Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Danke schön. - Ich
bitte zunächst darum, Fragen zu dem Themenbereich zu
stellen, über den soeben berichtet wurde. Ich erteile als
Erstem dem Kollegen Gerald Weiß, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Frau Ministerin, Sie erwähnten unter anderem die pflegerische Versorgung altersverwirrter, demenzkranker Personen. Auf
diesem Feld hat es seitens Ihrer Regierung eine Vielzahl
von Versprechungen und Ankündigungen gegeben. Wann
wird Ihre Regierung konkret mit einem Entwurf zur Änderung im Bereich der Pflegeversicherung vorstellig, mit
dem die Versorgung Altersdementer im Hinblick auf das
Leistungsangebot auf eine neue Grundlage gestellt wird?
Bitte schön, Herr
Staatssekretär.
Sie haben sich auf die Ankündigung der ehemaligen Ministerin Frau Fischer bezogen,
dass Leistungen für Demenzerkrankte im Rahmen der
Pflegeversicherung verbessert werden sollen. Es handelte
sich zum einen um ein verbessertes Tagespflegeangebot
für die betroffene Personengruppe und zum anderen um
die Förderung von Initiativen durch ein so genanntes Baukastensystem, zum Beispiel im Bereich von Betreuungsgruppen.
Sie haben ja sicherlich mitbekommen, dass es einen
Wechsel an der Spitze des Hauses gegeben hat. Die neue
Ministerin wird diese fast bis zur Gesetzesreife gelangten
Arbeiten prüfen und bewerten und dann zu entscheiden haben, ob sie sich diese Initiative in unveränderter Form zu
Eigen macht oder nicht. Ich rechne damit, dass in Kürze
eine entsprechende Entscheidung getroffen werden wird.
Zusatzfrage, bitte
schön.
Ich stelle
fest: Die Frage nach dem Wann können Sie nicht, zumindest nicht präzise, beantworten.
Ich möchte eine weitere Frage stellen: Was werden Sie,
Frau Ministerin, tun, um dem Grundsatz „Rehabilitation
vor Pflege“ in der Praxis stärkeres Gewicht zu verleihen?
Bitte schön.
In dem vorliegenden
Bericht sind sehr ausführliche Aussagen zu den Themen
Rehabilitation und Prävention gemacht worden. Ich denke,
dass das, was im entsprechenden Sozialgesetzbuch als
Richtschnur festgelegt ist, nämlich dass Rehabilitation
eine wichtige Möglichkeit ist, um spätere Pflegebedürftigkeit ein Stück weit zu verhindern, nach wie vor gilt.
Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir im Rahmen der
Gesundheitsreform 2000 wieder Möglichkeiten eingeräumt, entsprechende Maßnahmen in stärkerem Maße bei
den Krankenkassen abzurechnen. Es ist eine gute Richtschnur für politisches Handeln, wenn man sowohl die
Prävention als auch die Rehabilitation in diesem Bereich
stärker ausbaut. Hier gibt es durchaus Handlungs- und
Verhandlungsbedarf. Daran möchte ich keinen Zweifel
lassen.
Das Wort zur nächsten Frage erteile ich dem Kollegen Arne Fuhrmann.
Frau Ministerin, wenn man
sich die demographische Entwicklung, die Sie vorhin angesprochen haben, anschaut und sich das Schlagwort vom
lebenslangen Lernen in Erinnerung ruft, dann stellt man
fest, dass die nachberufliche Phase immer länger wird und
deswegen eine völlig andere Bedeutung bekommt. Inwieweit sind neue Aktivitäten im Bereich der Weiterbildungsmaßnahmen gerade für Ältere in Planung und stimmen sich die Ressorts in diesem Bereich ab?
Frau Ministerin.
Es geht um zwei
Dinge. Sie haben gesagt, dass es eine lange Phase des
nachberuflichen Lebens gibt, die für die meisten Menschen eine aktive Phase ist. Ich erlebe immer wieder, dass
die Älteren sehr bildungshungrig sind. Vor diesem Hintergrund kann ich die Entwicklung bei den Seniorenakademien nur als sehr positiv bezeichnen. Die Zahl
der Seniorenakademien hat sich vergrößert. Entsprechende Abstimmungen werden vorgenommen. Die Bildungsministerin unterstützt diese Entwicklung. Wir versuchen zum Beispiel, durch Internetcafés das Thema
„Senioren und Internet“ voranzubringen. Es ist erstaunlich, wie gut manche Älteren im Internet surfen können.
Sie können mit ihren Enkeln mittlerweile ganz gut mithalten. Alle Angebote, die wir den Älteren in diesem Bereich machen, werden genutzt. Deshalb möchte ich die
Bitte äußern, solche Initiativen auf der kommunalen
Ebene mit zu unterstützen. Wir bieten auch eine Datenbank an, in der sich die Kommunen informieