigt
berücksichtigt, auch eine Förderung der Wasserstraßen ist
in dem Programm enthalten.
Effizienzsteigerung und Steigerung der Lebensqualität
steht auch im Vordergrund unseres Zukunftsinvestitionsprogramms zum Bau von Ortsumgehungen. An
über 120 Orten werden die Bürger - beginnend in diesem
Jahr - in den nächsten drei Jahren mit 2,7 Milliarden DM
an Investitionsmitteln eine konkrete Entlastung erfahren.
({11})
Ich freue mich für meine Fraktion, dass wir heute eine
positive Leistungsbilanz in Sachen Verkehrsinfrastruktur
vorlegen können. Ich glaube, wir haben in diesem Bereich
mehr geschafft, als wir selbst zu Beginn der Legislaturperiode zu hoffen wagten, nachdem wir einen Blick
in die Kassenbücher werfen konnten. Es sei auch ganz
deutlich gesagt, dass wir zur Abarbeitung des Infrastrukturdefizits in den ostdeutschen Ländern einen überproportionalen Anteil der Investitionsmittel für diese Bundesländer einsetzen. Minister Bodewig hat deutlich gemacht,
dass diese Aufgabe auch in Zukunft abgesichert wird.
Hier geht die Bundesregierung mit den Koalitionsfraktionen Hand in Hand.
({12})
- Das hat Minister Bodewig ausdrücklich gewürdigt und
ich gebe Ihnen in diesem Punkt Recht. Ich habe das auch
nicht kritisiert.
Natürlich ist Verkehrspolitik mehr als Infrastrukturpolitik. Für uns stehen noch eine Reihe weiterer Vorhaben
auf der Tagesordnung, die wir in der zweiten Hälfte der
Legislaturperiode umsetzen wollen. Ich kann sie wegen
der Kürze der Zeit nicht alle aufzählen. Von besonderer
Bedeutung aber sind drei: die Bekämpfung der ungleiReinhard Weis ({13})
chen Wettbewerbsbedingungen zwischen den Verkehrsträgern, die konsequente Weiterführung der Bahnreform
und eine Verkehrspolitik unter dem Motto „weg vom Öl“.
Ich beginne mit den Wettbewerbsproblemen. Es ist
festzustellen, dass die Wettbewerbsbedingungen derzeit
unfair sind. Weder zwischen den Verkehrsträgern noch innerhalb der EU herrschen vergleichbare Wettbewerbsverhältnisse. Das Straßengüterverkehrsgewerbe ist in einer
schwierigen Situation. Wir wollen eine Harmonisierung
der Steuer- und Sozialvorschriften, wir wollen eine Harmonisierung der Kontrollen und die Angleichung der
Ahndungen bei Verstößen gegen die Sozialvorschriften.
Einige EU-Partner scheinen auf diesem Gebiet noch andere Schwerpunkte zu setzen. Dieser Zustand ist nicht
neu; auch die Vorgängerregierungen haben sich bei ihren
Bemühungen um faire Wettbewerbsbedingungen für das
deutsche Transportgewerbe bei den EU-Partnern die
Zähne ausgebissen. Wir stellen uns aber dieser wichtigen
Aufgabe.
So ist der europäische Transportmarkt durch Sozialdumping und Subventionswettlauf gekennzeichnet. Gerade die Diskussionen im Jahre 2000 haben uns das ganz
deutlich aufgezeigt. Die Beschäftigung illegaler Fahrer
aus Drittstaaten gehört zu den unfairen Praktiken, mit denen ausländische Anbieter den deutschen Konkurrenten
die Kunden abjagen. Aber auch deutsche Unternehmen
beschäftigen diese illegalen Billigarbeitnehmer und heizen den ruinösen Wettbewerb in der Branche an.
Natürlich gibt es Probleme mit den Überkapazitäten
beim LKW-Laderaum. So kommt es, dass die deutschen
Transportunternehmer trotz des insgesamt wachsenden
Güterverkehrsmarktes keine wachsenden Erlöse aus diesem Boom erzielen, sondern begründete Existenznöte haben. Unsere Politik ist darauf gerichtet, den gesunden mittelständischen Unternehmen eine langfristige Perspektive
auf diesem Markt zurückzugeben und zu sichern.
Um es ganz klarzustellen: Das Problem des Transportgewerbes ist nicht die Ökosteuer, Herr Lippold. Das
Problem heißt: verzerrter Wettbewerb, Sozialdumping
und Überkapazitäten.
({14})
Wir fordern deshalb die Einführung einer EU-Fahrerlizenz für Fahrer aus Drittstaaten, mit denen das legale Beschäftigungsverhältnis überall problemlos kontrolliert
werden kann. Der jetzt vorgelegte Referentenentwurf aus
dem Hause des Bundesverkehrsministers ist dabei ein
wichtiger Baustein.
Natürlich spielen im EU-Wettbewerb auch die jeweilige Steuer- und Abgabenlast eine große Rolle. Auch wir
kennen die Forderung nach einem Ausgleich für die Wettbewerbsnachteile des heimischen Transportgewerbes.
Wir stehen darüber in intensiven und konstruktiven Gesprächen mit dem Transportgewerbe. Eine solche Frage
kann jedoch wohl erst im Zusammenhang mit der Einführung der entfernungsabhängigen LKW-Gebühr im
Jahr 2003 angegangen werden, wenn wir über zusätzlichen Finanzspielraum verfügen.
Vor dem Hintergrund der sowieso schon bestehenden
schwierigen Lage des Transportgewerbes stellt die EUOsterweiterung eine zusätzliche Herausforderung dar.
Der Güterverkehrsmarkt wird dadurch erheblich erweitert. Der wachsende Handelsaustausch wird deswegen
auch eine große Chance für deutsche Verkehrsunternehmen bieten. Aber wegen des deutlichen Lohngefälles zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den mittel- und osteuropäischen Staaten birgt ein ungehinderter Marktzugang
auch hohe Risiken. Dieses Lohngefälle kann nicht Gegenstand der Harmonisierung sein. Aber wir wissen, dass
es dennoch ein wichtiger Wettbewerbsfaktor ist. Wir halten es deshalb für notwendig, die Beitrittsbedingungen so
zu gestalten, dass das Wachstum der Verkehrsleistungen
nicht nur umwelt-, sondern auch sozialverträglich bewältigt werden kann.
({15})
Der Bundeskanzler hat sich kürzlich für Übergangsregelungen ausgesprochen. Wir unterstützen ihn beim
Bemühen, dies während der schwedischen Ratspräsidentschaft durchzusetzen.
Mit der Einführung einer entfernungsabhängigen
LKW-Gebühr ab 2003 werden wir wahrscheinlich den
wichtigsten Beitrag zum Abbau der Wettbewerbsverzerrungen in Europa leisten. Die Mitfinanzierung unserer
Verkehrsinfrastruktur durch ausländische LKW ist ein
wichtiges Ziel; denn dadurch wird für mehr Chancengleichheit gesorgt und die Lasten werden besser verteilt.
Die Höhe der Gebühr steht noch nicht fest. Aber die viel
genannten 25 bis 30 Pfennig pro Tonnenkilometer sind
plausibel, weil sie in der Größenordnung der Gebühren
unserer Nachbarländer liegen. Natürlich werden wir diese
Höhe prüfen, auch im Zusammenhang mit den europäischen Bemühungen um Harmonisierung der Abgabenlast, um für das heimische Gewerbe faire Wettbewerbsbedingungen bei der Steuer- und Abgabenlast
herstellen zu können.
({16})
Zum Vorhaben der Sicherung der Zukunft der Bahn
möchte ich zwar nicht viel sagen, da meine Kollegin
Karin Rehbock-Zureich speziell auf dieses Thema eingehen wird. Aber ich möchte auf die Situation hinweisen, in
der wir Bundespolitiker uns befinden. Wir können einerseits als Eigner des bundeseigenen Unternehmens
Bahn AG von diesem Unternehmen unter Beachtung des
Aktienrechts nur wirtschaftlich vernünftige Entscheidungen verlangen. Andererseits müssen wir als Verkehrspolitiker, die das Ziel haben, dem Schienenverkehr einen
größeren Marktanteil zu sichern, unter einem breiteren
Blickwinkel Schienenverkehrspolitik machen, um ergänzende Leistungen nicht bundeseigener Schienenverkehrsanbieter zu ermöglichen. Wir werden deshalb die Investitionen in das Schienennetz steigern und den Netzzugang
neuer Schienenverkehrsanbieter diskriminierungsfrei sicherstellen.
({17})
Reinhard Weis ({18})
Der dritte Schwerpunkt, den ich ansprechen möchte, ist
die Politik „weg vom Öl“. Es handelt sich um eine Aufgabe, die nicht nur für die Verkehrspolitik ansteht. Wir
wollen jetzt die Weichen für eine Verkehrspolitik stellen,
die uns Mobilität künftig unabhängiger - ich gehe nicht so
weit und sage: unabhängig - vom Öl sichert. Wir müssen
in Bezug auf die Quelle, die die Energie für den Verkehr
liefert, unabhängiger und flexibler werden.
Die Besorgnis erregenden Preissteigerungen von
Kraftstoffen im Jahr 2000 haben uns deutlich gemacht,
wie verletzlich unsere Mobilität sein kann. Bei den alternativen Kraftstoffen und Antriebstechniken für den Individualverkehr stehen wir an der Schwelle zur Markteinführung. Es ist deshalb gut, dass im Bundesministerium
für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen bereits an einer
verkehrswirtschaftlichen Energiestrategie gearbeitet
wird. Wir haben die Hoffnung, in wenigen Jahren mit einem oder zwei alternativen Kraftstoffen aufwarten zu
können.
Die Frage der alternativen Kraftstoffe hat nicht nur
eine verkehrswirtschaftliche Komponente, sondern ist
auch von hoher umwelt- und wirtschaftspolitischer Bedeutung. Umweltpolitisch stehen wir in der Verpflichtung, den CO2-Ausstoß in der gesamten Bundesrepublik
um 25 Prozent zu senken. Der Verkehrsbereich hat dazu
noch keinen Beitrag geleistet. Alle Vorteile bei der Kraftstoffeinsparung aus den letzten Jahren sind durch Steigerungen der durchschnittlichen Leistungen der Fahrzeuge
und die Vergrößerung der Fahrzeugflotte im Prinzip kompensiert worden. Erst die alternativen Kraftstoffe werden
einen echten und dauerhaften Beitrag zur CO2-Minderung
ermöglichen.
({19})
Wirtschaftspolitisch sehen wir dahinter natürlich auch einen bedeutenden Zukunftsmarkt, bei dem es um neue Produkte, neue Arbeitsplätze und die Schaffung von Einkommen geht. Deshalb wird es bei der Strategie „weg
vom Öl“ eine enge Einbeziehung der Wirtschaft geben.
Allerdings stimmen die Preisrelationen zurzeit noch
nicht: Alternative Antriebskonzepte führen noch zu deutlich höheren Anschaffungspreisen für PKW und LKW, als
das bei herkömmlichen Kraftstoffen der Fall ist. Wir wissen aus leidvoller Erfahrung, dass sich die Nachfrage am
Automobilmarkt nicht an unseren politischen Zielen von
CO2-Minderung und Umweltschonung ausrichtet, sondern beinhart dem kurzfristigen Preisvorteil folgt. Ich
hoffe, dass wir wegen des Interesses der Wirtschaft an
diesem neuen Markt wirkungsvolle Wege zur Markteinführung neuer Antriebstechniken und Kraftstoffe finden.
Die steuerliche Begünstigung von Bussen mit Erdgasantrieb und die Förderung des Baus von Erdgastankstellen
sind ein Beispiel dafür.
Abschließend möchte ich folgendes Fazit ziehen: Unser verkehrspolitisches Konzept ist auf die effiziente und
umweltverträgliche Absicherung der Mobilitätsbedürfnisse sowohl der Bürger als auch der Unternehmen in
Deutschland ausgerichtet. In der ersten Hälfte der Legislaturperiode haben wir dazu einen guten Grundstein gelegt und wir werden diese Linie zielstrebig weiter verfolgen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Ich erteile jetzt dem
Kollegen Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Minister
Bodewig, ich gebe zu: Ich war auf Ihre heutige Regierungserklärung richtig gespannt, nachdem das Ministerium in der letzten Zeit überwiegend durch eine Rallye
von Ministern und Staatssekretären, die neue Sessel besetzt haben, aufgefallen ist. Ich möchte erfahren, wie Sie
sich Lösungen der Probleme im Verkehrsbereich vorstellen. Lösungen bestehen für mich nicht darin, dass es Steuererhöhungen gibt. Dazu haben Sie Ihren Beitrag in den
letzten zwei Jahren schon geleistet. Immerhin ist der Steueranteil beim Sprit um 21 Pfennig erhöht worden. Die
nächsten 3 Pfennig stehen gewissermaßen ante portas,
wenn Ende des Jahres der schwefelarme Treibstoff eingeführt wird.
Darum ging es eigentlich nicht. Ich möchte gerne wissen, wie Ihre Antworten auf die drängenden Fragen der
Bewältigung der Mobilität sind. Ihr Haus hat auf immerhin 76 Seiten im Verkehrsbericht versucht - man sollte
vielleicht besser sagen: sich gequält -, die Vorstellungen
von integrierter Verkehrspolitik als Konzept für eine mobile Zukunft zu Papier zu bringen.
Allerdings, Herr Minister, steht nicht sehr viel Neues
drin.
({0})
Es ist eine Aufzählung von Bekanntem, unter anderem
von dem Neuen, das wir schon auf den Weg gebracht haben, aber es ist nichts, was zukünftig zur Lösung der Verkehrsprobleme beitragen könnte.
({1})
Der Grund dafür ist, dass Sie wie so oft die Antwort auf
die entscheidenden Fragen schuldig geblieben sind.
({2})
Stattdessen müssen wir so erstaunliche Erkenntnisse wie
die folgende lesen:
Ein großer Teil des Wachstums im Luftverkehr ist
ebenfalls auf die zunehmenden internationalen Geschäftsbeziehungen zurückzuführen. Diese Entwicklung, die mit dem Begriff der Globalisierung schlagwortartig umschrieben werden kann, sollte in einem
exportorientierten Land wie der Bundesrepublik vor
allem als Chance begriffen werden.
({3})
Reinhard Weis ({4})
Das, Herr Minister Bodewig, ist die Qualität Ihres Berichts. Hier ist aus meiner Sicht mit dem Verkehrsbericht
2000 eine Chance vertan worden.
({5})
Ein Land wie die Bundesrepublik, das mitten in Europa
die Hauptlast des europäischen Verkehrs trägt, in dem
die Verkehrsentwicklung seit 1960 um sage und schreibe
900 Prozent, die Infrastruktur aber gerade einmal um
50 Prozent zugenommen hat, in dem jährliche Staukosten
in Höhe von 200 Milliarden DM durch unzureichende Infrastruktur entstehen - die Frage ist nicht, wer von A nach
B fährt, sondern die entscheidende Frage ist, wann er dort
ankommt ({6})
und das in Kürze auch noch die Hauptlast des aus der EUOsterweiterung entstehenden zusätzlichen Verkehrs mit
einer prognostizierten Zunahme um weitere 60 Prozent,
davon 80 Prozent auf der Straße, tragen muss - ein solches Land hat bessere Antworten, aber auch eine bessere
Regierung verdient.
({7})
Herr Minister Bodewig, der deutsche Autofahrer wird
am Ende Ihrer Regierungszeit rund 110 Milliarden DM in
die Kassen von Herrn Eichel einzahlen, aber über alle
Gliederungen - Kommunen, Länder und Bund - hinweg
nur knapp ein Drittel dieses Geldes in Form von Straßenbaumitteln zurückerhalten. Die Ausgabenverteilung
des Bundes steht weiterhin im krassen Missverhältnis
zum Gewicht der einzelnen Verkehrsträger. Die Eisenbahnen erhalten insgesamt 36,4 Milliarden DM im Jahr,
die Fernstraßen 10,35 Milliarden DM, die Wasserstraßen
3,12 Milliarden DM. Die Verkehrsanteile verhalten sich
nahezu umgekehrt proportional zu diesen Zahlen. Das ist
leider die Realität.
Der Bundesverkehrswegeplan ist fürchterlich unterfinanziert. Er liest sich seit Jahren wie ein Märchenbuch. Wir müssen endlich einen ehrlichen Plan aufstellen.
({8})
- Hören Sie doch zu; ich komme darauf noch zu sprechen.
Es ist fraglich, ob wir genug Geld haben, um die Infrastruktur auszubauen und auf Dauer zu unterhalten.
An diese Fragen wird der Verkehrsminister ganz
grundsätzlich drangehen. Das kann zu weit reichenden Konsequenzen führen, etwa zum Privatbetrieb
oder zur privaten Errichtung von Straßen, Schienen
oder Verkehrswegen. Denn eines kann sich die Bundesrepublik auf keinen Fall leisten: eine ungenügende Infrastruktur!
Meine Damen und Herren von Rot-Grün, bevor Sie
nervös werden:
({9})
Ich habe soeben den Bundesminister der Finanzen, Hans
Eichel, zitiert, der dies in einem „Stern“-Interview im Juni
1999 gesagt hat. Die Frage ist jetzt, ob sich Herr Bodewig
als Verkehrsminister an die wesentlichen Aussagen von
Herrn Eichel, nämlich die letzten beiden Sätze, in seinem
Bericht gehalten hat. Angesichts eines Streckennetzes von
fast 231 000 Kilometern Straße, 42 000 Kilometern
Schiene und 7 300 Kilometern Binnenwasserstraße für
den überörtlichen Verkehr in Deutschland sind die Antworten im Haushalt und auch im Verkehrsbericht nicht
ausreichend.
({10})
In einem hat Hans Eichel ja Recht - wo er Recht hat,
hat er Recht -: Ohne ein genügend ausgebautes und vor
allen Dingen - das wird immer wichtiger - ausreichend
gewartetes und unterhaltenes Infrastrukturnetz kann ein
Land wie Deutschland im Wettbewerb der Standorte nicht
bestehen.
({11})
Unter Ihrer Regierung ist eine so genannte unabhängige Kommission unter Vorsitz des früheren Bahn- und
Telekomvorstandes Dr. Wilhelm Pällmann eingerichtet
worden, die am 5. September 2000 weit reichende Ausführungen gemacht hat.
({12})
Von der Umstellung der Finanzierung mit Senkung oder
Aufhebung der bisherigen Steuerlast über die Gründung
von privaten Betreibergesellschaften für Straßen bis hin
zur Trennung von Netz und Betrieb bei der Bahn AG sind
viele Handlungsvorschläge gemacht worden. Ihre Reaktion bis jetzt war: Wir werden prüfen. Immerhin habe ich
heute, so glaube ich, bei Ihnen, Herr Minister, eine gewisse Tendenz erkannt, dass die Trennung von Netz und
Betrieb für Sie zumindest nicht mehr generell ausgeschlossen ist. Schauen wir einmal, was herauskommt.
Es wird offensichtlich, dass Sie nur ein wissenschaftlich fundiertes Argument für die geplante Einführung der
LKW-Maut ab 1. Januar 2003 gebraucht haben. Sie haben
aber dort den Hinweis übersehen, dass bei dieser Umstellung für das Gewerbe eine Kostenreduzierung an anderer
Stelle erfolgen müsste. Herr Kollege Weis, Mathematik
nach Ihrer Art kann sich nicht rechnen. Sie erzählen uns,
mit welchen Segnungen das Anti-Stau-Programm ab 2003
rechnen kann. Dafür ist die Maut eingeplant. Sie erklären
uns aber heute, über die Höhe der Maut wüssten Sie noch
nicht Bescheid. Das müssten Sie noch klären. Was stimmt
denn jetzt?
({13})
Entweder wissen Sie, welches Geld Ihnen zur Verfügung
steht und was Sie ausgeben können - dann kennen Sie
auch die Höhe der Maut -, oder Sie kennen die Höhe der
Horst Friedrich ({14})
Maut noch nicht; dann können Sie das Geld aber auch
noch nicht ausgeben.
({15})
Die Rechnung geht nicht auf.
Die Pällmann-Kommission geht aber noch weiter. Ich
zitiere:
Die Vorstellung einer nachhaltigen Entlastung der
Bundesfernstraßen durch Verkehrsverlagerungen auf
Schiene oder Binnenwasserwege ist mittelfristig unrealistisch.
Weiter heißt es:
Eine Verringerung nachteiliger ökologischer Wirkungen des Automobilverkehrs ist wesentlich wirkungsvoller am „System Straße“ selbst zu erreichen
als durch ordnungspolitische Eingriffe mit dem Ziel
von Verkehrsverlagerungen.
Weiter:
„Ideologisch“ motivierte Eingriffe des Staates in den
Wettbewerb der Verkehrsträger mit Mitteln der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung sind abzulehnen.
Nächste Aussage:
Stattdessen ist die Ausschöpfung der bisher nicht
oder nur unzureichend genutzten Potenziale der beiden Verkehrsträger in den Vordergrund zu stellen,
also die Verbesserung ihrer Wettbewerbslage aus eigener Kraft.
Das, Herr Minister, ist so ziemlich das Gegenteil von
dem, was Sie im Verkehrsbericht 2000 niederlegen.
({16})
Sie leben noch immer in der Vorstellung, dass die Wettbewerbssituation der Bahn alleine dadurch verbessert
werden könne, dass der Verkehrsträger Straße verteuert
wird.
({17})
Dabei hat die Bahn im Jahre 2000 wieder einmal bewiesen, dass sie nicht in der Lage ist, die ihr zur Verfügung gestellten Investitionsmittel zu verwerten.
({18})
Mehr als 1 Milliarde DM, Herr Schmidt, die für Investitionen zur Verfügung stand, ist eben nicht in Investitionen
geflossen, sondern wäre an Herrn Eichel zurückgegeben
worden, wenn das Haus nicht einen Kunstgriff vorgenommen hätte und mit diesen Beträgen vorfristig
Darlehen aus der Vorfinanzierung für die Strecke München-Nürnberg zurückgezahlt hätte.
({19})
- Das ist die Realität, Herr Schmidt. Wie können Sie das
leugnen? Beweisen Sie mir das Gegenteil. Das sind die
Fakten.
({20})
- Zu den Aussagen von Herrn Mehdorn über die Situation
der Bahn: Vergleichen Sie einmal das, was Herr Mehdorn
uns im Ausschuss gesagt hat, mit dem, was im McKinseyBericht - er ist in der „Wirtschaftswoche“ zu lesen - steht.
Den Unterschied, dieses Delta zwischen den Aussagen
von Herrn Mehdorn und denen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, hätte ich gerne einmal erklärt bekommen.
({21})
Herr Minister, die F.D.P. hat mit mehreren Anträgen wie
„Straßenbau statt Autostau“, „Bahnreform fortsetzen Trennung von Netz und Betrieb“ oder zu einem Anti-StauProgramm für den Luftverkehr rechtzeitig auf die Probleme hingewiesen wie auch auf das notwendige Zusammenspiel aller Verkehrsträger nach ihrer jeweiligen
Stärke. Sie hat gleichzeitig aufgezeigt, dass wir in einem
ersten Schritt vor Ihrem Anti-Stau-Programm Wert darauf
legen, dass die schon jetzt vorhandenen Einnahmen aus
der LKW-Vignette dem Verkehr zweckgebunden zur Verfügung gestellt werden, so wie Sie es im Anti-Stau-Programm versuchen, es aber in der reinen Form nicht genehmigt bekommen haben.
Wir sind weiterhin für die Umsetzung des WIBERAII-Gutachtens, in dem definiert und dokumentiert ist, dass
der Bund eigentlich 500 Millionen DM für den Nahverkehr jährlich zu viel an die Länder zahlt. Man kann es
auch lassen, aber dann muss man es dem Autofahrer sagen; denn er wird die Zeche bezahlen.
Wir sind weiterhin dafür, dass die Möglichkeiten des
Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes durch weitere Modelle ausgeweitet, untersucht und dargestellt werden,
({22})
und zwar durch Modelle, die sich wirklich realisieren lassen, und nicht durch Modelle, die von vornherein die sich
selbst bestätigende Aussage beinhalten, dass das nicht
geht. Das muss funktionieren.
({23})
Die F.D.P. ist ebenfalls der Meinung - wir haben als
einzige Fraktion seit dem 22. Februar letzten Jahres einen
Antrag vorgelegt -, dass eine echte Verbesserung der
Horst Friedrich ({24})
Wettbewerbssituation der Bahn nur durch die Trennung
von Netz und Betrieb möglich ist.
({25})
Alle Fraktionen, bis auf die SPD, alle Sachverständigen in
der Anhörung des Deutschen Bundestages sind der gleichen Meinung. Die SPD muss sich noch bewegen.
Wir sind auch der Meinung, dass der Verkehrsträger
Luftfahrt - mit einem jährlich prognostizierten Passagierzuwachs von rund 6 Prozent - die Entwicklungsmöglichkeiten in der Luft, am Boden und bei der Flugsicherung erhalten muss, die er benötigt, um diese zusätzliche
Nachfrage abzuwickeln.
Es ist notwendig, in Ihrem Flughafenkonzept - das
steht leider nicht im Bericht - deutlich zu machen, dass
wir in Deutschland wenigstens vier zusätzliche Start- und
Landebahnen benötigen. Das ist die eigentliche Aufgabe
einer Bundesregierung, auch wenn ich weiß, dass Sie sie
nicht selber bauen müssen.
({26})
Aber man könnte es wenigstens sagen.
({27})
Ihre Aufgabe, Herr Minister, wäre es, endlich eine einheitliche europäische Bahnpolitik umzusetzen, vor allen
Dingen die deutsche Bahn auf die Öffnung der Netze ab
2008 vorzubereiten und in diesem Zeithorizont auch die
EU-Osterweiterung, die ab 2003, 2004 oder 2005 kommt,
mit zu berücksichtigen.
({28})
Es ist Ihre Aufgabe, das Flughafenkonzept um die entscheidenden Aussagen zu ergänzen, die sich mit dem Bau
und dem Ausbau weiterer Start- und Landebahnen in
Deutschland befassen, und die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur insbesondere wegen der EU-Osterweiterung um ein Programm und ein Projekt „Grenzüberschreitende Verkehrswege“ zu erweitern und so zu
gestalten, dass der Verkehrszuwachs, der kommen wird,
tatsächlich aufgefangen werden kann.
Sie müssen weiterhin dafür sorgen, dass dem Transrapid außer in China auch in Deutschland eine realistische
Verwirklichungschance und dem deutschen Verkehrsgewerbe eine realistische Überlebenschance eingeräumt
wird. Ihre Vorschläge gehen ja in die richtige Richtung;
die Ergebnisse dieser Vorschläge werden sich wegen des
Ablaufs aber erst so spät einstellen, dass es für die große
Masse der Gewerbetreibenden zu spät ist. In einer Zeit, in
der elf Länder der EU wegen der hohen Treibstoffkosten
bereits subventionieren, sagen wir: Wir nehmen diese Lösung. - Das hilft dem Gewerbe nicht weiter.
Eines kann ich Ihnen noch sagen: Lassen Sie die Finger von der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes;
wenn Sie das tun, erhöht das nicht die Lohnnebenkosten,
sondern stärkt die Situation des deutschen Gewerbes ungemein.
({29})
Fazit: Der groß angekündigte Verkehrsbericht, Herr
Minister, gewissermaßen Ihre Regierungserklärung, ist
aus Sicht der Liberalen eine große Enttäuschung. Lauter
alte Ladenhüter, die beim Winterschlussverkauf leider
nicht an den Mann gebracht werden konnten; keine wirkliche neue Idee - so werden die Verkehrsprobleme in
Deutschland sicher nicht gelöst.
({30})
Das Wort hat nun der
Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich weiß nicht, Herr Kollege Friedrich, welchen Verkehrsbericht Sie gelesen haben. Der, den ich gelesen habe, ist eine, so finde ich, sehr gute und sehr ehrliche Bestandsaufnahme der Aufgabe, vor der wir stehen.
({0})
Er beschreibt sehr genau, welchen Handlungsbedarf wir
mit Regierungsübernahme übernommen haben, welche
Schritte bereits eingeleitet wurden, um die anstehenden
Probleme zu lösen, und definiert präzise den Umfang der
Aufgaben, die noch vor uns liegen.
Damit rückt die Bundesregierung die Verkehrspolitik
als Gestaltungsaufgabe, die von allen Seiten des Hauses
richtig beschrieben worden ist, in den Mittelpunkt und
schafft Grundlagen für wichtige anstehende Richtungsentscheidungen, die wir gemeinsam zu treffen haben. Es
ist eben keine Trivialität, sondern es gehört zu dieser ehrlichen Bestandsaufnahme, dass darin auch festgehalten
wird, dass es im Wesentlichen zwei Trends sind, die die
aktuelle und auch die künftige Verkehrsentwicklung prägen.
Da ist zum einen der Trend hin zu weltweiter Arbeitsteilung. Diese wird ja immer mit dem Schlagwort Globalisierung etikettiert. Das heißt aber nichts anderes, als
dass es mehr Transport und dadurch mehr Verkehr von
Land zu Land, von Kontinent zu Kontinent geben wird. In
unserem Land, das im Herzen von Europa liegt, wird sich
natürlich auch durch die Erweiterung der Europäischen
Union nach Osten hin der Verkehr auf der Ost-West-Relation verstärken. Das ist völlig klar. Das ist der Preis der
Integration und der Freiheit, über den wir sprechen müssen.
Als zweiter Trend neben der Globalisierung ist eine zunehmende Individualisierung der Lebensstile zu verzeichnen. Diese bringt entfernungsintensivere Freizeitformen mit sich, an denen wir alle, die wir hier sitzen,
mehr oder weniger Anteil haben. Auch das ist eine
Horst Friedrich ({1})
schlichte Bestandsaufnahme. Den sich hieraus ergebenden Konsequenzen müssen wir uns stellen.
Mit beiden Trends scheinen untrennbar mehr Verkehr
und Wachstum beim Gütertransport verbunden zu sein. Es
ist dabei festzuhalten - das ist das Merkwürdige und Widersprüchliche an dieser Entwicklung -, dass das Verkehrswachstum, das hierdurch induziert wird, längst nicht
automatisch und immer einen gleichzeitigen Zuwachs an
Lebensqualität bringt - für die vom Verkehrslärm Betroffenen sowieso nicht, aber auch nicht für diejenigen,
die am Verkehr teilnehmen. Der alltägliche Stau auf Autobahnen und den Einfallstraßen in die Städte ist ja nur
ein sinnfälliges Beispiel dafür, dass mehr Verkehr nicht
automatisch mehr Mobilität und schon gar nicht automatisch mehr Lebensqualität bedeutet. Vor diesem Hintergrund ist es schon richtig und notwendig, so schlichte
Dinge zu diskutieren, ob es wirklich einen Gewinn mit
sich bringt, Butter aus Irland nach Bayern bzw. Butter aus
Süddeutschland in die Gegenrichtung zu transportieren.
({2})
Eine gestaltende Verkehrspolitik, liebe Kolleginnen
und Kollegen, darf sich angesichts solcher Fragen nicht
schulterzuckend wegducken oder diese Logik kapitulierend hinnehmen,
({3})
sondern muss neue Wege und neue Instrumente finden,
um unsinnige Transporte zu vermeiden.
({4})
Auch dafür finden sich in diesem Verkehrsbericht - ich
werde darauf zu sprechen kommen - eine ganze Reihe
von Ansatzpunkten.
Intelligente Mobilität im Sinne von zukunftsfähiger
Bewegungsfreiheit heißt künftig noch viel mehr als heute,
das jeweils richtige Verkehrsmittel mit seinen spezifischen Systemstärken zu wählen und die verschiedenen
Verkehrssysteme noch besser miteinander zu vernetzen.
({5})
Dazu gehören auch neue Konzepte und neue Mobilitätsdienstleistungen. Etliche Automobilhersteller planen
zum Beispiel, künftig nicht mehr nur ein Fahrzeug zu verkaufen, sondern die Dienstleistung des Ortswechsels, also
die Mobilität. Solche neuen Ansätze kommen nach meiner Auffassung im Verkehrsbericht leider noch zu wenig
zum Tragen. Hier müssen wir, wie ich finde, noch weiter
diskutieren.
Im Verkehrsbericht 2000 kann und muss aber nicht ein
vollständiges und ausreichendes Bild der Verkehrspolitik
im 21. Jahrhundert entworfen werden, sondern wir sehen
ihn als eine gute Bestandsaufnahme und damit als Ausgangsbasis für eine breite gesellschaftliche Diskussion an,
über die definiert werden muss, was wir uns künftig an
Mobilität überhaupt leisten wollen. Wir brauchen also ein
Leitbild. Aus unserer Sicht muss auf der Basis dieses Leitbildes eine zukunftsfähige Mobilität entwickelt werden,
die erstens ökologisch verträglich ist, zweitens wirtschaftlich bezahlbar ist und drittens auch verkehrspolitisch Sinn macht. Ein solches Leitbild kann nicht verordnet werden, auch nicht von der Bundesregierung,
sondern muss im Dialog entstehen. Es muss dazu motivieren, positive Visionen alltagstauglich und praktikabel
umzusetzen und auf konkrete Alltagsprobleme wirkliche
Antworten zu bieten. Nur eine solche Verkehrspolitik
wird dann auch von der Bevölkerung akzeptiert werden.
Ich begrüße es deswegen sehr, dass der Verkehrsbericht
2000 gerade diesen Zusammenhang zwischen Verkehr,
Raumordnung und Siedlungsplanung herstellt. Der
Raumordnung, Siedlungs- und Verkehrspolitik integrierende Ansatz, der hier in Aussicht gestellt wird, ist
richtig.
({6})
Wir werden bei der Umsetzung dieses Ansatzes sehr genau gemeinsam unser Augenmerk darauf zu richten haben, dass diese Vorgaben auch eingelöst werden, denn die
Raumordnungspolitik und die Siedlungsplanung von
heute bestimmen den Verkehr von morgen. Das muss uns
allen klar sein. Deshalb reicht es nicht, nur über Transportketten und Optimierung zu reden, sondern wir müssen auch die Bedingungen für Raumordnung, Städtebau
und Siedlungsplanung neu bestimmen.
({7})
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
hat eine ganze Reihe von konzeptionellen Vorschlägen zu
den verschiedenen Verkehrsträgern eingebracht, die zum
Teil bereits ins Regierungshandeln eingeflossen sind. Ich
finde, dass die grüne Handschrift besonders dort herauszulesen ist, wo es um die Situation und Zukunft der Bahn
geht. Das ist ein Schwerpunkt des Berichtes. Ich will das
hier gerne noch einmal deutlich hervorheben, um der Bildung von falschen Gerüchten vorzubeugen. Zuvor
möchte ich aber dem Fraktionsvorsitzenden, Herrn Merz,
bei dieser Gelegenheit sagen, dass ich es ziemlich unangemessen finde, wenn Herr Kollege Lippold solche Fragen zum Anlass für Klamauk nimmt. Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten einen kompetenten Verkehrsexperten
zu Beginn in die Debatte geschickt und nicht einen
Clown.
({8})
Die Finanzkrise der Deutschen Bahn ist in allererster
Linie eine Krise des Netzes. Das Bestandsnetz der
Albert Schmidt ({9})
Strecken der Deutschen Bahn ist während der Regierungszeit von Waigel, Wissmann und Kinkel, also
während der Regierungszeit von F.D.P. und Union, auf
Verschleiß betrieben worden.
({10})
Statt der 9 Milliarden DM, die zu Beginn der Bahnreform als jährliches Investitionsvolumen versprochen waren, wurden von Waigel und Wissmann zuletzt nicht einmal mehr 6 Milliarden DM für den Bahnbau überwiesen.
Das Ergebnis ist bekannt. Es ist der teilweise jammervolle
Zustand vieler Strecken. Ich finde es zynisch und unverschämt, wenn Sie diesen Zustand, den Sie selbst herbeigeführt haben, auch noch beklagen.
({11})
- Dies ist ein Teil der idiotischen Legende, die Sie ausstreuen. Die rot-grüne Koalition, lieber Kollege Fischer,
hat sofort, im ersten Amtsjahr, die Signale umgestellt. Wir
haben aus dem Stand die real an die Bahn ausgezahlten Investitionsmittel um 1,3 Milliarden DM pro Jahr gesteigert
und tun dies ab dem Haushaltsjahr 2001 für die nächsten
drei Jahre nochmals mit jährlich zusätzlichen 2 Milliarden DM. Das heißt, wir haben innerhalb von zwei Jahren
die Investitionen in die Bahn um 50 Prozent erhöht.
Das war rot-grüne Regierungspolitik. Das ist das Gegenteil von dem, was Sie gemacht haben.
({12})
Diese Summen sind auch notwendig. Sie werden gebraucht, um das Netz schrittweise in Ordnung zu bringen
und zu modernisieren. Denn es ist auch eine Legende,
dass die Bahn das Geld gar nicht ausgegeben habe. Es ist
Schwachsinn, was Sie hier erzählen.
({13})
- Sie können das ja in einer schriftlichen Frage an die
Bundesregierung abfragen. Dann bekommen Sie die Antworten und dann haben Sie den Beweis.
({14})
- Wir haben gestern - als Sie sich wahrscheinlich auf Ihre
Rede vorbereiten mussten; deswegen hatten Sie wohl
keine Zeit teilzunehmen -, mit dem Chef des Unternehmens gesprochen. Uns liegen andere Auskünfte vor.
({15})
Diese Summen sind notwendig, um das System
Schiene gegenüber der Straße konkurrenzfähiger zu machen, und zwar insbesondere im Güterverkehr. Das wichtigste Ziel, das im Verkehrsbericht enthalten ist, ist die
Verdoppelung des Schienengüterverkehrs innerhalb der
nächsten 15 Jahre. Das ist angesichts der Ausgangssituation ein durchaus ambitioniertes Ziel. Es wird nicht einfach werden. Deswegen ist es gut, dass nach Jahren des
Rückgangs im Schienengüterverkehr im abgelaufenen
Jahr 2000 erstmals wieder ein Wachstum von 11 Prozent
zu verzeichnen war. Diesen Trend finden wir gut und wir
werden ihn weiter verstärken.
({16})
Um die angepeilte Verdoppelung des Schienengüterverkehrs zu erreichen oder möglichst noch zu übertreffen,
werden nach meiner Einschätzung die im Verkehrsbericht
beschriebenen Maßnahmen allerdings kaum ausreichen.
Nach unserer Auffassung muss insbesondere die LKWAutobahnmaut, die wir ab 2003 erheben werden, bis zum
Jahre 2015 über die im Bericht genannten durchschnittlich 40 Pfennig pro Kilometer hinaus erhöht werden und
sie muss nach Schweizer Vorbild auf das gesamte
Straßennetz ausgeweitet werden. Darüber wird zu gegebener Zeit zu sprechen sein. Ich glaube, dass eine Maut,
die nur auf der Autobahn gilt, auf Dauer nicht ausreichend
wirksam sein wird.
Aber auch die Angebotsseite der Bahn muss verbessert werden. Das ist unbestritten. Ein besseres Angebot im
Personen- und im Güterverkehr ist möglich, ohne dass es
unbedingt mehr kosten muss, nämlich dann, wenn effizienter gewirtschaftet wird. In diesem Punkt möchte ich den
Kollegen Lippold ausdrücklich unterstützen. Der schlichte Abbau von Gleisanschlüssen ist falsch. Wenn es mit
dem großen Koloss DB Cargo an dieser Stelle nicht geht,
muss aber die Infrastruktur erhalten bleiben, damit kleinere, mittelständische Privatbahnen diese Infrastruktur
übernehmen und nutzen können. Das ist unsere Aufgabe
und für diese Sicherung wollen wir gemeinsam sorgen.
({17})
Aber nach dem Grundsatz „Investition und Innovation“ - wir brauchen beides - möchte ich auch Dinge ansprechen, die nicht in erster Linie mit Geld zu tun haben.
Wir müssen zwei Rahmenbedingungen verbessern: Wir
brauchen mehr Chancengleichheit im Verkehrsmarkt und
offene Wettbewerbsstrukturen auf der Schiene.
Zur Chancengleichheit möchte ich Folgendes sagen:
Wir haben in den ersten zwei Jahren unserer Regierungszeit erreicht, dass die Investitionen in die Straße und in die
Schiene angeglichen wurden. Das heißt, Straße und
Schiene haben die gleichen Chancen. Wir haben ferner erreicht, dass die steuerliche Entlastung der Pendlerinnen
und Pendler hinsichtlich der Benutzung von Auto, Bus
Albert Schmidt ({18})
und Bahn angeglichen wurde. Auch das ist ein Beitrag zur
Chancengleichheit.
Wir müssen in einem nächsten Schritt - das sage ich
ganz unpolemisch - auch die Harmonisierung bezüglich
der Steuern und Abgaben für die Bahn auf europäischer
Ebene anpacken. Das bedeutet, die Mehrwertsteuer im
Bereich des Güterverkehrs und des Personenfernverkehrs
auf das Niveau in anderen europäischen Ländern zu senken. Wenn wir nicht handeln und die Dinge wie bisher
treiben lassen, dann werden wir die Harmonisierung nicht
erreichen.
Wir haben in Deutschland die höchsten Trassenpreise
und die höchsten Steuern und Abgaben für die Güterfracht
auf der Schiene in ganz Europa. Das kann nicht funktionieren; denn der Markt für den Gütertransport ist ein
europäischer Markt und der Frachtverkehr ist zunehmend
ein europäischer Verkehr. Wenn wir im Wettbewerb mit
anderen europäischen Eisenbahngesellschaften bestehen
wollen, müssen wir unsere Bahn genauso gut behandeln,
wie es zum Beispiel die Franzosen mit ihrer Bahn tun.
({19})
Ich rede nicht von Subventionen, sondern von einem fairen Wettbewerb der Bahnen in Europa, beim Güterverkehr.
Es ist ebenfalls richtig, wenn von der Bahn damit ernst
gemacht wird - das wird auch von der Politik unterstützt -, im Bereich des Nahverkehrs mehr Verantwortung
nach unten abzugeben und an die Regionen zu übertragen
sowie mittelständische Unternehmensstrukturen aufzubauen, um damit kundennähere und kostengünstigere Angebote zu schaffen. Die Mittelstandsinitiative will genau
das erreichen. Sie hat aber nicht den Rückzug aus der
Fläche zum Ziel, den wir ablehnen. Unter dem RegentKonzept verstehen wir den Aufbau von mittelständischen
Unternehmensstrukturen, um kundennähere und kostengünstigere Bahnangebote zu schaffen.
Eine weitere Bemerkung zum Thema Wettbewerb
- der Kollege Horst Friedrich hat diesen Punkt schon angesprochen -: Die Einführung von mehr Wettbewerb auf
der Schiene erweist sich zunehmend als unerlässlich, um
für Qualitätsverbesserung und mehr Kosteneffizienz im
System Bahn zu sorgen. Die Übertragung des Netzmonopols an den Konzern Deutsche Bahn AG ist meines Erachtens eine der wichtigsten Ursachen dafür, dass es bis
heute zu schwache Wettbewerbsstrukturen im Bereich der
Schiene gibt. Nach meiner Auffassung schließen sich Monopol und Innovation grundsätzlich aus.
({20})
Über kurz oder lang steht die Übertragung des Eigentums und der Verantwortung für das Streckennetz auf die
öffentliche Hand auf der Tagesordnung, also die Übertragung auf den Bund und im Falle regionaler Netze gegebenenfalls auf die Länder. Um richtig verstanden zu werden: Es ist keine Heilsbotschaft, die ich hier verkünde. Es
ist vielmehr eine ganz nüchterne wirtschaftspolitische
Überlegung. Das bedeutet nicht die Rückkehr zur Staatsbahn, sondern eine politische Festlegung in Bezug auf die
Finanzierung des gewünschten Infrastrukturnetzes. Denn
die Bewirtschaftung der Strecken soll nicht durch die
Staatsbahn erfolgen, sondern durch die Eisenbahnunternehmen, hier in erster Linie natürlich durch die DB Netz.
Diese Unternehmen sind dazu in der Lage.
Bezüglich des Nahverkehrsbereichs müssen wir auf
der politischen Ebene der Länder definieren, welches
Zugangebot gewünscht wird. Aber den Job machen dann
die DB Regio und andere Eisenbahnen. Es muss klar sein,
welches Verhältnis zwischen Besteller und Erbringer einer Leistung besteht. Ein vergleichbares Modell würde
sich auch für den Bereich der Infrastruktur anbieten und
würde dort für mehr Effizienz und kostengünstigere Lösungen sorgen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Blank?
Ja, gerne.
Herr Kollege Schmidt,
Ihre Ausführungen zum Thema Trennung von Netz und
Betrieb stoßen bei uns auf Zustimmung. Aber wenn ich
den Verkehrsminister heute Morgen richtig verstanden
habe, dann plant er eine Übertragung der Zuständigkeit
nur auf das Eisenbahn-Bundesamt. Wie wollen Sie also
mit Ihrem Koalitionspartner SPD eine Trennung von Netz
und Betrieb erreichen, die von allen Sachverständigen bei
der Anhörung zur Bahnreform gefordert wurde?
Frau Kollegin Blank, Sie haben den Minister
falsch verstanden. Ich will jetzt seine Ausführungen nicht
erklären - das kann er selbst tun -, muss aber trotzdem sagen, dass ich ihn anders verstanden habe. Ich habe ihn
nämlich so verstanden, dass diese Frage nicht mit einem
Schnellschuss aus der Hüfte beantwortet werden kann,
sondern dass sehr ernsthaft darüber nachgedacht und diskutiert werden muss.
({0})
Ich will Ihnen meine persönliche Auffassung zu diesem Thema sagen. Frau Kollegin Blank, wie Sie wissen,
bin ich Realpolitiker. Deshalb trete ich nachdrücklich
dafür ein, sich über Zwischenschritte zu verständigen, um
dem Ziel näher zu kommen. Das heißt in diesem Falle:
Die Einführung einer unabhängigen Wettbewerbsaufsicht
über das Eisenbahn-Bundesamt, die bei der Vergabe von
Trassen und bei der Trassenpreisbildung quasi als Regulator auftritt, ist ein richtiger, notwendiger und zielführender Schritt, um dem gemeinsamen Ziel eines fairen
Wettbewerbs auf der Schiene näher zu kommen. Das ist in
der Pipeline; das werden wir tun und das wird uns demnächst hier im Hause beschäftigen. Da sind wir völlig eiAlbert Schmidt ({1})
ner Meinung; es gibt nicht den Dissens, den Sie mit Ihrer
Frage zum Ausdruck bringen wollen.
Es geht uns auch nicht, liebe Kollegin Blank, um eine
wilde Privatisierung à la Großbritannien, sondern es geht
im Gegenteil um die Wahrnehmung der öffentlichen
Verantwortung und Entscheidungskompetenz für das
Streckennetz unter Einbeziehung der freigesetzten Produktivitätspotenziale eines regulierten Wettbewerbs. Dieser Entwicklung sehe ich mit großem Optimismus entgegen.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit ein Wort zum
Thema Interregio sagen, weil dazu auch ein Antrag des
Kollegen Winfried Wolf von der PDS zur Diskussion
steht. Ich sage hier ausdrücklich, dass wir - dazu gibt es
sogar Parteitagsbeschlüsse - den Erhalt der umsteigefreien Direktverbindungen im Sinne des Interregio oder
eines vergleichbaren Zugangebotes für dringend notwendig halten. Das ist ein ganz hohes Qualitätsmerkmal, gerade für touristische Reiseverkehre, aber auch für andere.
Wir sind jedoch ebenso der Meinung, dass man in Bezug
auf die Zuglinien, die defizitäre Betriebsergebnisse aufzuweisen, miteinander darüber sprechen muss, wer für
diese Defizite aufkommt.
Die Deutsche Bahn AG ist - daran müssen wir uns alle
gewöhnen - keine mildtätige Veranstaltung, sondern ein
Unternehmen, das natürlich schwarze Zahlen erwirtschaften muss. Wenn Defizite vorhanden sind, muss man
mit den Ländern reden. Ich fordere hier nochmals die Regierungen der Länder - gerade jener Länder, bei denen es
noch klemmt - auf, mit der Bahn in einen produktiven
Dialog zu treten, um Defizite ausgleichen zu helfen. Denn
diese Bundesregierung hat nicht nur die Investitionsmittel für die Bahn erhöht, sondern auch die Regionalisierungsmittel, die an die Länder gezahlt werden, damit sie
Nahverkehrszüge bestellen.
({2})
Das ist allein in diesem Jahr eine halbe Milliarde DM
mehr als im letzten Jahr. Die Regionalisierungsmittel für
die Länder liegen inzwischen bei 13,5 Milliarden DM. Ich
frage die Länderminister: Was macht ihr mit diesem Geld,
wenn ihr keine Züge bestellt?
({3})
Deswegen kann ich es nicht mehr hören, wenn die Landesregierungen sagen, sie hätten keine Mark, um zum
Beispiel einen Defizitausgleich beim Interregio mit zu finanzieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Seifert?
Ja, bitte.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege Schmidt, Sie sprachen gerade von dem Personentransport der Bahn. Der
Minister sagte vorhin, dass die Bundesregierung im Prinzip nur über die finanziellen Mittel Möglichkeiten des
Eingriffs habe. Sie haben gerade von Bereichen gesprochen, in die Bundesmittel fließen. Sehen Sie - gerade
wenn Sie Wettbewerb fordern - nicht auch die Möglichkeit oder sogar die Pflicht der Bundesregierung, lenkend
einzugreifen, dass zum Beispiel eine Regelung geschaffen wird, damit alle Personen die Bahn benutzen können,
auch Behinderte, Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, dass fahrzeuggebundene Einstiegshilfen zur Pflicht
werden, dass flexible Sitzangebote zur Pflicht werden, damit nicht nur ein oder zwei Rollstuhlfahrer im ICE mitfahren können, sondern auch einmal sechs oder acht,
wenn sie gerne gemeinsam verreisen möchten? Sehen Sie
nicht Möglichkeiten des Gesetzgebers oder zumindest der
Regierung - durch Verordnung -, festzulegen, dass solche
Dinge für alle Anbieter - dann ist auch wieder
Wettbewerbsgleichheit gegeben - Pflicht werden?
Herr Kollege Seifert, ich bin sehr dankbar für
die Frage,
({0})
denn sie gibt mir Anlass zu einer Grundsatzbemerkung.
Ich bin nicht der Auffassung, dass die in eine privatrechtliche Organisationsform überführte Bahn fortwährend
durch Staatskommissare dirigiert werden soll, übrigens
auch nicht durch grüne Staatskommissare, um das ganz
klar zu sagen. Aber in der Verantwortung des Eigentümers
dieses Unternehmens, ganz besonders aber in der Verantwortung der dafür vorhandenen Aufsichtsgremien gibt es
sehr wohl die Möglichkeit, auf solche Verbesserungen
hinzuwirken. Ich kann Ihnen versichern - ich kann Ihnen
das auch gerne als Dokumentation zur Verfügung stellen -: Ich habe gerade in den letzten Wochen und Monaten die entsprechenden Unternehmensmanager schriftlich
und mündlich wiederholt darum gebeten, gerade in dieser
Hinsicht zu weiteren Verbesserungen zu kommen. Das
gilt übrigens nicht nur für den ICE, sondern auch für den
Interregio, weil dessen Treppeneinstieg so eng ist, dass
man mit dem Rollstuhl überhaupt nicht hineinkommt,
übrigens ebenso nicht mit dem Fahrrad. Das heißt, auch
der Interregio ist als Fahrzeug nicht die Ikone der Innovation. Er ist ein altes Fahrzeug, das 1988 für 15 Jahre aufbereitet wurde und jetzt an die Grenze seiner Lebensdauer
kommt, während zum Beispiel ein VT 612 mit Niederflureinstieg für Sie, aber auch für Fahrradtouristen viel komfortabler und bequemer zu benutzen ist. Wenn es da zusätzliche Anregungen und Wünsche gibt, bin ich gerne
bereit, das an die richtigen Adressen weiterzutransportieren.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch
ein Wort zum Thema Automobilität sagen. Das Auto erbringt heute real den größten Teil der Verkehrsleistung. Es
muss so umweltverträglich wie möglich weiterentwickelt
Albert Schmidt ({2})
werden. Die Effizienzentwicklung der Motoren sowie die
Förderung alternativer Antriebstechniken und Treibstoffe
brauchen ein größeres politisches Gewicht als bisher. Dies
ist eine Neuausrichtung, die natürlich auch für andere Verkehrsträger gilt. Deshalb ist es sehr positiv, dass diese Dimension nicht nur im Verkehrsbericht angesprochen wird,
sondern dass im Rahmen des Zukunftsprogrammes wirklich 300 Millionen DM eingesetzt worden sind. Das haben wir hier im Haus gegen Ihre Stimmen beschlossen,
um zum Beispiel die Wasserstoff- und die Brennstoffzellentechnik im Fahrzeugantrieb nach vorne zu bringen.
Das ist notwendig, nicht weil die technische Optimierung
des Automobils die Generallösung für alle Folgeprobleme
der motorisierten Individualverkehre bringt, sondern weil
ohne diese technische Dimension die Aufgaben des Klimaschutzes und die Folgen endlicher Ölreserven überhaupt nicht zu bewältigen sind.
Die Perspektive eines emissionsfreien Autos muss vorangetrieben werden. Dazu ist diese Regierungskoalition
entschlossen. Wir haben dafür auch Geld bereitgestellt.
Das ist ein wichtiger Bestandteil des Gesamtkonzepts eines zukunftsfähigen Verkehrssystems. Ich erinnere daran,
dass der Katalysator auch das Ergebnis einer Diskussion
über das Waldsterben war. Dass das Dreiliterauto heute
endlich angeboten und vor allem auch nachgefragt wird,
liegt daran, dass Klimaschutz und Abhängigkeit vom Öl
einen niedrigeren Benzinverbrauch verlangen und dass
wir dies durch die Ökosteuer auch deutlich machen. Deshalb werden wir an diesem Prinzip festhalten.
({3})
Der Verkehrsbericht spricht von 30 Prozent Leerfahrten im Güterverkehr auf der Straße. Auch das zeigt, welche technischen Innovationspotenziale hier liegen. Elektronische und satellitengestützte Logistiksysteme und
Flottenmanagement sind Bereiche, die wir entwickeln
müssen.
Ein Wort zum Fahrrad, dem Verkehrsträger, der bei
verkehrspolitischen Diskussionen am häufigsten übersehen und unterschätzt wird. Ich glaube, es ist Zeit, das zu
ändern und das Fahrrad zu einem substanziellen Thema
der Verkehrspolitik zu machen. Stellen Sie sich nur einmal vor, was los wäre, wenn alle, die heute in den Städten
mit dem Rad fahren, auf das Auto umsteigen würden!
Wenn wir es umgekehrt schaffen - das ist möglich -, Verkehrsanteile bis zu 30 Prozent in Ballungsräumen durch
Fahrradverkehre zu erbringen, dann haben wir nicht nur
mehr Lebensqualität in den Städten, sondern auch weniger Emissionen, weniger Flächenverbrauch. Das ist eine
Dimension, um die wir uns stärker kümmern müssen.
Ich bedauere sehr, dass der Verkehrsbericht 2000 dem
Fahrrad gerade einmal eine Spalte widmet. Hier sind die
Fraktionen gefordert nachzulegen. Wir werden nächste
Woche im Ausschuss gemeinsam eine Anhörung zum
Thema Fahrradpolitik haben. Ich hoffe sehr, dass wir hier
fraktionsübergreifend noch ein ganzes Stück weiterkommen, um mit einem Masterplan Fahrrad für die Zukunft
einen wachsenden, schicken und attraktiven Fahrradverkehr in Deutschland zu sichern.
({4})
Nun ist Ihre Redezeit
abgelaufen.
Ja. - Frau Präsidentin, meine Damen und Herren,
ich möchte zum Schluss sagen: Mobilität ist nicht eine
Frage der Verkehrssysteme. Ich denke, dass die Kollegin
Faße auch noch etwas über das Binnenschiff sagen wird.
Das muss ich jetzt unterlassen. Mobilität spielt sich auch
in den Köpfen ab. Bündnis 90/Die Grünen werden auch
künftig grundsätzlich Anwalt von Natur und Umwelt sein.
Aber Prinzipientreue ist nicht mit geistiger Immobilität zu
verwechseln. Deswegen werden wir an neuen Konzepten
mitwirken. Wir werden sie vorlegen. Neue Mobilität
braucht Bewegung auch in den Köpfen.
({0})
Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Horst
Friedrich.
Herr Kollege
Schmidt, Sie haben meine Ausführungen zur Verwendung
von 1,2 Milliarden DM Investitionsmitteln im Jahre 2000
durch die Deutsche Bahn AG als „Schwachsinn“ bezeichnet. Ich habe absolut verlässliche Quellen, die genau den
von mir dargestellten Sachverhalt bestätigen. Ich füge
hinzu: Dabei handelt es sich nicht um einen Journalisten.
Sind Sie bereit, diesen Sachverhalt zur Kenntnis zu
nehmen? Wenn nicht, werden wir, eine schriftliche Frage
einreichen und darauf eine Antwort bekommen. Diese
wird die Regierung aufgrund der Frage des Kollegen
Fischer in der gestrigen Verkehrsausschusssitzung ohnehin zu liefern haben. Das, was ich ausgeführt habe, ist
der Sachverhalt und nicht das, was Ihnen Herr Mehdorn
- wahrscheinlich gestern Abend - gesagt hat.
Herr Kollege
Schmidt, wollen Sie antworten? - Bitte sehr.
In aller Kürze, Herr Kollege Friedrich: Das
Wort „Schwachsinn“ nehme ich mit dem Ausdruck des
Bedauerns zurück. Das war nicht kollegial. Wir verstehen
uns in der Sachdebatte viel zu gut, als dass ein solcher Ton
angemessen wäre.
Was den substanziellen Gehalt Ihrer Aussage betrifft,
mache ich einen Vorschlag zur Güte: Sie stellen eine
schriftliche Frage an die Bundesregierung, in der Sie genau diesen Sachverhalt abfragen. Dann erhalten wir
gemeinsam eine Antwort. Dann haben wir es schwarz auf
Albert Schmidt ({0})
weiß. Bis dahin habe ich nichts davon zurückzunehmen,
was ich hier in der Sache ausgeführt habe.
({1})
Nun hat das Wort der
Kollege Winfried Wolf, PDS-Fraktion.
Sehr geehrte Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten Ende 1998
auf eine Verkehrswende gehofft. Sie hat nicht stattgefunden. Wir hatten Ende 2000 auf neue Akzente durch einen
neuen Verkehrsminister gehofft. Diese sind nicht erkennbar. Zwar erleben wir im Verkehrsministerium einen flotten
Dreier von Müntefering über Klimmt zu Bodewig. Aber
wir erleben vor allem Kontinuität in Negativem, und das
noch vorgetragen mit dem Charme einer Büroklammer.
Dazu drei Beispiele:
Zunächst zum Beispiel Eisenbahnerwohnungen: Vor
Weihnachten gab es für 300 000 Menschen eine schöne
Bescherung: Deren Wohnungen sollen privatisiert werden. Das ist Kontinuität von Wissmann bis zu Bodewig.
Ein Unterschied besteht aber: Bei CDU/CSU und F.D.P.
war klar, dass sie dies tun würden; bei der SPD war das
ein glatter Wortbruch.
({0})
Zum zweiten Beispiel, zum Mythos der Wirtschaftlichkeit: Immer noch wird gesagt - jetzt gerade auch vom
Kollegen Ali Schmidt, dass die Bahn als Gesamtsystem
wirtschaftlich, also im Grunde genommen so arbeiten
sollte, dass sie auch an die Börse gehen könnte. Man muss
sich doch fragen, warum zum Beispiel die Oberammergauer Passionsspiele,
({1})
der Rhein-Main-Donau-Kanal sowie der Rhein und die
Loreley nicht an die Börse gehen.
({2})
Das wären Junkbonds bzw. Schrottaktien an der Börse!
Übrigens, die Binnenschifffahrt hat einen Kostendeckungsgrad von 8 Prozent. Kein Mensch sagt, Binnenschifffahrtswege und Schiffe sollten an die Börse gehen.
Dann wären diese sofort tot.
Dies gilt im besonderen Maße für die Bahn. Immer
mehr Menschen gewinnen den Eindruck, dass die Wirtschaftlichkeit der Bahn nicht primär eine Frage der Sinnhaftigkeit des Verkehrs ist, sondern eine Frage des
Immobiliengeschäftes.
({3})
Eine Schlagzeile im „Focus“ lautete: „Das Megamilliardending: Das 41 000 Kilometer lange Schienennetz ist als
Immobilie an der Börse pures Gold wert.“ Das findet momentan in dieser Republik statt.
({4})
Zum dritten Beispiel, zur negativen Kontinuität bei der
Verkehrsplanmisswirtschaft: Wir erleben, dass die neue
Bundesregierung zunächst einmal keinen neuen Bundesverkehrswegeplan aufstellt, obwohl im Verkehrsbericht
ausgeführt wird, dass alle Daten überholt seien. Es werden also vier Jahre lang Sandkastenspielereien gemacht,
um angeblich neue Prognosen zu erstellen.
Zudem erleben wir, dass schon jetzt falsche Grundlagen für einen neuen Bundesverkehrswegeplan, der ab
2002 gelten soll, aufgestellt werden: Herr Bodewig, Sie
sagen, dass, während die Bevölkerungszahl um 2 Prozent
wachse, der PKW-Verkehr achtmal schneller, nämlich um
16 Prozent, wachsen solle, dass sich der Luftverkehr ein
weiteres Mal verdoppeln solle und dass der LKW-Verkehr
um 71 Prozent wachsen solle.
Ist diese Art von Wachstum, das überproportional zum
Bevölkerungswachstum stattfinden soll, ein Naturgesetz?
Genauso hat die Atomlobby in den 70er-Jahren argumentiert, nämlich dass ein Wirtschaftswachstum nur dann erzielt werden könne, wenn das Energiewachstum genauso
hoch sein würde. Das ist nicht eingetreten. Im Gegenteil:
Heute hat sich das Energiewachstum vom Wirtschaftswachstum abgekoppelt.
Dies gilt auch für den Verkehrsbereich einiger anderer
Länder. Sie wissen vielleicht nicht, dass in Schweden, in
Dänemark, in den Niederlanden und in der Schweiz die
Zahl der PKWs in den letzten zehn Jahren kaum gewachsen ist, dass die PKW-Leistungen stagnieren und diese
Länder trotzdem nicht ärmer wurden bzw. in diesen Ländern das gleiche Wirtschaftswachstum wie in den anderen
Ländern stattgefunden hat.
({5})
In Wirklichkeit erleben wir eine ganz andere Planwirtschaft; die bestehenden Pläne werden an anderer Stelle
eingetütet. Ein Beispiel ist der A3XX, der jetzt A 380
heißt. Die Konzeption bei diesem Flugzeug wird nur aufgehen, wenn es wirklich eine Verdopplung des Flugverkehrs gibt. Es muss sich also Erfolg am Markt einstellen.
Habe ich „Markt“ gesagt? - Quatsch, wir zahlen Subventionen in Höhe von 2 Milliarden DM, damit der Flieger
überhaupt starten kann!
Die Prognosen, die angestellt werden, müssen in materielle Voraussetzungen, zum Beispiel Straßenbau, umgesetzt werden. Ein Herr in diesem Saal, der früher politisch
gewichtiger war, hat einmal gesagt: Es kommt darauf an,
was hinten herauskommt. Das heißt konkret: Wenn am
Ende eines Jahres - auch unter SPD/Grüne - herauskommt, dass das Straßennetz um 800 Kilometer länger
wurde, dass das Schienennetz um 300 bis 500 Kilometer
kürzer wurde, dass fünf neue Regionalairports und drei
neue Landebahnen in Betrieb genommen wurden, dann
sind die Konsequenzen klar. Wenn dann noch hinzukommt, dass Fliegen billiger wird, dass Autofahren relativ billig ist und dass die Bahn immer teurer wird, ist es
doch logisch, wohin dieses Wachstum führt.
({6})
Albert Schmidt ({7})
Nun sagen Sie, Herr Bodewig, dass auch die Bahn
Wachstum verzeichnen werde. Kollege Schmidt sagt,
dass sich der Güterverkehr auf der Schiene verdoppeln
solle und dass der Personenverkehr auf der Schiene noch
einmal um 33 Prozent wachsen solle. Ich glaube, dass
diese Kollegen Tomaten auf den Augen haben. Ali
Schmidt, Sie sind im Aufsichtsrat der Bahn, Sie haben genauere Daten als ich und wissen es am besten: Die
DB Cargo steht vor dem Zusammenbruch. Die durchschnittliche Transportweite des Güterverkehrs liegt bei
lediglich 250 Kilometer. Trotzdem sollen massenhaft
Gleisanschlüsse und Terminals abgebaut werden. Die
DB Cargo sagt, man müsse sich auf eine Transportweite
von 400 Kilometer hin orientieren. Real aber findet fast
nichts in diesem Bereich statt. Die Zahl der Güterwaggons
wurde in den letzten zehn Jahren sogar mehr als halbiert.
({8})
Herr Schmidt, Sie sagen, es gebe heute 1 000 Langsamfahrstellen. Zur Halbzeit der Legislaturperiode hieß es:
Oh, wir haben entdeckt, es gibt Langsamfahrstellen. - Darüber gibt es seit Jahren Statistiken. Die Zahl der
Langsamfahrstellen hat von Jahr zu Jahr zugenommen.
Man muss sich auch Folgendes einmal konkret anschauen: Es ist detailliert geplant, dass die Zahl der Lokführer im Bereich des Fernverkehrs in vier Jahren um
44 Prozent abgebaut wird. Die Beschäftigtenzahl wurde
schon halbiert und trotzdem sollen noch einmal 70 000
Stellen abgebaut werden. Der „Spiegel“ dieser Woche dokumentiert zu Recht, dass die Sicherheit auf der Schiene
regelmäßig reduziert wird und dass es gerade in diesem
Bereich grandiose Fehlleistungen gibt.
Hinzu kommt - was von Herrn Mehdorn konkret gesagt wird -, dass es qualitative Verschlechterungen geben
wird, dass zum Beispiel die Speisewagen abgeschafft
werden sollen und eine Bedienung mit Essen am Platz es
dann nur in der ersten Klasse geben soll, dass der Rabatt
der Bahn-Card halbiert werden soll, dass man bei gewissen Verbindungen nur noch mit Vorbestellungen in die
Bahn hineinkommen soll, dass die Zahl der Bahnhöfe um
1 200 reduziert werden soll.
Ich habe hier einen Artikel aus einer Berliner Zeitung,
bei dem die Schlagzeile heißt: „Bund will die schönste
S-Bahn-Station Berlins verkaufen“. Dieser Verkauf wird
ja nicht von irgendwem betrieben, auch nicht von Berlin:
Der Bund, das Bundeseisenbahnvermögen, will den
Bahnhof am Mexikoplatz verkaufen und den S-BahnAusgang am Mexikoplatz schließen. Das ist die Realität
heute: Verkehr auf der Schiene wird regelmäßig abgebaut.
({9})
Beispiel Interregio: Ich finde es bezeichnend, wie das
Beispiel Interregio hier diskutiert wird. Denn es steht für
einen zerstörerischen Kurs der Bahn. Der Interregio war
ein maßgebliches Bindeglied von Nah- und Fernverkehr.
Der Interregio war ein absoluter Renner. Bis Mitte der
90er-Jahre hatte er mehr Fahrgäste als IC/EC und mehr
Fahrgäste als der ICE. Ab dem Jahr 1996 wurde er - auf
Beschluss des Bahnvorstandes - systematisch kaputtgemacht: Systematisch wurden Anschlüsse abgebaut; systematisch wurden Bistro-Waggons herausgenommen; systematisch wurde schlechtes Waggonmaterial eingesetzt.
Sie werden jetzt erleben, dass ganze Regionen - Ostfriesland, Oberschwaben, Rügen usw. - vom Fernverkehr abgehängt werden und davon auch der Nahverkehr Nachteile haben wird. Denn wenn die Länder Gelder für den
Interregio einsetzen werden, um die Verbindungen zu erhalten, dann fallen die Regionalbahnen hinten herunter.
({10})
Ich glaube, dass erkennbar ist, dass diese Regierung
auch unter Verkehrsminister Bodewig die alte Politik fortsetzt: pro Auto, pro Flugverkehr und pro LKW. Ich
glaube, dass Impulse von außen kommen müssen, von unten, von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis. Ich bin
Herrn Bodewig dankbar, dass er den Begriff „Bürgerbahn
statt Börsenbahn“ aufgegriffen hat - eine Initiative, die
sich Ende letzten Jahres gegründet hat und deren erstes
Ziel eine Kampagne zum Erhalt des Interregios ist. Heute
plakatieren ganze Regionen mit der Schlagzeile: „Die
Schiene wurde nicht erfunden, um das Rad zurückzudrehen. Interregio muss bleiben, damit es weitergeht!“
({11})
Ich glaube, dass die Verkehrspolitik seit Krause über
Wissmann bis Bodewig das Rad der Geschichte zurückdrehen will. Die Situation bei der Bahn ist heute schon so
schlimm, dass die Bahn ernsthaft - so eine Schlagzeile auf Dampfloks zurückgreift. Als Beispiel nenne ich die
DB Netz in Ravensburg, Oberschwaben. Im Bahnhof von
Ravensburg mussten vor Weihnachten Dampfloks von
Nostalgievereinen für Rangierarbeiten eingesetzt werden,
weil keine Loks mehr vorhanden waren. Wir erleben ein
Zurück zu Tonnenideologien. Hier wird gesagt, Mobilität
finde in den Köpfen statt. Wenn hier propagiert wird, dass
mit Wirtschaftswachstum gleichzeitig ein Wachstum
beim Verkehr verbunden ist, sage ich: Alzheimer.
({12})
Es gibt ein Zurück zu einer Bahn als einer Börsenbahn,
die für Geschäftsleute oder für uns Politiker sinnvoll sein
kann, aber mit der man um 18.06 Uhr nicht mehr von Rostock nach Berlin kommt, bei der im Rahmen der weiteren
Entwicklung ganze Städte abgehängt werden.
({13})
Wir sagen, dass diese Entwicklung umweltschädlich
ist, dass sie unsozial ist, dass sie ausgrenzt und damit auch
Hoffnungen enttäuscht, auch unsere Hoffnungen auf eine
Verkehrswende, die anscheinend woanders herkommen
muss.
Danke schön.
({14})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Karin Rehbock-Zureich für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Mobilität für
Menschen und Güter sowie die Herausforderungen der
Globalisierung in einem zusammenwachsenden Europa
einerseits und die Verpflichtung, unseren Kindern und Enkelkindern eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen, andererseits werden die Verkehrspolitik der kommenden
Jahre bestimmen. Ich danke ganz ausdrücklich der Regierung für die Grundlage dieser neuen Verkehrspolitik, für
den Verkehrsbericht 2000.
({0})
Nachhaltige Mobilität wird gerade vor dem Hintergrund der Steigerung des Verkehrsaufkommens im Mittelpunkt einer politischen Strategie stehen. Herr Lippold,
ich wundere mich über Ihren Redebeitrag, nach dem Sie
die Zuwächse des Güterverkehrs, die 64 Prozent betragen,
ausschließlich auf der Straße abwickeln wollen. So haben
Sie es in Ihrer Rede dargestellt. Straßenraum wird nicht
beliebig vermehrbar sein, die Engpässe spüren wir schon
heute. Zur Erhaltung der Mobilität und eines funktionierenden Verkehrssystems wird es notwendig sein, dass die
einzelnen Verkehrsträger effizient zusammenwirken.
Dies wird Inhalt des neuen Bundesverkehrswegeplans
dieser Regierung sein.
({1})
Die Schiene als Bestandteil eines solchen Verkehrssystems ist unverzichtbar.
({2})
Unsere Aufgabe wird es sein, Rahmenbedingungen zu
schaffen, um Teile des Zuwachses beim Güterverkehr auf
der Schiene abzuwickeln. Dies wird aber nicht im nationalen Alleingang möglich sein. Wir müssen dies europaweit aufgreifen und endlich zu einem transeuropäischen
Schienennetz kommen.
({3})
Herr Lippold, Sie haben von einem Crashprogramm
gesprochen. Deshalb möchte ich einmal das Crashprogramm der Vorgängerregierung hinsichtlich der Bahn aufgreifen: Es ist nicht richtig, wenn Sie hier behaupten, die
Bahnreform sei gegen die SPD gemacht worden. Vielmehr wurde die Bahnreform 1994 parteiübergreifend auf
den Weg gebracht. Diese Bahnreform sollte eine Trendwende hin zu mehr Gütern auf der Schiene schaffen. Im
Rahmen der Bahnreform wurden damals Finanzmittel für
Investitionen in einer Größenordnung von 9 bis 10 Milliarden DM zugesagt. Hier beginnt dieser Crashkurs. Tatsache ist, dass die alte Bundesregierung die Investitionsmittel auf 5,7 Milliarden DM zurückgefahren hat.
({4})
- Das ist so richtig. - Im Jahr 1998 wurden die Mittel auf
diesen Betrag reduziert, sodass Investitionen in dem Umfang, in dem sie nötig gewesen wären, nicht mehr geleistet werden konnten.
({5})
Als Regierungsfraktion haben wir gemeinsam mit der
Regierung die Investitionsmittel für die Bahn sofort erhöht; denn die Folgen dieses Crashkurses der alten Regierung waren, dass die Gelder für das Bestandsnetz fehlten und dadurch notwendige Investitionen ausblieben. Es
wurde auf Kosten der Zukunft gewirtschaftet. Es wurde
versäumt, eine Analyse des Zustandes der Bahn zu Beginn
der Bahnreform vorzunehmen. Eine solche Analyse hat
der jetzige Bahnchef Mehdorn veranlasst. Dabei ist leider
herausgekommen - das haben wir auch Ihnen zu verdanken -, dass es mit dem veralteten Netz und dem veralteten
Fahrzeugbestand nicht möglich ist, die Ziele der begonnenen Bahnreform zu verwirklichen, mehr Verkehrsleistung
auf die Schiene zu bekommen.
Das Fazit, das hier gezogen werden muss, lautet, dass
das Ziel der Bahnreform nicht erreicht wurde, dass wir
aber diese Bahnreform weiterführen wollen. Die Voraussetzung für eine Weiterentwicklung sind natürlich die
Finanzen.
({6})
Wir haben 1999 begonnen, die Investitionsmittel auf
7 Milliarden DM zu erhöhen. Wir werden der Bahn 2001
Investitionen in der Größenordnung von 8,8 Milliarden DM zur Verfügung stellen. Wir haben darüber hinaus
begonnen, die Darlehen in Baukostenzuschüsse umzuwandeln. Das heißt, dass die Bahn in den kommenden
zehn Jahren um rund 4 Milliarden DM zusätzlich entlastet wird.
({7})
Auch sorgen wir dafür - ich möchte mich dem Dank an
die gesamte Fraktion anschließen -, dass 2 Milliarden DM
pro Jahr aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen nicht in
Großprojekte fließen, sondern dazu genutzt werden, das
Bestandsnetz auf Vordermann zu bringen. Das Bestandsnetz wird so zu einem funktionierenden Netz, das auf die
Wirtschaft insgesamt und auf die Pünktlichkeit im Besonderen positiv wirken wird. Diese dringenden Investitionen in das Netz der Bahn werden es erstmals ermöglichen,
dass ein wirtschaftliches Ergebnis im Bereich des Schienenverkehrs zustande kommt.
Weiterhin haben wir in einem Anti-Stau-Programm die
Schiene mit 560 Millionen DM pro Jahr unterstützt, um
Engpassbeseitigung zu betreiben.
({8})
- Herr Fischer, wir betreiben vorausschauende Politik in
die Zukunft. Wir haben verabredet, dass wir Chancengleichheit zwischen den Verkehrsträgern herstellen. Dies
geschieht unter anderem durch eine streckenbezogene
LKW-Gebühr. Aus diesen Geldern werden wir den Betrag
ab 2003 aufbringen.
({9})
Eine weitere wichtige Voraussetzung, um Chancengleichheit zwischen den Verkehrsträgern zu erreichen,
sind faire Wettbewerbsbedingungen. Ich meine Wettbewerb der Schiene - ich rede ganz bewusst nicht von der
DB AG, sondern von der Schiene -, aber auch zwischen
den Verkehrsträgern.
Wir werden die Kompetenzen des Eisenbahn-Bundesamtes erweitern. Ziel ist die Schaffung einer durchsetzungsfähigen Aufsichtsbehörde, die den diskriminierungsfreien Zugang zum Netz für alle Mitbewerber der
DB AG sichert. Es muss von unserer Seite kritisch verfolgt werden, ob der Einstieg, so wie wir ihn jetzt beginnen, ausreicht oder ob wir in der Zukunft die Kompetenzen des Eisenbahn-Bundesamtes weiterstärken müssen.
Es ist wichtig, eine Behörde zu schaffen, die die Aufgaben so wahrnimmt, wie sie ihr gestellt werden.
({10})
Ich möchte zu dem viel diskutierten Bereich der Trennung von Netz und Betrieb kommen: Ich halte es für fatal, zu vermitteln, die Trennung von Netz und Betrieb
könne sämtliche Schwierigkeiten im Schienenverkehr beseitigen. Dies kann so nicht sein. Wo haben wir in Europa
ein positives Beispiel? Das englische Beispiel kann für
uns kein Vorbild sein, das französische Konzept steht nur
auf dem Papier. Dennoch sagen wir: Es muss die bestmögliche Organisationsform gefunden werden, um Chancengleichheit im Wettbewerb zu garantieren.
({11})
Wir müssen die Chancen und Risiken unterschiedlicher Strukturen abklären. Wir wollen einen Prüfauftrag
geben, die Organisationsformen umfassend zu bewerten,
um langfristig eine tragfähige Entscheidung treffen zu
können: Wie sieht die Zukunft der Organisation von Netz
und Betrieb aus? Wir halten nichts davon, mit Schnellschüssen Situationen herbeizuführen, die uns mit England
vergleichbare Verhältnisse bescheren würden.
({12})
Frau Kollegin, Sie
müssten nun bitte zum Schluss kommen.
Mit dem EU-Infrastrukturpaket ist auf europäischer Ebene ein wichtiger
Durchbruch für einen gesamteuropäischen Güterverkehr auf der Schiene gelungen. Nur ein grenzenloser Verkehr auf der Schiene ohne Barrieren bringt Wettbewerbsmöglichkeiten und Chancengleichheit mit der Straße.
Flankierend unterstützen wir mit dem Einstieg in eine
Interoperabilität zwischen den Bahnen in Europa diese
Entwicklung. Vom Güterverkehrsgewerbe wurde dies als
Urknall im europäischen Verkehr betrachtet.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluss.
Es wird in der Zukunft notwendig sein, auch regionale
Verkehre an die großen Zentren besser anzuknüpfen. Wir
haben dafür Regionalisierungsmittel in einer Größenordnung von 13,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Wir
werden in der Zukunft dafür sorgen, dass europäische Güterbahnen, regionale Netze in der Fläche und die großen
Linien ein funktionsfähiges Gesamtsystem bilden werden, um Mobilität zu gewährleisten, damit wir in dem Bereich Schiene eine wirtschaftliche und ökologische Voraussetzung zum Wohle unserer Kinder schaffen.
Danke schön.
({0})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Eduard Oswald.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ziel der Verkehrspolitik
von CDU und CSU ist es, die Mobilität als Voraussetzung
für wirtschaftliches Geschehen und wirtschaftliche Entwicklung in unserem Lande sicherzustellen. Deshalb wollen wir, dass es erstens mit der Verkehrspolitik insgesamt
wieder aufwärts geht, dass zweitens die Verkehrsinfrastruktur nicht vernachlässigt wird, drittens das Verkehrsgewerbe den notwendigen Flankenschutz erhält und viertens vor allem die gegenwärtigen Bahnprobleme gelöst
werden.
({0})
Ich habe sehr genau beobachtet, dass die Koalitionsfraktionen ganz ehrfürchtig waren und viel Beifall
gespendet haben, als Bundesminister Kurt Bodewig hier
gesprochen hat. Ich kann sehr gut verstehen, warum die
Koalitionsfraktionen Bundesminister Kurt Bodewig so
viel Beifall gespendet haben: Sie müssen ihm Mut machen, damit er länger als seine beiden Vorgänger durchhält.
({1})
Wir wollen ein Verkehrssystem, das eine schnelle, flexible, zuverlässige, umweltverträgliche und kostengünstige
Mobilität von Personen und Gütern ermöglicht. Dies ist
möglich. Dazu brauchen wir - das ist der entscheidende
Punkt - alle Verkehrsträger und eine ideologiefreie Verkehrspolitik.
({2})
Jeder von uns weiß, dass das Auto in unserem Land das
Verkehrsmittel Nummer eins ist. Tatsache ist, dass es für
viele Bürgerinnen und Bürger in unserem Land überhaupt
keine Alternativen zum Auto gibt. Im ländlichen Raum ist
das Auto auch Nahverkehrsmittel. Viele unserer Bürgerinnen und Bürger sind tagtäglich auf das Auto angewiesen. Verkehrspolitik darf sich daher nicht ständig gegen
den Straßenverkehr wenden; vielmehr müssen in der Verkehrspolitik die Realitäten akzeptiert werden. Wer täglich
mit dem Auto im Stau steht und zugleich durch immer
mehr Steuererhöhungen abkassiert wird, der verliert zu
Recht das Verständnis in die Verkehrspolitik.
({3})
Wir brauchen eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur. Wir brauchen nicht nur gut ausgebaute Straßen,
sondern auch gut ausgebaute Schienenwege, Wasserstraßen und Flugplätze. Alles muss miteinander verzahnt
und vernetzt werden. Die Bundesregierung hat zwar zahlreiche Programme auf den Weg gebracht. Aber nur noch
die Experten haben den Durchblick. Mir wäre zügiges
Bauen lieber als immer neue Wortschöpfungen und
Ankündigungen. Verkehrspolitik muss in den Bauabteilungen und nicht in der Abteilung „Wie komme ich unbeschadet über das Wahljahr 2002 hinweg?“ gemacht werden.
({4})
Ich begrüße es sehr, dass Kurt Bodewig gesagt hat, er
möchte ein Infrastrukturminister sein. Nur, dann müssen
Sie, lieber Herr Bundesminister, dafür sorgen, dass es anstelle einer Vielzahl von unübersichtlichen Programmen
eine solide Finanzausstattung für Investitionen in die
Bundesverkehrswege gibt. Tatsache ist doch, dass mit den
Investitionsprogrammen eine Fülle von Maßnahmen lediglich anfinanziert und der größere Teil in die Zeit nach
2002 verschoben wird. Ihr Anti-Stau-Programm ist im
Grunde genommen ein Verzögerungsprogramm; denn die
Mittel werden erst ab 2003 bereitgestellt.
({5})
Die in den Zukunftsinvestitionsprogrammen für Straße
und Schiene enthaltenen Ansätze, die durchaus richtig
sind, sind alles andere als ausfinanziert. Es geht nicht nur
darum, etwas anzufinanzieren. Man muss auch sagen, wie
es weitergehen soll.
({6})
Niemand kann sich des Eindruckes erwehren, dass Sie
alles tun, damit Sie möglichst ruhig und still und ohne
Proteste der Bürger über das Jahr 2002 hinwegkommen.
Das beste Beispiel ist die Vorgehensweise beim Bundesverkehrswegeplan. Ich finde es zwar in Ordnung, dass
auch die Komponenten Umwelt, Raumordnung und Städtebau in die Bewertungskriterien einbezogen werden. Das
ist auch unsere Position. Aber kein Beobachter kann sich
des Eindrucks erwehren, dass die Untersuchungen zum
Bundesverkehrswegeplan auch das Ziel hatten, das Ganze
hinauszuzögern, damit Sie vor Ort nicht sagen müssen,
welche Straße Sie nicht bauen wollen.
({7})
Der Bundesverkehrswegeplan ist auch deswegen nicht
auf den Weg gebracht worden, weil man sich in der Koalition letzten Endes nicht über die Bedeutung der Straße
in unserem Verkehrssystem einig werden konnte. Herr
Bundesminister, Sie haben noch viel Arbeit in der Koalition vor sich; denn die Richtigkeit des in der Öffentlichkeit erweckten Eindrucks - es gab vertrauliche Gespräche
an der Regierungsbank -, die Grünen hätten ihre Position
zum Straßenverkehr und insbesondere zum Auto revidiert, muss in der Praxis erst noch bewiesen werden.
({8})
Wir werden darauf achten, dass sich die Projekte an
den absehbaren, von den Bürgern geäußerten Mobilitätsbedürfnissen orientieren. Wir sagen ganz klar und deutlich: Umgehungsstraßen sind auch Menschenschutz; darum muss ihr Bau zügig realisiert werden.
({9})
Wenn heute knapp 2 000 Kilometer des Autobahnnetzes stauanfällig sind und wenn ein zu hohes Verkehrsaufkommen bei einer nicht ausreichenden Kapazität in etwa
40 Prozent der Fälle Stauursache Nummer eins ist, dann
bedeutet das, dass wir eine Verbesserung des Verkehrsflusses, ein gezieltes Störfallmanagement und ein koordiniertes Baustellenmanagement brauchen. Unser Ziel sind
weniger Stau und mehr Mobilität. Aber ohne zusätzliche
Finanzmittel für den Bau wird es nicht gehen.
({10})
Herr Bundesminister, Sie müssen sich zweier Problemfälle in besonderer Weise annehmen: Es geht zum einen um das Autobahnnetz in den alten Bundesländern wir brauchen ein Sonderprogramm zum sechsstreifigen
Ausbau der überlasteten Strecken - und zum anderen um
Maßnahmen, die im Zuge der EU-Erweiterung von Bedeutung sind. Es geht nicht an, dass unsere Nachbarn
bauen, während es bei uns auf dem Feldweg weitergeht
oder sich der Verkehr über die Dörfer quält. Das kann
nicht akzeptiert werden.
({11})
Wir wollen einen attraktiven und leistungsfähigen
Schienenverkehr. Ich bin sehr dankbar dafür, dass hierzu
heute sehr vieles schon gesagt worden ist. Dies gilt für den
Personenverkehr ebenso wie für den Güterverkehr. Ich
will, dass Hartmut Mehdorn für das Unternehmen Bahn
Erfolg hat. Er ist Chef des Unternehmens Deutsche Bahn;
aber er ist nicht Eisenbahnminister. Die Regierung vertritt
den Eigentümer, und das ist der Bund. Die Regierung muss
immer sagen, was sie beim Thema „System Schiene“ will
und welche Vorstellungen sie im Hinblick auf die Schiene
hat. Abtauchen ist in keiner einzigen Phase zulässig.
({12})
Es ist gut, dass Positionen heute klar bezogen worden
sind. Das wird von uns ausdrücklich begrüßt. Wir werden
daraufhin vieles miteinander zu diskutieren haben. Es gibt
Klärungsbedarf. Wir können doch nicht hinnehmen, dass
das Güterverkehrsaufkommen auf der Schiene zurückgeht, dass der kombinierte Verkehr, was sein Aufkommen
angeht, rückläufig ist und dass sich die Bahn aus der
Fläche immer mehr zurückzieht. Ich nehme jetzt bewusst
nicht zu Fragen des Unternehmens Bahn Stellung. Dazu
ist Richtiges heute schon gesagt worden.
Unser Maßstab sind die Zufriedenheit und die Sicherheit der Kunden bei der Benutzung der Bahn. Das sind
unverzichtbare Voraussetzungen für den Erfolg des Unternehmens und seiner Mitarbeiter. Wir werden alle Vorschläge im Hinblick darauf prüfen, ob durch sie wieder
mehr Verkehr auf die Schiene gebracht wird. Das ist für
uns immer der Schlüssel. Wir sind den Bürgerinnen und
Bürgern schuldig, dass am Ziel eines flächendeckenden
Bahnangebots festgehalten wird. Ziel der Verkehrspolitik
muss es sein, Qualität und Leistungsfähigkeit der Schiene
mit dem Ziel einer umweltgerechten Mobilität für alle
Bürger zu steigern.
Wir haben eine Anhörung zur Bahnreform durchgeführt. Ich möchte die Expertenanhörung in drei Punkten
zusammenfassen:
Erstens. Die Zementierung der Monopolstellung des
nationalen staatlichen Bahnunternehmens behindert gegenwärtig den Wettbewerb auf der Schiene.
Zweitens. Die Schaffung der Voraussetzungen für den
Wettbewerb konkurrierender Unternehmen ist ohne Zweifel die Schicksalsfrage der Bahnreform.
Drittens. Der diskriminierungsfreie Zugang zum
Schienennetz muss gewährleistet sein. Das bedeutet, dass
bei der Fortführung der Bahnreform zwei Bereiche getrennt voneinander behandelt werden müssen, und zwar
das System Schiene und das Unternehmen DB AG. In diesem Punkt müssen wir weiter miteinander ringen; Sie haben Ihre Position heute dargestellt.
Es besteht überhaupt kein Zweifel: Wir brauchen
neuen Schwung für die Bahn. Schwung heißt auch für
mich, dass importierte Güter an unseren Grenzen nicht
von der Bahn auf LKW umgeladen werden, sondern dass
importierte Güter an unseren Grenzen schnell und flexibel befördert werden. Ich will keine Schrumpfbahn, die
nur wenige Fernlinien bedient, sondern eine leistungsfähige, flächendeckende und grenzüberschreitende Bahn.
Herr Bundesminister, wir müssen auch Fragen der Investitionen klären. Was sagen Sie zum Vorfinanzierungsangebot beispielsweise Baden-Württembergs und Bayerns hinsichtlich der Strecke Stuttgart-Ulm-Augsburg?
Was sagen Sie zur ICE-Trasse Nürnberg-Erfurt? Wie geht
es dort weiter? Diese Fragen müssen konkret beantwortet
werden.
({13})
Nicht nur die Bahn, sondern das Verkehrsgewerbe insgesamt braucht politischen Flankenschutz. Der Straßengüter- wie auch der Straßenpersonenverkehr, die Binnenschifffahrt und der Luftverkehr brauchen die politische
Unterstützung.
Sorge bereitet uns dabei vor allem das mittelständisch
geprägte deutsche Straßengüterverkehrsgewerbe, das
zunehmend in Existenznöte gerät. Die deutschen Spediteure können im Wettbewerb auf dem europäischen Transportmarkt längst nicht mehr mithalten. Es reicht nicht aus,
wenn der Bundesverkehrsminister bei der Europäischen
Union darum bittet, die sehr unterschiedlichen Unterstützungsmechanismen unserer Nachbarländer zu überprüfen. Wir fordern den Bundesverkehrsminister auf, dass er
sich dieser Probleme intensiv annimmt.
({14})
Es ist nicht zu akzeptieren, dass die gestiegenen Kraftstoffkosten in Frankreich, Belgien, Italien und den
Niederlanden ausgeglichen werden und die rot-grüne
Bundesregierung auch weiterhin zu keiner spürbaren
Kompensation für das Verkehrsgewerbe bereit ist.
({15})
Wir brauchen ein Sofortprogramm für das deutsche
Transportgewerbe. Natürlich muss die Ökosteuer weg.
Daneben aber brauchen wir eine wettbewerbsverträgliche
Gestaltung der streckenbezogenen LKW-Gebühr, eine
schnelle Lösung der Ökopunkte-Problematik im Alpentransit und die wirkungsvolle Bekämpfung von Dumpinglöhnen und illegaler Kabotage. Wir wollen Taten sehen; das ist der entscheidende Punkt.
({16})
Auch der Straßenpersonenverkehr braucht Unterstützung. Der Omnibus ist nicht nur das Rückgrat des öffentlichen Nahverkehrs, er ist auch bedeutender Wirtschaftsfaktor. Im ländlichen Raum ist der Bus für viele
Bürgerinnen und Bürger oftmals das einzige Mobilitätsangebot. Darüber hinaus ist die Bahn im öffentlichen
Nahverkehr auf den Bus als Zubringer angewiesen; denn
ohne den Bus ist eine Flächenbedienung nicht denkbar.
Der Bus darf nicht das Stiefkind der Verkehrspolitik sein.
({17})
Nur der Erhalt einer mittelständischen Struktur im
Omnibusgewerbe sichert eine wirtschaftliche und funktionsfähige Mobilität und einen bezahlbaren öffentlichen
Personennahverkehr in Deutschland. Wir fordern daher
den Bundesverkehrsminister auf, dass er sich bei der Europäischen Union für Lösungen einsetzt, die dem deutschen Omnibusgewerbe einen fairen Wettbewerb ermöglichen.
So wie der Omnibus von der regierungsamtlichen Verkehrspolitik leicht übersehen wird, ergeht es auch der
Binnenschifffahrt. Damit sie aber im Güterverkehr eine
wirtschaftliche und ausbaufähige Alternative zu den Verkehrsträgern Schiene und Straße sein kann, müssen die
Rahmenbedingungen weiter verbessert werden.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir als CDU und CSU setzen auf alle Verkehrsträger. Dazu gehört auch der Luftverkehr. Wir sehen dringenden Handlungsbedarf vor allem in der Verbesserung
der Anbindung der Flughäfen, im Ausbau ihrer Infrastruktur und in der Optimierung der europäischen Flugsicherung. Der Luftverkehrsstandort Deutschland steht im
Wettbewerb mit den uns umgebenden Auslandsflughäfen.
Deshalb kann es uns nicht gleichgültig sein, wie sich der
Luftverkehr in unserem Lande entwickelt. Es geht um die
Arbeitsplätze in unserem Land.
({18})
Herr Bundesminister, ich bin sehr froh, dass auch die
Frage der Verkehrssicherheit angesprochen worden ist;
denn ganz sicher sind wir gemeinsam der Meinung, dass
ein Mehr an Mobilität nicht ein Weniger an Sicherheit bedeuten darf. Die Fragen der Verkehrssicherheit müssen
stärker im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert werden. Verkehrssicherheit ist eine Aufgabe aller, eine Aufgabe, an der jeder mitwirken muss: von den Talksendungen im Fernsehen bis hin zu den Discobetreibern.
Niemand, weder in diesem Hause noch bei der Regierung
noch draußen, darf in seinen Bemühungen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit nachlassen.
Herr Bundesminister, wir werden Ihre Arbeit kritisch,
aber konstruktiv begleiten, weil wir wissen, dass nur ein
insgesamt leistungsfähiges Verkehrssystem den Wirtschaftsstandort sichert. Wir brauchen vor allem eine gut
ausgebaute Infrastruktur, die eine schnelle, flexible, zuverlässige und kostengünstige Mobilität von Gütern und
Personen ermöglicht, damit Deutschland im internationalen Wettbewerb mithalten kann. Ziel der Verkehrspolitik
von CDU und CSU ist es, eine weitgehend sichere und zugleich umweltgerechte Mobilität für alle Bürgerinnen und
Bürger zu erhalten und zu verbessern. In diesem Sinne
werden wir Ihre Arbeit begleiten.
({19})
Die nächste Rednerin
in dieser Debatte ist die Kollegin Annette Faße für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Verkehrspolitik der alten Bundesregierung ist erkennbar - ich
könnte auch sagen: erfahrbar - gescheitert. Darum, meine
Damen und Herren von der Opposition, ist es schon ein
starkes Stück, sich heute hier hinzustellen und das, was
Herr Lippold geschildert hat, so darzustellen, als sei man
daran unschuldig. Es ist schon ein starkes Stück, sich hier
so hinzustellen, wenn man weiß, dass die Investitionssummen in den vergangenen Jahren für die Bereiche, die
Sie heute so stark betonen, zurückgefahren worden sind.
Es ist schon ein starkes Stück, sich heute hier hinzustellen
und nicht anzuerkennen, dass sich diese Regierung
bemüht, außerhalb des Haushalts zusätzliche Mittel zur
Verfügung zu stellen. Herr Oswald, es ist schon ein starkes Stück, dass Sie sich hier hinstellen und sagen, wir
bräuchten Ortsumgehungen. Sie wissen doch ganz genau,
dass die UMTS-Mittel auch für Ortsumgehungen ausgegeben werden. Glaubwürdig ist das nicht gerade.
({0})
Wir sind sehr selbstbewusst, was das Wahljahr 2002
betrifft. Wir meinen, mit unserer Verkehrspolitik stehen
wir gut da - heute und auch im Jahr der Wahl.
({1})
Spatenstichpolitik wird es mit uns nicht mehr geben.
Klare Aussagen sind angesagt. Sie haben sie gefordert.
Wir haben sie heute und damit auch im Verkehrsbericht
gegeben. Wir sind mit der Zusage angetreten, eine effiziente und umweltverträgliche Verkehrspolitik zu gestalten. Daran haben wir in den letzten zwei Jahren hart
gearbeitet und werden das auch weiter tun. Wir werden
unsere Zusage einhalten.
({2})
Wir wollen ein integriertes Verkehrskonzept gestalten.
Wir müssen zum einen flächendeckend und umweltverträglich die Mobilität aller Menschen gewährleisten und
zum anderen den Wirtschaftsstandort Deutschland im
internationalen Wettbewerb behaupten. Dies ist auch eindeutig Auftrag des Verkehrsberichtes.
In einem integrierten Verkehrssystem haben - diese
Aussage erwarten Sie ja nun von mir - die Binnen-, die
Küsten- und die Seeschifffahrt erhebliche Kapazitätspotenziale. Ich hätte wie bei der Aufstockung des Güterverkehrs
bei der Bahn gerne auch für diese Bereiche ein entsprechendes Ziel. Die Transportleistung der Binnenschifffahrt
braucht sich aber nicht zu verstecken.
({3})
Sie ist fast gleich hoch mit dem Güterverkehrsaufkommen bei der Bahn heute. Wenn wir beides steigern können, dann wäre das, so denke ich, im Sinne einer Verkehrspolitik, die auch der Umwelt gerecht wird.
({4})
Die Binnenschifffahrt ist trotz oftmals gegenteilig
geäußerter Ansichten ein attraktiver und innovativer Wirtschaftszweig. Sie ist ein leistungsstarker und flexibler
Handelspartner mit nahezu unbegrenzten Möglichkeiten
für die unterschiedlichsten Transportaufgaben. Ein einziger Schubverband kann 650 LKWs ersetzen. Die Binnenschifffahrt ist sicherlich nicht so effizient, was die Fahrzeit betrifft; aber Lieferung just in time kann sie genauso,
vielleicht noch besser als andere, gewährleisten.
Bei den Verkehrsinvestitionen in den kommenden Jahren werden die Mittel aufgestockt. Aber natürlich kann
man immer sagen: Das reicht nicht aus. Die Zeichen sind
aber eindeutig: Von den einzelnen Programmen profitiert
auch die Binnenschifffahrt.
({5})
Um das Potenzial voll ausschöpfen zu können, gilt es,
auch die Häfen als Schnittstellen in den Transportketten
zu optimieren. Sie ermöglichen erst die von uns angestrebte effiziente Verknüpfung der Verkehrsträger. Sie
sind bedeutende Umschlagplätze des kombinierten Verkehrs und bieten attraktive Möglichkeiten zur stärkeren
Verlagerung des Güterverkehrs auf umweltfreundliche
Verkehrsträger.
Wir haben die Förderung des kombinierten Verkehrs
daher als ein bedeutendes Ziel der Verkehrspolitik definiert. Wir holen ihn aus dem Zustand des Eingeschlafenseins bei der alten Regierung heraus und wecken ihn auf.
({6})
Drei Anhörungen haben dazu geführt, dass die SPD-Fraktion ein Eckpunktepapier zur Weiterentwicklung des
kombinierten Verkehrs vorgelegt hat. Sie haben ihn schon
abgeschrieben; wir werden ihn aufwerten.
({7})
Das können Sie auch am Haushalt sehen. Wir haben die
Mittel beim KV für Dritte auf 120 Millionen DM erhöht.
Dies kommt einer sinnvollen Verkehrspolitik zugute. Wir
stehen dazu, dass der kombinierte Verkehr bei dieser Regierung eine neue Wertigkeit erhalten muss.
(Beifall bei der SPD - Zurufe des Abg. Horst
Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]
Die leer stehenden Terminals sind für jeden Verkehrspolitiker ein Ärgernis; das ist vollkommen klar. Die Verantwortung dafür dürfte diese Bundesregierung allerdings
nicht haben, Herr Friedrich.
({8})
Wir müssen allerdings bei der KV-Förderung die Förderrichtlinien überarbeiten; wir sind dabei, und das nicht
mal eben vom grünen Tisch, sondern unter Einbeziehung
der Praktiker.
Es gilt vor allen Dingen, den Bau und den Einsatz innovativer Umschlagtechnologien zu unterstützen. Die
Umschlagsterminals gehören als Schnittstellen zwischen
den Verkehrsträgern zu den systembedingten Hemmnissen im KV. Hier gilt es anzusetzen. Das werden wir tun.
Die Forschung gibt uns gute Möglichkeiten, dafür effektiv Gelder einzusetzen.
Der Seeverkehr ist für Deutschland als Exportland nicht nur für die Küste, sondern für das ganze Land - ein
sehr wichtiger Baustein unserer Verkehrspolitik. Der
Bund hat mit den Küstenländern 1999 die gemeinsame
Plattform zur deutschen Seehafenpolitik verabschiedet.
Das ist ein sehr wichtiger Schritt; denn wir müssen gemeinsam versuchen, uns auch innerhalb der EU zu behaupten.
Wenn wir von Wettbewerbsfähigkeit sprechen, müssen
wir auch dafür Sorge tragen, dass unsere Häfen, unsere
Werften, unsere Schifffahrt EU-, aber auch weltweit wettbewerbsfähig gemacht werden. Hier gibt es weiterhin
große Probleme und große Schwierigkeiten.
Die Konferenz „Maritime Wirtschaft“ hat ein Zeichen
gesetzt und gesagt, wo es langgehen soll und muss. Für
die Küste war dies ein sehr wichtiges Zeichen. Wir sind
dabei, die Vorschläge kontinuierlich umzusetzen.
({9})
Das heißt für uns, dass wir im Bereich der Lohn- und
Lohnnebenkosten weiteren Handlungsbedarf sehen. Ich
schließe da neben der Seeschifffahrt auch die Küsten- und
die Binnenschifffahrt ein. Ich hätte sie gerne in die Überprüfung mit einbezogen.
Wir wissen, dass unsere Schlepperreedereien in
Deutschland im Moment große Probleme haben, und
zwar nicht nur mit den Niederländern, sondern besonders
auch mit den Dänen. Die Dänen subventionieren 100 Prozent der sozialen Lasten. Da verlieren unsere Schlepper
eindeutig jede Ausschreibung. Das zu thematisieren,
meine ich, ist auch Sache des Parlaments. Darum gehe ich
das hier ganz klar und deutlich an.
({10})
Die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit des Hafenstandortes Deutschland schließt ein, dass wir einen Tiefwasserhafen benötigen. Welche Entscheidung das Land
Niedersachsen gemeinsam mit Bremen und Hamburg hinsichtlich der Standortfrage auch treffen wird - der Bund
steht dazu, dann für die notwendigen Hinterlandanbindungen zu sorgen und das Planfeststellungsverfahren zu
übernehmen. Das ist eine historische Chance für die
Küste. Ich bin zuversichtlich, dass der Bund die Entscheidung konstruktiv begleiten wird.
({11})
Ein weiteres klares Zeichen für den maritimen Bereich
ist die Einsetzung des maritimen Koordinators. Hier gibt
es zum ersten Mal eine Bündelung der maritimen Interessen. Wir gehen davon aus, dass wir dadurch noch einmal
werden deutlich machen können, dass Seehafenpolitik
nicht alleine eine Politik der Küste ist, sondern genauso
für Bayern und Baden-Württemberg Vorteile bringt. Da
werden nämlich sehr viele Produkte hergestellt, die auf
den Schiffen dann eingebaut werden.
({12})
Zum Bereich der Sicherheit wurde, was die Straße betrifft, einiges gesagt. Lassen Sie mich an dieser Stelle
noch einmal deutlich sagen, dass sehr zielgerichtet gearbeitet wird, um ein Sicherheits- und Notfallkonzept für
Nord- und Ostsee neu zu erstellen. Dabei steht die Vermeidung von Schiffsunfällen natürlich an erster Stelle.
Wir haben nicht abgewartet, bis die eingesetzte Expertenkommission Vorschläge gemacht hat. Vielmehr hat die
Bundesregierung schon im Vorfeld gehandelt. Es ist richtig, dass hier national, bilateral, aber auch international
Handlungsbedarf besteht. In allen drei Bereichen sind wir
tätig. Wir wissen, dass in diesem Jahr noch einige Entscheidungen anstehen. Ich nenne die Frage der Schlepperkapazitäten und das Seeunfalluntersuchungsgesetz.
Meine Damen und Herren, auch in diesem Bereich haben wir einiges abgearbeitet, was Sie nicht geleistet haben. Das betrifft die Haftungsfragen und auch das Bergungsübereinkommen.
({13})
Frau Kollegin Faße,
auch Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich habe es gesehen, Frau Präsidentin. - Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir
treten für eine Verkehrspolitik ein, die alle Verkehrsträger
verbindet. Dabei wird auch der Verkehr auf den Wasserstraßen weiterhin einen Schwerpunkt bilden.
({0})
Der nächste Redner ist
der Kollege Dirk Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit der Ankündigung des Verkehrsberichtes 2000 hatte der Verkehrsminister Erwartungen geweckt. Diese sind nun der Realität
gewichen und es ist Ernüchterung eingetreten.
({0})
Der Bericht wird als Konzept für eine mobile Zukunft verkauft. In dem Bericht ist jedoch das Gute nicht neu und
das Neue nicht gut.
({1})
Wenn sich hier Kolleginnen und Kollegen aus der Regierungskoalition wortreich bemühen, dies als einen verkehrspolitischen Durchbruch zu verkaufen, ist dem entgegenzuhalten, dass dieser Bericht wahrlich kein Durchbruch
innerhalb der deutschen Verkehrspolitik ist.
({2})
So wird völlig verkannt, dass leistungsfähige Verkehrswege erforderlich sind, damit auch künftige Verkehrszuwächse reibungslos, sicher und umweltschonend bewältigt werden können.
Ich stimme dem Kollegen Weis ausdrücklich darin zu,
dass es richtig ist, ganz vorrangig auf die Nutzung der
technologischen Potenziale zu setzen und sie auszuschöpfen. Darin liegt meines Erachtens eine realistischere
und größere Chance, zeitnah zu Lösungen zu kommen, als
in martialischem Dirigismus in Form von Anordnungen
des Staates, Verboten und anderen Dingen mehr, die sich
nach meiner Auffassung in einem europäischen Binnenmarkt überhaupt nicht durchsetzen lassen werden.
({3})
Meine Damen und Herren, es ist ganz unstreitig, dass die
Qualität unseres Verkehrssystems auch im 21. Jahrhundert
ein maßgeblicher Faktor für Wohlstand und wirtschaftliches Wachstum ist. Die Verkehrspolitik der CDU/CSUBundestagsfraktion ist auf Produktivitätssteigerung und
Optimierung des Zusammenwirkens aller Verkehrsträger unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen spezifischen
Stärken ausgerichtet. Wir haben Konzepte erarbeitet; sie
liegen auf dem Tisch. Darin beziehen wir Position zur Infrastruktur, zur Fortführung der Bahnreform, zum Güterkraftverkehr, zur Binnenschifffahrt, zum Omnibusverkehr
und sagen den Menschen klar, was wir wollen.
({4})
Der mutige und mit klaren Empfehlungen versehene
Schlussbericht der Pällmann-Kommission ist wahrlich
richtungsweisend: Umstellung der Finanzierung auf Nutzerfinanzierung, Anwendung des Verursacherprinzips,
Ausgliederung der Bundesverkehrswege aus der Bundesverwaltung und deren Organisationsprivatisierung sowie
Erweiterung der Möglichkeiten der Privatfinanzierung.
Die Bundesregierung muss da jetzt herangehen, schnellstmöglich auf der Basis dieses Berichtes ein Konzept für die
Verkehrsinfrastrukturinvestitionen erarbeiten und dem
Parlament zur Beratung vorlegen. Wir warten darauf, dass
das von Ihnen zügig in Angriff genommen wird.
Der Kollege Horst Friedrich hat schon gesagt, dass
nicht zugelassen werden darf, dass diese Regierung die
Kommissionsergebnisse nur als Argumentationshilfe für
die Festsetzung der Höhe der elektronischen LKW-Mautgebühr missbraucht und sie im Übrigen vollständig ignoriert. Diesen Missbrauch werden und dürfen wir nicht zulassen.
({5})
Das gilt auch für einen weiteren Punkt, den der Kollege
Horst Friedrich herausgestellt hat und auf den ich noch intensiver eingehe. Die Pällmann-Kommission hat zu Recht
gefordert, dass die Einführung von Benutzergebühren
durch Entlastungen bei den Verbrauchssteuern kompensiert werden muss. Dieser Punkt ist entscheidend und er ist
für uns so wichtig, dass wir darauf achten werden, dass das
auch geschieht. Nur so kann eine Harmonisierung der
Wettbewerbsbedingungen der Verkehrsträger untereinander und vor allem gegenüber der europäischen Konkurrenz - das ist besonders wichtig - gewährleistet werden.
Wir werden jedenfalls nicht länger zuschauen, wie Sie
darangehen, unser Gewerbe gerade gegenüber den europäischen Wettbewerbern immer weiter zurückzuwerfen
und damit Arbeitsplätze und Unternehmensexistenzen in
unserem Lande zu vernichten. Dies ist auch im Zusammenhang mit der Diskussion über die Ökosteuer immer
wieder zu Recht angesprochen worden. Das ist ein weiterer Punkt, bei dem aufgepasst werden muss, dass nicht
deutsche Verkehrspolitik Arbeitsplätze und Unternehmen
in Holland, Frankreich und Italien erzeugt.
({6})
Meine Damen und Herren, wir müssen heute in den
Unterhalt sowie die Erneuerung und den Neubau unserer
Verkehrsinfrastruktur investieren, damit Schwachstellen
und Engpässe auf unseren Verkehrswegen den steigenden
Mobilitätsansprüchen von Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland und auch - dies sage ich ausdrücklich - in Europa nicht entgegenstehen. Wir haben als die
große europäische Verkehrsdrehscheibe eine Verantwortung für die Mobilität in ganz Europa. Diese Dienstleistungsfunktion hat unser Land für Europa zu bewältigen.
Hier müssen wir uns einbringen.
({7})
Wir brauchen weiterhin eine objektive volkswirtschaftliche Bedarfsermittlung und nicht durch Finanzvorgaben oder politisches Credo nach unten manipulierte
Bundesverkehrswegepläne. Sie haben selbst gesagt, dass
die Länder neue Projekte in erheblichem Umfang angemeldet haben.
({8})
Die Fortschreibung des Bundesverkehrswegeplans
ist dringend nötig. Nach bald zehn Jahren ist eine Aktualisierung volkswirtschaftlicher Daten und Verkehrszahlen
sowie insbesondere die Berücksichtigung der in der
Zwischenzeit eingetretenen Effekte der deutschen Einheit
und der europäischen Grenzöffnung zu berücksichtigen
und in den Plan einzubauen. Die Länder brauchen Klarheit für ihre Projekte im Bundesfernstraßenbau. Die Bahn
braucht eine sichere Planungsperspektive für einen längeren Zeitraum, nicht nur, Herr Schmidt, für drei Jahre. In
Wahrheit braucht sie zehn bis 15 Jahre, um den jeweiligen
Planungsvorlauf herstellen zu können.
({9})
Denn es ist doch wirklich dramatisch, dass von Ihnen
mehr Geld für Schieneninvestitionen verlangt wird, und
die Bahn liefert im Jahre 2000 nicht verbrauchte 1,2 Milliarden DM ab, die sie nicht in das Netz hat investieren
können, und dies, weil der Planungsvorlauf nicht ausreichte, um das Geld zu verbauen. Ich finde es traurig,
dass sich die Bundesregierung gestern im Verkehrsausschuss entweder geweigert hat, darüber Auskunft zu geben, oder aber die Staatssekretärin über diesen Vorgang
nicht informiert war. Oder Sie wollen etwas vertuschen
und hinterher aus Investitionskapital Geld machen, mit
dem die Bilanz der Bahn kosmetisch überarbeitet werden
kann, damit ein in Wahrheit eingetretener betrieblicher
Verlust vertuscht werden kann.
({10})
Das läuft im Moment ab! Der Haushaltsausschuss muss
sich dringend mit dieser Angelegenheit befassen, damit
die volle Wahrheit ans Licht kommt.
({11})
Wie in den 90er-Jahren kann die Bahn wiederum Investitionskapital nicht verbauen, das der Bund bereitgestellt
hat. Das ist die volle Wahrheit in diesem Lande.
({12})
Der Aspekt der Vernetzung der Verkehrsträger, der
schon im Bundesverkehrswegeplan 1992 enthalten war,
muss weiterentwickelt werden. Die Koalitionsvereinbarung verspricht eine Überarbeitung des Planes in dieser
Legislaturperiode. Ich teile die Zweifel, die der Kollege
Oswald und auch der Kollege Horst Friedrich angesprochen haben, und frage mich, ob dies überhaupt noch gewollt ist. Denn der damalige Parlamentarische Staatssekretär Bodewig hat mir auf meine Anfrage im Oktober
2000 gesagt, dass derzeit eine zuverlässige Festlegung auf
den Termin für den Abschluss der Überarbeitung des Planes erschwert sei. Selbst wenn es zu Verzögerungen gegenüber dem ursprünglich eingeplanten Zeitablauf von
drei Jahren kommen sollte, würde dies keine Auswirkungen auf die unabdingbar notwendige Kontinuität
des Planungs- und Investitionsgeschehens haben. - Nachtigall, ich hör dir trapsen: Immer davon reden, nie daran
denken.
Ich sage Ihnen voraus: Bis Ende der Legislaturperiode
werden wir keinen neuen Plan durchberaten haben, werden wir keine Ausbaugesetze im Deutschen Bundestag
beraten und beschlossen haben. Dann haben wir uns eine
Legislaturperiode mit schönen Ankündigungen aufgehalten und in der Sache ist überhaupt nichts passiert.
Für ein marktwirtschaftlich orientiertes integriertes
Gesamtverkehrssystem ist eine Veränderung der Schienenverkehrspolitik unumgänglich. Die Bahnreform ist
in einer besonders kritischen Phase. Die DB AG befürchtet mittelfristig hohe Milliardenverluste. Das Ziel der Kapitalmarktfähigkeit ist bedroht.
Die Expertenanhörung hat deutlich gemacht, dass wir
dringend mehr Wettbewerb im System Schiene brauchen.
Die umgehende Trennung von Netz und Betrieb ist für einen diskriminierungsfreien Zugang unabdingbar. Die
Schienenverkehrspolitik muss konsequent trennen zwischen dem System Schiene und den Schienenverkehrsunternehmen,
({13})
also der DB AG und anderen nicht bundeseigenen Eisenbahnen sowie europäischen Eisenbahnunternehmen. Wir
fordern die Bundesregierung auf, umgehend ein schlüssiges Gesamtkonzept für den Schienenverkehr in Deutschland vorzulegen.
Herr Bundesminister Bodewig, wir müssen endlich gemeinsam mehr Schienenverkehrspolitik und weniger ausschließlich Unternehmenspolitik für die DB AG machen.
Ihre Ankündigung heute Morgen war für mich hoffnungsvoll, dass wir uns in dieser Richtung gemeinsam engagieren werden.
Vom Vorstand der DB AG hingegen erwarten wir ein
aktualisiertes Konzept zur Sanierung des Unternehmens.
Beim Schienengüterverkehr soll das Aufkommen bis
2010 verdoppelt werden. Mit der vorhandenen InfrastrukDirk Fischer ({14})
tur, mit den derzeitigen Finanzmitteln und unter den aktuellen Rahmenbedingungen sowie mit nur dieser DB AG
wird das Vorhaben scheitern.
Es muss auch einen Wettbewerb im Kerngeschäft geben, den Mehdorn in Wahrheit verhindern will, indem der
Wettbewerb im Sinne der DB AG gesteuert werden soll.
({15})
Das bedeutet: Was Mehdorn ökonomisch gesehen sozusagen in den Mülleimer wirft, das sollen sich andere Unternehmen herausholen und zeigen, dass sie es besser können als die DB AG. Im Regionalverkehr haben private
Unternehmen schon nachgewiesen, dass sie dazu in der
Lage sind. Diese Art von Wettbewerb à la Mehdorn bringt
uns im System Schiene unter gar keinen Umständen
voran.
({16})
Herr Minister, da Sie sich heute gegen die Trennung
von Netz und Betrieb ausgesprochen haben - ich habe Sie
jedenfalls so verstanden -, muss ich Ihnen sagen, dass Ihr
Misserfolg vorhersehbar ist. Der Kollege Schmidt sagte
vorhin allerdings, dass Sie doch die Trennung wollen,
({17})
nur nicht so schnell. Stellen Sie also bitte klar, ob wir oder
der Kollege Schmidt Sie richtig verstanden haben. Dann
wissen wir nämlich, wie die parlamentarischen Fronten
verlaufen.
Die Pällmann-Kommission stellt ernüchternd fest, dass
die Schiene bereits dann an ihre Kapazitätsgrenze stoße,
wenn auch nur der mittlere Zuwachs des Straßengüterverkehrs eines Jahres auf sie verlagert werde. Personennahverkehr, Personenfernverkehr und Güterverkehr müssen
zur effektiveren Nutzung des vorhandenen Netzes entmischt werden. Das heißt aber in Wahrheit, dass sie ihre
eigenen Netze erhalten. Dadurch wird ein Investitionsbedarf ausgelöst.
Rot-Grün muss endlich den Verkehrsträger Straße ideologiefrei akzeptieren. Die Verkehrsträger Schiene und
Wasserstraße müssen dort gestärkt werden, wo sie den
größtmöglichen Nutzen für unser Gesamtverkehrssystem
stiften können. Die Pällmann-Kommission bringt deutlich
zum Ausdruck, dass „ideologische Eingriffe des Staates in
den Wettbewerb mit Mitteln der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung abzulehnen sind und stattdessen ... die
Verbesserung ihrer Wettbewerbslage aus eigener Kraft“
gefördert werden muss.
Zur Stärkung der Binnenschifffahrt brauchen wir investive Mittel, um vor allen Dingen den schlechten Unterhaltungszustand des deutschen Kanalsystems zu beseitigen.
({18})
Binnenhäfen sind wichtige Verkehrsknoten, die fortentwickelt werden müssen,
({19})
damit die Binnenschifffahrt zu einem integralen Bestandteil moderner Transportketten werden kann.
({20})
Untersuchungen haben gezeigt - in diesem Punkt sind
wir uns einig; ich begrüße in diesem Zusammenhang das
persönliche Engagement der Kollegin Blank und gleichermaßen der Kollegin Faße -, dass in der Tat 30 Prozent
der in Deutschland beförderten Güter nicht eilig transportiert werden müssen und damit auf die Binnenschifffahrt
verlagerbar sind. Entsprechende Maßnahmen müssen gefördert werden.
({21})
Der Markt der Verlader muss diese Tatsache aber auch akzeptieren. Nicht der Staat, sondern der Kunde entscheidet
über die Verladung.
({22})
Wir müssen deshalb die Kunden ansprechen.
Ein Flughafenkonzept ist längst überfällig. Bisherige
Entwürfe waren eine große Enttäuschung und wurden von
den Ländern, den Flughäfen und den Luftfahrtgesellschaften massiv kritisiert. Trotz enormer Wachstumserwartungen im Luftverkehr - Verdoppelung des globalen Luftverkehrs innerhalb der nächsten zehn Jahre und Steigerung
des weltweiten Passagieraufkommens auf über 3 Milliarden Passagiere ab 2010 - wollten Sie uns nur einen ideologisch verblendeten und luftverkehrsfeindlichen umweltpolitischen Maßnahmenkatalog liefern. Es gab keine
klaren Aussagen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Flughäfen; Ankündigung konkreter
Maßnahmen zum Kapazitätsausbau - Fehlanzeige; kein
Wort von der Einbeziehung des Luftverkehrs in den Bundesverkehrswegeplan. Präzise formuliert wurde nur zulasten des Luftverkehrs: bei Kerosinbesteuerung und Emissionsabgaben.
Wir brauchen aber eine Zukunftsperspektive für den bedarfsgerechten Ausbau der Infrastruktur. Wir brauchen
Forderungen für einen sicheren und umweltverträglichen
Luftverkehr, die ausgewogen gestaltet sind. Wir brauchen
vereinheitlichte und gestraffte Genehmigungsverfahren,
um den Flughafenbetreibern Planungssicherheit zu geben.
Wir brauchen die weitere Privatisierung des deutschen
Flughafensystems. Das wird zur Effizienzsteigerung
beitragen. Der Wettbewerb wird neben der Kapazitätserweiterung die sinnvolle Kooperation der Flughäfen untereinander fördern,
({23})
die Vernetzung des Luftverkehrs mit anderen Verkehrsträgern vorantreiben und das Leistungsvermögen der
deutschen Flughäfen steigern.
Wir haben die Bundesregierung in unserem Entschließungsantrag aufgefordert, in der deutschen Verkehrspolitik Klarheit und Wahrheit herzustellen. Stimmen Sie unserem Antrag zu und schaffen Sie Klarheit in folgenden
Punkten: Wenn der Bundesverkehrswegeplan in dieser
Legislaturperiode noch fortgeschrieben werden soll, muss
Dirk Fischer ({24})
er bald kommen. Wir brauchen bei etwa 7 500 Projekten
hinreichend Beratungszeit.
Herr Kollege Fischer,
das klang schon wie der Schlusssatz. Ihre Redezeit ist zu
Ende.
Ich bin sofort
fertig, Frau Präsidentin. - Ergreifen Sie Gesetzesinitiativen für die mittlerweile abgelaufenen Bedarfspläne bei
Straße und Schiene und schaffen Sie ein neues Gesetz für
die Bundeswasserstraßen. Schaffen Sie ein abgestimmtes
Planungskonzept für Unterhalt, Erneuerung und Neubau
der Verkehrsinfrastruktur und legen Sie es vor. Das sind
die drei Elemente unseres Antrages. Stimmen Sie zu.
Dann haben wir Klarheit und ziehen am gleichen Strang.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Reinhard Weis das
Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Bemerkung, die Herr Fischer in seiner Rede gemacht hat, ein
bisschen geraderücken. Er hat einen Vorgang geschildert,
den wir gestern im Ausschuss diskutiert haben. Dabei hat
er hier den Eindruck erweckt, als hätte die Staatssekretärin Mertens eine Frage nicht beantworten wollen, um einen Vorgang zu vertuschen.
Herr Fischer fragte im Ausschuss, ob es zutreffend sei,
dass die BahnAG Investitionsmittel, die nicht ausgegeben
wurden, zur Schuldentilgung eingesetzt habe. Die Antwort der Staatssekretärin darauf war, dass sie zu dieser
Frage, die, weil sie nicht unmittelbar mit dem Thema der
Ausschusssitzung zusammenhing, nicht vorhersehbar
war, die konkreten Zahlen nicht parat habe und die Frage
deshalb schriftlich beantworten werde. Ich glaube, dass
Herr Fischer vor diesem Hintergrund, dass die Frage
schriftlich und damit nachprüfbar beantwortet werden
soll, hier nicht den Eindruck erwecken kann, als würde die
Staatssekretärin ausweichen und vertuschen wollen.
({0})
Zur Erwiderung Herr
Kollege Fischer, bitte.
Der Kollege
Weis hat den Sachverhalt zutreffend dargestellt. Ich ziehe
nur andere Schlussfolgerungen. Denn es ist so, dass dieser Sachverhalt in Deutschland allseits bekannt ist. Mich
würde sehr wundern, wenn er im Verkehrsministerium zuletzt bekannt würde. Das kann nur gespielte Ahnungslosigkeit gegenüber dem Parlament sein, und so kann man
mit dem Parlament nicht umgehen.
({0})
Wenn, Herr Kollege Weis, gesagt wird, dieses Geld
habe man zur vorfristigen Tilgung der Vorausfinanzierung
des Konzessionsmodells der Neubaustrecke Nürnberg-Ingolstadt-München verwandt, und auf meine Frage, ob
diese Rückforderungen fällig gewesen seien, geantwortet
wird, ein Teil sei fällig gewesen, ein anderer Teil sei vorfristig getilgt worden, dann bedeutet das doch nichts anderes, als dass Investitionskapital für die Schiene jetzt cash
an die DB AG gegeben wird. Das heißt, ein Bilanzverlust
in 2000, der in Wahrheit 1,2 Milliarden DM betragen
würde, ist nun plötzlich verschwunden, weil die DB AG
diese Cashzahlung einsetzen kann.
Wenn ich nach präzisen Zahlen frage und die Kollegin
Staatssekretärin Mertens mir sagt, sie kenne sie nicht und
würde sie schriftlich nachliefern, dann finde ich das ganz
reizend. Ich wage aber nicht, mir vorzustellen, dass der
neben ihr sitzende im Ministerium für das Eisenbahnwesen zuständige Abteilungsleiter diesen Sachverhalt und
die Zahlen nicht kennt, die sein ganzes Haus kennt.
Das habe ich heute Morgen in meiner Rede kritisiert.
Wir wünschen als Parlament, so schnell und so umfassend
wie möglich über Sachverhalte informiert zu werden. Ich
finde es unerträglich, dass wir in der Regel über Verbände
und über die Presse informiert werden, während die Bürger draußen denken, die Abgeordneten säßen an der Quelle
der Informationen und seien besonders gut informiert.
Deswegen bitte ich Sie, mit dafür zu sorgen - da haben Sie
eine ganz wichtige Schlüsselfunktion -, die Information
des Parlaments und des Fachausschusses so zu gestalten,
dass wir solche Kontroversen wie heute Morgen nicht
mehr nötig haben.
({1})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Iris Gleicke für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Verkehrsbericht 2000 hat die
SPD-geführte Bundesregierung die Zwischenbilanz einer
überaus erfolgreichen Politik gezogen. Wir sind nach dem
Regierungswechsel mit dem Anspruch aufgetreten, auch
in der Verkehrspolitik die überfällige Wende einzuleiten
und zu vollziehen. Unsere Verkehrspolitik setzt auf verlässliche, gesicherte Infrastrukturinvestitionen in einem
ökonomisch und ökologisch vernünftigen Rahmen.
({0})
Man kann gar nicht oft genug daran erinnern, welche
Ausgangssituation wir 1998 bei der Regierungsübernahme vorgefunden haben: völlig zerrüttete Staatsfinanzen, einen riesigen Schuldenberg und einen hoffnungslos
unterfinanzierten Bundesverkehrswegeplan.
({1})
Auch in dieser Debatte muss man wieder den Eindruck
gewinnen, dass Sie Ihre wohlverdiente Niederlage bei der
letzten Bundestagswahl immer noch als eine Art BetriebsDirk Fischer ({2})
unfall betrachten. Die Kolleginnen und Kollegen von der
rechten Seite des Hauses haben aus dieser Niederlage so
gut wie nichts gelernt. Sie tun immer noch so, als hätten
sie alles richtig gemacht und als hätten die Bürgerinnen
und Bürger draußen das bloß nicht verstanden.
Ganz in diesem Sinne hat Herr Fischer vor einiger Zeit
die Rückkehr zur „verlässlichen Verkehrspolitik“ der unionsgeführten Vorgängerregierung gefordert. Das muss
man sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel dafür, was Sie unter
verlässlicher Verkehrspolitik verstehen. 1994 haben wir
- Frau Rehbock-Zureich hat es schon gesagt - im Bundestag gemeinsam die Bahnreform beschlossen.
({3})
Damit sollte eine Trendwende zugunsten der Schiene eingeleitet werden. Darüber waren wir uns alle damals einig.
Wir wussten auch, dass das Geld kostet, viel Geld. Deshalb wurden der Bahn im Zuge der Bahnreform Investitionsmittel in Höhe von ungefähr 10 Milliarden DM jährlich zugesagt. 1995 erhielt die Bahn vom Bund immerhin
noch Investitionsmittel in Höhe von 9,2 Milliarden DM.
1996 waren es noch 7,2 Milliarden DM, 1997 nur noch
6,7 Milliarden DM.
({4})
Im Wahljahr 1998 waren es noch lächerliche 5,7 Milliarden DM.
({5})
So sieht verlässliche Verkehrspolitik à la CDU/CSU aus.
Sie haben die Bahn vor die Wand gefahren!
({6})
Ich will die Kolleginnen und Kollegen einmal daran erinnern, dass Ihr damaliger Finanzminister der Bahn diese
notwendigen Investitionsmittel deshalb verweigert hat,
weil er gegenüber den europäischen Partnern den Nachweis geringerer Staatsverschuldung erbringen und die
Maastricht-Kriterien erfüllen musste. Sie haben damit die
Bahn verraten und verkauft. Ihre Debattenbeiträge heute
gehen fröhlich nach dem Motto: Haltet den Dieb, er hat
mein Messer im Rücken!
({7})
Sie haben die Bahn als eine Art Sparschwein betrachtet und es systematisch geschlachtet. Genau deshalb
steckt die Bahn jetzt in der Krise. Genau deshalb ist das
Schienennetz zum Teil total marode.
({8})
Das führt dann zwangsläufig zu Verspätungen und dazu,
dass die Bahn längst nicht so attraktiv ist, wie sie es sein
könnte.
({9})
Wie soll denn der Kunde König sein bei einem Unternehmen, das von Ihnen systematisch an den Bettelstab gebracht worden ist?
({10})
Erst seit 1999, seit der rot-grünen Regierungsübernahme, fließen wieder erhöhte Investitionsmittel. Schon
in diesem Jahr liegen die Investitionen wieder bei 8,7 Milliarden DM. Wir machen nämlich beides: Wir konsolidieren den Staatshaushalt und nutzen konsequent alle Spielräume, um dem Unternehmen Bahn zu helfen. Wir stehen
zur Bahnreform, und wir werden sie erfolgreich zu Ende
führen.
({11})
Dabei muss natürlich eines klar sein: Die Deutsche
Bahn AG kann sich nicht darauf beschränken, immer nur
mehr Geld zu fordern.
({12}) [F.D.P.]: Ja!)
Wir erwarten, dass sie sich an den Bedürfnissen ihrer
Kunden orientiert.
({13})
Wir brauchen nämlich eine kundenorientierte und leistungsfähige Bahn
({14})
und für andere Bewerber den diskriminierungsfreien Zugang zum Netz.
({15})
- Da sind wir uns einig.
({16})
Wir brauchen Chancengleichheit und einen fairen
Wettbewerb auf der Schiene, wenn wir mehr Güter- und
Personenverkehr von der Straße auf die Schiene verlagern
wollen. Und genau das wollen wir.
Deshalb verfolgen wir ein integriertes Verkehrskonzept, in dem jeder Verkehrsträger seine Vorteile optimal
ausspielen kann. Alles andere führt nämlich zwangsläufig
dazu, dass die Mobilität auf der Straße irgendwann an sich
selbst erstickt. Das weiß jeder, der schon einmal im Stau
gestanden hat. Das vermiest jedem den Spaß am Autofahren, belastet die Umwelt und ist wirtschaftlicher Irrsinn.
Die Lösung kann nicht darin bestehen, unbegrenzt und
immer mehr Straßen auszubauen und neu zu bauen. Das
ist schlicht nicht zu bezahlen und vielerorts auch räumlich
gar nicht möglich.
Bei den Bundesfernstraßen sieht die Hinterlassenschaft der alten Bundesregierung ja nicht besser aus als bei
der Bahn; auch das wollen wir ganz klar festhalten. Seit
1992 sind die Ausgaben für den Erhalt immer stärker hinter dem zurückgeblieben, was eigentlich notwendig gewesen wäre. 1992 waren es noch rund 50 Millionen DM zu
wenig. Über die Jahre hinweg hat sich dieser Rückstand
auf rund 1 Milliarde DM angehäuft. Auch das ist ein Ergebnis der ach so verlässlichen Verkehrspolitik der CDU/
CSU. Deshalb ist es völlig richtig, dass die Bundesregierung im Rahmen ihrer Investitionen einen Schwerpunkt
auf den Bestand gesetzt hat.
({17})
Es geht darum, Engpässe dort zu beseitigen, wo dies
besonders notwendig ist. Deshalb das Anti-Stau-Programm! Es geht darum, neue Straßen dort zu bauen, wo
sie den Bürgerinnen und Bürgern einen optimalen Nutzen
bringen. Deshalb das Ortsumgehungsprogramm! Nicht
alles, was sinnvoll und wünschenswert wäre, kann allerdings auch sofort umgesetzt werden. Ich bin davon überzeugt, dass die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes
dafür Verständnis haben, und zwar deshalb, weil sie merken, dass auf die Verkehrspolitik von Rot-Grün wirklich
Verlass ist.
({18})
Früher war es ja so, dass jemand mit dem Hubschrauber angeflogen kam, irgendwo einen Spaten in die Erde
gesteckt hat und dann nichts mehr passiert ist. Das war
Politik nach Wunsch und Wolke.
({19})
In christliberalen Zeiten sind mehr Luftschlösser als
Straßen gebaut worden. Das ist doch nun einmal die
Wahrheit!
({20})
Das haben wir geändert. Wir sind zu einer verlässlichen und realistischen Verkehrspolitik zurückgekehrt.
Die Verkehrspolitik benötigt diesen Realismus. Sie
braucht aber auch Fantasie und Kreativität. Wir benötigen
neue Ideen statt alte Hüte. Wir würden uns freuen, wenn
Sie von der Opposition mit uns in diesem Sinne in einen
kreativen Wettbewerb der Ideen treten würden. Das
könnte ja sogar richtig Spaß machen. Aber davon ist leider auch heute nicht viel zu merken gewesen.
Meine Damen und Herren, Verlässlichkeit ist für Ostdeutschland ganz besonders wichtig. Wir bekennen uns
klar und eindeutig zum Vorrang des Ausbaus der Infrastruktur im Osten. Denn dort ist der Nachholebedarf nach
wie vor gewaltig.
({21})
Vieles ist bereits erreicht worden. Aber vieles bleibt noch
zu tun. Eines will ich hier deutlich sagen: Der Ausbau der
Infrastruktur im Osten ist kein gönnerhaft dargereichtes
Geschenk des Westens, für den sich Ostdeutschland artig
bedanken müsste. Er ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Er
ist die Voraussetzung für das Gelingen der deutschen Einheit.
Schönen Dank.
({22})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zuerst
zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/3844. Der
Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung, den Straßenbaubericht 1998 auf
Drucksache 14/245 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Entschließungs-
antrages der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen auf Drucksache 14/2576 zu dem Straßenbaube-
richt 1998. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfeh-
lung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und
PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem
Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen
mit dem Titel „Anti-Stau-Programm“; das ist die
Drucksache 14/4009. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/3179 anzunehmen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDS-Fraktion an-
genommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksa-
che 14/4340. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS
zum flächenhaften Ausbau der Schienenwege im Bereich
Nordbayern, Hessen, Thüringen und Sachsen auf Druck-
sache 14/2525 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Diese Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/2692 zum Weiterbau des
Verkehrsprojektes Deutsche Einheit Nr. 8; das ist die
Schienenneubaustrecke Nürnberg-Erfurt-Halle/Leip-
zig-Berlin. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich muss noch
einmal fragen: Wie war das Abstimmungsverhalten bei
der PDS-Fraktion? - Nichtbeteiligung der PDS-
Fraktion!1) Diese Beschlussempfehlung ist also gegen die
Stimmen von CDU/CSU- und F.D.P.- bei Nichtbeteili-
gung der PDS-Fraktion angenommen.
Zu diesem Tagesordnungspunkt liegt eine schriftliche
Erklärung zur Abstimmung gemäß § 31 der Geschäfts-
ordnung des Kollegen Wolfgang Dehnel, CDU/CSU-
Fraktion, vor.2)
Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss die Annahme des
Antrages der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2906 zur Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Thüringen/Nordbayern im
Rahmen des Verkehrsprojekts Deutsche Einheit Nr. 8.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDSFraktion angenommen.
Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/2914
mit dem Titel „Ja zur Schienenneubaustrecke NürnbergErfurt-Halle/Leipzig-Berlin“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 seiner
Beschlussempfehlung, den Bericht der Bundesregierung
auf Drucksache 14/2176 zum Ausbau der Schienenwege
1999 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4688 ({0}), 14/4048 und 14/4543 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offen-
sichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschließ-
ungsantrag auf Drucksache 14/5081 zum Verkehrsbe-
richt 2000 zu überweisen: zur federführenden Beratung
an den Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie, den Ausschuss für Arbeit und Sozialord-
nung, den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reak-
torsicherheit, den Ausschuss für Angelegenheiten der
neuen Länder, den Ausschuss für Tourismus, den Aus-
schuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
sowie an den Haushaltsausschuss. Gibt es dazu anderwei-
tige Vorschläge? - Auch das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 b und 6 c sowie die
Zusatzpunkte 2 bis 4 auf:
6 b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias
Weisheit, Brigitte Adler, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke,
Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
BSE-Bekämpfung konsequent ausbauen
- Drucksache 14/5085 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({2})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kersten
Naumann, Dr. Ruth Fuchs, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Soforthilfsprogramm für durch die BSE-Krise
betroffenen Kommunen und Landwirte einrichten
- Drucksache 14/4924 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({3})
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Klares Konzept zur Bekämpfung von BSE notwendig
- Drucksache 14/5079 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({4})
Ausschuss für Gesundheit
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Heinrich, Gudrun Kopp, Rainer Brüderle, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Verbraucher vor BSE schützen - Landwirten
helfen
- Drucksache 14/5097 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({5})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Ländlichen Raum gemeinsam mit der Landwirtschaft stärken
- Drucksache 14/5080 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eineinviertel Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Land-
wirtschaft, Renate Künast.
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 2
2) Anlage 3
Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft ({7}): Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Diese BSE-Debatte hier im Hause ist sicherlich
eine der Debatten, die in diesen Wochen und Monaten am
aufmerksamsten verfolgt wird. Warum? Die Zahl der
BSE-Fälle in Deutschland steigt ständig; in anderen EUMitgliedstaaten auch. Wir haben mittlerweile 16 durch
Tests bestätigte Fälle. Das werden nicht die letzten sein.
Interne Schätzungen gehen von 200 bis 500 Fällen in diesem Jahr aus. Es kann sein, dass dies noch zu niedrig geschätzt ist.
Nicht nur deshalb wird aufmerksam auf uns geblickt.
Ich glaube, die betroffenen Landwirte und die Unternehmen, die in den vor- und nachgelagerten Bereichen der
Landwirtschaft tätig sind, sind in großen Schwierigkeiten.
Vor meinem Ministerium gibt es die erste Demonstration
von Menschen, die in Schlachthöfen arbeiten und sich um
ihre Arbeitsplätze Sorgen machen.
Für mich aber ist der zentrale Punkt die große Verunsicherung von 80 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern. Diese wird sicherlich der Grund für eine hohe
Einschaltquote bei dieser Debatte sein.
Die BSE-Krise zwingt uns, eine Menge grundsätzlicher Fragen zu diskutieren und Antworten darauf zu finden. Ich will sie benennen. Die erste Frage betrifft die
Ernährungsgewohnheiten in Deutschland. Warum haben
wir eigentlich den Hang, bei der Ernährung immer nur auf
das Geld und das Wort „billig“ und nicht auf Qualität und
Qualitätsstandards zu schauen?
({8})
Wie steht es um die Industrialisierung der Produktionsprozesse in der Lebensmittelherstellung und auch
dort mit den Qualitätsstandards? Auch müssen wir - das
sage ich mit Blick auf das Organisatorische - die Organisation und die Effizienz der Verwaltungsstrukturen überdenken. Wir haben die EU, wir haben den Bund und wir
haben die Länder. Wir alle hier wissen, dass in den letzten
Monaten dort nicht alles zum Besten und nicht wirklich
effizient gelaufen ist. Darauf werden wir Antworten finden müssen.
({9})
- Da es meine erste Rede hier ist, nehme ich dies als Vorschusslorbeeren, die Sie mir geben. Sehen Sie mir das
nach.
({10})
Die andere Frage, die sich stellt, betrifft die Rolle der
Agrarpolitik, die seit Jahren in der Kritik steht. Ich
meine, sie steht zu Recht in der Kritik. Warum? Weil eine
jahrzehntelang verfehlte Agrarpolitik zu genau der BSEKrise geführt hat, die wir heute haben.
({11})
Wenn die vorige Bundesregierung früher angefangen
hätte, hätten wir heute alle nicht dieses Problem.
({12})
Wenn wir früher gelernt hätten, dass bei Agrarpolitik die
Verbraucher, die die Produkte schließlich kaufen sollen
und wollen, eine stärkere Rolle spielen und
({13})
auch hinsichtlich der Auswirkungen auf ihre Gesundheit
stärker aufgeklärt werden müssen, hätten wir heute dieses
Problem nicht.
Aber wir haben nicht nur grundsätzliche Fragen zu
klären. Als Erstes steht jetzt Krisenbewältigung an. Das
ist zumindest das, was mich in den ersten Amtstagen beschäftigt hat. Die erste logische Konsequenz dieser Bundesregierung in Sachen Krisenbewältigung ist: aus den
Erfahrungen der letzten Monate lernen und endlich die
Aufgaben Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft in einem Ministerium bündeln. Ich meine, dies
hätte längst unter ein Dach gehört.
({14})
Es sollte klar sein: Dies richtet sich nicht gegen die
Landwirte. Ich habe kein Amt gegen irgendjemanden angetreten, sondern ein Amt für Verbraucherschutz, für
Ernährung und für die Landwirtschaft. Deshalb sage ich:
Die Zeit des Gegeneinander ist vorbei.
({15})
Ich werde deshalb versuchen, alle an einen Tisch zu bekommen und auch langfristig zu planen, wie es weitergeht.
Zur Krisenbewältigung sage ich Ihnen eines: Einem
Untersuchungsausschuss, über den hier einige diskutieren, würde ich mit Freuden entgegensehen. Ich habe die
Akten in den sechs Amtstagen noch nicht alle lesen können, aber wie mir gesagt wurde, gibt es in den Unterlagen
der Jahre 1993 bis 1998 höchst interessante Vermerke,
({16})
bis dann endlich auch die Bundesregierung gesagt hat:
Gut, wir geben dem Druck, der im Wesentlichen aus der
EU kam und auf eine andere Landwirtschaftspolitik hinsichtlich der BSE-Bekämpfung zielte, nach.
Wir müssen jetzt den Versuch unternehmen, Gemeinsamkeit bei der BSE-Bekämpfung herzustellen. Das sage
ich bewusst auch zu Ihnen. Ich will hier gar keine Konfrontation. Ich sehe genau, dass der Antrag der Koalitionsfraktionen eine Vielzahl von konkreten Forderungen
enthält, die ich zum Beispiel auch im Antrag der
CDU/CSU gelesen habe, auch wenn hier die kurz- und
mittelfristigen Forderungen ein bisschen vermischt sind.
Ich glaube, dass dies eine Aufforderung an die Bundesregierung ist, jetzt endlich einen Maßnahmenkatalog vorzulegen. Ich werde Ihnen diesen in Kürze vorschlagen.
Wir haben gestern im Bundeskabinett darüber geredet.
Ich habe über den aktuellen Entscheidungsbedarf berichtet. Wir haben uns verständigt, sehr schnell Entscheidungen zu treffen und sie umzusetzen. Auch die Amtschefs
haben sich gestern getroffen und einen Katalog verabschiedet. Ich will Ihnen sagen, was zu den aktuellen Maßnahmen gehört, die zu ergreifen sind. Das sind die offene
Deklaration und eine Positivliste für erlaubte Futtermittel,
damit sich in Zukunft Infektionen, wenn dies der Übertragungsweg ist, nicht wiederholen.
Zudem brauchen wir eine verstärkte und konsequente
Futtermittelkontrolle, die, wie wir alle wissen, in den Ländern unterschiedlich ausgeprägt stattfindet oder eben auch
nicht. Wir brauchen verschärfte Sanktionsvorschriften.
Ich möchte ein zeitlich unbefristetes Verfütterungsverbot
von Tiermehl und Tierfetten erreichen, auch wenn ich
weiß, dass sich andere in der EU damit schwer tun. Wir
brauchen verbesserte BSE-Tests und wir brauchen sie für
jüngere Tiere. Dies gilt besonders mit Blick auf das
28 Monate alte Tier aus Freising in Bayern. Ich überlege,
das Alter für die Anwendung von BSE-Tests von 30 Monaten auf 24 Monate zu reduzieren.
Wir brauchen die schrittweise Ausdehnung der Tests
auf alle Schlachtrinder. Ein Ziel sollte sein, dass Rindfleisch nur noch dann auf den Markt kommen darf, wenn
es auf BSE getestet ist; denn Verbraucherinteressen und
Gesundheit haben Priorität.
({17})
Auch brauchen wir bezüglich der Schafe ein nationales Scrapie-Überwachungsprogramm. Wir brauchen ein
Verbot der Gewinnung und Verarbeitung von Separatorenfleisch und - das gehört zu den aktuellen Entscheidungen - wir brauchen eine Entsorgung der Altbestände.
Es geht um vor Anfang Dezember gelagertes Tiermehl
und Tierfette, die noch in den Betrieben lagern und wo die
Gefahr besteht, dass diese Mittel noch genutzt werden.
({18})
Eines sage ich klar: Wir wollen den Betroffenen helfen.
Ich will die Kooperation zwischen der EU, dem Bund und
den Ländern. Ich hoffe, dass die Entscheidungen, die gestern zusammen mit den Amtschefs getroffen worden sind,
auf der politischen Ebene Mehrheiten finden.
Ich habe zwei Entscheidungen kurzfristig zu treffen,
die mir sicherlich nicht leicht fallen werden. Das eine ist
die Frage: Bleiben wir bei der Tötung der Gesamtbestände, in denen BSE aufgetreten ist? Ich habe das
wissenschaftliche Steering-Komitee auf EU-Ebene gebeten, dieser Frage noch einmal nachzugehen. Wir werden
auf dem Agrarrat am 29. und 30. Januar dieses Jahres diesen Punkt auf der Tagesordnung haben, weil ich finde,
dass es diese Frage verdient, noch einmal geprüft zu werden.
Heute bleibt aber nichts anderes übrig, als zu sagen:
Wir bleiben bei der Bestandstötung. Wir verfahren damit
anders als Herr Stoiber, der zur Tötung von Einzeltieren
oder einer Kohorte übergehen möchte. Wir würden den
Bauern damit keinen Gefallen tun. Was hilft es uns, wenn
wir nur die Kohorten töten, aber der Bauer um Hilfe bitten muss, die Tiere abzutransportieren, weil weder das
Fleisch noch die Milch abgenommen werden? Die Politik
muss eine verantwortliche Entscheidung treffen. Ich
werde mich davor nicht drücken.
({19})
Wir haben dann noch das Problem des Aufkaufens
von Tieren über 30 Monate, für die es keine Käufer gibt.
Ich prüfe das. Was immer ich auch entscheiden und welchen Vorschlag ich machen werde: Es wird mir nicht
leicht fallen. Eines ist aber klar: Es geht bei all diesen
Punkten nicht um die kurzfristigen Interessen der Landwirtschaft. Es geht eindeutig um Verbraucherschutz, Tierschutz und ethische Fragen. Wenn wir eine solche Maßnahme ergreifen, dann garantiert nicht ohne erste Schritte
zu einer Wende in der Agrarpolitik, zum Beispiel indem
wir die Möglichkeiten der Agenda 2000 endlich nutzen
und ausschöpfen; sonst wäre diese Maßnahme garantiert
nicht vertretbar.
({20})
Ich werde in der nächsten Zeit intensiv mit den Verbraucherschützern, den Tierschützern und den Verbänden
der Land- und Ernährungswirtschaft reden. Ich wende
mich nicht nur an die Bauern; denn wenn es eine Wende
geben soll, dann sind diejenigen, die als Erste aktiv werden müssen, nicht die Bauern, sondern die Futtermittelindustrie und der Einzelhandel. Auch diese müssen ihren
Beitrag leisten.
({21})
Mein Auftrag ist der Verbraucherschutz. Ich werde
dabei die Interessen der Landwirte nicht vergessen. Ich
weiß aber: Das größte Kapital und das größte Pfund, mit
dem die Bauern wuchern können, ist das Vertrauen der
Verbraucherinnen und Verbraucher. Deshalb muss die
oberste Maxime sein, fehlendes Vertrauen wieder herzustellen. Wie macht man das? Das erreicht man dadurch,
dass man in Zukunft einen vorsorgenden Verbraucherschutz praktiziert und nicht erst dann eingreift, wenn die
Menschen und die Tiere krank sind und die Höfe in ihrer
Existenz gefährdet sind. Vorsorgender Verbraucherschutz
ist das Zauberwort. Das ist meines Erachtens in zweifacher Hinsicht gut, und zwar sowohl für die Verbraucher
als auch für die deutsche Landwirtschaft.
({22})
Frau Ministerin
Künast, dies war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause.
Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen möchte ich Sie
dazu beglückwünschen.
({0})
Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Annette Widmann-Mauz für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Ministerin Künast, meine Fraktion und ich heißen Sie im Deutschen Bundestag herzlich willkommen. Frau Künast, wir
freuen uns auf die politischen Auseinandersetzungen mit
Ihnen in diesem Haus.
({0})
Ich finde, Sie haben in Ihrer Rede einige sehr sinnvolle
Vorschläge für das aktuelle Vorgehen im Rahmen der
BSE-Krise gemacht. Es ist schön, dass die Bundesregierung endlich zu Regelungen und Maßnahmen findet,
nachdem die Union bereits im November und Dezember
viele Maßnahmen vorgeschlagen hat. Es ist Zeit, dass wir
an das Umsetzen gehen und uns nicht mit Worten und
Proklamationen begnügen.
({1})
Was ist in Deutschland eigentlich passiert? Die Menschen wissen nicht mehr, was sie essen sollen, die Verbraucher sind total verunsichert, die bäuerlichen Betriebe
und damit auch der ländliche Raum sind existenziell bedroht und die dafür verantwortlichen Minister sind nicht
mehr im Amt. Das ist mit das Ergebnis Ihrer Politik der
letzten Monate.
({2})
Seit diese rot-grüne Regierung im Amt ist, wurde der
Verbraucherschutz in Deutschland dramatisch vernachlässigt. Wir haben eine Vertrauenskrise bezüglich der Sicherheit von Lebensmitteln, bezüglich der Erzeuger und
leider auch bezüglich der Politik. Es herrscht ein Klima
eines pauschalen Verdachts. In der BSE-Krise wurde monatelang verharmlost, abgewiegelt, versäumt, ignoriert
und - auch das ist mittlerweile gut dokumentiert - bewusst desinformiert.
({3})
Diese Politik hat nicht die Menschen und deren Gesundheit in den Mittelpunkt gestellt, sondern ist bis heute von
Kommunikationsdefiziten, Unentschlossenheit und einer
nicht zu übersehenden politischen Hilflosigkeit gekennzeichnet.
({4})
Eine Bündelung des Verbraucherschutzes ist notwendig. Ist aber gerade die Ansiedlung im Landwirtschaftsministerium richtig? Parteipolitisch-taktisch mag das sicher so sein, aber ist es auch sachpolitisch richtig?
Zunächst besagt es doch nur eines: Schröder will, dass
sich die Gesundheitsministerin endlich mit aller Kraft um
die Probleme in unserem Gesundheitswesen kümmert,
damit der Patient nicht länger auf der Strecke bleibt.
Frau Künast, Sie sind neu im Amt. Deshalb will ich Ihnen auch nicht die Fehler Ihres Vorgängers vorhalten, sondern ganz konkret sagen, was wir von Ihnen erwarten.
Verbraucherschutz heißt zuallererst Transparenz. Die
Fakten müssen auf den Tisch. Die Menschen müssen wissen, wo es für sie Risiken gibt und wie schwerwiegend
diese sind. Es darf nicht sein, dass die Bundesregierung
- wie geschehen - bereits im April weiß, dass Deutschland ein BSE-Risikoland der zweithöchsten Kategorie ist
und nichts tut. Obwohl angesichts der besonderen Ausgangslage und der Kritik aus dem Ausland umfangreiche
epidemiologische Untersuchungen durchgeführt werden
sollten, um für einen möglichen ersten Fall von BSE in
Deutschland gerüstet zu sein, geschah nichts. Es gab
keine weiteren Stellungnahmen und keine Vorkehrungen
für den Fall der Fälle.
({5})
Es gab keinerlei Planungen und keinerlei Maßnahmen,
nichts. Völlig planlos und unvorbereitet hat die BSEKrise deshalb auch diese Bundesregierung getroffen.
Frau Kollegin
Widmann-Mauz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Abgeordneten Weisheit?
Ja.
Frau Kollegin, sind Sie
sich bewusst, dass die Bundesländer die Durchsetzung der
entsprechenden Maßnahmen, deren Nichtdurchsetzung
Sie jetzt einseitig der Bundesregierung anlasten, immer
wieder einstimmig im Bundesrat verhindert haben? Alle
Briefwechsel sind veröffentlicht. Über diese haben wir
hier schon diskutiert. Hören Sie doch bitte schön damit
auf, die Versäumnisse nur der Bundesregierung in die
Schuhe zu schieben!
({0})
Lieber Kollege Weisheit, dass es entsprechende Empfehlungen wissenschaftlicher Experten für die Bundesrepublik in Arbeitskreisen, an denen die Bundesregierung mit mehreren
Ressorts beteiligt war, gegeben hat, ist dokumentiert.
Diese liegen zwar dem Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vor. Aber über diese Empfehlungen wurde nicht diskutiert. Aufgrund unseres mehrmaligen und nachhaltigen Nachfragens, wie wir angesichts der
Nichtumsetzung der Kennzeichnungspflicht in Großbritannien in der Frage des britischen Rindfleischs vorgehen
sollen, wurde uns gerade von Mitgliedern Ihrer Fraktion
im Ausschuss ständig Panikmache vorgeworfen.
({0})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Fragen Sie Ihre Kollegen, die Ihnen das bestätigen werden, und schauen Sie sich die entsprechenden Protokolle
an! Hier lässt sich nichts wegdiskutieren. Die Versäumnisse werden zum Beispiel von Ihren Kollegen im Gesundheitsausschuss gar nicht infrage gestellt. So sollte es
nicht weitergehen. Wir müssen doch aus den Erfahrungen,
die wir in den letzten zwei Jahren gemacht haben, lernen.
Es ist wichtig für eine zukunftsbezogene Analyse, auch einen kritischen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Nur
so können wir in Zukunft Fehler vermeiden. Darauf
kommt es doch für die Verbraucherinnen und Verbraucher
in unserem Land an.
({1})
Frau Kollegin
Widmann-Mauz, es gibt den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage. - Bitte, Herr Kollege Weisheit.
Ich habe überhaupt nichts
dagegen, dass wir unseren Blick in die Vergangenheit
richten. Aber man sollte dann bitte schön nicht schon
1998 einen Strich ziehen. Ich möchte Sie fragen, ob Sie
mit mir darin übereinstimmen, dass wir bis in das Jahr
1988 zurückblicken müssen, wenn wir aus der Vergangenheit lernen wollen.
Herr
Weisheit, die BSE-Krise ist eine Krise, die sicherlich nicht
erst im Jahr 1998 begonnen hat; denn die dokumentierten
Versäumnisse, die in Großbritannien und auf europäischer
Ebene, aber auch in der Bundesrepublik schon vor diesem
Zeitpunkt begangen worden sind, waren viel zu groß.
Aber, Herr Weisheit, Ihre Fraktion stellt die Bundesregierung und hat den Bundeslandwirtschaftsminister gestellt. Wir debattieren in den letzten Wochen und Monaten, seit wir wissen, dass Deutschland in eine höhere
Risikostufe eingruppiert worden ist, im Deutschen Bundestag über die Verantwortung der deutschen Bundesregierung. Es sind schon vor dem Auftreten der ersten
BSE-Fälle in der Bundesrepublik Deutschland konkrete
Maßnahmen gefordert worden, weil mit ihnen zu rechnen
war. Die Bundesregierung hat jedoch nichts getan. Die
entsprechenden Maßnahmen sind verschlafen worden.
Wenn alles so wunderbar geklappt hätte, dann müssten
heute noch zwei andere Minister auf der Regierungsbank
sitzen.
({0})
In internen Protokollen zum Beispiel vom April letzten
Jahres wurde auch die Möglichkeit der BSE-Infektion
von Schafen thematisiert. Auch davon drang nichts nach
außen. Höchste Geheimhaltung! Selbst das Parlament und
die zuständigen Ausschüsse - das mache ich dem Ministerium schon zum Vorwurf - wurden von dem Verdacht
nicht in Kenntnis gesetzt. Bis heute gibt es keine Vorkehrungen für das Scrapie-Problem. Frau Künast, das darf
sich in Zukunft nicht wiederholen.
Ein zweiter Fall: Das Bundesgesundheitsministerium
ist von Medizinern der Universität Göttingen über Prognosen zum Verlauf der Entstehung, Verbreitung und
Bekämpfung der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit in Kenntnis gesetzt worden. Seit November letzten Jahres geht das
Bundesgesundheitsministerium davon aus, dass auch in
Deutschland mit der neuen Variante von CJK gerechnet
werden muss. In einem internen Arbeitspapier des
Bundesgesundheitsministeriums wird gewarnt: Auch in
Deutschland könne die stets tödlich verlaufende neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit auftreten. Weder
die Öffentlichkeit noch das Parlament sind allerdings darüber je informiert worden.
Geschlossene Expertenrunden, interne Arbeitspapiere
und Ergebnisse, die zurückgehalten werden, haben mit
vorsorgendem Verbraucherschutz - genau dieses Wort haben Sie, Frau Künast, auch heute benutzt - nichts zu tun.
Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Stellen Sie
künftig sicher, dass Sie als Ministerin und die Öffentlichkeit informiert werden und dass in den Fällen, in denen
dies zu früh erscheint, weil die Erkenntnisse noch zu gering sind, zumindest die zuständigen Ausschüsse des Parlaments und die Landesregierungen zeitnah in Kenntnis
gesetzt werden.
Deshalb fordern wir in unserem Antrag, über den wir
heute beraten, einen unabhängigen wissenschaftlichen
Ausschuss zum Thema „Bekämpfung von BSE“. Wir fordern von Ihnen mehr Transparenz. Machen Sie mit der
Geheimniskrämerei Ihrer Vorgänger Schluss!
({1})
Frau Künast, Sie haben mit markigen Gesten angekündigt, Verbraucherschutz werde zur Chefsache. Sie persönlich wollen sich um die Dinge kümmern. Genau das
fordern wir von Ihnen. Sie tragen Verantwortung für den
Verbraucherschutz in Deutschland. Dazu gehört die Verantwortung für und zur Information. Dazu gehört aber
auch der verantwortliche Umgang mit dieser Information,
das heißt Sachlichkeit statt Verunsicherung.
Sie bewegen sich auf einem sehr schmalen Grat; denn
es bedarf großer Sensibilität für die Verbraucher, die - wie
zu dieser Uhrzeit - vor ihrem Mittagessen sitzen und gesunde Nahrungsmittel essen wollen, sowie für Menschen,
die gesunde Nahrungsmittel produzieren und davon auch
leben müssen. So wie Sie in der Sendung „Was nun, ...?“
aufgetreten sind, Frau Künast, geht es wirklich nicht. Ich
glaube, das haben Sie selbst mittlerweile eingesehen. Wir
brauchen keine Schnellschüsse und keine Kraftmeierei.
Wir brauchen Sachlichkeit, Abgewogenheit und konkretes Handeln.
Die Verantwortung zur Information und der verantwortliche Umgang mit der Information gehören nämlich
zusammen. Wir brauchen keine Hysterie; aber wir dürfen
die Menschen in unserem Land auch nicht in falscher Sicherheit wiegen. Die in Ihrem Haus hier und da kursierende Idee - sie klang auch in Ihrer Rede heute ein bisschen an -, Rindfleischprodukte mit einem Testsiegel zu
versehen, wäre so ein Fall. Hiermit könnte dem Verbraucher suggeriert werden, es gebe die hundertprozentige Sicherheit. Doch - das wissen Sie - diese Sicherheit gibt es
- zumindest derzeit - nicht. Deshalb können wir den Menschen nichts anderes sagen. Den Mut dazu müssen wir haben.
Wir erwarten von Ihnen, dass Sie koordinierend tätig
werden. Verbraucherschutz bleibt auch nach dem Kabinettsbeschluss eine Querschnittsaufgabe zwischen den
Ministerien sowie zwischen dem Bund und den Ländern.
Der Föderalismus in Deutschland ist eine gute Grundlage
für den Wettbewerb um den besten Verbraucherschutz und
übrigens auch um die beste Nahrungsmittelerzeugung.
Das, was Sie auch heute wieder so groß als „neue Agrarpolitik“ ankündigen, ist zum Beispiel in Baden-Württemberg schon vor Jahren auf den Weg gebracht worden.
({2})
Zum Beispiel ist die gläserne Produktion bei uns entwickelt worden. Das MEKA-Programm und das
SchALVO-Programm fördern, und zwar flächenbezogen,
die Extensivierung der Landwirtschaft mit ökologischen
Standards, mit Bewirtschaftungs- und Düngebeschränkungen. Hinzu kommt der finanzielle Ausgleich für die
Landschaftspflege. Es handelt sich also um ein ganzes
Bündel von Maßnahmen.
({3})
Frau Künast, ich lade Sie herzlich ein: Kommen Sie zu
mir auf die Schwäbische Alb und schauen Sie sich einmal
an, wie das funktionieren kann. Allerdings sollten Sie zuerst Ihre Ressortzuständigkeiten klären; denn wie wir
hören, ist der administrativ notwendige Organisationserlass noch gar nicht erfolgt. Dies ist nämlich die Voraussetzung dafür, dass Sie Ministerin für den Verbraucherschutz sind. Erst seit dieser Woche liegt ein erster Entwurf
für den Organisationserlass vor. Ich frage mich schon: Ist
das vom Kanzleramt verschlafen worden oder wollen Sie
erst noch den Wedel-Bericht abwarten? Wie steht es eigentlich damit? Wird der Bericht von Frau Wedel in die
Überlegungen überhaupt noch einfließen oder gibt es
schon wieder Streit bei Ihnen? Wer wird denn eigentlich
bei der Gentechnik das Sagen haben? Wie lange soll das
Ganze eigentlich noch dauern? Allein mit markigen
Ankündigungen kann man keine Politik machen.
Wir brauchen von Ihnen - ich komme zum Schluss den Einsatz für den Vorrang des vorsorgenden Verbraucherschutzes, vor allen Dingen auf europäischer Ebene.
Es besteht enormer Handlungsbedarf. Wir brauchen keine
Kraftsprüche in Talkshows, sondern Entscheidungen auf
der Ebene des Europäischen Rats. Wir werden Sie nicht
an den Einschaltquoten, sondern an den Ergebnissen, die
Sie erzielen, messen.
({4})
Der nächste Redner ist
der Kollege Dr. Norbert Wieczorek, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie haben
vorhin einen wichtigen Satz ausgesprochen: Es kommt
darauf an, dass wir uns dieser Krise gemeinsam annehmen, wobei natürlich die Interessengegensätze, die vorhanden sind, zum Ausgleich gebracht werden müssen. Ich
hoffe - bei meiner Vorrednerin hatte ich eben nicht immer
den Eindruck -, dass das auch die Rolle der Opposition
sein wird. Das heißt nicht, dass sie keine anderen Meinungen vertreten dürfte; aber wir müssen diese Krise, die
eine Krise der gesamten Ernährungswirtschaft darstellt,
gemeinsam bewältigen.
({0})
Wir müssen nämlich die Bürger vor gesundheitlichen
Risiken schützen und dürfen nicht hinnehmen - ich sage
auch das bewusst -, dass unseren Bauern die Existenzgrundlagen wegbrechen. Da lassen jedenfalls wir als Regierungsfraktionen keinen Gegensatz zwischen den Bauern einerseits und den Verbrauchern andererseits zu.
Allerdings gilt auch - dies schließt die Vertreter der organisierten Landwirtschaft ein - das Prinzip: Es kann kein
„weiter so wie bisher“ geben.
({1})
Das herrschende Leitbild der Wirtschaft, das zu machen,
was kurzfristig Profit verspricht, dient nicht dem langfristigen Ertrag, sondern kann - an dieser Stelle gestatte ich
mir, einen altmodischen Begriff der Ökonomie zu nutzen - die nachhaltige Wohlfahrt zerstören.
({2})
Das gilt auch und gerade für die Ernährung. Die Warnzeichen sind schon da: BSE seit 1988, Nahrungsmittelallergien, Resistenz gegen Antibiotika, die Diskussion um
die Wachstumshormone. Es ist eben nicht nur BSE, auch
wenn dies besonders tragisch ist. Die gegenwärige Krise
hat hoffentlich endgültig das Bewusstsein für einen grundlegenden Wandel unter dem Begriff der Nachhaltigkeit
geweckt. Wir wissen, dass wir dafür Zeit brauchen; aber
mit diesem Wandel muss endlich begonnen werden.
In der Ernährungspolitik gehört dazu, sich ein lebensnahes Bild von der Landwirtschaft zu machen. Sie stellt
heute weder einen rein an der Gewinnmaximierung orientierten agroindustriellen Komplex dar - es gibt Teile davon; dies gilt aber nicht insgesamt -, noch stimmt das Bild
von der Ökoidylle auf dem bäuerlichen Familienbetrieb.
Vielmehr handelt es sich in der Regel um gut geführte Familienunternehmen oder - in den östlichen Bundesländern - um größere Unternehmen, die auf den Trümmern
der DDR-Agrarindustrie mit Rücksicht auf die sie umgebende Natur Nahrungsmittel erzeugen.
Zu diesem Bild gehört allerdings auch, dass der sich
verschärfende Wettbewerb in der Nahrungsmittelindustrie und im Handel einen Trend zur industriellen Erzeugung fördert und stärkt. Wir müssen ferner feststellen,
dass das Interesse des Handels und nicht zuletzt des Verbrauchers, im Wettbewerb oft das billigste Angebot zu
wählen, zu diesem Trend beiträgt. Solche Marktergebnisse sind im Interesse der wirtschaftlichen Sicherheit
unserer Landwirte und erst recht im Hinblick auf die gesundheitlichen Interessen unserer Bürger nicht akzeptabel. Nun haben wir die Chance, das jetzt geweckte Bewusstsein der Öffentlichkeit zu nutzen, um Reformen im
Handeln und Denken bei allen Anbietern und Bürgern als
Konsumenten durchzusetzen.
({3})
Kern der BSE-Krise ist die widernatürliche Verfütterung von tierischen Substanzen an Pflanzenfresser. Ruchlos wird es, wo dies trotz Verbot aus rein ökonomischen
Gründen noch weiterhin stattgefunden hat. Ich verweise
nur darauf, dass es hier nicht allein um Vermischungen
geht. Heute konnte man in der „Financial Times“ lesen,
dass gestern in Frankreich Ministerien von einem Untersuchungsrichter durchsucht wurden, der der Behauptung
nachging, es sei bewusst Tiermehl aus England eingeführt
worden, nachdem dies längst verboten war. Sollte dies
stimmen, wäre es ein Skandal sondergleichen. Aber dass
es hier Unterschleif gegeben hat, wissen wir alle. Deswegen muss man es auch ansprechen.
Die Verantwortlichen sind daher nicht nur zu benennen, sondern auch zur Rechenschaft zu ziehen. Falsche
Rahmenbedingungen sind dort gesetzt werden, wo es
günstiger ist, Kälber mit so genannten Milchaustauschern anstelle von natürlichen Grundlagen aufzuziehen.
Für diese Entwicklung gibt es eine historische, gesellschaftliche und politische Verantwortung. Andrea Fischer
und Karl-Heinz Funke mag man - im Einzelnen vielleicht
zu Recht - Fehler für die Zeit vorwerfen, in der sie an der
Regierung waren. Aber eines muss man auch sagen: Wir
alle haben schnell auf das Auftreten des ersten BSE-Falles in Deutschland reagiert.
({4})
Bereits am 30. November letzten Jahres, also schon eine
Woche nach dem ersten Positivbefund, haben wir das
Tiermehlverbotsgesetz mit überwältigender Mehrheit
- es gab lediglich ein paar Gegenstimmen - gemeinsam
verabschiedet. Der Bundesrat hat einen Tag später zugestimmt.
Für die heutige Situation trägt auch - dies meine ich
nicht polemisch - die derzeitige Opposition Verantwortung. Es geht nicht an, einen Antrag vorzulegen, der eine
jahrelange politische Verantwortung für BSE ignoriert
und sich nicht zu einer jahrzehntealten Politik bekennt,
die in diese Krise geführt hat. Wir müssen alle gemeinsam
aus dieser Krise herauskommen; dies ist mein Plädoyer.
({5})
Dies gilt aber nicht nur für uns im Hause, für die Politik. Es gilt auch für die Verbraucher und damit weitgehend
für alle; denn wir müssen uns fragen, wovon wir wirklich
unsere Entscheidung beim Fleischeinkauf abhängig gemacht haben.
Die Landwirte müssen sich damit auseinander setzen,
ob beispielsweise die Rindermast, die weit über die eigene
Grünfutterbasis hinausgeht, die geeignete Form für eine
gesunde Fleischerzeugung ist. Insbesondere die Landwirtschaftsverbände müssen für sich einmal klären, welcher
Vorstellung von Landwirtschaft ihre Lobbyarbeit gilt. Ich
füge hinzu: Das Papier der Landwirtschaftsverbände, das
gestern erschienen ist, lässt hoffen, dass tatsächlich ein
Umdenkungsprozess eingesetzt hat. Ich wäre sehr dafür,
dass er fortgesetzt wird und das entsprechend praktiziert
wird.
Unabhängig davon und nicht durch Schuldzuweisungen zu ersetzen ist jedoch die staatliche Pflicht einer Gesundheitsvorsorge. Ebenso muss es unser Ziel sein, dass
der Verbraucher wieder mit Appetit, aber ohne Kahlschlag
im Portemonnaie und erst recht ohne Gefährdung seiner
Gesundheit deutsches Rindfleisch essen mag.
({6})
Erreichen wir dies, geben wir auch unseren landwirtschaftlichen Erzeugungsbetrieben ihre wirtschaftliche
Grundlage auf Dauer zurück; sonst wird das nicht geschehen. Dabei müssen wir angesichts der heutigen Situation zwischen aktuellen Gefahren abwendenden Maßnahmen und einer langfristigen Umsteuerung der Politik
und mithin Gestaltung der Landwirtschaft unterscheiden.
Ich halte es nach wie vor für unumgänglich, bei Feststellung eines BSE-infizierten Rindes die gesamte Herde
zu schlachten. Sollte sich zeigen - Sie haben das angesprochen, Frau Ministerin -, dass das Schweizer Modell
der Kohortenschlachtung die gleiche Sicherheit bietet,
sehe ich darin nach entsprechender Abstimmung auf EUEbene eine Alternative. Ich halte nach wie vor ein totales
und zeitlich unbegrenztes Verbot der Verfütterung von
Tiermehl für erforderlich, und zwar nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in der EU und darüber hinaus. Die tierischen Fette sind EU-weit in das Verfütterungsverbot einzubeziehen.
({7})
An dieser Stelle möchte ich betonen, dass gemeinsame
strenge EU-Regeln notwendig sind. Dringend muss das
Thema auch in den Agrarverhandlungen der WTO, insbesondere mit den USA, angesprochen werden. Der
Handelsstreit um die Wachstumshormone beim Rindfleisch, den wir seit Jahren führen, könnte ein Ministreit
werden im Vergleich zu dem, was entstehen kann, wenn
wir hier nicht für eine Absicherung im internationalen
Handel sorgen.
Es ist nicht nur Sache der neuen Ministerin, es ist auch
Sache des Bundeswirtschaftsministers,
({8})
sehr frühzeitig mit den Amerikanern - auch im Rahmen
der WTO - zu sprechen, damit wir unter WTO-Regeln
nicht so etwas erhalten, was wir bei dem - zugegebenermaßen von der Menge her unbedeutenden, aber
von vehementen Diskussionen begleiteten - Hormonstreit beim Rindfleisch haben. Die EU insgesamt muss
dazu gebracht werden, dass in diesen Handelsverhandlungen eine gemeinsame Linie vertreten wird. Ich bitte
darum, dass jeder auch diesen Ansatz sieht und ihn unterstützt.
({9})
Nach dieser Abschweifung in einen Bereich, der noch
nicht in der Diskussion war - deswegen habe ich ihn hier
eingebracht -, möchte ich noch etwas zu den transparenten Erzeugungswegen sagen. Der Landwirt muss wissen,
was im Futtermittel für seine Tiere enthalten ist. Der
Verbraucher hat einen Anspruch darauf zu wissen, was
seine Nahrungsmittel enthalten. Eine umfangreiche und
offene Deklaration aller Futtermittelbestandteile ist somit
umgehend national und EU-weit durchzusetzen.
Um das zu sichern, gilt es, eine flächendeckende Kontrolle der Lebensmittelherstellung und -kennzeichnung
auch effektiv zu erreichen und nicht nur im Gesetz- und
Verordnungsblatt niederzuschreiben.
({10})
Was wir bei den Kontrollen erlebt haben, sollte uns
nahe legen, darauf zu achten. Das heißt, wir müssen auch
Geld in die Hand nehmen, um die Prüfer und Prüfeinrichtungen zu finanzieren. Das möchte ich nur einmal
diskret an die Adresse der Länderfinanzminister oder der
- Agrarminister - wer immer zuständig sein mag - sagen.
Das Schlachten von ganzen Herden ist mit erheblichen
wirtschaftlichen Konsequenzen für den betroffenen Landwirt verbunden, wie überhaupt die Viehzüchter vom Einbruch der Preise für Rindfleisch wirtschaftlich bedroht
sind. Diese Verfahrensweise bleibt aber aus übergeordneten gesundheitlichen Gründen notwendig, solange wir
keine Möglichkeit zum Test am lebenden Tier haben, die
wir dringend brauchen.
({11})
- Entschuldigung, das kann ich nicht merken.
({12})
- Herr Kollege, ich habe ein Problem; ich sage Ihnen das
ganz offen.
({13})
- Darf ich mal ausreden? - Ich kann meine eigene Stimme
nicht selber kontrollieren, weil ich durch einen früheren
Unfall einen Gehörschaden habe. Deswegen bitte ich, das
gleich zu sagen. Vielleicht kann die Regie das entsprechend regeln.
Angesichts der notwendigen Schlachtungen trete ich
allerdings dafür ein, auf EU-Ebene die Auszahlung von
Mitteln aus dem Marktentlastungsprogramm von BSETests zur Erfassung der epidemiologischen Situation abhängig zu machen. Dies erlaubt den Rückgriff der Forschung auf diese Ergebnisse und ermöglicht es uns,
abzuschätzen, welches Gefährdungspotenzial bei jüngeren Tieren, die noch nicht getestet sind, an vorhanden ist.
Gleiches gilt für die Förderung der Erforschung der
Creutzfeldt-Jakob-Krankheit.
Eines möchte ich hinzufügen - und als Ökonom darf
ich Keynes zitieren -: Auf lange Sicht sind wir alle tot. Es
hilft uns nicht, wenn dem bäuerlichen Familienbetrieb
zum Beispiel in Bayern oder den Nachfolgern aus der industriellen Landwirtschaft der DDR ihre Existenzgrundlage genommen wird. Unser Ziel kann nicht nach dem
Motto verfolgt werden: Operation gelungen, Patient tot.
Ich appelliere daher noch einmal an alle Verantwortlichen, keinen künstlichen Gegensatz zwischen Verbrauchern und Landwirten zu konstruieren. Ich rufe insbesondere die Vertreter der Landwirtschaft auf, ihre
Konsequenzen aus der BSE-Krise zu ziehen und mit der
neuen Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft ergebnisorientiert zusammenzuarbeiten.
({14})
Frau Ministerin, Ihnen möchte ich eine glückliche
Hand bei Ihrer wirklich nicht beneidenswerten Aufgabe
wünschen. Ich hoffe, dass die Schwachstellenanalyse, die
Frau von Wedel durchführt, Ihnen bei der Neuorganisation in diesem Bereich hilft. Ich als stellvertretender Fraktionsvorsitzender und für diesen Bereich Zuständiger
möchte Ihnen bei Ihren Bemühungen nicht nur meine,
sondern die Unterstützung der gesamten SPD-Fraktion
zusagen.
Aber ich möchte Sie auch bitten, die anderen Themen
des Verbraucherschutzes, die im Moment nicht in den
Schlagzeilen sind, ebenfalls sehr ernst zu nehmen. Hier
gibt es noch einiges zu tun.
({15})
Die nächste Krise aus diesem Bereich wird kommen.
Unsere Unterstützung haben Sie und ich biete Ihnen vertrauensvolle Zusammenarbeit an, und zwar unabhängig
von den Pflichten in einer Koalition.
Vielen Dank.
({16})
Es spricht jetzt Kollege Ulrich Heinrich von der F.D.P.-Fraktion.
Frau Ministerin Künast, ich
darf Ihnen im Namen meiner Fraktion zu Ihrem Amt die
herzlichsten Glückwünsche aussprechen, verbunden mit
dem Wunsch, dass wir dem gemeinsamen Ziel, nämlich
dem vorbeugenden Verbraucherschutz - hier ziehen wir
an einem Strang -, näher kommen und dass die Verbraucher das Vertrauen in die Nahrungsmittel zurückgewinnen, die in der Bundesrepublik Deutschland produziert
und angeboten werden.
({0})
Trotz aller guten Wünsche und trotz allem, was wir
heute als Neuanfang begreifen wollen, müssen wir natürlich noch einmal auf all die Entwicklungen der vergangenen Tage und Monate zurückblicken. Wir konnten feststellen: Nicht nur jetzt im Rahmen der BSE-Krise,
sondern auch im Zusammenhang mit der Steuergesetzgebung, mit der Energieverteuerung und mit Kürzungen im
Haushalt hat es diese Regierung bei Gott nicht gut mit der
Landwirtschaft gemeint.
({1})
Die chaotischen Verhältnisse in der Vergangenheit, die
zum Rücktritt von zwei Ministern geführt haben, haben
gezeigt, dass diese das Krisenmanagement nicht beherrschten.
Ich muss den Vorwurf erweitern: Die Ministerin hat es
auch nicht gut gemeint mit den Verbraucherinnen und
Verbrauchern in diesem Land. Sie hat es nicht gut gemeint
mit der Lebensmittelindustrie und mit dem Lebensmittelhandwerk, die jetzt redlich um ihre Existenz kämpfen.
({2})
Das sind Entwicklungen, die so dramatisch sind, wie
ich es im Dezember vorausgesehen habe.
({3})
- Da haben Sie mich als Scharfmacher bezichtigt. In der
Zwischenzeit sind zwei Minister zurückgetreten und es
steht in Ihrer Regierung alles auf dem Kopf. Ich möchte
Sie bitten, das einmal zur Kenntnis zu nehmen und nicht
allzu arrogant zu argumentieren.
({4})
Verbraucher und Landwirte sind die Leidtragenden der
BSE-Krise. Sie sind bei ihrer Bewältigung das Opfer des
Versagens der Bundesregierung und der Länder.
({5})
Mit dem Rücktritt der beiden Minister sind die Gefahren
für die Verbraucher noch nicht beseitigt.
({6})
Der Verbraucherschutz ist dadurch noch nicht verbessert
worden und die Aufarbeitung der BSE-Krise steht weiterhin aus.
({7})
Hier müssen wir in der Zukunft erst noch die entsprechenden Fakten auf den Tisch gelegt bekommen. Deshalb
sind wir sehr interessiert daran, dass der Bericht der Präsidentin des Bundesrechnungshofes sehr bald vorgelegt
wird, sodass wir uns mit ihm im Parlament dann noch einmal befassen und die Dinge vertieft, eingehend und in die
Zukunft führend diskutieren können.
({8})
Auf der anderen Seite haben der Bundeskanzler, aber
auch andere wichtige Politiker in der Republik, zum Beispiel der Ministerpräsident von Bayern, sowie die Grünen
die Forderung nach einem Ende der industrialisierten
Landwirtschaft erhoben. Diese Forderung ist falsch und
zeugt von großer Unkenntnis. - Herr Kollege Schlauch,
da können Sie den Kopf schütteln, wie Sie wollen. Das ist
so.
({9})
Pauschale Diskriminierungen so genannter Großbetriebe
sind fachlich nicht gerechtfertigt.
({10})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir haben bereits vonseiten des Präsidiums
angemahnt, dass die Präsenz auf der Regierungsbank erhöht wird.
({0})
Ich bitte jetzt darum, dem Kollegen Ulrich Heinrich
wieder die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht findet wieder irgendwo eine neue Krisensitzung statt. Das weiß man nicht.
({0})
Offensichtlich muss derzeit sehr viel Wichtigeres hinter
den Kulissen passieren als hier im deutschen Parlament.
({1})
Herr Kollege
Heinrich, jetzt muss ich Sie unterbrechen und Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, offiziell mitteilen - daran
habe auch ich nicht gedacht -, dass zeitgleich der
Neujahrsempfang des Bundespräsidenten stattfindet.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte Sie noch
einmal bitten, jetzt tatsächlich dem Kollegen Ulrich
Heinrich zuzuhören. Wir haben das Fehlen gemeldet. Ich
denke, das wird auch seine Konsequenzen haben.
({1})
Geben Sie mir doch die
Chance, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Rede
fortzusetzen. Wir können sonst auch die Sitzung unterbrechen.
({0})
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass unabhängig von der Betriebsgröße - ({1})
- Also, Frau Präsidentin, offensichtlich ist hier doch keine
Ruhe hereinzubekommen.
({2})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte Sie ein letztes Mal, Ruhe zu bewahren. Das Problem ist erkannt. Ich denke, die Regierung wird ihre Konsequenzen daraus ziehen.
({0})
Ich erteile jetzt das Wort zur Geschäftsordnung dem
Kollegen Dr. Peter Ramsauer.
Frau Präsidentin!
Wenn das Problem jetzt endlich erkannt ist - es ist in der
Tat eines -, dürfte es umso leichter fallen - da spreche ich
jetzt nicht nur für meine Fraktion -, bis zum Eintreffen
weiterer Regierungsmitglieder die Sitzung zu unterbrechen. Ich beantrage das im Namen meiner Fraktion.
({0})
Ich erteile jetzt das
Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen Wilhelm
Schmidt.
Zunächst halte
ich es für sehr ungewöhnlich, Frau Präsidentin, dass hier
mitten in einer laufenden Rede, nämlich in der des Kollegen Heinrich, solche Geschäftsordnungsanträge gestellt
werden. Ich stelle den Antrag, diesen Antrag abzuweisen,
zumal, wie Sie sehen, gerade auch einige weitere Regierungsmitglieder in den Saal kommen.
({0})
Der Hintergrund für das Fehlen ist der Neujahrsempfang beim Bundespräsidenten - das ist allen bekannt -,
bei dem die Regierungsmitglieder erst nach den übrigen
Gästen an die Reihe kommen. Auch das ist Ihnen hinlänglich bekannt. Insofern ist es klar, dass weitere Regierungsmitglieder in den nächsten Minuten hierher kommen werden. Das kann ich Ihnen versichern
({1})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, die Sachlage ist tatsächlich ungewöhnlich.
Es steht aber der Antrag im Raum, die Sitzung zu unterbrechen. Dementsprechend müssen wir jetzt erst einmal
über den Antrag abstimmen.
({0})
Ich würde der Einfachheit halber vorschlagen, dass wir
nun erst einmal abstimmen. Nach einer möglichen Sitzungsunterbrechung können wir dann fortfahren.
({1})
Ich glaube, der Kollege Heinrich muss sich um seine
Redezeit im Moment keine Sorgen machen.
({2})
Ich erteile das Wort zur Geschäftsordnung der Kollegin
Katrin Göring-Eckardt.
Ich hätte gerne geklärt, worüber wir jetzt abstimmen. Der Herr Kollege hat eine Sitzungsunterbrechung
beantragt, bis weitere Mitglieder der Regierung auf der
Regierungsbank Platz genommen haben. Die Präsenz auf
der Regierungsbank ist inzwischen hergestellt.
({0})
Das heißt, die Sitzung könnte sofort weitergehen. Außer
der Ministerin, die für den Bereich zuständig ist, über den
wir gerade debattieren, ist eine Reihe von Mitgliedern der
Bundesregierung anwesend.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich beende die Aussprache. Wir stimmen
jetzt ab,
({0})
es sei denn, es wird eine Sondersitzung des Ältestenrates
beantragt.
({1})
- Das Problem als solches hat sich erledigt. Inzwischen
haben mehrere Mitglieder des Kabinetts auf der Regierungsbank Platz genommen. Trotzdem lasse ich jetzt abstimmen.
({2})
Es ist der Antrag gestellt worden, die Sitzung zu unterbrechen.
({3})
Ich frage die Kolleginnen und Kollegen des Hauses, wer
diesem Antrag, der vonseiten der CDU/CSU gestellt worden ist, stattgeben möchte. - Gegenstimmen? - Die Mehrheit hat sich gegen eine Sitzungsunterbrechung
ausgesprochen.
({4})
Damit setzen wir die Debatte fort.
Ich erteile jetzt erneut dem Kollegen Ulrich Heinrich
das Wort. Ihm verbleibt noch eine Redezeit von vier Minuten.
({5})
- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die soeben in
den Saal gekommen sind, um an der Abstimmung teilzunehmen, auch der Debatte zu folgen.
({6})
Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen, ich habe es eigentlich noch nie erlebt, dass
mitten in einer Rede Abstimmungen stattfinden, dass man
an den Platz geschickt wird und anschließend wieder an
die Reihe kommt.
({0})
Die BSE-Krise macht einige wohl sehr verwirrt.
({1})
Ich bitte, dass wir die Debatte jetzt so fortsetzen, dass diejenigen, die zuhören wollen, dableiben und dann aber
auch zuhören.
Ich möchte darauf hinweisen, dass die Qualität der
Produkte nicht von der Größe der Betriebe abhängt, sondern ausschließlich von den Produktionsmethoden, von
der Qualifikation des Landwirtes und von den eingesetzten Betriebsmitteln. Wenn Sie sich einmal Betriebe überall im Land ansähen, dann würden Sie sehr schnell feststellen, dass diese Aussage stimmt.
({2})
Die Ursachen der BSE-Krise liegen nicht in der konventionellen Landwirtschaft, sondern in Versäumnissen
des Staates und zum Teil in Schlampereien der Mischfutterindustrie.
({3})
Lassen Sie uns jetzt nicht eine falsche Debatte pro oder
contra ökologischen Landbau führen. Das entscheidet der
Markt und nicht die Politik.
({4})
Die Politik kann allenfalls den Rahmen vorgeben, aber
der Markt wird entscheiden.
({5})
Ich habe vorhin bei Herrn Wieczorek wieder durchgehört, die ökologische Landwirtschaft solle nicht so
weit gehen, dass der Geldbeutel der Verbraucher geplündert wird. Er hat es jetzt schon wieder für notwendig gehalten, darauf hinzuweisen, dass die Produkte nicht zu
teuer werden dürfen. Meine Damen und Herren, das entscheidet der Markt.
({6})
- Der Markt entscheidet. Das Angebot richtet sich nach
der Nachfrage: Wenn die Nachfrage nach Ökoprodukten
entsprechend hoch ist, wird das Angebot zunehmen. Das
sind die normalen marktwirtschaftlichen Regeln. Aber
dass Sie davon keine Ahnung haben, weiß ich schon
lange, Herr Schlauch.
({7})
Wenn Sie in dieser Frage Erfolg haben wollen, dann
muss auch der Bundeskanzler zu einem fairen Dialog mit
der gesamten Landwirtschaft zurückfinden.
({8})
Er soll nicht glauben, er könne diese Situation jetzt nutzen, um einen Keil zwischen die so genannten schlechten
Funktionäre und die so genannten guten und redlichen
Bauern zu treiben.
Herr Kollege
Heinrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Seifert?
({0})
Nein, jetzt nicht mehr.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn eine Zwischenfrage gewünscht
wird, dann muss ich den Redner fragen, ob er sie zulässt.
Ich verstehe daher überhaupt nicht, warum Sie sich aufregen. Im Übrigen lasse ich diese Unruhe auch nicht zu.
Herr Kollege Heinrich, Sie haben das Wort.
Ich muss leider bemerken,
dass meine eigene Fraktion zurzeit am lautesten ist.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir sollten
zur Kenntnis nehmen, dass die Landwirte nicht die Täter,
sondern die Opfer sind und dass ein wesentlicher Teil
der Verantwortung beim staatlichen Handeln liegt, und
zwar auf allen Ebenen. Wir sollten ferner zur Kenntnis
nehmen, dass die Mischfutterindustrie eine große Mitverantwortung hat; denn den Verschleierungen - sie werden auch Verschleppungen genannt - kann wirksam entgegengetreten werden. Man braucht ihnen nicht machtlos
gegenüberzustehen. Wir erwarten in der Zukunft eine
Vizepräsidentin Petra Bläss
konsequentere und sauberere Trennung bei den einzelnen
Chargen.
({1})
Selbstverständlich haben wir einen ganzen Katalog
von Forderungen aufgestellt, die entsprechend umgesetzt
werden müssen. Ich verweise auf unseren Antrag und
möchte Sie zum Schluss bitten - die Präsidentin signalisiert mir gerade, dass meine Redezeit abgelaufen ist -,
dass wir versuchen, das von uns gemeinsam gesteckte
Ziel zu erreichen, nämlich dass die Landwirte nicht im
Stich gelassen werden, dass Verbrauchersicherheit geschaffen wird und dass die Stimmung zugunsten derjenigen umschlägt, die wirtschaftlich tätig sind, die heute aber
am Pranger stehen und kaum noch wissen, wohin die
Reise geht.
Ich bedanke mich.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Kersten Naumann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Nun ist anscheinend allen Politikern
klar geworden, dass es einen Neuanfang in der Agrarpolitik geben muss. Dass es dazu aber erst der BSE-Krise bedurfte, ist schon makaber, und zwar für alle Beteiligten.
Die spannende Frage ist nur, was in Zukunft anders gemacht werden soll.
Die Neuausrichtung der Agrarpolitik sollte darauf zielen, dass die Gesamtlandwirtschaft umwelt- und gesundheitsgerechter produzieren kann. Unbestritten ist doch,
dass die überwiegend konventionelle Landwirtschaft voll
im Griff der Handelsketten und der Lebensmittelgroßkonzerne ist. Negative Folgen der durch Wettbewerbsdruck beförderten Intensivierung und Rationalisierung
bezüglich der Umweltverträglichkeit der landwirtschaftlichen Produktion und der Lebensmittelsicherheit
stehen auf der Tagesordnung. Keiner wird bestreiten, dass
Pestizide, Hormone und Antibiotika nicht ohne Folgen für
Pflanzen, Wasser, Lebensmittel und Mensch sind. Hier
besteht zweifellos Handelsbedarf.
({0})
Das künftige Primat der Verbraucherinteressen unterstützt die PDS ausdrücklich. Meine Fraktion wird viele
Positionen von Bärbel Höhn unterstützen, so zum Beispiel die Einführung einer Positivliste in das Futtermittelrecht, das Verbot gentechnisch veränderter Futtermittel
und die Änderung tierschutzrechtlicher Vorschriften.
Für politisch unredlich halte ich es jedoch, dass die
BSE-Krise in dem Papier und von führenden Vertretern
der Regierungskoalition - allen voran vom Bundeskanzler - zu einer Krise der industrialisierten Agrarproduktion
abgestempelt wird.
({1})
Dies suggeriert, dass ein direkter Zusammenhang zwischen BSE und Tierbestands- bzw. Betriebsgröße besteht.
Da stimmen mich eher die BSE-Fälle in bäuerlichen Familienbetrieben nachdenklich.
Zumindest ist das Erklärungsmuster vorschnell. Es
gibt keinen Beleg dafür, dass das Auftreten von BSE eine
Folge der Industrialisierung ist. Immerhin erklärten
führende Wissenschaftler bei der Ausschusssitzung am
5. Januar dieses Jahres, dass ihnen bei BSE so gut wie alles unklar sei. Da stellt sich schon die Frage, woher die offizielle Politik ihre Klarheit nimmt.
Die Einschätzung der Bündnisgrünen nach der Wörlitzer
Tagung, dass nicht die Größe der landwirtschaftlichen Betriebe entscheidend sei, sondern die Art und Weise der Bewirtschaftung und Tierhaltung, teile ich. Ich hoffe, liebe
Kollegin Höfken, dass damit der Vorschlag von Bärbel
Höhn, also die Neuauflage der Degressionsdiskussion,
vom Tisch ist.
Als PDS unterstützen wir, dass der ökologische Landbau schneller vorangebracht und stärker gefördert werden soll. Allerdings bedarf es für teure Ökoprodukte einer
zahlenden Kundschaft. Schließlich haben wir einen liberalisierten EU-Binnenmarkt und damit die Konkurrenz
der Billignahrungsmittel. Übrigens unterliegt auch der
ökologische Landbau selbst den Gesetzen der Marktwirtschaft.
Der Antrag zur nachhaltigen Entwicklung ländlicher
Räume enthält trotz vieler allgemeiner Schlagworte und
unverständlicher Worthülsen wichtige Aspekte für einen
politischen Neuanfang, über die im Ausschuss gesprochen werden muss. Das Prinzip der strategischen Partnerschaft in Form von Netzwerken, wie es in dem Papier
heißt, wird das Problem allerdings nicht lösen.
Bereits im November hatte die PDS die Bundesregierung aufgefordert, die wahrscheinlichen Auswirkungen
der BSE-Krise auf die Einkommenssituation der Landwirte einzuschätzen und zur Vermeidung der Existenzgefährdung von Betrieben für staatliche Hilfe durch direkte
Überbrückungszuschüsse zu sorgen. Hilfe suchend
wandten sich in den letzten Tagen besorgte Landwirte und
Kreisbauernverbände an uns und machten die dramatische Situation deutlich. So berichtet zum Beispiel der
Kreisbauerverband Oberhavel davon, dass bereits
150 Arbeitskräfte entlassen werden mussten. Und wenn
zurzeit die Gewerkschaft Nahrung - Genuss - Gaststätten
vor der Außenstelle des BMVEL in der Wilhelmstraße gegen den drohenden Arbeitsplatzabbau protestiert, kann
ich nur hoffen, dass die Sorgen dort nicht verhallen, sondern Niederschlag bei den Politikern und in den von ihnen
zu fassenden Beschlüssen finden. Woher aber dann das
Geld zur Unterstützung der Betroffenen kommen soll, ist
mir schleierhaft. Bundesminister Eichel hat gestern noch
erklärt, dass vom Bund dafür kein Geld zur Verfügung gestellt wird.
({2})
Übrigens trägt auch der mit einem Finanzierungsvorbehalt beschlossene Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe nicht unbedingt zur Vertrauensbildung in Bezug auf
die Agrarpolitik der Bundesregierung bei. In der Presse
wurde dieser Vorgang unter anderem so interpretiert:
Bundesfinanzminister Eichel lässt sich wegen der BSEKosten eine Tür offen, die Landwirtschaft soll dafür selber aufkommen. - Wenn diese Interpretation stimmt, halte
ich das für mehr als fatal.
({3})
Warum tut sich die Bundesregierung so schwer mit der
Entscheidung, das EU-Marktentlastungsprogramm zu
nutzen? Ohne Marktentlastung kann den Landwirten
nicht geholfen werden. Der Herauskauf von bis zu
400 000 Rindern ist unumgänglich und dient letztendlich
dem Landwirt für einen Neuanfang zur Wiedergewinnung
des Vertrauens der Verbraucher.
Natürlich wollen auch wir, dass nicht länger mit Subventionen Überschüsse produziert werden, deren Beseitigung wiederum Subventionen erfordert. Aber damit ausgerechnet jetzt beginnen zu wollen, da BSE über die
Bauern wie eine Art höhere Gewalt hereingebrochen ist,
hieße, die Bauern im Regen stehen zu lassen. Und das
geht doch wohl nicht.
Im Übrigen plädieren wir dafür, dass alle herausgekauften Tiere geschlachtet und auf BSE getestet werden.
Das würde zur Aufdeckung des Ausmaßes der Verbreitung von BSE beitragen. Eine Nichttestung aus Kostengründen wäre Verschleierung.
Die beiden Anträge zur BSE-Bekämpfung von SPD
und Grünen sowie der CDU/CSU enthalten eine Vielzahl
von Maßnahmen, die unsere Zustimmung finden. Die
Ausschüsse sollten sich dazu durchringen, dem Plenum
einen aus beiden Anträgen gebildeten gemeinsamen Beschlussvorschlag vorzulegen.
Die PDS-Fraktion verlangt einen agrarpolitischen
Neuanfang mit Augenmaß, bei dem die Landwirte, die,
vertrauend auf die herrschenden Rahmenbedingungen, in
ihre Perspektive investiert haben, nicht vor den Kopf gestoßen werden.
({4})
Gesunde Ernährung und Umwelt liegen im Interesse des
Verbrauchers und der Landwirte und sollten Ziel der Politik sein. Dabei ist die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe für die PDS eine Schlüsselfrage. Ob der geplante Neuanfang tatsächlich einer wird, liegt maßgeblich
auch in Ihrer Hand, Frau Künast. Ich jedenfalls wünsche
Ihnen dazu viel Erfolg und werde Sie kritisch begleiten.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Matthias Weisheit.
Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich meine Ausführungen zum Thema beginne, erlaube ich mir, Ihnen,
Frau Künast, zu Ihrem neuen Amt als Ministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft herzlich
zu gratulieren und Ihnen zur Bewältigung der schwierigen
Aufgaben, die vor Ihnen liegen, alles Gute zu wünschen.
({0})
Viel Mut, Beharrlichkeit und Stärke werden notwendig
sein, um über Jahrzehnte tief, manchmal zu tief eingefahrene Gleise in der Agrarpolitik zu verlassen. Aber um im
Bild zu bleiben: Es braucht auch Geduld und Fingerspitzengefühl, damit der Wagen beim Verlassen der tiefen
Gleise nicht zu Bruch geht.
Sie, Frau Ministerin, und wir als Regierungsfraktionen
nehmen die Herausforderung an, deutsche und europäische Agrarpolitik so zu erneuern, dass die Interessen von
Verbrauchern und Erzeugern in gleichem Maße gewahrt
sind. Bäuerinnen und Bauern wollen produzieren, was die
Verbraucher zu Recht erwarten: gesunde und sichere Lebensmittel zu angemessenen Preisen. Dazu brauchen sie
die Unterstützung der Politik, nämlich die politische Gestaltung von Rahmenbedingungen, die sie nicht zu Opfern
gewissenloser Zulieferer von Futtermitteln einerseits und
gnadenloser Preisdrücker unter den Abnehmern andererseits machen.
Wir werden noch häufig über notwendige Schritte in
der Agrarpolitik insgesamt diskutieren und entscheiden.
Ich sage Ihnen, Frau Ministerin, unsere Mitarbeit und Solidarität zu.
Heute geht es um Sofortmaßnahmen, um BSE nachhaltig zu bekämpfen und in mehreren Jahren zu besiegen,
höchstmögliche Sicherheit für Verbraucherinnen und Verbraucher herzustellen, den betroffenen Bauern zu helfen,
damit sie ihre Produkte wieder verkaufen können, und
klarzustellen, dass nicht sie am Pranger stehen, sondern
diejenigen, die ihnen aus bloßer Profitgier mit Tiermehl
versetztes Rinderfutter angedreht haben, die eine Futtermitteldeklaration durchgesetzt und politisch geduldet haben, die keinerlei Sicherheit für die Bauern bot, die zu gutgläubig und zu lasch bei den Kontrollen waren und die zu
lange glaubten, Deutschland sei eine BSE-freie Insel der
Seligen.
Ich sage dies im vollen Bewusstsein dessen, dass das
auch mich persönlich trifft. Aber ich bitte gerade angesichts der Rede von Frau Kollegin Widmann-Mauz darum, uns endlich klarzumachen und in den Debatten zu
berücksichtigen, dass wir nicht alleine in diesem Boot sitzen, sondern sehr viele mit darin sitzen. Es geht bei dieser
Diskussion auch nicht darum, einen künstlichen Gegensatz zwischen gutem Ökolandbau und bösem konventionellen Landbau aufzubauen, wie du, Uli Heinrich, es
vorhin probiert hast. Das wäre absoluter Blödsinn.
({1})
- Nein. Das ist absolut falsch. Wenn wir den Anteil des
Ökolandbaus von derzeit in Baden-Württemberg knapp
5 Prozent - in anderen Bundesländern ist er sehr viel geringer; auch in Nordrhein-Westfalen - verdoppeln, haben
wir immer noch 90 Prozent konventionelle Landwirtschaft. Es kann überhaupt nicht darum gehen, einen Gegensatz zwischen Gut und Böse aufzubauen; es muss allen geholfen werden.
Ich will noch einige Aspekte der letzten Tage beleuchten. Über das Töten der ganzen Herde ist hier schon das
Notwendige gesagt worden. Ich möchte noch auf die Herauskaufaktion zur Marktentlastung eingehen. Auch in
diesem Hause wurden zum Teil recht abenteuerliche Meinungen geäußert, wie man damit umgehen könne.
Wir sollten uns zunächst einmal klarmachen, dass der
Rindfleischmarkt zusammengebrochen ist. Tiere über
30 Monate sind kaum verkäuflich. Es fallen aber jedes
Jahr 1,5 Millionen Tiere über 30 Monate an, die geschlachtet werden müssen. Dann wachsen neue nach,
Kälber kommen auf die Welt. Die Entscheidungen in den
Ställen sind längst gefallen. Wir werden diesen Berg von
Tieren nicht los. Er ist nicht verkäuflich. Deshalb führt
überhaupt kein Weg daran vorbei, diese Tiere zu töten, sie
selbstverständlich - das ist unsere Forderung an die EU;
in der Bundesrepublik kann es nicht anders gehen - auf
BSE zu testen
({2})
und das Fleisch dann zu vernichten, da man es nicht auf
den Markt bringen kann. Es gäbe die Alternative - das ist
aber Augenwischerei -, es einzufrieren. Ich möchte bloß
wissen, wo ich das eingefrorene Fleisch dann verkaufen
soll. Wenn das Fleisch zwei Jahre eingefroren ist, erhält es
den Stempel „für den menschlichen Verzehr ungeeignet“.
Dann ist also ein Verkauf nicht mehr möglich. Nach zwei
Jahren wird dieses Fleisch verbrannt. Dann haben wir eine
Menge Energie verbraucht, viel Geld ausgegeben und die
Menschen angelogen.
Es ist festzustellen: 400 000 Rinder sollten - dies ist
etwa ein Viertel der Tiere, die ohnehin jedes Jahr geschlachtet werden - getötet, auf BSE untersucht und anschließend vernichtet werden.
Wenn man aus dem jetzigen ethischen Dilemma heraus
will, dann geht das nur, wenn man langfristig dafür sorgt,
dass es in der Fleischproduktion keine Überschüsse mehr
gibt.
({3})
In dieser Situation sind wir heute aber nicht. Es bestehen
in der Bundesrepublik, europaweit und weltweit Überschüsse. Deswegen kann man nicht anders handeln.
Es wurde auch der Vorschlag gemacht, das überschüssige Fleisch an die Entwicklungsländer zu verkaufen. Angesichts dessen kann man wirklich nur silberhell lachen.
Wie oft haben wir in diesem Hause in den letzten Jahren
darüber diskutiert, welch wahnsinniger Fehler es ist, die
mit Entwicklungshilfemitteln aufgebaute Eigenversorgung in den Entwicklungsländern dadurch wieder kaputtzumachen, dass wir Überschüsse aus den Staaten der EU
oder aus Amerika billig an diese Länder abgeben! Das
führt zu nichts anderem als dazu, dass die dortige Eigenproduktion kaputtgeht. Das ist sicherlich der falsche Weg.
Ich glaube nicht, dass man so handeln sollte.
Ich wiederhole: Wir können mit diesen 400 000 Tieren
nur so umgehen, wie das die Kommission vorschlägt:
schlachten, untersuchen und anschließend verbrennen.
Einen weiteren Aspekt, den wir in unserem Antrag vergessen haben, muss ich noch anführen - ich gebe zu, dass
ich erst gestern Nachmittag in einem Gespräch mit einem
Bauern darauf gekommen bin; derzeit ist es ja so, dass
man jeden Tag neue Aspekte hinzugewinnt -: Frau Ministerin, bei der Milchquotenregelung muss ganz schnell
eine Veränderung herbeigeführt werden. Denn es ist so,
dass die Tiere der von BSE betroffenen Betriebe geschlachtet werden und diese Betriebe keine Milch mehr
abliefern können. Am 1. April dieses Jahres verlieren sie
dann ihre Milchquote, wenn sie diese nicht beliefert haben.
Das kann nicht richtig sein. Wir müssen also eine Ausnahmeregelung schaffen, sodass sie ihre Milchquote behalten können.
({4})
Wir müssen es ihnen ermöglichen, mit dieser Milchquote
Geld zu verdienen. Das heißt, die betroffenen Betriebe
müssen ihre Milchquote kurzfristig verleasen können,
und zwar so lange, bis sie einen neuen Bestand aufgebaut
haben, oder so lange, bis sie, wenn sie aufhören wollen,
an der Börse ihre Quote verkaufen können. Diese Konsequenz ist zu ziehen - sie fehlt in dem vorliegenden Antrag -, um den betroffenen Bauern zu helfen.
Wir werden noch eine Menge Gelegenheit haben, in
gemeinsamen Diskussionen andere Punkte anzusprechen.
Aber insgesamt ist unser Antrag sicherlich dazu geeignet,
die Ziele, die wir verfolgen wollen, zu erreichen, nämlich
bei den Verbrauchern verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen und wieder ein Sicherheitsgefühl herzustellen
- das ist das Allerwichtigste - sowie den Bauern wieder
eine Existenzgrundlage zu schaffen.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Norbert Schindler.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Künast, angesichts dieser Debatte ist es schlimm genug, dass man - unter anderen Umständen ist das natürlich in Ordnung beim Neujahrsempfang des Bundespräsidenten Champagner trinkt. Unsere Fraktionsführung war um 11.45 Uhr
wieder hier im Hause. Sie waren eine der Letzten in der
offiziellen Begrüßungsschlange beim Bundespräsidenten.
Das Kabinett hatte vor dem eigentlichen Empfang die Gelegenheit - dies war vom Protokoll so vorgesehen -, mit
dem Bundespräsidenten zu sprechen.
({0})
Hier sitzt nur eine Ministerin auf der Regierungsbank. Ich
finde es ungeheuerlich, dass die Regierungsbank bei dieser Debatte so schwach besetzt ist,
({1})
bei einem Thema, das seit sechs Wochen den Nerv der Republik trifft.
({2})
Als es gestern darum ging, Gewalt zu verniedlichen,
war sogar der Kanzler da, ist der Kanzler in der Not herbeigeeilt. Heute geht es darum, den in der Existenz bedrohten Landwirten beizustehen - es geht gar nicht darum, ihnen die Sorgen zu nehmen - und in der Sache
Flagge zu zeigen. Aber man muss sich fragen: Was hat
diese Regierung für die Landwirtschaft, für die Ernährungswirtschaft übrig?
({3})
Die Besetzung der Regierungsbank ist ein Bild dafür:
Nichts hat sie dafür übrig.
({4})
Trotzdem, Frau Ministerin, unterbreite ich Ihnen das
Angebot einer offenen und fairen Zusammenarbeit - auch
wenn der Kanzler in den letzten Wochen sehr leichtfertig
von „Agrarlobbyisten“ geredet hat.
({5})
In Sachen Agrarlobbyisten soll Gerhard Schröder bitte
unterscheiden: Alle Kreisvorsitzenden der Verbände zum
Beispiel sind ehrenamtlich tätig. Sie sind nicht mit einem
hohen Gehalt abgestellt und über das Betriebsverfassungsgesetz abgesichert, um woanders - auch in den Parlamenten - Politik zu machen.
({6})
Diejenigen, denen man in der Landwirtschaft nur einen
Ehrensold bezahlt, sollte man nicht noch zusätzlich mit
billigen Schuldzuweisungen überziehen. Dieser Umgang
ist eines Kanzlers unseres Staates nicht würdig.
({7})
So wie ich persönlich in meinem Betrieb mit meinem
Vermögen hafte, so haften wir für die Konsequenzen,
wenn wir nicht dafür sorgen, dass der Markt ordnungsgemäß - auch im Sinne der Gesetzgebung - mit
Produkten beliefert wird. Wir sind nicht abgestellt, Lobbypolitik zu betreiben. Dies muss schon einmal deutlich
gesagt werden.
Bei der Arbeitnehmertagung der SPD letzte Woche
hat der Bundeskanzler der Sache die Krone aufgesetzt, indem er gesagt hat, er sei nur bereit, mit „redlichen Bauern“ zu reden, nicht aber mit denen, die auf CDU-Parteitagen das Wort ergreifen. Wir sind doch nicht bei der
Christenverbrennung im alten Rom oder bei der Hexenverbrennung im Mittelalter! Wo kommen wir denn da
hin?
({8})
Es ist eine Unverschämtheit des Demokraten Schröder,
mit bestimmten Leuten, die in der Vergangenheit berechtigte Interessen sachbezogen übergebracht haben, so umzugehen. Tut mir Leid, das muss so gesagt werden.
({9})
Meint der Bundeskanzler mit „Agrarlobbyisten“ Vorstände von Lebensmittelkonzernen, meint er Einkäufer
der großen Lebensmittelketten - es gibt nur noch sechs
oder sieben, die den Markt diktatorisch beherrschen -,
meint er jene, die Fleisch zu Dumpingpreisen in den Supermärkten angeboten haben - das war ein Lockmittel
und diente nur dazu, dass die Kundschaft kommt; da
wurde sogar noch draufgezahlt -, meint er die Futtermittellieferanten? Da möge er doch bitte differenzieren! Wo
war denn die Kontrollinstanz Staat, als es um die Kontrolle von Futtermittelerzeugnissen ging?
({10})
Und noch ein mahnendes Wort: Wo war denn in all den
Jahren - ob unter schwarzer oder unter roter Regierung die Wissenschaft? Die Verbraucher in Sicherheit zu
wiegen - auch von hier aus, durch Herrn Funke und Frau
Fischer - war der verkehrte Weg.
({11})
- Es scheint ja einige trefflich zu berühren, wenn man versucht, sich zu wehren.
Ich fordere Herrn Bundeskanzler Schröder, der nächste
Woche nach Rheinland-Pfalz kommt, auf - dies ist nicht
mehr nur eine Bitte, sondern eine dringende Aufforderung, ob es ihm passt oder nicht -: Kommen Sie auf einen
Hof, sehen Sie sich die Not, die Angst der Betroffenen an!
Natürlich können Sie die eine oder andere Weinprobe bestreiten, aber schauen Sie auch einmal nach Tierbeständen
und danach, was das Kabinett in oberster Verantwortung
umzusetzen hat, damit Sie wissen, was man gegenüber
der EU-Kommission vertreten muss: Wie ist ein neuer
Weg in der Agrarwirtschaft zu definieren? Handelt es sich
wirklich um Agrarfabriken oder sind das bäuerliche Familienbetriebe?
Was ist denn auf dem Bauerntag in Cottbus gesagt
worden?
Die teilweise Absenkung der Agrarpreise in der
Agenda 2000 ist ein Erfolg, weil jeder sich im Klaren sein musste, dass wir näher an die Preise des
Weltmarktes heranmüssen.
Zitat des Kanzlers!
Bei der Regierungserklärung im März 1999 sagte er:
... in der Agrardebatte sind wir nach langem Ringen
zu einer auskömmlichen Lösung gelangt ... Kernstück sind die Preissenkungen bei Getreide und
Rindfleisch ...
Ich könnte dies fortführen. Wir wurden doch politisch gezwungen, trotz hoher Qualitätsstandards Niedrigstpreise hinzunehmen.
({12})
Wenn dieser korsetthafte Zwang in diesen Tagen wirklich den gesellschaftlichen Bruch bringt, müssen wir uns
fragen: Wie sind wir in der Vergangenheit mit unseren
Bauern umgegangen? Was passiert mit der WTO? Es sollen neue Richtlinien kommen. Es soll auch für Lebensmittel aus Deutschland Weltmarktpreise geben. Ich
frage: Welchen Preis denn, etwa den, der jetzt gezahlt
wird? Wie war denn die Agrardebatte im vergangenen
September? Lesen Sie einmal Ihre Reden nach. Es ist
schon ein starkes Stück, wie man bei uns mit dieser Frage
umgeht.
({13})
Frau Ministerin!
({0})
Ich muss Sie doch bitten, wenn hier gesprochen wird, dem
Plenum nicht den Rücken zuzuwenden.
({1})
Dies müsste man bei
meiner Redezeit auch berücksichtigen. - Wo bleiben die
Antworten auf die Fragen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den betroffenen Schlachthöfen, in den Werken dieser Republik? Angesichts der derzeit laufenden
hitzigen Diskussion ist auch die Agrargewerkschaft mit
großer Sorge erfüllt. Wir brauchen natürlich auch die
Hilfe dieser Regierung in Form von vertrauensbildenden
Maßnahmen. Diese kann aber nicht so aussehen, dass man
versucht, Personen vorzuführen und parteipolitische
Schuldzuweisungen zu machen. Frau Ministerin, man soll
auch zuhören. Es tut mir Leid, aber daran müssen Sie sich
gewöhnen, wenn Sie im Parlament sind.
({0})
- Herr Schmidt, wenn Sie etwas wollen, können Sie eine
Zwischenfrage stellen.
Ich will in der Sache festhalten: Die Wende durch
Düngemittelauflagen, mit Wasser- und Bodenschutzgesetzen, erfolgte beispielhaft in dieser Republik vor etwa
zehn, fünfzehn Jahren. Bei der nächsten WTO-Konferenz
und der Agrarrunde in Europa besteht die Gefahr, dass wir
uns wegen der neuen protektionistischen Zielsetzung dieses Staates auf einer einsamen Insel mit Ketten-Läden, die
das Billigste aus dem Weltmarkt anbieten, befinden. Was
ist dort kontrolliert worden? Wie sieht heute in der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich dieser importierten
Produkte der zwingende Verbraucherschutz, wie sehen
die Kontrollen aus? Uns auf Deutschlands Höfen und in
der gesamten deutschen Ernährungswirtschaft stranguliert man und wir gehen dabei vor die Hunde.
({1})
So leichtsinnig kann man mit uns nicht umgehen. Es
stehen im wahrsten Sinne des Wortes Existenzen auf dem
Spiel. Deswegen wäre es schon angebracht gewesen, dass
auch der Bundeskanzler in dieser wichtigen Debatte
Flagge gezeigt hätte.
Ich werbe in doppelter Eigenschaft für einen gläsernen,
offenen Weg. Ich komme aus Rheinland-Pfalz und weiß,
was auf dem Etikett einer Weinflasche steht. Auf dem Etikett steht zum Beispiel eine fünf für Rheinland-Pfalz, die
102 beispielsweise für den Ort oder eine Betriebsnummer.
An der Nummer, die an siebter oder achter Stelle steht,
könnte man etwa erkennen, ob es konventionell oder biologisch-dynamisch erzeugt ist. Damit habe ich überhaupt
keine Probleme.
Zum gläsernen Weg gehören aber auch die Einbeziehung und die Haftung des Lebensmitteleinzelhandels.
Welche Kontrollen in der Vergangenheit im nachgelagerten und auch im vorgelagerten Bereich der Futtermittellieferanten stattgefunden haben, wurde schon gesagt.
Frau Ministerin, Sie haben heute Morgen einige Ihrer
Vorstellungen dazu verkündet. Gehen Sie bitte ohne ideologischen Ballast an diese Fragen. Dann sind wir offen für
alle Lösungsansätze. Verfallen Sie nicht wie unser Kanzler in eine Leichtsinnigkeit und versuchen Sie nicht, eine
Kabinetts- und Regierungskrise abzuwenden, indem Sie
Einzelne öffentlich verdreschen.
Den internationalen Weg haben wir als Landwirte in
Deutschland in der Vergangenheit nie gewollt. Ich kenne
auch die Zitate von Herrn Schröder, als er noch Ministerpräsident war. Mir fehlt aber die Zeit, sie zu zitieren.
Wenn ich alles, was gesagt wurde, Revue passieren lasse,
erinnere ich mich daran, dass noch im vergangenen September von Rückständigkeit die Rede war. Der Bauernverband sei altmodisch und an neuen Strukturen nicht interessiert. Wenn dies der neue Weg ist, sind wir gerne
bereit, alles über Bord zu werfen, was uns gesellschaftspolitisch vorgeworfen und bei dem von den großen Wirtschaftsführern gesagt wurde, es sei altmodisch. Ich bin für
eine gut funktionierende bäuerliche Landwirtschaft. Aber
dann muss die Regierung auch zu ihr stehen und nicht ihre
Meinung ständig verbiegen. Man kommt sich wie ein
Ventilator vor, so schnell ändern sich die Ansichten. Das
kann keine vernünftige Politik sein.
Herr Kollege
Schindler, kommen Sie bitte zum Schluss.
Vielen Dank. - Jetzt
noch ein Schlusssatz:
({0})
Ich glaube, das
war ein sehr schöner Schluss.
Wenn wir alle vernünftig miteinander umgehen, dann werden wir diese
Krise schnell bewältigen. Dies darf aber nicht im Tonfall
des Kanzlers geschehen: basta!
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Höfken.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte Renate Künast ganz herzlich als
Landwirtschafts- und Verbraucherministerin willkommen
heißen und ihr unsere Unterstützung zusagen.
({0})
Eben gab es eine Situation, von der die CDU nur geträumt hat: Es saßen hier zwei Landwirtschaftsminister.
Denn auch der italienische Landwirtschaftsminister Herr
Alfonso Pecoraro Scanio war im Bundestag anwesend.
Das ist doch ein Zeichen für eine Wende.
({1})
Ich möchte im Übrigen von dieser Stelle - ich denke:
im Namen aller Kollegen - meiner Kollegin Marianne
Klappert gute Besserung wünschen, die zurzeit im Krankenhaus liegt und hoffentlich bald wieder bei uns ist.
({2})
Herr Schindler, Sie haben viel von sich gesprochen.
({3})
Was die Äußerungen des Kanzlers angeht, möchte ich sagen: Es geht sehr wohl um persönliche Verantwortung.
Die ehemalige Ministerin Fischer und auch der Minister
Funke haben Verantwortung wahrgenommen. Was wir bei
Herrn Schindler erlebt haben, ist, dass er diese Verantwortung wieder von sich gewiesen hat. In RheinlandPfalz - wir haben dort gerade Wahlkampf - muss man
einmal die Überkapazitäten im Weinbau sehen. Wer hat
sie zu verantworten?
Ich nenne hier auch die Berufsgenossenschaften. Es
gab skandalöse Fehlentscheidungen des rheinland-pfälzischen Bauernverbandes mit einigen hundert Millionen DM Kosten für die Landwirtschaft. Rheinland-Pfalz
ist außerdem beim Ökolandbau das Schlusslicht. Auch in
diesen Bereichen müssen führende Vertreter der so genannten Agrarlobby eine persönliche Verantwortung
wahrnehmen. Dieser muss man sich stellen.
Auch über die Industrialisierung muss man diskutieren. Die Ursachen von BSE gehen an die Wurzeln der bisherigen Agrarpolitik. Das ist kein Unfall und auch kein
Einzelereignis. Es ist auch nicht gottgegeben, sondern zu
BSE ist es gekommen, weil das Zusammenwirken von
ökonomischen, verbraucherbezogenen und tierhaltungsbezogenen Anforderungen an die Produktion bewusst
missachtet wurde. Kadaversuppe hat man den Schweinen
in den Trog gegeben und die Nahrungskette ist so zum
Entsorgungsweg geworden. Dagegen ist das Suchen nach
Nahrungsmitteln im Müll in manchen Entwicklungsländern oder auch bei uns eine ästhetische Angelegenheit.
Das Ergebnis ist ein Desaster im ökologischen Sinne,
im Hinblick auf die Milliardenschäden, aber auch im Hinblick auf die Ernährungswirtschaft und im Hinblick auf
die Beschäftigten - Frau Naumann hat schon auf die Demonstration der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, die gerade stattfindet, hingewiesen. Besonders betroffen sind die landwirtschaftlichen Betriebe. Daraus
sind Konsequenzen zu ziehen. Deswegen ist eine Neuorientierung notwendig.
({4})
Das ist keine Einzelfallentscheidung der grünen Fraktion, sondern es gibt eine große Einigkeit in der Regierung
und eine große Unterstützung in der Gesellschaft für eine
solche Neuorientierung, die überall und in allen Pressekommentaren deutlich wird. Im Übrigen: Auch die Länder haben gestern in dieser Richtung über viele Schritte
nachgedacht und wollen sie umsetzen.
Neuorientierung heißt, die Ziele der Wiederherstellung der Lebensmittelsicherheit, des Aufzeigens neuer
Perspektiven für Landwirtschaft und Ernährungsgewerbe
und der Beendigung der Verschwendung von Steuergeldern tatsächlich zu vollziehen sowie diese Ziele in einer
neuen Agrarpolitik konkret umzusetzen. Wir hätten eine
solche Neuorientierung mit der alten Bundesregierung
- CDU/CSU und F.D.P. - nicht geschafft. Ich muss auch
sagen: Das von der CDU vorgelegte Laurenz-Meyer-Papier zur BSE-Krise war ein Papier für ein „Weiter so!“, für
Montag, Dienstag usw., wie der liebe Laurentius eben so
sagt. Wir haben darin keinen einzigen Ansatz einer wirklichen Neuorientierung gefunden. Es geht um eine Verbesserung der Forschung und um ein bisschen Symptombekämpfung, aber nicht um einen ernsthaften Wandel.
Man kann auf die unsäglichen Debatten im Hinblick
auf die Risikomaterialien oder den von Herrn Ronsöhr in
der letzten Ausschusssitzung gestellten Antrag hinweisen,
die tierischen Fette nicht aus den Milchaustauschern - die
heute als Einfallstor für BSE bekannt sind - herauszunehmen, obwohl klar war, was mit BSE los ist. Ich nenne
Herrn Stoiber, der mit seiner Art und Weise, eine Behinderung der Krisenbekämpfung zu erreichen, nur puren
Populismus betreibt.
({5})
Das bedeutet nämlich, die Verantwortung nicht wahrnehmen und aus reinem Populismus gegenüber der Klientel
nicht das ausbaden zu wollen, was man angerichtet hat.
Wir debattieren heute über einen Antrag der Koalitionsfraktionen. In diesem Antrag haben wir uns ganz klar
dafür ausgesprochen, bei Feststellung eines BSE-infizierten Rindes aus Gründen der gesundheitlichen und epidemiologischen Vorsorge weiterhin die gesamte Herde zu
töten. Das ist aus Gründen des Verbraucherschutzes die
einzige Konsequenz. Wir kennen den Übertragungsweg
Kuh-Kalb und wir stehen vor der Tatsache, dass alle betroffenen Tiere das gleiche Futter gefressen haben, egal,
ob sie in diesem oder jenem Bestand gewesen sind. Es
gibt viele ungeklärte Fragen bei den Tests. Deswegen sind
wir zu diesen Maßnahmen verpflichtet und müssen dazu
auch stehen.
In der Schweiz waren die getroffenen Maßnahmen hinsichtlich der Kohortenschlachtung lange nicht so erfolgreich, wie sie hätten sein sollen. Großbritannien hat durch
seine Halbherzigkeit ermöglicht, dass sich diese Seuche
weltweit verbreitet. Wir haben dafür einzustehen, dass es
eine Seuchenbekämpfung gibt. Auch wenn es uns in vielerlei Hinsicht nicht gefallen mag, müssen wir konsequent
sein.
Wir wollen heute im Bundestag auch beschließen, das
Testalter auf 24 Monate zu senken - das hat im Übrigen
auch den Vorteil, dass die Auseinandersetzungen auf den
Schlachthöfen zum Teil beendet werden -, die Forschung,
die schon sehr intensiviert worden ist, noch weiter auszudehnen, für die Verbraucher mit einer offenen Deklaration
endlich Transparenz zu schaffen und eine weitere Verbesserung auf EU-Ebene voranzutreiben. Wir haben gestern
mit Freude gehört, dass auch der Kommissar Fischler die
BSE-Tests im Zusammenhang mit dem Marktentlastungsprogramm unterstützt. Das heißt, man hat hier
Rückendeckung für eine weitere Verbesserung. Ich sehe,
dass diese neue Politik von der EU-Kommission unterstützt wird. Insofern glaube ich, dass das gut für die Landwirtschaft ist. Wir bemühen uns, sie aus ihrer Isolation
und der jetzigen Situation herauszuholen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zöller.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als gesundheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU hätte ich gerne der neuen
Gesundheitsministerin gratuliert. Leider Fehlanzeige. Sie
ist nicht da. Dass bei diesem wichtigen Thema auch die
Staatssekretärin nicht da ist, finde ich nicht in Ordnung.
Dafür gibt es auch keine Entschuldigung.
({0})
Frau Ministerin Künast, auch wenn es Ihre erste Rede
war, lasse ich Ihnen eines nicht durchgehen: Sie haben hier
den Eindruck erweckt, als seien besonders bei der alten
Regierung Versäumnisse zu suchen gewesen. Gleichzeitig
haben Sie in Ihrer Rede auf Feldern, wo Sie hätten konkret
werden sollen, gesagt: Wir müssen noch prüfen. - Es ist
eben unredlich, wenn man mit wissenschaftlichen Erkenntnissen von heute eine Beurteilung der Lage von vor
einigen Jahren vornimmt. Ich sage nur: Das ist unredlich! Da schließe ich niemanden aus.
({1})
Wenn wir über BSE diskutieren, sollten wir versuchen,
etwas mehr Sachlichkeit in die Debatte hineinzubringen.
Ich möchte mit Genehmigung der Präsidentin zwei Zitate
vortragen. Die „Sächsische Zeitung“ schreibt am 16. Januar 2001:
Wer blickt im BSE-Chaos eigentlich noch durch?
Die einen wollen bei einem einzelnen BSE-Fall die
ganze Herde abschlachten, die anderen nur die Tiere
einer Altersgruppe. 400 000 Vierbeiner sollen getötet werden, um den Markt für Rindfleisch vor dem
völligen Zusammenbruch zu retten. Zu allem Überfluss verdirbt die frisch gebackene Landwirtschaftsministerin den Deutschen auch noch den Appetit auf
Milch und Käse. Es ist wie im Tollhaus. Eine Horrormeldung jagt die andere. Und fast jeder neue Vorschlag, der zur Bekämpfung der BSE-Krise gemacht
wird, trägt noch mehr zur Verwirrung bei.
Der „Tagesspiegel“ schreibt am gleichen Tag:
Das ist also die erste Lehre in der ersten Woche nach
Funke und Fischer: Eine Äußerung, die nicht zum
Rücktritt einer Ministerin führt, führt stattdessen zur
Verunsicherung der Verbraucher.
Wenn wir nicht alle gemeinsam dieses Thema endlich
sachlich angehen, laufen wir Gefahr, dass die Bevölkerung zu Recht sagt: BSE ist keine Rinderseuche, sondern
eine Politikerseuche.
({2})
Deshalb möchte ich versuchen, konkrete Vorschläge zu
machen.
Wir dürfen bei aller Ernsthaftigkeit dieses Problems
nicht durch unüberlegte Schnellschüsse dafür sorgen,
dass die Sachlichkeit auf der Strecke bleibt. Ein Grundproblem der BSE-Krise besteht doch darin, dass die Wissenschaftler bis zum heutigen Tag über die genauen Ursachen und die Übertragungswege von BSE noch völlig
im Ungewissen sind. Eines scheint jedoch ziemlich sicher
zu sein, nämlich dass bei den circa 180 000 BSE-Fällen in
Großbritannien Tiermehl die Hauptinfektionsquelle war.
Solange wir keine gewichtigeren Argumente haben, müssen wir im Zweifelsfall den Verbraucherschutz in den Vordergrund stellen. Aber das darf nicht dazu führen, dass
man die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse völlig außer Acht lässt und täglich neue Möglichkeiten ungeprüft in die Diskussion wirft.
Wenn man heute einen Wissenschaftler fragt: „Ist es
hundertprozentig ausgeschlossen, dass der BSE-Erreger
unter bestimmten Voraussetzungen auch über die Luft
übertragen werden kann?“, dann wird er mit Nein antworten müssen. Die Presse wird dann die Überschrift
bringen: BSE-Übertragung auch über die Luft möglich! Was sollen die Verbraucher mit solchen Äußerungen und
Meldungen anfangen? Gestatten Sie mir folgenden Hinweis: Angst destabilisiert beim Menschen das Immunsystem. Die Schlussfolgerung überlasse ich jedem selbst.
({3})
Wenn es aber sehr wahrscheinlich ist, dass eine Ursache der Übertragung von BSE in der Tiermehlverfütterung und den Milchaustauschern zu vermuten ist, dann
müssen wir zunächst alles, aber auch alles tun, um diese
Ursache zu bekämpfen. Wenn trotz Tiermehlverfütterungsverbot bei Kontrollen Tiermehl gefunden wird, dann
müssen wir zum einen die Kontrollen wesentlich verstärken und zum anderen dafür Sorge tragen, dass dieses
Tiermehl gefahrlos und restlos beseitigt wird. In diesem
Zusammenhang halte ich den bayerischen Weg, den Landwirten eine kostenlose Untersuchung ihrer Futtermittel zu
ermöglichen, für nachahmenswert. Um ein generelles
Verbot der Verfütterung von Tiermehl sicherzustellen,
muss verhindert werden, dass es durch Verunreinigungen,
Verwechslungen oder Vermischungen doch noch in den
Nahrungsmittelkreislauf kommt. Deshalb halte ich eine
thermische Verwertung für unbedingt notwendig.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, über
den in den letzten Tagen verstärkt diskutiert wurde, und
zwar die Verschärfung des Bußgeldrahmens. Ich bin hier
für ein viel radikaleres Vorgehen. Wer wissentlich die Gesundheit von Menschen und Tieren aufs Spiel setzt, darf
nicht mit einer Geldbuße davonkommen. Gewinnmaximierung auf Kosten der Gesundheit darf sich nicht rechnen!
({4})
Die Namen von Tiermehl- und Futtermittelherstellern, die
sich nicht an die Vorschriften halten - Gleiches gilt für
Wursthersteller, die Erzeugnisse wissentlich falsch als
rindfleischfrei deklarieren -, müssen veröffentlicht werden. Das halte ich für eine richtige und wirksame Maßnahme des Verbraucherschutzes.
Vielleicht wäre es wirksamer, wenn die Fernsehteams
einmal bei solchen Herstellern vor Ort wären und nicht
immer nur bei denjenigen Bauern, die nichts dafür können, dass sie in ihrem Stall ein BSE-Rind haben. Dies
hätte auch den großen Vorteil, dass diejenigen Hersteller,
die aus ethischer Überzeugung schon über Jahre wesentlich kostenintensiver produzieren, nicht mit Herstellern,
die sich nicht an die Vorschriften halten, in einen Topf geworfen werden. Ehrlichkeit würde sich dann langfristig
wieder lohnen.
Aus Verbraucherschutzgründen fordern wir mindestens folgende Maßnahmen:
Erstens. Den wahrscheinlichen Übertragungsweg
durch Tiermehl und Milchaustauscher gilt es auszuschließen. Um zu vermeiden, dass Tiermehl - auf welche
Art auch immer - in den Nahrungskreislauf gelangen
kann, ist die Einführung einer Verbrennungspflicht von
Tiermehl sinnvoll. Wesentlich intensivere Kontrollen auf
allen Ebenen sind durchzuführen.
Zweitens: Ausdehnung und Verschärfung der bestehenden Aussonderungspflicht von Risikomaterial auf alle
Altersklassen von Rindern. Die Kontamination von
Fleisch mit BSE-Erregern im Schlachtprozess ist zu vermeiden.
Drittens: klare Kennzeichnungsvorschriften für Tier,
Futter und Erzeugnisse.
Viertens: die Forcierung der Forschung, um möglichst
bald zu einem aussagefähigen BSE-Test am lebenden
Rind zu kommen.
Fünftens: eine ehrliche Risikobewertung und eine
Überprüfung des Schweizer Modells.
Sechstens. Ziehen wir auch Lehren aus der BSE-Krise.
Wir müssen klären, welche Folgen Eingriffe in den Naturkreislauf haben. Hoffentlich diskutieren wir demnächst
genauso intensiv, wenn es um das Klonen von Menschen
geht.
Siebtens - ich komme zum Schluss -: Mit Schuldzuweisungen ist dem Verbraucher am Allerwenigsten gedient. Wir brauchen ein klares Konzept, das durch gemeinsames Handeln aller Verantwortlichen von Bund,
Ländern und Europäischer Union, von Politik, von den
unmittelbar Beteiligten, von Wissenschaft und Forschung
parteiübergreifend erarbeitet wird. Wir bieten unsere Mitarbeit hierbei an.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Wodarg.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist schön, die sachlichen Argumente von Herrn Zöller zu hören. Ich stelle
fest, dass vieles davon in unseren Vorschlägen wiederzufinden ist. Die Voraussetzung dafür ist gut, dass wir in den
Ausschüssen vernünftige Dinge möglichst zügig auf den
Weg bringen.
Ich habe mich allerdings über den ersten Teil der Debatte geärgert, in dem wenig Inhaltliches gesagt wurde
und auf die jetzige Bundesregierung geschimpft wurde.
Ich freue mich, dass die beiden damals zuständigen
Minister - ich sehe Herrn Seehofer hier und ich habe auch
Herrn Borchert gesehen - anwesend sind.
({0})
Ich möchte bei dieser Gelegenheit meiner Freude Ausdruck verleihen, dass hier zur Sprache kommt, dass nicht
nur die Tiermehle, sondern auch die Tierfette - Herr
Zöller hat es gesagt - ein Risiko bedeuten. Wie man im
Protokoll nachlesen kann, hat der Vorsitzende des Landwirtschaftausschusses das noch im Dezember bestritten.
Ich habe 1996 in diesem Hause das erste Mal darauf
hingewiesen, dass Tierfette aus TierkörperbeseitigungsWolfgang Zöller
anstalten weiterhin an Kälber verfüttert werden und dass
ich das für ein großes Risiko halte. Das ist in diesem
Hause dreimal wiederholt worden, ohne dass es umgesetzt worden ist. Ich freue mich, dass wir gemeinsam gehandelt haben, auch wenn es sehr schwer gefallen ist und
wenn der Prozess des Nachdenkens ein wenig länger gedauert hat.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?
Aber gern.
Herr
Kollege Wodarg, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass in der Sondersitzung von Agrar- und Gesundheitsausschuss, an der Sie nicht teilgenommen haben, der von
Ihnen soeben erwähnte Vorsitzende des Agrarausschusses
gesagt hat: „Ich sehe im Moment, dass die Theorie von
Wodarg eine gewisse Logik hat“? Sind Sie bereit, mit mir
dafür zu sorgen, dass zum Beispiel den Bauern in Schleswig-Holstein in der Form geholfen wird, dass die Bestände an Milchaustauschfutter in den Betrieben von der
Regierung aufgekauft werden, damit der eine oder andere
nicht auf dumme Gedanken kommt?
Lieber Herr
Carstensen, das machen wir gerne; ich nehme das zur
Kenntnis. Ich freue mich wirklich sehr, wenn hier ein Sinneswandel stattgefunden hat.
({0})
Vielleicht wissen Sie es nicht, lieber Herr Carstensen,
aber 1996 hat aus Ihrem Wahlkreis eine Tierärztin an den
Kommissar Fischler geschrieben
({1})
und damals schon genau diese Warnung ausgesprochen.
Dieser Brief ist seinerzeit und bis heute nicht von Herrn
Fischler beantwortet worden. Das heißt, die EU hat davon
Kenntnis gehabt und einfach nichts gemacht. Sie hat das
Problem totgeschwiegen, wie es auch die damalige Regierung tat.
Nun gibt es sowohl innerhalb der EU-Kommission als
auch in den Mitgliedsländern der Europäischen Union
folgende Schwierigkeit: Das, was wir in Deutschland inzwischen gemeinsam vernünftig geregelt haben, wird dort
immer noch nicht gemacht. In anderen EU-Ländern werden immer noch Tierfette Kälbern verfüttert; das ist dort
immer noch nicht verboten. Herr Fischler muss jetzt ein
solches Verbot unverzüglich umsetzen. Wenn er dies nicht
tut, soll er seinen Stuhl räumen, weil er aus den Fehlern,
die er gemacht hat, nichts gelernt hat. Es ist höchste Zeit das soll der Bundesregierung den nötigen Rückenwind für
ihren Einsatz bei der EU geben -, dass diese Milchaustauscher überall verschwinden und nicht mehr verfüttert
werden dürfen.
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage des Kollegen Carstensen?
Ja, wenn es nicht auf
die Redezeit angerechnet wird.
({0})
Das
soll auch nur eine ganz kurze Frage sein. Herr Kollege,
Sie haben eben gesagt, dass ein Brief, der für Sie von
Wichtigkeit ist, von Herrn Fischler nicht beantwortet
wurde. Sind Sie bereit, bei der jetzigen Bundesregierung
nachzuprüfen, wie viele Briefe, auch wichtige Briefe, von
Bürgern, die sich Sorgen um die Bewältigung der BSEKrise gemacht haben, in letzter Zeit nicht beantwortet
worden sind?
Warum soll ich das
machen, wenn die Opposition es schon gemacht hat? Aber
Sie können mir das gerne geben.
({0})
- Das war eine kurze Antwort.
Ich möchte hinsichtlich der Vorschläge, die in unserem
Antrag stehen, noch auf einige besondere Punkte hinweisen. Wir sehen in der Strategie der BSE-Bekämpfung ein
Umsteuern. Wenn es bisher hieß, jeder BSE-Fall, der in
Deutschland ruchbar werde, verunsichere die Verbraucher diesen Tenor hörte man lange Zeit aus Kreisen der Landwirte und auch der Lebensmittelproduzenten -, so heißt es
heute, dass jeder gefundene Fall die Sicherheit der Verbraucher erhöhe, weil er uns Erkenntnisse darüber liefere,
wo überall der Erreger sitzt und wo wir ihn bekämpfen
könnten. Wir haben damit eine völlig andere Strategie eingeleitet, die wir weiterverfolgen werden und die auch
konsequent weiterverfolgt werden muss.
Ich möchte deshalb in diesem Zusammenhang noch
auf einen Punkt eingehen, der in unserem Antrag nur angedeutet, aber nicht näher ausgeführt worden ist. Es geht
um die Erweiterung des Verfütterungsverbotes auch auf
Wild, Haustiere und Zootiere. Man hat mir gesagt, dass
auch Zirkustiere dazu gehören. Das heißt, dass die Verfütterung von Tiermehl an Tiere überhaupt verboten werden soll.
({1})
- Auch das ist wichtig; ich komme gleich noch darauf.
Wir haben jetzt über viele Jahre hinweg einen riesigen
Feldversuch gehabt. Das, was nicht mehr an Lebensmittel
produzierende Tiere verfüttert werden durfte, hat in den
Regalen der Supermärkte und Tierfutterhandlungen gestanden und ist an Hunde, Katzen und sonstige Tiere verfüttert worden. Die Tatsache, dass in letzter Zeit von
Tierärzten häufig darauf aufmerksam gemacht wurde,
dass auffällige Symptome zum vorzeitigen Tod von Haustieren geführt haben - neurologische Symptomatiken, die
durchaus so gedeutet werden können, dass TSE-Fälle bei
Haustieren aufgetreten sind -, sollte uns dazu veranlassen, diesen Fällen systematisch nachzugehen und dafür zu
sorgen, dass diese Tiere seziert werden, damit wir über
diesen Feldversuch, der in ganz Deutschland und auch in
anderen Ländern gelaufen ist, Erkenntnisse darüber bekommen, wo überall dieser Erreger schon vorkommt. Nur
dann können wir die Ausbreitungskette dieses Erregers
unterbrechen. Ich halte das für eine wichtige zusätzliche
Maßnahme, über die wir uns in den Ausschüssen noch unterhalten können.
Die Verfütterung an Lebensmittel liefernde Tiere haben wir verboten. Wir haben aber nicht daran gedacht,
dass auch an wild lebende Tiere Tiermehl verfüttert wird.
Tiere, die in freier Wildbahn leben und gejagt werden,
sind ja zum Teil nichts anderes als Lebensmittel liefernde
Tiere ohne Einzäunung, die gemästet werden und bei deren Mast auch diese Tiermehle eingesetzt werden.
({2})
Das ist bisher nicht in die Gesetzgebung eingeflossen. Das
heißt, dass auch die Verfütterung an wild lebende Tiere da,
wo sie stattfindet, verboten werden muss.
({3})
Da muss natürlich nachgeguckt werden. Die Kontrollmöglichkeiten müssen überprüft werden. Derjenige, der
meint, er könne ein Risiko dadurch vermeiden, dass er im
Restaurant Wild bestellt, hat sich zum Teil geirrt. Da besteht trotzdem ein Risiko.
Ich denke, dass wir - um auf den Einwand noch einzugehen, den Herr Carstensen brachte - auch auf die Düngemittel achten müssen. Wenn wir überprüfen wollen, ob
das Aufbringen von Tiermehl oder von Produkten aus der
Tierkörperbeseitigung auf die Böden zur Fertilisierung,
also zur Fruchtbarmachung der Böden, Gefahren in sich
birgt, dann brauchen wir mit den dazugehörigen Versuchen dafür mindestens fünf bis zehn Jahre. Diese Zeit haben wir einfach nicht; so lange können wir nicht warten.
Angesichts der anfallenden großen Menge dieser
Stoffe, die man loswerden will - sie werden dann wahrscheinlich erst recht auf die Böden aufgebracht werden,
wenn man es nicht verbietet -, muss möglichst schnell
eine Verordnung her, die die Aufbringung als Düngemittel auf die Böden verbietet.
Herr Kollege
Wodarg, „Diese Zeit haben wir einfach nicht“ ist mein
Stichwort.
Okay, danke. - Ich
freue mich auf die Zusammenarbeit auch mit der Opposition, die lernfähig ist, die nicht mehr allein auf ein Importverbot pocht, das sich angesichts der Tatsache, dass
wir auch so viele Fälle haben, als völlig unsinnig erwiesen hat. Von daher lassen Sie uns schnell vernünftige Regelungen treffen.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Carstensen das
Wort.
Frau
Präsidentin, sie soll auch ganz kurz sein. Ich mache sie
nicht, um die Debatte zu verlängern oder weil ich unwahrscheinlich viel Lust habe, weiter über BSE zu diskutieren. Ich brauche nur eine Minute, Frau Ministerin, um
Ihnen noch einen Punkt mit auf den Weg zu geben, der
noch nicht angesprochen worden ist.
Ich wäre Ihnen ausgesprochen dankbar, wenn Sie in
der Bundesregierung zur Sprache brächten, ob es nicht
dringend notwendig ist, den Beitrittskandidaten für die
Europäische Union - in Ihrem eigenen Interesse und im
Interesse der Europäischen Union - zu empfehlen, die
Maßnahmen, die in den derzeitigen Mitgliedsländern der
Europäischen Union zur BSE-Bekämpfung durchgeführt
werden, bereits jetzt oder möglichst bald einführen. Es
wäre fatal, wenn der Beitritt eines Landes aufgrund des
offenen Marktes dazu führen würde, dass wir bei der
Bekämpfung von BSE wieder einige Schritte zurückfallen.
({0})
Es ist eigentlich
nicht der Kollege Wodarg angesprochen worden, sondern
die Ministerin. Ich möchte ihr deswegen kurz das Wort
geben.
Ich sage Ihnen eines zu: Überall da, wo wir der Ansicht sind, dass es EUeinheitliche Regeln geben muss, wie beim Tierfutter und
vielen anderen Fragen, gilt das auch für die Beitrittskandidaten. Sonst würde es mit Blick auf die Verbrauchersicherheit keinen Sinn machen. Sie können sicher sein, ich
werde es auch bei den Erweiterungsverhandlungen ansprechen.
({0})
Ich schließe da-
mit die Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/4924, 14/5079, 14/5097 und 14/5080 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/5085 soll zur
federführenden Beratung an den Ausschuss für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Forsten und zur Mitberatung
an den Ausschuss für Gesundheit, den Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und den
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung überwiesen werden. Sind Sie einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Umwelt und Gesundheit
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen
Umwelt und Gesundheit
Risiken richtig einschätzen
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Klaus W. Lippold ({1}), Wolfgang
Lohmann ({2}), Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen
Umwelt und Gesundheit
Risiken richtig einschätzen
- zu dem Bericht des Ausschusses für Bildung,
Forschung und Technikfolgenabschätzung
({3}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: „Umwelt und Gesundheit“
- Drucksachen 14/2767, 14/2300, 14/2771 ({4}),
14/2848, 14/3712 Berichterstattung:
Abgeordnete Jutta Müller ({5})
Dr. Reinhard Loske
Birgit Homburger
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Winfried Wolf, Kersten
Naumann, Dr. Ruth Fuchs und der Fraktion der
PDS
Verhinderung erneuter Gewässerverunreinigungen durch das Totalherbizid Diuron
- Drucksache 14/4710 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Staatssekretärin Gila Altmann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister! Die heutige Debatte hat gezeigt, dass Umwelt und Gesundheit immer dann ein Topthema sind, wenn es zu so dramatischen
Ereignissen wie der BSE-Krise kommt. Sie sind aber in
der Regel Folge einer lang andauernden Fehlentwicklung,
bei der in Abwägung der unterschiedlichen Interessen der
Vorsorgeaspekt im Spannungsfeld mit anderen Interessen
oder mit dem wirtschaftlichen Druck das Nachsehen
hatte.
Abseits von solchen Ereignissen ist in den letzten eineinhalb Jahren das Thema „Umwelt und Gesundheit“ von
der Bundesregierung mehrfach in die öffentliche Diskussion gebracht worden: durch das Sondergutachten des
Sachverständigenrates für Umweltfragen, durch den
Bericht „Umwelt und Gesundheit“ des Büros für Technikfolgenabschätzung und durch das gemeinsam vom Gesundheits- und Umweltministerium vorgelegte Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“.
Denn auch und gerade vor dem Hintergrund, dass im
direkt sichtbaren Bereich vieles besser geworden ist, muss
man feststellen, dass die Probleme insgesamt fortbestehen, dass neue Probleme hinzugekommen sind, dass die
Wirkungszusammenhänge komplexer und damit auch
die Problemlösungen komplizierter geworden sind.
Ein Beispiel ist die Belastung in der Umgebung von
Bleihütten. Sie ist derart verändert worden, dass augenfällige Auswirkungen wie Bleiränder an den Zahnhälsen
von Kindern, die in dieser Umgebung gelebt haben, Gott
sei Dank der Vergangenheit angehören. Aber die Belastung der Böden ist geblieben. Wenn man sich einmal anschaut, dass unser Sensibilisierungsgrad bei Lärm, bei
Luft und beim Wasser mittlerweile sehr hoch ist, so gilt
das für den Schutz des Bodens leider noch nicht.
Abgesehen davon, dass wir täglich 120 Hektar Fläche
versiegeln - das entspricht 120 Fußballfeldern -, wird der
Boden mit Gülle, Düngemitteln und Pestiziden sowie den
Immissionen und Emissionen der Industrie belastet. Ein
gesunder Boden verliert so nicht nur die Filterfunktion für
das Grundwasser; belastete Böden schädigen auch die Lebensmittel und belastete Lebensmittel sind mitverantwortlich für viele Krankheiten wie zum Beispiel Allergien
oder Neurodermitis.
Deshalb sind Altlastensanierung und Bodenschutz, die
Umsetzung der Biozidrichtlinie und eine neue Chemikalienpolitik im Rahmen der EU - man muss leider feststellen, dass die Bewertung von Altchemikalien viel zu
schleppend vor sich geht - ganz wichtige Punkte, die zeitnah abgearbeitet werden müssen.
Aber es geht auch um Zukunftspolitik. Es geht um
Kinder. Sie sind von Umweltbelastungen besonders betroffen. Dadurch, dass sie sich im Wachstum befinden,
werden sie durch schädigende Umwelteinflüsse in ihrer
physischen, psychischen und sozialen Entwicklung besonders behindert. Wir wissen, dass die StoffwechselumVizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
sätze von Kindern gegenüber Erwachsenen deutlich erhöht sind. Kinder nehmen, bezogen auf ihre Körpergröße,
deutlich mehr Nahrung und Flüssigkeit auf und atmen ein
deutlich höheres Luftvolumen ein als Erwachsene. Das
heißt: Was Hänschen an Belastungen aufnimmt, wird
Hans nicht mehr los.
Bei der Umsetzung des gemeinsamen Aktionsprogramms „Umwelt und Gesundheit“, bei dem es eine beispielhafte Zusammenarbeit der beiden Ressorts Umwelt
und Gesundheit gibt, spielen Kinder deshalb eine zentrale
Rolle. Ich sage aber auch gleich dazu: Das kann nur ein
Anfang sein; denn dieses Thema muss zu einer Querschnittsaufgabe aller Ressorts werden.
Ein Ergebnis der gemeinsamen Aktivitäten in diesem
Jahr ist deshalb, dass es neben zahlreichen Workshops
und Studien ein großes Forum „Kinder, Gesundheit und
Umwelt“ geben wird.
Ich möchte noch einen anderen Aspekt ansprechen: die
Forschung. Auch hier gibt es großen Nachholbedarf. In
der Vergangenheit hatte der Bereich Umwelt und Gesundheit nicht den Stellenwert, der ihm eigentlich zukäme
und den er hätte haben müssen. Das zeigt sich nicht nur
bei BSE, sondern auch beim Einsatz neuer Technologien,
ganz besonders im Bereich der Kommunikationstechnologien. Das Wissen über Auswirkungen von Elektrosmog
im Bereich von Sendetürmen und bei der Benutzung von
Handys wird gerade erst erworben.
Es geht darum, die Instrumente und Strategien zur Bewertung von Umweltrisiken zu verbessern und klar definierte, objektivierbare Grundlagen zu schaffen. Verunsicherung und Angst sind da schlechte Ratgeber. Diese
Instrumente und Strategien sind ein wesentlicher Aspekt
einer vorsorgenden Umwelt- und Gesundheitspolitik.
Aber dafür brauchen wir auch gesellschaftlichen Konsens, denn Entscheidungen, die ausgehend von entsprechenden Ergebnissen getroffen werden, werden nicht
ohne Konflikte umzusetzen sein. Für all dieses hat die
Bundesregierung eine Risikokommission eingerichtet,
die die Information und Beteiligung der Öffentlichkeit sowie die Vernetzung von staatlichen Stellen entsprechend
fördern soll.
Als Letztes möchte ich noch ein Wort über die Kosten
verlieren. Sie spielen in der bisherigen Beschlusslage
keine zentrale Rolle, aber man muss klarstellen, dass vorsorgender Gesundheitsschutz nicht umsonst zu haben sein
wird. Klar ist auch: Vorsorge ist billiger als Nachsorge.
Das heißt, im Vergleich zu den gesamtgesellschaftlichen
Kosten einer Katastrophe müsste für eine vorausschauende Vorsorgepolitik erfahrungsgemäß nur ein Bruchteil
dieser Kosten aufgewendet werden. Auch diese Lehre
sollte aus der derzeitigen BSE-Krise gezogen werden.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Vera Lengsfeld.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es bedeutet immer wieder eine Belastung, der Frau Staatssekretärin
zuhören zu müssen, wenn sie ihre Berichte abliest.
({0})
Wenn wir heute aber über Umwelt und Gesundheit diskutieren, werden wir uns nicht der Erkenntnis verschließen,
dass sich im Augenblick der wohl ungesündeste Arbeitsplatz in Deutschland an der Spitze des Gesundheitsministeriums befindet. Ich meine damit nicht nur den Fall der
glücklosen Frau Fischer, die ihr Ressort nie in den Griff
bekam,
({1})
sondern vor allem die Grünen selber, die sie schließlich
gefeuert haben, weil ihnen klar wurde, dass die Misere der
missglückten Gesundheitsreform ihre Wahlchancen gefährdete.
Während sich die Grünen in den Verbraucherschutz zu
retten versuchen, worauf wir noch zurückkommen werden, darf den Schleudersitz des ungeliebtesten Ministeriums in Schröders Chaos-Kabinett wiederum eine Frau
einnehmen. Sie ist allerdings heute nicht da, ansonsten
hätte ich ihr gerne gratuliert, aber offensichtlich scheint
sich ihre Freude in Grenzen zu halten und sie es eher als
Strafe zu empfinden, dass sie diesen Posten einnehmen
muss. Ich möchte nur sagen, dass die blöden Pressespekulationen über ihre aushilfsweise Tätigkeit als Barfrau,
die ihren Amtsantritt begleiteten, nicht einem gesunden
Informationsbedürfnis entsprechen, sondern eher einem
krankhaften Verlangen nach Auflagensteigerung um jeden Preis entspringen. Genossen, jetzt könnt ihr einmal
klatschen, ich habe nämlich eure Ministerin in Schutz genommen!
({2})
Mich interessieren jedenfalls weniger Frau Schmidts
Fähigkeiten, alkoholische Mixturen zuzubereiten, als ihre
Qualifikation für ihr neues Amt.
Man muss leider feststellen, dass unser Staatschef wohl
den Überblick verloren und Frau Schmidt einen Rücktritt
zu früh befördert hat. Sie war ja wohl als Ersatz für Herrn
Riester vorgesehen. Aber da ist nun einiges durcheinander
gekommen.
({3})
Klare Entscheidungen kann man von Herrn Schröder
im Augenblick, wo er nur noch mit Notrettungsmanövern
für seine auseinander fallende Crew beschäftigt ist, offensichtlich nicht erwarten. Uns wurde zwar auf diese Weise
ein Verbraucherministerium beschert, aber die grundlegende Frage, wer die Verbraucher eigentlich vor den
Folgen der schröderschen Politik schützt, ist damit nicht
beantwortet.
({4})
Um es an unserem Thema festzumachen: Noch nie waren die Menschen so gesund wie heute und noch nie haben sie so lange gelebt. Noch nie haben die Menschen
über eine so gesunde und sichere Nahrung wie heute verfügt. Daran ändert auch die BSE-Krise nichts.
({5})
Laut Auskunft des Wissenschaftlichen Dienstes des
Bundestages gab es im Jahr 2000 übrigens keinen einzigen Fall des Creutzfeldt-Jakob-Syndroms in Deutschland. In Großbritannien gab es innerhalb von zehn Jahren
89 Fälle. Bei keinem einzigen konnte eine direkte Verbindung zu der Rinderkrankheit nachgewiesen werden. Aber
statt wie sein Vorbild Tony Blair demonstrativ Rindfleisch
essen zu gehen,
({6})
verfällt unser Kanzler der BSE-Hysterie und kündigt den
Feldzug gegen die industrielle Landwirtschaft an. Damit
gefährdet er die Gesundheit seines Volkes mehr, als es ein
BSE-infiziertes Rind je könnte. Denn die Tatsache, dass
wir heute über ausreichend gesunde und sichere Lebensmittel verfügen, ist der industriellen Landwirtschaft zu
verdanken. Moderne Tierhaltung, die Großproduktion
von Pflanzen, Plastikversiegelung, Dosen und Tiefkühltruhen mögen uns zwar von den Lebensmitteln entfremden, für unsere Gesundheit sind sie aber ein Segen.
({7})
Vormoderne Formen der Tierhaltung waren keineswegs
humaner. Naturbelassene, unbehandelte Nahrungsmittel
sind, wie manche Frischkornbreianhänger am eigenen
Leibe schmerzhaft erfahren mussten, keineswegs gesünder als moderne Lebensmittel.
Aber die moderne Lebensmittelproduktion ist nicht nur
gut für die Gesundheit, sie ist auch ein nicht zu unterschätzender Beitrag für die Umwelt. Intensive Anbaumethoden, mit denen auf immer weniger Fläche immer mehr
Menschen ernährt werden können, geben der Natur Gelegenheit, verlorene Räume zurückzuerobern, und bedrohten Arten die Chance, zu überleben.
Es ist auch nicht wahr, dass Großproduktion an sich
unökologisch sei. Im Gegenteil. Sie kann sehr viel umwelt- und ressourcenschonender betrieben werden als
manche der idealisierten Kleinproduktionen.
Wir haben das in diesem Hause heute schon besprochen: Wir wissen noch nichts über BSE. Aber sicher ist,
dass BSE nichts mit der Technologieentwicklung zu tun
hat, sondern mit missbräuchlichen Praktiken und
mangelnden Kontrollen. Anstatt jedoch das Problem ernst
zu nehmen, die Ursachen zu suchen und abzustellen, wird
eine vom Kanzler maßgeblich unterstützte hysterische
Diskussion geführt. Dieses Mal kommt die schon überwunden geglaubte Industriekritik im Mäntelchen des Verbraucherschutzes daher. Wir sind aber kein Land von
82 Millionen unschuldigen Verbrauchern, die das Opfer
von Wirtschaftsinteressen sind. Vielmehr hat die permanente Nachfrage nach billigen Produkten ohne Wenn und
Aber zu einem erheblichen Preisdruck auf die Produzenten geführt. Zu den schwierigsten Aufgaben der
Verbraucherpolitik wird es gehören, klar zu machen, dass
die Verbraucher auch ihre Eigenverantwortung wahrnehmen müssen. Wie keine andere Gesellschaft zuvor ist die
marktwirtschaftliche Gesellschaft Ausdruck des freien
Willens aller. Noch nie hat eine Gesellschaft so vielen
Menschen eine Chance eröffnet und ein Leben in Wohlstand ermöglicht wie die Marktwirtschaft. Trotzdem
werden immer wieder Misstrauen und Angst gegen sie geschürt. Vorhin wurde ja von der ganz linken Seite bezeichnenderweise der Vorwurf erhoben, auch die Biobauern würden sich den marktwirtschaftlichen Kriterien
unterwerfen. Das ist offensichtlich das Schlimmste, was
Ihnen zu Biobauern einfällt.
({8})
Es ist auch immer wieder behauptet worden, dass BSE
nur auftreten könne, weil die freien Kräfte des Marktes
ungebändigt wirken dürften. Aber BSE ist im planwirtschaftlich regulierten europäischen Landwirtschaftsgebiet und nicht in den USA aufgetreten, wo sich die Marktkräfte viel freier entfalten können.
Um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Damit
will ich nicht sagen, dass BSE in den USA nicht auftreten
könnte, sondern nur klar machen, dass, um ein bekanntes
Sprichwort abzuwandeln, die Industriegesellschaft nicht
mit BSE durchs Dorf getrieben werden soll.
Es ist auch verfehlt, immer wieder das Künstliche zu
beklagen und dem Natürlichen gegenüberzustellen. In der
Geschichte hat sich das Künstliche immer wieder als die
Rettung des Natürlichen erwiesen. Nur die Erfindung der
Dampfmaschine und die dadurch mögliche Förderung
von Kohle aus großen Tiefen haben die vollständige Abholzung der Wälder in Mitteleuropa verhindert.
({9})
Heute sind die Wälder in Europa und anderswo - trotz gegenteiliger Prognosen - wieder auf dem Vormarsch. Darüber sollten sich die Grünen freuen.
({10})
Vielleicht ist Ihr Lachen, Herr Trittin, ein Ausdruck der
Freude. Ich gönne Ihnen diese Freude von ganzem Herzen.
({11})
- Es tut mir Leid, ich habe Ihren Zwischenruf nicht verstanden. Deswegen kann ich nicht darauf eingehen.
Ich will ein weiteres Beispiel nennen: Nur Kunstfasern
können die pestizidintensive und damit umwelt- und geVera Lengsfeld
sundheitsgefährdende Produktion der Naturfaser Baumwolle ersetzen.
In der Diskussion um die Gefahren der Chemie wird
immer wieder vergessen, dass es vor allen Dingen der
Chemie zu verdanken ist, dass die Natur gerettet und die
Gesundheit der Menschen erhalten werden kann. Ich will
Ihnen dazu ein weiteres Beispiel nennen: Naturmedizin
ist heute das mit Abstand größte Artenschutzproblem für
seltene Pflanzen und Tiere. Nur wenn es gelingt, die Naturmedizin gleichwertig zu ersetzen, werden viele Arten
gerettet werden können. Es ist deshalb eine der wichtigsten Aufgaben der weiteren Entwicklung, künstlichen
Ersatz für natürliche Rohstoffe zu finden, um die Natur
nicht weiter zu verbrauchen bzw. ihr die Gelegenheit zu
geben, sich zu regenerieren. Das nutzt unserer Gesundheit
und auch der Umwelt.
Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Biotechnologie
zu. Die Biotechnologie bedient sich - beispielsweise bei
der Pflanzenzucht - viel intelligenter der Methoden der
Natur als herkömmliche Verfahren. Denn durch Biotechnologie wird das Künstliche natürlich. Um den Soziologen verständlich zu bleiben, könnte man auch sagen, dass
die Biotechnik einen Weg aus der viel beklagten Entfremdung von Mensch und Natur bietet.
Ob Frau Künast diese Herausforderung produktiv aufnimmt und als Ministerin innovativ gestaltend wirken
wird, bleibt abzuwarten. Das große Verdienst der Grünen
ist es gewesen, dass sie auf Umweltprobleme aufmerksam
gemacht und sie in das öffentliche Bewusstsein gerückt
haben. Heute stehen sie der Lösung dieser Probleme allerdings eher im Wege und üben sich in zweifelhaften
Mätzchen. Beispielsweise verspricht Herr Trittin in seiner
Ökosteuerkampagne der verdutzten Bevölkerung mehr
Sex.
({12})
Man darf rätseln, ob er das tut, um in der nächsten Runde
von einer Vergnügungssteuer sprechen zu dürfen, oder ob
er das tut, weil ihm auf den endlosen Sitzungen der
K-Gruppen in seiner Jugend sämtliche Lust abhanden
gekommen ist.
({13})
- Ist das ein Angebot, Herr Minister? Seien Sie vorsichtig! Vielleicht komme ich noch darauf zurück.
({14})
Weil wir gerade so heiter sind, möchte ich zum Schluss
erwähnen, dass die baden-württembergischen Grünen
noch eins draufsetzen. Sie versprechen nämlich auf ihrem
Wahlplakat: Grüne - wie soll ich es höflich umschreiben? machen‘s besser. Ich würde den Baden-Württembergern
trotz allem dringend davon abraten, das in einem Feldversuch auszuprobieren;
({15})
denn die Potenzprobleme der grünen Partei sind ja doch
evident.
({16})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Jutta Müller.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin einigermaßen
verwirrt und habe mich die ganze Zeit gefragt, ob ich oder
Sie zu einem falschen Tagesordnungspunkt reden.
({0})
Ich möchte daher zunächst den Besuchern auf der Tribüne
sagen, was das Thema dieser Debatte ist.
({1})
Es geht beispielsweise um ein Sondergutachten des Rates
von Sachverständigen für Umweltfragen zur Verbesserung der umweltbezogenen Gesundheitsbeobachtung und
um das Informationsmanagement in unterschiedlichen
Bereichen. Es geht ferner um einen Bericht zur Technikfolgenabschätzung.
({2})
- Ich bezweifle, dass Sie das nachgelesen haben; denn
sonst hätten Sie nicht einen solchen Unsinn erzählen können.
({3})
Diese Punkte haben wir schon im Ausschuss diskutiert.
Meine Fraktion hat mehrere Veranstaltungen zu diesem
Thema durchgeführt und mit Wissenschaftlern und mit
Betroffenen, aber auch - ich denke, das ist ganz wichtig mit Patienteninitiativen gesprochen. Wir haben festgestellt, dass es hier einen enorm hohen Informationsbedarf
gibt. Genau dieser breite gesellschaftliche Diskurs wird
von dem Ausschuss, der sich mit der Technikfolgenabschätzung befasst, angeregt.
Dieser Bericht, der sich weniger mit den Umweltbelastungen und den daraus entstehenden Krankheiten beschäftigt - das ist in einer Vorstudie gemacht worden -, geht
mehr auf die Bewertungskontroversen und Präventionsansätze bei Handlungsoptionen ein. In Bezug auf die Gefährdungspotenziale bestimmter Stoffe und deren Wirkung auf den menschlichen Organismus sowie auf
verschiedene Krankheitstypen und deren Ursachen
herrscht in dem Sondergutachten des Sachverständigenrates Übereinstimmung. Ebenso wird auf eine große Diskrepanz zwischen der Expertenmeinung und dem
Laienverständnis hingewiesen, die das Handeln im Bereich Umwelt und Gesundheit für uns nicht immer leicht
macht. Ein Informationssystem mit klaren Zuständigkeiten, starker Vernetzung und hoher Transparenz ist ebenso
notwendig wie der von mir schon erwähnte Diskurs unter
Einbeziehung aller gesellschaftlich relevanten Gruppen.
Ich möchte ein kleines Beispiel nennen. Wir haben in
Deutschland mehrere umweltmedizinische Ambulanzen.
Bei diesen ist festgestellt worden, dass bei 40 bis 80 Prozent der Patienten, die dort behandelt wurden, Umweltursachen nicht nachgewiesen, aber auch nicht ausgeschlossen werden konnten. Man kann das auch darauf
zurückführen, dass unterschiedliche Erhebungs- und Anamneseschemata zur Entstehung unvergleichbarer Daten
führen.
Die Präventionsansätze bilden im TA-Bericht einen
besonderen Schwerpunkt. Die Gesundheitspolitik der
vergangenen Regierung war in erster Linie auf die Ausgestaltung und Finanzierung der medizinischen Versorgung gerichtet. Die Prävention soll zukünftig eine größere
Berücksichtigung finden.
({4})
Dabei sollte man nicht nur in dem engen Rahmen der medizinischen Prävention bleiben, die die Vermeidung von
Krankheiten oder von Krankheitsverschlechterungen zum
Ziel hat; auch die Gesundheitsförderung sollte meines Erachtens mehr Gewicht erhalten.
Ich meine, dass wir uns hier auch - die Frau Staatssekretärin hat es schon angesprochen - über Finanzierungsmethoden unterhalten müssen. Es sind Vorschläge gemacht worden, beispielsweise die Fondslösung oder die
Erweiterung der Möglichkeiten der Beteiligung von
Krankenkassen an der Gemeinschaftsaufgabe zur Schaffung einer Gesundheitsförderung. Damit wird die Gesundheitsförderung in Zukunft vielleicht sogar ein Stück
weit billiger werden.
Die intersektorale Zusammenarbeit auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene soll festere Informationsund Organisationsstrukturen erhalten, um sektorübergreifende Politikansätze im Bereich Umwelt und Gesundheit
nachhaltig zu fördern.
Der TA-Bericht betont allerdings auch einen hohen
Forschungsbedarf nicht nur im Bereich der Umweltbelastungen und der daraus resultierenden Krankheitsbilder,
sondern auch hinsichtlich der Wege der Kommunikation
und der Präventionsansätze, die zu einer Erhöhung der
Gesundheit in der Bevölkerung beitragen können.
Das Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“
der Bundesregierung hat viele in dem Sondergutachten
und dem TA-Bericht angesprochenen Punkte bereits integriert: die systematische Erfassung umweltbedingter gesundheitsschädigender Faktoren, die Bewertung auf der
Grundlage neuer Erkenntnisse und die Ableitung entsprechender zielorientierter Maßnahmen. Das Vorsorgeprinzip - das ist das Neue an rot-grüner Umwelt- und Gesundheitspolitik - wird dabei als Grundprinzip der Umweltund Gesundheitspolitik herausgestellt. Damit wird zugleich eine entscheidende Voraussetzung dafür geschaffen, dass Gesundheit für alle möglich ist.
({5})
Wir hatten im vergangenen Jahr nach der Diskussion
im Ausschuss zwei unterschiedliche Entschließungsanträge. Ihr Antrag, Frau Lengsfeld, war gar nicht so
schlecht und wir waren uns im Grundsatz - das haben wir
im Ausschuss diskutiert - eigentlich einig; in weiten Teilen herrschte Übereinstimmung. Ich hatte damals nur gesagt, mir greife der Antrag der CDU/CSU etwas zu kurz;
es fehlten einige Punkte. Wir haben zum Beispiel schon
damals bemängelt, dass Sie in Ihrem Antrag den ganzen
Bereich Lebensmittelsicherheit, Futtermittelsicherheit
und Produktsicherheit bei der Ernährung ausgeklammert
haben. Wie wir jetzt an der aktuellen Debatte, die sich sicherlich niemand von uns in diesem Ausmaß gewünscht
hat, sehen, war das ein Fehler. In unserem Antrag war dieser Bereich enthalten.
({6})
- Sie waren 16 Jahre an der Regierung und haben nichts
getan! Deshalb sollten Sie etwas vorsichtig mit solchen
Zwischenrufen sein. Die F.D.P. war sogar noch viel länger an der Regierung.
({7})
Wir haben ein Sofortprogramm mit zwölf Punkten vorgeschlagen, das Aufgaben benennt, die sofort und umfassend umgesetzt werden sollen. Ihren Antrag finde ich
grundsätzlich nicht schlecht. Aber in ihm fehlt eine ganze
Reihe von Punkten. Es wäre schön gewesen, wenn wir es
geschafft hätten, uns auf einen gemeinsamen Antrag zu einigen.
Ich war vor kurzem auf einer Konferenz hier in Berlin,
auf der es um die Innenraumluftqualität ging. Ich
denke, das ist ein Punkt, dem wir in Zukunft sehr viel
mehr Aufmerksamkeit widmen sollten. Ich habe mit dort
anwesenden Experten gesprochen. Bei mir verfestigt sich
die Erkenntnis, dass es nicht länger hinnehmbar ist, dass
Grenzwerte sich immer an erwachsenen, gesunden Männern orientieren. Das sollten wir jetzt anpacken. Wenn
Grenzwerte festgelegt werden, haben wir besonders auf
gefährdete und schutzbedürftige Gruppen - alte Menschen oder auch Kinder - zu achten.
({8})
Dass Kinder stärker betroffen sind, ist ganz klar. Dazu
werde ich nichts mehr sagen. Das hat die Frau Staatssekretärin hier ausführlich dargestellt.
({9})
Wir werden mit unserem Forum „Kinder, Umwelt und
Gesundheit“ dies noch aufnehmen.
Bei der Umsetzung des Aktionsprogramms „Umwelt
und Gesundheit“ wird zurzeit auch ein Prüfverfahren zur
Ermittlung von Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen in die Innenraumluft entwickelt. Damit wird
erstmalig in Deutschland ein Verfahren zur Prüfung der
Emissionen von Produkten als Grundlage für die Vergabe
einer unabhängigen Kennzeichnung eingeführt.
Jutta Müller ({10})
Der Ausschuss zur gesundheitlichen Bewertung von
Bauprodukten wird zudem ein Konzept erarbeiten, welches die Kategorisierung von VOC-Emissionen aus Bauprodukten im Zusammenhang mit ihrer Wirkung auf die
Gesundheit ermöglicht.
Neben einer Vielzahl von Maßnahmen, die bereits von
BMU und BMG umgesetzt werden - Frau Altmann ist darauf eingegangen -, werden wir neue Organisationsstrukturen, was die Risikobewertung angeht, einführen. Mit
der berühmten Kommission aus 22 Experten werden wir
den Dialog von Wissenschaft, Behörden, Wirtschaft, Umwelt- und Verbraucherverbänden organisieren können.
Das ist, denke ich, ein ganz elementarer Baustein einer
neuen Umwelt- und Gesundheitspolitik.
In unserem Antrag und im Aktionsprogramm der Bundesregierung haben wir ein anspruchsvolles und verantwortungsvolles Arbeitsprogramm zur Verbesserung des
Umwelt- und Gesundheitsschutzes vorgelegt, das wir im
Interesse der Menschen zügig umsetzen wollen.
Frau Lengsfeld, Sie haben eben gesagt, wir würden
Marktwirtschaft verteufeln. Das ist natürlich Blödsinn;
das macht kein Mensch. Wir haben aber manchmal durchaus schwierige Diskussionen mit der Industrie zu führen,
denen wir uns stellen müssen. Es ist ganz klar, dass es dabei oftmals unterschiedliche Interessen gibt. Die Industrie
sagt uns: Ihr dürft uns nicht behindern. Ihr dürft keine Verbote setzen. - Wir werden im Ausschuss über Diuron reden; die PDS hat heute einen Antrag dazu vorgelegt. Auch
dazu sagt die Industrie: Wir stehen im Wettbewerb. Diuron
dürft ihr nicht verbieten.
Ich erinnere mich an eine Dokumentation über das Indien des 21. Jahrhunderts, die vor kurzem im Fernsehen
lief und über die ich entsetzt war. Sie begann mit der heilen Computerwelt und den tollen Arbeitsplätzen. Dann
fuhr der Berichterstatter weiter in den Norden Indiens, in
den so genannten goldenen Korridor. Dort hat man chemische Industrie angesiedelt. Diese chemische Industrie
arbeitet fast ausschließlich für europäische Industrieunternehmen und stellt Vorprodukte her. Weil diese europäischen Industrieunternehmen die Preise so stark drücken,
dass die indischen Betriebe gar keine Gewinne mehr erzielen könnten, wenn sie ihre Abwässer behandelten oder
Maßnahmen zur Luftreinhaltung ergriffen, wird all das
dort nicht mehr getan. Links und rechts neben den Fabriken liegen Felder, deren Grundwasser verseucht wird.
Ich will mit diesem Beispiel sagen: Wenn unsere Industrie auf den globalen Wettbewerb hinweist, dann müssen
wir auch über solche Dinge diskutieren. Globalisierung
hat nicht nur etwas mit Geld, sondern auch etwas mit verantwortungsvollem Handeln zu tun.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Marita Sehn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf den ersten Blick scheint es eine
triviale Selbstverständlichkeit zu sein. Denn eine Grundsatzdebatte zum Thema Umwelt und Gesundheit müsste
eigentlich überflüssig sein. Jeder vernünftige Mensch
wird zustimmen. Natürlich geht es bei der Umweltpolitik
auch darum, alles zu tun, was der menschlichen Gesundheit förderlich ist, und alles zu unterlassen, was ihr schadet.
Das Ziel der Umweltpolitik, wie es auch von der
Weltgesundheitsorganisation beschrieben wurde, ist also
verbindlich: Der Zustand der natürlichen Umwelt und der
Umgang mit den Ressourcen müssen so gestaltet werden,
dass hierdurch zumindest keine Krankheiten entstehen. Über diesen Punkt sind wir uns wohl alle einig.
({0})
Tatsächlich hat die Umweltpolitik vergangener Legislaturperioden viel erreicht. Schutzvorschriften für den
Umgang mit gefährlichen Chemikalien sowie Maßnahmen zum Gewässerschutz, zum Klimaschutz und zur Luftreinhaltung sind nur wenige Stichworte.
({1})
- Ja, lieber Dieter Thomae, so ist es. - Alles war und ist
genau diesem Ziel, dem der menschlichen Gesundheit,
verpflichtet. Es fehlt also nicht an gutem Willen.
Auch aktuelle Krisen ändern nichts daran, dass ein
Blick auf vergangene Legislaturperioden gerade auch im
Hinblick auf die Umweltpolitik viele Erfolge erkennen
lässt. Zu Recht wird dies in den Anträgen, über die wir
heute diskutieren, überwiegend erwähnt.
Ohne Zweifel: Die wissenschaftliche Forschung muss
in diesem Bereich noch verstärkt werden.
({2})
Es geht darum, gesundheitliche Gefahren im Umweltbereich besser zu verstehen, sie früher zu erkennen und darüber zu informieren.
({3})
Zur Vorbeugung gegen Krankheit oder gar Epidemien
müssen Risiken rechtzeitig erkannt und bewertet, geeignete Schutzmaßnahmen ergriffen und eingetretener Schaden begrenzt werden. Dazu gehören auch der Aufbau von
Informations- und Kommunikationsnetzen sowie die
breite Veröffentlichung fundierter Ergebnisse der Wissenschaft.
Die F.D.P. hat sich stets eindeutig und mit Engagement
zu einer Ausweitung der Forschungsaktivitäten im Hinblick auf eine Risikoabschätzung und Risikobewertung
im Umweltbereich bekannt und dies nachdrücklich gefordert.
({4})
Insoweit teilen wir die Einschätzungen, wie sie auch im
Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vorgetragen werden.
Wir teilen jedoch nicht die vorbehaltlose Herausstellung des Vorsorgeprinzips als Grundprinzip für
Jutta Müller ({5})
Umwelt- und Gesundheitspolitik, wie Rot-Grün dies fordert. Gerade unter dem Eindruck aktueller Bedrohungen
ist Hysterie der denkbar schlechteste Ratgeber.
({6})
Wenn Sie das Prinzip der Vorsicht überhöhen, dann
werden Sie das Prinzip individueller Verantwortlichkeit
aushöhlen.
({7})
Dies werden wir Liberale standhaft verweigern.
Die F.D.P. lehnt den Antrag der Fraktionen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen ab. Der Grund dafür ist der
leichtfertige und unter dem Eindruck aktueller Krisen verführerische, dennoch populistische Umgang mit dem
Vorsorgeprinzip. Als alles überwölbende Richtlinie der
Politik, Herr Müller, ist das Vorsorgeprinzip nämlich zu
unbestimmt.
({8})
Grundvoraussetzung für eine sachgemäße Anwendung
des Vorsorgeprinzips ist immer ein fundiertes Wissen.
Erst ein solches ermöglicht überhaupt eine Vorsorge, die
diesen Namen verdient. Eine angebliche Vorsorge ohne
das notwendige Wissen ist bestenfalls blinder Aktionismus
({9})
und schlimmstenfalls eine unnötige Verunsicherung der
Menschen. Ich möchte hier an die letzten Wochen erinnern.
({10})
Ein leichtfertig gebrauchtes Vorsichtsprinzip ist ein
breites Einfallstor für staatlichen Dirigismus und Paternalismus. Das Vorsorgeprinzip wird den Staat in Versuchung
führen, den Bürgern Wissen vorzugaukeln, welches er
nicht hat.
({11})
Dabei ist die Wirkung auf die Öffentlichkeit unkalkulierbar: Politisch festgelegte Vorsichtswerte enthalten immer eine Sicherheitsreserve. Diese kann im Einzelfall erheblich überschritten werden, ohne dass tatsächlich eine
akute Gefahr besteht. Umgekehrt kann das Einhalten
staatlicher Vorsichtswerte Unbedenklichkeit dort vorspiegeln, wo tatsächlich erhebliche Gefahren lauern. Das Vorsorgeprinzip kann auch schnell zu einem staatlichen Bevormundungsprinzip werden.
({12})
Die F.D.P. fordert, neben einer berechtigten Vorsorge
({13})
vor allem die Aufklärung der Bürger zu einem Schwerpunkt der Politik zu machen. Nur ein Bürger, der umfassend um die Risiken weiß, kann selbstständig und eigenverantwortlich handeln. Das Vorgaukeln falscher Sicherheiten durch den Staat führt die Bürger in die geistige
Unmündigkeit. Dies wird eine liberale Partei niemals zulassen.
({14})
Vergessen werden darf auch nicht, dass die Bewertung
von Risiken durch die Bürger oft eine andere ist als die
Bewertung derselben Risiken durch Wissenschaft und Politik. Risiken werden also umso geringer eingeschätzt, je
freiwilliger sie eingegangen werden - man denke an das
Rauchen oder an Unfallrisiken bei dem Ausüben gefährlicher Sportarten.
Diese Tendenz lässt sich auch bei so manchem Politiker beobachten. So wird das Verprügeln von Polizisten
und das Werfen mit Steinen - das konnten wir gestern bei
Joschka Fischer erleben - auf der einen Seite zum Kampf
um die Freiheit hochstilisiert, während man auf der anderen Seite natürlich jeden Einsatz von Gewalt scharf verurteilt.
({15})
Die Gesellschaft als Ganzes tendiert aber zum Nullrisiko. Jedes denkbare Lebensrisiko soll gänzlich und am
besten durch den Staat ausgeschlossen werden. Die Vorstellung im Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, es möge eine politisch-gesellschaftliche Diskussion darüber geführt werden, welche Risiken
die Gesellschaft bereit ist zu tragen, ist deshalb bestenfalls
eine Illusion, schlimmstenfalls eine zynische Veralberung
der Bürger.
({16})
Die F.D.P. begrüßt, dass das Problemfeld von Umwelt
und Gesundheit in den vergangenen Jahren, unter anderem durch die hier vorliegenden Gutachten, frühzeitig und
unabhängig von aktuellen politischen Problemen ins
Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt wurde. Trotz aktueller Krisen mahnen wir zu Besonnenheit. Information und
Transparenz sind das Gebot der Stunde für den Bereich
Umwelt und Gesundheit. Sie sind die Voraussetzung
dafür, dem Bürger eine eigenständige Entscheidung zu
ermöglichen - was besser ist als jede staatliche Bevormundung,
({17})
nicht zuletzt auch mit Blick auf den Verbraucherschutz.
Einen Vormundschaftsstaat mit Rundumbetreuung der
Bürger wird es mit den Liberalen aber nicht geben,
({18})
auch dann nicht, wenn sich der Vormundschaftsstaat anmaßend als Gesundheitsschützer kostümiert.
({19})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Eva Bulling-Schröter.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich die Rede von
Frau Lengsfeld von der CDU gehört habe, war ich baff:
Die Menschen werden immer älter, immer gesünder - alles toll! Vor allem genetisch veränderte Lebensmittel sind
echt super. In Ihrem Entschließungsantrag dagegen heißt
es:
Gesundheitsbeeinträchtigungen durch Allergien
werden in ihrem Ausmaß in Öffentlichkeit und Politik in der Regel eher unterschätzt.
Ich würde vorschlagen, Sie einigen sich auf eine Position.
In der Öffentlichkeit schaut es nicht gut aus, wenn es derart verschiedene Stellungnahmen gibt. Ich jedenfalls war
sehr verwirrt.
({0})
Aber jetzt zu unserem Antrag. In unserem Antrag geht
es um das Bestreben der Bahn AG, die Wiederzulassung
des Totalherbizids Diuron zu erreichen. Dies halten wir
für unverantwortlich. Denn Diuron zählt zu den Phenylharnstoffverbindungen, die im menschlichen Organismus
zu Stoffen mit Krebs erregender Wirkung umgewandelt
werden können. Zudem sind sie toxisch für Kleinstlebewesen im Wasser.
Die Bahn war bis zum Verbot des Mittels 1997 größter
Anwender von Diuron. Es wurde vor allem als Unkrautvernichtungsmittel in Gleisanlagen eingesetzt. Immer
häufiger wurde das giftige Totalherbizid in Brunnen unweit von Gleisanlagen und Bahnhöfen nachgewiesen.
Die Unkrautvernichtungspraxis der Bahn brachte damit
die unschädliche Versorgung der Bevölkerung mit unbedenklichem Wasser in Gefahr. Es wurden Diuronfunde
im oberflächennahen Grundwasser mit Überschreitungen
des Grenzwertes von 0,1 Mikrogramm pro Liter um das
40- bis 60fache festgestellt.
Diese Fakten haben, auch infolge massiver Proteste
seitens der Umweltbewegung, bereits 1996 zur Einstellung der Anwendung von Diuron durch die DB AG geführt. Die Herstellerfirma, Bayer AG, hat das Gift zeitweilig vom Markt genommen; die Anwendung wurde
schließlich verboten. Der Bundestag hatte sich seinerzeit
mehrfach mit dem Thema beschäftigt. Die SPD wird sich
dunkel daran erinnern; schließlich hat sie 1996, seinerzeit
in der Opposition, einen mit unserem heutigen Antrag
dem Sinn nach fast gleich lautenden Antrag gestellt, welchem die Grünen damals zustimmten.
An der durch das Gift hervorgerufenen Gefährdungslage hat sich seitdem wohl nichts geändert. Dieser Ansicht
sind auch Wasserversorger wie beispielsweise die Gelsenwasser AG. In einer Pressemitteilung vom 25. Oktober
letzten Jahres hat sie sich klar gegen die Wiederzulassung
und den Einsatz von Diuron ausgesprochen. Begründet
wurde dies mit der humantoxischen Eigenschaft und den
enormen Aufwendungen der Wasserwerke für die Entfernung des Giftes aus dem Grundwasser. Die hohe Bedenklichkeit von Diuron für Umwelt und Verbraucher
bestätigte im Übrigen auch der Sachverständigenrat für
Umweltfragen in seinem Sondergutachten „Flächendeckend wirksamer Grundwasserschutz“ von 1998.
Die Bahn weiß natürlich ganz genau, dass ihre Argumentation, es gebe keine Alternativen zur chemischen
Keule, Unsinn ist. Sowohl in der Schweiz als auch in
Österreich werden die Gleise nicht mit Diuron behandelt.
Mechanische Maßnahmen wie das Anpflanzen von Gräsern, die das Unkrautwachstum verhindern oder bremsen,
sowie die Behandlung mit Dampf sind Beispiele alternativer Unkrautvernichtung. Eine Behandlung mit weniger
toxischen Pestiziden, die nur auf die oberirdischen Teile
der Pflanzen einwirken und in geringen Mengen ausgebracht werden können, wäre zwar ebenfalls denkbar, halte
ich aber auch für eine schlechte Lösung.
Doch bei der DB AG steht gegenwärtig das Zeichen auf
Schrumpfbahn; sie will sparen. Wenn man diese Pestizide
einsetzt, kann man Personal einsparen. Dies geschieht
natürlich auf Kosten der Umwelt. Die Rosskur zulasten
von Umwelt und Gesundheit rechnet sich besser.
Wir fordern deshalb in unserem Antrag die Bundesregierung auf, darauf hinzuwirken, dass die entsprechenden
Bundesanstalten und Institute sowie das Umweltbundesamt eine Wiederverwendung der Pflanzenschutzmittel
mit dem Wirkstoff Diuron untersagen. Darüber hinaus
sollen ähnliche Totalherbizide, die über Abschwemmungen die Gewässer belasten, für Kleinanwender und die
Anwendung auf nicht landwirtschaftlich genutzten Freiflächen verboten werden.
Im Übrigen hat Umweltminister Schnappauf aus Bayern, CSU, diese Forderung auch schon gestellt. Dazu gab
es vorige Woche eine Presseerklärung. Die Kollegen
nicken, das heißt, wir könnten hier im Bundestag gemeinsame Sache hinsichtlich des Verbots von Pestiziden
machen. Das wäre eine tolle Sache.
({1})
Darauf, der tatsächlichen Vorsorge im Verbraucherschutz mehr Beachtung zu schenken, sollten wir uns in
diesem Hause auch angesichts der BSE-Krise wohl einigen können. Die Vorsorge gehört wirklich dazu. Sie
wurde von meiner Vorrednerin klein geredet; ich denke
aber, das ist eine ganz wichtige Sache.
({2})
Ein Verbot dürfte wohl nicht übermäßig schwer fallen;
denn die jetzige Regierung bräuchte nur bei ihrer Position
aus der letzten Legislaturperiode zu Diuron und die damalige Regierung bei ihrem seinerzeit vollzogenen Anwendungsverbot zu bleiben.
Danke.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Uli Höfken.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch ich habe aus der Debatte einen sehr widersprüchlichen Eindruck gewonnen. Dies bezieht sich
sowohl auf den Redebeitrag von Frau Lengsfeld als auch
auf den von Frau Sehn. Bei Frau Lengsfeld hatte man den
Eindruck, als sei die Frage umweltbedingter Krankheiten
eine Erfindung einiger spinnerter Grüner.
({0})
Aber blind Fortschrittsgläubige oder Technokraten werden immer erst im Krisenfall nachdenklich. Auf Frau
Lengsfeld allerdings trifft offensichtlich nicht einmal dies
zu.
Der damals übrigens sehr umstrittenen Aussage von
Andrea Fischer in der letzten Bundestagsdebatte zu diesem Thema - das war im Frühjahr 2000 - würde heute
wahrscheinlich jeder in diesem Hause zustimmen. Damals sagte sie:
Es besteht inzwischen auch weitgehend Konsens darüber, dass die heutige Form der Lebensmittelproduktion im Hinblick auf Umwelt und Gesundheit
Anlass zur Sorge bereitet. Eines unserer Ziele ist daher, ein integriertes Konzept zur Verbesserung der
Lebensmittelqualität und -sicherheit zu entwickeln,
das auch eine verstärkte Förderung des ökologischen
Landbaus zum Inhalt haben sollte.
Von Ihnen viel kritisiert.
Nicht nur BSE, sondern auch viele andere Beispiele
zeigen, dass Erkenntnisse über gesundheitsgefährdende
Umweltfaktoren oft erst dann ernst genommen werden,
wenn bereits Gesundheitsschäden entstanden sind. Deshalb muss für die Politik der Vorsorgeaspekt in Zukunft
stärker in den Vordergrund gestellt werden.
Ich kann Ihre Ausführungen zu diesem Punkt, Frau
Sehn, nicht nachvollziehen. Sie sehen Vorsorge als staatliche Bevormundung. Ich meine, dies kann nur ein Plädoyer dafür sein, dass wieder einmal alles so bleibt, wie
es ist.
({1})
Ich möchte noch einmal an die Asbestproblematik erinnern. Es hat ewig und drei Tage gedauert, bis Asbest
vom Markt genommen wurde. Heute laborieren wir noch
immer an den wirtschaftlichen und gesundheitlichen
Schäden durch diese Nichtwahrnehmung von Vorsorge
herum.
({2})
Ich denke, das ist doch auch im Sinne der Wirtschaftlichkeit eines ganzen Landes kontraproduktiv, sodass man
eine solche Argumentation nicht ernsthaft betreiben kann.
Gleiches betrifft das Holzschutzmittel Lindan und
DDT. In diesem Zusammenhang sind auch die antibiotischen Leistungsförderer zu nennen. Was haben wir im
Gesundheitssystem aufgrund von Zulassungen solcher
Produkte für Probleme! Es ist doch klar: Bei den komplexen Systemen, die wir im Bereich der Chemie und der Lebensmittelproduktion haben, werden wir niemals sagen
können: Die Wissenschaft hat sich hier eindeutig festgelegt. - Es wird immer einen Abwägungsprozess geben. Es
ist unser Ansinnen, mit dem Antrag „Umwelt und Gesundheit“ aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen
und andere Bewertungsweisen, die vorausschauend wirken und damit kostensparender sind, künftig in Angriff zu
nehmen. Das ist unser Anliegen und der zentrale Punkt
dieser Initiative.
({3})
Nachsorge ist letztlich immer teurer als Vorsorge. Wir
müssen deshalb von einer kurzfristigen und nachsorgenden Krisenbewältigungspolitik wegkommen. Was wir
brauchen, sind langfristig tragfähige und vorsorgende
Konzepte für eine gesunde Umwelt, die nicht krank
macht.
Die Regierungsfraktionen von SPD und Grünen haben
daher einen Antrag mit konkreten Vorschlägen eingebracht, der das Programm „Umwelt und Gesundheit“ vom
Umwelt- und vom Gesundheitsministerium und vom der
Bundesregierung unterstützt und auf einen Ausbau
drängt. Die Eckpunkte unseres Antrages sind schon erwähnt worden; Frau Müller hat sie ausführlich dargestellt.
Ich will nur kurz sagen: Die Sammlung und Bewertung
aller fachlichen Informationen sowie die Schaffung fundierter fachlicher Grundlagen für umweltbedingte Krankheiten ist schon in Angriff genommen. Aber man muss sehen, dass ein solches Projekt erstmalig ins Leben gerufen
wird. Wir haben noch keine Daten. Das zeigt, wie weit wir
im Grunde zurückliegen. Es ist eine große Aufgabe, ein
Umwelt-Gesundheits-Surveillance-System überhaupt
erst einmal aufzubauen.
Der nächste Punkt ist die Überprüfung und Verbesserung bestehender Verfahren der Risikobewertung und
Standardsetzung. Es ist auch von Frau Müller erwähnt
worden, dass Kinder, schwangere Frauen, ältere und
kranke Menschen bislang völlig unzureichend in die Bewertung einbezogen werden. Wir haben jetzt in Frankfurt
und auch in Rheinland-Pfalz das Problem des US-Housing. Es gibt bestimmte Belastungen aus Wohngiften, die
die Menschen heute genauso wie vor vielen Jahren betreffen. Es gibt bis heute kein Standardverfahren zur Bewertung der gesundheitlichen Schäden; das wird Pi mal
Daumen gemacht. In Frankfurt gibt es ein städtisches
Amt, das einen Versuch in die richtige Richtung macht.
Aber es gibt keine gesicherten Grundlagen.
({4})
Weiterhin geht es um die Verbesserung von Diagnose
und Therapie in der Umweltmedizin. Das heißt, mehr
Forschungsmittel sollen für die Charakterisierung umweltassoziierter Krankheiten und Symptomenkomplexe,
die wie MCS schwer zu erfassen sind, ausgegeben werden. Ein Frühwarnsystem soll rechtzeitig auf Gesundheitsgefahren durch Umwelteinflüsse hinweisen. Vorsorgeaspekten muss Vorrang eingeräumt werden. Das bedeutet die Umsetzung konkreter vorbeugender Maßnahmen in der Umwelt- und Gesundheitspolitik.
In der Lebensmittelproduktion wird das konsequent
angegangen. Ich bin froh, dass wir uns der Konkretisierung von Maßnahmen stark annähern. Aber auch in anderen Themenbereichen sind Maßnahmen nötig. Das betrifft
Außenluft und Klima, Innenluft und Bauprodukte, Wasserressourcen und Böden, Kleidung und Textilien, Autolärm, Fluglärm, Discolärm - ich rede von Hörschäden,
die bei Jugendlichen auftreten -, Stoffe, Zubereitungen
und Produktionsprozesse, wie bei den hormonartigen
Stoffen, ionisierte und nicht ionisierte Strahlen.
({5})
- Das Rauchen will ich um Gottes Willen gar nicht ausschließen. Das habe ich unter Tabak und Lebensmittel gefasst.
Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Gesundheit von Kindern. Wir müssen dafür sorgen, dass sie
nicht die Kranken von morgen sind. Dabei sind sie durch
Umwelteinflüsse stärker gefährdet und belastet als Erwachsene. Ich bin mir sicher, dass sich dieser Aufgabe alle
Fraktionen des Bundestages stellen werden. Ich hoffe,
dass wir in Fragen des vorbeugenden Gesundheitsschutzes künftig mit einer breiten Mehrheit zusammenarbeiten können.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Bernward Müller.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Vor fast einem Jahr hob die damalige Gesundheitsministerin Frau
Fischer gleich zu Beginn der Debatte zum Thema Umwelt
und Gesundheit die Wichtigkeit einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit hervor. Leider - darin muss ich Ihnen, Frau Staatssekretärin, widersprechen - haben wir im
vergangenen Jahr von dieser Zusammenarbeit nichts bemerkt.
({0})
Im Gegenteil, eines hat die BSE-Problematik deutlich gemacht: Von einer Zusammenarbeit und Abstimmung der
Ministerien in Sachsen Verbraucherschutz kann weiß Gott
keine Rede sein. Eine Abstimmung ist aber dringend notwendig, um die anstehenden Probleme im Bereich Umwelt und Gesundheit zu lösen.
({1})
Lassen Sie mich etwas zum Arbeitstempo dieser Regierung anmerken. Frau Fischer sprach sich am 24. Februar 2000 dafür aus, in Kürze eine Ad-hoc-Kommission
aus hochrangigen Experten einzusetzen, die sich mit bestehenden Verfahren der Risikobewertung auseinander
setzen sollte. Die Kommission wurde per Ministererlass
am 6. Oktober konstituiert. Eine erste fachliche Sitzung
fand im Dezember letzten Jahres statt - mehr als zehn Monate nach der vollmundigen Ankündigung der damaligen
Frau Ministerin. Das also bedeutet „ad hoc“ oder „in
Kürze“. Aber diese besondere rot-grüne Zeitrechnung ist
uns spätestens seit dem „sofortigen Atomausstieg“ bekannt.
({2})
Diese so genannte Risikokommission - sie soll sage und
schreibe viermal jährlich tagen - existiert nun tatsächlich.
Aber einmal ganz ehrlich: Hat jemand von Ihnen davon
schon einmal Notiz genommen?
Jetzt sind wir bei einem anderen Punkt: Frau Müller Sie haben es hier sowie bei einer früheren Debatte im Ausschuss angesprochen -, Sie haben damals ein aktives Informationsmanagement gefordert. Ich frage mich auch
hier: Wo bleibt die Umsetzung? Sie hatten unseren Antrag
mit der Begründung abgelehnt, es fehle der gesellschaftliche Dialog. Ich will Ihnen sagen: Wir brauchen ein kommunikatives Beiwerk dieser Art in unserem Antrag nicht;
denn für uns sind Transparenz und Information selbstverständlich.
({3})
Wir müssen nicht erst mit Worten Worte ankündigen, wie
Sie das bei Ihrer Politik in schöner Regelmäßigkeit tun.
Wir sind mit den Menschen im Dialog, ob Ihnen das passt
oder nicht. Ich habe den Eindruck, Sie fühlen sich in einer
medienwirksamen populistischen Ankündigungspolitik
wohl. Werden Sie aber zum Handeln gezwungen, produzieren Sie unkoordinierte Schnellschüsse oder bewegen
sich im Schneckentempo.
Das Gutachten des Rates der Sachverständigen für
Umweltfragen ist eine ausgezeichnete Grundlage für unsere politische Arbeit. Den Gutachtern gilt mein Dank für
die wertvollen Informationen. Insbesondere die Ausführungen über die Gefährdungspotenziale von Allergien,
Lärmeinwirkungen, endokrinen Stoffen und ultravioletten Strahlen verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit. Ich habe den Eindruck, dass die derzeitige BSEDebatte diese Risiken überschattet und eine notwendige
handlungsorientierte Diskussion darüber erstickt.
Um einmal die Dimension deutlich zu machen: Wir
wissen noch zu wenig über die Folgen von BSE für die
menschliche Gesundheit, um fundiert abwägen zu können. Sicher ist aber, dass sich immerhin 70 Prozent der
deutschen Bevölkerung durch Straßenverkehrslärm beeinträchtigt fühlen und etwa ein Viertel bis ein Drittel der
Bevölkerung unter allergischen Symptomen leidet. Es ist
höchste Zeit, eine überlegte und auf rationalen Kriterien
beruhende Umweltpolitik anzugehen.
({4})
Gestatten Sie mir ein paar mit Rücksicht auf meine Redezeit kurze Ausführungen zum Thema Allergien. Die
Zahl der allergischen Erkrankungen hat in den letzten Jahren stark zugenommen und der Höhepunkt ist noch nicht
erreicht. Auch wenn belegt ist, dass Allergien eine genetische Bedingung haben können, sind Wechselbeziehungen
zwischen Allergien und Umwelteinflüssen unbestritten.
In den Jahren nach der Wiedervereinigung hat sich die
Allergiehäufigkeit in den neuen Bundesländern der in den
alten Bundesländern angeglichen. Bislang ist die Ursache
für diese Entwicklung noch ungeklärt.
Obwohl die allergenen Eigenschaften bestimmter
Stoffe mittlerweile gut belegt sind, bestehen noch erhebliche Lücken bei den Erkenntnissen über die Wirkungsmechanismen und die Dosis-Wirkung-Beziehungen. Hier
gibt es noch erheblichen Forschungsbedarf, zum Beispiel
auch im Hinblick auf die Immunisierung von Kleinkindern gegen Allergien. Mit Blick auf die Schwere allergischer Erkrankungen und die wachsende Zahl von Allergikern besteht dringender Handlungsbedarf bei den
Maßnahmen zur Vorsorge. Ziel der Maßnahmen muss es
sein, erstens die Erkennung, Kennzeichnung und Minimierung Allergie auslösender Umweltfaktoren zu befördern, zweitens dem Anwachsen der Risikopopulation Allergiker entgegenzuwirken und drittens das Fortschreiten
bzw. die Chronifizierung der Erkrankungen zu verhindern.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie sind als Sachwalter einer neuen ökologischen Politik angetreten. Sie haben Ihren Wählerinnen und
Wählern versprochen, alles besser als die frühere CDU
geführte Bundesregierung zu machen. Doch was machen
Sie wirklich? - Man kann sagen: Viel Lärm um nichts!
({5})
Dort, wo Sie handeln könnten, lenken Sie mit Alibiveranstaltungen von Ihrer Untätigkeit ab. Was haben Sie bislang Konkretes erreicht? Frau Müller, ich beziehe mich
auf das, was Sie vorhin zum Aktionsprogramm gesagt haben. Ein Aktionsprogramm in die Welt zu setzen kann
doch nicht alles sein, zumal es, wie mein Kollege
Dr. Klaus Lippold schon letztes Jahr anhand einer Synopse nachgewiesen hat, von Frau Dr. Merkel mehr oder
weniger abgeschrieben ist. Nein, stattdessen schädigen
Sie mit Ihrer Art, Politik zu betreiben, sogar die Menschen, die auf Sie gebaut haben. Ich erinnere nur an die
Pseudokrupp-Debatte, die Sie anheizten, als Sie noch
nicht gegen Kernkraftwerke waren.
({6})
Kaum hatten Sie mit der Atomenergie ein gutes Thema
gefunden, um die Ängste der Menschen für Ihre Politik zu
mobilisieren, war aus Ihren Reihen keine Stimme mehr
dazu zu hören. Ich sage Ihnen: Sie betreiben Stimmenfang
und verwechseln dies mit einer modernen Politik. Kehren
Sie zu einer vernünftigen Umweltpolitik um!
Wir sollten bei der ganzen Diskussion aber nicht vergessen, dass Deutschland über ein hohes Schutzniveau
verfügt. Die Koalition wirft uns zwar immer Untätigkeit
vor. Aber eines ist offensichtlich: Noch heute profitieren
wir von den Ergebnissen der Umweltpolitik der früheren
Bundesregierung unter Dr. Helmut Kohl.
({7})
Die Belastung der Bevölkerung ist erheblich verringert
worden, wenn man sich die Schadstoffkonzentrationen
anschaut. Die Konzentrationen von Kohlenmonoxid,
Schwefeldioxid, Benzol, Schwermetallen wie Blei und
Giften wie Quecksilber und Arsen sind deutlich - um über
70 Prozent - gesenkt worden. Das ist ein großer Fortschritt. Ich frage Sie: Was haben Sie außer den unsäglichen Debatten über Ökosteuer und Atomausstieg vorzuweisen?
({8})
Wir brauchen eine Politik, die weder verharmlost noch
hysterische Ängste erzeugt. Wenn wir die im Sondergutachten angesprochenen Probleme lösen wollen, müssen
wir eine überlegte, auf rationalen Kriterien beruhende
Umwelt- und Gesundheitspolitik betreiben. Dazu dient
unser Antrag. Ich fordere Sie auf, dies gemeinsam mit der
CDU/CSU-Fraktion zu realisieren.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Michael Müller von der
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Sehn, ich
möchte - direkt auf Sie eingehen. Sie, die F.D.P., hatten
einmal einen Innenminister in Ihren Reihen, der nicht zu
Unrecht als Vorreiter beim Umweltschutz dargestellt
wird, nämlich Herrn Baum. Der wichtigste Satz in fast jeder Rede von Herrn Baum war: Wir brauchen einen vorsorgenden Umweltschutz. - Was ist eigentlich schlechte
oder gute, was ist eigentlich berechtigte oder unberechtigte Vorsorge? Das ist mir nicht klar. Was sind denn
dafür Ihre Kriterien? Ich sage Ihnen: Zwischen der Umweltpolitik und der Gesundheitspolitik gibt es viele Parallelen. Aus der Umweltpolitik wissen wir, dass Reparatur,
also Nachsorge, viel teurer als vorsorgender Schutz ist.
Genau dasselbe gilt für die Gesundheitspolitik.
({0})
Sie müssen mir einmal erklären, was an Vorsorge so falsch
ist. Mir ist das nicht klar.
Damit zwischen uns keine Missverständnisse entstehen: Mit solchen Fragen wird immer Schindluder getrieben. Aber wenn Schindluder getrieben wird, dann hat das
meistens ein Vorspiel. Die BSE-Geschichte macht das
deutlich. Über lange Zeit sind bestimmte Gefahren verharmlost worden. Dann kam ein Bruch und die Vertrauenskrise war umso tiefer. Dass dann zum Teil nicht ganz
rationale Reaktionen entstanden sind, ist verständlich.
Aber das Problem war nicht die Reaktion, sondern die
Vorgeschichte.
Bei der Gesundheitspolitik ist es ähnlich: Es gibt seit
Jahren zunehmend Warnungen, dass sich die Krankheitsbilder verschieben und dass insbesondere umwelttoxikologische Einflüsse eine erhebliche Rolle spielen.
Herr Kollege Müller, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau
Kollegin Sehn?
Bernward Müller ({0})
Ja bitte, klar.
Bitte
schön, Frau Sehn.
Ich möchte Sie nach etwas aus
dem Bereich der Gesundheitspolitik fragen. Wir wissen
relativ viel darüber, was das Rauchen anrichten kann. Da
Sie so großen Wert auf eine vorsorgende Gesundheitspolitik legen, möchte ich Sie fragen: Wollen Sie das Rauchen verbieten?
({0})
Sie haben eine
unglaubliche Fähigkeit, mit Schwarz-Weiß-Kategorien zu
argumentieren. Um es deutlich zu sagen: Ich habe in meinem Leben noch nie geraucht; insofern treffen Sie mich
nicht und sprechen mit mir an diesem Punkt den Falschen
an. Ich habe ein einziges Mal eine Zigarette im Mund gehabt, um als 14-Jähriger in einen Film ab 16 zu kommen.
Das war das einzige Mal überhaupt, dass ich geraucht
habe.
({0})
- Es ist wahr, nach der gestrigen Debatte muss man mit
solchen Aussagen vorsichtig sein. - Aber daraus eine solche Schlussfolgerung zu ziehen verstehe ich nicht.
Es geht um etwas anderes: Es geht doch darum, dass es
heute eine solche Zunahme der Anzahl von chronischen
Komplexkrankheiten gibt, dass unser traditionelles kuratives System an Grenzen stößt. Also muss man in der
Gesundheitspolitik zu anderen Mechanismen kommen,
die sehr viel früher einsetzen, die sozusagen die Krankheit
vor der Krankheit verhindern. Frau Sehn, ich kann Sie
überhaupt nicht verstehen. Sie sprechen bei jeder Gelegenheit von individueller Verantwortung. Vorsorge ist
ein klassischer Bereich individueller Verantwortung.
({1})
Herr Kollege Müller, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage von
Frau Sehn?
Ja.
Bitte
schön, Frau Sehn.
Herr Kollege Müller, es freut
mich sehr, dass wir beide Nichtraucher sind. Ich möchte
Ihnen eigentlich nur sagen, was für mich Eigenverantwortung der Menschen bedeutet, gerade wenn man um die
Risiken einer Sache weiß. Ich glaube, Sie haben meine
Frage eben nicht so recht verstanden. Vielleicht sollten
wir darüber nach dem Plenum unter vier Augen weitersprechen.
Ich glaube
schon, dass ich Ihre Frage verstanden habe. Mir ist klar,
dass keine Industriegesellschaft ohne Risiko auskommt.
Aber die Kernaufgabe der Politik besteht darin, Risiken
so gering wie möglich zu halten. Insofern habe ich Ihre
Frage sehr wohl verstanden.
({0})
Ich glaube nur, dass die von Ihnen aufgebaute Argumentation, Vorsorge sei Hysterie und daher ein Überziehen,
falsch ist.
({1})
- Doch, das haben Sie vorhin gesagt.
({2})
Zu einer modernen Umweltpolitik gehört - genauso
wie zu einer modernen Gesundheitspolitik -, so viel wie
möglich dafür zu tun, dass Schäden gar nicht erst eintreten. Das ist der eigentliche Kern von Umwelt- und Gesundheitspolitik.
({3})
Auch aus einem anderen Grund ist es für mich sehr
wichtig, den Vorbeuge- und Vorsorge-Gedanken zu stärken. Laut einer Erhebung aus den USA hat sich, seitdem
es Informationssysteme gibt, mit denen man gesundheitspolitische Fragen über das Internet direkt abrufen kann, in
den letzten drei Jahren die Anzahl der Patientennachfragen pro Jahr verzehnfacht. Das heißt, wir erleben eine
Veränderung im Verhältnis zwischen Gesundheitsberatung und Patient. Das ist ein weiterer Grund, warum wir
politische Weichen stellen müssen, damit kein Schindluder getrieben wird. Mir ist sehr wohl klar, dass dies in
diesem Zusammenhang geschehen kann. Gerade deshalb
haben wir die Pflicht, durch Umsteuern im Gesundheitssystem einen vernünftigen Rahmen zu setzen. Darum geht
es.
({4})
Ich bin 1983 in den Bundestag gekommen. Eine meiner ersten Aktivitäten bestand darin, seit 1985 Anfragen
zum Thema Allergie zu stellen. Ich kann Ihnen hier ein
Lied davon singen, wie sehr man damals als Außenseiter
und Spinner abgetan worden ist. Seinerzeit sagte man, die
Leiden seien genetisch bedingt. Heute würde das niemand
mehr behaupten. Hätte man früher darauf geachtet, dann
hätten wir vielen Entwicklungen eher gegensteuern können, als es heute der Fall ist. Nach einer Schätzung des
Düsseldorfer Instituts Med-Plus leiden 25 Millionen Bundesbürger an chronischen umweltbedingten Krankheiten. Das ist mittlerweile eine dramatische Zahl. Selbst die
Betriebskrankenkassen beziffern die Zahl der an Allergien Erkrankten auf 14,3 Millionen. Das sind Alarmsignale, zumal solche chronischen Krankheiten oftmals
Türöffner für schwerwiegendere Erkrankungen sind, die
das Gesundheitssystem sehr teuer zu stehen kommen und
überdies viel menschliches Leid hervorrufen. Wer das
nicht will, muss früher, also präventiv ansetzen.
({5})
Insoweit gibt es zwischen der Debatte über BSE und
dem jetzt von uns diskutierten Thema sehr wohl einige
Zusammenhänge. Bei allen diesen Fragen ist es in einer
hochkomplexen Industriegesellschaft mit sehr verfestigten Standesorganisationen unglaublich schwierig, die
Strukturen zu verändern und umzusteuern. Wir haben
lange Zeit erlebt, wie auch die traditionellen Organisationen im Gesundheitssystem alles abgetan haben, was mit
dem Thema „umweltbedingte Krankheiten“ zu tun gehabt
hat. Wir haben vor einer solchen Sichtweise gewarnt,
denn sie ist falsch. Man muss beim Entstehen von Krankheiten nicht nur den Ausbruch der Krankheiten, sondern
auch das soziale und ökologische Umfeld sehen. Es ist
immer eine Vielzahl von Faktoren für Krankheiten verantwortlich. Das hat nun das Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen sehr präzise und auch sehr
überzeugend herausgearbeitet.
Deshalb haben wir hier die Chance, in einer wichtigen
Frage ein Stück voranzukommen, bei der wir immer deutlicher die Grenzen des traditionellen Gesundheitssystems
sehen, das nämlich erst dann einsetzt, wenn Krankheiten
ausgebrochen sind. Vor allem sehe ich die Verschlechterung des Immunstatus bei einem großen Teil der Bevölkerung mit Sorge. Der Hinweis auf die Verschlechterung
des Immunsystems ist ein Zeichen dafür, dass sich die Gesundheit des Menschen insgesamt verschlechtert oder
dass die Menschen immer häufiger zwar nicht krank, aber
auch nicht richtig gesund sind. Deshalb ist ein Umsteuern
auf eine Stärkung der Körperabwehr und auf vorsorgende
und vorbeugende Maßnahmen die richtige Antwort, übrigens auch langfristig für die Verbesserung der Innovationsfähigkeit unseres Gesundheitssystems. Das rein kurative System gerät an Grenzen. In Zukunft wird es sehr viel
stärker um Gesundheitsförderung gehen. Das ist jedenfalls unser Ansatz, meine Damen und Herren.
({6})
Ich sage das übrigens auch aus einem anderen Grund,
der mir ebenfalls Sorgen bereitet: Die Zahl der Menschen,
die angeblich „austherapiert“ sind, denen man im Rahmen
des kurativen Systems nicht mehr helfen kann, wird mittlerweile auf fast 2 Millionen geschätzt. Das bedeutet viel
menschliches Leid, das nicht zu akzeptieren ist. Auch
deshalb brauchen wir hier sehr viel früher ansetzende Hilfen.
Meine Damen und Herren, die Diskussion über Umwelt und Gesundheit bietet die Chance, in einem auch
volkswirtschaftlich sehr wichtigen Sektor frühzeitig Innovationen anzuregen und Modernisierungsprozesse in
Richtung auf eine Verbindung von moderner Wissenschaft und, wie ich es nennen würde, fürsorglicher Medizin einzuleiten. Diese Verbindung scheint mir sehr zukunftsfähig zu sein. Ich glaube nicht, dass die Zukunft im
Einkaufen von immer weiteren hoch komplizierten Medizintechniken liegt. Es wird nur ein Schuh daraus, wenn
wir Medizintechniken mit fürsorglichen, ganzheitlichen
Systemen verbinden. Dies ist High-Tech und High-Care.
({7})
Daher bitte ich darum, dass wir vor dem Hintergrund
der Diskussionen der letzten 15 bis 18 Jahre, in denen wir
auf diesem Feld leider nur wenig vorangekommen sind
({8})
- doch, das ist so -, diese Debatte als Chance begreifen,
auch als Chance für mehr Arbeitsschutz, für mehr Umweltschutz,
({9})
für eine Verbindung von moderner Wissenschaft und Umweltpolitik, für eine Verbesserung der Ausbildung in der
Umweltmedizin usw. Ferner sollten wir aufhören, bestimmte Krankheiten nur deswegen, weil sie anders und
schwer zu fassen sind, gleich in die Ecke des Spinnertums
zu stellen, wie es beispielsweise bei MCS getan wird.
({10})
Es ist ein ernsthaftes Problem. Wir müssen uns auch
ernsthaft mit diesen Fragen auseinander setzen.
Die Zukunft liegt in der Chance, Gesundheit zu fördern. Sollten wir das gemeinsam tun, haben wir auch die
Lektion BSE begriffen.
({11})
Ich
schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen.
Wir beginnen mit Tagesordnungspunkt 5 a, der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/3712.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner
Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2767 mit dem Titel: Umwelt und Gesundheit.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss in Kenntnis des Sondergutachtens des Rates von Sachverständigen
für Umweltfragen mit dem Titel „Umwelt und Gesundheit
- Risiken richtig einschätzen“ - Drucksache 14/2300 -,
den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/2771 ({0}) zu diesem Sondergutachten
abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. angenommen.
Michael Müller ({1})
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe
c, in Kenntnis des Berichts gemäß § 56 a der Geschäfts-
ordnung auf Drucksache 14/2848 mit dem Titel: Technik-
folgenabschätzung - hier: „Umwelt und Gesundheit“ die
Annahme einer Entschließung.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Be-
schlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen, der PDS und der F.D.P. bei Enthaltung der
CDU/CSU angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 5 b. Interfraktio-
nell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksa-
che 14/4710 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis c auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der
gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung
eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens
({2})
- Drucksache 14/5068 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen
Republik über die Ergänzung des Europäischen
Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959 und die Erleichterung seiner Anwendung
- Drucksache 14/5011 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 2. Februar 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen
Republik über die Ergänzung des Europäischen
Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung
- Drucksache 14/5012 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur Verwendung
uranhaltiger Munition im Rahmen von NATOKampfeinsätzen
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner und Antragsteller hat der Kollege Roland Claus von der PDSFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Vorfeld dieser aktuellen
Debatte wurden wir gefragt, was die Fraktion der PDS
wohl mit dieser Debatte bezweckt. Ich will Ihnen das beantworten.
Wir wollen ausdrücklich die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Wirkungen von uranhaltiger Munition.
Wir wollen, dass über dieses Thema nicht nur in nicht öffentlichen und von Militärs dominierten Beratungen verhandelt wird. Es geht uns ausdrücklich auch um die damit
verbundenen Wirkungen und Gefährdungen für die Zivilbevölkerung und die Soldaten.
({0})
Es ist deshalb notwendig, das hier zu sagen, weil zivile
Opfer in der Logik von Militärs leider oftmals gar nicht
vorkommen.
Wir wollen wissen: Wurden diese Gefährdungen durch
uranhaltige Munition in Verantwortung dieser Bundesregierung wissentlich in Kauf genommen? Ich denke, es
wird Ihnen nicht entgangen sein, dass die PDS-Fraktion
dazu seit langem eine Reihe von Anfragen an die Bundesregierung gerichtet hat. Wir haben dieses Thema also
nicht erst gestern entdeckt. Diese Anfragen und die entsprechenden Antworten waren auch einige der Quellen
von Veröffentlichungen.
Sie werden nun sagen: Aufklärung wollen alle. Das
geht ja auch in Ordnung. Wir unterstellen Ihnen nicht,
dass Sie das nicht wollten. Insofern sollten auch Sie uns
nicht unterstellen, dass wir daran kein Interesse hätten. Im
Übrigen denke ich, dass für die Sparte Legenden und Mythen - ich erinnere Sie nur an Racak und den Hufeisenplan - andere zuständig sind.
({1})
Wenn Sie uns allerdings unterstellen, dass die PDS
mehr will als die Aufklärung in Einzelfragen, dann
kann ich Ihnen dazu nur sagen: Damit liegen Sie ausVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
drücklich richtig. Die PDS will den Krieg als Mittel
zur Lösung von Konflikten ächten und ausschließen. Es
bleibt bei einem klaren Nein zum Krieg.
({2})
Am 17. Januar 1991, also gestern vor zehn Jahren,
wurde der Golfkrieg begonnen. Es wurde uranhaltige Munition verwendet. Danach entstand etwas, das in der Sprache der Fachleute den Begriff „Golfkrieg-Syndrom“ erhielt. Wenngleich auch nicht alle diese Gefahren aufgeklärt
sind, muss zumindest eins klar sein: Die Gefahren waren
potenziell vorhanden. Die Warnungen und Mahnungen von
Forschern auch aus der OSZE wurden aber in den Wind geschlagen.
Man hätte in der Politik in einer solchen Situation immer zwei Möglichkeiten gehabt. Man hätte zum einen sagen können: Solange diese Risiken bestehen und solange
dies nicht aufgeklärt ist, wird es keinen weiteren Einsatz
geben. Diese Erkenntnis hätte das Europäische Parlament, das gestern mit mehr als Zweidrittelmehrheit so beschlossen hat, schon früher haben können. Es hätte zur
Ächtung dieser Waffen kommen können.
({3})
Stattdessen ist diese Bundesregierung an einem Vorgang
beteiligt, den man wie folgt beschreiben muss: Erstens,
weiter diese Munition verschießen; zweitens, ihre Wirkungen verschweigen; drittens, erst unter öffentlichem
Druck untersuchen.
({4})
Sprache ist ja zuweilen entlarvend. Nehmen wir doch
einmal diesen Begriff, mit dem jetzt operiert wird, der da
heißt: abgereichertes Uran - abgereichert, wie Minuswachstum.
({5})
Das hört sich nicht so schlimm an. Aber ich will Ihnen
eins sagen: Aus der Physik - man könnte denken, dass der
Begriff daher kommt - stammt dieser Begriff nicht. Er ist
offenbar zum Zwecke einer Informations- oder Desinformationskampagne von Militärs erfunden worden.
({6})
Deshalb muss man bei dieser Frage auch über Informationspolitik oder besser über Desinformationspolitik
reden und über den Umgang mit der Wahrheit. Lange hat
sich die Bundesregierung an der Verbreitung der Überlegung mitbeteiligt, hier gäbe es keine Gefahren. Ich will
auf den Widerspruch hinweisen. Sie haben auf der
einen Seite gesagt: Die Sache ist gefahrlos, und haben auf
der anderen Seite bereits Schutzmaßnahmen eingeleitet.
So, wie Sie in Nibelungentreue die deutsche Kriegsbeteiligung beschlossen haben, so haben Sie auch in Nibelungentreue die Verwendung der uranhaltigen Munition
akzeptiert.
({7})
Das ist alles andere als Bündnispolitik auf gleicher Augenhöhe. Das ist offenbar eine Sicht, die bei den US-Militärs und den dortigen Regierungen vorherrscht und die
man so beschreiben könnte: Wie viel müssen denn die lieben Kleinen in Europa wissen und wie viel müssen sie
nicht wissen?
In einer solchen Situation hat eine Bundesregierung
immer zwei Möglichkeiten: zu sagen, man lässt sich so etwas bieten - dann wird man weiter so behandelt und nicht
auf gleicher Augenhöhe akzeptiert -, oder zu sagen, man
lässt sich so etwas nicht bieten. Das wäre der richtige Weg
gewesen.
({8})
Selbst in der ARD wurde gestern darüber gesprochen,
dass Deutschland wie drittklassige Verbündete informiert
würde.
Nun tritt der Bundesverteidigungsminister die Flucht
nach vorn an, bestellt den Geschäftsträger der US-Botschaft ein und versucht, den schwarzen Peter weiterzugeben. Insofern kann man sagen, dass die Militärs offenbar
zwei Hauptfeinde haben: zum einen die Friedensbewegung und zum anderen die Öffentlichkeit.
({9})
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege Claus.
Die PDS-Fraktion schlägt Ihnen die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur
Aufklärung der Folgen des Einsatzes uranhaltiger Munition vor. Wir haben einen entsprechenden Einsetzungsbeschluss ausgearbeitet. Wir werden ihn vor der Einreichung den anderen beiden Oppositionsfraktionen zuleiten
und sie fragen, ob sie den Vorschlag unterstützen wollen.
An dem Fragenkatalog der CDU/CSU habe ich gesehen,
wie viele Fragen und welche Erwartungen noch bestehen.
Kommen
Sie bitte jetzt zum Schluss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie damals für den Einsatz gestimmt haben,-
Nein, Sie
müssen jetzt Ihren Beitrag beenden, Sie haben schon mehr
als eine Minute überzogen.
Ich bin bei meinem Schlusssatz. - Da ich Ihnen nicht unterstelle, dass Sie das leichtfertig getan haben, würde ich jetzt gerne wissen, was in
Ihnen vorgeht und ob ein Umdenken stattfindet. Die
Bundesregierung fordere ich auf, der Öffentlichkeit zu sagen: Es war falsch, sich an diesem Krieg zu beteiligen.
Vielen Dank.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Peter Zumkley von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Die derzeitige zuweilen aufgeregt und auch
emotional geführte Debatte wird von einigen so geführt,
als wäre diese Munition erst im Kosovo zum Einsatz gekommen und nicht schon früher. Gerade auch nach dem,
was wir gerade gehört haben, habe ich den Eindruck, dass
gelegentlich politische Interessen verfolgt werden, die mit
der eigentlichen Sache nichts zu tun haben.
({0})
Auf Anfragen meines Kollegen Georg Pfannenstein
aus den Jahren 1995 und 1997 hat die damalige Regierung
mitgeteilt, dass keine Gefährdung von uranabgereicherter
Munition ausgeht. Umso verwunderlicher finde ich die
jetzigen Vorwürfe gegen den Bundesminister der Verteidigung. Er hat seit dem Frühjahr 1999 den Verteidigungsausschuss fortlaufend über den Einsatz uranabgereicherter Munition und die von ihr möglicherweise
ausgehenden gesundheitlichen Gefährdungen informiert.
Von mangelnder Informationspolitik zu sprechen ist
schlichtweg falsch.
({1})
Er hat im Juni 1999, schon zu Beginn des Einmarsches
in den Kosovo, zusätzliche Schutzmaßnahmen erlassen,
um eine Gefährdung unserer Soldaten auf dem Balkan
durch diese Munition auszuschließen.
({2})
Damit hat der Minister seine Fürsorgepflicht voll erfüllt,
was im Übrigen zu jeder Zeit der Fall war und ist.
({3})
Ebenfalls durch ihn wurde im Mai 1999 ein unabhängiges wissenschaftliches Institut mit der Untersuchung
der Problematik von DU-Munition beauftragt. Er hat in
der vergangenen Woche mit einer Gruppe namhafter
unabhängiger Wissenschaftler zum Thema DU-Munition
Gespräche geführt und die Öffentlichkeit über das Ergebnis unterrichtet. In der gestrigen Sitzung des Verteidigungsausschusses hat der Bundesminister wieder
umfassend informiert und die Ausschussmitglieder aufgefordert, weitere Vorschläge zu den laufenden DU-Untersuchungen einzubringen.
({4})
Mir ist nicht bekannt, dass bis jetzt irgendwelche Beiträge
- auch nicht von Ihnen - oder Verbesserungsvorschläge
eingegangen sind, im Übrigen auch nicht im Ausschuss.
({5})
Meine Damen und Herren, bisher liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es bei Soldaten der Bundeswehr zu Erkrankungen gekommen ist, die auf den Kontakt mit uranabgereicherter Munition oder die Aufnahme
von ihr abgeleiteter Substanzen zurückgeführt werden
könnten. Gleichwohl unterstützen wir ausdrücklich die
zurzeit laufenden nationalen und im Rahmen der NATO
durchgeführten Untersuchungen. Das geringste Gefährdungsrisiko - auch die Militärs denken in dieser Frage
nicht so, wie Sie glauben - für die Gesundheit der Zivilbevölkerung und der Soldaten, wenn es denn eines gibt,
muss umfassend untersucht werden. Dies gilt auch für die
Problematik, dass in diesem Zusammenhang angeblich
sehr geringe Bestandteile von Plutonium verwendet wurden. Die wissenschaftlichen Untersuchungen sind eingeleitet. Wir begrüßen sie.
({6})
Zurzeit wird DU-Munition von den Verbündeten nicht
eingesetzt. Darüber sind wir alle froh. Dies entspricht faktisch dem von uns angestrebten Moratorium und dem Verzicht auf diese Munition. Die Bundeswehr hat und braucht
diese Munition nicht. Wir befürworten die gemeinsam mit
anderen NATO-Partnern durchgeführte Initiative der
Bundesregierung, auf Besitzer von uranabgereicherter
Munition einzuwirken, damit diese zukünftig auf deren
Einsatz verzichten.
({7})
In jedem Fall geht es um den Schutz der Soldaten und der
Zivilbevölkerung gleichermaßen. Beide sind vor eventuellen Folgewirkungen von Munition und Waffen jedweder
Art bestmöglich zu schützen.
({8})
In diesem Zusammenhang sollte auch der vielseitigen zivilen Verwendung von uranabgereichertem Material, zum
Beispiel im Flugzeugbau, Beachtung geschenkt werden.
Eventuelle gesundheitliche Schäden unserer Soldaten
durch Röntgenstrahlung, die bei Erzeugung der Radarstrahlen entstehen, müssen sorgfältig untersucht werden.
Die vorliegenden Studien beziehen sich auf den Zeitraum
von Anfang der 70er- bis Anfang der 90er-Jahre. Die vom
Verteidigungsminister in Auftrag gegebene neue Studie
wird ausdrücklich begrüßt. Sie dient dazu festzustellen,
ob durch mangelnden Schutz, mangelnde technische
Kenntnisse oder durch Fahrlässigkeit Erkrankungen entstanden sind, die als Wehrdienstbeschädigung anerkannt
werden müssten.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Sollte ein ursächlicher Zusammenhang festgestellt werden, muss den betroffenen Menschen bzw. ihren Angehörigen unverzüglich geholfen werden. Auch ist zu prüfen, ob die Radaranlagen ausreichend abgeschirmt waren
und die geltenden Sicherheitsbestimmungen eingehalten
wurden. Sollte dies nicht der Fall sein, ist umgehend Abhilfe zu schaffen. Wir werden dies parlamentarisch weiter
mit Nachdruck verfolgen.
({9})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Anita Schäfer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In
dieser Aktuellen Stunde geht es nicht nur um die Frage der
Gefährlichkeit der so genannten DU-Munition und um
den Umgang mit dieser Munition. Im Besonderen geht es
auch um den Umgang des Verteidigungsministers mit diesem Thema, darum, ob er, der für die Soldaten und ihre
Gesundheit verantwortlich ist, dieser Verantwortung gerecht wurde. Weiterhin geht es darum, ob er damit der Verantwortung gerecht wurde, die die westliche Staatengemeinschaft durch ihre Intervention im Kosovo auf sich
genommen hat.
Denn beileibe nicht nur die Soldaten unserer Bundeswehr sind dieser offensichtlich bis heute noch nicht richtig einzuschätzenden Gefahr ausgesetzt, sondern auch die
vielen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen, die vor Ort auf
dem Balkan Hilfe leisten, und vor allem auch die dortige
Bevölkerung. Nach Völkermord und Vertreibung durch
Milosevic müssen die Menschen erkennen, dass sie und
ihre Kinder unter Umständen seit Jahren in kontaminierten Gebieten leben.
Schon im März des vergangenen Jahres habe ich in der
Presse auf die Verunsicherung hingewiesen, die unter unseren im Kosovo eingesetzten Soldaten herrscht. Herr
Minister Scharping, damals hätte ich mir gewünscht, dass
Sie sich vom amerikanischen Botschafter über die Brisanz der DU-Munition hätten unterrichten lassen - nicht
erst in dieser Woche
({0})
Warum haben Sie erst jetzt den Informationsaustausch
mit dem NATO-Partner forciert? Damals hätten Sie den
Sachverhalt mit einer Unterrichtung durch den amerikanischen Botschafter aufklären und informieren können.
Durch die gestrige Einbestellung dramatisieren Sie die
Angelegenheit unnötig. Hätten Sie bei den Amerikanern
früher nachgefragt, hätten Ihnen diese auch früher Auskunft gegeben.
Es ist schon sehr bedenklich, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass es erst der Todesfälle in den Partnerstaaten
bedurfte, die mit der Uranmunition in Zusammenhang gebracht wurden, um den Verteidigungsminister - wenigstens in Grenzen - endlich wachzurütteln.
({1})
Weiterhin wird den Soldaten und der Öffentlichkeit
weisgemacht, unsere Bundeswehrsoldaten seien bereits
frühzeitig und ausreichend auf den möglichen Kontakt
mit DU-Munition vorbereitet gewesen. Der Minister
sollte sich einmal die Mühe machen, in den Web-Seiten
seines eigenen Hauses zu surfen. Würde er dort die
Adresse „www.bundeswehr.de“ anklicken, so würde er
quasi regierungsamtlich unter dem Stichwort DU-Munition auch einen Erfahrungsbericht von Angehörigen des
Diepholzer Objektschutzbataillons finden. Hier werden
ausdrücklich einsatzbezogene Unzulänglichkeiten beim
Umgang mit DU-Munition beklagt.
({2})
Der Bericht ist nicht etwa ein alter Hut. Er wurde erst am
29. November letzten Jahres ins Netz gestellt.
({3})
Mit anderen Worten: Die Aussagen des Verteidigungsministers waren bisher von der Wirklichkeit im Kosovo weit
entfernt.Vielleicht hat er sie selbst geglaubt, was allerdings nur schwer vorstellbar ist.
({4})
- Das würde ich nicht sagen. - Immerhin kann er die vielen Berichte aus dem Sanitätsdienst nicht übersehen haben, in denen schon frühzeitig auf die Problematik aufmerksam gemacht worden ist.
Auch im Verteidigungsausschuss war DU-Munition im
Mai des vergangenen Jahres ein Thema. Ein Zwischenbericht, den Staatssekretär Kolbow für Juli vergangenen
Jahres angekündigt hatte, hat bis vor einigen Tagen auf
sich warten lassen. Es hat eine Reihe von Anfragen an die
Bundesregierung gegeben. Aber die Soldaten und ihre Familien wurden in der brodelnden Gerüchteküche allein
gelassen. Ich glaube nicht, dass diese Salamitaktik, die
wir von Minister Scharping auch in anderen Bereichen
gewohnt sind und die schon in vielen Fällen zu Unmut
und zur Verstimmung auch in der Bevölkerung geführt
hat, dieser sensiblen Materie gerecht wird.
({5})
Es reicht nicht aus, nur immer über das zu informieren,
was aus den Medien ohnehin längst bekannt ist.
Nun ist auch noch das hochgiftige Plutonium ins Spiel
gekommen. Herr Minister Scharping, ich fordere Sie auf:
Legen Sie endlich Zahlen, Studien und Fakten auf den
Tisch! Nur so werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht.
({6})
Wenigstens in Ihrer Informationspolitik gegenüber den
Soldaten, dem Parlament und der Öffentlichkeit sollten
Sie nicht zu sehr an Ihrer Amtsbezeichnung kleben. Sie
sollten nämlich nicht nur verteidigen, sondern auch offensiv aufklären und offensiv informieren. Hier geht es
um die Gesundheit und um das Leben vieler Menschen. In
Anbetracht der möglichen Gefährdung durch DU-Munition haben nicht nur unsere Soldaten, sondern auch die
Mitarbeiter der Hilfsorganisationen und die Bevölkerung
einen Anspruch auf rückhaltlose Information und auf ungeschminkte Wahrheit.
Herr Minister Scharping, es ist zwar zu begrüßen,
wenn Sie nun ein Team des Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit in den Kosovo entsenden, auch wenn
das für alle Beteiligten und für das Forschungszentrum
selbst etwas überraschend kommt. Aber auch diese Maßnahme kommt etwas spät. Ich kann nicht die Befürchtung
entkräften, dass bisher nicht alles getan worden ist, um
das Wohl und die Gesundheit der Ihnen anvertrauten Soldaten mit allen Mitteln zu schützen. Aber gerade das ist
das Gebot der Stunde. Unsere Soldaten und die unserer
Fürsorge anvertrauten Menschen vor den möglichen Gefahren durch Informationen und durch entsprechende
Maßnahmen zu schützen, muss Vorrang haben.
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
Hierbei können Sie sich
zweierlei sicher sein: der Kontrolle, aber auch der Unterstützung durch die CDU/CSU-Fraktion.
Danke.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Buntenbach
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Befürchtungen von Gesundheitsschäden durch Uranmunition, wie sie jetzt von Soldaten und aus der Zivilbevölkerung geäußert werden, sind nur allzu berechtigt. Die
Betroffenen haben das Recht auf eine sorgfältige Untersuchung und darauf, dass schnell Konsequenzen gezogen
werden. Die Öffentlichkeit hat das Recht auf eine umfassende Information.
Als Allererstes muss verhindert werden, dass die
Gesundheitsgefährdung durch DU-Munition noch weitere Kreise zieht. Die Reste der Munition sowie die Reste
von Panzern und anderen getroffenen Zielen müssen umgehend sichergestellt und von der NATO vernünftig entsorgt werden,
({0})
und zwar überall dort, wo DU-Munition bis jetzt eingesetzt worden ist: im Kosovo, in Bosnien und im Irak. Wasser und Boden müssen in den betroffenen Gebieten auf
Kontamination untersucht werden. Im Südirak spielen
Kinder in ausgebrannten Panzern. Wer als Ziel des Krieges im Kosovo formuliert hat, den vertriebenen Menschen
die Rückkehr zu ermöglichen, steht in der Verantwortung,
sicherzustellen, dass sie nicht in kontaminiertes Gebiet
zurückkehren müssen. Den Soldaten und Soldatinnen,
den Polizisten und dem Zivilpersonal, aber auch der Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten muss die
Möglichkeit zur Gesundheitsuntersuchung gegeben werden, auch zu kontinuierlicher Nachsorge, da Erkrankungen durch Uranmunition noch Jahre später auftreten können.
({1})
Uranmunition bedeutet eine langfristige Gesundheitsgefährdung. Die genaue Risikoanalyse, die in der Wissenschaft ja noch umstritten ist, muss ganz neu erstellt
werden, wenn sich herausstellen sollte, dass Plutonium
noch zusätzlich enthalten ist. Wenn der Staub, der beim
Aufschlag von DU-Granaten entsteht, eingeatmet wird
oder durch Wunden in den Körper gelangt, dann setzt er
sich im Körper fest und entfaltet über Jahre hinweg als
bleibender Strahlungsherd seine radioaktive Wirkung.
Außerdem kann dieser kontaminierte Staub über Boden
und Wasser in den Nahrungskreislauf gelangen. Die
NATO muss offen legen, wo genau DU-Munition eingesetzt worden ist, und auch ihre Erkenntnisse über Erkrankungen und Gesundheitsrisiken auf den Tisch legen.
({2})
Die bisherige Geheimhaltungspolitik der NATO ist
nicht hinnehmbar. Dass zum Beispiel noch am 15. Dezember 1997 auf einer SFOR-Pressekonferenz in Bosnien
ausdrücklich betont wurde, dass in Bosnien niemals DUMunition eingesetzt wurde, ist eine Irreführung der Öffentlichkeit.
Hintergrund scheinen befürchtete Regressforderungen, insbesondere von erkrankten Golfkriegsveteranen,
zu sein. Handlungsleitend muss aber der Schutz der Menschen vor den langfristigen Folgen der DU-Munition sein.
({3})
Auch bezogen auf die Lagerung und Erprobung oder
Transporte im Gebiet der Bundesrepublik und der ehemaligen DDR brauchen wir eine umfassende Klarstellung.
({4})
Die Informationspolitik der Bundesregierung kann nicht
darin bestehen, festzustellen, dass die Bundeswehr solche
Munition nicht einsetzt, wenn klar ist, dass die NATOPartner es tun. Es gibt diesbezüglich langjährige - ich betone: langjährige - Versäumnisse des Bundesverteidigungsministeriums und der NATO. Frau Schäfer, es ist
einfach absurd und scheinheilig, wenn man die
Verantwortung für das alles allein beim jetzigen Verteidigungsminister abladen wollte.
({5})
- Wir stehen jetzt in der Verantwortung, selbstverständlich. Wir werden ihr auch nachkommen und nach vorne
schauen.
({6})
Im Interesse der Zivilbevölkerung und der Soldaten
sind eine zügige Aufklärung und weitere umfassende Untersuchungen notwendig. Wir wissen, dass niemandem
geholfen ist, wenn das Problem heruntergespielt wird. Die
Fakten müssen offen auf den Tisch, und zwar nicht erst
dann, wenn sie von der Presse veröffentlicht worden sind;
denn sonst wird weiteres Misstrauen genährt.
({7})
Waffen sind grundsätzlich gefährlich - und genau
das ist ihr Zweck. Hier allerdings handelt es sich um
Munition, die unterschiedslos auf Soldaten und Zivilisten
wirkt, und zwar langfristig. Ich halte die internationale
Ächtung von Uranmunition für notwendig. Ich begrüße
sehr, dass sich die Bundesregierung jetzt dafür verwendet
hat, dass die NATO Uranmunition in Zukunft nicht mehr
einsetzt und dafür auf internationaler Ebene ein Moratorium erreichen will. Ich hoffe sehr, dass sie damit Erfolg
hat. Wir werden sie jedenfalls mit allen Kräften dabei unterstützen.
({8})
Als nächster Redner hat der Kollege Günther Nolting von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Kollege Zumkley, ich
stimme Ihnen zu: Bei dem Thema Uranmunition verbieten sich vorschnelle Hysterie und blinde Panikmache.
Aber, Herr Kollege Zumkley, ich denke, es verbietet sich
auch eine unglaubwürdige Politik der Abwiegelung.
({0})
Herr Minister, was ich in den letzten Tagen beobachtet
habe, hat gewaltig mit Abwiegelungspolitik zu tun. Sie,
Herr Minister, stehen im Zentrum dieser Politik.
({1})
Frau Kollegin Buntenbach, als Koalitionspartner sind für
diese Politik auch die Grünen verantwortlich.
({2})
Warum haben die Grünen die Forderungen nicht schon
längst gestellt, die Sie heute vorgetragen haben? Und vor
allen Dingen: Warum haben Sie diese Forderungen nicht
schon längst umgesetzt?
({3})
Sie sind in der Regierung, Sie stellen den Außenminister
und dieser hat bis jetzt nichts getan.
Der Verteidigungsminister gehört in einer Situation,
die bei den Betroffenen und deren Angehörigen Unbehagen, wenn nicht sogar Verunsicherung oder Angst auslöst,
an die Spitze der Aufklärungsbewegung. Der Verteidigungsminister darf sich nicht aufschwingen, erst die Opposition und dann die Medienvertreter wegen einer angeblich hysterischen und unsachlichen Berichterstattung
zu attackieren. Was ich in den letzten Tagen den Medien
entnommen habe, war ausnahmslos eine um Aufklärung
bemühte, meist sehr sachliche Darstellung und Analyse
der Tatsachen.
({4})
Herr Minister, Sie sollten daher nicht blinde Medienschelte betreiben, sondern Dank für die zahlreichen überaus sachlichen Darstellungen zum Ausdruck bringen.
Aufklärung tut ja auch Not.
({5})
Denn immerhin geht es nicht nur um rund 50 000 Menschen aus unserem Land, die im Auftrag des Deutschen
Bundestages in Auslandseinsätzen stellvertretend für die
westliche Wertegemeinschaft Hilfe geleistet haben. Es
geht auch um viele Zigtausend Bewohner in den betroffenen Gebieten selber, die ebenso ein Recht auf lückenlose
Aufklärung haben,
({6})
ein Recht, das ihnen die deutsche Bundesregierung genauso wenig verwehren darf wie alle anderen Regierungen dieser westlichen Wertegemeinschaft;
({7})
denn gerade in der gegenwärtigen Diskussion geht es um
unsere Wertvorstellungen, nämlich Frieden, Freiheit und
Recht, aber auch Offenheit und Transparenz,
({8})
für die die NATO und die EU stehen und für die wir kämpfen.
Meine Damen und Herren, wenn die Forderung nach
„brutalstmöglicher Aufklärung“ jemals Berechtigung
hatte, dann ist das gegenwärtig der Fall.
({9})
Denn immerhin sind die Informationen, die wir bekommen, alles andere als beruhigend. Zum Beispiel: Welche
weiteren Inhaltsstoffe weist die Munition auf? Gibt es
neue Gefahren durch Plutonium? Welche genauen Wirkungen erzeugt das Auftreten dieser Munition auf Oberflächen? Welche chemischen Prozesse werden hierbei in
Gang gesetzt? Wie wirken sich diese aus? Wie gedenkt die
Bundesregierung auf mögliche Langzeitwirkungen einzugehen?
({10})
Herr Kollege Scharping, ich denke, dass Sie diese Aktuelle Stunde zum Anlass nehmen sollten, den Gesichtswinkel Ihrer Nachforschungen deutlich zu erweitern.
({11})
Welchen anderen, über das allgemeine Gefährdungsmaß
hinausgehenden Risiken sind Einheimische und Soldaten
in Auslandseinsätzen ausgesetzt? Auch hier muss der
Bundesminister der Verteidigung seiner Verantwortung
nachkommen und darf sich nicht in ministerieller Selbstzufriedenheit ergehen.
({12})
Herr Minister, Ihr Problem sind weder die Opposition
noch die Medien.
({13})
Ihr Problem ist Ihre zögerliche, zu Belehrungen neigende
Informationspolitik.
({14})
Das haben Sie mittlerweile in aller Deutlichkeit auch von
den eigenen Genossen zu hören bekommen. Die Namen
brauche ich hier nicht zu erwähnen. Sie konnten das selbst
der Presse entnehmen.
({15})
Ein weiteres Phänomen harrt der Aufklärung durch den
Bundesverteidigungsminister, nämlich die seltsam schiefe
Logik, einerseits Gesundheitsrisiken durch uranhaltige
Munition nahezu kategorisch auszuschließen - das haben
wir gestern im Verteidigungsausschuss wieder gehört -,
({16})
andererseits aber alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen
anzuordnen und gestern sogar den amtierenden Botschafter der USA einzubestellen - ein einmaliger Vorgang in
der Politik und in der Diplomatie.
({17})
Herr Minister, sorgen Sie dafür, dass diese Pseudologik
aufgegeben wird!
({18})
Herr Minister, im Namen der F.D.P. fordere ich Sie noch
einmal auf - wie ich das gestern schon im Verteidigungsausschuss getan habe -: Sorgen Sie für eine eingehende
medizinische Untersuchung aller - ich betone: aller - im
Ausland eingesetzten Bundeswehrangehörigen auf etwaige Gesundheitsrisiken! Stichproben allein sind völlig
unzureichend und ungenügend.
({19})
Setzen Sie sich auf NATO-Ebene für Aufklärung und
eventuelle Hilfen für die betroffene Bevölkerung auf dem
Balkan ein! Es geht auch hier um die Glaubwürdigkeit der
NATO und damit der westlichen Wertegemeinschaft. Legen Sie alle Fakten schonungslos offen, ohne falsche
Rücksichtnahmen auf falsche Geheimhaltungsinteressen!
Die Betroffenen und die Öffentlichkeit haben ein Anrecht
darauf. Ziehen Sie notfalls auch personelle und organisatorische Konsequenzen in Ihrem Haus!
Herr Minister, ein BSE-ähnliches Kompetenz- und
Verwirrspiel darf sich keinesfalls wiederholen. Im Vordergrund allen Handelns muss das Wohl der Angehörigen
der Bundeswehr, muss das Wohl der Menschen stehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({20})
Als
Nächster hat der Bundesminister Rudolf Scharping das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte
zunächst festhalten: Es bleibt dabei, dass nach Auffassung
der Bundesregierung besser kein Staat diese Munition
hätte und besser auch kein Staat diese Munition einsetzte.
({0})
Wir werden unsere Möglichkeiten nutzen, um diese Auffassung zur Geltung zu bringen.
Es ist allerdings auch richtig, dass jeder Staat alleine
über seine militärischen Mittel und ihren Einsatz entscheidet, auch im Bündnis. Genauso bleibt es richtig, dass
es eine gemeinsame Verantwortung gibt, die sich zum einen auf die Risiken für eingesetzte Soldaten, zum anderen
aber genauso auf die Risiken für die möglicherweise betroffene Zivilbevölkerung bezieht. Das ist ebenfalls unsere unveränderte Auffassung. Das ist auch der Grund,
weshalb ich während des Kosovo-Krieges und auch jetzt
gegen jeden Anschein einer ungleichgewichtigen Information innerhalb des Bündnisses und im Rahmen gemeinsamer Verantwortung vorgehen werde. Das habe ich
während des Kosovo-Krieges getan und das tue ich jetzt
wieder. Ich komme auf diesen Punkt gleich noch einmal
zurück.
Dann ist gesagt worden, es gebe keine hinreichende
Unterrichtung der Öffentlichkeit bzw. des Parlamentes.
Ich möchte Sie darüber informieren, welche Unterrichtungen erfolgt sind - es tut mir Leid, dass ich das
nachträglich tun muss -: Am 21. April 1999 hat das Bundesministerium der Verteidigung zum ersten Mal in einer
Pressekonferenz zu diesem Thema Stellung genommen.
An diesem Tag ist hier im Parlament eine Frage nach dem
angeblichen Einsatz uranangereicherter Munition beantwortet worden.
({1})
Das Bundesministerium der Verteidigung hat hier im
Deutschen Bundestag freundlicherweise die Vermutung
angestellt, es könne sich dabei um ein Missverständnis
handeln, und, obwohl nicht danach gefragt wurde, auch
Fragen nach uranabgereicherter Munition beantwortet.
({2})
Die Bundesregierung und der Bundesminister der Verteidigung haben ebenfalls im Deutschen Bundestag am
7. Mai 1999 alle diesbezüglichen Fragen beantwortet.
Die Bundesregierung hat am 20. Mai 1999 im Deutschen Bundestag von sich aus zum ersten Mal auf eine
Unterscheidung hingewiesen, die in der Sache getroffen
werden muss und die manchmal leider auch in Beiträgen
hier im Parlament regelmäßig verwischt wird: Das Risiko,
das von der Strahlenbelastung ausgeht, ist nach Auffassung aller Mediziner - nicht etwa nur der der Bundeswehr, sondern auch der unabhängiger Fachleute und Institute - von vernachlässigbar geringem Umfang. Aber
wir haben von uns aus, ohne dass wir im Einzelnen danach gefragt worden sind, am 20. Mai 1999 hier im Deutschen Bundestag während des Kosovo-Krieges auf das
Risiko toxisch bedingter Erkrankungen wegen der Eigenschaft von Uran als Schwermetall hingewiesen.
({3})
Wir haben in mehreren Sitzungen des Verteidigungsausschusses und des Deutschen Bundestages darauf aufmerksam gemacht, dass diese beiden Risiken nicht miteinander vermengt werden dürfen und dass das zweite
Risiko deshalb differenziert zu betrachten ist, weil es ein
Unterschied ist, ob man zeitweilig und mit der Möglichkeit von Schutzmaßnahmen in einem Gebiet, in dem diese
Munition verwendet wird, eingesetzt wird oder ob man
dauerhaft in diesem Gebiet lebt, also Teil der Zivilbevölkerung ist. Das haben wir hier im Deutschen Bundestag
zum ersten Mal in aller Deutlichkeit am 20. Mai 1999
festgestellt.
({4})
Am 11. Juni 1999 und am 28. Juni 2000 haben wir das
wiederholt. Wir haben den Verteidigungsausschuss am
21. April, am 12. Mai, am 19. Mai und am 8. September
1999 darüber informiert.
Dann wird behauptet, die Truppe sei nicht ordentlich
informiert worden. Die Truppe ist am 10. Juni 1999, also
vor Einrücken in den Kosovo, belehrt worden. Das war in
einer Zeit, in der wir noch nicht wussten, ob - geschweige
denn in welchem Gebiet und in welchem Umfang - solche Munition eingesetzt werden könnte. Wir hatten keine
offizielle Information, aber eine Reihe von Hinweisen
durch Gespräche am Rande von NATO-Tagungen und
durch den einen oder anderen Brief, der bei uns eingegangen ist.
Am 11. Juni 1999 wurde mit dem Einrücken begonnen
und am 12. Juni 1999 wurde es durchgeführt. Am 14. Juni
1999 ist ein entsprechender Befehl zur Vorsorge erlassen
worden, der ausdrücklich auch auf das Problem der DUMunition hinweist. Diese Befehle sind im Zuge der Informationen, die im Bundesministerium der Verteidigung
eingegangen sind, ergänzt und erweitert worden, nämlich
am 2. Juli, am 5. Juli, am 15. Juli, am 3.August, am 9. September 1999 usw., usw.
({5})
- Herr Kollege Breuer, Sie versuchen, der Öffentlichkeit
und damit leider auch den Soldaten zu suggerieren, es
seien nicht regelmäßig und sofort alle Erkenntnisse umgesetzt worden, die im Bundesministerium der Verteidigung deswegen eingingen, weil wir entweder danach gefragt haben oder weil andere sie an uns weitergegeben
oder an uns herangetragen haben. Dazu sage ich: Das ist
eine böswillige, durch keine einzige Tatsache belegte Unterstellung.
({6})
Der Bundesminister der Verteidigung hat im Oktober
1999 - im Übrigen als Einziger im Bündnis - ein unabhängiges Institut beauftragt, das zu untersuchen, was Sie,
Frau Kollegin Buntenbach, hier gefordert haben. Dies ist
also schon geschehen.
({7})
Die Gesellschaft für Umwelt und Gesundheit hat auf der
Grundlage der Informationen, die wir von der NATO hatten, fünf Stellen innerhalb des Kosovo, an denen sicher
DU-Munition eingesetzt worden ist, identifiziert. Es wurden regelmäßig die Strahlung gemessen, Bodenproben
genommen, die Nahrungsmittelkette untersucht, mit dem
Ergebnis - das übrigens auch im Ausschuss berichtet worden ist; Sie könnten das also wissen; ich hoffe auf gute Information in Ihrer Fraktion -, dass im April 2000 Strahlung nicht mehr feststellbar war.
Ich habe in diesem Zusammenhang mehrfach darauf
aufmerksam gemacht - und tue das hiermit erneut -, dass
damit das Risiko einer Wirkung von Uran als Schwermetall nicht völlig ausgeschlossen ist. Die fünf erwähnten
Stellen sind identifiziert und abgesperrt, für die Bevölkerung unzugänglich gemacht worden. Zusätzlich ist darauf
aufmerksam gemacht worden, dass bei Annäherung an
diese Stellen oder Arbeiten innerhalb dieses Bereiches
ABC-Schutzanzüge und Atemmasken zu tragen sind.
Dies ist übrigens eine Vorschrift, die seit dem 14. Juni
1999 besteht und bei regelmäßigen Belehrungen im Kontingent, bei der Vorbereitung und während des Einsatzes,
wiederholt wird. Auf der Grundlage von im November 2000 eingegangenen Informationen der Umweltorganisation der Vereinten Nationen werden weitere Stellen zu
untersuchen sein.
Ich fasse zusammen: Alle Informationen, die uns zugänglich waren oder an die wir herankommen konnten,
sind sofort in entsprechende Maßnahmen umgesetzt worden. Sie betreffen das Thema der radioaktiven Wirkung
von abgereichertem Uran und sie betreffen die Wirkung
von Uran als Schwermetall.
Ich will dann noch darauf hinweisen, Frau Kollegin
Buntenbach, dass wir - wiederum als Einzige innerhalb
der NATO und im Übrigen aus eigenem Antrieb und unter Hinzuziehung von externen, unabhängigen Sachverständigen - nicht nur diese Untersuchung eingeleitet
haben, sondern auch die Untersuchung derjenigen Soldaten, die in der Nähe der Flächen eingesetzt worden waren,
zum Beispiel als Pioniere mit Erdarbeiten. Diese Soldaten
sind mit einer Kontrollgruppe - Soldaten, die nicht auf
dem Balkan eingesetzt worden sind - verglichen worden.
Deren Ergebnisse wiederum sind verglichen worden mit
einer weiteren Personengruppe - „gleichaltrige männliche Bevölkerung“; das hat alles die Gesellschaft für Umwelt und Gesundheit gemacht -, mit dem Ergebnis, dass
es keine Abweichung der Untersuchungsergebnisse zwischen diesen drei Personengruppen gibt: erstens im KoBundesminister Rudolf Scharping
sovo unmittelbar in der Nähe möglicherweise kontaminierter Flächen eingesetzte Soldaten, zweitens nicht im
Kosovo eingesetzte Soldaten, drittens Zivilbevölkerung.
Ich frage in allem Ernst, Herr Kollege Nolting: Macht
es angesichts dieser Tatsache - wenn also unmittelbar neben möglicherweise kontaminierten Flächen eingesetzte
Soldaten keine Auffälligkeiten aufweisen - Sinn, 70 000
Menschen per Anordnung zu untersuchen?
({8})
- Augenblick! Macht es nicht mehr Sinn, zu sagen, jeder,
der sich in irgendeiner Weise subjektiv verunsichert und
beschwert fühlt,
({9})
hat im Rahmen der freien Heilfürsorge Anspruch auf die
Untersuchungen und wird sie auch bekommen?
({10})
Genau das tun wir.
({11})
- Wieso denn „Jetzt auf einmal!“?
({12})
Das habe ich mehrfach öffentlich gesagt. Und was die
Nichtregierungsorganisationen und die Bevölkerung angeht: Diese Informationen sind im Rahmen der üblichen
Gefahrenbesprechungen, die in regelmäßigen Briefings
im Einsatzgebiet stattfinden, auch an die Nichtregierungsorganisationen weitergegeben worden.
({13})
Herr
Minister, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Ihre Redezeit überschritten ist.
Ich weiß, dass die Überschreitung von Redezeit eine gewisse Konsequenz für Ihr Verfahren hat. Aber ich möchte
zu dem aktuellen Punkt trotzdem noch kurz etwas sagen,
Herr Präsident.
Wenn Sie
noch länger reden, hat die Opposition das Recht, in eine
allgemeine Debatte einzusteigen.
Gut, dann will ich unter Inkaufnahme dieses Risikos - wenn es denn eines wäre - auf etwas aufmerksam
machen.
({0})
- Dass die Diskussion in eine allgemeine Debatte überführt wird, ist doch kein Risiko.
({1})
Darüber müssten Sie sich doch eher freuen.
Im Zusammenhang mit Informationen - von denen ich
zum ersten Mal am Montagabend dieser Woche gehört
habe -, dass wegen des Auffindens von Uran 236 möglicherweise die Frage auftaucht, ob Transurane - das ist
nicht nur Plutonium - als Spuren in dieser Munition vorhanden sein könnten, habe ich unmittelbar veranlasst, erneut Bodenproben im Kosovo zu nehmen und sie daraufhin zu untersuchen. Ich habe unmittelbar veranlasst, dass
die aus der Untersuchung der Soldaten und der Kontrollgruppen noch vorhandenen Proben ebenfalls daraufhin
untersucht werden, und zwar durch dasselbe Institut, das
dies vorher getan hat.
Schließlich - in der Hoffnung, dass ich Ihre Aufmerksamkeit bei einem durchaus ernsten Thema noch einen
kurzen Moment beanspruchen darf - habe ich gesagt und dabei komme ich auf meine Eingangsbemerkung
zurück -: Es ist nicht vertretbar, dass unter dem Mantel
der nationalen Verantwortung für den Einsatz eines militärischen Mittels oder einer Munition innerhalb des
Bündnisses unterschiedlich informiert wird. Wir werden
dem nachgehen. Das war der Grund, weshalb wir den Geschäftsträger zu einem Gespräch einbestellt und die Ihnen
bekannten Erwartungen formuliert haben.
Nun wird dieses Thema noch zusätzlich mit etwas
anderem vermischt. Das hat etwas mit Fragen zu DU-Versuchen zu tun. Hier muss ich mich zunächst auf das verlassen, was die damalige Bundesregierung dem Deutschen Bundestag 1995 und 1997 mitgeteilt hat. Es muss
untersucht werden, ob diese Information komplett gewesen ist.
Schließlich möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass dies auch für zum Teil jahrzehntelang zurückliegende Vorgänge im Zusammenhang mit Röntgenstrahlung oder anderem gilt. Ich habe deshalb heute einen
entsprechenden Arbeitsstab mit dem Ziel eingesetzt,
({2})
20, 30 Jahre zurückliegende Vorgänge - zum großen Teil
in Ihrer politischen Verantwortung - sorgfältig untersuchen zu lassen und alle Fakten zu der Frage zu erheben,
wie es eigentlich mit der Röntgen-, nicht Radarstrahlung
ist, die offenkundig schädlich gewirkt hat, alle Fakten zu
erheben, die mit der Erprobung von DU-Munition durch
Firmen in Deutschland zu tun haben, alle Fakten zu erheben, die - zum größten Teil in Ihrer Regierungszeit - eine
Rolle spielen. Ich werde dem langjährigen Mitherausgeber und Herausgeber der „Zeit“ und stellvertretenden Vorsitzenden der Weizsäcker-Kommission, Herrn Dr. Theo
Sommer, die Leitung dieses Arbeitsstabes übertragen,
weil ich sehr gerne die Verantwortung für das übernehme,
was in meiner Amtszeit geschieht oder nicht geschieht.
Ich bin aber nicht bereit - das sage ich auch hier
im Deutschen Bundestag -, die Verantwortung dafür zu
übernehmen, dass 1995 oder 1997 möglicherweise
falsche Informationen gegeben worden sind.
({3})
Ich bin nicht bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass es möglicherweise in den 60er-, 70er-Jahren,
unter welcher Regierungsverantwortung auch immer, aufgrund mangelnder technischer Kenntnisse oder aufgrund
anderer Umstände - das wird aufzuklären sein - einen unzureichenden Schutz an Radargeräten gegeben hat, der
Röntgenstrahlung und Exposition mit Röntgenstrahlung
ausgelöst haben mag und offenbar ausgelöst hat.
Ich bin auch nicht bereit, die Verantwortung dafür zu
übernehmen, dass bis Dezember 1997 in Kenntnis des
Einsatzes von DU-Munition in Bosnien und Herzegowina
in den Jahren 1996 und 1997 spezifisch bezogen auf DUMunition keine einzige Entscheidung getroffen worden
ist, obwohl es geboten gewesen wäre. Ich bin auch nicht
bereit, mir einen Vorwurf anzuhören, der letzten Endes
eher auf die Diskreditierung des Ministers denn auf sachliche Aufklärung hinausläuft.
({4})
Wir haben ganz im Gegensatz zu manchen anderen Debatten sorgfältig, auch auf der Grundlage eines als gering
eingeschätzten Risikos, auf der Grundlage von Hinweisen
- nicht immer von offiziellen Informationen - alle diese
Maßnahmen eingeleitet.
Wir werden auch in Zukunft alles tun, was zum Schutz
von Gesundheit und körperlicher Unversehrtheit der Soldaten und übrigens auch der im Kosovo lebenden Zivilbevölkerung notwendig ist und was nach unabhängigem
Rat von Medizinern und Wissenschaftlern entsprechend
vorgeschlagen wurde. Das haben wir in der Vergangenheit
getan und werden es auch in Zukunft tun.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Herr Bundesminister
Rudolf Scharping hat deutlich länger als zehn Minuten
gesprochen. Die Fraktion der F.D.P. stellt den Antrag,
nach Anlage 5 Nr. 7 Abs. 2 in Verbindung mit § 44 Abs. 3
unserer Geschäftsordnung über die Aktuelle Stunde hinaus eine allgemeine Aussprache über die Ausführungen
des Herrn Bundesministers durchzuführen.
Die Geschäftsführer haben vereinbart, dass diese Aussprache eine halbe Stunde dauern soll. Die Zeitverteilung
in dieser halben Stunde entspricht der üblichen Zeitverteilung bei allgemeinen Aussprachen.
({0})
- Das ist nach unserer Geschäftsordnung so beantragt
worden. Sie können es gerne nachlesen. Das ist so.
Als erster Redner in der allgemeinen Aussprache hat
der Kollege Paul Breuer das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem ich Herrn Minister Scharping
gehört habe, muss ich Ihnen, Herr Minister - er sitzt jetzt
auf der Abgeordnetenbank -, Folgendes sagen: Es gibt offenbar einen Scharping aus der vergangenen Woche und
einen Scharping aus dieser Woche. In der vergangenen
Woche haben Sie in allen deutschen Fernsehanstalten und
in allen deutschen Zeitungen den Eindruck zu erwecken
versucht - dafür haben Sie Leute vor die Kamera geschickt -, dass das uranabgereicherte Material in der Munition ungefähr so gefährlich sei wie das Badewasser in
Hofgastein. Das waren Aussagen, die in Ihrem Auftrag
gemacht worden sind.
Wenn ich Sie heute höre, dann habe ich das Gefühl, Sie
wollen den Eindruck erwecken, Sie hätten jederzeit versucht, auf die Gefahren der DU-Munition hinzuweisen.
Das haben Sie nicht. Sie haben abgewiegelt.
({0})
Nun schaue ich mir die Rollenverteilung in der Koalition an.
({1})
Die Grünen tun so, als hätten sie schon immer darauf hingewiesen.
({2})
- Das haben Sie gemacht? - In Ordnung, dann möchte ich
aber Folgendes zitieren. Ich beziehe mich auf die Sendung
„Monitor“ vom 22. April 1999. Aussage: „Die Gefährlichkeit von Uran-Munition ist umfassend dokumentiert.“ So die Redaktion. „Nur der grüne deutsche Außenminister Joschka Fischer will dies offenbar nicht wahrhaben.“
Auf Anfrage schrieb er noch vor zwei Wochen - das ist
jetzt ein Zitat von Joschka Fischer -:
Dem Auswärtigen Amt ist bekannt, dass solche Munition im Kosovo-Konflikt zum Einsatz kommen
kann. ... Es ist jedoch davon auszugehen, dass Gefährdungen der von Ihnen beschriebenen Art für
Mensch und Umwelt nicht auftreten.
Heute versuchen Sie den Eindruck zu erwecken, Sie
hätten es immer gewusst und sich entsprechend eingesetzt. Sie sind in dieser Bewertung noch nicht einmal bis
zu Ihrem eigenen Außenminister vorgedrungen. Das ist
die Realität in dieser Bundesregierung.
({3})
Ein weiterer Punkt: Herr Scharping, der offenbar für
nichts verantwortlich ist - das sind bei ihm immer die Vorgänger gewesen; ich bin überzeugt, dass er notfalls noch
Anleihen bei Bismarck macht -, wollte uns glauben machen, es sei der Minister Rühe gewesen, der nichts veranBundesminister Rudolf Scharping
lasst habe. Ich habe Ihnen das gestern in der Ausschusssitzung - was ich selbst sage, kann ich auch öffentlich vortragen - widerlegt und bewiesen, dass Sie selbst der Meinung waren, Herr Rühe habe etwas veranlasst.
Im März 2000 haben Sie auf eine Anfrage der PDS,
welche Maßnahmen unternommen werden, um die Bundeswehrsoldaten vor einer Kontaminierung mit DU-Munition zu schützen, gesagt: Für den Umgang mit den von
DU-Munition getroffenen Fahrzeugen bzw. DU-Munitionsfunden sind bereits 1997 Regelungen getroffen worden. Das betraf einen Zeitpunkt, zu dem Rühe Verteidigungsminister war.
Herr Scharping, es geht um Folgendes: Welche Verantwortung haben Sie getragen - nicht Ihre Vorgänger - und
welche Verantwortung hat der deutsche Außenminister
getragen? Sie müssen endlich einmal kapieren, dass Sie in
der Regierung sind und dass Sie - Herr Scharping hat ja
sogar ein Kriegstagebuch geschrieben; er hat sich in der
deutschen Öffentlichkeit als Feldherr aufgespielt - für
diesen Krieg sowie für alles, was getan bzw. nicht getan
worden ist, die Verantwortung haben. Um nichts anderes
geht es.
({4})
Herr Scharping - es wäre gut, wenn man Ihr geneigtes
Ohr einmal erreichen könnte -, ich werfe Ihnen überhaupt
nicht vor, dass Sie zum damaligen Zeitpunkt Soldaten
leichtfertig in Krisengebiete geschickt haben.
({5})
Damit das völlig klar ist: Ich werfe Ihnen das nicht vor.
Was ich Ihnen aber vorwerfe, ist: Sie stellen sich vor die
deutsche Öffentlichkeit und vor die Soldaten, denen gegenüber Sie zur Fürsorge verpflichtet sind,
({6})
und versuchen mit Ihrer Haltung - das war bis letzte Woche noch so - „Liebe Leute, worüber regt ihr euch überhaupt auf? Warum macht ihr von der Presse, der Öffentlichkeit und der Opposition eine solche Hysterie?“ den
Eindruck zu erwecken, Sie hätten zu allen Zeiten alles im
Griff gehabt.
Ich will Ihnen eines sagen: Wenn es um derartige Geschichten geht - auch ich kenne die Gefährlichkeit nicht -,
wäre ich im Herausblasen solch großer Sprüche etwas
vorsichtiger als Sie, da es hier um Fürsorge geht.
({7})
Es geht um nichts anderes. Wenn die Soldaten im Kosovo
jetzt noch betonen, sie hätten nicht die richtigen Anweisungen, sieht man, welches Versagen mit Ihrer Person verbunden ist.
({8})
Psychologische Führung ist ein wesentliches Element.
Als die Diskussion bei unseren Verbündeten zwischen
Weihnachten und Neujahr - sie wurde ja auch vorher
schon geführt - begann, war weder vom Verteidigungsministerium noch von Scharping persönlich etwas zu
hören. Es war gar nichts zu hören.
({9})
Ich habe direkt nach dem Jahreswechsel im Verteidigungsministerium angerufen und gefragt: Was wird denn
eigentlich gemacht? Die im Bereich der Verbündeten geführte Diskussion war noch gar nicht wahrgenommen
worden. Der Zwischenbericht, der dem Verteidigungsausschuss im Juli des vergangenen Jahres hätte vorgelegt
werden sollen, lag dem Ausschuss bis zum damaligen
Zeitpunkt nicht vor. Ich habe dann dafür gesorgt, dass wir
ihn bekommen haben. Ich habe ihn öffentlich bekannt gemacht, aber nicht um zu desinformieren, sondern um zu
informieren.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Was Sie nicht verstanden haben, Herr Kollege Scharping,
ist Folgendes: Die Diskussion und die Debatte wurden bei
den Alliierten in Europa geführt. Sie haben den Eindruck
erweckt, alles sei ungefährlich, und sich zunächst einmal
eine Woche lang überhaupt nicht geäußert. Danach haben
Sie diejenigen, die dazu beigetragen haben, dass die deutsche Öffentlichkeit und die Ihnen anvertrauten Soldaten
informiert werden, als diejenigen beschimpft, die Hysterie entfacht hätten. Das ist der Fehler, den Sie gemacht haben. Das ist unverantwortlich und das kann man nicht zulassen.
({0})
Die Untersuchungen, die heute vorgenommen werden,
haben Sie nicht aus eigenem Antrieb veranlasst, sondern
weil Druck vonseiten der Opposition und der Öffentlichkeit kam.
({1})
Sie haben den amerikanischen Botschafter aus Not zu sich
gerufen und nicht deshalb, weil Sie die Lage im Griff haben. Das nimmt Ihnen die deutsche Öffentlichkeit nicht
ab.
Herr Kollege Breuer, Ihre Redezeit ist mehr als abgelaufen. Ansonsten müsste Ihnen Ihre Fraktion mehr Redezeit einräumen.
Herr Präsident, vielen
Dank. - Ich muss dazu allerdings Folgendes sagen: Die
Art und Weise, wie Herr Scharping mit Redezeiten umgeht, offenbart einiges darüber, wie er auch mit anderen
Dingen umgeht.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Rudolf
Scharping das Wort.
Ich denke, dass die Kolleginnen und Kollegen der Opposition dafür Verständnis
haben, dass man wenigstens den Versuch macht, auf pauschale und nicht belegte Vorwürfe mit Tatsachen zu antworten.
Erstens. Ich habe am 10. Januar 2001 mit einer Reihe
unabhängiger Wissenschaftler - darunter waren auch anerkannte Arbeitsmediziner - der Universitäten Köln,
Bonn und Mainz zusammengesessen, die sich mit Nuklearmedizin beschäftigen. Ich verzichte mit Rücksicht auf
die Zeit, alle Namen vorzulesen. Ich habe im Rahmen einer Pressekonferenz darauf aufmerksam gemacht, dass
ich manche, längst nicht alle Berichte für fahrlässig halte
und dass ich es für ein Problem halte - das ist auch unverändert meine Meinung -, dass der Verdacht und die unbewiesene Behauptung öffentlich einen höheren Stellenwert bekommen als die Tatsachen, die zum Teil im
Deutschen Bundestag, in Pressekonferenzen und in den
Sitzungen des Verteidigungsausschusses weitergegeben
worden sind. Das betrifft, wie gesagt, einige, nicht die
Mehrheit. Von diesem Urteil habe ich leider nichts abzustreichen.
Zweitens. Herr Kollege Breuer, welcher öffentliche
Druck sollte mich denn im Oktober 1999 veranlasst haben, vorsorglich die Untersuchungen einzuleiten, die eingeleitet worden sind?
({0})
- Wir haben die erwähnten Anfragen im Deutschen Bundestag beantwortet. Wir haben - ich wäre dankbar, wenn
Sie das in Zukunft in Ihre Beurteilung einbeziehen könnten - schon im Mai 1999 - ich betone: von uns aus - auf
das toxische Risiko der Munition hingewiesen.
Die Debatte - auch dazu stehe ich unverändert - erreicht in dem Augenblick, in dem der Verdacht auftaucht,
dass auch Transurane in der DU-Munition vorhanden sein
könnten - selbst wenn es sich nur um geringste Spuren
handeln sollte -, schon wegen der öffentlichen Sensibilität, aber vor allen Dingen auch wegen der damit verbundenen Risiken eine andere Ebene. Dann muss man
sich anders verhalten, selbst um des Risikos willen, dass
es im Verhältnis mit den USA die eine oder andere diplomatische Verstimmung gibt. Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, dass es im Bündnis unterschiedliche Informationen über mögliche Folgen des Einsatzes von Munition
eines Bündnispartners bei gemeinsam zu tragender Verantwortung und bei gemeinsam zu tragendem Risiko gibt.
Das werde ich nicht hinnehmen.
({1})
Herr Kollege Breuer, Sie haben das Recht zu erwidern.
Um direkt darauf einzugehen: Herr Kollege Scharping, der Zwischenbericht über
die Untersuchungen der GSF, den Sie für Juli 2000 Jahres
zugesagt hatten und der den Verteidigungsausschuss erst
im Januar 2001 erreicht hat, nachdem wir insistiert hatten,
enthielt nicht nur den Hinweis darauf, dass die Untersuchung von 118 Soldaten - in meinen Augen sind das viel
zu wenige - notwendig sei - der Kollege Scharping hört
nicht zu; es ist ohnehin schon seltsam, dass Sie nicht auf
der Regierungsbank sitzen; ich denke, Herr Scharping,
Sie wissen derzeit nicht genau, wo Sie hingehören; entweder gehören Sie auf die Regierungsbank oder in die
Fraktionsreihen, was am besten wäre -,
({0})
sondern auch die Empfehlung, Boden- und Trinkwasserproben zu nehmen. Das ist auf Ihre Initiative hin ein halbes Jahr nicht geschehen. Wenn Sie jetzt auf einmal - im
Übrigen: 14 Tage später als die Alliierten - Experten in
das Kosovo schicken, dann weist das darauf hin, dass Sie
im falschen Film waren und die Entwicklung in Deutschland und in Europa 14 Tage lang völlig verschlafen haben.
Erwecken Sie hier nicht den Eindruck, als ob Sie immer
auf der Höhe der Zeit gewesen wären. Ich weise Ihnen
nach, dass das nicht der Fall war.
({1})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Hans Peter
Bartels von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Breuer, es nützt niemandem, am
wenigsten den eingesetzten Soldaten und der Zivilbevölkerung, wenn bei diesem schwierigen Thema Sachlichkeit durch Polemik ersetzt wird.
({0})
Wir diskutieren hier über Tatsachen und über Tatsachenbehauptungen, die Sie gern belegen können, wenn
Sie finden, Sie seien nicht rechtzeitig informiert worden.
Nach meiner Kenntnis hat Staatssekretär Kolbow - es
muss nicht immer der Minister sein - den Verteidigungsausschuss bereits zu dem von Ihnen gewünschten Zeitpunkt informiert.
({1})
Es geht also um Tatsachen, Tatsachenbehauptungen, Spekulationen, Vorwürfe und Meinungen, die vielleicht nicht
immer leicht auseinander zu halten sind.
({2})
Behauptet wird - wir kommen zu einigen Aspekten,
die hier vielleicht noch keine so große Rolle gespielt haben, aber mit der Sache zu tun haben -, amerikanische
DU-Munition habe bei Soldaten alliierter Kosovo-Kontingente Leukämie ausgelöst. Das ist unwahrscheinlich.
Die UNEP bestätigt das, auch im Hinblick auf die Zivilbevölkerung. Mediziner sagen, Strahlung könne zwar
Leukämie auslösen, aber bei weitem nicht so schnell und
wohl auch nicht bei so geringer und so kurzzeitiger Strahlung. Der bisher gemeldete eine an Leukämie erkrankte
deutsche Soldat war übrigens in Mostar stationiert. Dort
hat es keinen DU-Einsatz gegeben.
Am Montag dieser Woche fand eine Sitzung der Sanitätsinspekteure der NATO in Brüssel statt. Das Ergebnis: Eine Verbindung zwischen abgereichertem Uran und
den in den Medien berichteten Erkrankungen konnte weder durch die dort vorgestellten epidemiologischen Daten
der eingesetzten NATO-Soldaten noch durch die in der
wissenschaftlichen Fachliteratur veröffentlichten Erkenntnisse festgestellt werden. Es sollen weitere wissenschaftliche Studien auch von unabhängiger Seite durchgeführt werden, durch die die Ursachen für die zum Teil
unspezifischen Symptome gefunden werden sollen, die
bei einigen Soldaten verbündeter Streitkräfte nach dem
Einsatz auf dem Balkan - wie auch nach anderen Auslandseinsätzen - in der Tat aufgetreten sind. Das ist doch
alles andere als Abwiegelung, Herr Nolting. Das ist ein
Beitrag nicht nur Deutschlands, sondern auch der NATO
zur Aufklärung.
({3})
- Schönen Dank!
Die Chefs der Sanitätsdienste haben beschlossen, eine
Arbeitsgruppe „Präventivmedizin“ damit zu beauftragen,
die notwendigen Daten zusammenzufassen und zu bewerten. Ein Bericht dazu soll bis Mai 2001 vorgelegt
werden. Natürlich wollen die Sanitätsdienste der NATO
- durch diese Diskussion sicherlich aufgeschreckt - in
Zukunft noch enger zusammenarbeiten, sodass wir nicht
nur auf unsere Erkenntnisse zurückgreifen können, sondern auch auf die der anderen befreundeten Nationen.
Behauptet wird auch, der deutsche Verteidigungsminister habe irgendetwas irgendwie verzögert, er habe zu
spät informiert oder reagiert. Nun spricht Rudolf
Scharping manchmal mit einer eindrucksvollen Bedächtigkeit; aber gehandelt hat er sehr schnell.
({4})
Ich erinnere an seine Weisungen vom 14. Juni 1999, vom
2. Juli 1999, vom 15. Juli 1999 und an den Erlass vom
21. Juli 1999. Das geschah alles unmittelbar in der Phase
vor und während des Einrückens in das Kosovo. DU war
damals noch gar kein so interessantes öffentliches Thema
wie heute; aber der Minister hat die mögliche Gefährdung
des deutschen Einsatzkontingents ernst genommen und
angemessene Vorkehrungen treffen lassen. Ich sage
„mögliche Gefährdungen“; denn offiziell wusste die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, ob DUMunition eingesetzt worden war.
({5})
Offiziell ist das erst später mitgeteilt worden. Aber natürlich oblag ihm eine Fürsorgepflicht, die er wahrgenommen hat.
Zu den Sicherheitsmaßnahmen für die Soldaten kommt
seit Oktober 1999 eine kontinuierliche Gesundheitsüberwachung der im Umfeld von DU-Fundorten eingesetzten
Soldaten hinzu. Sogar die Atemluft im Feldlager wurde
gemessen - ohne Befund. Selbstverständlich wird dem
neuesten Verdacht - Plutonium - sofort nachgegangen.
Auch darauf wird der Urin der Soldaten untersucht. Das
geschieht nicht, weil es so sein muss, dass das eine neue
große Gefahr ist, sondern weil wir wirklich jedem Hinweis nachgehen sollten. Was mehr hätte getan werden
können? Was mehr kann getan werden? Sagen Sie es
doch!
({6})
Behauptet wird dennoch, Bundeswehrsoldaten seien
einige Zeit der toxischen, chemischen Wirkung, also nicht
der Strahlungswirkung, von Uranoxid schutzlos ausgesetzt gewesen. Das ist so wohl nicht richtig. Beim Eintreffen im Einsatzgebiet war den Soldaten befohlen, wie
zum Beispiel mit den DU-getroffenen Panzerwracks umzugehen ist. Diese Wracks sind im deutschen Sektor gemessen, gekennzeichnet und abgesperrt worden. Das war
übrigens beim deutschen IFOR-/SFOR-Kontingent ab
1996 nicht der Fall.
({7})
Da wurde nicht gemessen.
Ich will daraus keinen Vorwurf machen; vielmehr will
ich nur feststellen: Auch damals war um Sarajevo DUMunition eingesetzt worden, 11 000 Schuss. Das ist kein
Vorwurf; aber auch das gehört zum Komplex DU und
Bundeswehr.
({8})
Was mir aber mindestens so problematisch wie DU erscheint, ist die fortgesetzte Gefährdung der Zivilbevölkerung durch nicht weggeräumte Waffen- und Munitionsreste, Minen, Blindgänger usw., worüber selten gesprochen
wird. Aber das ist eine real fortdauernde Gefahr.
({9})
Diese Hinterlassenschaften des Krieges müssen jetzt beseitigt werden, und zwar nicht nur im deutschen Sektor.
Das schließt DU-Reste ein. Die Bevölkerung im Kosovo
und auch in Bosnien muss sich darauf verlassen können,
dass die Waffenwirkungen des Krieges vorbei sind.
Es ist erstaunlich, wie sehr sich die Diskussion der letzten Tage auf potenzielle Gefahren für Soldaten, noch dazu
für deutsche Soldaten, konzentriert hat. Wir müssen alle
Besorgnisse ernst nehmen, nachfragen und aufklären,
nicht nur dann, wenn es um Deutsche geht. Wir haben
auch einen Teil Verantwortung für Gesundheit und Zukunft der Bevölkerung im Kosovo übernommen.
({10})
Für deren Überleben hat die NATO einen Luftkrieg geführt; für deren Sicherheit sind die KFOR-Soldaten jetzt
dort stationiert.
({11})
Lassen Sie uns das Wesentliche nicht aus dem Blick verlieren!
Schönen Dank.
({12})
Als
nächster Redner hat der Kollege Günther Nolting von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Minister, wir haben es
nicht anders erwartet, als dass das, was Sie heute vorgetragen haben, so kam, wie es kam: dass Sie nämlich die
Verantwortung ablehnen und auf die Vergangenheit verweisen. Aber Sie tragen nun Verantwortung und haben
jetzt die Probleme, die Sie 16 Jahre lang haben wollten.
({0})
Sie haben die Probleme nicht erkannt.
({1})
Ich billige Ihnen ja zu, dass Sie, wie Sie es gestern erklärt
haben, einen wohlverdienten Urlaub gemacht haben. Er
sei Ihnen gegönnt.
Herr Kollege Nolting, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Scharping?
Darf ich diesen
Gedanken noch zu Ende führen? Vielleicht löst sich dann
schon einiges auf.
Bitte
schön.
Sie haben dann
gesagt, dass Sie unmittelbar nach Ihrem Urlaub Maßnahmen ergriffen hätten. Aber sagen Sie mal: Ist Ihr Haus
kopflos, wenn Sie im Urlaub sind? Ist dann niemand mehr
da, der Verantwortung trägt? Was haben in dieser Zeit die
Staatssekretäre gemacht?
Sie haben auch heute wieder, Herr Kollege Bartels, abgewiegelt.
({0})
Herr Minister, Sie haben in der letzten Woche erklärt,
nach allen wissenschaftlichen Erkenntnissen und aller
medizinischer Erfahrung sei das Strahlenrisiko vernachlässigbar. Gestern haben Sie im Verteidigungsausschuss
gesagt, das Risiko durch Strahlung sei gleich Null. Jetzt
brechen Sie plötzlich in Hektik aus, jetzt werden Kommissionen gegründet
({1})
- doch, ich verstehe es - und jetzt gehen Sie in die Offensive.
({2})
Sie tun dies wohl deshalb, weil Sie unter Druck geraten,
und zwar nicht nur unter den Druck der Medien und der
Opposition, sondern auch unter Druck aus den eigenen
Reihen.
({3})
Herr Kollege Nachtwei, Ihr Koalitionspartner,
({4})
verwandte den Begriff „eine sehr fahrlässige Verharmlosung“. Damit hat er Sie gemeint.
({5})
Aus dem Kanzleramt heißt es: „katastrophales Krisenmanagement“ und „miserable Informationspolitik“.
({6})
Die Vorsitzende der Ethikkommission, Margot von
Renesse, SPD, fordert einen Untersuchungsausschuss.
Der Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer,
({7})
Ihr Kollege, Ihr Genosse, wirft dem Ministerium schwerwiegende Versäumnisse bei der Aufklärung der Verdachtsmomente gegen die Uranmunition vor. Ich könnte
noch andere Kollegen zitieren. Aber ich möchte zum Abschluss die Fraktionsvorsitzende der Grünen zitieren:
„Ich bin der Ansicht, dass der Verteidigungsminister hier
leider etwas zu defensiv war“.
Herr Kollege Nolting, wollen Sie nun die Zwischenfrage genehmigen oder nicht?
Ja.
Bitte
schön, Herr Kollege Scharping.
Herr Kollege Nolting,
könnten Sie mir bitte den Unterschied zwischen den Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der im Februar 1997
entstandenen Kenntnis des Einsatzes von DU-Munition in
Bosnien-Herzegowina stehen, und den Maßnahmen erläutern, die seit Juni 1999 zum Teil in Unkenntnis des präzisen Einsatzes - es gab nur Vermutungen - im Zusammenhang mit DU-Munition getroffen worden sind?
Herr Minister,
ich habe Sie auf das aufmerksam gemacht, was Sie in den
letzten Tagen in der Öffentlichkeit vorgetragen haben,
nämlich dass kein Risiko bestehe. Dies haben Sie im Ausschuss wiederholt.
({0})
Ich hätte gern von Ihnen den Widerspruch aufgeklärt,
warum Sie auf der einen Seite sagen, es gebe kein Risiko,
auf der anderen Seite hier jetzt aber in Hektik ausbrechen,
weil Sie wissen, dass Sie unter Druck geraten.
Herr Kollege Nolting, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des
Kollegen Scharping?
Nein, ich glaube, das bringt nichts.
({0})
Herr Minister, gehen Sie auf die Fragen ein, die ich
vorhin in meinem Redebeitrag gestellt habe. Das wäre
sehr hilfreich.
Herr Minister, Sie wissen, dass andere auf diese Gefahren sehr frühzeitig aufmerksam gemacht haben: Klaus
Töpfer hat gesagt, alle Orte, in denen DU-Munition einschlug, müssen markiert, gesperrt, untersucht und gesäubert werden. Der IAEO-Chef hat gesagt, Menschen, die in
Kontakt mit derartigen Waffen gekommen sind, müssen
untersucht werden.
Deswegen wiederhole ich für die F.D.P. die Forderung - Sie haben dies in Ihrem Redebeitrag vorhin abgelehnt -, dass eingehende medizinische Untersuchungen
aller im Ausland eingesetzten Bundeswehrangehörigen
auf etwaige Gesundheitsrisiken durchgeführt werden.
Stichproben oder das, was Sie vorgeschlagen haben, nämlich dass derjenige, der sich betroffen fühlt, untersucht
werden soll, reichen aus unserer Sicht nicht aus. Ich denke
auch, dass bezüglich der dort lebenden Zivilbevölkerung
- das habe ich vorhin schon gefordert - mehr getan werden muss. Das sind weiter gehende Forderungen, die wir
stellen. Ich fordere Sie auf, dem wirklich nachzugehen.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile
zu einer weiteren Kurzintervention dem Kollegen Rudolf
Scharping das Wort.
Herr Kollege Nolting, ich
möchte auf zwei Dinge hinweisen, nachdem ich dazu im
Rahmen einer Zwischenfrage leider keine Gelegenheit
bekommen habe.
Nachdem im Februar 1997 am Rande einer NATOArbeitstagung erste Informationen über die Verwendung
von DU-Munition in Bosnien bekannt geworden sind,
sind im Bundesministerium der Verteidigung bis April
1997 fachliche Bewertungen vorgenommen worden. Man
hat dann im Dezember 1997 festgehalten, dass früher erlassene Vorschriften im Zusammenhang mit Strahlenkontaminationen aus zerstörten Industrieanlagen etc. als ausreichend angesehen werden könnten.
Das unterscheidet sich insofern vollständig von dem,
was seit Juni 1999 unternommen worden ist, als das Bundesministerium der Verteidigung im Juni 1999 wesentlich
erweiterte Befehle gegeben hat, ABC-Schutztrupps eingesetzt hat und im Herbst 1999 eine Untersuchung betreffend Boden, Ernährungswege, eingesetzte Soldaten
eingeleitet hat.
Sie können mir vorwerfen, dass Sie den Zwischenbericht im Sommer 2000 nicht bekommen haben, ebenso
wie die Naivität, zu glauben, dass der mündliche Vortrag
des Parlamentarischen Staatssekretärs Kolbow im Verteidigungsausschuss ausreichend war. Das haben Sie mir
nicht im Sommer 2000 vorgehalten; das halten Sie mir
jetzt vor. Das ist ganz interessant.
Im Übrigen möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie in der gesamten Zeit der regelmäßigen Berichterstattung seit Mai 1999 nicht einen einzigen Vorschlag dazu gemacht haben, was zusätzlich getan werden
könnte.
({0})
Wenn Sie sagen, dass man im Zusammenhang mit einer öffentlichen Diskussion, in der jetzt auch noch das
Stichwort Plutonium aufgetaucht ist, schnell und entschlossen handeln muss, dann nehme ich das für die
Regierung, für das Verteidigungsministerium und auch
für mich persönlich in Anspruch. Wir werden das auch
weiterhin tun. Sie sind herzlich eingeladen, Ihre Untätigkeit in der Zeit von Juni 1999 bis zum Dezember 2000,
({1})
Untätigkeit im Sinne von Vorschlägen dazu, was besser
gemacht werden könnte, in Zukunft zu beenden.
({2})
Zunächst
hat Kollege Nolting das Wort zur Erwiderung. Danach
lasse ich noch eine Kurzintervention des Kollegen
Christian Schmidt und eine eventuelle Erwiderung zu.
Aber dann gibt es keine weitere Kurzintervention.
Bitte schön, Herr Nolting.
Herr Kollege
Scharping, wir kennen es ja mittlerweile, dass Sie die Opposition beschimpfen und diese in die Verantwortung ziehen. Sie wissen ganz genau, dass es aus den Reihen der
Opposition, der PDS, der Union und der F.D.P., immer
wieder Anfragen bezüglich DU-Munition gegeben hat.
Herr Kollege Thiele von der F.D.P. hat dazu im Herbst
1999 eine umfangreiche Anfrage an die Bundesregierung
gestellt. Ihr Haus hat darauf - im Herbst 1999 - unter anderem geäußert:
Das Bundesministerium der Verteidigung hat keine
eigenen Studien/Untersuchungen über Munition mit
abgereichertem Uran durchgeführt, da sie diese Munition weder verwendet noch besitzt.
Diesen Widerspruch werden Sie aufklären müssen,
wenn Sie hier heute als jemand auftreten, der in diesem
Bereich ständig für Klarheit und Transparenz gesorgt haben will.
({0})
Wir werden in den nächsten Verteidigungsausschusssitzungen noch viel Gelegenheit haben, uns über diese Frage
zu unterhalten. Dort werden Sie dann Rede und Antwort
stehen müssen, wahrscheinlich auch hier im deutschen
Parlament.
Vielen Dank.
({1})
Jetzt erteile ich zu einer Kurzintervention dem Kollegen
Christian Schmidt von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Minister, es gibt überhaupt keinen Anlass, beleidigt zu sein.
Hier geht es um einen schwierigen Sachverhalt und um
die Frage, in welchem Maß und wie Ihr Haus reagiert hat.
Dass es offensichtlich Versäumnisse gibt, hat die letzte
Kurzintervention noch einmal nachgewiesen.
({0})
Sie werfen der Opposition vor, sie würde sich am
Schwarzer-Peter-Spiel beteiligen. Ich habe den Eindruck,
dass das Schwarzer-Peter-Spiel von Ihnen geführt wird.
Warum soll denn der von mir persönlich sehr geschätzte
Journalist Theo Sommer eine Arbeitsgruppe leiten, die
sich mit was weiß ich beschäftigen soll?
Ich weise Sie darauf hin, dass in der Causa „HirschBundeskanzleramt“ entsprechende Rechtsgutachten vorliegen, die nicht nur die Problematik, sondern auch den
Widersinn solcher Aktionen darstellen. Wer Verantwortung hat, muss sich auch zur Verantwortung bekennen und
darf das Problem nicht auf die Zeit abschieben. Der
Staatsminister kann abgeschoben werden, aber nicht die
Verantwortung. Deswegen erwarte ich, dass sich das Haus
um diese Sachen kümmert. Dann wird darüber zu entscheiden sein, welche weiteren Maßnahmen notwendig
sind.
Ich möchte Sie auch darauf hinweisen, dass ich die
Form, in der Sie mit den Amerikanern gesprochen haben,
für falsch halte. Man kann mehr erreichen, wenn man
partnerschaftlich miteinander spricht. Dann muss man allerdings auch fragen, ob unsere amerikanischen Verbündeten auch all die Fälle, bei denen Unfälle in Deutschland
stattgefunden haben, offen gelegt haben. Ich möchte von
Ihnen wissen, ob Sie diese Frage angesprochen und geklärt haben.
Hören Sie endlich auf, auf die Regierungszeit abzuheben! Es geht hier darum, ob Menschen gefährdet sind oder
nicht.
({1})
Ich lasse es nicht zu, dass durch Nebelwerferei versucht
wird, den schwarzen Peter wegzuschieben. Jetzt muss
derjenige handeln, der in der Verantwortung steht. Nichts
mehr und nichts weniger wollen wir. Es geht darum, dass
den Menschen bei uns, auch den Zivilisten, die möglicherweise Gefährdungen ausgesetzt waren, Beistand gegeben wird und dass Untersuchungen stattfinden. Das
muss auf jeden Fall passieren. Aber davon habe ich noch
kein Wort gehört.
({2})
Herr Kollege Scharping, Sie haben das Recht zur Erwiderung.
Bitte schön.
Herr Kollege Schmidt, ich
möchte Sie zunächst darüber informieren, warum ich diesen Arbeitsstab unter Leitung von Herrn Sommer, einem
neutralen Fachmann der Sicherheits- und Außenpolitik,
eingesetzt habe. Der Kollege Pfannenstein hat am 29. Mai
1995 die Bundesregierung gefragt, ob ihr bekannt sei, ob
die USA oder andere NATO-Staaten DU-Munition auf
dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland lagern oder
zu Übungszwecken eingesetzt haben und, falls ja, für welche Truppen, Standorte und Übungsplätze dieses zutreffe.
Die Bundesregierung hat geantwortet: Nach Erkenntnissen der Bundesregierung haben die in Deutschland stationierten USA-Streitkräfte DU-Munition im Bestand. Ein
Verschuss zu Übungszwecken ist in Deutschland mangels
geeigneter Übungseinrichtungen nicht möglich und daher
untersagt. - Das habe ich überprüft. Es kamen hier eine
Reihe von Informationen. Ich erspare mir jetzt noch das
Zitieren der Antwort des damaligen Staatsministers im
Auswärtigen Amt Helmut Schäfer auf eine entsprechende
Frage des Kollegen Pfannenstein im Jahre 1997. Aber angesichts der Hinweise auf Schrobenhausen, Unterlüß oder
Grafenwöhr, auf den irrtümlichen Beschuss eines ausgebrannten Panzers, der DU-Munition an Bord gehabt haben soll, möchte ich, dass das mit Blick auf diese Antwort,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
auf die man sich zunächst einmal verlässt, sorgfältig aufgeklärt wird. Ich halte das - unabhängig von der Frage,
wer zu welchen Zeiten regiert hat - für richtig. Die Ereignisse liegen ja zum Teil mehr als zwei Jahrzehnte zurück,
was die Aufklärung nicht ganz so einfach macht.
Herr Kollege Nolting, die Frage des Kollegen Thiele ist
korrekt beantwortet worden. Ich habe Ihnen geschildert,
dass im Oktober der Vorschlag der Gesellschaft für Gesundheit und Umwelt geprüft wurde, ein entsprechendes
Monitoring in Form von Untersuchungen vor Ort wie bei
den eingesetzten Soldaten durchzuführen. Darüber ist im
November 1999 entschieden worden und dann ist sofort
damit bei uns, als einzigem Land innerhalb der NATO
- das sage ich noch einmal -, begonnen worden. Ich bitte
Sie, die vorliegenden Erkenntnisse noch einmal zu differenzieren: nach dem aus Sicht aller Mediziner fast vernachlässigbar geringen Risiko von Strahlenschäden und
nach dem von der Bundesregierung seit Mai 1999 hier im
Parlament und andernorts beschriebenen und auch nachgegangenem Risiko toxischer Wirkungen von Uran als
Schwermetall.
Wenn ich dazu etwas gesagt habe, habe ich immer auf
diesen Unterschied aufmerksam gemacht. Ich hätte mich
zumindest fahrlässig, wenn nicht sogar dumm verhalten,
wenn ich dies nicht getan hätte. Wir haben das aber seit
Mai 1999 getan. Wir werden mit derselben Konsequenz
und Energie dem Plutonium-Verdacht nachgehen. Hier
wird nämlich eine andere neue qualitative Ebene erreicht.
Hier ist besonders viel Energie und ein besonderer Aufklärungswille erforderlich. Den haben wir auch.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika Beer vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Zu
Joschka fällt mir so viel ein; da bräuchte ich eine Stunde
Redezeit.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, dass
es dem Ernst der Thematik nicht angemessen ist, wenn
hier mit Vokabeln wie „Schwarzer Peter hin- und herschieben“ und „Nebelwerfer schmeißen“ agiert wird.
Worum geht es? Es geht um den Einsatz uranhaltiger
Munition auf dem Balkan,
({0})
übrigens auch im Irak im zweiten Golfkrieg. Es geht konkret um die Anwendung im Rahmen der Luftangriffe gegen Serbien, also um Munitionsreste im Kosovo, in
Serbien, in Montenegro und, wie wir nun wissen, auch in
Bosnien. Es geht dabei nicht um die Frage, wer einmal an
der Regierung war, sondern es geht darum, dass dieses
Parlament mit großer Mehrheit beiden Einsätzen zugestimmt hat und damit Verantwortung für den Einsatz
selbst, für die Folgen des Einsatzes und damit Verantwortung für die Menschen und die Ökologie übernommen
hat.
Verantwortung für die Menschen heißt Verantwortung
für die Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten, für
die Soldaten, denen wir das Mandat erteilt haben, für die
internationalen Polizisten, die dort tätig sind, wie auch für
die Vertreter von Nichtregierungsorganisationen und für
alle, die versuchen, die Situation auf dem Balkan wieder
zu stabilisieren.
Wenn wir von uranhaltiger Munition, von abgereichertem Uran reden, dann sind unterschiedliche Risikofaktoren zu nennen. Hierbei geht es um die Strahlung, um die
toxischen Stoffe und um das Plutonium. Letzteres wissen
wir seit vorgestern. Das, verehrte Kolleginnen und Kollegen, kann man nicht auf den Streit reduzieren, ob der
Kosovo-Einsatz etwas mit Leukämie zu tun hat. Wir müssen vielmehr alle Einzelheiten gründlich untersuchen. Wir
müssen die Soldaten, die dort im Einsatz waren, und die
Zivilbevölkerung ermuntern, sich untersuchen zu lassen,
und zwar nicht nur einmal, sondern über einen Folgezeitraum von mehreren Jahren hinweg. Denn wir wissen,
dass insbesondere die Auswirkungen von Uran und Plutonium nicht von heute auf morgen auftreten, sondern erst
zu einem späteren Zeitpunkt.
({1})
Wenn wir von Handeln reden - handeln müssen wir;
die Regierung hat das im Fall der Aufklärung durch die
NATO, ob uranhaltige Munition auch Plutonium enthält,
getan -, dann müssen wir auch - das gehört zu den
Sofortmaßnahmen - dort, wo dies möglich ist, der Zivilbevölkerung helfen. Das bedeutet, die Gebiete abzusperren, die Munition zu bergen, zu vernichten und ärztliche Hilfe anzubieten.
Über die Frage der Entschädigung wird übrigens später zu reden sein, wenn wissenschaftliche Untersuchungen den Beweis eines Zusammenhangs erbracht haben.
Aber - und hier gibt es Differenzen - wir können uns nicht
darauf ausruhen, dass wir nur die Wissenschaftler zitieren, die unsere Hoffnung stützen, dass uranhaltige Munition keine direkten Auswirkungen hat. Wir müssen vielmehr auf den drei unterschiedlichen Ebenen, die ich
genannt habe, den Verdacht konstatieren, dass Waffen wie
die Uranmunition, unterschiedslos gegen Bevölkerung
wie Soldaten wirkend, dem humanitären Kriegsvölkerrecht widersprechen. Das ist der Grund, warum wir sagen:
Es geht nicht nur um das Moratorium, das wir leider erfolglos versucht haben, in der NATO durchzusetzen. Es
geht auch um das Verbot uranhaltiger Munition und um
die internationale Ächtung dieser Munition, weil dies für
uns auch zur Fürsorgepflicht und zur Verantwortung
gehört. Denn die Beweispflicht liegt nicht bei den potenziellen Opfern. Handeln heißt sofort verbieten.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Transparenz ist
das Gebot der Stunde: Transparenz bei Verschwiegenem
in den vergangenen Jahren, Transparenz und ein Ende der
Geheimnistuerei der NATO und Transparenz in jedem
Punkt gegenüber dem zuständigen Verteidigungsausschuss, um verantwortlich die nächsten Schritte festlegen
zu können. Diese Transparenz liegt nicht nur in der Verantwortung der Politik: Damit meine ich sowohl das
Ministerium als auch den Ausschuss und das Parlament.
Wir müssen feststellen, dass unsere Soldaten und sicherlich auch die anderer Streitkräfte, dass auch die Familien
zu Recht fragen: Wart ihr sicher genug? Waren alle Maßnahmen getroffen? - Da reicht es nicht, zu sagen, Soldaten seien besser geschützt als die Zivilbevölkerung,
sondern wir müssen in beiden Bereichen Vertrauen zurückgewinnen. Deswegen werden wir Grüne mit unserer
Kraft und sicherlich auch mit Unterstützung der Bundesregierung diese Transparenz innerhalb der Bundesregierung und der NATO erwirken, und zwar auch für einen
letzten Bereich, den ich ansprechen möchte.
Nein,
Frau Kollegin. Sie haben Ihre Redezeit schon lange überschritten.
Ich
komme zum Schluss. - Wir bestehen auf Offenheit hinsichtlich aller Versuche der Erprobung in der Bundesrepublik Deutschland, hinsichtlich jeder Art der Nutzung
durch Alliierte in der Bundesrepublik Deutschland. Auch
das ist notwendig, um Schäden vielleicht noch rechtzeitig
zu erkennen und Spätfolgen zu verhindern.
Vielen Dank.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Heidi Lippmann von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst eine Selbstverständlichkeit voranstellen:
Es gibt keine sauberen oder humanitären Kriege. Frau
Buntenbach, es gibt auch keine Waffe oder keine Munition, die nicht die Gesundheit gefährdet. Das sollten wir
hier klarstellen und ich denke, dass mir alle in diesem
Hause in diesem Punkt Recht geben.
({0})
Es gibt auch beim Führen von Kriegen Grundregeln,
nämlich das Völkerrecht und insbesondere das Kriegsvölkerrecht. Nach dem Kriegsvölkerrecht besteht schon sehr
lange die Forderung gerade von den Vereinten Nationen,
DU-Munition zu verbieten und zu ächten.
({1})
Wenn Sie, liebe Frau Beer, heute behaupten, dass Sie
schon seit zwei Jahren für das Verbot und die Ächtung der
DU-Munition eintreten,
({2})
dann frage ich Sie: Weshalb haben Sie das nicht am
24. März und am 15. April 1999 getan, als die Meldungen
eintrafen, dass DU-Munition von A-10-Bombern abgeworfen wurde? Weshalb haben Sie damals nicht lautstark
bei Ihrem amerikanischen Bündnispartner protestiert und
gefordert, auf diese Munition zu verzichten?
({3})
Stattdessen tun Sie heute so, als hätten Sie mit dem Ausruf „mea maxima culpa“ Ihrer Verantwortung für diesen
Krieg Genüge getan. Ich habe keinerlei Verständnis dafür,
dass Sie heute so tun, als bestehe dieses Phänomen erst
seit gestern oder seit Beginn dieses Jahres.
({4})
Spätestens seit 1990, als über 800 000 Geschosse DUMunition im Irak eingesetzt wurden, gibt es Warnungen
aus dem Pentagon und aus britischen Regierungskreisen.
All dies ist nachzulesen. Es gibt Einzelstudien - wenn
auch keine gesicherten Langzeitstudien -, dass die Depleted-uranium-Munition nicht nur eine hochtoxische
Wirkung hat, sondern dass aufgrund des Zerfalls in verschiedene Isotope Radioaktivität mit einer bis zu 4,5 Milliarden Jahre anhaltenden Strahlung entsteht, die Böden
und Gewässer kontaminiert. Doch dies alles wollten Sie
damals nicht gewusst haben. Deswegen erlaube ich Ihnen
hier und heute auch nicht, so zu tun, als sei dieses Phänomen neu.
({5})
Worum es Ihrer Regierung und insbesondere dem Verteidigungsminister geht, hat er am Sonntag in einem Fernsehinterview klar gesagt. Er sprach davon, dass in Zukunft alles öffentlich auf den Tisch gelegt werden solle
und man dafür eintrete, diese Munition nicht mehr zu verwenden. Er sagte weiterhin - ich zitiere -:
... nicht wegen der gesundheitlichen Risiken, die
entstehen mögen und die wir für sehr gering halten,
sondern um zu vermeiden, dass die politische Legitimität des Bündnisses ... dadurch untergraben wird,
dass man solche Debatten entzündet, die einen sehr
geringen sachlichen Kern haben, aber eine hohe
emotionale Wirkung.
Dies zeigt deutlich, Herr Minister: Ihnen ist die Legitimität des Bündnisses viel wichtiger als die wohlbegründeten Ängste der Menschen
({6})
in der Golfregion, in Bosnien, im Kosovo, in Serbien und
in Montenegro. Wir wissen bis heute noch nicht einmal,
wie viel DU-Munition dort heruntergegangen ist.
Auf verschiedene Anfragen wurde ausweichend geantwortet, es wurde verharmlost und vertuscht. Ähnlich wie
beim BSE-Skandal hat man darauf verzichtet, offen mit
Informationen zu agieren und die Wahrheit zu sagen.
Diese Vertuschungs- und Verharmlosungspolitik und insbesondere das bewusste Sagen der Unwahrheit haben Sie
uns auch heute wieder vorgeführt, Herr Minister. Deshalb
fordern wir einen Untersuchungsausschuss.
({7})
Wir und auch die CDU/CSU können Ihnen nachweisen,
an welcher Stelle Sie die Unwahrheit gesagt haben. Deswegen appelliere ich an alle Kolleginnen und Kollegen,
die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss zu
unterstützen. Wir fordern ihn nicht nur, weil jetzt auch
noch Plutonium in der Munition nachgewiesen wurde.
Wir fordern ihn auch, weil es nicht nur ein Skandal, sondern ein Verbrechen ist, den Einsatz derartiger Munition
seit Jahrzehnten zu tolerieren.
({8})
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Gestatten Sie mir zum
Schluss noch eine Bemerkung. Ich habe am Anfang meiner Rede gesagt: Es gibt keine sauberen und keine humanitären Kriege; es gibt keine saubere und keine humanitäre Munition. Der Schritt hin zu einer Ächtung und zu
einem Verbot von DU-Munition ist längst überfällig und
notwendig. Doch dieser Schritt reicht bei weitem nicht
aus. Viel wichtiger ist es, nicht nur eine bestimmte Munitionsart, sondern Kriege und den Einsatz von Waffen generell zu ächten, um damit Konflikte zu entschärfen.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Georg Pfannenstein von
der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss immer auf
der Höhe der Zeit bleiben. Ich habe eben eine Nachricht
von 15.40 Uhr aus dem spanischen Verteidigungsministerium gelesen, in der Frederico Trillo ankündigt, dass er
sich am Donnerstag mit Verteidigungsminister Scharping
in Verbindung setzen will; er will von seinen Erfahrungen
profitieren und seinen Rat im Umgang mit den Einsätzen
im Kosovo ersuchen. Ich denke, das spricht für unseren
Verteidigungsminister.
({0})
- Herr Nolting, weil ich Sie gerade so lachen sehe: Sie haben hier alleine zwei Runden gedreht. Das spricht nicht
gerade für Ihre Personaldecke; ich denke, die ist ziemlich
dünn. Wie Sie bei der nächsten Bundestagswahl die
10 Prozent erreichen wollen, die Ihnen Möllemann vorgegeben hat,
({1})
bleibt mir schleierhaft.
Was die aufgeheizte Diskussion um die DU-Munition
eigentlich so schwierig macht, sind zwei Punkte. Erstens:
Schon das Wort Uran ist in Deutschland nach einer jahrzehntelangen Debatte um Kernkraft und Kernwaffen ein
psychologisches Reizwort. Zweitens: Es gibt noch immer
einige Unsicherheiten hinsichtlich möglicher gesundheitlicher Schäden durch die Munition.
Weil das so ist, wird auch mit großer Akribie verfolgt,
ob es in Deutschland Zwischenfälle mit dieser Munition
gegeben hat. Die Liste mutmaßlicher oder tatsächlicher
Zwischenfälle ist in der letzten Zeit täglich länger geworden: 1980 will ein deutscher Soldat in Sennelager mehrere
Patronen DU-Munition zu Testzwecken verschossen haben. Die Bundeswehr besitzt diese Munition aber nicht.
Höchstwahrscheinlich hat er vielmehr die bei der Bundeswehr gebräuchliche Panzer brechende Munition mit
Wolframkern abgefeuert. - Die sowjetischen Streitkräfte
sollen angeblich in der Altmark jahrelang Munition mit
abgereichertem Uran verschossen haben. Beweise dafür
hat noch niemand vorgelegt. - Wie wir aber seit einigen
Tagen wissen, haben US-Soldaten in zwei Fällen je ein
DU-Geschoss versehentlich eingesetzt und abgefeuert:
1985 in Altenwalde/Garlstedt, 1986 in Grafenwöhr. Die
DU-Kerne sind entsorgt worden. Das umgebende Erdreich wurde ebenfalls entsorgt. - Ebenfalls neu ist die
Information, dass 1988 in Gollhofen ein US-Kampfpanzer bei einer Übung Feuer fing und ausbrannte. Er hatte
DU-Munition an Bord. Die Unfallstelle wurde durch amerikanische Militärpolizei abgeriegelt. Zu Schaden ist,
Gott sei Dank, niemand gekommen.
Zwischenfälle mit der DU-Munition gab es übrigens
auch im Ausland. Ende 1995 und Anfang 1996 haben USKampfflugzeuge über einer unbewohnten japanischen Insel versehentlich circa 1 500 Schuss DU-Munition abgefeuert. Die Überreste wurden teilweise eingesammelt.
Die japanische Regierung erfuhr aber erst 1997 von diesem Vorfall. Das spricht nicht gerade für die Informationspolitik unserer Verbündeten. Zudem gibt es Befürchtungen, nach denen die US-Luftwaffe auch auf einer
Militärbasis in Puerto Rico versehentlich DU-Munition
verschossen haben soll.
Das Hauptproblem bei diesen tatsächlichen oder mutmaßlichen Zwischenfällen ist die unzureichende Informationspolitik der US-Armee, gerade weil es sich um ein
sehr sensibles Thema handelt. Wenn nun die Kollegen von
der CDU/CSU der jetzigen Bundesregierung schlechte
Informationspolitik vorwerfen,
({2})
dann verpassen sie einen entscheidenden Punkt. - Ihre
Sicht, Herr Breuer, ist getrübt, weil Sie alles nur durch die
Parteibrille sehen. Das ist uns allen bekannt.
1995 habe ich nämlich bei der damaligen Bundesregierung schriftlich angefragt, ob die USA oder andere
Staaten DU-Munition in Deutschland lagern oder zu
Übungszwecken eingesetzt haben. Herr Rühe war damals
Verteidigungsminister. Aus seinem Haus habe ich die Antwort erhalten, dass die US-Streitkräfte diese Munition in
Deutschland lagern. Weiter lautete die Antwort:
Ein Verschuss zu Übungszwecken ist in Deutschland
mangels geeigneter Übungseinrichtungen nicht
möglich und daher untersagt.
({3})
Nach dem versehentlichen Verschuss von DU-Munition in Japan habe ich die Bundesregierung 1997 noch
einmal gefragt, wie sie das Risiko eines versehentlichen
Verschusses in Deutschland einschätzt und was sie unternimmt, um Risiken auszuschließen und sicherzustellen,
dass sie nach einem Zwischenfall umgehend informiert
wird. Die Antwort lautete:
Die Verbündeten verwenden keine DU-Munition für
Schießübungen in Deutschland. Demnach ist ein Risiko durch einen versehentlichen Verschuss von DUMunition auf dem Gebiet der Bundesrepublik nicht
gegeben.
Das ist der Informationsstand, den die heutige Bundesregierung und damit Verteidigungsminister Scharping
1998 von Ihnen geerbt haben. Wie wir heute wissen, war
die Antwort auf meine Anfrage nicht korrekt, um es vornehm auszudrücken.
({4})
Ich gehe davon aus, dass man es im Verteidigungsministerium und im Auswärtigen Amt nicht besser wusste. Aber
Herr Rühe hat offensichtlich weder die Berichterstattung
über den Golfkrieg noch die parlamentarischen Anfragen
noch den Zwischenfall in Japan zum Anlass genommen,
sich intensiver um das Thema DU zu kümmern.
Wenn heute von Versäumnissen geredet wird, dann
müssen wir schon von Ihren Versäumnissen sprechen.
({5})
Wesentlich konstruktiver ist es, wenn Sie sich den Regierungsfraktionen anschließen und sich mit uns dafür einsetzen, dass DU-Munition zumindest vorläufig nicht
mehr genutzt wird.
({6})
Denn wo auch immer sie auftaucht, bringt sie Schwierigkeiten mit sich, egal ob diese psychologischer, medizinischer oder gegebenenfalls völkerrechtlicher Art sind.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ursula Lietz.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Zum wiederholten Male müssen wir uns nun beim Thema
„depleted uranium“ mit einer völlig inakzeptablen Informationspolitik vonseiten des Verteidigungsministeriums
auseinander setzen.
Ich selbst habe dies in der Vergangenheit bereits zweimal erleben dürfen. Der eine Fall war der eines im Januar
im Kosovo gestorbenen Soldaten, in dessen Krankenunterlagen es sehr widersprüchliche Aussagen und drei verschiedene Diagnosen gab. Präzise Fragen wurden nicht
beantwortet. Die Strafanzeige, die Sie, Herr Verteidigungsminister, bekommen haben, hätten Sie sich durch
gute Informationspolitik sparen können.
({0})
Seit zwei Jahren versuche ich, die Aufmerksamkeit des
Verteidigungsministeriums auf das Thema „Asbestkontamination von Soldaten“ zu richten. Auch da gab es kaum
eine Reaktion und schon gar kein Geld für Untersuchungen.
({1})
Diese Fälle und jetzt der falsche Umgang mit Informationen zum Thema „abgereichertes Uran“ geben ein beredtes Zeugnis davon, dass die Ängste von Soldaten und
ihren Familien nicht ernst genommen werden.
Auf dem Balkan ist Munition mit abgereichertem Uran
zur besonders effektiven Panzerbekämpfung eingesetzt
worden. Die Vorteile sind uns allen sehr deutlich geschildert worden. Mögliche Nachteile für die Gesundheit der
Soldaten bis hin zu Langzeitwirkungen bei Betroffenen
werden von Wissenschaftlern allerdings sehr unterschiedlich beurteilt und von Ihnen, Herr Verteidigungsminister,
nicht ehrlich diskutiert. Solange wir so unterschiedliche
Meinungen bekannter Wissenschaftler erhalten, solange
wenige fundierte Kenntnisse zu diesem Thema vorliegen,
können wir es uns nicht leisten, ein Risiko einzugehen.
In dem Papier, das wir heute unmittelbar vor der Aktuellen Stunde bekommen haben, ist die Rede davon, dass
die NATO eine Sonderkommission zur DU-Munition eingerichtet hat. Das beweist zumindest, dass man auch dort
nicht sicher ist, welche Wirkungen dieses Material mit
sich bringt.
({2})
Die CDU/CSU-Fraktion fordert Sie deshalb auf:
Erstens. Wir brauchen eine zuverlässige Erfassung und
valide Reihenuntersuchungen in Form eines Screenings,
und zwar über einen längeren Zeitraum, weil wir die Wirkungen über längere Zeiträume überhaupt noch nicht kennen. Diese Untersuchung muss sich auf alle im Kosovo und
auf dem Balkan mit DU-Munition in Berührung gekommenen Soldaten erstrecken. Stichprobenuntersuchungen
von 50 oder 100 Soldaten von insgesamt 60 000 oder
70 000 reichen natürlich überhaupt nicht aus.
({3})
Diese Untersuchungen sollten in Absprache mit anderen
NATO-Ländern nach internationalen und vergleichbaren
Standards durchgeführt werden, damit Interpretationsmöglichkeiten so gering wie möglich gehalten werden.
Zweitens. Sie müssen gemeinsame Forschungsanstrengungen mit unseren Verbündeten unternehmen, um
fundierte Ergebnisse nach WHO-Standard über mögliche
Schädigungen - auch über Strahlenschädigungen - zu erhalten, und diese in gemeinsamen Datenbanken integrieren.
Drittens. Klares Datenmaterial aller NATO-Länder
über Boden- und Wasserproben aus DU-kontaminierten
Gebieten muss vorgelegt werden. Unterschiedliche Messergebnisse, so wie sie zum jetzigen Zeitpunkt vorliegen,
sind irreführend.
Viertens. Schnellste Aufklärung ist zu schaffen über
die in der Vergangenheit erfolgte Verwendung von DUMunition in Deutschland durch verbündete, aber auch
durch russische Streitkräfte.
Fünftens. Herr Verteidigungsminister, die betroffenen
Soldaten und ihre Familien leiden unter Ihrer Informationspolitik. Aussagen wie „Die Strahlung ist vergleichbar
mit der, der man bei einem Aufenthalt in Hofgastein ausgesetzt ist“ sind zynisch und herablassend
({4})
- das hat er persönlich gesagt; ich habe das im Fernsehen
gesehen, verehrter Herr Zumkley -,
({5})
und zwar gerade dann, wenn Sie im NATO-Rat ein Moratorium im Hinblick auf die Verwendung dieser Munition
beantragen. Dies ist widersprüchlich und überhaupt nicht
glaubwürdig,
({6})
auch dann, wenn gleichzeitig auf der Homepage des Verteidigungsministeriums Folgendes zu lesen ist - ich zitiere -: Vorgekommen sind auch einsatzbezogene Unzulänglichkeiten beim Umgang mit DU-Munition und
Asbest.
Wenn das aber so ist, Herr Verteidigungsminister, dann
frage ich ernsthaft, ob Sie der Fürsorgepflicht gegenüber
den betroffenen Soldaten überhaupt gerecht werden und
ob nicht zu späte oder gar keine Information die von Ihnen so beklagte Medienhysterie erzeugt hat. Glaubwürdigkeit, Herr Minister, ist etwas, worauf Soldaten und ihre
Familien nicht erst jetzt ein Recht haben. Beteuert haben
Sie viel, geschehen ist bis heute wenig.
({7})
Als die Medienberichterstattung über Sie hereinbrach,
haben Sie den amerikanischen Botschafter herzitiert, damit Sie vor der Presse sagen konnten, er sei der Schuldige.
({8})
Ich frage mich ernsthaft, welchen Stellenwert Deutschland als größtes europäisches Land innerhalb der NATO
eigentlich hat, wenn Sie von dort nötige Informationen
nicht bekommen. Ich muss Ihnen sagen: Ich glaube Ihren
Aussagen nicht.
({9})
Es ist Zeit zu handeln. Es geht nicht darum, hier Panik
zu machen, sondern um die Wahrheit, Herr Minister. Es
geht darum, dass Sie dafür zu sorgen haben, dass die Bundeswehr durch Ihr Verhalten keinen Schaden nimmt.
Hören Sie auf, bei wirklich jedem Problem, mit dem Sie
konfrontiert werden, quasi wie ein rhetorisch nur begrenzt
geschulter Papagei immer wieder zu rufen: Rühe war es!
- Das reicht nicht mehr.
({10})
Die Aktuelle
Stunde ist damit beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Erwin Marschewski ({0}),
Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Familienzusammenführung sachgerecht regeln
- EU-Richtlinienvorschlag ablehnen
- Drucksache 14/4529 ({1}) Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Kein
Widerspruch. - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Erwin Marschewski.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben den vorliegenden Antrag ganz bewusst auf die Tagesordnung setzen lassen, weil wir eigentlich dem Herrn Bundesinnenminister - gewissermaßen als Neujahrsgeschenk - eine Freude machen
wollten. Nun ist der Bundesinnenminister nicht anwesend. Er ist - vielleicht begründet - verhindert. Frau
Staatssekretärin, ich denke, Sie werden ihm dies mitteilen.
Denn wir wollten dem Bundesinnenminister hier im
Parlament coram publico die Chance geben, das, was er in
der Zeitung festgestellt hat, zu wiederholen. Dort hat er
gesagt, die Familienrichtlinie der EU gehe viel zu weit.
Wir gehen sogar ein Stück weiter: Wir wollen gemeinsam
mit Herrn Schily erreichen, dass diese Familienrichtlinie
keine Realität wird.
Meine Damen und Herren, wir brauchen im Ausländerrecht keine punktuellen Regelungen. Was wir im Zusammenhang mit der Zuwanderung nach Deutschland
brauchen, ist ein Gesamtkonzept. Ein solcher Entwurf einer Richtlinie kann nicht das Ergebnis eines Gesamtkonzeptes sein, sondern nur ein Anfang. Das ist die falsche
Reihenfolge. Wer komplexeste Problemlösungen - darum
handelt es sich ja bei einer Zuwanderungsbegrenzung ohne Gesamtkonzept erledigen will, der verliert zwangsläufig den Überblick.
({0})
Diese Konzeptionslosigkeit ist für Deutschland gefährlich. Sie nimmt uns die Chance, eine Zuwanderungsbegrenzung einzuführen. Bedenken Sie auch, dass Normen,
die wir setzen, letzten Endes Ansprüche schaffen, die wir
gewähren müssen. Das bedeutet, dass unser Handlungsspielraum beträchtlich eingeschränkt wird.
Wir brauchen insgesamt ein Zuwanderungsbegrenzungskonzept, weil einfach zu viele Menschen nach
Deutschland kommen wollen, die wir nicht benötigen,
und weil zu wenige Leute nach Deutschland kommen, die
wir nötig haben.
({1})
- Deswegen, Frau Kollegin - völlig richtig -, stehen Einzellösungen nun wirklich nicht auf der Tagesordnung und
macht es keinen Sinn, in nur einem Bereich vorzupreschen.
({2})
Ich habe es bereits gesagt: Wir hatten die Hoffnung,
dass der Minister heute einmal anwesend ist. Er hat groß
angekündigt, er wolle diese Richtlinie - ich komme gleich
auf Einzelheiten zu sprechen - verhindern. Aber wir haben die große Sorge, dass Herr Schily wieder keine Unterstützung aus den eigenen Reihen bekommt. Das ist ja
im Bereich deutscher Innenpolitik mittlerweile an der Tagesordnung. So hat der Bundesinnenminister zu Recht gesagt - Sie wissen dies -, die Grenze der Belastbarkeit
durch Zuwanderung sei überschritten. Er hatte Recht mit
dieser Äußerung. Kaum hatte er diese Äußerung getan,
wurde er kritisiert - von der SPD, von den Grünen. Ich
habe in der Zeitung gelesen, dass Herr Appel - Fraktionssprecher der Grünen im Landtag von Nordrhein-Westfalen - dem Bundesinnenminister für diese Äußerung den
so genannten Peinlichkeitspreis verleihen wollte, von den
Angriffen des Herrn Ströbele, der sich wahrscheinlich
auch bald wegen seiner Jugendsünden rechtfertigen muss,
ganz zu schweigen. Wir sind es gewohnt: Der Bundesinnenminister sagt viel, aber erreicht wenig.
Das nächste Thema, Asylrecht: Der Bundesinnenminister hat gesagt - ich gebe das einmal wörtlich wieder -,
das subjektive Grundrecht auf Asyl müsse im Zuge einer
europäischen Asylregelung nun wirklich abgeschafft werden. Kaum hatte er dies gesagt, kam die Kritik: im Ausschuss von der SPD-Fraktion, von den Grünen und im
Kabinett vom Bundeskanzler persönlich. Der Bundeskanzler hat wörtlich zu Herrn Schily gesagt - ich habe
dies der Presse entnommen -, zwar könne man Einzelnen
nicht die Meinung verbieten, sie sollten sie aber nicht
ständig und prononciert in die Öffentlichkeit tragen.
({3})
Und die nächste Schlappe stand bevor: Schily hat gesagt - wie ich gerade erwähnte -, er wolle diese Richtlinie nicht - zumindest nicht so - realisieren. Kaum hatte
er dies gesagt, haben Grüne und Sozialisten im Europäischen Parlament für diesen Entwurf, also gegen den Bundesinnenminister, gestimmt. Das war Schlappe Nummer
drei.
({4})
Übrigens, Frau Kollegin Lenke: Auch die Liberalen haben
dafür gestimmt. Ich weiß nicht, warum;
({5})
es passt nämlich nicht in ihr Gesamtkonzept. Das widerspricht völlig Ihrem Zuwanderungsbegrenzungskonzept,
das ich im Übrigen für einen - nicht sonderlich tauglichen Vorschlag halte, der völlig im Gegensatz zu Ihrer sonstigen Politik steht. Aber vielleicht wird sich das ändern,
wenn der Herr Westerwelle - der weiß das nämlich
selbst - in der Partei die Zügel in die Hand nimmt.
Meine Damen und Herren, wir wollten diesen Antrag,
wie gesagt, auf die Tagesordnung setzen, um Herrn Schily
die Chance zu geben, hier wirklich einmal Ross und Reiter zu nennen und uns auf diese Fragen zu antworten. Aber
wir wollten auch die Bevölkerung informieren. Wenn
diese Richtlinie in Kraft tritt, werden Hunderttausende
Menschen mehr nach Deutschland kommen, und zwar
ungesteuert.
({6})
Es wird kein Raum mehr sein für eine gesteuerte Zuwanderung. Zudem werden - auch da hat Schily Recht die Sozialklassen beträchtlich belastet. Das kann nicht
sein, ohne dass ein Gesamtkonzept auf dem Tisch liegt.
Zu den einzelnen Positionen - ich will nur ein paar aufführen -: Es ist falsch, Personen das Recht zur Familienzusammenführung zu geben, die nur einen befristeten
Aufenthaltstitel besitzen. Das kann doch nicht sein. Eine
Zuwanderung muss auf Dauer angelegt sein. Es kann
nicht sein, jemandem, der nur einen auf ein Jahr befristeten Aufenthaltstitel hat, Familiennachzug zu gewähren.
Dies ist am Ende zu hart für den Betroffenen, zu hart für
das Ausgangsland und auch nicht verständlich für unser
Land.
Ein weiterer Punkt: Der Kreis der Nachzugsberechtigten ist zu weit und unbestimmt. Der Kreis der Berechtigten umfasst nicht nur die normale Familie. Sie wollen den
Kreis nicht auf die so genannte Kernfamilie beschränken,
sondern ihn - das Gegenteil von Kern ist Schale -, auch
auf homosexuelle Lebensgemeinschaften
({7})
Erwin Marschewski ({8})
und - hier wird es problematisch - auf heterosexuelle
Partnerschaften ausdehnen.
({9})
- Da haben Sie und auch die Bundesregierung doch Erfahrung. Ich weiß, wie oft Partner gewechselt werden,
wenn man nicht verheiratet ist;
({10})
übrigens auch, wenn man verheiratet ist. Aber wenn man
nicht verheiratet ist, werden die Partner noch häufiger gewechselt.
({11})
Sie wollen jedem ein Zuwanderungsrecht geben.
({12})
- Das steht in der Richtlinie. Das führt doch nur dazu, dass
niemand einen Arbeitsplatz nachweisen muss. Niemand
braucht Wohnraum nachzuweisen. Auch das steht in der
Richtlinie. Niemand braucht Einkünfte nachzuweisen.
Niemand braucht eine Krankenversicherung nachzuweisen. Wenn das Wirklichkeit wird, findet die Zuwanderung
keine vernünftige Begrenzung.
({13})
Ich bleibe dabei: Wir wollen eine Zuwanderungsbegrenzung.
({14})
Natürlich brauchen wir Zuwanderung nach Deutschland,
aber dies muss gesteuert werden. Wir wollen Nein sagen
können, wenn wir Menschen nicht benötigen, weil dies
nicht vernünftig ist und die Menschen bei uns auch keine
Zukunft hätten.
({15})
Ich bin gespannt, was Sie dazu sagen. Ich bin insbesondere auf die SPD gespannt, vor allem vor dem Hintergrund dessen, was der Bundesinnenminister gesagt hat.
Ich war im Innenausschuss und im Plenum des Bundesrates. Im Innenausschuss haben Länder wie Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen gegen diese Richtlinie gestimmt. Diese Richtlinie fand auch
im Plenum des Bundesrates keine Unterstützung; zu
Recht, weil sie nicht Inhalt eines Gesamtkonzeptes sein
kann. Europäische Lösungen können nur auf der Basis
von Vernunft und nicht von Schnellschüssen gefunden
werden. Vor diesem Hintergrund hoffe ich, dass sich der
Bundesinnenminister zum ersten Mal gegenüber der
grün-linken Fraktion durchsetzt, Nein zu dieser Familienzusammenführungsrichtlinie sagt und nicht nur ununterbrochen große Sprüche zur Zuwanderung, zum Asylrecht,
zur Ablehnung der Familienzusammenführungsrichtlinie
macht, aber letzten Endes bei Ihnen, im Ausschuss und in
der Fraktion scheitert.
({16})
Ich hoffe auch, dass sich der Bundeskanzler in dieser
Frage einmal in der grünen Fraktion und in der SPD-Fraktion durchsetzt. Hier - nicht in der Rentenpolitik - wäre
ein Basta des Herrn Bundeskanzlers wirklich sehr angebracht.
({17})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rüdiger Veit.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren und vor allen Dingen lieber
Herr Kollege Marschewski! Mit ihrem Antrag strebt die
CDU/CSU-Fraktion - wenn man es richtig liest - sogar
die Ablehnung des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung insgesamt an. Aber das wird ihr nicht gelingen. Sonst müsste sie sich von Art. 63 des Amsterdamer
Vertrages vom Oktober 1997 - damals hat ein Kanzler,
der nicht Gerhard Schröder hieß, unterzeichnet - und von
den Ergebnissen des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung im Oktober 1999 in Tampere, Finnland, lossagen. Sie müssten sich davon verabschieden, denn auf diesen vertraglichen Grundlagen sollten der Bereich der
Menschenrechte genauso wie jener der Asyl- und Flüchtlingspolitik zu einem einheitlichen europäischen Raum
der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ausgebaut werden.
Getrieben von Ängsten vor Überfremdung und Überbevölkerung - das haben wir eben wieder gehört -, zugleich aber diese Ängste weiter schürend, leisten Sie als
Union hier einen europapolitischen Offenbarungseid.
({0})
Welch ein Kontrast zur Realität! Nach einer Presseberichterstattung von vorgestern befürchtet der für die Berliner Stadtentwicklung zuständige Senator Strieder einen
geradezu dramatischen Bevölkerungsrückgang in Berlin,
wenn nicht etwa 200 000 Menschen jährlich allein nach
Berlin aus dem Ausland kommen. Ohne exakt diese Zahl
zu bestätigen - das will ich gerne dazu sagen -, pflichten
ihm jedenfalls im Grundsatz der Regierende Bürgermeister von Berlin Diepgen und sein Innensenator Werthebach
- bekanntlich CDU, Herr Kollege Marschewski ({1})
- in der Tat, Kollege Barthel, ein ausgesprochener Hardliner - ausdrücklich bei, wie gestern in der Zeitung zu lesen war.
Bei dem Ziel ihres Antrags, nämlich die vollständige
Ablehnung der Richtlinie, verkennt die CDU/CSU völlig,
Erwin Marschewski ({2})
dass es mit gutem Grund und mit ihrer eigenen Zustimmung schon heute - allerdings in erweiterungsbedürftiger
Form - das Recht auf Familienzusammenführung in deutschen Gesetzen gibt. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der CDU/CSU, müssten es eigentlich begrüßen, dass
das Recht auf Familienzusammenführung - jedenfalls
in diesem Umfang - in dieser Ihnen bekannten und von
Ihnen zugestimmten Form in ganz Europa einheitlich geregelt werden soll.
Eine vollständige Ablehnung dieser Richtlinie - das
will ich hier deutlich sagen - wollen weder der Bundesrat
in seiner Mehrheit noch der deutsche Innenminister, dem
Sie laut Begründung Ihres Antrages und so, wie es
angekündigt wurde, gegen die deutschen SPD-Europaabgeordneten offenbar zu Hilfe eilen wollten.
Herr Marschewski - dazu passt auch, was Sie hier gesagt haben -, Sie sollten sich wie viele in meiner eigenen
Fraktion langsam daran gewöhnen, dass manchmal - ich
betone: manchmal - der Innenminister Otto Schily mit
seinen Positionen einigen Länderinnenministern oder
auch den Kollegen hier aus der CDU/CSU-Fraktion
größere Freude als seinen eigenen Parteifreunden in Brüssel oder Berlin macht. Aber um darauf aufmerksam zu
machen, brauchen Sie wirklich nicht jedes Mal im Parlament einen Antrag zu stellen. Das merken wir auch so.
In der Begründung Ihres Ablehnungsantrags führen Sie
unter anderem aus, „dass der Richtlinien-Entwurf Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen mit Asylfragen
und dem Schutz von Personen, die subsidiären Schutz
genießen, vermischt“. Wenn Sie aber genau hinschauen,
merken Sie, dass diese Personen gar nicht mehr vom
neuen Entwurf aus dem Oktober letzten Jahres berührt
werden. Ihrer Meinung nach vermische die Kommission
dies alles und habe bei dem Entwurf im Übrigen völlig
außer Acht gelassen, zu prüfen, wie viel Zuwanderung
und wie viele Personen mit welcher Qualifikation sinnvollerweise zu erwarten seien.
Dabei sind Sie es selbst, die die Dinge - übrigens nicht
zum ersten Mal - immer wieder vermischen. Sie haben
offenbar nicht verstanden - das hat Ihr Beitrag deutlich
gemacht -, dass Familienzusammenführung weder Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen ist, noch dass sie
etwas mit der Qualifikation von Familienangehörigen zu
tun hat. Sie haben deutlich gesagt, es gehe Ihnen in Wahrheit bei diesem Thema erneut um ein Zuwanderungsbegrenzungskonzept, aber nicht um Familienzusammenführung. Ich hätte offen gestanden nicht geglaubt, Sie von
der CDU/CSU darauf hinweisen zu müssen, dass das
Recht auf Zusammenleben mit und in der Familie ein
Menschenrecht ist: geachtet und geschützt,
({3})
und zwar in Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention genauso wie in Art. 6 des Grundgesetzes - es ist
banal, das hier und heute noch einmal sagen zu müssen,
aber Ihnen muss man es offenbar sagen -, das ganz ausdrücklich nicht nur für deutsche Staatsangehörige gilt.
In diesem Zusammenhang komme ich auf ein Zitat
zurück, das man findet, wenn man im Internet unter dem
Stichwort Familienpolitik bei der CDU nachschaut. Ich
schicke das deswegen voraus, weil Sie sonst vielleicht
glauben, es sei unsere Position.
Wir wollen mit unserer Politik
- so sagen Sie dort junge Menschen ermutigen, sich für die Familie, für
ein Leben mit Kindern und für ein Leben in der Solidarität des Familiennetzes zu entscheiden.
Wie wahr, kann ich dazu nur sagen.
Daher ist - jedenfalls aus unserer Sicht - der Absicht
des Richtlinienentwurfes, den Zuzug von Familienangehörigen zu in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen als Rechtsanspruch auszugestalten,
ausdrücklich zuzustimmen,
({4})
auch wenn dies - das muss man sehen - an der einen oder
anderen Stelle Änderungen des deutschen Ausländerrechtes bedeuten mag. Anders als Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, sind wir ausdrücklich damit einverstanden, dass das Nachzugsalter für Kinder von bisher
16 auf 18 Jahre heraufgesetzt wird.
Wie wir - angesichts Ihrer Befürchtung, es kämen dann
große Massen von Menschen, will ich Ihnen das einmal
sagen - der Kindergeldstatistik der Arbeitsämter ziemlich
genau entnehmen können, kann es sich dabei um maximal
10 000 junge Menschen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren handeln, die im Übrigen nur möglicherweise und sicherlich nur zum Teil zu ihren Familien nach Deutschland
nachreisen würden. Sie wollen das Nachzugsalter sogar
auf das 10. Lebensjahr beschränken. Wie dies mit dem
Grund- und Menschenrecht auf Zusammenleben in der
Familie und mit Ihren eben zitierten Grundsätzen zur Familienpolitik vereinbar ist, müssen Sie uns einmal erklären. Das bleibt nach wie vor Ihr Geheimnis.
Anders als Sie halten wir es in Übereinstimmung mit
dem Richtlinienentwurf für richtig, dass die wenigen - es
mögen 1999 von bundesweit 1 200 Antragstellern vielleicht nur 100 oder 200 Personen gewesen sein - anerkannten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge unter 16 Jahren die Möglichkeit haben sollten, ihre Eltern
und zumindest weitere minderjährige Geschwister nach
Deutschland oder Europa nachkommen zu lassen. Denn
diese Kinder und Jugendlichen können nur in dem Land,
in dem sie Zuflucht gefunden haben, ein Familienleben
realisieren, aber nicht in dem Land, aus dem sie gekommen sind und aus dem sie aus zwingenden Gründen geflohen sind, weil sie keinen Schutz gefunden haben.
Neben humanitären Gesichtspunkten - das sei auch
den Kommunalpolitikern gesagt - spricht für diese Regelung unter anderem auch, dass anderenfalls die Unterbringung dieser Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen für den Sozial- und Jugendhilfeträger extrem hohe
Kosten verursacht.
Schließlich sind wir - anders als Sie - der Auffassung,
die hier zu ihren Familien nachziehenden Ehegatten und
Kinder sollten einen sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt
oder zu einer Ausbildung haben. Dies fördert ihre Integration erheblich und es ist für unsere öffentlichen Kassen
auch nur von Vorteil, wenn die gesamte Familie des Drittstaatsangehörigen durch eigene Erwerbstätigkeit unabhängig von Sozialleistungen ist bzw. möglichst schnell
wird.
Gänzlich anders, als die Opposition in ihrem Antrag
unterstellt, ist dies durchaus keine Bedrohung für den
deutschen Arbeitsmarkt. Auch hier helfe ich Ihnen gerne
mit ein paar Zahlen weiter: In München ist der Ausländeranteil an der Bevölkerung rund 6 Prozent, in Frankfurt sogar 10 Prozent höher als in Berlin, die Arbeitslosenquote in beiden Städten ist jedoch nicht einmal halb so
hoch wie in Berlin.
In einem Punkt allerdings - dies will ich gegen Ende
meiner Rede sagen - begegnet der Richtlinienentwurf
auch in der SPD-Fraktion Bedenken: Einen Rechtsanspruch - ich betone: Rechtsanspruch - für Verwandte der
aufsteigenden Linie, also für Eltern und Großeltern, und
für volljährige Kinder halten wir für problematisch. Stattdessen sollte diese Entscheidung unter den in der Richtlinie genannten Voraussetzungen in das Ermessen der Ausländerbehörden gestellt werden, und zwar nicht nur bei
außergewöhnlichen Härten, wie es jetzt in § 22 des
Ausländergesetzes vorgesehen ist, sondern generell erweitert aus vernünftigen humanitären Gründen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Nach diesen Maßstäben sollten wir Familienzusammenführung in Europa
und folglich auch in Deutschland sachgerecht regeln, anstatt bei diesem Thema mit Fantasiezahlen und Schreckensszenarien von bis zu 500 000 - man überbietet sich da gegenseitig - alljährlich zuziehenden Familienangehörigen
unserer Bevölkerung Angst einflößen zu wollen, wie die
CDU/CSU dies in durchsichtiger populistischer Art und
Weise mit ihrem Antrag versucht. Daher ist der Antrag abzulehnen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Ina Lenke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Zuerst, Herr Marschewski, würde ich mich
gerne an Sie wenden. Ich habe mich mit Ihrem Antrag
sehr ernsthaft auseinander gesetzt. Wenn Sie jetzt sagen,
Sie hätten ihn nur gestellt, um Herrn Schily eins auszuwischen, halte ich das für keine gute Grundlage, über diese
Dinge zu reden.
({0})
Die Absicht der CDU/CSU-Fraktion, den EU-Richtlinienvorschlag zur Familienzusammenführung abzulehnen,
halte ich für sehr überzogen. Denn der Tenor dieses Antrags
ist eine wirkliche Ablehnung eines erweiterten Rechtes auf
Familienzusammenführung. Herr Marschewski, Sie haben
eigentlich nicht begründet, warum Sie dieser Auffassung
sind.
Im familienpolitischen Bereich widerspricht sich die
CDU/CSU selbst;
({1})
denn obwohl die CDU/CSU doch eigentlich für Familie
steht, verhält sie sich sehr restriktiv im Hinblick auf Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen für den Bereich
der Zusammenführung ausländischer Familien. Als Liberale sehe ich hier eigentlich keinen so großen Unterschied
wie Sie.
Herr Marschewski, im familienpolitischen Papier der
CDU/CSU - Ihre Partei hat ja dieses Signum - vom Dezember 1999 - ich habe dieses Papier archiviert und darin
noch einmal Ihre Positionen nachgelesen - steht, dass die
Zahl der nicht ehelichen Lebensgemeinschaften gewachsen ist und dass es - auch das konzedieren Sie - außerhalb
der Ehe auch noch andere Verantwortungsgemeinschaften
gibt. Aber in Ihrem jetzigen Antrag sprechen Sie sich gegen den Nachzug von homosexuellen Partnern aus. Ich
kann das nicht verstehen. Wenn Sie in Ihrem familienpolitischen Papier fordern, dass die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften abgeschafft werden muss,
dann müssen Sie doch erkennen, dass die Regelungen der
Familienzusammenführung auch für diese Partnerschaften
gelten müssen. Daran kommen Sie nicht vorbei.
({2})
Sie, Herr Marschewski, haben behauptet - das fand ich
recht heftig; auch andere Kollegen von der CDU/CSU haben sich schon so geäußert -, dass die EU kein Gesamtkonzept zur Einwanderungspolitik vorgelegt habe. Lieber
Kollege, Ihre Fraktion hat lange genug eine Koalition mit
der F.D.P.-Fraktion gebildet, um zu wissen, dass wir immer die Absicht und den Wunsch hatten, gemeinsam ein
Zuwanderungsgesetz zu verabschieden. Das haben Sie
nicht mitgetragen.
({3})
Dass Sie das jetzt beklagen und dann auch noch anderen
vorwerfen, ist also eine unzutreffende Kritik; denn Sie
sind kein Vorreiter in Sachen Zuwanderungsregelungen in
der Bundesrepublik Deutschland. Meines Erachtens dürfen Sie sich nicht so verhalten. Ihre Kritik geht ins Leere.
Die Aussage im CDU/CSU-Antrag, dass Deutschland
nicht mehr Zuwanderung brauche, ist absolut falsch.
Wenn Sie sich die im Herbst veröffentlichten Zuwanderungszahlen anschauen, dann werden Sie feststellen,
dass es geradezu beängstigend ist - das ist es jedenfalls für
mich -, wie stark die Bevölkerung in Deutschland in Zukunft schrumpfen wird. Schätzungen gehen von einem
Bevölkerungsrückgang von 22 Millionen Menschen bis
zum Jahr 2050 - in diesem Jahr möchte ich noch im Ohrensessel sitzen und beobachten können, was so alles in
der Politik geschieht - aus. Dieser Rückgang muss auch
durch Zuwanderung abgefedert werden.
({4})
Insoweit muss dringend gehandelt werden. Ich weise nur
auf Folgendes hin: Es wird auch einen Wettbewerb um
qualifizierte Arbeitskräfte geben; denn alle europäischen
Länder haben ein demographisches Problem.
Als Liberale empfinde ich den Tenor des EU-Richtlinienvorschlags als richtig; denn die F.D.P. möchte, dass
die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dem Rest der
Welt Offenheit signalisieren. Wenn die EU das jetzt
signalisiert, werden wir sie dabei ausdrücklich unterstützen.
({5})
Deshalb ist es sicherlich nicht gut, wenn in diesem Richtlinienvorschlag - das stellt man fest, wenn man ihn genau
durchliest - vieles verkompliziert wird. Warum sollte die
Erlaubnis zur Zuwanderung zum Beispiel nicht an
Sprachkenntnisse geknüpft werden? Hier müsste in den
Beratungen im Ausschuss noch einiges geklärt werden.
Die Kritikpunkte, die die CDU/CSU in ihrem Antrag
aufgeführt hat, sind schwarz-weiß. Wer sich den EURichtlinienvorschlag genau durchliest, wird feststellen,
dass das Problem der Zuwanderung dort sehr differenziert
dargestellt wird und viele Ausnahmetatbestände aufgelistet werden. Es ist in einigen Punkten nicht so, wie es hier
von Herrn Marschewski dargestellt worden ist. Wir meinen, dass eine Debatte und dass gesetzliche Regelungen
zur Zuwanderung überfällig sind. Wenn auch die
CDU/CSU eine solche Debatte möchte, dann sollte sie ein
eigenes Konzept vorlegen. Sie von der CDU/CSU haben
ja jetzt ein Jahr Zeit und können daran arbeiten. Wir haben schon ganz konkrete Vorschläge zu einer geregelten
Zuwanderung gemacht, die Sie abgelehnt haben und zu
denen Sie keine Alternativen vorgelegt haben. Deshalb
sollte man nach meiner Meinung ernsthaft über diesen
EU-Richtlinienvorschlag beraten und sich nicht in irgendwelche Personalstreitigkeiten verlieren. Die politische Zielrichtung des CDU/CSU-Antrags ist für uns nicht
relevant. So wollen wir das nicht.
Erschreckend ist für mich die politische Überzeugung,
die in den vielen Kritikpunkten, die zum Teil mit Verve
vorgetragen werden, zutage tritt. Wir sollten uns lieber für
eine gute Regelung der Familienzusammenführung einsetzen. Die F.D.P. jedenfalls wird sich Ihrem Antrag mit
der gebotenen Ernsthaftigkeit widmen. Wir werden über
Ihren Antrag in den entsprechenden Bundestagsausschüssen beraten und schauen, wie die EU-Richtlinie vielleicht noch geändert werden kann. Die Möglichkeit dazu
haben Sie uns mit Ihrem Antrag gegeben. Bedenken wir
dabei, dass durch die Anwesenheit von ausländischen Familienmitgliedern in Deutschland ein normales Familienleben ermöglicht wird. Die Familie und die Menschen
stabilisieren sich und erhalten eine bessere Verwurzelung
bei uns in der Bundesrepublik Deutschland.
Wir von der F.D.P. werden uns für eine liberale Richtlinie zur Familienzusammenführung in Europa einsetzen.
Das ist unser Ziel. Zusammen mit Ihnen allen werden wir
in den Ausschüssen versuchen, das zur Erreichung dieses
Ziels Notwendige zu erarbeiten.
({6})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kollege
Marschewski.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Kollegin, ich weiß nicht, wer Ihnen das alles
aufgeschrieben hat. Zunächst einmal: Natürlich wollte ich
dem Herrn Bundesinnenminister keins auswischen. Ich
wollte dem Bundesinnenminister zu Beginn des neuen
Jahres nur die Chance geben, zu dem, was er draußen immer sagt, hier Stellung zu beziehen. Ich wiederhole: Wenn
er draußen sagt, die Belastbarkeitsgrenze sei erreicht,
dann soll er dazu hier etwas sagen. Er hat gesagt: Ich will
das Asylrecht ändern. Das wollen vielleicht noch nicht
einmal alle von uns so wie er. Er soll etwas zu seinen Vorstellungen sagen.
Der Bundesinnenminister hat ganz klar gesagt, der EURichtlinienvorschlag zur Familienzusammenführung sei
nicht in Ordnung; es kämen - Zitat aus der Zeitung „Hunderttausende ungesteuert nach Deutschland“. Wenn
er nicht begründet verhindert ist, dann möge er hier zumindest anwesend sein und darüber mit uns diskutieren.
Diese Chance möchten wir ganz gern haben.
Natürlich sind wir immer eine Partei der Familie gewesen. Ich freue mich, dass neuerdings auch die SPD auf
diesen Trichter gekommen ist. Nur, Familie heißt für uns
nicht zwangsläufig homosexuelle Lebensgemeinschaft.
Familie ist etwas anderes. Familie heißt für uns nicht
zwangsläufig, dass Nichtverheiratete miteinander leben.
Hinzu kommt Folgendes: Ich halte es für falsch, dass
nach dieser Richtlinie - der Kollege der SPD hat darauf
dankenswerterweise Bezug genommen; ich habe genau
zugehört; das wollen Sie vielleicht gar nicht - bis zurück
in die zweite, dritte oder vierte Generation Menschen
nach Deutschland kommen können, ohne Sozialversicherung, ohne Krankheitsschutz, ohne Wohnung und ohne einen Arbeitsplatz. Auch das hat der Bundesinnenminister
kritisiert. Auch wir wollen das nicht.
Zu den Kindern. Es ist doch wirklich so, dass die Integration von Kindern insbesondere dann Erfolg verheißt,
wenn Kinder in jungem Alter nach Deutschland kommen.
Es ist nicht sinnvoll, wenn Kinder mit acht Jahren in ihr
Heimatland zurückkehren - was oft passiert - und mit 15
zurückkommen. Sie können dann weder die deutsche
Sprache noch wissen sie etwas über die deutsche Kultur.
Das erschwert die Integration. Gerade das wollen wir
nicht.
Zu Ihrem bemerkenswerten Konzept zur Zuwanderung. Vor Ihnen hatten wir längst ein Konzept zur Zuwanderung. Über Ihr Konzept haben wir lange diskutiert.
Der Kollege Westerwelle weiß das alles. Ihr Konzept hat
unseres Erachtens einen kleinen Haken. Wir haben dieses
Konzept in dieser Form abgelehnt, weil es folgende Fragen nicht berücksichtigt: Sollen wir in die Überlegungen
die Asylbewerber einbeziehen? Sollen wir in die Überlegungen Art. 6 des Grundgesetzes - Stichwort „Familienbegriff“ - einbeziehen? Sollen wir in die Überlegungen
Art. 116 des Grundgesetzes einbeziehen?
Herr Kollege
Marschewski, eine Kurzintervention soll drei Minuten
dauern. Diese Zeit haben Sie reichlich überschritten.
Ich komme zum Schluss. - All das ist bei Ihnen nicht geregelt. Diese Richtlinie bringt keinen Vorteil. Wir wollen
eine generelle Zuwanderungsbegrenzung. Erst wenn das
geschehen ist, müssen und können die Einzelfälle geregelt
werden.
({0})
Sie bringen
mich ein bisschen in Schwierigkeiten, weil ich nicht weiß,
wen speziell Sie angeredet haben. Es waren auf jeden Fall
mehrere. Ich gebe jetzt einfach der Kollegin Lenke das
Wort.
Herr Kollege Marschewski, mit
den von Ihnen genannten Beispielen stellen Sie diese
Richtlinie so dar, als hätten alle volljährigen Kinder ein
Nachzugsrecht, als gelte für alle unverheirateten Lebenspartner und für alle hier lebenden Studenten, dass sie ihre
Familien nachholen könnten.
Ich will Sie einmal etwas aufklären, weil Sie sich wahrscheinlich die Rede haben aufschreiben lassen. Hätten Sie
sich nämlich die Richtlinie selbst durchgelesen, Herr
Marschewski, dann hätten Sie etwas ganz anderes darin
gefunden. Zum Zuzug lediger Lebenspartner heißt es beispielsweise:
Um Missbrauch der Bestimmung zu verhindern, gilt
diese nur für den Fall, dass ledige Lebenspartner eine
auf Dauer angelegte Beziehung führen.
Was soll eigentlich Ihre Schwarz-Weiß-Malerei?
Auch volljährige Kinder haben nach dieser Richtlinie
nicht immer ein Recht auf Zuzug. Hier steht nur:
Es wird eine Bestimmung über volljährige Kinder
eingeführt. In besonderen, schwierigen Situationen
kann ihnen der Nachzug gestattet werden.
Wollen Sie keine solche soziale Komponente in dieser
Richtlinie? Ich will sie.
Dann haben Sie, glaube ich, auch von Studenten gesprochen. Dazu steht dort:
Da jedoch die Dauer des Aufenthalts ... begrenzt ist
und sie in einigen Mitgliedstaaten keine Erwerbstätigkeit aufnehmen dürfen, kommen die Studenten
nicht in den Genuss derselben Vergünstigungen wie
andere dort ansässige Personen.
Es sind also Ausnahmen und es gibt für den Staat Ermessensspielräume. Außerdem sind die Bestimmungen
enger, als Sie es dargestellt haben. Ihre Rede wäre wirklich ausgewogener gewesen, wenn Sie auch auf das hingewiesen hätten, was in der Richtlinie steht, und nicht nur
auf das, was Sie aus der Richtlinie herauslesen.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Irmingard Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Herr Marschewski, bei Ihrer Rede hatte ich den
Eindruck, im falschen Film zu sitzen. Noch am Montag
habe ich mit Ihren Kollegen in der Enquete-Kommission
„Demographischer Wandel“ gesessen. Wir haben überlegt, wie wir mehr Migranten und Migrantinnen nach
Deutschland bekommen, und die Sachverständigen gefragt, woran es liege, dass so viele wieder zurückgehen.
Wir werden nämlich im Jahre 2050 22 Millionen Menschen weniger in Deutschland haben. Heute aber legen
Sie uns hier ein Papier vor, mit dem jede Großmutter und
jedes ältere Kind aus Deutschland fern gehalten werden
soll. Für mich ist das ein Beweis dafür, dass Sie in der Integrations- und Migrationspolitik kopflos sind.
({0})
Die von dem neuen EU-Kommissar für Justiz und Inneres, Antonio Vitorino, vorgelegten flüchtlings- und migrationspolitischen Vorschläge zeugen von einer grundlegenden Wende weg von den bisherigen restriktiven
Konzepten hin zu einer modernen, weltoffenen und gleichzeitig werteorientierten Asyl- und Einwanderungspolitik.
Endlich werden die Vorgaben des Amsterdamer Vertrages
ernst genommen und Institutionen wie der UNHCR, Amnesty International und der Europäische Flüchtlingsrat erhalten die Beachtung, die ihnen gebührt. Ausdruck dieser
neuen Dynamik ist der erste, heute hier zur Debatte stehende Richtlinienvorschlag, den die Kommission vorgelegt hatte. Er widmet sich dem wichtigsten Instrument der
Integration, der Familienzusammenführung.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie
verlangen eine „sachgerechte Lösung“ der Familienzusammenführung. Ihre Vorschläge aber zeigen, dass Sie
weder an mehr Rechten oder Gerechtigkeit noch an den
sozialen und menschlichen Bedürfnissen der betroffenen
Personen interessiert sind. Sie kritisieren, dass die EUKommission eine Richtlinie zur Familienzusammenführung vorgeschlagen hat, ohne ein Gesamtkonzept für
Fragen der künftigen Einwanderungs- und Asylpolitik
entwickelt zu haben. Dieser Vorwurf ist überholt, denn im
November letzten Jahres hat die Kommission zwei grundlegende Mitteilungen zur Migrationspolitik präsentiert.
Wir Bündnisgrünen erkennen darin viele erfreuliche
Parallelen mit unseren Vorstellungen, die wir vor wenigen
Wochen in einem Grundsatzpapier der Öffentlichkeit vorgestellt haben. Die Kommission schlägt nämlich eine
grundlegende Kehrtwende von der bisherigen unbarmherzigen Abschottungspolitik der EU mit der Begründung
vor, die „Politik der Nullzuwanderung passt nicht mehr in
den ({1}) wirtschaftlichen und demographischen
Kontext“. Durch die Festungspolitik der EU werden nicht
nur Flüchtlinge und Migranten in die Hände krimineller
Schlepperbanden getrieben, diese Politik blockiert auch
gestalterische Politikansätze.
Aus grüner Sicht ist von besonderer Bedeutung, dass
die Kommission ebenfalls ein Dreisäulenmodell für ihre
Einwanderungspolitik entwickelt hat, das sich mit unseren Vorstellungen weitgehend deckt. - Herr Marschewski,
ich bitte Sie, einmal zuzuhören, damit Sie die Konzeption
der Grünen mitbekommen, weil Sie behaupteten, wir hätten keine solche Konzeption.
Die Kommission und die Grünen unterscheiden drei
Kategorien der Zuwanderung: erstens aus humanitären
und zweitens aus wirtschaftlichen Gründen, drittens aber
auch als Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung.
Mit diesem Dreisäulenmodell stellt die Kommission klar,
dass es sich hierbei um strukturell unterschiedliche Formen der Einwanderung handelt. Diese können nämlich
nicht, wie zum Beispiel bei einer migrationspolitischen
Gesamtquote, gegeneinander aufgerechnet werden. Dies
ist richtig; denn sowohl beim Asyl als auch bei der Familienzusammenführung handelt es sich um eine Einwanderung aufgrund von Rechtsansprüchen. Diese sind
den politischen Opportunitätserwägungen entzogen.
Die Familienzusammenführungsrichtlinie ist für uns
eine konsequente Umsetzung auch der Schlussfolgerungen von Tampere, nämlich die Rechte von Drittstaatenangehörigen denen der Unionsbürgerinnen und -bürgern
anzugleichen. Der Ansatz ist klar: Es gibt keine Menschenrechte erster, zweiter oder dritter Klasse. So sollen
auch Flüchtlinge künftig das Recht haben, zusammen mit
ihren Familien zu leben. Dieser Grundsatz wurde auch im
überarbeiteten Kommissionsvorschlag vom Oktober beibehalten.
Wenn Sie von der Union nun kritisieren, dass die Kommission diesen Menschen zu großzügige soziale Rechte
gewähren möchte, dann warne ich Sie. Sie stellen sich mit
Ihrer Kritik in Widerspruch zu der sonst doch so hoch gehaltenen Idee der Integration. Die Entrechtung und Diskriminierung von Flüchtlingen führt nicht nur zu deren
gesellschaftlicher Ausgrenzung, sie gibt diese Menschen
auch rassistischen Vorurteilen preis. Wie Sie wissen, ist
das die Vorstufe von fremdenfeindlicher Gewalt.
Deswegen begrüßen wir den von der Kommission vorgeschlagenen Familienbegriff; denn dieser umfasst auch
nicht eheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Ich finde, das ist ein zeitgemäßer und realitätstüchtiger Ansatz.
Ihre Kritik, meine Kolleginnen und Kollegen von der
Union, ist Ausdruck einer heuchlerischen Doppelmoral.
Wenn Sie immer über die Bedeutung des Schutzes der Familie reden, dann gilt dies offenkundig nur für die deutsche Familie. Diese besteht, wie Sie gerade noch einmal
bestätigt haben, in Ihren verstaubten Vorstellungen immer
noch aus Vater und Mutter, verheiratet, plus Kind. Sie gehen hiermit nicht nur an den vielfältigen Lebensrealitäten
in unserer Gesellschaft vorbei, sondern auch an der gesetzlichen Realität.
Wir haben mit unserem Gesetz zur eingetragenen Lebenspartnerschaft auch einen Anspruch auf Nachzug
gleichgeschlechtlicher Partner ermöglicht. Wenn Sie
Sorge haben, dass da auf den Staat hohe Kosten zukommen, Herr Marschewski, so kann ich Ihnen nur sagen: Es
ist ganz genau geregelt, dass das eine Verantwortungsgemeinschaft ist, dass die Partner gegenseitig unterhaltspflichtig sind. Insofern sind Ihre Bedenken hier überhaupt nicht nachvollziehbar.
Abschließend noch einige Worte zu den Zahlenspielereien, mit denen Sie in mitunter unverantwortlicher Weise
die Ängste von Menschen schüren. Wir haben heute einen
jährlichen Zuzug von 60 000 Familienangehörigen. Davon betrifft fast die Hälfte, nämlich rund 25 000, den
Nachzug von ausländischen Angehörigen deutscher
Staatsangehöriger. Der Kommissionsvorschlag regelt allerdings nur den Nachzug der bereits hier lebenden
Drittstaatenangehörigen.
Schließlich - das geben Sie in Ihrem Antrag selber zu -:
Ihre atemberaubenden Zahlen derjenigen, die mit dem
Kommissionsvorschlag einen zusätzlichen Anspruch auf
Nachzug nach Deutschland erhalten würden, ergeben sich
zum allergrößten Teil durch den Aussiedlerzuzug. Brüssel
ist also die falsche Adresse Ihrer Polemik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
wenn Sie sich entschieden haben, die Familienpolitik in
das Zentrum Ihres Wahlkampfes zu stellen, dann sollten
Sie heute damit beginnen, indem Sie diesen Antrag
zurückziehen; denn sonst machen Sie sich unglaubwürdig. Die Familie steht unter dem Schutz des Staates, steht
in unserem Grundgesetz. Dieser Schutz des Staates bezieht sich nicht nur auf die deutschen Familien, sondern
auch auf die Familien, die aus anderen Ländern kommen
und hier bei uns leben.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Auch wir sind der Meinung, dass der von der
CDU/CSU vorgelegte Antrag völlig an der Wirklichkeit
vorbeigeht. Unserer Ansicht nach wäre es ein großer Fortschritt, wenn die EU-Richtlinien, die nach wie vor erst im
Entwurf vorliegen, verabschiedet werden würden. Ich
hatte schon befürchtet, Herr Marschewski, dass Sie eine
unheilige Allianz mit dem Innenminister vorschlagen
würden. Ich hoffe, dass die SPD und die Grünen bei dem
bleiben, was sie heute in ihren Reden vorgetragen haben.
Denn wenn man sich genau anschaut, was in diesen Richtlinien enthalten ist, dann gibt es eine Menge wichtiger
Punkte, die meines Erachtens längst überfällig sind.
Ich erinnere an den Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung, der geschaffen werden würde und der
die Ermessenswillkür der Ausländerbehörden entsprechend einschränken würde. Der Kreis derjenigen, die einen Anspruch haben, wird außerdem erweitert. Das ist
hier schon genannt worden. Das bedeutet, dass alle, die
eine Aufenthaltsgenehmigung von einer gewissen Dauer
haben, ihre Angehörigen nachziehen lassen können. Das
finde ich einen sehr wichtigen Schritt.
Der Kreis der Angehörigen, die nachziehen können,
wird zudem ausgeweitet, nämlich auf Kinder bis zu
18 Jahren. Das Gesetz sieht bisher nur Kinder bis 16 Jahre
vor. Ich finde es ziemlich kinderfeindlich, dass die CDU
das Alter sogar auf zehn Jahre beschränken will. Es ist
auch genannt worden, dass Homosexuelle ihre Lebenspartner ebenfalls nachziehen lassen können. Das, meine
ich, ist grundsätzlich eine sehr wichtige Entscheidung,
wenn sie denn so getroffen wird.
Herr Marschewski befürchtet das Einsetzen einer Einwanderungsflut. Auch in dem Antrag wird beschworen,
dass keine Kontrolle mehr über die Einwanderung möglich wäre. Ich möchte an Debatten erinnern, die dieses
Haus diverse Male geführt hat. Es gibt ganz bestimmte
Gruppen von Menschen, die Grundrechte haben, die sie in
Anspruch nehmen können, sodass sie hier bleiben können. Dazu zählen beispielsweise die Asylbewerber und
diejenigen, die ihre Familien nachziehen lassen. Der Familiennachzug ist also ein Menschenrecht - nicht nur
nach unserem Grundgesetz. Im Übrigen hat auch die damalige Kohl-Regierung die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet. Da heißt es: Jede Person
hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens.
Ich meine, dass diese Gruppen, egal, wie man zur Einwanderungsdebatte steht und ob man mit Quotenzahlen
oder Sonstigem arbeiten will, auf gar keinen Fall hinzugerechnet werden dürfen. Sie haben vielmehr ein Grundrecht darauf, mit ihren Familien hier zu leben, weil sie des
Schutzes vor Verfolgung bedürfen oder sie in Not sind.
Ich möchte Sie außerdem auf etwas aufmerksam machen, das sich mit diesen Richtlinien, wenn sie durchgesetzt würden, ebenfalls ändern würde. Wir haben gegenwärtig das Problem, dass beispielsweise Menschen, die
abgeschoben wurden und die nach ihrer Abschiebung heiraten, nur dann ins Land zurückkehren dürfen, wenn sie
die Abschiebekosten aufbringen. Es handelt sich in der
Regel um mehrere tausend Mark.
Ich habe dazu eine Kleine Anfrage gestellt. Die Bundesregierung hat zwar geantwortet, dass die finanziellen
Erwägungen nicht zwingend seien, man könne auch eine
Ratenzahlung vereinbaren, aber ich meine, es ist für eine
junge Familie eine große Zumutung, gleich mit Schulden
belastet zu sein. Diese Menschen haben ein Recht darauf
zurückzukommen, ohne sich ihr Familienglück sozusagen erkaufen zu müssen. Das entspricht unter der jetzt gegebenen Bedingung nicht gerade der Menschenwürde.
Natürlich gibt es in den Richtlinien auch Punkte - wir
werden sie ausführlich im Ausschuss diskutieren -, die
aus unserer Sicht ergänzt werden müssen. Es ist zum Beispiel so, dass nicht anerkannte Asylberechtigte, die hier
aber Flüchtlingsschutz genießen, ihre Familien nicht
nachziehen lassen sollen. Warum und weshalb ist meiner
Meinung nach überhaupt nicht nachvollziehbar.
Ich meine jedenfalls, dass wir die EU-Richtlinien ausführlich diskutieren, sie wohlwollend behandeln und über
entsprechende Ergänzungen nachdenken sollten.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Cornelie
Sonntag-Wolgast.
Frau Präsidentin!
Liebe Kollegen und Kolleginnen! Herr Marschewski,
Neujahrsgeschenke nimmt man eigentlich nicht von anderen an, sondern man macht sie sich lieber selber. Dann
ist man auch selbstbestimmt und fähig, darüber zu entscheiden.
({0})
Deswegen reklamiere ich bei dieser Frage für uns unseren
eigenen Weg und der ist doch ein bisschen anders, als Sie
ihn sich vorstellen.
({1})
Es gibt wohl, meine Damen und Herren, kaum ein Papier der EU-Kommission aus dem Bereich der Asyl- und
Migrationspolitik, das derzeit so heftig debattiert wird wie
dieser Vorschlag der EU zum Recht auf Familienzusammenführung. Ich finde, diese öffentliche Auseinandersetzung tut dem Prozess der europäischen Einigung
gut; sie macht das Ganze endlich einmal fassbar und lebendig. Ich begrüße auch ausdrücklich, dass diese Diskussion um ein Thema kreist, das gerade in unserem
Grundgesetz einen hohen Wert hat, nämlich den Schutz
von Ehe und Familie. Ich halte es schon für bemerkenswert, wie Christdemokraten die Problematik des Zusammenlebens von Menschen dann plötzlich nicht mehr
für so wichtig halten, wenn es sich um Migranten handelt.
Überlegen Sie sich sehr genau, was Sie damit anrichten,
auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Ideologie!
({2})
Eine europäische Zuwanderungspolitik, meine Damen und Herren, gehört zu den großen laufenden Vorhaben der Gemeinschaft. Sie kann damit auch nicht warten,
bis die Frist, die uns der Amsterdamer Vertrag gibt, abgelaufen ist. Es ist zugleich eine Aufgabe der nationalen Verhandlungspartner, die besondere Situation im jeweiligen
Staat in diese Arbeit einzubringen, den notwendigen
Handlungsspielraum auszuloten und auch zu wahren. Genau in dieser Phase befinden wir uns. Es ist überhaupt
kein Geheimnis, dass die Bundesregierung gegen einige
Punkte der jetzigen Fassung Bedenken hat. Das gilt übrigens auch für die Länder und die Kommunen. Ich sage
aber ebenso deutlich: Eine knallharte Ablehnung der
Richtlinie, wie sie die CDU/CSU fordert, kommt nicht in
Frage.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der
CDU/CSU, übertragen Ihre sattsam bekannten Standpunkte und Ängste vom nationalen Rahmen auf die Ebene
der Union. So einfach lässt sich das EU-Geschäft nun
wirklich nicht erledigen. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Teile Ihres Antrages sind von einem unfreundlichen
Geist und Ton gegenüber Europa geprägt. Ich will dafür
einige Beispiele nennen. Sie sprechen von einer „konzeptionslosen Vermehrung des Familiennachzugs“. Sie sehen
den „Begriff Familie faktisch ausgehöhlt“. Sie wittern bei
den geplanten Nachzugsregelungen für eingetragene
Lebenspartnerschaften „unzählige Missbrauchsmöglichkeiten“ usw. Kurz gesagt, Sie schüren wieder einmal mit
dramatischen Vokabeln Sorgen und Unruhe. Ich kann nur
dazu ermuntern, die Zuwanderungsdebatte in ruhiges
Fahrwasser zu lenken. Das ist angesichts der jüngst veröffentlichten Statistiken nun wirklich auch geboten.
({3})
Ich erinnere zum Beispiel an die Zahl der Asylanträge:
Sie war im vergangenen Jahr so niedrig wie seit 1988
nicht mehr. Ruhe und Gelassenheit wären also angebracht.
Es ist auch viel besser, konstruktiv an der Richtlinie
mitzuarbeiten, denn auf diese Weise haben wir die größten Chancen, unsere Vorstellungen und unsere Interessen
in Brüssel zur Geltung zu bringen. Die Kommission,
meine Damen und Herren, ist der Motor der europäischen
Integration, aber nicht unbedingt der Sachwalter einzelner
Mitgliedstaaten. Unsere Aufgabe ist es, den Standpunkt
der Bundesrepublik zu vertreten und zu verankern. Dazu
sind wir durchaus in der Lage. Es wird Sie vielleicht interessieren, dass der Bundesinnenminister noch im Laufe
des Januars mit Kommissar Vitorino zusammenkommt,
um unter anderem auch über dieses Thema zu sprechen.
Ich will durchaus auch auf einige Probleme verweisen,
die die Bundesregierung und übrigens auch die Länder sehen. Dazu gehört zum Beispiel die Tatsache, dass die
Kommission im Oktober 2000 eine überarbeitete Fassung
vorlegte, in dem neuen Text aber praktisch nur die Änderungswünsche des Europäischen Parlaments berücksichtigt hat, nicht aber die Vorstellungen der Mitgliedstaaten.
Vorbehaltlos kann sich das Bundesinnenministerium auch
nicht mit den Vorschlägen zum Kindernachzug bis zur
Volljährigkeit anfreunden. Wir plädieren für ein flexibleres Verfahren, das den Mitgliedstaaten die Möglichkeit
lässt, Altersbegrenzungen zwischen 16 und 18 Jahren
festzulegen.
({4})
Wir sind aber jederzeit auch für Ausnahmeregelungen bei
Härtefällen oder aus humanitären Gründen. Im Moment
wird das ja auch noch so geregelt. Sie von der CDU/CSU
wollen nun aber den Kindernachzug nur bis zum Alter von
höchstens zehn Jahren gewähren; das richtet sich nun
wirklich gegen die Pläne der EU. Ich möchte auch noch
die Beseitigung der so genannten Inländerdiskriminierung nennen, wodurch die Zahl von zuziehenden Spätaussiedlern deutlich ansteigen würde. Das ist eine spezielle
deutsche Eigenheit, die auch bei den weiteren Verhandlungen mit in die Waagschale geworfen werden muss.
Meine Damen und Herren von der Opposition, so ein
bisschen müssten Sie sich eigentlich noch an die Jahre Ihrer Regierungsverantwortung erinnern, als Sie sich noch
mit dieser Materie beschäftigen mussten. Zur Verabschiedung von Normen zur Familienzusammenführung haben
wir uns nämlich in dem bereits erwähnten Art. 63 Nr. 3 des
Amsterdamer Vertrages verpflichtet. Dieses Werk, Herr
Kollege Marschewski, wurde 1997, also von der damaligen CDU/CSU/F.D.P.-Koalition, abgeschlossen. Darüber,
dass Sie jetzt so tun, als ob die Bundesrepublik dieses
Rechtssetzungsvorhaben einfach und schlankweg verhindern könnte, kann ich wirklich nur den Kopf schütteln.
Außerdem folgt Ihr Antrag einer krausen Logik. Er fordert, die EU-Richtlinie einfach abzulehnen. In der Begründung ist dann von der Notwendigkeit der Überarbeitung die Rede. Was denn nun? Etwas, was man als völlig
untauglich ablehnt, kann man nicht anschließend überarbeiten. Sie müssen sich schon entscheiden, welchen Weg
Sie einschlagen wollen.
Meine Damen und Herren, unser Motto lautet: nicht
ablehnen, sondern arbeiten und argumentieren, nicht verhindern, sondern verhandeln. Wir wollen doch auf dem
Weg zu einer einheitlichen Zuwanderungspolitik in Europa weiterkommen und wir wollen dabei unsere besonderen Interessen zur Geltung bringen. Das, was Sie dagegen vorschlagen, führt in die Isolation und das wollen wir
nicht.
({5})
Als Letzte in der
Debatte hat jetzt die Kollegin Anke Eymer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Die Bürger und Bürgerinnen haben ein Anrecht darauf, dass wir uns mit diesem wichtigen
Thema ernsthaft beschäftigen. Unsere Fraktion will die
Integration, wir müssen sie aber auch leisten können.
Unser Antrag „Familienzusammenführung sachgerecht regeln - EU-Richtlinienvorschlag ablehnen“ stellt
die Forderung nach einem gesamtheitlichen Konzept der
Einwanderungs- und Asylpolitik in den Vordergrund.
Der EU-Richtlinienvorschlag ist abzulehnen. Er bietet nur
punktuelle Regelungen und ermöglicht eine konzeptionslose Vermehrung des Familiennachzugs, ohne die wesentlichen Fragen einer Integration der Zuwanderer zu lösen oder auch nur Lösungsansätze auszugestalten.
({0})
Wir brauchen kein planloses Mehr an Zuwanderern,
sondern wir brauchen ein vernünftiges, ausgewogenes
Verhältnis von Aufnahmen aus humanitären, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen. Wir brauchen eine
umfassende Lösung auch unter Einbeziehung des Asylrechts,
({1})
eine Lösung mit klaren Quoten, eine faire Lastenverteilung in der EU und eine Zuwanderungsbegrenzung, die
unseren Integrationsmöglichkeiten Rechnung trägt.
({2})
Ich sage es noch einmal: Wir wollen Integration, wir
müssen sie aber auch leisten können. Ein gesamtheitliches
Konzept für Deutschland und Europa ist gefordert.
Mit dem Vertrag von Amsterdam aus dem Jahre 1999
haben die Mitgliedstaaten die Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungs- und Asylpolitik in die Hände der
EU gelegt. Damit haben sie anerkannt, dass dieser Bereich nicht mehr nur national geregelt werden kann. Es
muss europaweite Regelungen geben. Was gut gemeint
war, wird aber nicht gut gemacht.
Die Kommission hat sich als erste Gesetzesinitiative
für den Entwurf einer Richtlinie betreffend das Recht auf
die Familienzusammenführung entschieden, ohne auch
nur im Ansatz ein Gesamtkonzept für die künftige Asylund Einwanderungspolitik erkennen zu lassen. Bisher ist
weder erfasst worden, wie viel Zuwanderung durch den
Nachzug von Familienangehörigen erfolgt, noch ist abzusehen, mit wie viel Zuwanderung aus welcher Generation
und mit welcher Qualifikation durch die von der Kommission vorgeschlagenen Regelungen zu rechnen ist. Die
Folgen für das Renten-, Sozial- und Steuersystem der Mitgliedstaaten sind ebenfalls nicht abzuschätzen.
({3})
Die fehlende Gesamtstrategie und die zumindest mangelhaften statistischen Grundlagen bleiben leider nicht
die einzigen Kritikpunkte. Die Kommission vermischt
Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen mit Asyl.
Asyl als Hilfe für jemanden, dessen Leben in seinem Heimatland bedroht ist, ist eine Verpflichtung, die sich die
Staaten aus humanitären Gründen auferlegt haben. Bei
der Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen ist es das
legitime Recht der Staaten, zu entscheiden, welches Maß
an Zuwanderung für sie verträglich ist und nach welchen
Kriterien sie eine Auswahl treffen.
Ein Kardinalfehler im Umgang mit Ausländern wird
von der Kommission erneut begangen: Es wird keinerlei
Gedanken an die Integration dieser Menschen verschwendet. Man kann Menschen nicht in ein fremdes
Land holen, ohne gleichzeitig für ein friedliches und
freundschaftliches Zusammenleben von Ausländern und
Inländern zu sorgen. Hier muss die Frage gestellt werden:
Ist derjenige, der ins Land kommt, integrationswillig und
auch integrationsfähig? Andererseits müssen wir aber
auch fragen, in welchem Maße unsere Bürger und Bürgerinnen bereit und in der Lage sind, Fremde zu integrieren.
All diese Kritikpunkte betreffen nicht nur den Richtlinienentwurf zur Familienzusammenführung. Sie müssen
aber bereits in diesem Zusammenhang aufgezeigt werden,
da durch diese erste Gesetzesinitiative Rechtsgrundlagen
auch für später zu regelnde Bereiche der gemeinsamen
Einwanderungspolitik geschaffen werden.
Um auf europäischer Ebene zu einer befriedigenden
Lösung zu kommen, dürfen wir uns nicht mehr in punktuellen Diskussionen verlieren. Wichtig ist der tatsächliche und unbürokratische Schutz derer, die in ihren
Heimatländern an Leib und Leben bedroht sind. Diese Bedingung ist bereits durch die Anerkennung der Genfer
Flüchtlingskonvention erreicht. Sie bietet Asylsuchenden
den gleichen Schutz wie der entsprechende Artikel des
Grundgesetzes.
Abschließend ist festzuhalten: Zuwanderungspolitik
darf kein bloßes Mehr an Zuwanderung sein, sondern
muss ein vernünftiges und ausgewogenes Verhältnis von
Aufnahme aus humanitären, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen herstellen.
({4})
Wir lehnen den EU-Richtlinienvorschlag ab.
({5})
Ich schließe
damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4529 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
8. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. R.
Werner Schuster, Joachim Tappe, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Afrikas Entwicklung unterstützen
- Drucksachen 14/3701, 14/4850 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Tappe
Carl-Dieter Spranger
Rita Grießhaber
Wolfgang Gehrcke
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim
Günther, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
Für eine europäische Ausrichtung der deutschen
Afrikapolitik
- Drucksache 14/5090 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Herr Bundesminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Europa und
Afrika sind Nachbarkontinente. Allein aus diesem Grund
können wir es uns als Europäer nicht erlauben, dass Afrika
Anke Eymer ({0})
im Zeitalter der Globalisierung zum vergessenen Kontinent wird.
({1})
Was dort geschieht, geht uns unmittelbar an und hat vielfältige Rückwirkungen auf Deutschland und Europa. Europa hat - dies nicht nur aufgrund seiner kolonialen Geschichte - eine Verantwortung für Afrika. Wir müssen und
wollen uns deshalb in Afrika engagieren.
Ich bin im vergangenen Jahr zweimal nach Afrika gereist, um mir selbst ein Bild von der dortigen Lage zu verschaffen. Die Besuche in Nigeria, Mosambik und Südafrika haben mir einen anderen Eindruck vermittelt als
meine nachfolgenden Besuche in Angola, Burundi und
Ruanda. Diese Reisen haben vor allem eines bestätigt: Die
Wirklichkeit in Afrika ist heute, 40 Jahre nach der Entkolonisierung, in jeder Hinsicht - politisch, wirtschaftlich
und gesellschaftlich - außerordentlich differenziert.
Die Ablösung der Militärregierung in Nigeria durch
eine demokratisch gewählte Regierung, die Überwindung
der Apartheid in Südafrika, der Wiederaufbau der durch
Bürgerkrieg zerstörten ehemaligen portugiesischen Kolonien Angola und Mosambik, die Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda, der schwelende Konflikt in Burundi,
der blutige Krieg im Kongo, Staatszerfall und Bürgerkrieg
in Sierra Leone, zunächst Hunger und Krieg, dann neue
Hoffnung für den Frieden am Horn von Afrika, der
langjährige Krieg im Süden des Sudans: All dies zusammengenommen zeigt, dass pauschale Ansätze der komplexen Realität unseres Nachbarkontinents nur sehr bedingt gerecht werden können.
Wir haben uns deshalb vorgenommen, regionale Strategien zu entwickeln, die dieser Komplexität gerecht werden, und eine Politik der regionalen Stabilisierung zu versuchen. Dabei sind wir uns der begrenzten Reichweite der
Afrikapolitik Deutschlands aufgrund der begrenzten Ressourcen bewusst. Allein werden wir nicht wirkungsvoll
handeln können. Die Bundesregierung setzt sich deshalb
dafür ein, dass die EU in Afrika eine stärkere Rolle übernimmt, was mit manchen Partnern allerdings nicht immer
einfach ist.
({2})
Der erste EU-Afrika-Gipfel in Kairo hat den Willen gezeigt, zwischen Afrika und Europa einen Dialog „auf gleicher Augenhöhe“ zu führen. Hieran wollen wir bilateral
und auf europäischer Ebene anknüpfen. Das neue LoméNachfolgeabkommen vertieft neben der wirtschaftlichen
die politische Partnerschaft. Auch in der GASP muss
Afrika einen höheren Stellenwert erhalten.
Auch wenn unsere Lösungsansätze immer auf die jeweiligen regionalen Besonderheiten in Afrika bezogen
sein müssen, lassen wir uns von übergeordneten Zielen
leiten:
Erstens: Demokratisierung und die Herrschaft des
Rechts. Bürgerliche Freiheiten und die Achtung der Menschenrechte sind nicht der Lohn der Entwicklung, sondern
die Voraussetzung dafür. Demokratische Regierungsformen bieten die beste Garantie für eine verantwortliche
Regierungsführung, für ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit und - dies ist ganz wichtig für Entwicklung - für die
Überwindung von Armut. Das sind nicht Ergebnisse von
Entwicklung, sondern Voraussetzungen für Entwicklung.
({3})
Nur so kann der „Fluch“ des Rohstoffreichtums, der
Länder wie Sierra Leone, Angola oder Kongo in Bürgerkrieg und Verwüstung gestürzt hat, in einen Segen verwandelt werden. Afrika braucht offene, plurale Gesellschaften, braucht Medienfreiheit und Toleranz zwischen
den Ethnien. Klar ist aber auch, dass demokratische Institutionen von innen heraus getragen werden müssen. Sie
müssen von der Bevölkerung gewollt und dort kulturell
verwurzelt sein und dürfen nicht nur von ausländischen
Gebern verlangt werden - eine Erfahrung, die wir in Europa und vor gar nicht langer Zeit auch in Deutschland gemacht haben.
Deshalb: Geduld und langer Atem sowie langfristiges
Engagement sind notwendig. Wir werden uns darauf konzentrieren, die Rechtssysteme zu stärken und zu fördern.
Zweitens: Stärkung regionaler Stabilisierungsbemühungen. Die OAE und afrikanische Regionalorganisationen wie SADC oder ECOWAS haben - trotz ihrer
auch in Afrika unbestrittenen Schwächen - Beachtliches
erreicht, gerade hinsichtlich des „peace-keeping“. Nigeria
hat dabei einen hohen Blutzoll entrichtet, wie die Experten nur zu gut wissen. Aber ich möchte es hier noch einmal betonen: „Peace-keeping“ war in Westafrika im Wesentlichen eine Leistung der Afrikaner.
Ihre Fähigkeiten zu Krisenprävention und Konfliktbewältigung werden wir aktiv unterstützen und wir werden
bei der Entwicklung von Minderheitenstandards und vertrauensbildenden Maßnahmen europäische Erfahrungen
anbieten. Als Beispiele nenne ich die Förderung des OAEKonfliktmanagementzentrums, die Kleinwaffeninitiative
und eine restriktive Rüstungsexportpolitik.
Auch in der Friedenssicherung gilt der Grundsatz: Vorrang für regionale Lösungsansätze. Das heißt aber nicht,
dass wir unsere Erwartungen nicht klar formulieren.
Im Kongo hoffen wir nach dem Tod Kabilas auf eine
Rückkehr zu geordneten Verhältnissen. Die Lage in
Kinshasa ist nach den jüngsten Ereignissen bislang ruhig
geblieben. Sie ist jedoch potenziell hochgefährlich.
Kongo ist heute der zentrale Konfliktherd der Region und
darüber hinaus. Insofern wird es hier entscheidend auf
eine Deeskalation ankommen. Ein Auseinanderbrechen
dieses Landes könnte das gesamte Umfeld in einen Abgrund von Gewalt und Zerstörung reißen. Es muss deshalb alles getan werden, um dies zu verhindern.
({4})
Die Bundesregierung appelliert an alle am Kongokonflikt Beteiligten, die jetzige dramatische Lage nicht für eiBundesminister Joseph Fischer
gene Zwecke auszunutzen. Wir fordern von ihnen die
Umsetzung des Abkommens von Lusaka
({5})
und die Unterstützung der Friedensbemühungen der Vereinten Nationen. Jetzt müssen die Voraussetzungen für
den Übergang zu einer demokratischen Regierungsform
geschaffen werden. Nur dann besteht Hoffnung, dass sich
die Lage im Land und in der Region stabilisieren wird.
Der Gefährdung der Stabilität im südlichen Afrika
durch die politische Instrumentalisierung der Landfrage
in Simbabwe muss vor allen Dingen in der Region entschieden begegnet werden. Wir bestehen dabei auf
Rechtsstaatlichkeit. Namibia darf dem Beispiel Simbabwes nicht folgen. Die dort geplante Landreform ist unverzichtbar. Wir wollen sie unterstützen, soweit dies in unseren Kräften steht.
In den westafrikanischen Krisenländern Guinea, Sierra
Leone und Elfenbeinküste hat die Afrikabeauftragte der
Bundesregierung in den letzten Tagen politische Gespräche geführt. Wir erwarten eigene Anstrengungen dieser Länder zur Beendigung der Konflikte und zur Partizipation der Bevölkerung beim Übergang zur Demokratie.
Die Bundesregierung leistet humanitäre Hilfe und ist zur
Unterstützung beim wirtschaftlichen Wiederaufbau und
bei der Rückkehr der Flüchtlinge bereit.
Neben den eigenen Bemühungen der Afrikaner bleibt
Friedenssicherung durch die VN unverzichtbar. Auf keinem anderen Kontinent gibt es so viele gewaltsame Konflikte und so wenig Engagement von außen. Auch hier
wollen wir nachhaltig unterstützen.
Drittens: Nothilfe. Bei Natur- und Flüchtlingskatastrophen müssen wir schnell und umfassend humanitäre Hilfe
leisten. Wir haben dies am Horn von Afrika und in Mosambik getan. Wir hoffen darauf, dass die neuen Krisenmanagementkapazitäten mit der Verbindung von zivilen
und militärischen Aktivitäten noch schnellere, noch effizientere, noch punktgenauere europäische Reaktionen
möglich machen.
Viertens: Förderung nachhaltiger Entwicklung.
Dies ist gerade in Afrika ein entscheidender Punkt, für den
wir uns einsetzen müssen. Afrika darf sich nicht vom Informationszeitalter abkoppeln. Wir dürfen das nicht zulassen.
({6})
Der Anschluss an das Internet muss auch dort gewährleistet werden. Die Voraussetzungen dafür müssen geschaffen werden. Erziehung und Bildung spielen dabei eine
große Rolle. Die Abkopplung von der Wissensgesellschaft dürfen wir nicht zulassen. Ein verstärkter Kampf
gegen den Analphabetismus ist erforderlich.
({7})
- Es wird entscheidend sein, dass wir uns mit unseren begrenzten Möglichkeiten gemeinsam mit unseren europäischen Partnern engagieren. Hier gibt es einzelne Ansätze,
an die wir anknüpfen können. Das ist von entscheidender
Bedeutung. In dem Punkt Informationszeitalter haben wir
von der Vorgängerregierung nichts vorgefunden, woran
wir hätten anknüpfen können. Das ist ein neues Thema,
dem wir uns zuwenden müssen, gemeinsam mit unseren
Partnern in der Europäischen Union.
Wir dürfen die ärmsten Länder nicht im Teufelskreis
der Verschuldung allein lassen. Die Kölner Schuldeninitiative und darüber hinausgehende bilaterale Vereinbarungen setzen in vielen Ländern neue Ressourcen für
Armutsbekämpfung und wirtschaftliche Entwicklung
frei. Bislang sind Erlassmaßnahmen für 22 hoch verschuldete arme Länder beschlossen worden. Davon liegen 18
in Afrika. Ich denke, das ist ein sehr konkreter, sehr praktischer Schritt aktiver Entwicklungsunterstützung, der
sich weiß Gott sehen lassen kann.
({8})
Fünftens. Die Aidsbekämpfung wird von entscheidender Bedeutung sein. Zusammen mit WHO und UNAIDS müssen wir Mittel von europäischer Seite einsetzen. Neue Impfstoffe zu entwickeln und ihren Einsatz
materiell zu ermöglichen wird eine große Herausforderung sein.
Für uns wird es darum gehen - das hat die Diskussion
mit afrikanischen Partnern gezeigt -, dass wir uns von
postkolonialen, paternalistischen Vorstellungen lösen,
dass wir unser Engagement Afrika gegenüber aufrechterhalten, dass wir unsere begrenzten Ressourcen gemeinsam mit unseren Partnern in Europa in den Punkten zum
Einsatz bringen, die ich angesprochen habe, dass wir eine
neue Partnerschaft „auf gleicher Augenhöhe“ zwischen
Europa und Afrika nicht nur formulieren, sondern auch
umsetzen und so eine regionale Stabilisierung auf diesem
Kontinent erreichen. Diese regionale Stabilisierung der
Sicherheitslage, diese regionale Stabilisierung der Entwicklungsperspektive ist die Voraussetzung dafür, dass
Afrika im Zeitalter der Globalisierung nicht von der globalen Entwicklung abgekoppelt wird. Dafür wollen wir
uns einsetzen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Karl-Heinz Hornhues.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist das dritte Mal binnen
weniger als Jahresfrist, dass wir im Deutschen Bundestag
über Afrika sprechen, und das ist gut so. Jedenfalls mir gefällt dies. Das ist eine gewisse Dichte, sie gibt auch die
Chance, das eine oder andere, was man beim letzten Mal
noch nicht sagen konnte, jetzt einzufügen und andere Gedanken fortzusetzen.
Das Einzige, was mich bei der Kontinuität unserer Debatten ein wenig beschwert, ist die Tatsache, dass ihre Basis jeweils Anträge von Fraktionen waren, zu denen kein
Konsens gefunden werden konnte. Dies stimmt mich insoweit besorgt, als es gerade bei Themen, die nicht im
Mittelpunkt unserer Politik stehen, die alte Tradition gab,
wo immer es geht, den Konsens zu suchen.
Deswegen lassen Sie mich mit der Anmerkung beginnen, dass ich so ziemlich alles, was Sie, Herr Minister, gesagt haben, und vieles, was in den vorliegenden Anträgen
steht, nicht sehr strittig finde. Nur, das wird uns nicht daran hindern, dass wir, so wie Sie von der Koalition im letzten Jahr unseren diesbezüglichen Antrag abgelehnt haben,
Ihren Antrag ablehnen. Denn Sie haben natürlich - ich
hätte beinahe gesagt: wie sich das gehört - ein paar Dinge
vergessen, die Ihnen nicht in den Kram passten und die ich
hier nicht nur pflichtgemäß benennen muss, sondern die
auch wichtig sind.
Denn angesichts all dessen, was hier festgestellt worden ist, muss man fragen: Wie geschieht es denn? Herr
Außenminister, solange die Zahl unserer Botschaften in
Afrika nicht wieder wächst
({0})
und die personelle Ausstattung nicht größer wird, habe ich
Probleme hinsichtlich der Beantwortung der Frage, wie
ich das umsetze, was ich will.
Auch die markante Art und Weise im Antrag der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen, einen geschrumpften
Entwicklungshaushalt als umfangreich zu bezeichnen,
indem man zum Beispiel sagt: „Relativ gesehen sind die
Entwicklungen bei anderen Haushalten noch viel schlimmer gewesen“, ist nicht so, dass die Hoffnung besteht, mit
weniger garantiert mehr machen zu können.
({1})
Ab und zu hat man mit mehr Mitteln eher eine Chance, etwas zu erreichen.
({2})
Ich habe damit die beiden wichtigsten Punkte genannt,
warum wir am Ende Ihren Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen,
ablehnen werden, obwohl in ihm eine ganze Menge Vernünftiges enthalten ist. Vor allem die Aufforderungen an
die Bundesregierung sind zum Teil bemerkenswert. Ich
möchte vorschlagen, dass die F.D.P., Herr Kollege Irmer,
netterweise ihren Antrag nicht zur Abstimmung stellt,
sondern ihn in den entsprechenden Ausschuss überweisen
lässt. Dann kommt es in einigen Monaten zusammen mit
der Antwort der Bundesregierung auf ihre Große Anfrage
zu einer erneuten Afrikadebatte, anlässlich der wir eine
Zwischenbilanz ziehen und fragen könnten: Was ist nach
den Ankündigungen dessen, was man will, konkret geschehen?
({3})
Ich wäre ausgesprochen dankbar, wenn dies so erfolgen
würde.
({4})
- Sie signalisieren Zustimmung; dann ist auch dieses Problem gelöst.
({5})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in diesem
Hause haben wir uns wiederholt - dies tun wir auch
heute - den Kopf darüber zerbrochen, was wir tun können, damit es in Afrika besser läuft; um es einmal auf
diese simple Formel zu bringen. Über die ganzen Jahre
hinweg hat sich bei mir der Eindruck festgesetzt: Das
Kernproblem in Afrika ist zunehmend und zentral - nicht
nur, aber eben auch - die Frage, ob es in Afrika selbst
genügend Menschen, Leiter und Lenker von Staaten, Politiker und gesellschaftliche Eliten gibt, die ihre gesamte
Kraft darauf verwenden, dass es ihrem Volk und ihrem
Land und nicht nur ihnen als Person besser geht.
({6})
Wenn es so ist, dass darin eines der ganz großen Probleme Afrikas liegt - ich behaupte dies -, dann müssen
wir uns natürlich auch die Frage stellen, inwieweit wir
manche unserer Bemühungen vielleicht einmal überprüfen und uns auf die Bereiche Bildung und Ausbildung
konzentrieren sollten, die genau auf diese Führungseliten - seien es nun Journalisten, Soldaten, Polizisten,
Richter oder Verwaltungsbeamte - zielen.
Angesichts dessen, dass ich von der Sache her Defizitäres entdecke, ist mein Eindruck, dass wir uns manchmal ein wenig schüchtern benehmen im Hinblick auf die
Frage, was wir in diesem Zusammenhang einbringen
können. Man sollte unsere Vorstellungen nicht dorthin exportieren, sie sind nicht perfekt; dies alles ist richtig. Aber
ich weiß manchmal auch nichts Besseres.
Deswegen, so glaube ich, ist es sinnvoll und gut, zu
prüfen, ob die Zahl der Stipendien des Deutschen Akademischen Austauschdienstes sur place oder in Deutschland, der Inhalt und die Art der Stipendien und vieles andere mehr nicht tatsächlich stärker als bisher in den
Mittelpunkt gerückt werden sollten, damit wir in breitester Front im Dialog mit denjenigen stehen, die künftig das
Schicksal ihrer Länder bestimmen. Wenn wir dies nicht
tun und auch wenn wir uns lange den Kopf zerbrechen
und viele gute Ideen haben, werden wir immer wieder an
den Realitäten scheitern, die von uns nicht gestaltet werden wollen und sollen. - Dies ist mein Hauptpetitum.
Ein zweiter Aspekt: Die Entwicklung im Kongo ist für
uns ein Problem. Herr Außenminister, ich habe sehr wohl
vernommen, was Sie dazu ausgeführt haben. Ich finde
gut, was Sie gesagt haben. Ich hätte nur gerne ergänzend
gehört, was Sie schon getan haben. Denn in einer so kritischen Situation geht es oft um Stunden. Gibt es einen
Kontakt mit unseren wichtigsten Bündnispartnern in Europa? Ist mit den Amerikanern darüber gesprochen worden, was sie eigentlich vorhaben? Oder ist es so, dass niemand etwas vorhat?
({7})
- Ich weiß. Aber auch Sie wissen, Herr Minister, dass unterhalb der Ebene des Präsidenten die Dinge weiterlaufen.
({8})
Man könnte trotzdem telefonieren; ich wüsste schon ein
paar Telefonnummern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ist mit dem
Beauftragten der Länder des südlichen Afrikas, dem
Preisträger der Deutschen Afrika-Stiftung, Masire, gesprochen worden, der der Vermittler in diesem Konflikt
ist? Hat man ihm Unterstützung angeboten? Braucht er
Unterstützung in einer solch kritischen Situation? Meine
Bitte geht dahin, nicht nur zu bekunden, was wir wollen,
sondern auch die Frage zu beantworten: Was geschieht eigentlich? Was tut man, hat man getan und gedenkt man
konkret zu tun?
Damit bin ich bei dem Stichwort, das auch Sie gebraucht haben: Europa. Ich bin froh, dass die F.D.P. zugestimmt hat, den Antrag zu Europa in die Beratung zu
geben. Denn ich hätte manches zu kritisieren, manches
auch nicht zu kritisieren,
({9})
einiges zur Not sogar zu rühmen, Herr Kollege Irmer wenn es denn unbedingt sein muss, tue ich auch dies -,
aber dieser Antrag gibt einem die Gelegenheit, das gesamte Thema Europa und Afrika noch einmal näher zu
erörtern. Denn es macht keinen Sinn zu sagen: In Europa
soll etwas geschehen, die sollen das einmal machen. Vielmehr müssen wir uns stärker fragen: Was können wir denn
tun? Was ist unser Input? Was müssen wir einbringen? Ich
nenne einige Beispiele.
Zwischen der Europäischen Union und Südafrika ist
ein Freihandelsabkommen geschlossen worden. Der Vorsitzende der Deutsch-Namibischen Gesellschaft hat uns
alle darauf aufmerksam gemacht, was passiert ist: Da mit
den Ländern, die mit Südafrika in einer Zollunion verbunden sind, überhaupt nicht gesprochen worden ist, stehen diese vor einem riesigen Ausfall an Staatseinnahmen.
Ihnen ist lediglich eine kleine Morgengabe als Ausgleich
versprochen worden. Es ist wichtig, dass wir bei all dem,
was wir in Afrika tun, bedenken, nicht nur mit Südafrika
zu reden, sondern auch die Nachbarn einzubeziehen.
Ich war in den letzten Tagen aus einem erfreulichen
Anlass in Afrika und habe dort zu meiner großen Freude
die Kollegin Eid als Vertreterin der Bundesregierung getroffen, nämlich bei der Amtseinführung des Präsidenten
von Ghana, einem bemerkenswerten Vorgang, den ich
hier erwähnen möchte, da dies in einem Land geschah, in
dem ein Mann, der durchaus eine schillernde Figur war
und ist - Rawlings -, in einer Art und Weise abgetreten
ist - seine Partei hat ihn abwählen lassen - seine Ämter
übergeben hat, dass einem als überzeugter Demokrat beinahe so etwas wie Freudentränen in die Augen steigen
konnte.
({10})
Dass die Kollegin Eid davon sehr angetan war, konnte ich
ihr nachfühlen - mir ging es genauso -, obwohl ich einige
Reihen hinter ihr gesessen habe.
({11})
- Aber nicht sehr weit, was aber am Auswärtigen Amt lag.
Das ist ein anderes Thema.
({12})
- Nein, das tat mir nicht weh. Meine Sorge war, dass es
das Auswärtige Amt nicht schafft, die Bundesregierung in
der ersten Reihe zu platzieren. Das Problem habe ich dann
hinreichend mit gelöst.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich hier noch Folgendes sagen -: Wir neigen dazu, die
Bundesregierung anzusehen und dann Europa anzusehen.
Bei Europa war ich gerade stehen geblieben. In diesem
Zusammenhang geht es mir um Ghana. Ghana ist von
Ländern umgeben, die zur CFA-Zone gehören. CFA ist
verknüpft mit dem Euro. Was geschieht dort eigentlich
weiter? Sie wollen eine eigene Währung einführen. Wie
sollen sie das machen? Die Amerikaner sagen: Wir bilden
eine Dollar-Region mit Nigeria.
Es gibt also eine Reihe von Themen, von denen unter
Umständen die Bedeutung und die Entwicklung der Demokratie in diesen Ländern abhängen, die wir ins Blickfeld nehmen müssen,
({13})
nicht nur Europa und nicht nur die Bundesregierung, sondern auch wir in diesem Hohen Hause.
Erfreulicherweise haben wir Parlamentariergruppen,
die sich mit Afrika beschäftigen, die die Kolleginnen und
Kollegen in Afrika besuchen und sie hierher einladen. Ich
glaube, es ist höchste Zeit, dass wir uns diesen Vorgang
einmal näher vor Augen führen; denn auch wir haben etwas zu tun. Wenn wir mit Freude feststellen, dass sich im
Senegal, in Mali und jetzt in Ghana demokratische Strukturen entwickelt haben, dann muss man genau hinsehen.
Dann stellt man nämlich fest, dass manches noch ein
Stück Fassade ist, dass die Kolleginnen und Kollegen in
den dortigen Parlamenten davon träumen, auch nur ansatzweise solche Arbeitsbedingungen zu haben wie wir.
Es stellt sich die Frage, warum ein Programm des
Deutschen Bundestages, Frau Präsidentin, das wir vor
vielen Jahren einmal gehabt haben, nicht fortgeführt wird,
in dessen Rahmen Beamte unserer Verwaltung zwecks
Unterstützung in afrikanische Parlamente geschickt und
Praktikanten aus diesen Parlamenten zu uns geholt wurden, um den Ländern auf diese Art und Weise, auch mit
technischer Ausstattung und einer Fülle von anderen Dingen sehr praktisch und konkret zu demonstrieren, dass wir
Parlamentarier ihr Schicksal als Parlamentarier positiv
begleiten.
Dies sollten wir tun, damit auch die Regierenden merken,
dass es Sinn macht, sich mit den Parlamenten in Europa
nicht wieder zu überwerfen, indem man der Verlockung
der Macht erliegt. Ich habe nämlich bisher nirgendwo in
Afrika erkennen können, dass die Demokratie so gefestigt
ist, dass man sich in Ruhe zurücklehnen könnte.
Ich glaube, auch wir als Parlament haben Anlass genug, darüber nachzudenken, was wir besser machen können. Ich lade Sie ein, das gemeinsam zu tun.
Danke schön.
({14})
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin Heidemarie WieczorekZeul.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Aus dem,
was die beiden Vorredner gesagt haben, ist schon deutlich
geworden, dass es auf dem afrikanischen Kontinent eine
Vielzahl unterschiedlicher Entwicklungen gibt. Der
Kongo allein ist nicht Afrika. Afrika ist auch nicht einfach
nur der Krisenkontinent. Es gibt auch Länder - ich bin
Herrn Hornhues dankbar, dass er das eben angesprochen
hat -, die weit weniger reich ausgestattet sind als zum Beispiel der Kongo, die also weit ärmer sind, die aber trotzdem zu innerem Frieden, Stabilität, Demokratie und
Entwicklungsperspektiven gefunden haben.
Sie haben den friedlichen Machtwechsel in Ghana genannt. Das gibt Hoffnung, und das gilt auch für Länder
wie Südafrika - bei allen Schwierigkeiten -, Mali, Senegal und Botswana. Dies macht deutlich, dass ein Weg in
Richtung einer demokratisch fundierten Entwicklung eingeschlagen worden ist. Auch das ist Afrika. Das ermutigt
uns als Entwicklungsministerium und als Bundesregierung, die Zusammenarbeit mit diesen Ländern und diesem
Kontinent noch besser zu gestalten.
({0})
Afrika ist und wird in diesem Jahr sowie in den nächsten Jahren der Kontinent sein, bei dem wir einen besonderen Schwerpunkt unserer Entwicklungszusammenarbeit setzen, den wir besonders fördern. Die Erhöhung
des Entwicklungshaushaltes um 325 Millionen DM im
Jahr 2001 kommt zum großen Teil dem afrikanischen
Kontinent zugute. So stocken wir zum Beispiel die Mittel
für die Bekämpfung von Aids, für die Entwicklung im Bereich erneuerbarer Energien und Klimaschutz, aber auch
für die Förderung lokaler Informationszentren - Stichwort „Verknüpfung bei IT und verhindern, dass ein ganzer
Kontinent von den Informationstechnologien abgehängt
wird“ - auf.
Mittlerweile geht nach Afrika - früher lag Asien an der
Spitze - der größte Teil der Mittel für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit, und zwar gehen nach Afrika
südlich der Sahara rund 30 Prozent. Der Kontinent Afrika
insgesamt bekommt 42 Prozent der gesamten Mittel für
die Entwicklungszusammenarbeit. Hier werden die
Schwerpunkte deutlich. Wir werden in diesem Jahr rund
800 Millionen DM im Rahmen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit für Afrika südlich der Sahara einsetzen. Der Betrag für den gesamten Kontinent beläuft
sich auf rund 1 Milliarde DM.
Ich möchte an dieser Stelle einmal sagen, dass wir hinsichtlich der Frage, wie wir zu den Menschen in Afrika
stehen, nicht nur hehre Afrikadebatten führen sollten,
sondern dass sich dies auch im praktischen Denken und
Handeln auswirken muss. Unter diesem Gesichtspunkt
halte ich den Vorschlag von Herrn Glos, das Fleisch der
400 000 Rinder in arme Entwicklungsländer zu exportieren, für absolut zynisch und auch für menschenverachtend.
({1})
Ich finde es unglaublich, dass man den Menschen in
Afrika das Fleisch liefern will, das wir unseren Verbrauchern zu Recht - das sage ich ausdrücklich - nicht zumuten wollen.
({2})
Wie helfen wir Afrika? Der Kollege Fischer hat es angesprochen: Die Entschuldungsinitiative greift. Ende
2000 ist die Entschuldung für 22 der ärmsten Entwicklungsländer beschlossen worden. 18 dieser Länder liegen
in Afrika. Die Entlastung insgesamt für die Staatshaushalte dieser 18 Länder beträgt rund 25 Milliarden USDollar, und zwar nur die erlassenen Schulden gegenüber
der Weltbank.
Die Entschuldung und Entlastung - das ist mir wichtig - wirkt im Übrigen nicht nur mittel- und langfristig,
wie häufig gesagt wird, sondern sie wirkt sofort, schon in
diesem Jahr. Es war der Sinn der HIPC-Initiative, nicht
sechs Jahre zu warten, bis alle Programme durchgeführt
sind, sondern im Gegenzug zur Armutsbekämpfung eine
Entlastung sofort spürbar zu machen.
Ich möchte an dieser Stelle eine Zahl nennen, die bedeutend ist: Für die afrikanischen Länder heißt dies im
Jahr 2001, dass sie 1 Milliarde US-Dollar real an Schuldenerlass haben und diesen Betrag für die Bekämpfung
der Armut einsetzen können. Das ist eine zusätzliche
Maßnahme zu dem, was wir bilateral machen.
({3})
Ein Land wie Burkina Faso, um nur ein Beispiel zu nennen, wird eine Entlastung von 37 Millionen US-Dollar haben. Das ist durch Entwicklungszusammenarbeit allein
nicht zu erreichen.
Es gibt ein Thema, das ich für sehr bedenklich halte
und das ich in mehreren Reden und Debatten bereits angesprochen habe. Es geht um die drastische Verschlechterung der Terms of Trade für die afrikanischen Länder
im Jahr 2000. Sie sind von den damals hohen Ölpreisen
und von einem drastischen Verfall der Rohstoffpreise betroffen. Für die afrikanischen Länder, für die Daten vorliegen - diese Zahl muss man sich einmal vorstellen -,
ergibt sich allein im Jahr 2000 ein aggregierter Verlust von
5,4 Milliarden US-Dollar.
Deshalb hatten wir dieses Thema bei der Jahrestagung
der Weltbank im September letzten Jahres auf die Tagesordnung gesetzt. Wir haben mit unserem Drängen durchgesetzt, dass es Sonderhilfen für diese besonders von den
Schocks durch die Terms of Trade betroffenen Entwicklungsländer - darunter besonders die afrikanischen Länder - geben wird.
Daraus wird aber auch ein anderes Thema ersichtlich.
Die Entschuldung der Entwicklungsländer und auch die
bilaterale Entwicklungszusammenarbeit sind zwar sehr
wichtig. Ich bin sehr dafür, dass die Mittel dafür weiter erhöht werden. Aber noch viel wichtiger ist es, die Terms of
Trade zugunsten der afrikanischen Länder grundsätzlich
und dauerhaft zu verbessern; sonst wird es ein Wettlauf,
den die afrikanischen Länder immer verlieren.
({4})
Das heißt, ihnen die Chance zu geben, ihre eigene
Landwirtschaft zu entwickeln und sich aus der Rolle der
bloßen Rohstoffproduzenten und Rohstoffexporteure herausarbeiten zu können. Rund 70 Prozent aller afrikanischen Länder sind nach wie vor Rohstoffexporteure. Nur
dann, wenn sie sich von dieser Rolle befreien und auch
verarbeitete Produkte absetzen können, können sie mehr
Einkommen für ihre Länder erzielen und bessere Anteile
am Weltmarkt und am Welthandel erreichen.
Deshalb gilt - ich werde das so lange betonen, bis es zu
Veränderungen kommt -: Wir müssen dazu beitragen - wir
als Bundesregierung für das, aber auch alle anderen EULänder müssen es tun -, dass vor allem den ärmsten Entwicklungsländern ein freier Zugang ohne Zölle und Quoten zu den Märkten der Industrieländer gewährleistet
wird, damit sie auch Einkommen erzielen können.
({5})
Sie sollen die Armut in ihren Ländern bekämpfen. Aber
dazu brauchen sie Wachstum und wirtschaftliche Entwicklung.
Besonders pervers finde ich, dass wir, die Industrieländer, immer noch das Prinzip der so genannten Tarifeskalation praktizieren. Das heißt, je verarbeiteter ein Produkt
ist, desto höher die Zölle. Das hat zur Folge, dass wir die
Entwicklungsländer nach wie vor in die Rolle von Rohstoffexporteuren zwingen. Ohne eine Veränderung wird
sich nichts Grundsätzliches an der schwierigen und
schlechten Ausgangsposition afrikanischer Länder ändern.
Die Bundesregierung fordert deshalb die EU-Kommission auf, die Entscheidung über den ursprünglichen Vorschlag von Kommissar Lamy, der den 48 ärmsten Entwicklungsländern freien Zugang zu den EU-Märkten
eröffnen wollte, endlich unverändert herbeizuführen und
nicht zu verzögern. Die Angelegenheit sollte ursprünglich
im Dezember entschieden werden, ist aber bis zum heutigen Tage nicht entschieden. Vor allen Dingen fordere ich
die EU-Kommission auf, nicht dem Druck der Zuckerindustrie - darum geht es - nachzugeben und den ursprünglichen Vorschlag, den die EU-Kommission vorgelegt hat,
nicht zu verwässern.
({6})
Wenn wir diesen Vorschlag verwirklichen, ist das ein
Beitrag zur Veränderung der Terms of Trade zugunsten
der afrikanischen Entwicklungsländer. Die Bundesregierung wird sich in diesem Sinne - wie sie es auch bisher
getan hat - im Ministerrat der Europäischen Union verhalten.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Ulrich Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Lassen Sie mich zunächst sagen, dass wir
dem Antrag der Koalition nicht ablehnend gegenüber treten werden, weil wir erkennen, dass in einigen Punkten
des Antrags Substanz enthalten ist, mit der wir uns einverstanden erklären können, obwohl wir ihn insgesamt
für nicht besonders erhellend halten. Kollege Tappe sagte
mir gestern auf dem Rückweg vom Auswärtigen Ausschuss - was heute auch Kollege Hornhues gesagt hat -,
dass wir in der Sache gar nicht so weit voneinander entfernt sind und dass es manchmal nur Formalien sind, über
die wir uns streiten. Da müsste es doch möglich sein dazu
zu kommen, dass das ganze Haus ein Konzept formuliert,
das wir uns als Afrikapolitik des Bundestages vorstellen.
Wir stellen deshalb unseren eigenen Antrag heute nicht
zur Abstimmung, sondern bitten um Überweisung.
({0})
Ich hoffe, dass die Zeit die Koalitionsfraktionen etwas
mehr Klugheit lehrt und sie dazu bringen wird, nach einigen Umformulierungen, über die wir mit uns gerne werden reden lassen, dem Antrag vielleicht noch zuzustimmen.
Nachdem ich gehört habe, was der Außenminister hier
gesagt hat, muss ich feststellen, dass die Afrikapolitik
der Bundesregierung - wie viele andere Politikbereiche - durch drei Elemente gekennzeichnet ist: Erstens, es
besteht durchaus ein guter Wille; zweitens, es werden
viele schöne Worte gemacht; aber es ist drittens wenig bis
gar keine Substanz vorhanden.
„Die Zeit“ hat im März letzten Jahres Folgendes zu Papier gebracht:
Ob finanziell, technisch oder kulturell - überall ist
das Engagement der neuen Regierung im Vergleich
zu ihrer konservativen Vorgängerin deutlich zurückgegangen. Da werden Finanzhilfen eingefroren, Botschaften aufgelöst und Goethe-Institute geschlossen,
als würden südlich der Sahara demnächst die Lichter
ausgehen.
Das war voriges Jahr und diese Bemerkungen sind vor
dem Hintergrund zu verstehen, dass damals der Bundesaußenminister seine geplante Afrikareise wegen Parteiterminen mehrfach hatte verschieben müssen. Das kann vorkommen und ich zolle dem durchaus Respekt. Sie haben
ja dann die Reise gemacht und sind bis heute mächtig
stolz darauf. Sie waren aber bei dieser Reise in drei Bilderbuchländern, nämlich - Sie haben es eben erwähnt - in
Nigeria, Mosambik und Südafrika. Zu diesem Thema hat
„Die Welt“ eine schöne Formulierung gebracht:
Endlich unterwegs gelang ihm das Kunststück, die
eigentlichen Krisenherde weiträumig zu umfliegen.
Das Afrika der Kriege und Krisen blieb unberücksichtigt.
Sie haben das später nachgeholt, indem Sie Stippvisiten in drei Krisenländern gemacht haben. Das hat jetzt
Peter Scholl-Latour sehr schön kommentiert. Ich habe mir
das einmal herausgesucht. Er hat seinen Artikel mit „Die
seltsame Gorilla-Safari des Joschka Fischer“ überschrieben. Er schrieb weiter, was der deutsche Außenminister
bei den Diktatoren in Angola, Burundi und Ruanda eigentlich wollte, sei schwer ersichtlich. Die „Frankfurter
Rundschau“ hat das auf die Formel gebracht:
Worthülsen in Burundi und Gorillabeobachtung in
Ruanda.
Die Gorillabeobachtung sei ihm gegönnt; ich habe sie
noch nicht gesehen und hätte ihnen auch gern „Grüß
Gott!“ gesagt. Aber, Herr Außenminister, auf der Botschafterkonferenz im letzten Herbst haben Sie plötzlich
erkannt, dass die Gesamtkonzeption des Afrikakonzeptes
nicht mehr zeitgemäß ist. Sie haben das heute wiederholt
und ausgeführt, man müsste zu regionalen Ansätzen kommen. Davon habe ich jedoch noch gar nichts gehört, das
blieb eine reine Ankündigung. Der Antrag, den die Koalition jetzt vorgelegt hat, spart den Aspekt des regionalen
Ansatzes völlig aus. In diesem Antrag ist davon überhaupt
keine Rede mehr.
({1})
- Ich habe ihn sogar dreimal gelesen. Es war zwar eine
Qual, ihn zu lesen, aber ich habe mir das angetan. Es ist
alles inkohärent. Es wird nicht gesagt, was jetzt substanziell geschehen soll.
Wir sind der Meinung, dass sich die Deutschen ohnehin übernehmen würden, wenn sie alleine nach Afrika
marschieren wollten und sagen würden: Wir helfen euch
jetzt bei der Lösung eurer Probleme. Wozu haben wir die
Europäische Union, wozu haben wir das Instrument der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der gemeinsamen Strategien in den Verträgen verankert? Welcher Kontinent böte sich - Herr Fischer, Sie selbst haben
das erwähnt - aufgrund seiner Historie und aufgrund unserer besonderen Verantwortung mehr als Afrika dafür an,
eine gemeinsame Strategie zu entwickeln?
Ich bitte, das jetzt nicht falsch zu verstehen. Wir plädieren keineswegs dafür, die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit einzustellen und auf Europa zu übertragen.
Das würde zum einen nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip
in Einklang stehen und zum anderen nicht unbedingt hilfreich bei dem Versuch sein, die Koordinierung des vielfältigen Nebeneinanders der Institutionen, die in Afrika
tätig sind, zu verbessern. Es gibt ohnehin ein Gestrüpp
von zu vielen Organisationen, auch von Regierungsorganisationen sowie europäischen und bilateralen Institutionen, die in diesem Bereich tätig sind. Diese kommen sich
zum Teil in die Quere und konterkarieren sich bei ihrer Arbeit zum Teil gegenseitig. Es wäre dringend erforderlich,
dieses Gestrüpp zu durchforsten.
Wir müssen vor allem auf einem bestehen. Die finanzielle Entwicklungszusammenarbeit, die im Rahmen des
Europäischen Entwicklungsfonds geleistet wird, krankt
an zwei Dingen: Zum einen wird sie von Nationen wie
insbesondere Frankreich und Großbritannien beherrscht,
die bei der Vergabe der finanziellen Mittel vor allem die
Entwicklungsländer berücksichtigen, die in Form von
Aufträgen an französische und englische Firmen für finanzielle Rückflüsse sorgen. Deutschland schneidet bei
der Vergabe solcher Aufträge weit unterproportional ab.
Ich bitte die Bundesregierung, auf europäischer Ebene
dafür zu sorgen, dass diesem Missstand abgeholfen wird.
Aus deutschen Kassen werden annähernd 30 Prozent der
Mittel des Europäischen Entwicklungsfonds gezahlt. Das,
was an deutsche Firmen zurückfließt, ist wenig genug.
Das ist zwar nicht der eigentliche Zweck der Entwicklungszusammenarbeit, aber es ist ein Nebenprodukt, das
zum Teil für die Akzeptanz des deutschen Steuerzahlers
wichtig ist.
Außerdem plädieren wir seit langem dafür, dass die
Mittel für den Europäischen Entwicklungsfonds in den
Haushalt der Europäischen Union eingestellt werden, damit auch hier endlich eine parlamentarische Kontrolle gewährleistet ist.
Herr Kollege
Irmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Hedrich?
Ja, sehr gern.
Herr Kollege
Irmer, ist Ihnen zufälligerweise bekannt, dass das Europäische Parlament schon jetzt nicht bei den Mitteln seiner
parlamentarischen Kontrolle nachkommt, deren Verwendung es eigentlich kontrollieren könnte? So liegen zum
Beispiel im EU-Haushalt 14,6 Milliarden Euro - ich wiederhole: Euro - auf Halde und Mittel in Höhe von
6,3 Milliarden Euro bei der Europäischen Union, die aus
dem Europäischen Entwicklungsfonds stammen. Das
sind insgesamt ungefähr 40 Milliarden DM. Wäre es vor
diesem Hintergrund nicht eher angemessen, zu fordern,
dass das Europäische Parlament erst einmal die Kontrolle
über die Mittel ausüben sollte, für die es schon jetzt zuständig ist, anstatt zu verlangen, dass das Europäische
Parlament einen weiteren Zuständigkeitsbereich kontrollieren soll, was es wahrscheinlich auch nicht kann? Sind
Ihnen die eben genannten Zahlen bekannt?
Diese Zahlen waren mir im Einzelnen nicht bekannt. Aber das generelle Problem ist mir
natürlich bekannt. Das Problem liegt wohl darin, dass die
Europäische Kommission das Geld nicht zur Verfügung
stellt. Es gibt ja einen alten Streit zwischen Europäischer
Kommission und Europäischem Parlament. Die Kommission behauptet immer, dass sie nur Geld ausgeben dürfe,
wenn eine entsprechende Verordnung vom Ministerrat
vorliege. Wenn es eine solche Verordnung nicht gibt, dann
kann das Europäische Parlament im Grunde gar nichts
tun. Aber das ändert nichts an der grundlegenden Berechtigung meiner Uraltforderung, dass der Europäische Entwicklungsfonds in den Haushalt der Europäischen Union
überführt werden muss.
Im Übrigen übt das Europäische Parlament über die
Haushaltskontrolle sehr wohl auch Kontrolle über die
Ausgaben des Europäischen Entwicklungsfonds aus. Es
ist ja nicht so, dass diese Ausgaben am Europäischen Parlament vorbeiliefen. Die Ausgaben des Europäischen Entwicklungsfonds werden zwar nicht im Rahmen des Haushaltsbewilligungsverfahrens, sehr wohl aber im Rahmen
des Haushaltskontrollverfahrens überwacht. Es besteht
zum Beispiel die Möglichkeit, dass der Kommission die
Entlastung verweigert wird, wenn die Mittel, die im allgemeinen Haushalt für den Fonds zur Verfügung stehen,
nicht ordnungsgemäß bewirtschaftet werden.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Die Europäische
Union hat die einmalige Chance, durch vielfältige kulturelle Kontakte einen besonderen Zugang zu den einzelnen
Regionen in Afrika zu bekommen. Natürlich ist die koloniale Vergangenheit keineswegs glorios und nicht immer
durch Freundschaft und positive Entwicklungen gekennzeichnet. Aber es gibt doch vielfältige starke Bindungen.
Wir Deutsche können uns glücklich preisen, dass wir unsere Kolonien sehr frühzeitig verloren haben, sodass wir
weniger als manche andere belastet sind. Mir ist bei dem
Gedanken nicht wohl, dass manche Länder, wie Frankreich, ihre ehemaligen Kolonien nach wie vor als Chasse
gardée betrachten.
Insgesamt kann die Europäische Union mehr als einzelne Länder tun. Afrikapolitik wäre deshalb ein klassisches Betätigungsfeld im Hinblick auf die Entwicklung
einer gemeinsamen europäischen Strategie gegenüber unserem Nachbarkontinent, von dem ich mich nach wie vor
weigere anzuerkennen, dass es nur ein Katastrophenkontinent sei. Gerade das menschliche Potenzial in Afrika
gibt Hoffnung, dass wir dort eines Tages eine positive
Entwicklung erleben werden.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die zum Teil erschütternde Datenlage zu Afrika, etwa die Zahl der Armen, der Flüchtlinge,
der Aidskranken oder die Zahlen zur Kindersterblichkeit, ist
hier bereits genannt worden oder sie ist allgemein bekannt.
Auch über die sozioökonomischen Rahmenbedingungen
macht sich zumindest in diesem Haus, so hoffe ich jedenfalls, niemand Illusionen. Auch sie sind dramatisch. Ich
werde das alles hier nicht wiederholen.
Ich will aber sagen, dass diese Situation - man tut ja
gern so - nicht vom Himmel gefallen ist, sondern ganz
konkrete Verursacher hat. Ein großer Teil der Verantwortung für das Elend in Afrika ist nun einmal bei uns
zu finden. Er ist in einer ungerechten Weltwirtschaftsordnung, deren Profiteure wir sind, zu finden. Er ist in den
Folgen des Kolonialismus und einer nachkolonialen Ordnung zu finden, die Afrika, wenn es denn überhaupt wahrgenommen wird, als Lieferant billiger Rohstoffe begreift,
als Region, der die Aufgabe zugewiesen wird, die hoch
entwickelten Ökonomien des Nordens mit all jenen Basisgütern zu versorgen, die hier weiterverarbeitet und
konsumiert werden und die einen nicht unerheblichen Teil
unseres Lebensstandards ausmachen.
Dafür werden nicht nur schlechte Preise gezahlt, sondern auch der Regenwald zerstört, mit Monokulturen wird
die Desertifikation, die Wüstenbildung, beschleunigt,
dafür werden in den Ölförderregionen das Lebensumfeld
der Menschen und die Umwelt verseucht oder es wird - man
denke an die Diamanten - zumindest billigend in Kauf genommen, dass sich daran verheerende Bürgerkriege entzünden.
Ich frage Sie: Wie lange hat es gedauert, bis endlich
über die so genannten Blutdiamanten ernsthaft nachgedacht wurde und erste Gegenmaßnahmen eingeleitet wurden? Noch immer stehen die Agrarmärkte des Nordens
unter massiver Protektion und sind für die Staaten des Südens kaum geöffnet, während unsere Politiker durch die
Welt reisen und die Vorzüge des Freihandels predigen.
Wer diese Verantwortung verschweigt oder übergeht, der
kann keine wirklichen Lösungen und Lösungswege auftun.
({0})
Aber - dazu müssen ebenfalls klare Worte gesagt wer-
den - auch die politischen und ökonomischen Eliten Afri-
kas haben in den vergangenen Jahrzehnten oftmals nicht
das gehalten, was sie im Zuge der Dekolonisation ver-
sprochen haben. Menschenrechtsverletzungen, man-
gelnde Demokratie, soziale Ungleichheit, Korruption und
gnadenlose Bereicherung sind Missstände, die auch darin
ihre Ursachen haben und die nicht selten dazu beigetragen
haben, dass sowohl die Ökonomien des Nordens als auch
die afrikanischen Eliten vom natürlichen Reichtum dieser
Länder profitierten, während breite Bevölkerungsschich-
ten mehr und mehr im Elend versinken. Auch das muss
benannt werden. Wir müssen uns fragen lassen, wer in der
Vergangenheit eigentlich unsere Partner waren, wer die
Partner deutscher und europäischer Unternehmen waren
und noch immer sind.
Selbst wenn die PDS-Fraktion die Eingangsthese des
F.D.P.-Antrags teilt, dass ein so genannter Afropessimis-
mus - diesen Ausdruck habe ich vorher noch nie
gehört - nicht angesagt ist - allein schon deshalb nicht,
weil es sehr viel Optimismus und Tatendrang verlangt,
endlich zu nachhaltigen Maßnahmen zur Stabilisierung und
zur strukturellen Verbesserung der Lebensbedingungen
der Menschen in Afrika zu kommen -, können wir dem
Antrag in seiner gegenwärtigen Form aus vielerlei Grün-
den nicht zustimmen; vielmehr müssen wir ihn ablehnen.
Ich nenne nur einen Grund: Zum einen verlangt die
F.D.P.-Fraktion eine Steigerung der öffentlichen Mittel im
Bereich EZ, zumal mit Blick auf Afrika. Zum anderen sol-
len wiederum die Mobilisierung privaten Kapitals in der
Entwicklungsfinanzierung Vorrang haben und der öffent-
liche Anteil an ihr reduziert werden. Zum Dritten schließ-
lich sind Sie der Überzeugung, Freihandel und Investitio-
nen seien wirkungsvoller als die gesamte öffentliche EZ.
Das alles, liebe Kolleginnen und Kollegen, steht in ein
und demselben Antrag und macht deutlich, dass er entwe-
der mit heißer Nadel gestrickt ist oder Ihre Konzeption
schlichtweg nicht kohärent ist. Mit unseren Vorstellungen
von nachhaltiger und sozial wie ökonomisch sinnvoller
Entwicklungskooperation hat er an dieser wie an vielen
anderen Stellen jedenfalls nichts gemein. Wir werden das
im Ausschuss noch beraten.
Dem Antrag der Regierungskoalition werden wir aller-
dings auch nicht zustimmen, sondern uns enthalten. Da-
bei sage ich deutlich, dass ich viele der Ansätze und
Forderungen grundsätzlich teile. Aber von den Regie-
rungsfraktionen erwarte ich einfach, dass ihre Anträge
auf klare, abrechenbare Projekte und Schritte abzielen.
Ansonsten erwecken sie schnell den Eindruck von Nebel-
kerzen.
Nur ein Beispiel: Sie erklären unter Ziffer III 1 e), es
komme „der Unterstützung von Frauen herausragende
Bedeutung zu“. Ich teile dies; das habe ich hier bereits
mehrfach gesagt. Aber statt diesen Ansatz auch program-
matisch umzusetzen, durfte ich mir in den Haushaltsde-
batten von Ihrer Seite anhören, Frauenförderung sei eine
Querschnittsaufgabe. Unser Haushaltsantrag auf Einstel-
lung gesonderter EZ-Mittel zur Frauenförderung wurde
demgemäß abgelehnt. Wie - das interessiert mich nun
aber wirklich - soll jetzt die Ziffer III 1 e) konkret projektiert und so umgesetzt werden, dass dieser Antrag qualitativ etwas Neues befördert? Mit welchen Programmen
und Mitteln?
Aufgrund der Zeit will ich jetzt keine weiteren Beispiele ausführlich darstellen, etwa was den Umgang mit EZMitteln als beliebtes Sanktionsinstrument anbetrifft - auch
das kommt in diesem Antrag leider wieder vor -, während
Wirtschafts- und militärische Zusammenarbeit im Falle von
Demokratiedefiziten eher nicht zur Disposition gestellt
werden. Daher erwähne ich zum Abschluss nur noch das,
was ich in diesem Antrag erwartet hätte.
Eine konkrete Position wäre zum Beispiel gewesen,
mit Südafrika in Verhandlungen über die unsäglichen
Apartheidschulden zu treten oder einen Erlass dieser
Schulden zu fordern.
({1})
Eine konkrete Position wäre gewesen, den Schuldenerlass insgesamt mit neuen Zielgrößen zu versehen. Eine
konkrete Position wäre gewesen, in der Aids-Problematik
Name, Hausnummer und konkrete Vorhaben inklusive ihrer Finanzierung zu benennen. Eine konkrete Position wäre
auch gewesen, zu erklären, wie und in welchem Zeitrahmen
der Europäische Entwicklungsfonds reformiert werden soll
und wann endlich die Milliarden abfließen werden, die dort
aufgelaufen sind. Was - das frage ich Sie - unterscheidet diesen Antrag von dem, was Sie bisher auch schon als Regierungswollen und -handeln verkündet haben? Wo liegt das qualitativ Neue und wie soll es konkret umgesetzt werden?
Ein Letztes: Der Außenminister hat mit eindringlichen
Worten darauf hingewiesen, dass die Situation im Kongo
nicht nur insgesamt äußert kompliziert und schwierig ist,
sondern durch die Ereignisse der letzten Tage noch komplizierter geworden ist. Ich bitte die Bundesregierung, vor
diesem Hintergrund auf Abschiebungen in den Kongo zu
verzichten.
Danke.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Werner Schuster.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag lautet
„Afrikas Entwicklung unterstützen“ und macht damit
schon in der Überschrift deutlich, dass die Priorität im
Hinblick auf konkrete Arbeit bei den Afrikanern liegt. Aus
Zeitgründen fasse ich meinen Beitrag in sieben kurzen
Thesen zusammen.
Erstens. Das christliche Abendland hat ein gerütteltes
Maß Schuld an der derzeitigen Situation in Afrika. Die
Kolonialzeit hat nationalstaatliche Grenzen geschaffen,
die heute für manche Bürgerkriege auf einem Kontinent,
auf dem es vordem keine Grenzen gab, mit verantwortlich
sind. Wir haben viele afrikanische Staaten völlig unvorbereitet in ihre Unabhängigkeit entlassen. Stellen Sie sich
einmal vor, wir hätten es mit der ehemaligen DDR ähnlich
gemacht! Afrika war im Kalten Krieg ein Spielball. In
Afrika finden Sie vermehrt und inzwischen öffentlich
Spuren von schmutzigen Händen von Europäern. Ich erinnere hier nur an Mitterrand junior.
Wirtschaftliche Interessen haben alles überlagert. Es
ist kein Zufall, dass Öl und Diamanten den betroffenen
Ländern Nigeria, Angola oder Zaire kein Glück gebracht
haben.
Im Übrigen bieten wir Europäer unseren afrikanischen
Freunden mit unserem Konsumverhalten ein schlechtes
Vorbild. Die Afrikaner werden so stark fremdbestimmt,
dass ich mich manchmal frage, ob wir den Afrikanern
überhaupt eine realistische Chance einräumen wollen,
ihren eigenen Weg zu finden.
({0})
Zweite These. Wir im Norden wollen grundsätzlich positive Meldungen aus Afrika schlicht nicht wahrnehmen.
In meinem Geburtsland Tansania fanden Wahlen statt, international beobachtet, fair und frei. Berichtet wurde nicht
über die Wahlen, sondern nur über den Kladderadatsch in
Sansibar, der nur einen Bruchteil der Menschen betrifft.
Letzte Woche wurde die ostafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Das war ein schwieriger, aber
entscheidender Schritt in der Region. Haben Sie viel darüber gelesen?
In Ghana fand ein Machtwechsel statt, der um Größenordnungen demokratischer ablief als der in den USA. Ich
habe es so formuliert: Ghana schlägt Florida.
These drei. Es gibt nicht ein Afrika, sondern es gibt
48 Staaten plus 5 Maghrebstaaten. Also brauchen wir differenzierte Länderstrategien. Da sind wir auf einem
guten Weg. Ich teile nicht den Afropessimismus dieser
Memorandumgruppe, die die Hälfte dieser 48 Staaten
schlicht abschreibt und sagt: Null Entwicklungschancen!
Das würde ich als Arzt nicht einmal kranken Patienten gegenüber sagen, weil sie dann keinen Lebensmut mehr hätten.
Richtig ist, dass sich diese 48 Staaten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten entwickeln. Das kennen wir
aus Europa. Richtig ist auch, dass viele Anträge von
CDU/CSU, F.D.P. und der Regierungskoalition inhaltlich
meistens übereinstimmen. Wir haben also kein Defizit bei
den Konzepten, sondern wir haben ein Umsetzungsdefizit. Herr Hornhues, wir haben Ihnen im Entwicklungsausschuss angeboten, einen gemeinsamen Antrag zu machen.
Ich selbst habe acht Jahre lang das bittere Brot essen und
unsere eigenen Anträge abschwächen müssen, weil eine
Regierungskoalition manche Unverschämtheiten einer
Opposition eben nicht übernehmen kann. Es liegt also an
Ihnen. Wir reichen Ihnen die Hand.
({1})
These vier. Wichtigstes Ziel muss eine europäische
Afrikapolitik sein. Deutschland allein, Herr Minister, ist
vorhersehbar überfordert. Aber die 15 plus 1 stellen etwas
dar. Also brauchen wir gemeinsame Länderstrategiekonzepte und eine Arbeitsteilung. Nicht jedes europäische
Land muss für jedes afrikanische Land das Gleiche tun.
Wir brauchen Koordination und Kooperation.
Auf nationaler Exekutivebene gibt es so etwas wie einen Ministerrat. Ich frage mich, Herr Hedrich: Warum
gibt es eigentlich auf parlamentarischer Ebene kein Äquivalent, zum Beispiel ein parlamentarisches Forum aus
Afrikaexperten der jeweiligen Nationalparlamente und
des Europaparlaments, um gemeinsam zu eruieren, wie
man zu abgestimmten Konzepten kommt?
These fünf. Afrikapolitik, Frau Ministerin, bleibt auf
lange Sicht die Domäne der Entwicklungspolitik, auch
wenn die Entwicklungspolitik - das ist bitter - lernen
muss, bescheidener zu sein. Das heißt aber vor allem:
Förderung der Zivilgesellschaft. Ohne Zivilgesellschaft
gibt es keine stabilen demokratischen Gesellschaften in
Afrika.
({2})
Das heißt zweitens, Konfliktprävention. Das heißt drittens: politisch und ökonomisch innerafrikanische regionale Kooperationen. Das heißt viertens: Die Nothilfe
muss in eine nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit
überführt werden und darf nicht isoliert betrachtet werden. Ich glaube, Frau Ministerin, dass wir beim nächsten
Haushalt intern doch noch das eine oder andere an Prioritäten werden umschichten müssen, so schwer es uns
fällt.
({3})
These sechs. Erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit setzt einen partnerschaftlichen Dialog voraus. Dialog funktioniert aber erstens nur, wenn er, Herr Minister,
auf gleicher Augenhöhe stattfindet. Manchmal habe ich
Zweifel, ob alle wichtigen europäischen Politiker das
auch nachvollziehen können. Erfolgreiche Zusammenarbeit setzt zweitens die Bereitschaft von uns Europäern voraus, voneinander zu lernen. Dort haben die Nichtregierungsorganisationen einen großen Erfahrungsvorsprung.
Drittens: Wir müssen endlich mit dem Lügen aufhören.
Wahrhaftigkeit ist gefragt.
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen. Wir
waren irgendwann einmal in Kamerun und haben darum
gebeten, dass man dort den Regenwald erhält. Ich glaube,
es war der Präsident, der uns aus Caesars „De bello Gallico“ vorgelesen hat und uns gefragt hat: Wo ist eigentlich
euer Urwald? Da haben wir die Bringschuld.
Umgekehrt habe ich diesen Sommer auf einer Konferenz in Maputo die Forderung gehört: Wir wollen einen
Marshallplan. Schon meine Frage: Seid ihr überhaupt in
der Lage, eine Struktur für den Marshallplan zu entwickeln?, wurde als Aggression aufgefasst. Ich bin froh,
dass sich hier inzwischen etwas bewegt.
Die letzte These heißt nämlich: Die Afrikaner sind für
ihre Zukunft zuallererst selbst verantwortlich. Diese Verantwortung können wir ihnen in Europa nicht abnehmen,
wie wir das im Äthiopien-Eritrea-Konflikt bitter erlebt
haben. Auch die afrikanischen Politiker können diese Verantwortung nicht an ihre NGOs delegieren. Das ist ihr originärer Job. Ich bin froh - Herr Tappe hat es hier beim
letzten Mal berichtet -, dass sich dieses Bewusstsein bei
führenden afrikanischen Politikern offensichtlich zu ändern beginnt.
Zum Schluss, Frau Ministerin, Herr Minister: Es wäre
zu schön, wenn Sie als das Ministertandem in die deutsche Afrikapolitikgeschichte eingehen würden, das gemeinsam in Berlin und Brüssel für eine kohärente Afrikapolitik so wesentliche Impulse gesetzt hat, dass unser
gemeinsamer Traum von Afrika als Kontinent der Zukunft Realität wird.
Ich bedanke mich.
({4})
Der nächste Redner ist
Kollege Rudolf Kraus für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die bisherige Debatte
zeigt, dass wir in den Zielen hinsichtlich der Afrikapolitik
der Bundesrepublik Deutschland in vielen Punkten übereinstimmen. Wir streiten - zu Recht - über die Frage, ob
denn die Anstrengungen der Bundesregierung wirklich
zureichend sind, diese Ziele zu erreichen. Ich bin hier ähnlicher Meinung wie Kollege Dr. Schuster, der dies natürlich nicht unterstellt.
Es wäre besser, wenn wir weiter über diese Wege streiten als über das, was die Ministerin jetzt gemacht hat. Sie
unterstellt dem Kollegen Glos etwas, was dieser nicht gesagt hat.
({0})
Ich möchte diese Sache hier mit aller Deutlichkeit aufgreifen. Es ist unfair und grenzt nahe an Verleumdung,
was hier gesagt wurde.
({1})
Es wird unterstellt, der Kollege Glos habe vorgeschlagen, Fleisch von Rindern, die aus BSE-auffälligen Beständen kämen und der deutschen Bevölkerung nicht zum
Verzehr zuzumuten seien, an die Armen der Welt zu verteilen. Genau das ist nicht der Fall. Es ist vielmehr so, dass
überlegt wird, 400 000 Rinder aus Gründen der Marktentlastung zu schlachten, und zwar von BSE nicht betroffenen Beständen. Jedem vernünftigem, normal denkendem Menschen ist es zuwider, wenn Lebensmittel hoher
Qualität einfach vernichtet werden. Genau dem wollte
Kollege Glos mit seinem Vorschlag Rechnung tragen, dieses Fleisch an diese Länder abzugeben,
({2})
und zwar kostenlos. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
({3})
- Das ist dummes Zeug, Frau Kollegin; ich komme gleich
auf Ihr Argument zu sprechen.
Mit anderen Worten: Es handelt sich um Fleisch - ich
unterstelle der Ministerin, dass sie weiß, dass auch in
Deutschland bis zum heutigen Tag noch Rindfleisch angeboten wird -, das in der gleichen Qualität in Deutschland und in anderen europäischen Ländern angeboten
wird.
({4})
Es ist Fleisch von Tieren aus Nicht-BSE-Beständen - das
sage ich noch einmal -, die geschlachtet und untersucht
werden und dann auf den Markt kommen. Genau das ist
der Vorschlag.
Sehr viel ernster nehme ich in der Tat, Frau Staatssekretärin Eid, den Einwand, damit würden die Märkte kaputtgemacht werden. Ich glaube das aus folgenden Gründen nicht: Erstens handelt es sich um eine einmalige
Aktion, die sich hoffentlich in den nächsten Jahrzehnten
nicht wiederholt. Zweitens handelt es sich um kostenlos
abgegebenes Fleisch, das von Leuten entgegengenommen
werden kann, die sonst überhaupt nicht am Markt teilnehmen, weil sie keine müde Mark haben, um sich so etwas
zu kaufen. Das heißt also, das Argument, das Sie vorbringen, würde dann gelten, wenn permanent oder über einen
längeren Zeitraum Überschüsse zu subventionierten
Dumpingpreisen an Länder geliefert würden, die zu diesen Kosten überhaupt nicht produzieren könnten. Deswegen denke ich, dass es gerechtfertigt ist, über diesen Vorschlag ernsthaft nachzudenken, und er es nicht verdient,
in dieser Weise heruntergemacht zu werden.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, die
Koalitionsfraktionen begrüßen in ihrem Antrag „Afrikas
Entwicklung unterstützen“ die Konzentration von 30 Prozent der insgesamt von Deutschland verausgabten Mittel
für bilaterale Entwicklungszusammenarbeit auf afrikanische Länder. Diese Zahlenangabe ist aber leider grob irreführend, da der Anteil der Mittel für die Finanzielle und
Technische Zusammenarbeit schon zu der Zeit, als die
Bundesregierung noch von CDU/CSU und F.D.P. gestellt
wurde, an die 30 Prozent betragen hat.
Wie wenig aussagekräftig der Hinweis auf einen Anteil
von 30 Prozent ist, wird vor allem dann deutlich, wenn
man die reale Höhe der Finanzmittel für Afrika im letzten Jahr der von CDU/CSU und F.D.P. geführten Regierung mit der im Haushaltsjahr 2001 vergleicht. Im Jahr
1998 belief sich der reale Betrag noch auf 865 Millionen DM, im Haushalt 2001 ist der Ansatz auf 712 Millionen DM gesunken. Das Vorgehen der Bundesregierung
in ihrem Antrag wird damit als untauglicher Versuch entlarvt, darzutun, dass sie wesentlich mehr als früher für
Afrika tue.
({5})
Noch in der letzten Afrika-Debatte im Juli letzten Jahres hatte die Fraktion der CDU/CSU ein mangelndes Interesse des Bundesaußenministers an Afrika kritisiert;
mittlerweile ist er zweimal in Afrika gewesen. Wir halten
das für richtig, glauben aber nicht, dass damit schon ein
wirklich überzeugendes Engagement der deutschen
Außenpolitik deutlich gemacht werden konnte, das zur
Prävention von Konflikten in diesen Regionen ausreicht.
({6})
Immerhin macht der Hinweis im Antrag darauf aufmerksam, dass der Bundesaußenminister bei seinen Reisen einen Konfliktherd im südlichen Afrika außen vor
gelassen hat, der für die gesamte Region des südlichen
Afrika und für das gesamte Schwarzafrika große Bedeutung erlangen kann. Ich meine die Situation in
Simbabwe. Dort stürzt Präsident Mugabe das ehemals
prosperierende Land mehr und mehr ins Chaos. Am
6.April 2000 verabschiedete das Parlament von Simbabwe
eine Verfassungsänderung, durch die die Regierung ermächtigt wurde, Farmen von Weißen entschädigungslos
zu enteignen. Präsident Mugabe ging es dabei darum, die
Landfrage, die in der öffentlichen Meinung eine untergeordnete Rolle spielte, für den Wahlkampf zu instrumentalisieren. Er wollte von Versäumnissen ablenken,
indem er den Hass auf den weißen Anteil der simbabwischen Bevölkerung schürte. Die Folgen sind desaströs.
Simbabwe war früher Nettoexporteur von Lebensmitteln, nun droht eine Lebensmittelknappheit. Die Inflation
beträgt 60 Prozent, die Arbeitslosigkeit 50 Prozent. Der
Tourismus, eine der Stützen der Wirtschaft, ging um
80 Prozent zurück. Der Presse war in den letzten Tagen
auch zu entnehmen, dass 4 000 der 8 500 Ärzte und
Schwestern zwischenzeitlich das Land verlassen und eine
Arbeit im Ausland aufgenommen haben. In den Krankenhäusern arbeitet inzwischen nicht viel mehr als eine Notbesetzung. Der Zusammenbruch des gesamten Gesundheitssystems ist zu befürchten - und dies vor dem
Hintergrund, dass Simbabwe zu den am schwersten von
Aids heimgesuchten Ländern zählt.
Ursache für diesen Missstand ist die Politik des Präsidenten, dessen Regierung Unsummen für einen aufgeblähten Staats- und Machtapparat und für die Entsendung
von 11 000 Soldaten in den Kongo hinauswirft, womit
Mugabes Freund Kabila an der Macht gehalten werden
sollte. Wie wir heute gehört haben, hat sich die Situation
zwischenzeitlich anders entwickelt: Kabilas Sohn hat die
Macht übernommen.
Im Zusammenhang mit Aids - ich habe das in meiner
letzten Rede zu Afrika schon getan - möchte ich auf ein
ganz entscheidendes Aufgabenfeld hinweisen, nämlich
auf die Notwendigkeit, die Seuche Aids dort zu bekämpfen.
Mit Sicherheit hat Aids in etwa das Ausmaß und die
Rolle der mittelalterlichen Pest in Europa. Dieses Problem wird auch in der deutschen Öffentlichkeit in seiner
Tragweite bis zum heutigen Tag praktisch nicht wahrgenommen. Ich denke, dass es eine große Aufgabe der Regierung sein wird, alles zu tun, um diese Seuche zu
bekämpfen, die Prävention mit in Gang zu setzen und
- was ganz besonders wichtig ist - dafür zu sorgen, dass
den Menschen, die dort betroffen sind, auch Medikamente
zugänglich sind, so wie dies in den entwickelten Ländern
der Fall ist.
({7})
Ich weiß, dass dies sehr schwierig ist. Aber wenn die
Seuche schon nicht völlig verhindert werden kann, müssen wir alles tun, die Firmen dazu zu veranlassen, mit
Hilfe des Staates, mit Hilfe der EU Bezahlbares auf den
Markt zu bringen. Es ist eine sittliche Forderung erster
Güte, dass die Folgen möglichst eingedämmt werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, noch ein
Wort zum Antrag der F.D.P. Ich bedaure es sehr, aber
meine Fraktion hat beschlossen, diesem Antrag nicht zuzustimmen. Insbesondere die Absätze 5, 6 und 7 machen
es uns unmöglich, Ihrem Antrag zu folgen. Ich bitte um
ein gewisses Verständnis und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Nächste Rednerin in
der Debatte ist für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Kollegin Uschi Eid.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ghana wurde schon verschiedentlich als ein Land
genannt, in dem ein für das Land selber historischer und
für den gesamten Kontinent beispielgebender Machtwechsel stattgefunden hat. Ich bin froh, dass ich für die
Bundesregierung in Ghana gewesen bin und dass auch der
Kollege Hornhues für die Opposition in Ghana anwesend
war. Ich danke aber auch den deutschen Stiftungen, die
diesen Prozess in Ghana sehr konstruktiv und beispielhaft
begleitet haben.
({0})
Wir sind uns allerdings darüber im Klaren, dass
Wahlen alleine nicht ausreichen, um Demokratie mit
Substanz zu füllen. Denn nach Feudalismus und Zentralismus müssen viele Gesellschaften erst lernen, pluralistische, dezentrale Strukturen zu verankern. Das wurde
hier verschiedentlich bereits gesagt.
Die Kollegen Schuster und Hornhues haben schon die
Parlamente, also das Herz der verfassten Demokratie, genannt. Hierzu möchte ich noch einiges ausführen.
Zunächst will ich die Rolle des burundischen Parlaments seit dem Putsch von Buyoya 1996 würdigen. Dies
mag viele von Ihnen überraschen, kommt doch Burundi
seit Jahren nicht zur Ruhe. Aber in Burundi hat auch der
Deutsche Bundestag eine kleine, durchaus entscheidende
Rolle gespielt. Namentlich erwähne ich in diesem Zusammenhang die Abgeordneten Brudlewsky, Schwaetzer,
Tappe und Schuster.
Ich möchte Ihnen ein Schreiben des Vizepräsidenten
des burundischen Parlaments zur Kenntnis geben, weil
ich glaube, dass dies ebenfalls beispielhaft ist. Nach meinem Besuch dort im November hat er mir eine E-Mail geschickt. Ich zitiere:
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, ich möchte Sie
versichern, dass wir nie den Beitrag Ihres Parlamentes - auch durch Ihren persönlichen Einsatz - für die
Versöhnung Burundis vergessen werden. Sie kamen
1995 nach Bujumbura und wir diskutierten. Wir kamen 1996 nach Bonn, eine Gruppe von zehn Parlamentariern, und wir diskutierten mit Ihnen und wir
verstanden uns. Dies war der Beginn von wahrhaftigen Verhandlungen.
So der heutige Vizepräsident des Parlaments in Burundi.
Er schreibt weiter:
1998 erreichten wir dank des Treffens in Bonn eine
Partnerschaft, denn der Dialog in Bonn erlaubte es
mir und Herrn Bamvuginyumviye, die äußeren Flügel unserer Parteien zu überzeugen, dass wir um Verhandlungen „nicht herumkommen“.
Ich muss hinzufügen, dass die beiden Männer, die ich
hier zitiere, damals die Fraktionsvorsitzenden der zerstrittenen Parteien waren, die sich bis aufs Blut bekämpft haben, nämlich die Fraktionsvorsitzenden von UPRONA
und FRODEBU.
Weiter heißt es in dem Brief:
Das jetzt unterzeichnete Friedensabkommen ist die
Frucht des Dialogs von Bonn.
({1})
Ich möchte ausdrücklich der damaligen Präsidentin des
Deutschen Bundestages, Frau Süssmuth, dem damaligen
Vizepräsidenten, Herrn Klose, und der Vizepräsidentin
Frau Vollmer für die Unterstützung meiner Initiative danken. Ich möchte diesen Dank im Deutschen Bundestag
erwähnen, damit Sie wissen - es ist vorhin schon angesprochen worden -, dass die Parlamentariergruppen eine
wichtige Rolle für die Stärkung der Demokratie in afrikanischen Ländern zu spielen haben. Ich hoffe, dass die Vorsitzenden der Parlamentariergruppen diesen Gedanken
weitertragen.
({2})
Dank dieses Erfolges wird das BMZ in diesem Jahr
eine Konferenz zur Rolle der Parlamente in Afrika durchführen. Ich hoffe, dass das burundische Beispiel Schule
macht.
Frau Kollegin Eid, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Frau
Präsidentin, ich will zum Schluss meiner Rede noch eine
Bemerkung zur aktuellen Situation machen. Beunruhigende Meldungen, dass der Friedensprozess zwischen
Eritreern und Äthiopiern ins Stocken geraten sei, veranlassen mich, an beide Seiten zu appellieren, alles zu tun,
damit das Friedensabkommen erfüllt wird. Dort ist festgelegt, dass der UNMIK-Luftkorridor wieder geöffnet
wird und dass die Minenlagepläne bekannt gegeben werden, damit mit der Räumung der Minen begonnen werden
kann, dass die Mitglieder der Grenzkommission unverzüglich dem UN-Generalsekretär zu benennen sind und
dass der Propagandakrieg auf beiden Seiten zu beenden
ist.
({0})
Erst wenn Friedenstruppen der UN stationiert und die
äthiopischen Truppen vom eritreischen Territorium abgezogen worden sind - nur dann -, werden wir mit beiden
Seiten die Entwicklungszusammenarbeit aufnehmen. Einen dauerhaften Frieden wird es nur geben, wenn sich
beide Staaten zu wirklich demokratischen Systemen weiterentwickeln, das heißt also, wenn die Intransparenz in
der Staatsführung beseitigt wird, wenn die Parlamente zu
wirksamen Kontrollinstrumenten der Gesellschaft gegenüber ihren Regierungen werden, wenn die Verfassungen
wirklich respektiert und umgesetzt werden und wenn Pluralismus kein Schlagwort mehr ist.
({1})
Frau Kollegin Eid, ich
erinnere Sie ein letztes Mal daran, zum Schluss zu kommen. Ich war schon recht großzügig.
Eine
solche Entwicklung wollen und werden wir fördern. Das
ist das Ziel unserer zukünftigen Zusammenarbeit für eine
friedliche Entwicklung in der Region.
Ich danke Ihnen.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Joachim Tappe für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ausgangspunkt und Anlass für
die heutige Debatte - Herr Kollege Hornhues hat darauf
aufmerksam gemacht, dass es dankenswerterweise schon
die dritte Debatte innerhalb eines knappen Jahres ist - ist
der Antrag der Koalitionsfraktionen „Afrikas Entwicklung unterstützen“.
Ich möchte gerne den Gedanken von Herrn Hornhues
aufnehmen - Herr Irmer hat sich in gleicher Weise geäußert - und durchaus beklagend fragen: Warum ist es eigentlich nicht mehr möglich, im Zusammenhang mit dem
Kontinent Afrika unsere alte Tradition wieder aufleben zu
lassen, fraktionsübergreifend gemeinsame Anträge zustande zu bringen?
({0})
Wenn ich aus dem Antrag der CDU/CSU „Afrika darf
nicht zum vergessenen Kontinent werden“, aus entscheidenden Teilen des sehr kurzfristig vorgelegten Antrages
der F.D.P. „Für eine europäische Ausrichtung der deutschen Afrikapolitik“ und aus unserem Antrag eine Synopse
erstelle, dann kann man ohne Übertreibung feststellen: Es
gibt eine mindestens 90-prozentige Übereinstimmung.
Ich würde mir wünschen, dass wir zu der altbewährten
Praxis zurückkehren, im Interesse dieses geschundenen
Kontinents gemeinsame Anträge, die ein einstimmiges
Votum in diesem Hause finden, einzubringen.
({1})
Aber, Herr Irmer, ich möchte gern die Gelegenheit
wahrnehmen, eine Kritik, die Sie unter Verwendung eines
Zitates am Außenminister geäußert haben, zurückzuweisen. Denn ich habe an der Reise des Außenministers
nach Angola, Burundi und Ruanda teilgenommen und
muss feststellen: Die Kritik am Außenminister, die von
Teilen der Medien im Zusammenhang mit dieser Reise
geäußert worden ist, ist unberechtigt; sie ist schlichtweg
falsch. Im Gegensatz zu Herrn Scholl-Latour, den Sie ziDr. Uschi Eid
tiert haben, war ich dabei. Herrn Scholl-Latour habe ich
bei dieser Reise nicht gesehen.
Im Gegenteil, ich muss sagen - das tue ich nicht
pflichtgemäß -: Der Außenminister hat diese Besuche mit
hoher Sensibilität durchgeführt. Ich erinnere mich sehr
deutlich an die Moderation eines runden Tisches in
Ruanda - im traumatisierten Ruanda - mit vielen Vertretern zivilgesellschaftlicher Gruppen. Das war schon sehr
eindrucksvoll. Deshalb möchte ich deutlich machen:
Diese Kritik ist unberechtigt.
({2})
Wenn ich alle drei Anträge im Zusammenhang sehe
und mich frage, ob wir unseren eigenen Ansprüchen, die
wir dort formulieren und artikulieren, nämlich Afrika zu
unterstützen, gerecht werden, ergibt sich für mich - mit
hoher Aktualität - eine Handlungsnotwendigkeit, die ich
hier - bei aller Vorläufigkeit - kurz skizzieren möchte.
Der Außenminister hat im Zusammenhang mit dem
Kongo-Problem von der Hoffnung auf eine zukünftige
friedliche Entwicklung gesprochen und appelliert, dass
sich die Key-Player im Kongo zusammensetzen mögen.
Diejenigen, die Afrika ein bisschen kennen, und die Afrikaner wissen: Das allein reicht nicht. Deshalb fordere ich
die Bundesregierung auf, ernsthaft alle Möglichkeiten zu
überprüfen, wie in europäischer Abstimmung die augenblickliche Chance genutzt werden kann, die sich durch
den Tod Kabilas für den Kongo und für die ganze Region
ergibt. Wir alle wissen, - auch aus unserer eigenen Vergangenheit -, dass die Geschichte besondere Chancen nur
einmal vorhält. Deshalb meine ich, dass hier schnelles
Handeln gefordert ist. Es könnte durchaus eine Nagelprobe für unser Bekenntnis zu Afrika sein.
({3})
Schnelles Handeln ist auch deswegen erforderlich, damit Terror und Bürgerkrieg - es geht um 2 Millionen Opfer in diesem Land in den letzten drei Jahren - nicht zu einem Dauerzustand werden.
Schnelles Handeln erscheint mir ebenso deshalb geboten, damit die - sehr reale - Gefahr gebannt wird, dass
ein neuer korrupter und unfähiger Diktator, quasi ein
Mobutu 3, das momentane Machtvakuum füllt und der
Kongo weiterhin ein Synonym für Staatszerfall und
Rechtlosigkeit bleibt.
Ich war einige Male im Kongo und habe dort - Frau
Eid wird das bestätigen können - eine Vielzahl von Gesprächen mit zivilgesellschaftlichen Gruppen, mit Bürgergruppen führen können, die im Lande bereits vor
vielen Jahren, schon unter Mobutu, eine Demokratiebewegung errichtet haben. Deswegen meine ich, dass
die Bundesregierung in Absprache mit den Vereinten Nationen und mit der OAU, der Organisation der Afrikanischen Einheit, die Initiative ergreifen sollte, diese „débat
national“, die auch Bestandteil des Lusaka-Abkommens
ist, zu organisieren, weil in dem derzeitigen chaotischen
Zustand eine Selbstorganisation nicht möglich erscheint.
({4})
Ich hatte heute Nachmittag zufälligerweise die Gelegenheit, mit Herrn Diallo, dem Exekutivsekretär des Wüstensekretariats der Vereinten Nationen, zu sprechen. Er ist
selber Afrikaner und war in vielen Funktionen in afrikanischen Organisationen, in den Vereinten Nationen tätig. Er
hat mich dringend gebeten, diesen Vorschlag hier zu unterbreiten und die Bundesregierung aufzufordern, aktiv zu
werden, um das Problem des Kongo, das auch ein Problem Burundis, Ruandas, Ugandas, des Südsudan und von
Kongo-Brazzaville ist, anzugehen und damit nicht zu
warten. Denn in drei oder vier Wochen ist die Chance
nicht mehr da, die wir vielleicht in den nächsten Tagen haben.
({5})
Das ist eine Nagelprobe für unser Bekenntnis, Afrika zu
unterstützen.
Danke schön.
({6})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag
der Fraktion der SPD und der Fraktion des Bündnises 90/
Die Grünen mit dem Titel „Afrikas Entwicklung unter-
stützen“ auf. Es handelt sich um die Drucksache 14/4850.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/3701 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU
bei Enthaltung von F.D.P. und PDS angenommen.
Der Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Für
eine europäische Ausrichtung der deutschen Afrikapoli-
tik“ auf Drucksache 14/5090 soll an den Auswärtigen
Ausschuss - federführend - und den Ausschuss für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit überwiesen werden. - Ich
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Hildebrecht Braun ({0}), Ernst
Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Schattenwirtschaft mit marktwirtschaftlichen
Mitteln eindämmen
- Drucksache 14/3024 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Eindämmung illegaler Betätigung im Baugewerbe
- Drucksache 14/4658 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Neunter Bericht der Bundesregierung über
Erfahrungen bei derAnwendung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes - AÜG - sowie über
die Auswirkungen des Gesetzes zur Bekämpfung
der illegalen Beschäftigung - BillBG - Drucksache 14/4220 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Ludwig Eich, Leyla Onur, Dr.
Hans-Peter Friedrich, Dr. Thea Dückert, Dr. Heinrich
Kolb sowie Dr. Klaus Grehn haben ihre Reden zu Proto-
koll gegeben.1) - Ich sehe keinen Widerspruch im Saal.
Deshalb kommen wir sofort zu der Überweisung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/3024, 14/4658 und 14/4220 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({4})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2000
zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Willi Brase, Klaus Barthel ({5}),
Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ekin
Deligöz, Matthias Berninger, Irmingard
Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Berufsbildungsbericht 2000
- Drucksache 14/3244, 14/3331, 14/4305 Berichterstattung:
Abgeordnete Willi Brase
Antje Hermenau
Maritta Böttcher
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Wolf-Michael Catenhusen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Junge Erwachsene stehen in unserem Lande vor einer Zukunft, die ständig im Wandel ist. Darauf müssen wir sie vorbereiten.
Entscheidend dafür ist vor allem auch eine hohe Qualität
der beruflichen Bildung. Entscheidend ist auch ein möglichst breiter Zugang für alle zu einer qualifizierten Berufsausbildung.
({0})
Klar ist: Unsere Jugendlichen wollen sich qualifizieren. Wir müssen ihnen allerdings auch allen die Chance
dazu geben. Klar ist aber auch: Gesellschaft und Wirtschaft brauchen diese gut und aktuell qualifizierten jungen Leute. Der Qualifizierungsbedarf steigt. Die Politik
muss und die Bundesregierung will sich dieser Verantwortung stellen.
Wir haben am Ausbildungsstellenmarkt mit dem Sofortprogramm zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit
und den Vereinbarungen im Bündnis für Arbeit in zwei
Schritten, nämlich 1999 und 2000, eine wirksame Entspannung erreicht.
({1})
Der Berufsbildungsbericht, dessen Beratungen heute
zum Abschluss gebracht werden, dokumentiert die Situation von 1999. Danach wurden damals bundesweit rund
631 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen,
18 500 Verträge mehr als im Vorjahr. Die bessere Bilanz
in 1999 war vor allem auf die Ausweitung der öffentlich
finanzierten Ausbildung durch das Sofortprogramm
zurückzuführen.
Heute, nachdem die politischen Entscheidungen und
Maßnahmen der Regierung und des Bündnisses für Arbeit
zu greifen beginnen, liegen nun auch die Ergebnisse der
bis zum 30. September 2000 neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge und damit die Ergebnisse der Ausbildungsplatzbilanz 2000 vor. Daran zeigt sich: Die Lage auf dem
Ausbildungsstellenmarkt hat sich insgesamt verbessert.
Gemessen an den Angebots- und Nachfrageverhältnissen
wurde sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern
die beste Ausbildungsplatzsituation seit Mitte der 90erJahre erreicht.
({2})
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 4
In den alten Ländern übersteigt nun wieder das Angebot
die Nachfrage um rund 10 500 Plätze. Das ist seit 1996 der
höchste Überschuss. In den neuen Ländern hat sich die
Lücke zwischen angebotenen und nachgefragten Plätzen
auf 8 500 weiter verringert und damit den niedrigsten
Wert seit 1995 erreicht. In gleicher Größe standen Anfang
Oktober letzten Jahres noch Plätze im Rahmen des BundLänder-Sofortprogrammes und der ergänzenden Länderprogramme sowie des Sofortprogramms 2001 zur Verfügung. Das heißt, rein rechnerisch besteht immer noch die
Hoffnung, dass sich diese Ausbildungsplatzlücke in Ostdeutschland jetzt in der Nachvermittlungsphase noch ein
Stückchen weiter schließen lässt.
({3})
Dieses gute Ergebnis ist zum einen auf die deutlich gewachsene Zahl betrieblicher Ausbildungsplätze zurückzuführen. Darauf kann die Wirtschaft, darauf können wir
stolz sein. Die Betriebe haben im Jahre 2000 in den alten
Ländern rund 12 100 bzw. rund 3 Prozent mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen. In den neuen Ländern sind
rund 2 300 bzw. etwas über 2 Prozent mehr Ausbildungsverträge abgeschlossen worden als im Jahr zuvor. Für Ostdeutschland bedeutet dies: Nach jahrelangen Rückgängen
ist dies der erste Anstieg seit 1996.
({4})
Noch positiver sieht die Bilanz der Ausbildungsverträge im Bereich der IT- und Medienberufe aus. Die in
diesem Bereich allein im Jahr 2000 mehr als 25 500 abgeschlossenen neuen Ausbildungsverträge sind ein deutlicher Anstieg um 45 Prozent im Vergleich zu 1999.
({5})
Das heißt, wir haben die im Rahmen der IT-Offensive vereinbarte Zielmarke von 40 000 Ausbildungsplätzen in diesen Berufen bereits übertroffen. Das ist ein guter Erfolg.
Wir sind sehr zuversichtlich, dass das gemeinsam gesetzte
Ziel, bis 2003 60 000 Ausbildungsplätze zu schaffen, bei
Fortsetzung unserer Anstrengungen auch erreicht werden
kann.
Sie wissen, dass wir vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in diesem und im kommenden Jahr
im Rahmen der UMTS-Zinsersparnisse mit Mitteln in
Höhe von 250 Millionen DM eine weitere Kraftanstrengung unternehmen, indem wir durch eine Modernisierung
der Ausstattung von Berufsschulen und vor allem durch
Investitionen in eine moderne IT-Infrastruktur der
Attraktivität der beruflichen Bildung gerade in diesem
Bereich einen weiteren Push versetzen.
({6})
Im letzten Jahr ist aber auch die Nachfrage an Ausbildungsplätzen etwas zurückgegangen. Wir führen dies vor
allem darauf zurück, dass im Vorjahr mit dem Jugendsofortprogramm Nachfrage abgeschöpft worden ist. Das ist
gut so. Jüngere Menschen sind schneller als in den vorherigen Jahren in eine qualifizierte Ausbildung eingestiegen. Dies und die deutliche Stärkung der betrieblichen
Ausbildung haben es ermöglicht, die außerbetrieblichen
Ausbildungsplätze zurückzuführen und so Platz für andere Maßnahmen zu schaffen.
({7})
Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge in öffentlich
finanzierter Ausbildung sank deshalb in den alten Ländern um knapp 36 Prozent. In den neuen Bundesländern
sank die Zahl der neuen öffentlich finanzierten Ausbildungsverträge um 12 000 bzw. um knapp 34 Prozent.
Das heißt, dass in diesem Ausbildungsjahr anteilmäßig
mehr junge Menschen als vorher das primäre Ziel, nämlich einen betrieblichen Ausbildungsplatz, erreichen
konnten.
({8})
Wir sind stolz darauf, dass die Anzahl der Jugendlichen, die zum Stichtag 30. September 2000 noch nicht
vermittelt waren, im Vergleich zum Vorjahr in den alten
Ländern weiter auf rund 14 200 und in den neuen Ländern
noch einmal auf 9 400 gesunken ist. Das heißt, wir haben
in den alten Ländern, was die Zahl der nicht vermittelten
Bewerberinnen und Bewerber angeht, den niedrigsten
Wert seit 1993 erreicht. In den neuen Ländern ist es der
niedrigste Wert nicht vermittelter Bewerberinnen und Bewerber seit 1995. Das ist eine Bilanz, die Mut macht.
({9})
Wir können nun feststellen, dass diese Zahl bis Ende
Dezember, unterstützt durch die im Ausbildungskonsens
des Bündnisses für Arbeit vereinbarten Nachvermittlungsaktionen, um mehr als 50 Prozent gesenkt worden
ist. Zum Stichtag Ende Dezember suchten noch rund
7 000 Jugendliche in den alten und rund 4 200 Jugendliche in den neuen Ländern einen Ausbildungsplatz. Rein
rechnerisch stehen dem in gleicher Höhe verfügbare betriebliche Programmplätze gegenüber, sodass wir sagen:
Bis Februar können wir diese Lücke noch ein Stückchen
schließen.
({10})
Meine Damen und Herren, damit beschreiten wir einen
Weg, der, rein statistisch gesehen, bundesweit zu einem
ausgewogenen Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf
dem Lehrstellenmarkt führt. Aber wir wissen auch, dass
das nur ein Zwischenschritt ist; denn wir wollen natürlich
auch in den Problemregionen - in Ost- wie in Westdeutschland - unsere Anstrengungen fortsetzen, um diese
Lücke weiter zu schließen. Wir wollen auch noch ein
Stück weiter dahin kommen, dass Jugendliche wieder
eine größere Freiheit bei der Wahl eines zukunftssicheren
Berufs haben.
({11})
Wir haben es natürlich, wie ich schon erwähnte, nach
wie vor mit einem gespaltenen Ausbildungsmarkt zu tun.
Einer vergleichsweise entspannten Lage im Westen steht
eine anhaltend schwierige Situation im Osten gegenüber.
Daran sollte man heute nicht vorbeireden. Auch die leicht
steigenden Ausbildungsstellenangebote in Ostdeutschland bedeuten de facto, dass es immer noch für nur rund
60 Prozent der Jugendlichen, die eine Ausbildungsstelle
nachfragen, reicht. Deshalb werden wir die staatlichen
Ausbildungsplatzprogramme in den neuen Ländern schon jetzt gibt es dazu klare Verabredungen - zumindest
bis zum Jahre 2003 fortsetzen. In dem Ausbildungsplatzsonderprogramm, das das BMBF gemeinsam mit
den neuen Ländern auflegt, sind in diesem Jahr 16 000
Plätze vorgesehen. Aus dem Jugendsofortprogramm stehen auch 2001 bis zu 2 500 Plätze für die neuen Länder
bereit. Dafür stellen wir etwa 370 Millionen DM zur Verfügung.
({12})
Die neuen Länder bleiben in der Solidarität und werden
auch ihre Programme fortsetzen.
Insbesondere werden wir aber alle Aktivitäten verstärken, um mehr betriebliche Ausbildungsplätze zu gewinnen; denn wir wollen damit auch dazu beitragen, dass
nicht die besonders leistungsfähigen und motivierten Jugendlichen in die alten Länder abwandern. Es muss klar
sein: Wir geben der Abwanderung junger Menschen aus
den neuen Bundesländern, die eine Ausbildung suchen,
keine politische Unterstützung. Es muss unser Ziel sein,
die Modernisierung der Infrastruktur so fortzusetzen, dass
die jungen Menschen ihre Ausbildung in Ostdeutschland
abschließen.
({13})
Wenn diese jungen Menschen dann allerdings vor der
Gefahr, arbeitslos zu werden, stehen, muss der Staat weiterhin eine gewisse Hilfe leisten können, um ihnen in anderen Regionen unseres Landes Arbeitspraxis zu ermöglichen. Vielleicht kommen sie in besseren Zeiten mit
ihrem Know-how und der Erfahrung aus mehrjähriger
Berufstätigkeit zurück und vermeiden es dann, dauerhaft
arbeitslos zu werden.
({14})
Meine Damen und Herren, wir haben dazu im letzten
Jahr mit dem neuen Projekt Regio-Kompetenz-Ausbildung begonnen. Es hat den Aufbau von regionalen Unterstützungsstrukturen zur Mobilisierung von betrieblichen Ausbildungsplätzen durch Organisation von
Netzwerken für kleine und mittlere Betriebe, also durch
Verbundausbildung in Kooperation von Kammern,
Betrieben, Bildungswerken, Bildungsträgern und Beratungseinrichtungen, zum Ziel. Bis einschließlich 2003
sind dafür rund 17 Millionen DM vorgesehen.
Vor diesem Hintergrund ist auch das Ergebnis der Beratungen im federführenden Ausschuss zu würdigen;
denn wir begrüßen es außerordentlich, dass uns der Beschluss des Ausschusses Rückendeckung für die Strategie
gibt, auf der einen Seite die Anstrengungen zur
Schließung der Ausbildungslücke fortzusetzen, auf der
anderen Seite aber auch gezielte Schritte in Richtung auf
die Modernisierung des Systems unserer beruflichen Bildung zu gehen.
Ich denke, wir können davon ausgehen, dass mit den
weit reichenden Beschlüssen zur inhaltlichen Weiterentwicklung und Modernisierung der beruflichen Bildung,
die wir zusammen mit den Sozialpartnern und den Ländern in der Arbeitsgruppe Aus- und Weiterbildung des
Bündnisses seit Januar 1999 getroffen haben, Bausteine
für eine zukunftsorientierte weitere Modernisierung des
beruflichen Bildungssystems geschaffen werden.
Wir lassen uns bei unserem Engagement für die Zukunft der jungen Menschen in diesem Bereich der beruflichen Bildung von folgenden Schwerpunkten leiten: Jeder bzw. jede Jugendliche soll die Möglichkeit zu einer
Ausbildung erhalten. Sofortprogramm und Ausbildungskonsens gehen weiter. Hier geht es nicht um Umsteuern,
aber um ein effizienteres Nachsteuern, um bessere Nachvermittlung. Wir setzen die strategische Modernisierung
der beruflichen Bildung fort, das heißt, wir arbeiten zusammen mit den Sozialpartnern auf den verschiedenen
Ebenen weiter an der strukturellen Erneuerung der Ausbildungsberufe. Wir werden die Frage der Berufseinmündung Ausgebildeter stärker aufgreifen müssen. Darüber
hinaus wollen wir gemeinsam mit den Sozialpartnern in
einer breiten Qualifizierungsoffensive die stärkere Verzahnung von beruflicher Erstausbildung und beruflicher
Weiterbildung angehen.
Ich habe die große Hoffnung, dass die Qualifizierungsoffensive in unserem Lande, die überfällig ist und
die die Bemühungen um Lehrstellen für jeden jungen
Menschen ergänzen muss, einer der Schwerpunkte des
Bündnisses für Arbeit in diesem Jahr und damit auch der
Politik unseres Hauses werden wird.
({15})
Ich denke, diese Modernisierung ist überfällig. Wir
wollen sie mit den und für die jungen Menschen. Die Entwicklung hin zu mehr Arbeit in unserem Lande ist nur
durch eine Modernisierung der Bildung und Ausbildung
erreichbar. Deshalb ist die Arbeit an diesem Zukunftsfeld
ein Stück Zukunftssicherung für die junge Generation, für
unsere Wirtschaft und für unsere Gesellschaft.
Schönen Dank.
({16})
Nächster Redner ist
der Kollege Heinz Wiese für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! An der
Schwelle zum dritten Jahrtausend stehen wir in der Bildungspolitik vor neuen Herausforderungen. Gerade eben
wurde es auch vom Herrn Staatssekretär deutlich angesprochen: Das Tempo des Fortschritts - verbunden mit der
Vervielfachung des Wissens und den damit einhergehenden Veränderungen - hat dramatisch zugenommen. Weitere Beschleunigungsprozesse stehen uns noch bevor.
Der Wert qualifizierter Ausbildung für die Zukunft
des Einzelnen und des ganzen Volkes kann gar nicht hoch
genug eingeschätzt werden. Wissen und Bildung haben
eine überragende Bedeutung für die Wertschöpfung und
den Wohlstand unserer Gesellschaft. Sie sind die Voraussetzungen für die aktive Bewältigung des Strukturwandels und gewährleisten die Innovationsfähigkeit Deutschlands. Dies gilt ohne Abstriche auch für den Bereich der
beruflichen Bildung.
Gerade für junge Menschen ergeben sich aus diesen
veränderten Rahmenbedingungen unter anderem folgende Konsequenzen: ein hohes Maß an Flexibilität und
Mobilität, das Erfordernis, sich auf neue Anforderungen
einzustellen, die Bereitschaft, häufig Arbeitsplatz und
Wohnort zu wechseln, die Notwendigkeit, Zeiten der Beschäftigung und Zeiten der Weiterbildung miteinander zu
verknüpfen.
Künftig wird die Festlegung auf einen bestimmten Beruf als lebenslange Dauererwerbsquelle nicht mehr ausreichen. Wechsel des Berufes werden die Erwerbsbiografien stärker als bisher prägen. Dies müssen wir der jungen
Generation rechtzeitig vermitteln.
Doch nun zum Berufsbildungsbericht 2000. Darin heißt
es unter anderem: Die Ausbildungschancen der Jugendlichen haben sich zwar verbessert, aber dies ist vor allem auf
den verstärkten Einsatz öffentlich finanzierter Programme
zurückzuführen. Gemeint ist natürlich in erster Linie das
JUMP-Programm. Dieses Programm kann zwar Brücken
zum ersten Arbeitsmarkt bauen; entscheidend ist aber, dass
die Jugendlichen am Ende der Qualifizierung die Chance
bekommen, tatsächlich ins Berufsleben einzusteigen. Anderenfalls werden nur Warteschleifen aufgebaut. Langfristig brauchen wir deshalb keine milliardenschweren Programme mit Strohfeuereffekt, sondern Lösungen mit
tragfähigen Strukturen.
({0})
Frau Ministerin Bulmahn - sie ist heute leider nicht anwesend - hat bereits in der Debatte zum Berufsbildungsbericht 1999 erklärt, Kollege Tauss, dass die Förderung
von Ausbildungsplätzen mit öffentlichen Mitteln nicht zu
einem Dauerzustand werden dürfe.
Auch der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Herr
Jagoda, betont am laufenden Band, dass Förderprogramme keine Alternative zur betrieblichen Ausbildung
darstellen können. Deshalb ist es, glaube ich, höchste
Zeit, zumindest in Westdeutschland andere Wege zu gehen.
({1})
Über die Situation im Osten, die besonders prekär ist,
wird mein Kollege Rainer Jork nachher sehr deutliche
Worte finden.
Zur aktuellen Diskussion über den Fachkräftemangel
in Deutschland möchte ich nur eine kurze Bemerkung machen. Eine echte Green-Card-Regelung könnte durchaus
auf andere Branchen ausgeweitet werden. Wir dürfen dabei aber die Qualifizierung unserer eigenen Jugend nicht
vernachlässigen. Wir brauchen beides: Ausbildung und
Zuwanderung. Im Zeitalter der Globalisierung ist die
Jagd nach den klugen Köpfen in einem weltweiten Bildungsmarkt genauso wenig aufzuhalten wie die Flucht
der Gehirne aus der Dritten Welt.
Deshalb ist es natürlich wichtig, sich auch dieser Herausforderung zu stellen, genauso wie wir es - auch dies
wird von uns immer wieder beklagt - angesichts des
Fachkräftemangels auf Dauer nicht verantworten können,
dass technische Intelligenz in Deutschland bereits im Alter von 45 Jahren auf dem Abstellgleis landet. Immer
mehr Unternehmen suchen überwiegend olympiareife
Mitarbeiter. Dies darf so nicht bleiben.
({2})
Für mich gilt immer noch: Lieber mit 50 zur Weiterbildung als mit 60 in Rente!
({3})
Der PC gehört heute zum Alltag der Jugendlichen und
ist natürlich für die Wissensvermittlung unabdingbar. Ziel
muss es sein, dass jeder Schulabgänger einen Computerführerschein hat. Dieser sollte international vergleichbar
sein, wie es schon heute bei IT- und IuK-Zertifikaten der
großen Softwarehäuser der Fall ist.
Wir begrüßen Maßnahmen zur Verbesserung der Flexibilität und Durchlässigkeit des dualen Systems. Vor allem für die schwer vermittelbaren Jugendlichen mit Lernschwächen oder für solche, die eher praktisch begabt sind,
fördern wir teilqualifizierende und modulare Ausbildungsgänge sowie zusätzliche Berufsbilder mit theorievermindertem Anforderungsprofil. Wir glauben - das ist
schon immer unsere Überzeugung gewesen -, dass hier
Barrieren überwunden werden müssen und wir in absehbarer Zeit mit den Gewerkschaften in einen aktiven Dialog eintreten sollten.
In dieser Richtung zeigt das Satellitenmodell des DIHT
neue Wege auf. Dies sind geeignete Maßnahmen, um Ungelernte zu qualifizieren und ihnen eine Chance zu geben; denn wir wissen, dass sich die Zahl der Arbeitsplätze
für Ungelernte in Deutschland in den nächsten zehn Jahren noch einmal halbieren wird. Wir werden in einer
drastischen Situation sein, wenn der Anteil dieser Arbeitsplätze in Deutschland nur noch 10 statt 20 Prozent ausmacht.
Wir haben insbesondere die Schwervermittelbaren im
Auge; denn gerade ihnen droht die gesellschaftliche
Randständigkeit oder Ausgrenzung. Man nennt diese jungen Menschen immer wieder auch „Modernisierungsverlierer“.
({4})
Über sie sollten wir immer wieder reden. Wir dürfen sie
nicht aus den Augen verlieren. Die Schere zwischen
„Wissensinhabern“ und „Nichtwissenden“ darf auf keinen Fall weiter auseinander klaffen.
({5})
Heinz Wiese ({6})
Wir müssen mehr Jugendliche in den modernen
IuK- und Servicebereichen ausbilden. Insbesondere junge
Frauen sollten die großen Chancen, die im IT-Bereich liegen, stärker nutzen. Zurzeit sind nur 14 Prozent der
Auszubildenden im IT-Bereich weiblich. Dies darf so
nicht bleiben.
({7})
Zentrale Kompetenzen für den Arbeitsmarkt von morgen sind Medienkompetenz, interkulturelle Bildung und
die Befähigung zu lebensbegleitendem Lernen. Medienkompetenz ist weit mehr als Technikkompetenz. Entscheidend ist die Fähigkeit der Schüler zu verantwortungsbewusstem Umgang mit den neuen Medien. Neben
der Medienkompetenz wird interkultureller Bildung
eine noch größere Rolle zukommen. Das Jahr 2001 ist das
Europäische Jahr der Sprachen. Deshalb fordere ich an
dieser Stelle: Jeder Schüler in der Europäischen Union
sollte von der Elementarschule bis zum Berufsabschluss
Englisch lernen. Dies ist notwendig, um das erforderliche
Maß an Flexibilität sowie an Mobilität im Beruf und auf
dem Arbeitsmarkt zu erreichen. Das gilt besonders für die
so genannten Global Player. In Baden-Württemberg
führen wir aus diesem Grunde bereits in diesem Jahr an
400 Grundschulen und demnächst flächendeckend schon
ab der ersten Klasse Englischunterricht ein.
Zur Bildung gehört die Vermittlung von Wissen und
Werten. Ein gemeinsames Fundament von Wissen und
Werten für alle ist unerlässlich. Es ist jedenfalls einfacher,
aus einem gebildeten Menschen einen Spezialisten zu machen als umgekehrt.
({8})
Für unser rohstoffarmes Land sind Wissen und Bildung
unserer Bürger die wichtigsten Produktionsfaktoren. Bildung und Erziehung müssen aber auch wertorientiert sein.
Wertorientierung bleibt der beste Schutz vor politisch und
kriminell motivierter Gewalt.
Lassen Sie mich zum Abschluss einige Anmerkungen
zu unseren Berufsschulen machen: Sie sind leider am
stärksten vom Lehrermangel betroffen. Es fehlen unter
anderem Handelslehrer sowie Lehrer, die im Bereich der
Elektro- und Metalltechnik und der Informationstechnologie unterrichten. Das sind genau die Fächer, in denen die
Lehramtsbewerber mit attraktiven Angeboten aus der
Wirtschaft abgeworben werden. Das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung hat kürzlich errechnet, dass allein
1999 bundesweit 6 600 neue Berufsschullehrer hätten eingestellt werden müssen. Tatsächlich traten aber nur 2 400
Lehrkräfte ihren Dienst an. Gerade bei den Berufsschulen
sollten wir deshalb das Lehramt mehr als bisher für Quereinsteiger öffnen.
({9})
Unsere Berufsschulen benötigen die bestmögliche materielle und die ideelle Unterstützung. Wir stehen weiterhin
zu dem bewährten dualen Ausbildungssystem. Bildung
schafft Zukunft. Dies gilt auch für eine moderne Beruflichkeit.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Berufsbildungsbericht 2000 ist ein Teil der rot-grünen Erfolgsgeschichte. Dieser Erfolg zahlt sich, wie die Zahlen
gezeigt haben, vor allem für die junge Generation in diesem Land aus.
({0})
Junge Menschen haben wieder eine Chance auf eine gute
Ausbildung. Junge Menschen finden Ausbildungsplätze,
sie stehen nicht auf der Straße und sind nicht in Warteschleifen. Sie haben eine Zukunft vor sich und gewinnen
an Zuversicht. Diese Zuversicht ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern hat eine gute und sehr stabile Grundlage.
Wir haben die Zahl der nicht vermittelten Jugendlichen
innerhalb kürzester Zeit massiv reduziert;
({1})
in Ostdeutschland sogar um 78 Prozent. Dies ist nicht zuletzt dem JUMP-Programm zu verdanken. Aber ist das
dann zu kritisieren? Es ist immer noch besser als zuschauen -, was wir vor 1998 vorgeführt bekommen haben.
({2})
Ich freue mich deshalb, dass wir dieses Programm gerade im Haushaltsjahr 2001 verstetigt haben und dass wir
uns dazu entschieden haben, ab 2001 50 Prozent der Mittel für Jugendliche in Ostdeutschland einzusetzen. Bisher
waren es 40 Prozent. Wir werden die einzelnen Maßnahmen weiter verstetigen, eben weil sie erfolgreich sind und
weil das Programm insgesamt ein Erfolgskonzept ist.
({3})
Durch das Bündnis für Arbeit - JUMP ist nicht alles,
Herr Wiese, ich muss Sie hier korrigieren, - ist es uns gelungen, in Industrie und Handwerk, vor allem bei Kleinund Mittelbetrieben, eine größere Bereitschaft zu mehr
Ausbildung zu wecken, mehr auszubilden.
({4})
Auch in größeren Unternehmen ist die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge angestiegen.
Immer mehr Ausbildungsverträge werden übrigens in
neu geschaffenen Berufen abgeschlossen. 50 Berufsbilder
wurden bereits neu erarbeitet bzw. befinden sich gerade in
Arbeit.
({5})
Heinz Wiese ({6})
- Das ist lächerlich. Da muss sogar ich lachen. - Eines
muss ich natürlich auch sagen: Es bleibt noch eine ganze
Menge zu tun. Wir diskutieren über den Bildungsbericht
2000 nicht nur, um festzustellen, was gut gelaufen ist,
sondern auch, um zu erkennen, wo Verbesserungen notwendig sind.
Das duale System, das bei den Betrieben in Westdeutschland sehr begehrt ist, ist in Ostdeutschland noch
nicht in Schwung gekommen. Sehr viele Menschen in
Ostdeutschland sind ungeduldig, weil die dortige Wirtschaft noch immer nicht den Anschluss an das Niveau der
Wirtschaft im Westen gefunden hat. Wir stellen fest, dass
es derzeit eine Abwanderung gerade von jungen qualifizierten Fachkräften von Ost nach West gibt. Ostdeutschland wird für eine nachhaltige Verbesserung nach
wie vor unsere Solidarität brauchen. Aber diese Solidarität darf sich nicht nur auf den ökonomischen Bereich
konzentrieren. Sie muss vielmehr darüber hinausgehen.
Ich möchte jetzt ein bisschen abschweifen, weil ich
denke, dass gerade das Folgende für den Standort Ostdeutschland wichtig ist. In Ostdeutschland müssen vor allem die Menschen besonders unterstützt werden, die sich
für eine offene, gewaltfreie und zivile Gesellschaft einsetzen.
({7})
Gerade in diesem Bereich investiert diese Regierung. Hier
liegt einer unserer Schwerpunkte; denn eine gewaltfreie
Zivilgesellschaft zu schaffen ist nicht nur eine Frage der
Humanität oder der Lebensqualität, sondern auch ein
wirtschaftlicher Standortfaktor, der gerade für Ostdeutschland wichtig ist. Wir beobachten immer häufiger,
dass sich ausländische Investoren, Spitzenkräfte von
internationalem Rang, scheuen, in Ostdeutschland zu investieren und dorthin ihre Betriebe zu verlagern, weil sie
das im Moment dort herrschende gesellschaftliche Klima
als einen negativen Standortfaktor beurteilen. Ich möchte
gleichzeitig hinzufügen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die große Mehrheit der Menschen in
Ostdeutschland, in den neuen Bundesländern, hat mit aggressiver Fremdenfeindlichkeit nichts zu tun. Dennoch
müssen wir die zivilgesellschaftlichen Strukturen im
Osten noch stärker als im Westen fördern.
Eine nachhaltige Verbesserung der Ausbildungssituation erfordert nicht zuletzt eine zeitgemäße Veränderung
vor allem in den Schulen, in den Universitäten und in der
betrieblichen Ausbildung, und zwar nicht nur, weil die
Quote der Ausbildungsabbrecher bei 25 Prozent - das ist
immerhin ein Viertel all derjenigen, die eine Ausbildung
begonnen haben - liegt. Wir müssen in diesem Bereich sowohl für qualitative als auch für quantitative Verbesserungen sorgen.
Ein Handlungsbereich wurde durch das JUMP-Programm abgedeckt. Wir müssen zugeben: Nicht überall
kommt die Wirtschaft ihrer Verpflichtung nach, genügend
Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Daran arbeiten wir, und zwar nicht nur im Bündnis für Arbeit, sondern
auch an anderen Stellen. Wir arbeiten übrigens auch daran, dass die Qualität der Ausbildung insgesamt einen
höheren Stellenwert bekommt; denn diese ist nicht überall
befriedigend. Hier kommen die Schulen ins Spiel. Bildungspolitik findet vor allem in den Ländern statt, in deren Verantwortungsbereich sie liegt. Es muss vielmehr auf
den Erwerb von Schlüsselqualifikationen, die zukünftig
verlangt werden, gesetzt werden, also nicht nur auf solche
Qualifikationen wie Fleiß und Pünktlichkeit, die heutzutage als selbstverständlich gelten, sondern auch auf solche
Qualifikationen wie Teamfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit und die Kompetenz, Probleme kreativ zu lösen.
({8})
Nicht zuletzt müssen wir in die Menschen investieren;
denn wir brauchen mündige und kreative Bürgerinnen
und Bürger auch in den Betrieben, in den Ausbildungsstätten und in den Schulen.
Um die Schlüsselqualifikationen, die zukünftig gefordert werden, zu vermitteln, reicht der klassische Frontalunterricht nicht aus. Damit junge Menschen ihre Potenziale richtig entwickeln können und die individuellen
Fähigkeiten in der Ausbildung besser ausgeschöpft werden können, müssen mehr Freiräume in den Schulen, in
den Berufsschulen und auch in der immer mehr individualisierten Arbeitswelt geschaffen werden.
Das duale System der beruflichen Ausbildung hat sich
an sehr vielen Stellen bewährt; es ist erhaltenswert. Wir
müssen uns natürlich Gedanken über die europäische
Kompatibilität der hiesigen Ausbildung machen. Wir
müssen uns Gedanken über den Umgang mit einzelnen
Problemen, zum Beispiel dem der Abbrecherquote, machen. Es gibt Ansätze für Modularisierungen. Firmen wie
Siemens oder Volkswagen haben in dieser Hinsicht eine
ganze Menge Erfahrungen gemacht, von denen wir profitieren können. Darüber hinaus müssen wir über neue Modelle, zum Beispiel über eine Teilzeitausbildung, nachdenken. Außerdem müssen wir über die Probleme von
ausbildungswilligen Jugendlichen nachdenken, die im
Vorfeld der Ausbildung auftreten und ihnen das Leben erschweren.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der hier
noch nicht behandelt worden ist: die Sozialhilfe. Derzeit
ist es in Deutschland nicht möglich, gleichzeitig einer
Ausbildung nachzugehen und Sozialhilfe zu beziehen.
Das heißt, dass zum Beispiel Jugendliche, die nicht zu
Hause wohnen wollen oder können, oder junge Menschen, die ein Kind haben, das sie ernähren müssen, nicht
die Möglichkeit haben, allein von ihrer Ausbildungsvergütung ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Sozialminister der Länder haben bereits zugesagt, daran etwas
zu ändern. Die Ausgestaltung ist allerdings noch sehr
mangelhaft. Gerade mit dem System der Ausbildungsfinanzierung müssen wir uns auch hier weiterhin beschäftigen.
Flexibilität wird künftig viel mehr als heute ein Leitbegriff sein; denn schon in ein paar Jahren wird es keinen
Überschuss, sondern einen Mangel an Auszubildenden
geben. Wir werden immer weniger Auszubildende bekommen. Gerade für die Ausbildungsbetriebe bedeutet
das eine Umstellung: Sie müssen sich nicht nur auf eine
verstärkte Nachfrage nach Dienstleistungen einstellen,
sondern auch darauf, dass die Ausbildungsangebote besser werden, damit Jugendliche zur Annahme einer Ausbildung motiviert werden können.
({9})
Die Koalition wird den erfolgreichen Kurs der beruflichen Bildung und Weiterbildung fortsetzen.
({10})
Wir setzen in unserer Politik auf Dialog und auf Partnerschaft mit den Tarifparteien; wir setzen auf Dialog und
Partnerschaft mit den Schulen in den einzelnen Ländern.
Wir werden uns trotz dieser Erfolge auch künftig nicht
scheuen, manche Probleme beim Namen zu nennen und
vor allem entschieden zuzupacken.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wenn wir heute den Berufsbildungsbericht 2000 zur Kenntnis nehmen und zugleich über den
Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen zu befinden
haben, dann müssen wir, obwohl wir über Entwicklungen
des Jahres 1999 sprechen, den Blick für die gegenwärtigen
Probleme des Arbeitsmarktes und der Berufsausbildung in
Deutschland offen halten.
In der Tat, bedingt auch durch den Konjunkturaufschwung, hat sich die absolute Zahl der arbeitslosen unter
25-jährigen Jugendlichen seit Dezember 1998 um rund
46 400 verringert. Trotz des höheren Bedarfs an Ausbildungsplätzen durch geburtenstarke Jahrgänge war in den
alten Ländern seit 1996 die Zahl der noch unbesetzten betrieblichen Ausbildungsplätze höher als die der unvermittelten Bewerber. Das klingt gut. Das ist schön für die Jugendlichen. Es ist aber in starkem Maße auf die Ausweitung
der öffentlich finanzierten Ausbildung zurückzuführen.
Genau darin ist die Schwierigkeit zu sehen.
Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplatzverträge ging nach Angaben Ihres Ministeriums, Herr
Catenhusen, in den alten Ländern um 0,5 Prozent und in
den neuen Ländern um bis zu 10 Prozent zurück. Im Osten
ist die Anzahl der arbeitslosen Jugendlichen um 11 800
gestiegen. Eine weitere Spaltung von Ost und West ist in
dieser Hinsicht unübersehbar.
({0})
Die Chancen der Jugendlichen in Ostdeutschland, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, sind nach wie vor
schlecht. 127 300 offenen Ausbildungsstellen standen im
Ausbildungsjahr 1999/2000 224 400 Bewerber gegenüber. Trotz des Bewerberrückgangs gegenüber dem Ausbildungsjahr 1998/99 hatten rund 97 000 Jugendliche zu
diesem Zeitpunkt noch keine Ausbildungsstelle.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, für die F.D.P. bleibt die Ausbildungsplatzsituation
nicht nur ein Thema für die Bundesbildungsministerin,
sondern es ist in erster Linie ein Thema für den Bundeswirtschaftsminister.
({1})
Hören Sie endlich auf, mittelstandsfeindliche und ausbildungsplatzvernichtende Gesetze zu verabschieden!
({2})
Der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen
Handwerks, Herr Philipp, hat die Bundesregierung zu
Recht aufgefordert, in einem ersten wichtigen Schritt die
nächste Stufe der Steuerreform vorzuziehen, um die derzeit bestehende Benachteiligung der Personengesellschaften auszugleichen.
({3})
Die Mehrheit der mittelständischen Unternehmen gerade im Osten Deutschlands sieht die Steuerpolitik der
Bundesregierung als Wachstumshemmnis an. Nehmen
Sie das bitte zur Kenntnis!
({4})
Auch die Gewerbesteuer gehört nach unserer Auffassung
längst auf den Prüfstand. Mit Steuersenkungen würden Sie
mittelständischen Unternehmen helfen und dazu beitragen, dass neue betriebliche Ausbildungsplätze entstehen.
({5})
Die Leistungen der ostdeutschen Unternehmen - der
Handwerksunternehmen wie der mittelständischen Unternehmen insgesamt - sind zu würdigen. 60 Prozent der
Ausbildungsplätze in der ostdeutschen Wirtschaft werden
von Unternehmen geschaffen. Aber es sind eben noch
70 Prozent davon staatlich subventioniert. Das ist der Zustand im Osten Deutschlands. Es ist natürlich eine andere Situation als in den alten Bundesländern. Aber man
darf diese Situation nicht ignorieren.
Wenn bereits unser Bundestagspräsident, Herr Kollege
Thierse, darauf hinweist, sollte man es auch ernst nehmen,
obwohl ich nichts von Schwarzmalerei halte.
({6})
Ich halte viel davon, dass man die Situation gerade beim
Aufbau Ost differenziert betrachtet. In Ostdeutschland
gibt es sowohl strukturschwache als auch strukturstarke
Regionen.
({7})
Man muss aber auch überdenken, wie es mit der Mobilitätshilfe weitergehen soll. Erlauben Sie mir, Herrn
Thierse zu zitieren:
Die konjunkturelle Abkoppelung des Ostens und die
damit zusammenhängende verschärfte Ost-WestSpaltung des Arbeitsmarktes führen zwangsläufig zu
steigender Abwanderung qualifizierter und mobiler
Arbeitskräfte sowie Auszubildender von Ost nach
West.
Das ist eben das Problem. Wollen wir weiterhin eine
Landverschickung Jugendlicher gezielt fördern oder wollen wir die Mobilität junger Menschen motivieren, ohne
sie staatlich zu subventionieren? In einer international geprägten Wirtschaftslandschaft ist es wichtig, dass junge
Leute Mobilität an den Tag legen. Aber es stellt keine Lösung für den Osten dar, wenn man Mobilitätshilfen gewährt. Das Ziel kann doch nicht sein, im Osten Deutschlands ein Altersheim zu schaffen und junge Menschen in
den Westen auswandern zu lassen.
({8})
Nehmen Sie den Aufbau Ost ernst und schaffen Sie den
jungen Menschen Perspektiven in ihren Heimatregionen!
Betreiben Sie eine echte Mittelstandspolitik und bringen
Sie den Mut für eine wirkliche Reform des dualen Systems der Berufsausbildung und der beruflichen Weiterbildung auf!
({9})
Schaffen Sie ein Klima des Aufbruchs und damit ein besseres Klima auch für die Ausbildungsplatzsituation im
Osten Deutschlands!
({10})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich weiß eigentlich gar nicht, warum Sie sich aufregen. Sie haben uns einen Entschließungsantrag vorgelegt,
der eine selbstkritische Bewertung der Ausbildungsplatzsituation in Deutschland und insbesondere in den neuen
Bundesländern enthält, und haben zugegeben, dass betriebliche Ausbildungsplätze fehlen. Dann sollten Sie hier
auch nicht ständig die Problembeschreibung verneinen,
die ich vornehme. Lassen Sie uns endlich Taten insbesondere von der Bundesregierung sehen und nicht nur schöne
Worte hören!
({11})
Wir müssen natürlich die Reform der Berufsausbildung vorantreiben. Die F.D.P. hat vorgeschlagen, in der
Modularisierung der beruflichen Ausbildung auf der Basis von Grundberufen mit anschließenden Spezialisierungsrichtungen weiterzukommen. Natürlich haben wir
dabei leistungsstarke und leistungsschwache junge Menschen gleichermaßen im Auge.
({12})
Einerseits erhalten die jungen Menschen in einem solchen
System eine echte Chance für einen Einstieg in den Beruf.
Andererseits gewinnt man durch die Modularisierung
mehr Flexibilität in der Ausbildung, die dem Wandel der
Berufsbilder, aber auch dem drohenden Fachkräftemangel gerecht wird.
({13})
Zuletzt ein Blick auf Europa. Dieses Thema ist uns besonders wichtig. Die Ausbildung muss internationaler
werden. Mit Blick auf ein weiter zusammenwachsendes
Europa unter Berücksichtigung des baldigen Beitritts der
ersten mittel- und osteuropäischen Staaten sehe ich im Gegensatz zur innerdeutschen Mobilitätshilfe große Chancen
für eine europäische Berufsausbildung. Die guten Daten,
die wir auch für die Nutzung des Euro-Passes seit 1. Januar
2000 haben, bestätigen dies.
Frau Kollegin Pieper,
der Blick nach Europa darf nur ein kurzer sein; denn Ihre
Redezeit ist abgelaufen.
Ich glaube, dass wir gerade
hier weiterkommen müssen. Wir werden Vorschläge dafür
unterbreiten, dass die Berufsausbildung auf dem europäischen Bildungsmarkt von jungen Menschen verstärkt genutzt werden kann. Das, denke ich, ist ein
wichtiges Ziel, das wir alle ins Auge fassen sollten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Wendeschock hat, denke ich, nun auch jene erreicht, die meinten, der Markt werde es schon richten. Die Warnungen vor
einer Vertiefung der Kluft zwischen West- und Ostdeutschland sind zwar allesamt nicht neu, aber darum
nicht weniger richtig.
Neu ist allerdings, dass nun auch die CDU/CSU die
Entvölkerung des Ostens entdeckt, eine Entwicklung,
die vor allem auf die Strukturentscheidungen der Ära
Kohl zurückgeht. Maßnahmevorschläge gegen die Abwanderung der Jugend - von Streichung der Mobilitätshilfen bis zum Vorschlag aus Sachsen, Rückkehrprämien
von 5 000 DM zu zahlen - zeigen die Hilflosigkeit der Politik auf diesem Gebiet. Wer wollte denn wirklich für
5 000 DM dorthin zurückkehren, wo man ihm schon vorher keine Perspektive bieten konnte? Die Jobmaschine
steht nun einmal nicht im Osten, sondern im Süden
Deutschlands. Von dort aus werden die Patenschaften mit
den Ostarbeitsämtern organisiert, und zwar mit circa
10-prozentigen Erfolgsquoten vor allem bei Jugendlichen, die einen Ausbildungsplatz suchen.
Dass sich das alles marktwirtschaftlich besser rechnet
als sozial flankierende Strukturmaßnahmen, lässt uns die
BDA wissen. Mobilitätshilfen haben in 2000 nur 134 Millionen DM gekostet, ABM dagegen 7,2 Milliarden DM.
Durch die schwache wirtschaftliche Entwicklung und
die damit einhergehende hohe Arbeitslosigkeit werden
weite Teile der Bevölkerung Ostdeutschlands von den
wichtigen Lernprozessen in der Arbeit abgekoppelt. Die
Zahl der im Berufsleben stehenden Menschen ist seit
1989 rückläufig. Es stieg nicht nur die Arbeitslosigkeit.
Auch die Dauer der Arbeitslosigkeit erhöhte sich ebenso
wie die Langzeitarbeitslosigkeit bei gleichzeitig sinkender Wiederbeschäftigungsquote der Arbeitslosen. Zwei
Drittel der Arbeitslosen blieben auf Dauer im Kreislauf
zwischen registrierter Arbeitslosigkeit, Umschulung und
ABM, also außerhalb von Lernprozessen in der eigentlichen Arbeitswelt. Damit ist die Entwertung beruflicher
Kompetenzen programmiert.
Das Dilemma setzt sich in der Berufsausbildung fort.
Die Angebot-Nachfrage-Relation ist im Osten nach wie
vor am schlechtesten. Viele Jugendliche müssen auf Angebote der zweiten oder dritten Wahl ausweichen, da die
Zahl der betrieblichen Stellen nicht einmal für die Hälfte
ausreicht. Die jüngste Steigerung der Zahl der abgeschlossenen betrieblichen Ausbildungsverträge um 2 Prozent in 2000 bereits als positiven Trend hinsichtlich des
Engagements der Wirtschaft zu feiern geht wohl doch am
Problem vorbei.
({0})
Denn erstens beruht diese Steigerung auf einem Rückgang
um bis zu 10 Prozent im letzten Jahr. Zweitens sind wir damit gerade einmal auf dem Niveau von 1997/98 angekommen. Und drittens gab es trotz aller Nachvermittlungsaktionen zum Jahresende immer noch fast 30 000 unversorgte Bewerberinnen und Bewerber; denn es fallen
circa 11 000 aus Ihrer Statistik heraus. Die Arbeitgeber haben ihr Versprechen also zum wiederholten Male nicht eingehalten. Damit meine ich nicht die Kleinbetriebe in den
neuen Ländern, die ohnehin die höchsten Ausbildungsquoten haben.
Hinzu kommt, dass im Osten etwa jede dritte den Arbeitsämtern gemeldete Stelle auf ein Sonderprogramm
zurückzuführen ist. Rund 14 000 Jugendliche aus dem
Osten nahmen 1999 eine Ausbildung in den alten Bundesländern auf. Deutliche regionale Unterschiede gibt es
auch in der schulischen Ausbildung.
Auch die Probleme der so genannten zweiten
Schwelle haben im Osten andere Dimensionen: Nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung haben sich hier
1998 39 Prozent der Absolventen zunächst einmal arbeitslos melden müssen. Dabei ist die Ausbildungsquote
in den neuen Ländern deutlich höher als in den alten; 1998
waren dort 6,2 Prozent aller Beschäftigten Auszubildende. Am geringsten war die Ausbildungsquote in Großund Mittelbetrieben der alten Länder mit 3,7 Prozent bzw.
mit 3,9 Prozent, am höchsten in Kleinbetrieben der neuen
Länder mit 7,2 Prozent. Die Tatsache, dass die Ausbildungsquote bei den Großbetrieben am geringsten ist, wird
auch dadurch nicht besser, dass sich diese Betriebe immerhin zu 85 Prozent überhaupt an der Ausbildung beteiligen.
Diejenigen, die das Jahrhundertgeschäft mit der Transformation Ostdeutschlands gemacht haben, sind weit
weg, wenn es gilt, das Desaster für die Jugendlichen zu
mildern, die auch zehn Jahre nach der Wende viermal
schlechtere Startchancen haben. Auch die hoch gelobten
Fördermaßnahmen von Bund und Ländern haben für die
Jugendlichen im Osten keinen durchschlagenden Erfolg
gebracht. Während die Jugendarbeitslosenquote im Westen sank, stieg sie zum Ende des Jahres 2000 im Osten sogar um 11 Prozent. Der Abbau der Arbeitslosigkeit in
Deutschland kommt also genau dort nicht voran, wo es
am nötigsten wäre. Noch immer finden Tausende von Jugendlichen weder einen Ausbildungsplatz noch berufliche
Perspektiven.
Deshalb möchte ich zum Schluss festhalten: Lehrstellenmangel ist für uns nicht zuerst eine Frage des Wirtschaftsstandortes, sondern vor allem eine Frage der Entwicklungsperspektive der Jugendlichen. Dafür, dass diese
im Osten gleiche Chancen haben, ist auch die Politik zuständig; hier ist sie in der Verantwortung. Die Wirtschaft
löst das Problem ganz offensichtlich nicht, sollte aber als
Nutznießer finanziell an der Ausgestaltung qualitativ
gleichwertiger, zukunftsträchtiger Ausbildungsgänge beteiligt werden.
Deshalb - und nur deshalb - halten wir an der Forderung nach einem Gesetz zur solidarischen Umlagefinanzierung fest. Denn auch das jetzt hoch gelobte Bündnis für
Arbeit - ich will nicht falsch verstanden werden: ich achte
jeden Schritt nach vorn - hat genau an diesem Punkt noch
keinen Schritt nach vorn getan.
({1})
Die einzige Möglichkeit, die wir sehen, ist daher, ein solches Gesetz auf den Weg zu bringen.
({2})
Es spricht jetzt der
Kollege Willi Brase für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem von
den Koalitionsfraktionen vorgelegten Entschließungsantrag wird die Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt
grundsätzlich positiv beschrieben. Es ist nicht zu bestreiten, dass die Bundesregierung erhebliche Anstrengungen
auf dem Gebiet der beruflichen Bildung unternommen
hat. Ich nenne hier nur Stichworte: Orientierung an dem
Ausbildungskonsens im Rahmen der Arbeitsgruppe Ausund Weiterbildung des Bündnisses für Arbeit, das JUMPProgramm, die zweite Phase der Früherkennung des
Qualifikationsbedarfes, die Offensive zum Abbau des ITFachkräftemangels, die Erhöhung der Flexibilität, die
Durchlässigkeit des dualen Systems und - aus jüngster
Zeit - die Bereitstellung von 255 Millionen DM zur Modernisierung der Berufsschulen aus dem Zukunftsinvestitionsprogramm.
({0})
Meine Damen und Herren von der F.D.P., ich stelle
fest: Wir haben von Ihnen heute zu diesen Tatsachen kein
einziges Wort gehört.
({1})
Sie betreiben auch bei der Debatte zur beruflichen Bildung die Strategie nach dem Motto: Totalverriss und
Wegschauen. Die konjunkturelle Entwicklung wird von
Ihnen nicht zur Kenntnis genommen, im Gegenteil. Ich
bin ganz sicher: Wir werden hier noch einiges nach vorn
bringen können.
Ihnen ist offensichtlich einfach nicht klarzumachen,
dass diese sattsam bekannte Verselbstständigung der parlamentarischen Auseinandersetzung von den Menschen
immer mehr durchschaut wird. Nur sollten Sie sich dann
über zunehmende Politikfeindlichkeit und Wahlenthaltung nicht wundern. Setzen Sie sich doch endlich einmal
mit den Konzepten, die wir vorlegen, auseinander!
({2})
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die
von Ihnen und insbesondere von der F.D.P. propagierten
Konzepte auf die Durchlöcherung bundeseinheitlicher Ausbildungsordnungen, auf Kurzausbildungs- und Schmalspurberufe, aber noch mehr auf maßgeschneiderte, rein auf
den Betrieb bezogene Ausbildungsordnungen sowie auf
Ausdünnung der Basisberufe zugunsten weiterer Modularisierung hinauslaufen. Anders herum formuliert: Das Satellitenmodell zum Beispiel des DIHT wird von den zuständigen Sozialpartnern abgelehnt. Es ist doch schon spannend,
dass eine bestimmte Dachorganisation ein Modell verfolgt,
das die eigenen Arbeitgeberverbände als nicht tragbar und
nicht gut für die Zukunft ansehen.
({3})
Sie können davon ausgehen, dass wir als Mehrheitsfraktion dieses nicht mitmachen werden. Ich denke, dass wir
den jungen Leuten etwas Neues sagen und Perspektiven
bieten müssen. Das wollen wir machen.
Meine Damen und Herren, die grundsätzlich positive
Lage befreit uns aber nicht von der Verpflichtung, die Reformanstrengungen fortzuführen.
({4})
Die Ausbildungsplatzsituation stellt sich regional sehr unterschiedlich dar; vor allem in den östlichen Bundesländern reichen die Angebote der Betriebe nicht aus. Durch
regionale Nachvermittlungsaktionen müssen hier noch
Reserven erschlossen werden. Angesichts der schwierigen Situation in den neuen Bundesländern müssen das
JUMP-Programm weitergeführt, die Ausbildungsförderung Ost auf hohem Niveau beibehalten und gleichzeitig
in den regionalen Ausbildungskonsensrunden dauerhaft
zusätzliche Ausbildungsplätze mobilisiert werden.
({5})
Ich verweise in diesem Zusammenhang gerne auf die
Daten des IAB-Betriebspanels, denenzufolge im Dienstleistungsbereich ein hohes ungenutztes Ausbildungspotenzial brachliegt. Sie können das nachlesen: Vor allem
im Bereich der freien Berufe, im Gesundheitswesen, in
der Wirtschaftswerbung, in Architekturbüros und im
Gaststätten- und Beherbungsgewerbe sind noch riesige
Kapazitäten vorhanden. Diese sollten wir gemeinsam vor
Ort erschließen. Das eröffnet Zukunftschancen für junge
Menschen. Es gibt deshalb aus unserer Sicht überhaupt
keinen Anlass für die Behauptung, die hin und wieder aufgestellt wird und die man dann lesen kann, die Bundesregierung hätte ihre Parole, dass der Aufbau Ost Chefsache
sei, jedenfalls bezüglich des Feldes berufliche Bildung, ad
acta gelegt.
Jetzt komme ich doch noch darauf, was Sie, Frau
Pieper gesagt haben. Eine Landverschickung von Ost
nach West wird sicherlich von niemandem hier im Parlament gewünscht oder gefordert. Wenn wir es aber nicht
schaffen, dafür zu sorgen, dass ausreichend Ausbildungsplätze in den östlichen Bundesländern zur Verfügung gestellt werden, dann ist es besser, dass die jungen Leute
sich in den angrenzenden Regionen ausbilden lassen und
danach wieder zurückgehen.
({6})
- Das hat damit überhaupt nichts zu tun, Frau Pieper, das
wissen Sie auch.
Das Gleiche macht schon seit längerem das Land Sachsen. Auch dort wurde ein Mobilisierungsprogramm auf
den Weg gebracht. Wenn die jungen Leute nach der Ausbildung in die neuen Bundesländer zurückkehren, brauchen sie die Mobilitätshilfe nicht zurückzuzahlen; bleiben
sie in den westlichen Ländern, müssen sie einen Teil dieser Hilfe zurückzuzahlen. Ich finde, dieser Weg ist richtig. Wir werden ihn unterstützen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die gesellschaftliche Verantwortung zur Zukunftssicherung der Jugend bündelt sich in der regionalen Bereitschaft und Fähigkeit der beteiligten Partner, für die
Sicherung und Schaffung ausreichender und qualifizierter
Ausbildungsplätze zu sorgen. Dass sie nah an den Betrieben liegen, nah an den Jugendlichen und nah an den Berufsschulen, sehen wir als eine ständige Aufgabe an. Hier
wollen wir das Erreichte noch weiter vorantreiben.
Herr Kollege Brase,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Böttcher?
Ja.
Herr Kollege Brase, Sie
haben eben noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig
die regionale Bereitschaft ist. Geben Sie mir Recht, dass
es angesichts der Tatsache, dass die 100 größten ostdeutschen Unternehmen gemeinsam nicht mehr als ein
Viertel der Umsätze von zum Beispiel Daimler-Chrysler
verbuchen können, dass von den 190 größten deutschen
Unternehmen kein einziges seinen Sitz in den neuen Ländern hat und sämtliche größere Ostunternehmen von
westdeutschen Mutterkonzernen abhängig sind, ein sehr
kompliziertes Unterfangen ist, diese zu stärken? Es ist
doch klar, dass selbst eine 100-prozentige Beteiligung der
Großunternehmen bei der Ausbildung den Jugendlichen
im Osten dann noch lange nichts bringt. Würde wirklich
die Möglichkeit - Sie haben es Landverschickung
genannt; so weit möchte ich nicht gehen -, im Westteil des
Landes eine Ausbildung zu absolvieren, das Problem
lösen, dass die Jugendlichen, wenn sie zurückkommen,
keinen Arbeitsplatz bekommen? Glauben Sie das wirklich?
Ich habe nie gesagt, dass wir
mit einer Orientierung hin zu den westlichen Ländern
automatisch eine Antwort auf die Ausbildungsplatzprobleme und -wünsche der Jugendlichen geben
können. Ich habe nur gesagt: Wenn wir es in den Regionen teilweise nicht schaffen, im Konsens ausreichend
Ausbildungsplätze zu organisieren, so liegt dies nicht nur
an größeren Unternehmen bzw. an Unternehmen, die
ihren Firmensitz in den westlichen Bundesländern haben.
Am Beispiel der Dienstleistungsberufe aufgrund des Betriebpanel kann man sehr gut nachvollziehen, dass es hier
jede Menge Reserven gibt. Es kommt darauf an, diese vor
Ort zu mobilisieren. Dass das möglich ist, zeigen viele
Beispiele aus den so genannten alten bzw. westlichen,
südlichen oder nördlichen Ländern der Bundesrepublik
Deutschland. Hier wollen wir ansetzen. Das wollen wir
vorantreiben.
({0})
Ich möchte gerne noch einige Anregungen für die weitere Diskussion geben, wenn es darum geht, wie wir in der
beruflichen Bildung - auch vor dem Hintergrund verbesserter Zahlen - wieder weiter nach vorn kommen.
Von Wissenschaft bis Unternehmen wird ein erhöhter
Veränderungs- und Modernisierungsbedarf für die berufliche Bildung reklamiert. Uns und auch mir erscheint es
notwendig, dass wir das Leitbild der beruflichen Bildung
vor dem Hintergrund der rasanten Veränderung der Arbeitswelt überprüfen. Eine moderne Berufsausbildung
muss sich stärker an einem Facharbeiter-, an einem Arbeitnehmerbild orientieren, das sich vielleicht wie folgt
beschreiben lässt:
Die zukünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
beteiligen sich aktiv und gestaltend an den betrieblichen
Geschäfts- und Innovationsprozessen und an der betrieblichen Organisationsentwicklung. Sie tun dies in sozialer,
ökonomischer und ökologischer Verantwortung. Anders
formuliert: Es geht um die Mitgestaltung der Arbeitswelt
durch die aktiv handelnden Personen, das heißt die Beschäftigten und auch die Auszubildenden. Dieser Mitgestaltungsaspekt hat Konsequenzen für die berufliche Bildung. Wir wollen und wir werden ihm künftig mehr
Beachtung schenken.
({1})
Es kann zweitens nicht bestritten werden, dass bei der
Neuordnung der Ausbildungsberufe große Fortschritte
mit Blick auf das oft kritisierte Problem der mangelnden
Zeitnähe erreicht worden sind. Wir haben in Punkt 6 des
Entschließungsantrages gefordert, die Offensive zum Abbau des IT-Fachkräftemangels der Bundesregierung, die
ich ausdrücklich begrüße, auf alle Ebenen des Bildungssystems und nicht zuletzt auf die berufliche Bildung
auszuweiten. Die IT-Revolution ist nicht primär ein Akademikerproblem, sondern in vorderster Front ein Problem
auf der Ebene der Facharbeiterinnen und Facharbeiter.
Ein dritter Punkt bei der notwendigen Weiterentwicklung des Berufskonzeptes ist der Tatbestand, dass das
Wissen über Arbeitszusammenhänge und Arbeitsprozesse immer mehr zu einem zentralen, berufskonstituierenden Merkmal wird. Dies führt aus meiner Sicht - ich
weiß, dass das nicht unumstritten ist - zu der Notwendigkeit, die vorhandene ausgeprägte horizontale Spezialisierung der Ausbildungsberufe zu vermindern. Wir brauchen keine Ausbildung zum Zweiradkaufmann, wie vom
DIHT gefordert, wir wollen Fehlentwicklungen verhindern, wie ich sie gerade geschildert habe.
Zu diesem dritten Punkt - das will ich deutlich machen liegt ein hochinteressantes Reformprojekt auf dem Tisch.
In einem Modellversuch zur Reform der beruflichen Bildung bei VW, gestartet am 1. September 1999, werden
diese und andere Entwicklungsperspektiven umgesetzt.
In diesem Modellprojekt geht es unter der Zielorientierung der Verringerung der horizontalen Spezialisierung
um die Entwicklung von Kernberufen. Lassen Sie mich
zwei Beispiele nennen.
Aus den Berufen Kommunikationselektroniker/in, Fachrichtung Informationstechnik, Energieelektroniker/in, Fachrichtung Betriebstechnik, und lndustrieelektroniker/in,
Fachrichtung Produktionstechnik, wird in diesem Modellprojekt der Kemberuf Industrieelektroniker/in entwickelt.
Aus den Berufen Kauffrau/Kaufmann für Bürokommunikation, Automobilkauffrau/-kaufmann und Industriekauffrau/-kaufmann alter Prägung wird der neue Kernberuf Industriekauffrau/-kaufmann entwickelt.
In diesem Modellvorhaben werden 3 900 Auszubildende in 29 Berufen vorrangig in fünf ausgewählten Industrieberufen qualifiziert und vorangebracht. Dieses
Modellvorhaben zeigt deutlich, dass sich die Berufsausbildung stärker auf Geschäfts- und Produktionsprozesse
beziehen soll, so wie dies übrigens auch im Bündnispapier
zur „Strukturellen Weiterentwicklung der dualen Berufsausbildung“ vom 22. Oktober 1999 gefordert wird. Dies
setzt eine enge Abstimmung aller an der Ausbildung Beteiligten zwingend voraus.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, der vorangetrieben werden muss, ist die Kooperation der
Lernorte. Die Bundesregierung hat dies deutlich erkannt.
Wir verweisen auf den entsprechenden BLK-Modellversuch. Dieser Aspekt der Kooperation der Lernorte muss
bundesweit zum Grundsatz der beruflichen Bildung werden. Denn dann wird berufliche Bildung eher passgenau
durchgeführt.
({2})
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der stark
in der Diskussion ist: die Situation der Berufsschullehrer. In Punkt 9 unseres Antrages wird gefordert, im Rahmen der Initiative der Bundesregierung „Schulen ans
Netz“ die Qualifikation des Lehrpersonals zu einem
Schwerpunkt zu machen. Der DGB-Vorsitzende Schulte
hat unlängst gefordert, dass der Stellenwert der Berufsschule gesteigert werden müsse. Wir unterstützen ihn in
diesem Punkt.
Der Lehrermangel an den Berufsschulen entwickelt
sich mehr und mehr zu einem „alarmierenden Zustand“,
so unlängst die „Berliner Zeitung“. Es gibt möglicherweise - das wurde eben schon gesagt - eine Personallücke
von 6 600 Berufsschullehrern. Besonders wichtig dabei
ist, festzustellen, dass der größte Mangel in den Bereichen
Maschinenbau, Elektrotechnik und - man will es nicht
glauben - in dem Zukunftssektor überhaupt, in der Informationstechnologie, liegt. Es stellt sich immer klarer heraus, dass das Gehalt eine große Rolle bei dem zu beobachtenden Trend der Abwanderung in die Wirtschaft
spielt.
Wir haben erkannt, dass bezüglich dieses Problems der
Berufsschulen gehandelt werden muss. Die Bundesregierung hat aus den ZIP-Mitteln 255 Millionen DM zur Modernisierung der Berufsschulen mit der Auflage zugesagt,
Mitnahmeeffekte auszuschließen. Diese schnelle Reaktion wird von meiner Fraktion ausdrücklich begrüßt.
({3})
Die Bundesregierung hat eine Steilvorlage an die Länder geliefert. Die Kosten für die berufliche Bildung werden damit deutlich verringert. Die Länder sind nun gefordert, sich daran ein Beispiel zu nehmen und mögliche frei
werdende Mittel für höhere Bezüge der Berufsschullehrer
auszugeben, sodass wir bei der Beseitigung des Berufsschullehrermangels einen kleinen Schritt nach vorne kommen. Die Bundesregierung sollte prüfen, ob bei erfolgreicher Umsetzung des Modernisierungsprogramms das
Programm auch über 2002 sinnvollerweise seine Fortsetzung finden kann.
({4})
Der Ausgleich der gleichberechtigten Interessen von
Jugendlichen und Unternehmen, von Schulen und der Gesellschaft ist Ausdruck der Reformfähigkeit und bedeutet
Zukunftssicherung. Reform als einseitige Orientierung an
Unternehmensinteressen lehnen wir ab; sie wird den Ansprüchen und den berechtigten Interessen der Jugendlichen nicht gerecht. Ein großer Teil der jungen Menschen
sieht heute noch und auch weiterhin seine Perspektive in
der dualen Berufsausbildung.
Zugleich gilt mehr denn je, in der Wissensgesellschaft
neben den einschlägigen Reformen im Bereich von Hochschule und Forschung die Bereiche berufliche Erstausbildung und lebensbegleitendes Lernen nach vorne zu
bringen. Das Bildungssystem in seiner Gesamtheit bleibt
nur dann reform- und entwicklungsfähig, wenn der entscheidende Faktor der Qualifizierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht ausgespart wird.
({5})
Es ist richtig, was der IG-Metall-Vorsitzende Zwickel
in diesem Zusammenhang kürzlich deutlich gemacht hat.
Bildung muss ein Thema für das Bündnis für Arbeit werden. Es kann nicht angehen, dass sich 80 Prozent aller
Weiterbildungsangebote an nur 30 Prozent der Belegschaften richten und für die anderen diesbezüglich nichts
getan wird.
({6})
Das werden wir nicht mitmachen. Wir werden vielmehr
den notwendigen Prozess vorantreiben.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Rainer Jork.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist überaus sinnvoll, in den Ausschüssen und hier im Plenum des Deutschen Bundestages über Berufsbildung und über die
Lage auf dem Lehrstellenmarkt zu diskutieren. Schließlich geht es um eine Zukunftsfrage, die uns alle und nicht
nur die jungen Menschen betrifft. Es geht um Themen wie
die strukturelle Erneuerung, die Modernisierung und Aktualisierung der Ausbildung. Es geht aber auch um die
Ausbildungsplatzsituation.
Wenn ich mich erneut primär der Ausbildungssituation
in den neuen Bundesländern widme, dann liegt das neben
meiner begrenzten Redezeit an der nach wie vor besonders prekären Situation in den neuen Bundesländern hinsichtlich der Bereitstellung betrieblicher Lehrstellen.
In der ersten Ausschusssitzung dieser Periode hörten
wir aus dem Mund des Sprechers der SPD, dass nun ein
Epochenwechsel eintreten werde. Zwei Jahre danach darf
man sicher fragen, wie denn dieser Epochenwechsel in
der Praxis aussieht. Dazu will ich einige aktuelle Zahlen
zur Jugendarbeitslosigkeit nennen, die Sie alle kennen
und die die Zahlen ergänzen, die wir schon gehört haben.
Im Bundesgebiet West haben wir eine Jugendarbeitslosigkeit von 8,9 Prozent, im Bundesgebiet Ost von
22,9 Prozent. Sachsen-Anhalt mit 24,6 Prozent und
Mecklenburg-Vorpommern mit 24,1 Prozent sind
Spitzenreiter. Die allgemeine Arbeitslosigkeit liegt im
Westen bei 7,8 Prozent, im Osten bei 17,4 Prozent. Das ist
- ungeachtet der bereits diskutierten Abwanderung - eine
Verschlechterung gegenüber früher.
({0})
In dem Entschließungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 10. Mai vorigen Jahres zu dem
Berufsbildungsbericht auf Drucksache 14/3244, über den
wir heute beraten und beschließen, steht allerhand. Ich
möchte auf zwei Punkte eingehen, weil sie mir, vor allem
unter dem Blickwinkel der Situation in den neuen Bundesländern, besonders wichtig sind und weil, obwohl ich
bereits am 27. September vorigen Jahres im Ausschuss
und am 10. November vorigen Jahres im Plenum darauf
hingewiesen habe, bislang keinerlei Reaktion erfolgt ist.
Schauen wir uns den Antrag einmal an. Da steht:
Die Situation auf dem Ausbildungsmarkt hat sich
verbessert.
Weiter heißt es:
Diese Verbesserung der Ausbildungssituation ist den
Bemühungen der rot-grünen Bundesregierung zu
verdanken.
({1})
Dann muss die Bundesregierung ja wohl auch primär
dafür verantwortlich sein. Die Zahlen haben wir ja gehört.
Aber es gibt auch noch ein „Forum Bildung“. Wir haben
in der Abgeordneteninformation Nr. 5 des BMBF vom
27. November vorigen Jahres lesen können, dass auch einige andere einbezogen werden sollen, zum Beispiel die
Länder, die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber, die Vertreter
der Wissenschaft, der Kirchen, der Studierenden, der Auszubildenden. Danach sollten unter Hinzuziehung externer
Experten „in zwei Jahren Konzepte zur Weiterentwicklung unseres Bildungswesens“ vorliegen. Es geht also um
Konzepte, die erst in der nächsten Wahlperiode vorliegen
werden, da diese Wahlperiode in zwei Jahren zu Ende sein
wird. Das wird dann bestimmt vor allem für Jungen und
Mädchen spannend sein, die heute keine Lehrstelle haben.
Wird so ein Epochenwechsel vorbereitet? Welche
Rolle spielt dabei die Wirtschaft? Wir haben heute schon
darüber gesprochen. Gilt das Prinzip Hoffnung als Epochenwechsel? Das genügt weder dem Anspruch der SPD
noch deren Versprechungen und den berechtigten Erwartungen der Jugendlichen.
({2})
Was wird in dem Informationsblatt für Abgeordnete
unter der Überschrift „Neue Chancen für Auszubildende“
angeboten? Als „neue Chancen“ werden bewährte Methoden wie Verbundausbildung, neue Berufe, Fortführung
des Ausbildungsprogramms Ost, Ausbildungsplatzentwickler, finanzielle Förderung angeboten - alles gut,
wohlgemerkt. Da stimme ich mit Ihnen völlig überein,
Herr Brase. Ich habe bei dem, was Sie an der Stelle gesagt
haben, keine Abstriche zu machen. Aber das alles ist seit
Jahren bekannt. Es ist nichts Neues, es bedeutet nur eine
Verstetigung, die man nicht als Neues verkaufen kann.
Was also ist wirklich neu?
({3})
Zu dem dritten Punkt Ihres Entschließungsantrages.
Dort steht - ich verkürze es ein bisschen -: Der Bundestag begrüßt die Weiterführung des Sofortprogramms zum
Abbau der Jugendarbeitslosigkeit.
({4})
- Klar, Herr Tauss.
Jetzt geht es weiter:
In diesem Zusammenhang sollten auch Möglichkeiten der Standardisierung der Maßnahmen geprüft
werden.
„Standardisierung“ bedeutet nichts anderes, als nach einem Muster zu vereinheitlichen. Was soll das angesichts
nachgewiesenermaßen recht unterschiedlicher Ausgangsbedingungen, nicht nur in Ost und West, sondern auch regional in den einzelnen Bundesländern?
Herr Schwanitz sagte am 14. Januar im Fernsehen, dass
die Förderung differenziert und regional erfolgen solle.
Das ist das genaue Gegenteil.
({5})
Warum ist dieser Antrag nicht der Realität angepasst
worden? Seit wann hat die SPD eine Scheu nachzubessern?
Das ist doch ein Wort, das wir uns inzwischen eingeprägt
haben. Warum wird dieser irrsinnige Untersuchungsauftrag
nicht gestrichen? Lesen Sie einmal das Thierse-Papier! Lesen Sie einmal die Ergebnisse unserer Anhörungen zu den
Lehrstellen, die ich am 30. Juni vorigen Jahres in diesem
Hause übergeben habe!
Ich bedanke mich ausdrücklich für die ehrliche Bestandsaufnahme, die der Präsident des Bundestages und
stellvertretende SPD-Vorsitzende Thierse veranlasst hat.
Auch wenn es manchem hier und dort, aus welchen Gründen auch immer, nicht gefällt: Hier wird problemspezifischer Handlungsbedarf aufgezeigt.
({6})
- Das wird Sie interessieren, Herr Tauss, besonders vor
Ihrem gewerkschaftlichen Hintergrund.
Lassen Sie mich zitieren:
Seit 1998 ist die Arbeitslosenquote im Osten vom
1,8-Fachen im Jahr 2000 auf das 2,3-Fache der
Arbeitslosenquote im Westen gestiegen.
Weiter:
Jugendarbeitslosigkeit ist eines der gravierendsten
Probleme in Ostdeutschland. 150 000 Arbeitslose
sind unter 25 Jahre alt, 15 Prozent mehr als 1998 ...
Frau Kollegin Deligöz, hier haben Sie etwas verpasst.
Das haben Sie nicht gehört. Das sollten Sie wissen. Sie haben vorhin das Gegenteil behauptet.
Die Problemlage, die ich eben beschrieb und die Sie
sich schriftlich haben zuarbeiten lassen, wurde von der
Koalition mit Durchschnittsangaben oder Unkenntnis
sträflich ignoriert. Hier ist eine nachhaltige Besserung
nötig.
Ich zitiere weiter aus dem Papier:
Die konjunkturelle Abkoppelung ... führt zwangsläufig zu steigender Abwanderung ...
Ferner - ganz wichtig; Frau Pieper sprach das an -:
Sparen kann man im Fall Ostdeutschlands nur, wenn
man in die wirtschaftliche Entwicklung investiert!
Das bedeutet auch, dass in einem Ministerium allein das
Problem nicht lösbar ist. Davon redete ich schon wiederholt.
Weiter:
Deshalb kann auch eine Politik der „Verstetigung“
den bereits stattfindenden Vertrauensverlust nicht
mehr kompensieren ...
Verstetigung ist das, was Sie machen - nichts Neues.
Nach dieser umfassenden Analyse warten wir nun aber
gespannt auf konsequente und konkrete Schlussfolgerungen in der praktischen Politik, um zu bessern und auch zu
ermutigen. Bitte tun Sie endlich etwas für den Epochenwechsel - wenn Sie es schon so nennen -, den Sie versprochen haben, und nicht nur für Verstetigung! Sie brauchen offenbar sehr viel Zeit.
({7})
Wenn die enormen Beträge des Sofortprogramms
sachgerecht eingesetzt worden wären, dann hätten effektivere und nachhaltigere Ergebnisse erreicht werden können.
({8})
Praktische Politik muss die eigenen ideologischen und
programmatischen Ansprüche infrage stellen.
Was ist also aus dem angekündigten Epochenwechsel
in der Bildungspolitik, speziell bei unserem Thema, geworden? Zögern, Gleichverteilen, „Weiter so“, nichts
Grundsätzliches; zuerst Handeln, dann Nachbessern und
Nachdenken; das Prinzip Hoffnung für die Zeit nach der
Wahl.
Ich möchte ausdrücklich anerkennen, wo die Bundesregierung positiv auf die Lehrstellensituation eingewirkt
hat und einwirkt - ich wiederhole, Kollege Brase, das,
was Sie gesagt haben -: natürlich die finanzielle Förderung auf hohem Niveau, aber auch anderes.
Ich zitiere: Bei der strukturellen „Weiterentwicklung
der dualen Berufsausbildung“ wird eine „künftige Gliederung ... in Elemente gemeinsamer Qualifikation und in
Wahlpflichtelemente“ zur „Differenzierung der Ausbildung für Leistungsschwächere und Leistungsstärkere“
unterstützt. - So eine Presseerklärung der Arbeits-, Sozial-, Kultus- und Wirtschaftsministerkonferenz vom
6. Dezember vorigen Jahres. Das sind für mich die Module, die wir lange fordern. Das ist für mich das Satellitenmodell, das Ihnen, Herr Brase, nicht passt. Andere haben sich entschlossen, genau das anzuwenden, weil das
vernünftig ist. Das ist der Ansatz zu neuen Methoden.
Im gleichen Sinne finde ich es sinnvoll, dass Berufsfachkommissionen eingerichtet werden sollen. Das hat
das BIBB am 20. Dezember 2000 in einer Presseerklärung
veröffentlicht. Es geht dort um die Aktualisierung, einen
schnellen Basiskontakt und die Abstimmung derer, die
mit dem Thema zu tun haben.
Aber es bleibt offen, was wir, die CDU/CSU-Fraktion,
wiederholt vorschlugen und was nun auch in dem Papier
von Thierse steht:
Erstens. Fördern Sie die Wirtschaft in den neuen Bundesländern konsequent, damit sie tun kann, was sie soll
und will: Lehrlinge ausbilden!
Zweitens. Berücksichtigen Sie regionale Spezifika, damit die Abwanderung eingedämmt wird!
Drittens. Reagieren Sie aktuell und zeitnah im Interesse der jungen Leute, frei von Vorbehalten und Wahlterminen!
Viertens. Gehen Sie das überaus komplexe Anliegen
durch koordinierte Maßnahmen an! Ich sagte schon: Das
ist in einem Ministerium allein nicht zu machen.
Herr Schwanewitz fehlt ja jetzt. Das ist ein Thema, das
er ansprechen sollte. Ein Ministerium allein schafft das
nicht.
({9})
- Schönen Dank. Ich sehe ihn so selten, dass ich es vergessen habe.
Ich kann die Koalition nur bitten: Haben Sie den Mut
zu wirklich neuen Wegen und Methoden, zu einem
tatsächlichen Epochenwechsel,
({10})
der, Herr Tauss, nicht nur verbal zu realisieren ist. Hier
geht es um Praxis.
Danke.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 14/4305. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung die Kenntnisnahme des Berufsbildungsberichts 2000 auf Drucksache 14/3244. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Annahme des Entschließungsantrags der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
zum Berufsbildungsbericht 2000. Es handelt sich um die
Drucksache 14/3331. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung von CDU/CSU-,
F.D.P.- und PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Dr. Norbert Lammert, Ulrich Adam, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Gesamtkonzeption für Berliner Gedenkstätten
für die Opfer der SED-Diktatur notwendig
- Drucksache 14/4641 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({0})
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. - Dann ist das so beschlossen.
Der Kollege Werner Schulz ({1}) vom Bünd-
nis 90/Die Grünen hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1)
- Auch hier sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Günter Nooke.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Zu den Errungenschaften unseres Rechtsstaates gehört zweifellos die Pflege der demokratischen Erinnerungskultur. Ein Grundprinzip
dieser Erinnerungskultur ist die Aufklärung, und zwar
deshalb, um das Aufkommen von Legenden und Lügen zu
verhindern. So gesehen sind Gedenkstätten der stärkste
Pfeiler der demokratischen Erinnerungskultur. Gedenkstätten - zumal die an authentischen Orten - zwingen uns
zum Hinsehen und befördern somit Wahrhaftigkeit, um
einmal dieses gewaltige Wort zu gebrauchen.
Dieser Sache war sich dieses Hohe Haus immer bewusst. Nicht zuletzt die beiden Enquete-Kommissionen
des Deutschen Bundestages, die sich in den beiden vorhergehenden Legislaturperioden vor allem mit der Aufarbeitung und den Folgen der SED-Diktatur beschäftigten,
kamen zu folgendem Ergebnis: Demokratische Erinnerungskultur gehört zu den Bestandteilen unseres Rechtsstaates so wie dessen Institutionen selbst.
Als Mitglied des Kuratoriums zur Errichtung eines
Mahnmals für die ermordeten Juden Europas und zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust kann ich bestätigen,
dass bei allen demokratischen Kräften trotz aller - zum
Teil auch kontroversen - Debatten der Wille zur Pflege einer Erinnerungskultur, auch bezogen auf die jüngste Geschichte im vergangenen Jahrhundert, vorhanden ist.
Wer die öffentlichen Debatten verfolgt, der wird
schnell Folgendes bestätigen können: Diesem Land mangelt es gewiss nicht an Gedenken, Gedenkstätten und entsprechenden Diskussionen darüber. Ganze Feuilletons
von Zeitungen scheinen von diesem Thema zu leben. Es
gibt durchaus honorige Leute, die sagen, dass dies bereits
zu einer gewissen Gedenkmüdigkeit geführt hat. Aber
liegt das tatsächlich daran, dass es in diesem Lande zu viel
Gedenken gibt? Oder ist nicht vielmehr zu fragen, woran
in diesem Lande überwiegend gedacht wird, wenn es um
die Erinnerung an Widerstand und Opfer zweier Diktaturen geht?
Wir müssen uns schon die Frage stellen, ob die Akzente
unserer Erinnerungskultur mit deren ganz praktischen Bestandteilen, nämlich mit den Gedenkstätten, ausgewogen
und entsprechend den Erfahrungen unserer Geschichte
gesetzt sind. Dies ist jetzt nicht der Ort, um eine Debatte
über die Frage zu führen, ob das Erinnern an die eine Diktatur mit dem Erinnern an die zweite Diktatur gleichgesetzt werden sollte. Das ist hier wirklich nicht mein
Thema. Wir haben in diesem Lande keine Defizite, was
die Diskussion über diese Frage anbelangt. Aber es besteht sicherlich bei den meisten Mitgliedern dieses Hauses kein Zweifel daran, dass die Erinnerung an die SEDDiktatur ebenso ein wesentlicher Bestandteil der von mir
angesprochenen Erinnerungskultur ist wie das Erinnern
an die Opfer des Nationalsozialismus.
({0})
Es besteht sicherlich auch kein Zweifel in diesem
Hause daran, dass gerade Berlin einer der wichtigsten
Orte - vielleicht der wichtigste Ort - für das Gedenken an
die SED-Opfer ist. Somit kommt entsprechenden Berliner Gedenkstätten fast immer eine nationale Bedeutung
zu; denn hier in Berlin waren nun einmal die politischen
Zentren der Macht und des Unterdrückungsapparates der
DDR. Diese Gedenkstätten haben eine nationale Bedeutung im eigentlichen Sinne. Das sollte gerade auch, wenn
es um die Frage geht, in welcher Weise Mittel zur Pflege
und praktischen Arbeit dieser Gedenkstätten zur Verfügung gestellt werden, bedacht werden.
Ich hielte es für ein gutes Zeichen, wenn sich der neue
Staatsminister für Kultur und Medien, Herr Nida-Rümelin,
der Gedenkstätten der SED-Diktatur annähme.
({1})
Die Hälfte des Engagements, das Ihr Vorgänger für das
Gedenken an den Stätten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aufgebracht hat, würde mir schon reichen.
({2})
Die CDU/CSU-Fraktion hat den vorliegenden Antrag
eingebracht, weil - um es kurz zu sagen - den Erinnerungsstätten für die Opfer der SED-Diktatur und die kommunistische Gewaltherrschaft in der Hauptstadt bisher zu
wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wenn das an
Berlin lag, dann will ich Ihnen nicht völlig widersprechen,
aber es ist eben auch eine nationale Aufgabe.
Sowohl die Mauergedenkstätte und das Dokumentationszentrum in der Bernauer Straße als auch die ehemalige
Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen sowie die Zentrale der Staatssicherheit in der Normannenstraße sind authentische Stätten der Erinnerung.
({3})
Für alle drei Gedenkstätten gilt, dass ihre perspektivische
Finanzierung derzeit nicht gesichert ist. Noch nicht ein-
mal die Mittel für notwendige Bau- und Instandhaltungs-
arbeiten sind so in die entsprechenden Haushalte einge-
stellt, dass - um es formal-bürokratisch zu sagen -
Planungssicherheit besteht.
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 5
({4})
- Aufarbeiten wollen wir schon. Schauen Sie sich einmal
an, was die Enquete-Kommissionen mit Ihrer Unterstützung beschlossen haben.
Unsere Fraktion hält es dabei für außerordentlich wichtig, dass für die genannten Gedenkstätten eine verbindende Gesamtkonzeption - darum geht es in unserem
Antrag - erstellt werden muss. Dass sich hier insbesondere der Bund in deutlich stärkerem Maße engagieren
muss, liegt meines Erachtens auf der Hand.
Unsere Sorge, dass dieser Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte in Bezug auf die hier schon wiederholt
erwähnte Erinnerungskultur sozusagen unter die Räder
kommt, nährt sich aus bisherigen Erfahrungen. Es sei daran erinnert, dass am 13. August 1998 das Mauer-Denkmal in der Bernauer Straße als nationales Denkmal eingeweiht wurde. Die Kosten hatte der Bund übernommen,
während das Land Berlin für den Unterhalt des Denkmals
zuständig war und ist. Übrigens: Im Vergleich zu den Ausgaben beispielsweise für verschiedene Denkmäler und
Gedenkstätten zur Erinnerung an den Holocaust, zu denen
ich als Kuratoriumsmitglied für die Errichtung des Holocaust-Mahnmals stehe - ich sage das ausdrücklich -, handelt es sich in diesen Fällen um extrem niedrige Ausgaben. Um es - seit Jahren gibt es dafür ein geläufiges
Wort - anders auszudrücken: Es handelt sich um Peanuts.
Für mich war es eine ernüchternde Erfahrung, als ich
am 13. August vergangenen Jahres in einem Brief an die
Bundesregierung fragte, wie denn der Staatsminister für
Kultur und Medien an die Opfer der Berliner Mauer zu gedenken beabsichtige. Von der Protokollabteilung des Innenministeriums erhielt ich den lakonischen Hinweis,
dass eine offizielle Feierstunde oder ein Gedenken am nationalen Denkmal oder anderswo nicht vorgesehen seien.
Meine Damen und Herren, am 13. August 2000, dem
39. Jahrestag des Mauerbaus, wurde von der Bundesregierung schlichtweg nichts getan. Dieser Termin wurde
einfach vergessen.
({5})
Um es noch einigermaßen diplomatisch auszudrücken:
Dies war einer Bundesregierung unwürdig und müsste
den Opfern gegenüber eigentlich peinlich gewesen sein.
({6})
Ich hoffe, dass es bei der Bundesregierung wenigstens zu
irgendeiner Gefühlsregung geführt hat. Die SPD-Fraktion
- ich will das auch sagen - erklärte damals lakonisch, das
Gedenken sei Sache des Parlamentes. Doch nicht einmal
der Bundestagspräsident interessierte sich an diesem
13. August dafür und ich glaube, diese Aussage ist
schlichtweg verlogen, wenn ich an die Größe der von
Schröder und Thierse am 9. November des vergangenen
Jahres vor der Synagoge in der Oranienburger Straße niedergelegten Kränze denke.
({7})
- Das ist leider so. Entweder gedenkt das Parlament oder
die Regierung hat eine Verantwortung für beide Diktaturen.
({8})
Das möchte ich aber nicht weiter ausführen, sondern
die Gelegenheit lieber dafür nutzen, schon rechtzeitig
daran zu erinnern, dass in diesem Jahr immerhin der
40. Jahrestag des Mauerbaus begangen wird, Herr
Staatsminister. Ich hoffe, dass wenigstens diesmal die Protokoll-abteilung des Innenministeriums dem Minister diesen Hinweis auf Wiedervorlage für den 13. August dieses
Jahres legt.
Ich will die Gelegenheit des 40. Jahrestages des Baus
der Berliner Mauer, die das herausragende Symbol nicht
nur für die Teilung der Stadt, sondern auch für die Teilung
unseres Landes, die Teilung Europas und die Teilung der
Welt war, auch dafür nutzen,die Bundesregierung an ihre
Verantwortung zu erinnern. Es wäre gerade für einen
neuen Kulturstaatsminister, Herrn Nida-Rümelin, eine
außerordentlich gute Gelegenheit, unabhängig von der
Kulturhoheit der Länder nationales Engagement zu zeigen.
({9})
Ich fordere den Herrn Staatsminister und die Bundesregierung deshalb im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf, mit den verantwortlichen Mitarbeitern der
anfangs genannten Gedenkstätten mit dem Ziel in Kontakt zu treten - das ist auch in unserem vorliegenden Antrag zu lesen -, erstens eine verbindende Gesamtkonzeption einschließlich der notwendigen Finanzierung zu
erarbeiten, sich zweitens dafür einzusetzen, dass die notwendigen Bau-, Sanierungs- und Erhaltungsmaßnahmen
unverzüglich in Angriff genommen werden können, und
drittens für die genannten Gedenkstätten die Voraussetzungen für eine hinreichende Planungssicherheit auch für
die Zukunft ihrer Arbeit zu schaffen.
({10})
Lassen Sie mich mit einem Wort des ehemaligen
Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck,
schließen, das er aus Anlass einer Sitzung der EnqueteKommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur
im Prozess der deutschen Einheit“ in Bezug auf die Notwendigkeit der Gedenkstätten sagte:
Wir gewinnen, wenn wir die Diktatur vorurteilsfrei
und offen bearbeiten, eine deutliche Annäherung an
die eigene Demokratie. Wir nehmen sie ernster trotz
der sie prägenden Widersprüche.
Danke schön.
({11})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Angelika KrügerLeißner von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin froh,
dass ich nach Herrn Nooke reden kann, um einiges klarstellen zu können. Uns liegt ein Antrag der CDU/CSUFraktion vor, der ein verstärktes Engagement der Bundesregierung im Bereich der Gedenkstätten und hier speziell
für drei Gedenkstätten für die Opfer der SED-Diktatur
fordert.
Nach dem ersten Durchlesen des Antrages erinnert
man sich an unsere jahrelange sehr umfangreiche und intensive Arbeit in der Enquete-Kommission „Aufarbeitung
der Geschichte und der Folgen der SED-Diktatur“ im Prozess der deutschen Einheit. Wir denken an die Diskussionen, an die Debatten zur Gedenkstättenkonzeption des
Bundes und an den zuletzt vorgelegten Bericht der Bundesregierung über die Beteiligung des Bundes an den Gedenkstätten. Dabei stellen sich die Fragen nach ausreichenden Grundlagen und Rahmenbedingungen für die
Arbeit der Gedenkstätten, nach ihren Möglichkeiten und
Grenzen künftiger Arbeit, nach spezifischen Aspekten ihrer Tätigkeit und nach der engeren Verknüpfung der zahlreich bestehenden Gedenkstätten.
Für die drei explizit aufgeführten Gedenkstätten, um
die sich die Antragsteller bemühen, sind diese Fragen
noch einmal zu durchdenken. Liebe Kollegen, ich erinnere mich, dass wir in den wesentlichen Grundfragen zur
Gedenkstättenkonzeption überfraktionell ein Einvernehmen herstellen konnten.
({0})
Das ist an Herrn Nooke möglicherweise vorbeigegangen.
({1})
Mit diesem umfassenden Konzept, das auf Erkenntnissen
langjähriger Zusammenarbeit mit den Ländern, den zahlreichen Gedenkstätten und den Experten beruht, haben
wir zugleich ein gesamtgesellschaftlich getragenes Konzept entwickelt. In ihm haben wir den authentischen Orten der beiden Diktaturen in Deutschland die höchste Priorität eingeräumt. Sie sind die stärksten Pfeiler der
demokratischen Erinnerungskultur, sind sie doch die Orte
der freien und offenen Auseinandersetzung mit der Geschichte unseres Landes. Als Lernorte haben sie ein ungeheures, einmaliges Erinnerungs- und Aufklärungspotenzial, das in der aktuellen politischen Situation für
individuelles und gesellschaftliches Handeln von herausragender Bedeutung ist. Die Bewahrung der Erinnerung
und die Unterstützung der Arbeit der Gedenkstätten ist
auch deshalb eine gesamtgesellschaftliche Arbeit, da sie
nur in Kooperation von Bund und Ländern, mit privater
Initiative und durch Vereine und Verbände geleistet werden kann.
Die drei im Antrag benannten Berliner Gedenkstätten
in der Bernauer Straße, in Hohenschönhausen und in der
Normannenstraße haben eine besondere Stellung in der
Reihe der nach der Wende sehr zahlreich entstandenen
Gedenkstätten an authentischen Orten in den neuen Bundesländern. Die Geschichte, die sie repräsentieren und mit
ihren Ausstellungen lebendig halten, ist ebenso vielfältig,
wie die 45 Jahre dauernde Nachkriegsgeschichte und
Existenz der DDR an Brüchen und Ereignissen reich ist.
Sie stehen ohne Zweifel in einem besonderen Licht, das
sich in der zentral historischen Rolle Berlins als Hauptstadt der DDR begründet, da sich hier auch jene zentralen
Institutionen und Organisationen angesiedelt hatten, die
die politische Verfolgung der Gegner planten und organisierten.
Die von großer Heterogenität geprägte Gedenkstättenlandschaft in Berlin erinnert in vielfältiger Weise an die
Repressionen der 50er-, 60er-, 70er- und 80er-Jahre mit
ihren spezifischen Formen politischer Verfolgung und
Hafterfahrung. An diesen authentischen Orten können wir
eindringlich und nachhaltig wahrnehmen, wie man Millionen Menschen über ein Netzwerk dieser Diktaturen zu
lenken und einzuschüchtern wusste und wie sich Verweigerung, Opposition und Widerstand regten.
Diese Erinnerung zu bewahren ist für die Bundesregierung und das Land Berlin an diesen drei Gedenkorten
von besonderer Bedeutung, dokumentieren sie doch zugleich ihren spezifischen Charakter, wie Hohenschönhausen als Ort der Opfer, die Normannenstraße als Ort der Täter und die Bernauer Straße als Ort der Repression, und
damit zugleich auch ihre Vernetzung.
Aus Ihrem Antrag, werte Kollegen der CDU/CSU, ist
der Ruf nach einem verstärkten Engagement des Bundes
in konzeptioneller und finanzieller Hinsicht nicht zu überhören. Wenn dem so sein soll, dann stellen sich für mich
folgende Fragen: Was haben der Bund und das Land Berlin für diese herausgehobenen Gedenkstätten bisher getan? Gibt es vielleicht Versäumnisse in der gemeinsamen
Verantwortung für diese Orte? Ist die Bedeutung dieser
drei Gedenkstätten in der Vergangenheit nicht hinreichend berücksichtigt worden?
Bei genauem Hinschauen, werter Kollege Nooke, wird
deutlich, dass dem nicht so ist. Der Bund nimmt seine gesamtstaatliche Verantwortung für die Gedenkstätten in
Berlin sehr wohl wahr. Ich denke, dass er dies sogar in
hervorgehobener Weise wie in keinem anderen Bundesland tut. Dazu einige Zahlen. Auf der Grundlage der Kriterien in der Gedenkstättenkonzeption beteiligt er sich
durch die hälftige institutionelle Förderung an vier Gedenkstätten, darunter auch Hohenschönhausen. Zu den
drei historischen Museen, die der Bund bisher zu 100 Prozent finanziert, ist in diesem Jahr das Jüdische Museum
hinzugekommen.
({2})
- Warten Sie doch ab! - Zu den vier geförderten Denkmälern gehört auch das Denkmal Berliner Mauer. Dazu
kommen noch mehrere Projektförderungen.
Wir haben uns in der Gedenkstättenförderung auf eine
zumindest hälftige Beteiligung des jeweiligen Sitzlandes verständigt. Ich erinnere Sie daran, dass dies im Einvernehmen mit den Ländern erfolgt ist, sichert sie doch so
die gemeinsam notwendige und angemessene Förderung
wie die gemeinsame Verantwortung und Mitwirkung in
den Gremien der Gedenkstätten bzw. Stiftungen.
({3})
Von diesem Grundsatz der gesamtstaatlichen Verantwortung und Repräsentanz wollen wir nicht abgehen,
wird sie doch sowohl der historischen Verantwortung des
Gesamtstaats als auch der grundsätzlichen und verfassungsmäßigen föderalen Kompetenz der Länder gerecht.
In Anerkennung dessen ist demnach die in Ihrem Antrag
beschriebene Forderung, Herr Nooke, wohl in erster Linie
zunächst an das Land Berlin heranzutragen. Unter der Beachtung der Kompetenzordnung des Grundgesetzes und
in Anerkennung der dezentralen Gedenkstättenlandschaft
in der Bundesrepublik kann es nicht Aufgabe des Bundes
sein, eine Konzeption für einzelne Gedenkstätten oder für
die Beziehung der Gedenkstätten untereinander zu erarbeiten. Die konzeptionelle Arbeit muss an den Gedenkstätten selbst geschehen; dort sind die notwendige Kompetenz und die dafür zuständigen Gremien vorhanden.
Einer der wichtigsten Grundsätze in der Gedenkstättenkonzeption war die Wahrung der Unabhängigkeit
der Gedenkstätten. Schon aus diesem Grunde werden
wir keine inhaltlichen Vorgaben machen. Dennoch habe
ich für Ihre Forderung Verständnis, wird doch auch Ihre
Unzufriedenheit mit dem bisher Erreichten sowie die
Sorge um die weitere Arbeit und die finanzielle Sicherstellung aus Ihrem Antrag deutlich. Ohne auf die Umstände der Entwicklung dieser drei Gedenkstätten näher
eingehen zu können, glaube ich, dass wir im elften Jahr
nach der Wende konzeptionell schon hätten weiter sein
und damit eine sichere finanzielle Grundlage für die Arbeit hätten haben können.
Lassen Sie mich den gegenwärtigen Stand genauer betrachten: Das Denkmal Berliner Mauer wurde 1998 an
einem signifikanten Ort in der Bernauer Straße eröffnet.
An keiner anderen Stelle in Berlin war die Trennung von
Ost und West durch die Mauer so unmittelbar gravierend
erfolgt. So gelingt es dort in hervorragender Weise, umfassende Informationen über das Grenzsystem und das
Ausmaß der menschenverachtenden Grenzanlagen am
authentischen Ort zu vermitteln. Das Denkmal wurde mit
rund 2,3 Millionen DM vom Bund finanziert und nach
Fertigstellung vom Senat von Berlin übernommen.
Gegenüber der Gedenkstätte hat das Land Berlin ein Dokumentationszentrum eingerichtet. Derzeit wird eine
Ausstellung anlässlich des 40. Jahrestages des Mauerbaus
vorbereitet. Sie wird vom Bund im Rahmen der
Gedenkstättenkonzeption zu 50 Prozent mitfinanziert.
Auf dieser Grundlage könnte auch die weitere Finanzierung erfolgen. Dies muss aber für das Jahr 2001 und die
folgenden Jahre durch das Land Berlin mit dem Bund verhandelt werden; der Rahmen dafür ist gegeben.
Die Gedenkstätte Hohenschönhausen, die von 1950
bis 1989 zentrale Untersuchungshaftanstalt in der DDR
war, wurde 1995 gemeinsam vom Bund und dem Land
Berlin gegründet. Dieses Dokumentations- und
Begegnungszentrum ist zugleich Forschungsstätte für die
Geschichte der Haftanstalt und wird bereits von einer
selbstständigen Stiftung nach Berliner Landesrecht getragen. Vertreter von Bund und Land arbeiten gemeinsam
im Stiftungsrat, Vertreter der Opferverbände, Sachverständige und die unterschiedlichsten gesellschaftlichen
Kräfte sind im Stiftungsrat vertreten. Grundlage für ihr
Zusammenwirken ist eine vom Arbeitsausschuss der Gedenkstätte erarbeitete Nutzungs- und Gestaltungskonzeption.
Seit 1995 wird diese Gedenkstätte vom Land Berlin
und vom Bund zu je 50 Prozent finanziert. In diesem Jahr
stehen 1,97 Millionen DM an Haushaltsmitteln zur Verfügung, zuzüglich 9,8 Millionen DM für die notwendigen
Instandsetzungs- und Sanierungskosten bis 2004. Auch
diese Mittel teilen sich der Bund und das Land Berlin. Ich
sehe hier keinen Handlungsbedarf.
Was die dritte genannte Gedenkstätte - die Zentrale der
ehemaligen Staatssicherheit, das Haus I in der Normannenstraße - betrifft, teile ich Ihre Sorgen. Ich bin froh,
dass sich auch hier einiges bewegt hat. Dazu folgende
Fakten:
Erstens. Der Bund und das Land Berlin sind sich darin
einig, dass die Sicherung von Haus I als Ort historischer
Dokumentation von großer Bedeutung ist.
({4})
Zweitens. Die Grundlage für ein weiteres Vorgehen
muss eine wissenschaftliche Konzeption zur Nutzung
sein - eine solche fehlt bisher -, die der besonderen historischen Bedeutung des Ortes gerecht wird.
Drittens. Der Bund und das Land Berlin haben zu diesem Zweck eine Fachkommission berufen, die ihre Arbeit bereits aufgenommen hat. Die Geschäftsführung liegt
beim Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des
Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Herrn
Gutzeit; Vorsitzender dieser Kommission ist Siegfried
Vergin, den wir in dieser Frage alle noch als Experten kennen.
Viertens. Als Ergebnis der Arbeit der Fachkommission
erwarten wir neben einem Nutzungskonzept auch ein wissenschaftlich und museumspädagogisch fundiertes Konzept, das eine grundlegende Ausstellung zur Tätigkeit des
MfS als Ort der Täter ermöglichen soll.
Die zu erarbeitenden Leitlinien für die künftige Nutzung des Hauses I sollen eine inhaltliche Perspektive vorgeben und Grundlage für das weitere politische Vorgehen
vom Land Berlin und vom Bund sein. In diesem
Zusammenhang erwarten wir auch eine Klärung der von
Ihnen angesprochenen Frage nach der Kooperation zwischen den Einrichtungen, also ein Gesamtkonzept.
Der Bericht der Fachkommission soll im Sommer dieses Jahres vorliegen. Er wird Grundlage für unsere weiteren Beratungen sein. Dazu gehört dann auch die brisante
Frage der Sanierungsmaßnahmen, die sich im zweistelligen Millionenbereich bewegen werden. Die Entscheidung über die künftige Nutzung, die Kooperation mit den
anderen beiden Gedenkstätten, die Sanierung und die Finanzierung sind also nach Lage der Dinge frühestens im
Herbst möglich.
Lassen wir also den Fachleuten diese Zeit zur intensiven Arbeit und Abwägung.
({5})
Diskutieren wir weiter, wenn die Ergebnisse der Fachkommission auf dem Tisch liegen. Sie sehen, Herr Nooke,
die Dinge sind auf den Weg gebracht.
({6})
- Haben Sie nicht zugehört?
({7})
Vielen Dank.
({8})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jürgen Türk von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer wie ich als gelernter DDR-Bürger erfahren hat, wie schwer es ist, unter den
Bedingungen einer Diktatur aufrecht zu gehen, den erfüllt
es schon mit einer gewissen Trauer, wenn er sieht, dass die
Erinnerungsstätten einstiger Unterdrückung jetzt langsam
verfallen. So sieht der Iststand aus. Das haben die vielen
Opfer, die den Weg zur friedlichen Revolution in der DDR
bereiteten, nicht verdient.
({0})
Wir wissen ja, das menschliche Gedächtnis ist
schwach. Es braucht einfach Orte und Gegenstände, an
denen sich die Erinnerung festmachen lässt. Was könnte
eindrücklicher als das Stasi-Gefängnis in Hohenschönhausen sein, das fast „unversehrt“ erhalten geblieben ist.
Fatalerweise lassen wir es jetzt verfallen, weil notwendige
Mittel für den Gedenkstättenbetrieb und die bauliche Instandhaltung noch fehlen. Machen wir uns nichts vor:
Das, was uns etwas wert ist, lassen wir uns auch etwas
kosten. Das ist im privaten wie im staatlichen Bereich so.
Deshalb wäre es aus meiner Sicht ein falsches Signal,
insbesondere in Richtung Osten, ausgerechnet bei der Bewahrung der Erinnerung an die Opfer kommunistischer
Gewaltherrschaft eine falsche Sparsamkeit, die es auch
gibt, an den Tag zu legen.
({1})
Die Menschen, die in Hohenschönhausen und in der
Normannenstraße schreckliche Qualen erlitten haben, besaßen Zivilcourage, eine Eigenschaft, an der es in
Deutschland und auch anderswo häufig mangelt und die
man deshalb gar nicht hoch genug bewerten kann und
muss.
({2})
Wenn das Leid der Verfolgten einen Sinn gehabt haben
soll, dann den, die nachwachsende Generation auch gegen
etwaige Wiederholungsversuche zur Schaffung einer
kommunistischen Diktatur zu immunisieren. Deshalb findet der gestellte Antrag, eine Gesamtkonzeption für die
Opfergedenkstätten in Berlin zu erstellen - Sie haben
heute gesagt, dass sie auf dem Weg sei - sowie deren langfristige Finanzierung zu sichern, meine volle Unterstützung.
({3})
Ein letzter Satz: Ein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen
Bund und Berlin - das spielen wir immer, wenn wir uns
herausmogeln wollen - bringt uns nicht weiter, Frau
Krüger-Leißner.
({4})
Sie haben das heute richtig gestellt. Für den neuen Staatsminister wird es sicherlich zu seinen ersten wichtigen
Aufgaben gehören, dafür zu sorgen, dass der Bund und
Berlin eine Gesamtkonzeption vorlegen.
Vielen Dank.
({5})
Der Kollege Werner Schulz vom Bündnis 90/Die Grünen hat seine
Rede zu Protokoll gegeben.
Als nächster Rednerin gebe ich das Wort der Kollegin
Petra Pau von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Kollege Nooke, zwei Botschaften
bzw. Anliegen des CDU/CSU-Antrages teile ich ausdrücklich. Es stimmt: Eine Gesamtkonzeption für die Gedenkstätten steht aus. Eine langfristige und damit auch
perspektivgebende Finanzierung ist nicht geklärt.
Ausgangs- und auch Zielpunkt Ihres Antrages greifen
aber meines Erachtens zu kurz. Meine geringe Redezeit
ermöglicht es mir nicht, zu den von Ihnen vorgenommenen Gleichsetzungen und Aufrechnungen unterschiedlichen Gedenkens, welche sich aus meiner Sicht verbieten,
Stellung zu nehmen. Deshalb möchte ich nur etwas dazu
sagen, warum in Ihrem Antrag einiges zu kurz greift.
Meines Erachtens geht es eben nicht nur um die Verwaltung des Gedenkens und um das Erhalten von Gedenkstätten; vielmehr wird es sehr lange, nämlich Zeit ihres Bestehens, auch um wissenschaftliche Begleitung
und um Aufarbeitung gehen. Das muss Bestandteil einer
Gesamtkonzeption und eines Finanzierungskonzeptes
sein.
({0})
Sie sollten den Fokus Ihrer Betrachtung erweitern. Wo
ist das Haus am Checkpoint Charlie mit dem, was es in
dieser Topographie des Gedenkens zu leisten hat?
({1})
Was ist mit der inzwischen abgeschlossenen Markierung
des Grenzverlaufs in der Innenstadt? Auch hierzu gehört
eine Begleitung, eine Erklärung - nicht nur für die vielen
Gäste dieser Stadt, sondern vor allen Dingen auch für die
nachwachsenden Generationen. Selbst wir fragen uns
doch heute, wenn wir an diesen Orten sind: Wie war denn
das damals? Wir haben kaum noch Erinnerungen. Was
machen wir mit unseren Kindern und unseren Enkeln?
Auf welche Art und Weise können wir ihnen das erfahrbar machen, was nicht mehr sinnlich erfahrbar ist?
Auch ein paar Sünden gehören dazu. Kollege Nooke,
es reicht nicht auf die Bundesregierung oder auf Teile des
Berliner Senates zu schauen. Wenn ich mich recht entsinne, dann hat den Abriss des Wachtturms am Checkpoint Charlie genauso wie den Abriss des Turmes am
Potsdamer Platz ein CDU-geführter Berliner Senat zu
verantworten.
({2})
Wenn über ein Gesamtkonzept geredet wird, dann sollten
wir uns auch mit der gesamten Geschichte und den Zeugen, die noch zur Verfügung standen, auseinander setzen.
In der Konzeption der Gedenkstättenlandschaft müssen strukturelle Defizite behoben werden. Ein Vorschlag
für die weitere parlamentarische Behandlung: Lassen Sie
uns doch über eine Stiftung des Bundes nachdenken! Lassen Sie uns darüber beraten, was machbar ist, möglichst
in Verbindung mit dem Forschungsverbund der Freien
Universität „SED-Unrechtsregime“! Ich denke, das wäre
wünschenswert, damit wir nicht immer wieder dann,
wenn ein Problem auftaucht, über Stückwerk debattieren
müssen.
Danke schön.
({3})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4641 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll
abweichend von der Tagesordnung beim Ausschuss für
Kultur und Medien liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
4. Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kulturpolitik 1999
- Drucksache 14/4312 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sollen die
Reden zu diesem Tagesordnungspunkt - es handelt sich
um die Reden der Kolleginnen Monika Griefahn, Rita
Süssmuth,1) Rita Grießhaber, Ulrich Irmer, Dr. Heinrich
Fink und Staatsminister Dr. Zöpel - zu Protokoll genom-
men werden.2) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4312 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ({1}),
Hartmut Koschyk, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Soziokultur
- Drucksachen 14/1575, 14/4020 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Norbert Lammert von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über meinen Parlamentarischen Geschäftsführer habe ich Ihren gut gemeinten Hinweis erhalten, Herr Präsident, dass auch in der
Hälfte der mir zustehenden Redezeit dieses Thema Ihrer
Einschätzung nach erschöpfend zu behandeln sei. Die
Wahrheit ist, dass sicherlich nicht nur nach der Wahrnehmung der im Bereich der Soziokultur engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch die doppelte Redezeit
nicht ausreichen würde,
({0})
die vielfältigen Aspekte angemessen darzustellen, mit denen sich der Deutsche Bundestag wenn überhaupt, dann
eher zu selten als zu häufig beschäftigt. Deswegen hoffe
ich, mir Ihr Wohlwollen nicht gänzlich zu verscherzen,
wenn ich Ihnen feierlich zusage, mich um eine Kürzung
der vorgegebenen Redezeit zu bemühen, auch wenn ich
vielleicht nicht ganz die von Ihnen vorgegebene Maßeinheit erreiche.
({1})
- Mindestens der erste Teil war offenkundig auch von den
Koalitionsfraktionen nicht zu beanstanden. Vielleicht hält
sich das so; das wollen wir einmal abwarten.
Jedenfalls bin ich für den nächsten Teil auch ganz zu-
versichtlich. Ich möchte nämlich die erste Gelegenheit
1) Redebeitrag wird in einem späteren Bericht abgedruckt.
2) Anlage 6
nutzen, bei einer kulturpolitischen Debatte im Deutschen
Bundestag den neuen Beauftragten der Bundesregierung
für Kultur und Medien im Namen meiner Fraktion herzlich zu begrüßen.
({2})
- An diese Konstellation werden Sie sich ohnehin gewöhnen müssen, Herr Nida-Rümelin, dass die Ausführungen der Opposition jedenfalls in Kultur und Medienfragen regelmäßig stürmischen Beifall insbesondere
Ihrer Koalitionsfreunde erzeugen. Das mag die bei Ihnen
ohnehin sicherlich hinreichend vorhandene Motivation
zur Übernahme des Amtes weiter stabilisieren.
Ich wiederhole, was ich bereits im Ausschuss gesagt
habe: Wir sind zu einer konstruktiven Zusammenarbeit
bereit. Konstruktiv heißt: Wir werden immer dann hart
streiten, wenn es uns als notwendig erscheint; aber wir
werden uns in Zukunft wie in der Vergangenheit darum
bemühen, dass dabei nicht der Streit zur Hauptsache wird,
sondern die Sache Hauptsache bleibt, und dass dieses gemeinsame Ringen am Ende die Entfaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten der Kultur vergrößert.
({3})
- Gäbe ich der Versuchung nach, auf diesen Zwischenruf
einzugehen, Herr Kollege Hirche, würde dies die gut gemeinten Bemühungen um Kürzung der Redezeit vollends
atomisieren. Deswegen bitte ich um Verständnis, dass ich
das nicht tue.
({4})
Ich sehe für eine solche auch in Zukunft enge Zusammenarbeit über Fraktionsgrenzen hinweg insgesamt gute
Voraussetzungen, übrigens auch bei diesem Thema, zumal die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große
Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ausdrücklich auf eine
frühere Anfrage der damaligen Opposition und auf die
seinerzeitige Antwort der damaligen Bundesregierung
Bezug nimmt. Um auch an dieser Stelle die Kontinuität
kulturpolitischer Bemühungen im Protokoll festzuhalten,
weise ich darauf hin, dass die Bundesregierung Wert darauf legt, dass die in der seinerzeitigen Antwort der damaligen Bundesregierung vorgenommenen Bewertungen
hinsichtlich der Bedeutung der Soziokultur und ihrer Legitimation innerhalb des kulturellen Lebens unverändert
Gültigkeit besitzen. Nun ist das vielleicht nicht so sonderlich aufregend, weil man sich über die Überschriften
immer leichter als über das Eingemachte einigt.
Wir haben im Übrigen nicht nur, aber auch bei diesem
Thema das bekannt delikate Verhältnis unterschiedlicher
Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zwischen
Bund, Ländern und Kommunen. Deswegen freue ich
mich ganz besonders, dass zur Verdeutlichung unseres Interesses an einer konstruktiven, unverkrampften und nicht
ideologisch bornierten Zusammenarbeit von Bund und
Ländern der Staatsminister für Wissenschaft, Forschung
und Kunst des Freistaates Bayern die Mühe nicht gescheut hat, an dieser Debatte teilzunehmen, und damit unser Interesse an einem konstruktiven Verhältnis der Zusammenarbeit eindruckvoll unterstreicht.
({5})
- Ich bin schon über das Wort „auch“ ganz gerührt, weil
es ein Maß an Selbsterkenntnis deutlich macht, das nicht
in jeder Debatte bei Ihren Zwischenrufen, Herr Tauss, zu
erkennen war.
Wir haben die Große Anfrage zum Thema Soziokultur
am 7. September 1999 eingebracht. Die Bundesregierung
hat zweimal um Fristverlängerung gebeten und nach
zehnmonatiger Bearbeitung dieses Themas endlich ihre
Antwort vorgelegt. Dies könnte zwei Schlussfolgerungen
nahe legen. Die eine Schlussfolgerung ist die, dass das
frühere Lieblingsthema sozialdemokratischer Kulturpolitik in der neuen sozialdemokratischen oder rot-grünen
Wahrnehmung von Kulturpolitik den Stellenwert nicht
mehr hat, der über viele Jahre behauptet wurde. Die andere denkbare Interpretation könnte sein, dass man sich so
nachhaltig und so gründlich um möglichst materialreiche
Informationen zum Gegenstand bemühen wollte, dass
dies einen so ungewöhnlich langen Beantwortungszeitraum erfordert hat.
Ich entnehme Ihrer Gestik, Herr Staatsminister, dass
Ihnen die zweite Interpretation viel besser gefällt als die
erste. Das überrascht mich nicht. Meine Vermutung ist,
dass es vielleicht eine Kombination des einen mit dem anderen sein könnte. Denn ich will gar nicht bestreiten, sondern will im Gegenteil mit Respekt anerkennen, dass die
Antwort der Bundesregierung eine ganze Reihe von Zahlen, Daten und Fakten enthält, wie man das mit gutem
Recht von der Beantwortung einer Großen Anfrage einer
Fraktion in diesem Hause erwarten kann.
Gleichwohl bleiben die daraus gezogenen Schlussfolgerungen deutlich nicht nur hinter den Erwartungen
zurück, die wir als Opposition gegenüber den Auskünften
der Bundesregierung haben, sondern ganz offenkundig
auch hinter den Erwartungen und Ansprüchen, die im Bereich der Soziokultur und der soziokulturellen Zentren bei
der Behandlung dieses Themas bestehen.
In den kulturpolitischen Mitteilungen der Kulturpolitischen Gesellschaft gibt es eine interessante Beurteilung
dieses Dokuments. Unter der Überschrift „Loblied auf die
Soziokultur“ bemüht sich der Autor Norbert Sievers um
eine Bewertung der Auskünfte der Bundesregierung. Ich
darf einen Satz, der aus meiner Sicht ein Schlüsselsatz ist,
vortragen - ich zitiere mit freundlicher Genehmigung des
Herrn Präsidenten -:
Insgesamt liegt mit der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zum Thema Soziokultur
eine sehr informative und in den Aussagen der Bundesregierung positive Stellungnahme vor, die für Interessenten zur Lektüre und für die Akteure zur politischen Legitimationsarbeit empfohlen werden kann,
auch wenn sie der Soziokultur in der Sache nicht sehr
weiterhilft. So zeigt sich die Bundesregierung geDr. Norbert Lammert
genüber den steuerpolitischen Forderungen und arbeitsmarktpolitischen Anregungen sehr reserviert.
({6})
Ohne jedes Tremolo in der Stimme: Sosehr ich die
Bemühungen um Klärung von Sachfragen würdige, so
dürftig scheinen mir und offenkundig auch vielen in der
Szene die Schlussfolgerungen zu sein, die daraus gezogen
werden. Natürlich kommt es auf Letzteres mindestens so
sehr an wie auf Ersteres. Dass hier die Bundesregierung
eine Verantwortung hat, entspricht auch ihrer eigenen
Wahrnehmung. Denn in der Antwort der Bundesregierung
wird ausdrücklich darauf verwiesen, dass hier nicht nur
eine besondere Verantwortung von Ländern, Städten und
Gemeinden bestehe, sondern dass - ich zitiere - „die Bundesregierung entsprechende Initiativen, Einrichtungen
und Projekte im Rahmen ihrer Zuständigkeit sowie ihrer
gesamtstaatlichen Aufgaben, insbesondere bei der Gestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen für das kulturelle Schaffen, unterstützen kann“.
Wir hätten uns gewünscht und werden auch darauf bestehen, dass da nachgearbeitet wird, dass an dieser Stelle
die eigene Verantwortung nicht nur rhetorisch reklamiert,
sondern auch mit Initiativen unterlegt wird. Davon kann
nachweislich dieses Papiers bislang leider noch keine
Rede sein.
({7})
Ich will das an einigen wenigen Punkten verdeutlichen,
verehrte Kolleginnen und Kollegen. Die Bundesregierung
weist darauf hin, dass sich die Soziokultur als ein dynamisch entwickelndes Praxisfeld, das auf eigenständige
Weise Kultur, Soziales und Kunst zu verknüpfen sucht
und das mit der Forderung, Kulturpolitik und Querschnittsaufgaben zu verstehen, Ernst macht, inzwischen
etabliert hat, dass sie inzwischen ein mehr oder weniger
selbstverständlicher Bestandteil der Kulturszene geworden ist.
Dem wollen wir nicht widersprechen. Aber auch hier
bleibt die Frage offen, welche Schlussfolgerungen daraus
gezogen werden und ob insbesondere das Verständnis der
jetzigen wie der damaligen Bundesregierung in der
Kulturarbeit vor Ort, also auch und gerade auf der kommunalen Ebene, eine entsprechende Resonanz gefunden
hat. Unser begründeter Eindruck ist, dass dies an manchen
Stellen noch nicht der Fall ist. Ich stehe gar nicht an einzuräumen, dass das auch für manche unionsgeführten
Kommunen gilt, bei denen hinsichtlich des Stellenwertes
der Arbeit der Soziokultur und soziokultureller Zentren
immer wieder Überzeugungsarbeit geleistet werden
muss.
({8})
Ein zweiter Punkt, den ich anführen möchte, ist die zu
Recht erfolgte freundliche Würdigung der ehrenamtlichen Tätigkeit, ohne die die Arbeit in den allermeisten
dieser soziokulturellen Zentren ganz gewiss nicht möglich wäre.
({9})
- Ich bedanke mich für die Zustimmung aus den Reihen
der Koalition.
({10})
Ich will nur darauf hinweisen - zumal uns das Thema
Ehrenamt in diesem Jahr in vielfältigen Varianten begleiten wird -, dass wir allesamt damit nicht das Missverständnis verbinden dürfen, dass die beliebige Belastung
ehrenamtlich Tätiger an die Stelle von professionellem
Engagement bzw. öffentlicher Förderung treten dürfte.
Deswegen stehen wir gerade hier - zumal sowohl die alte
als auch die neue Bundesregierung einen solchen Stellenwert der Soziokultur ausdrücklich bestätigen - in einer
gemeinsamen Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dieser
Stellenwert in der operativen Kulturpolitik seinen Niederschlag findet.
Dritte Bemerkung. Es ist ganz sicher kein Zufall und
auch ausdrücklich nicht falsch, dass die Bundesregierung
in ihrer Antwort darauf hinweist, dass die Soziokultur und
ihre Einrichtungen in einer Zeit gefährlicher gesellschaftlicher Entwicklungen, wie Gewaltbereitschaft,
Arbeitslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit und Generationenkonflikte, viele hilfreiche und unterstützende Arbeiten
leisten. Das ist ohne Zweifel zutreffend.
Auffällig ist, dass an dieser wie an mancher anderen
Stelle die Aufgaben der Soziokultur und ihrer Zentren im
allgemeinen gesellschaftlichen Bereich sehr viel stärker
akzentuiert werden als in dem Bereich, den sie im Namen
führen und mit dem sie mal mehr und mal weniger erfolgreich Förderansprüche geltend machen, nämlich im Bereich der Kulturarbeit.
Viertens. Ich will auch ein praktisches Problem ansprechen, ohne den Punkt verallgemeinern zu wollen: Unter der Vielzahl der Zentren - es sind weit über 400, die
wir inzwischen in der Bundesrepublik haben - mit ganz
unterschiedlichen, zum Teil auch im Jahresverlauf wechselnden Schwerpunkten gibt es vielerlei Aktivitäten, die
mit Kultur nur noch ganz wenig, mit Gesellschaftspolitik
ganz viel zu tun haben und von denen manche meinen,
dass das in einem demokratischen Staat immer legitime
Interesse an Organisation von Demonstrationen auch gegen demokratisch zustande gekommene Ratsentscheidungen aus Kulturmitteln gefördert werden müsste. Das halte
ich nun allerdings sowohl für eine Übertreibung als auch
für ein Missverständnis der Aufgabe von Soziokultur und
von soziokulturellen Zentren.
Ich entnehme dem strahlenden Lächeln meines Kollegen Barthel, dass auch an dieser Stelle eine nahtlose Übereinstimmung zwischen der Opposition und der Mehrheitsfraktion im Deutschen Bundestag besteht. Das
erleichtert die Arbeit des neuen Staatsministers ungemein;
({11})
denn er braucht gar nicht zu überprüfen, ob die gut gemeinten Empfehlungen der Opposition auch im eigenen
Lager Unterstützung finden.
Ich habe schon darauf verwiesen, dass der richtige Hinweis auf die besondere Verantwortung von Ländern und
Kommunen nicht zu einer Abstinenz des Bundes führen
darf, schon gar nicht dann, wenn eigene Gestaltungsmöglichkeiten ausdrücklich eingeräumt werden. Ich will deswegen nur stichwortartig darauf hinweisen, dass beispielsweise die Förderung über Modellprojekte durchaus
möglich ist.
Das möchte ich vor allen Dingen auch ausdrücklich für
den fünften Punkt reklamieren, nämlich für den Qualifikationsbedarf, der hier sowohl bei hauptamtlichen als
auch insbesondere bei ehrenamtlichen Mitarbeitern ganz
sicher besteht. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, ob und wie hier etwa über Modellprojekte eine Unterstützung der kommunalen Arbeit erfolgen kann.
Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass die
Bundesregierung wiederum grundsätzlich zutreffend, wie
ich glaube, auf die wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Effekte der Soziokultur und der Arbeit in soziokulturellen Zentren verweist. Hier fällt allerdings auf, dass es
überhaupt keine Zahlen und Daten gibt, auf denen sich
diese positive Einschätzung der Beschäftigungswirkung
gründet. Diese Daten liegen entweder nicht vor oder sie
sind nicht aufgearbeitet.
Hier scheint mir ein sinnvolles Feld der kulturwissenschaftlichen Expertise zu liegen. Auch angesichts der
Bundesforderung, die inzwischen für das Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft vereinbart
worden ist, bestehen sicher Möglichkeiten, über die Arbeit solcher Initiativen etwas mehr Klarheit zu gewinnen,
auch über die tatsächlichen Wirkungen für Beschäftigung
und Wachstum.
Ich fasse zusammen. Wir haben die Große Anfrage
auch und gerade deswegen eingebracht, weil sich Kulturpolitik - auch Kulturpolitik des Bundes - nicht auf preußischen Kulturbesitz, auf die Berliner Opernkrise, auf die
eine oder andere mit Glanz und Gloria versehene kulturpolitische Initiative und auch nicht auf die Bemühungen
um einen möglichst angemessen dotierten Hauptstadtkulturvertrag reduzieren darf.
Wir wollten mit dieser Großen Anfrage die Aufmerksamkeit auch auf einen oft vernachlässigten, jedenfalls
nicht im Mittelpunkt stehenden Bereich der Kulturpolitik
lenken, in dem im Übrigen insgesamt gesehen mindestens
so viele Menschen direkt und indirekt beschäftigt oder beteiligt sind wie in den großen, glanzvollen Kultureinrichtungen.
Deswegen, verehrter Herr Staatsminister und liebe
Kolleginnen und Kollegen, gilt: Wer Kultur für alle möglich machen will, muss sich besonders um den Teil der
Kulturszene kümmern, von dem wenig Glanz und noch
weniger Gloria zu erwarten ist, aber in dem die Voraussetzungen für Nachhaltigkeit auch in der Kulturpolitik geschaffen werden.
({12})
Herr Kollege Lammert, ich darf Sie vielleicht doch darauf hinweisen, dass Redner nicht der Zustimmung des Präsidenten
bedürfen, um Zitate vorzutragen. Ich glaube, diese
Entscheidung wurde schon in den 80er-Jahren des letzten
Jahrhunderts getroffen und sollte eigentlich allgemein bekannt sein.
Ich bitte ausdrücklich um Nachsicht, dass ich für die völlig unnötige
Bitte um Genehmigung unnötige Redezeit in Anspruch
genommen habe.
({0})
Er hat
seine Zeit ausgeschöpft.
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Hanna Wolf von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Auch ich möchte dem Herrn
Staatsminister im Namen meiner Fraktion einen guten
Start hier im Deutschen Bundestag wünschen. Ich freue
mich natürlich als Münchener Abgeordnete, dass er aus
München kommt. Diese Bemerkung darf erlaubt sein.
({0})
Bevor ich auf den Begriff „Soziokultur“ eingehe,
möchte ich zunächst einen Dank aussprechen. Ich möchte
all denen danken, die in diesem Bereich arbeiten und
durch ihr Engagement und ihr Schaffen Soziokultur verkörpern.
({1})
Ein ganz besonderer Dank gilt den vielen Freiwilligen
und Ehrenamtlichen. Ich stimme Herrn Lammert zu:
Ohne sie wäre diese Arbeit nicht machbar. Deswegen gilt
ihnen an erster Stelle mein Dank.
({2})
Die Bundesregierung schätzt die Soziokultur und fördert diesen Beitrag zur Zivilgesellschaft, soweit es ihr
verfassungsrechtlich möglich ist. Ich bin Ihnen, Herr
Lammert, sehr dankbar, dass Sie und Ihre Fraktion diese
Große Anfrage gestellt haben. Haben wir doch jetzt Gelegenheit, wenn auch etwas spät, hier noch einmal auf die
Bedeutung von Soziokultur hinzuweisen. Der Begriff entstand in den 70er-Jahren als Folge der Studentenbewegung und anderer sozialer Bewegungen, wie zum Beispiel
auch der Frauenbewegung. Unter ihr verstand man
zunächst eine Gegenbewegung zum bürgerlichen Kulturbetrieb und wollte vor allem Kultur für alle fördern und
praktizieren, die kreative Selbstständigkeit möglichst vieler Menschen fördern, den Zugang zu Kunst und Kultur
erleichtern und die Kultur wieder in die gesellschaftliche
Wirklichkeit des Alltagslebens einbinden. Das Motto
„Kultur für alle“ sollte helfen, auch so genannte kulturferne Bevölkerungsschichten an der Kultur teilhaben zu
lassen. Ich glaube, das ist mit ihrer Arbeit gelungen.
Heute besteht die Gefahr, dass sich Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus, Generationenkonflikt
und Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft ausbreiten. Die soziokulturelle Arbeit wird von daher immer
wichtiger.
({3})
Heute gibt es insgesamt 80 Verbände. Allein 383 Einrichtungen sind in der Bundesvereinigung soziokultureller
Zentren organisiert, 300 Einrichtungen im Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen
Einrichtungen, aber dazu kommen auch kommunikations-,
medien- und museumspädagogische Einrichtungen.
Die Zentren unterscheiden sich schon strukturell von
den Kultureinrichtungen der so genannten Hochkultur.
Ihre Arbeitsansätze und inhaltlichen Schwerpunkte richten sich zum Beispiel nach folgenden Grundsätzen: Betonung des erweiterten Kulturbegriffs, Förderung der
künstlerischen Eigenbetätigung, Integration verschiedener Altersgruppen, Förderung von Frauenkultur, Einbeziehung sozialer und ethnischer Minderheiten, Gewährleistung von demokratischen Organisationsformen und
selbstverwalteten Entscheidungsstrukturen.
Unsere Verfassung teilt die Pflege von Kunst und Kultur - also auch die Förderung der Soziokultur - den Ländern und Kommunen zu. Die kulturpolitischen Zielsetzungen und Maßnahmen des Bundes konzentrieren sich
daher vor allem auf die Verbesserung und Fortentwicklung der Rahmenbedingungen, den Aufbau und die Förderung gesamtstaatlich bedeutsamer kultureller Einrichtungen und die Bewahrung des kulturellen Erbes. Der
Bund kann also die Soziokultur nur im Rahmen der Zuteilung an Fonds und im Rahmen der Modellförderung
bedenken. Modellförderung heißt in der Konsequenz aber
auch, dass die Länder und Kommunen eine Anschlussförderung für Folgeprojekte bereitstellen.
Die Zentren selbst rufen keineswegs nach einer Überversorgung mit öffentlichen Geldern. Sie sind ihrerseits
auch auf ihre finanzielle Eigenständigkeit bedacht, um ihr
Prinzip der Selbstständigkeit zu leben. Allerdings darf das
„Nagen am Hungertuch“ nicht so weit gehen, dass um der
Eigenwirtschaftlichkeit willen wichtige, kostenträchtige
Programmbereiche zurückstehen oder sogar entfallen.
({4})
Die Zentren erwirtschaften fast die Hälfte ihres Etats
selbst. Ein Viertel kommt von den Kommunen, ein Zehntel von den Bundesländern und vom Bund kommen aus
den schon erwähnten Gründen 0,25 Prozent.
Die einzelnen Bundesländer bewerten die Bedeutung
der soziokulturellen Zentren sehr unterschiedlich. Gerade
die neuen Bundesländer - dies möchte ich besonders herausstellen - schätzen diese Einrichtungen besonders hoch
ein, da hier vor allem in der Jugendbildung ein großer Bedarf an kulturpolitischer Arbeit besteht.
({5})
Beim statistischen Ländervergleich fällt allerdings auf
- jetzt ist Minister Zehetmair leider nicht mehr anwesend,
ich war schon erstaunt, dass er zu diesem Thema kommt -,
dass Bayern kein einziges soziokulturelles Zentrum fördert.
({6})
Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass es hier nur
zwölf Zentren gibt, gerade einmal so viel wie im kleinsten
Bundesland Bremen.
({7})
Diese zwölf Zentren werden ausschließlich von den
Kommunen gefördert.
({8})
So zahlt die Stadt München für den soziokulturellen Bereich fast 1 Million DM. Es lohne nicht, Anträge an den
Kultusminister Zehetmair zu stellen, so hört man aus der
soziokulturellen Praxis. Es gebe ja doch kein Geld.
({9})
Das ist nicht nur peinlich, es ist auch beschämend in einer Zeit, in der in der übrigen Bundesrepublik mit den
Mitteln der Soziokultur gegen den drohenden Rechtsradikalismus vorgegangen wird.
({10})
Ganz anders dagegen Brandenburg und Sachsen. In
Brandenburg wird der Stellenwert der Soziokultur besonders hoch bewertet. Die soziokulturellen Zentren werden
als ein bedeutender, Demokratie bildender, gesellschaftspolitischer Faktor gerade in der Jugendbildung angesehen. Der Landesanteil Brandenburgs an der Förderung liegt durchschnittlich bei 35 Prozent. In Sachsen gibt
es 47 Mitgliedseinrichtungen der Bundesvereinigung. Die
Zentren sind sowohl kulturelle Dienstleister als auch Orte
für gesellschaftspolitische, soziale und stadtentwicklungspolitische Fragestellungen.
In der Bundesrepublik Deutschland sind die soziokulturellen Zentren inzwischen flächendeckend verbreitet.
Sie sind kein Phänomen von Großstädten mit studentischem Milieu.
({11})
Hanna Wolf ({12})
Diese Zentren gehören inzwischen zur Grundausstattung
der kulturellen Infrastruktur. - Wieso „im Gegenteil“,
Frau Kollegin? Ich will ja gerade betonen, dass es überall
welche gibt. Denn in der Großen Anfrage wurde auch gefragt, ob es sie nur in den Großstädten gibt. Die Antwort
lautet: Nein. Rund 51 Prozent der Mitgliedseinrichtungen
der Bundesvereinigung befinden sich in Städten mit über
100 000 Einwohnern. In Klein- und Mittelstädten und im
ländlichen Raum haben sich in den letzten zehn Jahren
soziokulturelle Zentren gebildet. Sie sind hier häufig der
alleinige Anbieter von kulturellen Veranstaltungen und
Aktivitäten und erfüllen als einzige die Aufgabe der kulturellen Grundversorgung.
Der Erfolg der soziokulturellen Zentren zeigt sich auch
an der wachsenden Zahl der Besucher und Besucherinnen. Seit 1994 hat sich die Zahl um 35,3 Prozent
erhöht, obwohl nur 6,2 Prozent mehr Zentren gebaut wurden. Im Schnitt kamen 1998 auf jedes Zentrum 59 000 Besucher. In Ostdeutschland haben allein 5,3 Millionen
Menschen die Zentren der Bundesvereinigung besucht.
Ich finde, dies ist eine herausragende Zahl.
({13})
Die Bekämpfung von Gewaltbereitschaft und Ausländerfeindlichkeit ist der Bundesregierung besonders wichtig. Sie hat daher noch im Jahr 2000 erhebliche Fördermittel für Modellprojekte bereitgestellt, die sich mit dem
Thema „Kultur und Konflikt“ beschäftigen.
({14})
Die Soziokultur hat eine emanzipatorische und integrative Wirkung, die sich aus ihrem freiheitlichen und demokratischen Ansatz entwickelt hat. Ich freue mich daher,
dass Staatsminister Nida-Rümelin heute in seiner ersten
Rede im Deutschen Bundestag zu diesem Thema sprechen wird.
({15})
Die soziokulturellen Zentren freuen sich natürlich über
die Würdigung ihrer Arbeit. Dies geschieht heute Abend.
Aber sie erwarten auch, dass in einer komplizierter werdenden Lebenswelt die finanzielle Ausstattung auf die
entsprechend komplizierter werdenden Aufgaben zugeschnitten wird.
Ich kann die Länder nur auffordern - der Bund ist
natürlich auch gemeint -, diese Politik im Sinne des Kulturföderalismus nachhaltig zu unterstützen. Dabei appelliere ich besonders an diejenigen Länder, die sich wie
Bayern bisher vornehm zurückgehalten haben. Vom Erfolg der Soziokultur profitieren wir schließlich alle.
Vielen Dank.
({16})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer
von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch im Namen der
F.D.P.-Fraktion möchte ich Ihnen, Herr Staatsminister
Professor Nida-Rümelin, sehr herzlich zu Ihrer Ernennung gratulieren. Ich wünsche Ihnen für Ihre sicherlich
nicht ganz einfache Aufgabe eine energische wie auch
glückliche Hand.
({0})
Der Begriff „Soziokultur“ ist einem Kommunalpolitiker, der in den westdeutschen Bundesländern in den 70erund 80er-Jahren aktiv gewesen ist, ganz selbstverständlich geworden. Dieser Begriff entwickelte sich mit der Arbeit der soziokulturellen Zentren, die in vielen Städten
und Gemeinden damals sozusagen als Kontrapunkt zu der
etablierten Kulturarbeit entstanden sind, die damals noch
eine hohe Zugangsschwelle aufwies. Die Soziokultur verstand sich als kulturelle Einrichtung für alle gesellschaftlichen Gruppen und stand vor allem auch für die Einbeziehung sozialer und ethnischer Minderheiten.
({1})
An dieser Konzeption hat sich bis heute nichts grundlegend geändert. Sie ist aber in dem Maße weiterentwickelt worden, wie es notwendig war. Immerhin besuchen jährlich etwa 22 Millionen Bürger die Veranstaltungen
in soziokulturellen Zentren wie Konzerte, Ausstellungen,
Kurse und Seminare. Der Bedarf an solchen Veranstaltungen, aber auch die Inanspruchnahme steigen. Daran
sieht man, dass soziokulturelle Zentren ein ganz selbstverständlicher Bestandteil der kulturellen Infrastruktur
von Kommunen sein müssen. So wird es auch in der Antwort auf die Große Anfrage formuliert.
Die Statistiken, die ebenfalls in der Antwort aufgeführt
werden, zeigen aber ein etwas anderes Bild. Soziokulturelle Zentren sind noch nicht ein selbstverständlicher Bestandteil kultureller Infrastruktur. In vielen Bereichen unseres Landes fehlen sie. Damit fehlt ein wichtiges Stück
alltagsorientierter und lebensweltorientierter Kulturarbeit
in den Gemeinden, die heute in einem sich sehr stark verändernden kulturellen Umfeld wichtiger denn je wird.
({2})
Diese Zentren stehen in Konkurrenz zu einer immer
stärker werdenden Event-Kultur. Wir leben in der Zeit der
Globalisierung der Märkte und der Mediatisierung.
Natürlich ist auch die Kultur von dieser Entwicklung betroffen. Die Frage ist nur, ob am Ende dieses Prozesses
eine kommerzielle World Culture steht, deren Grundgesetz das Wettbewerbsrecht, deren Verfassungsgericht die
World Trade Organization und deren Souverän Aktionäre
sind, oder ob wir eine Weltkultur im Sinne Goethes erhalten, die Ausdruck nicht nur wirtschaftlichen Erfolges,
sondern bedeutender humanitärer und künstlerischer
Leistungen aus dem Geist eigenständiger Kulturen ist.
({3})
Soziokultur erfährt vor dem Hintergrund der Globalisierung eine neue und bisher weder in der Großen Anfrage
noch in der Antwort auf diese Anfrage diskutierte BedeuHanna Wolf ({4})
tung. Im Mikrokosmos der Kommunen, der Stadtteile und
der Bezirke von Städten setzen soziokulturelle Zentren
einen individuell- und gruppenorientierten kreativen Gegenpol zur globalisierten Massenkultur. Die Globalisierung lässt Normen durch rasch wechselnde Informationslagen und durch undurchsichtige Verflechtungen
erodieren.
Bei immer mehr Menschen wächst damit das Verlangen nach Orientierung, nach neuen Angeboten und nach
neuen Erfahrungen. Allerdings wächst in gleichem Umfang offensichtlich auch das Bedürfnis nach einfachen
Erklärungen, nach Spiritualität ohne Religion und nach
Esoterik.
({5})
- In der Tat, Frau Kollegin, nach Esoterik.
Gerade diese letzten Tendenzen bergen allerdings die
Gefahr einer Fundamentalisierung. Das schafft einen Gegenpol und bedeutet eine zusätzliche Aufgabe für die Arbeit in den soziokulturellen Zentren. Das Angebot von
Kulturarbeit, die auf Werten und Normen aufbaut und damit zur Schaffung und zum Leben von Werten und Normen beitragen kann, und die freie Beschäftigung mit Kultur in Sozial- und Jugendpflege können entscheidend
dazu beitragen, den fundamentalen Ansprüchen vorzubeugen.
({6})
Kultur ist das Gegenmittel zu Intoleranz und Hass.
({7})
Kulturaustausch ist der Weg zu Weltoffenheit und Toleranz. Deswegen erfahren soziokulturelle Zentren gerade
in dieser globalisierten Welt eine neue Bedeutung.
Vor diesem Hintergrund erfährt auch die Finanzierung
von Soziokultur eine neue Dimension. Richtig ist natürlich, dass dies zuvörderst eine Aufgabe der Kommunen
ist. Dennoch stellt die Bundesregierung Mittel bereit und
hat offensichtlich vor, diese zu erhöhen; wir begrüßen das.
Nicht eingegangen ist die Bundesregierung aber auf das,
was in dieser Situation für den Fortbestand und die Arbeit
der soziokulturellen Zentren von entscheidender Bedeutung ist, nämlich eine Definition steuerlicher Rahmenbedingungen, die sie leben lässt, und zwar steuerlicher Rahmenbedingungen sowohl für den wirtschaftlichen Betrieb
- Frau Kollegin Wolf hat eben schon darauf hingewiesen,
dass über 50 Prozent der Finanzierung aus Eigeneinnahmen erfolgen; das bedeutet, dass hier ganz dringend steuerliche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen,
damit diese Eigeneinnahmen in der Kulturarbeit eingesetzt werden können - als auch für die Künstler.
Das ist eine Aufgabe, die die Bundesregierung noch
vor sich hat. Wenn sie sie in Angriff nehmen will, wird sie
von uns die entsprechende Unterstützung erfahren. Ich
denke, das ist notwendig.
Danke schön.
({8})
Als
nächster Redner hat der Kollege Christian Simmert vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
auch im Namen meiner Fraktion den Herrn Staatsminister
hier willkommen heißen und hoffe, dass wir in diesem
Haus - nicht nur heute, sondern auch in Zukunft - eine
gute Debatte und eine Reihe von spannenden Diskussionen haben werden und zu guten Entscheidungen kommen werden.
Soziokulturelle Zentren bieten einen Raum für die gegründete Initiative und für das Theaterprojekt genauso
wie für politische Debatten. Herr Lammert, wenn das
dazu führt, dass daraus das demokratische Recht eines
friedlichen Protestes entwickelt werden kann, dann begrüße ich das im Hinblick auf die Stärkung der Zivilgesellschaft. So viel zu Ihrem Einwurf, dass man das nicht
unter dem Label Kulturfinanzierung laufen lassen könne.
Politische Debatten - dies macht auch die Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage deutlich - spielen natürlich eine Rolle. Die soziokulturellen Zentren sind
heute ein Bestandteil der Demokratiebewegung von unten, ein Beweis für Selbstorganisation und gelebtes Miteinander. Es handelt sich dabei vor allem um einen Bereich, der bis heute neue Möglichkeiten des Mit- und
Nebeneinanders schafft, um einen Bereich, der neue
Arbeitsstrukturen in der Selbstorganisation so weit wie
möglich beibehalten hat, aber auch um einen Bereich im
Spannungsfeld zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen,
zwischen autonom und eingebunden in staatliche Förderstrukturen, zwischen Bedarfsorientierung und lang entwickeltem politischen Anspruch. Diese Gratwanderung
spiegelt sich auch in ihrem Verhältnis zur staatlichen Anbindung generell wider. Deshalb müssen wir differenziert
mit den soziokulturellen Zentren umgehen.
Als regionalgesellschaftliche Motoren sollen die Zentren möglichst aus Eigeninitiative entstehen und ihr Angebot an der Nachfrage der Menschen ausrichten. Deshalb dürfen sie auch nicht mit möglichst bundesweit
abgefragten Kriterien und Vorhaben zugeschüttet werden.
Sie brauchen aber gleichzeitig Planungssicherheit. Obwohl vielerorts die ehemals bisweilen doch recht konflikthafte Beziehung zu den kommunalen Parlamenten inzwischen einer guten Kooperation mit Kultur- und
Jugendhilfeausschüssen gewichen ist, fehlt es oftmals an
längerfristigen Zusagen über das aktuelle Haushaltsjahr
hinaus. Beauftragte für Soziokultur zum Beispiel wären
für die Zentren sicherlich eine große Hilfe.
Bei der Landesförderung sieht es oftmals ähnlich aus.
Das Land Bayern - wir haben es gerade schon gehört kennt die Soziokultur gar nicht und setzt stattdessen auf
Projektförderung bestimmter Sparten im kulturellen Bereich wie Musik oder Theater. Dies wird sich nun, liebe
Kolleginnen und Kollegen der CSU, die leider heute hier
nicht so zahlreich anwesend sind, nach der Beratung dieser Anfrage hoffentlich ändern.
Doch Planungssicherheit im Sinne der Sicherstellung
einer notwendigen Infrastruktur der soziokulturellen Zentren ist Grundlage der Arbeit vor Ort. Bürgerschaftliches
Engagement - das macht schließlich circa ein Drittel der
Aktiven aus - bedarf der hauptamtlichen Zuarbeit, der
festen Arbeits- und damit auch Koordinationsstrukturen.
Hauptamtliche brauchen aber auch für sich Planungssicherheit. Zielorientierte Weiterbildung ist hier wichtig.
Deshalb möchte ich auch in Zeiten leerer Kassen an die
Länder und Kommunen appellieren, diese bürgerorientierten Bereiche der Kulturarbeit wichtig zu nehmen und
ihre Existenz sicherzustellen.
({0})
Beispiele für eine mehrjährige Planungssicherheit wie
etwa in Essen machen hier Mut und ermöglichen erst eine
längerfristig angelegte Stadtteil- und Stadtentwicklungsarbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nun sind wir hier
nicht in Bayern oder in Nordrhein-Westfalen, sondern im
Deutschen Bundestag. Deshalb geht es hier natürlich vor
allem um die Rahmenbedingungen der Soziokultur. Die
Erfolgsgeschichte der Bottom-up-Kulturlandschaft sollte
im Rahmen der Kulturforschung stärkere Beachtung finden. Vor allem aber sollte die Vernetzungsstruktur und
damit Verbandskultur der soziokulturellen Zentren sichergestellt werden. Gerade als an der Basis entwickelte
Strukturen müssen sich die Zentren austauschen und voneinander lernen, aber auch in gesamtgesellschaftliche
Vorhaben integriert werden können.
Hier denke ich ganz besonders an einen Punkt, den wir
hier im Hause in den letzten Monaten immer wieder diskutiert haben - die Kollegin Wolf hat ihn angesprochen -:
die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Fremdenhass in diesem Land. Besonders in den neuen Bundesländern - aber nicht nur dort -, wo nach der Wende
viele Strukturen im kulturellen Bereich verschwunden
sind, wo sich kaum eine andere am Bedarf vor allem junger Menschen ausgerichtete Angebotsstruktur entwickelt
hat, leisten die soziokulturellen Zentren einen absolut
wichtigen Beitrag. Dieser Beitrag muss in den von der
Bundesregierung neu aufgelegten Programmen natürlich
Unterstützung finden. Denn ihre Kulturarbeit nimmt seit
gut einem Jahrzehnt eine der größten Herausforderungen
dieser Gesellschaft an, nämlich Generationen, Geschlechter und ethnische Minderheiten zusammenzuführen und
ihnen Möglichkeiten zur eigenen Verwirklichung zu geben.
Die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ stellt sich vielen Fragen, die auch
von den soziokulturellen Zentren an die Politik herangetragen werden.
Wir wollen klären, wie steuerrechtliche Hindernisse
für diese wichtige Kulturarbeit abgebaut werden können.
Dazu gehört die Entwicklung von Strategien, um die Zentren möglichst weitgehend auf eigene Füße zu stellen und
deshalb zu ermöglichen, erwirtschaftete Überschüsse in
andere Bereiche zu überführen. Die Zentren dürfen eben
nicht nur irgendwie dem Marktgeschehen überlassen werden. Hier muss die Enquete-Kommission Vorschläge erarbeiten und muss die Politik insgesamt handeln.
Wir stehen aber auch grundsätzlich vor der Herausforderung, den Bereich des freiwilligen Engagements in unserem Land neu zu regeln. Die aus grüner Sicht unausweichliche Konversion des Zivildienstes sowie die
Bereitschaft vieler junger Menschen zu freiwilligem Engagement machen dies notwendig. Deshalb schlagen
Bündnis 90/Die Grünen im Zusammenhang mit einer
Ausweitung des freiwilligen sozialen Jahres und des freiwilligen ökologischen Jahres ein freiwilliges kulturelles
Jahr als einen wichtigen Lerndienst vor.
({1})
Die Hauptamtlichenstruktur als eine Säule der Arbeit
der Zentren muss, wie bereits gesagt, hauptsächlich über
die öffentlichen Haushalte der Länder und Kommunen
sichergestellt werden. Die Bundesregierung sollte jedoch
prüfen, ob die Bundesvereinigung soziokultureller Zentren als Dachverband nicht zum Beispiel im Haushalt der
Bundesregierung verstärkt gefördert werden kann, um so
auch die Projektfinanzierung zu verstetigen. Sicherlich ist
es nicht wünschenswert, die Zentren grundsätzlich der Arbeitsmarktpolitik zu unterwerfen. Es wäre vielmehr wünschenswert, wenn bei der ABM-Zielgruppendefinition
der BA der soziokulturelle Bereich benannt werden
könnte. Denn Stellen schaffen Kultur und Kultur schafft
Stellen.
Herzlichen Dank.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Professor Dr. Heinrich
Fink von der PDS-Fraktion das Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße auch
die Mitarbeiter des Deutschen Kulturrates und die anwesenden Vertreter der Bundesvereinigung der soziokulturellen Zentren, die heute Abend zu so später Stunde noch
hier bei uns sind.
({0})
Staatsminister Nida-Rümelin hat gestern anlässlich
seines Introitus im Kulturausschuss erklärt, dass die Soziokultur nicht überflüssig ist. Denn die sozialen und kulturellen Spannungen haben zugenommen. Sie machen es
erforderlich, den Anspruch einer Kultur für alle in neuer
Weise aufzunehmen.
Meine Fraktion begrüßt, dass dieses Thema nun zum
Gegenstand der parlamentarischen Debatte auf Bundesebene geworden ist. Der Antwort der Bundesregierung
entnehmen wir eine hohe Wertschätzung dieses kulturellen Bereiches und die Absicht, die Soziokultur weiter zu
unterstützen. Die beabsichtigte Erhöhung der Mittel für
den Fonds „Soziokultur“ ab dem Jahre 2001 ist ein wichtiges förderpolitisches Signal. - So weit das Erfreuliche.
Problematisch aber ist die beschönigende Einschätzung der Situation. Die existenziellen Probleme der soziokulturellen Zentren in den Kommunen, die zu
Schließungen und zum Abbau von Angeboten vor allem
in den neuen Bundesländern führen, bleiben ebenso ausgeblendet wie die Finanz- und Legitimationskrise kommunaler Kulturpolitik. Offen bleibt, wie dieser Bereich
perspektivisch gesichert und seiner kulturellen Bedeutung
gemäß gefördert werden kann.
Die laufende Förderung ist im Wesentlichen Sache der
Kommunen und Länder. Aber der Bund setzt die Rahmenbedingungen für deren Arbeit. Es liegt eine ganze
Reihe von Reformvorschlägen der Kulturverbände vor,
so zum Beispiel zum Steuerrecht, zur Besteuerung ausländischer Künstler und zu den Bedingungen des Ehrenamtes, die, wie ich bisher gehört und gesehen habe, von
der Bundesregierung noch nicht aufgegriffen wurden. Die
Bundesvereinigung soziokultureller Zentren hat in ihrer
Stellungnahme erneut ihre Forderung an die Bundeskulturpolitik formuliert, die wir in wesentlichen Punkten unterstützen.
Aus Sicht der PDS ist entscheidend, die Finanzkraft
der Kommunen durch eine Gemeindefinanzreform zu
stärken. Die Kommunen müssen wieder in die Lage versetzt werden, ihre kulturellen Aufgaben wahrnehmen zu
können. Erst auf dieser Grundlage können sie wieder
Handlungsspielraum gewinnen und selbstbestimmt darüber entscheiden, wofür sie ihre Mittel ausgeben.
({1})
Wenn die vielgestaltige soziokulturelle Szene freier
Träger, die sich in den letzten Jahren auch in den neuen
Bundesländern entwickelt hat, weiterhin erhalten bleiben
soll, bedarf es einer kontinuierlichen Förderung und einer
Verankerung in den kommunalen Etats. Die Probleme
mangelnder struktureller Grundsicherung, kurzfristiger
Beschäftigungen über ABM-Stellen und des Ehrenamtes
als Dauerprovisorien müssen gelöst werden. Auch in diesem Bereich sind feste Stellen erforderlich, um die Kontinuität der Arbeit zu gewährleisten.
({2})
Wir halten es für dringend erforderlich, Lösungen für
die Probleme des zweiten Arbeitsmarktes zu finden. Wie
Sie wissen, setzt sich die PDS für eine öffentlich geförderte Beschäftigung im sozialen und kulturellen Bereich
ein. Im Gegensatz zum instabilen und diskriminierenden
Charakter der jetzigen Arbeitsfördermaßnahmen sollen
hier Beschäftigungsverhältnisse entstehen, die auf Dauer
angelegt sind und nach Tarif bezahlt werden.
Von der Bundesregierung erwarten wir, dass sie dem
Hohelied auf die Soziokultur entsprechende Taten folgen
lässt. Ein wichtiger Schritt zur Unterstützung der soziokulturellen Praxis wäre die institutionelle Förderung der
Bundesvereinigung soziokultureller Zentren. Diese war
zugesagt. Lösen Sie dieses Versprechen ein!
Vielen Dank.
({3})
Jetzt hat
der Staatsminister für Kultur, Herr Nida-Rümelin, das
Wort.
Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister beim Bundeskanzler ({0}): Herr Präsident! Verehrte Damen
und Herren Abgeordnete! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn ich mich nicht irre, wurde heute vor 130 Jahren der preußische König Wilhelm in Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen. Das war erst möglich, nachdem
der bayerische König ihm die Kaiserwürde angetragen
hat. Ich halte das für eine ganz gute Verbindung und - verstehen Sie die Tendenz, dass sich Bayern offensichtlich in
Berlin zunehmend Berliner oder - wenn Sie so wollen preußischen Dienstherren unterstellen, nicht falsch - Bayern und Preußen für unterdessen gleichberechtigt. Das
wird auch - so habe ich es verstanden - durch die Anwesenheit des Staatsministers aus Bayern, dort zuständig für
Kunst und Wissenschaft, unterstrichen.
In den 70er-Jahren hat es einen großen Aufbruch gegeben. Es ist vielleicht nur ein Gebot der Fairness, daran
zu erinnern, dass dieser Aufbruch, ein Aufbruch zu neuen
Ufern der Kulturpolitik, ein Paradigmenwechsel, politisch sehr umstritten war. Es ging im Kern darum, von einem - ich sage das ganz bewusst, auch wenn ich vielleicht
familiär aus einer ähnlichen Tradition komme - bildungsbürgerlich verengten Kulturbegriff wegzukommen und
die Partizipation, die Teilhabe oder - so könnte man in einem nächsten Schritt sagen - die kulturelle Verfasstheit
dieser Gesellschaft ernst zu nehmen.
({1})
In meinen Augen ist dieser Aufbruch in einem Maße erfolgreich gewesen, wie es wohl die Protagonisten dieser
Zeit selbst kaum gemeint haben. Da will ich vielleicht
noch etwas deutlicher werden als in der Ihnen schriftlich
vorliegenden Antwort der Bundesregierung. Alle statistischen Daten zeigen, dass die kulturelle Partizipation der
Bevölkerung in Deutschland in einem Maße angestiegen
ist - und dass das letztlich eine Folge dieser Jahre des Aufbruchs ist -, wie wir alle es im Grunde - oder die, die damals aktiv waren - nicht haben erhoffen können. Das ist
erst mal ein toller Erfolg, ein Erfolg der Kulturpolitik insgesamt in Deutschland.
({2})
Drei Dinge sind wesentlich für mich und ich habe
- auch aus zweieinhalb Jahren Kulturpolitik in der Kommune München - den Eindruck, dass das unterdessen eine
Art politischer Konsens ist: zum Ersten erweiterter
Kulturbegriff, also nicht die besagte Engführung, zum
Zweiten als ein zentrales Ziel - und das hängt mit dem ersten zusammen - Partizipation, die Einbeziehung auch derjenigen, die von ihrer Sozialisation, von ihrem sozialen
Hintergrund her Zugangsbarrieren vor den kulturellen
Angeboten überwinden müssen, und schließlich - und das
wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten immer wichtiger werden - der Aspekt der kulturellen Integration.
In einem Land, das so stark wie das unsere von Einwanderung geprägt war - das ist unterdessen auch weithin anerkannt - und in Zukunft von mehr Einwanderung geprägt
sein wird, ist das eine Herausforderung an die Kulturpolitik insgesamt.
({3})
Mein Eindruck ist, dass die Soziokultur die Grundlage für
ein solches Verständnis kultureller Integration gelegt hat.
Jetzt bringe ich noch ein Aber. Dieses Aber nehme ich
sehr wichtig, es darf aber auch nicht missverstanden werden. Wenn Sie zurückblicken, stellen Sie fest: Seit den
70er-Jahren hat es mehrere Versuche gegeben, die Kulturpolitik zu instrumentalisieren. Ich halte keinen dieser
Versuche für die Kultur, für die Rolle der Kunst, auch dem
Stellenwert, den Kultur in der Lebensform jedes Bürgers
und jeder Bürgerin einnimmt, angemessen,
({4})
weder die ökonomische Instrumentalisierung, die wir vor
allem aus den 80er- und den frühen 90er-Jahren sehr stark
in Erinnerung haben - der Standortfaktor Kultur kann
nicht alles sein; es kann ein Randaspekt sein, ist aber nicht
das zentrale Moment -, noch die soziale Instrumentalisierung. Kultur legitimiert sich nicht lediglich dadurch, ein
soziales Bindemittel zu sein und die Beteiligung an kulturellen Einrichtungen zu erleichtern.
({5})
Meine Vorredner haben die wesentlichen Daten schon
genannt. Es kann keine Rede davon sein, dass die Soziokultur ihren Höhepunkt etwa überschritten habe und ihre
Bedeutung nun wieder zurückgehe - die Daten sind in der
Antwort enthalten -: Es gibt ein Plus von 30 Prozent zwischen 1994 und 1998 auf 22 Millionen Besucher und eine
Gesamtförderung in Höhe von 160 Millionen DM.
Eine Zahl aber ist nicht genannt worden und die finde
ich faszinierend: Bei dem Gesamt der kulturellen Angebote in den Kommunen, in den Ländern und auch im
Bund sind die Adressaten in der Tendenz älter als der Bevölkerungsdurchschnitt. Daneben gibt es eine spezifische
Förderung der Jugend- und Kinderkultur, also der Phase
der kulturellen Entwicklung, die noch sehr stark von der
Familie geprägt ist. Die Jahre dazwischen - also von etwa
15 bis 30 Jahren - sind für die Kulturpolitik nicht so stark
prägend. Typischerweise entfernen sich diese Jahrgänge
stärker von den kulturellen Angeboten der Kommunen
und der Gemeinden. Auch dazu gibt es Daten, allerdings
nicht in dieser Antwort. Das Interessante ist, dass 50 Prozent der Besucher soziokultureller Einrichtungen zwischen 15 und 30 Jahre alt sind. Das ist ein weit überproportionaler Anteil an der Bevölkerung. Das ist ein großes
Kompliment für die kulturellen Einrichtungen, die der
Staat anbietet.
({6})
Es ist von den Gefahren gesprochen worden und es
wurde zu Recht darauf hingewiesen, man solle beachten,
dass gerade die Einrichtungen der Soziokultur unter den
in den Kommunen gegebenen beengten Bedingungen oft
in Schwierigkeiten geraten. Darauf ist nur am Rande eingegangen worden, aber ich möchte das in Erinnerung rufen. Auch dieser Punkt ist in der Antwort enthalten. Es
gibt eine spezifische Herausforderung, die ich darin sehe,
dass der Markt Angebote unterbreitet, die er früher nicht
unterbreitet hat. Das kann man erst einmal begrüßen. Es
ist gut, wenn der Markt kulturelle Angebote macht, die
auch nachgefragt werden. Darin liegt aber auch eine Gefahr. Und zwar könnte das öffentliche Gut Kultur - öffentliches Gut heißt auch zugängliches Gut, ein Gut, das
für alle gleichermaßen zugänglich ist - zu einem teilbaren, zu einem individuellem Gut werden, das je nach
Geldbeutel konsumiert wird; bitte erlauben Sie diesen unpassenden Begriff.
({7})
Deswegen halte ich es für ganz wichtig, dass man die soziokulturellen Zentren angesichts dieser Konkurrenz
stärkt.
({8})
Ich möchte drei Stichworte zu den Perspektiven nennen. Erstens. Viele soziokulturelle Einrichtungen bedürfen heute der professionellen Unterstützung in einem
höheren Maße, als das in der Vergangenheit der Fall war eine Erfahrung, die ich auch in München gemacht habe.
Das hängt auch mit dem Verhalten der Bürgerinnen und
Bürger zusammen, die langfristige Bindungen und Engagement in der Form, wie wir das aus der Vergangenheit
kannten, so nicht mehr praktizieren. Als Stichwort ist also
Teilprofessionalisierung zu nennen. Zunehmende Professionalisierung in diesen Einrichtungen wiederspricht
nicht dem zivilgesellschaftlichen Gedanken.
Als zweites Stichwort ist die interkulturelle Verständigung zu nennen. Interkulturelle Verständigung ist eine
ganz wichtige Aufgabe soziokultureller Zentren, und
zwar nicht in dem kollektivistischen Verständnis, dass
sich Gruppen begegnen. Es begegnen sich immer einzelne
Bürgerinnen und Bürger.
({9})
Keine Klischees, keine simplen, oft auf Folklore verkürzten Verständnisse der kulturellen Herkunft, sondern die
Begegnung der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer jeweiligen kulturellen Vielfalt stehen im Vordergrund.
Zum Dritten möchte ich schließlich etwas ansprechen,
das weit über den Bereich der Soziokultur hinausreicht.
Durch die stärkere Integration gerade der zeitgenössischen, oft unbequemen Kunst müssen neue inhaltliche
Impulse in die Lebenswelt der Bürgerschaft ausgesendet
werden. Das kann nirgendwo besser als in solchen soziokulturellen Zentren geleistet werden.
({10})
Staatsminister Dr. Julian Nida-Rümelin
Weil dies der Beginn einer Zusammenarbeit ist, erlauben Sie mir zum Schluss, dass ich drei Stichworte für die
Kulturarbeit und die Kulturpolitik generell aufgreife, die
auch für die Soziokultur eine wichtige Rolle spielen. Das
eine ist - darum muss es uns gemeinsam gehen -, die Balance zwischen Repertoire und Innovation zu wahren
oder, wo sie nicht besteht, wieder herzustellen. Wir müssen aufpassen, dass die Fortentwicklung der Künste keinen Fadenriss bekommt. Es gibt Sparten, um die ich mir
Sorgen mache, zum Beispiel E-Musik. Also: Innovation
stärken. Das Repertoire ist stark, muss aber natürlich gefördert werden. Wir müssen aufpassen, dass wir die zeitgenössische Kunstentwicklung nicht aus dem Blick verlieren.
({11})
Zweites Stichwort: Die eigentlichen Protagonisten der
Kultur sind die Künstlerinnen und Künstler. Sie schaffen
und arbeiten unter oft sehr schwierigen Bedingungen. Es
besteht nach wie vor ein krasses Missverhältnis zwischen
dem expandierenden Markt mit künstlerischen Produkten
auf der einen Seite und den Existenzbedingungen der vielen, der großen Mehrzahl der Künstlerinnen und Künstler
in diesem Land auf der anderen Seite. Ich glaube, die
Förderung der eigentlichen Protagonisten der Kultur
muss im Mittelpunkt jeder Kulturpolitik stehen.
({12})
Letztes Stichwort: Zivilgesellschaft. Sie wurde heute
schon angesprochen. In den soziokulturellen Zentren ist
ein Ferment zivilgesellschaftlichen Engagements. Sie stehen an der Schnittstelle zwischen Staat und bürgerschaftlichem Engagement. Ohne staatliche Unterstützung würden viele soziokulturelle Zentren nicht existieren können.
Das heißt, sie sind gewissermaßen ein Angebot in der demokratischen Gesellschaft an die Bürgerschaft und an den
Staat, zusammenzuwirken, um diese Form von Kooperationen aufrechtzuerhalten. Die Zivilgesellschaft ist etwas,
das gerade unter den erschwerten Bedingungen von Desintegration und sozialer Marginalisierung besonders auch
in den Städten bedroht ist. Die Zivilgesellschaft muss das
aushalten und Gegenkräfte entwickeln.
({13})
Die Kulturpolitik - auch die Kulturpolitik des Bundes wird, so hoffe ich, dazu beitragen. Ich jedenfalls freue
mich sehr auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.
({14})
Herr
Staatsminister, ich beglückwünsche Sie im Namen des
Hauses zu Ihrer ersten Rede vor dem Deutschen Bundestag.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Eine Abstimmung steht
nicht an, da es sich um die Beratung einer Großen Anfrage
handelt.
Deshalb rufe ich jetzt die Tagesordnungspunkte 20 a
und 20 b sowie den Zusatzpunkt 7 auf:
20a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Künstlersozialversicherungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 14/5066 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Irmgard Schwaetzer, Hans-Joachim Otto ({2}), Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Reform der Künstlersozialversicherung gerecht gestalten
- Drucksache 14/4929 ({3}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({4})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Heinrich Fink, Dr. Heidi Knake-Werner, Pia
Maier, Maritta Böttcher und der Fraktion der PDS
Für eine grundlegende Reform der Künstlersozialversicherung
- Drucksache 14/5086 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({5})
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Auch hier gibt es eine Vereinbarung, dass die Reden zu
Protokoll gegeben werden. Ich setze Ihr Einverständnis
voraus. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen
und Kollegen Angelika Krüger-Leißner, Andreas Storm,
Dr. Antje Vollmer, Dr. Irmgard Schwaetzer, Heinrich Fink
und der Parlamentarischen Staatssekretärin Ulrike
Mascher.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/5066, 14/4929 neu und 14/5086 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christina Schenk, Dr. Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke,
Staatsminister Dr. Julian Nida-Rümelin
1) Anlage 7
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der PDS
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur beruflichen Gleichstellung von Prostituierten und
anderer sexuell Dienstleistender
- Drucksache 14/4456 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({6})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Gesundheit
Es werden eine Reihe von Reden zu Protokoll gegeben,
nämlich die der Kolleginnen Anni Brandt-Elsweier,
Margot von Renesse, Ilse Falk, Irmingard Schewe-Gerigk
und Ina Lenke.1) Die Kollegin Christina Schenk von der
PDS-Fraktion wird ihre Rede halten.
Frau Schenk, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Prostitution ist in Deutschland nicht verboten, aber nach wie vor als Beruf nicht anerkannt. Wir
haben es mit einer Doppelmoral zu tun, die Prostituierte
heimlich begehrt und zugleich öffentlich verschmäht.
Mehr als eine Million Männer und auch einige Frauen
nehmen täglich die Dienste von Prostituierten in Anspruch; unter ihnen Banker, Bauarbeiter und Politiker. Allein stehende Männer gehören genauso zu den Kunden
wie verheiratete Familienväter. Jährlich werden in diesem
Bereich etwa 12,5 Milliarden DM umgesetzt. Der Staat
hält das Steuersäckel offen und verdient kräftig mit.
Ich erinnere mich noch gut an die Debatte zu diesem
Thema in der vergangenen Legislaturperiode. Unter den
damaligen Oppositionsparteien SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und PDS herrschte Einigkeit darüber, dass die
Diskriminierung der beruflichen Tätigkeit von Prostituierten beendet werden müsse. Selbst vonseiten der CDU
wurde die Doppelmoral beklagt. Entsprechend hoffnungsvoll las sich dann auch die rot-grüne Koalitionsvereinbarung, in der versprochen wurde, die rechtliche und
soziale Situation von Prostituierten zu verbessern. Leider
ist es bei den Willensbekundungen und Ankündigungen
geblieben.
Daher hat die PDS einen Gesetzentwurf vorgelegt, der
die berufliche Anerkennung von Anbietern sexueller
Dienstleistungen vorsieht. Zunächst wird in dem Gesetzentwurf klargestellt, dass das Verdikt der Sittenwidrigkeit für sexuelle Dienstleistungen nicht zutrifft, indem
diese in das Dienstvertragsrecht des BGB eingeordnet
werden. Damit wären die zwischen Prostituierten und
Freiern geschlossenen Verträge ebenso rechtswirksam
wie die über die Erbringung anderer Dienstleistungen.
Des Weiteren sollen alle strafrechtlichen Sondervorschriften gestrichen werden, die die freie Berufsausübung
von Prostituierten und Strichern behindern bzw. verhindern. Aufgehoben werden sollen auch die Sperrgebietsverordnung und das Werbeverbot für Prostitution.
Die Beseitigung der rechtlichen Diskriminierung von
Prostituierten ist lange überfällig. Erst vor kurzem hat ein
Berliner Gericht klargestellt, dass Prostitution nicht länger als sittenwidrig gelten kann. Es hatte im Vorfeld seiner Urteilsfindung Stellungnahmen von einer Vielzahl
von gesellschaftlichen Institutionen und Gruppen eingeholt. Die Antworten - seien es die vom Deutschen Juristinnenbund, von der Industrie- und Handelskammer oder
von der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen - haben die Richter zu dem Schluss geführt, dass
Prostitution heute von der Mehrheit der Bevölkerung als
„Teil unseres Zusammenlebens“ akzeptiert wird. Das
deckt sich mit Umfrageergebnissen aus dem Jahr 1999,
nach denen mehr als 68 Prozent der Bundesbürger und
Bundesbürgerinnen eine rechtliche Anerkennung von
Prostituierten befürworten. Die notwendige Akzeptanz
für ein solches Gesetzesvorhaben ist also da.
Das Problem ist klar und die Lösung liegt auf der Hand.
Wir haben es - so meine ich - in diesem Fall mit einer
rechtlich durchaus übersichtlichen und nicht sonderlich
komplizierten Materie zu tun. Ich habe deshalb überhaupt
kein Verständnis für weitere Verzögerungen. Die Huren
und Stricher erwarten, dass endlich etwas geschieht.
({0})
Ich bedaure auch, dass von den anderen Fraktionen die
Reden zu Protokoll gegeben worden sind und somit das
Angebot zu einem ersten Austausch über unseren Gesetz-
entwurf von Ihnen ausgeschlagen wird.
Das Problem ist: Noch immer gilt Prostitution als sit-
tenwidrig - mit den allgemein bekannten Folgen: Prosti-
tuierte dürfen zwar Steuern auf ihre Arbeit zahlen, können
aber nicht ihren Lohn einklagen. Sie müssen gegen Vor-
kasse arbeiten, weil sie im Nachhinein gegen den Freier
keinerlei Ansprüche haben. Ein Freier, der die Prostitu-
ierte um das vereinbarte Entgelt prellt, macht sich nicht
einmal wegen Betruges strafbar. Prostituierte können
keine regulären Arbeitsverträge mit Clubs oder Bordellen
abschließen und der Zugang zu den Sozialkassen ist ihnen
verwehrt. Diverse Strafvorschriften, die vorgeblich die
Frauen vor Ausbeutung schützen sollen, bewirken genau
das Gegenteil: Die Bordellbetreiberin, die für gute Ar-
beitsbedingungen sorgt, macht sich strafbar. Da reicht es
schon, wenn im Zimmer ein Waschbecken vorhanden ist
oder Kondome - ein sicherlich unerlässliches Arbeitsmit-
tel - bereitliegen. Hingegen genießt der Betreiber eines
Eros-Centers, der lediglich eine überhöhte Zimmermiete
kassiert und sonst nichts leistet, den Schutz der Rechts-
lage und bleibt straffrei.
Die Sperrgebietsverordnung, die es den Gemeinden
gestattet, Prostitution auf bestimmte Straßenzüge oder
Gebiete zu begrenzen, drängt Prostituierte und Stricher
geradezu in die Hände von Zuhältern und abzockenden
Hausbesitzern. Besonders pikant ist, dass Prostituierte
aufgrund des Werbeverbotes in ihren Anzeigen nicht ein-
mal darauf hinweisen dürfen, dass sie ausschließlich
Safer Sex praktizieren.
Ich fordere insbesondere Sie, meine Damen und Her-
ren von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen, auf,
endlich zu Potte zu kommen, entweder etwas Eigenes vor-
zulegen oder sich intensiv mit dem Gesetzentwurf der
PDS zu befassen. Ich persönlich bin davon überzeugt,
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
1) Anlage 8
dass unser Gesetzentwurf die Basis für die weiteren Beratungen darstellt und unter Umständen sogar die Basis
für einen gemeinsamen, parteiübergreifenden Konsens,
wie er sich bereits in der 13. Legislaturperiode abgezeichnet hat, sein kann. In diesem Sinne kann ich Ihnen
versichern: Die PDS ist zu einer zügigen Beratung in den
Ausschüssen bereit. Wir erwarten, dass bald etwas geschieht.
Danke.
({1})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/4456 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hildebrecht Braun ({0}), Rainer Brüderle,
Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Senkung des Entgelts für die Beförderung von
Briefsendungen im Geltungsbereich der Exklusivlizenz nach § 51 Postgesetz
- Drucksache 14/4417 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Hierzu werden die Reden zu Protokoll gegeben, und
zwar die von den Kollegen Klaus Barthel ({1}),
Elmar Müller ({2}), Rainer Funke, Gerhard
Jüttemann, der Kollegin Michaele Hustedt1) sowie des
Parlamentarischen Staatssekretärs Siegmar Mosdorf.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4417 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({3}), Wolfgang Zeitlmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Personenstandsgesetzes
- Drucksache 14/4425 ({4}) Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Die Reden sind zu Protokoll gegeben, und zwar die des
Kollegen Harald Friese und der Kolleginnen Renate
Diemers, Irmingard Schewe-Gerigk, Ina Lenke und Hei-
demarie Lüth.2)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/4425 ({6}) an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Krankenhausfinanzierungsgesetzes und
der Bundespflegesatzverordnung ({7})
- Drucksache 14/5082 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Auch hier werden die Reden zu Protokoll gegeben, und
zwar die der Kollegen Horst Schmidbauer ({8}), Dr.
Hans Georg Faust, Dr. Dieter Thomae und der Kollegin-
nen Katrin Göring-Eckardt und Dr. Ruth Fuchs.3)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/5082 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 19. Januar 2001, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.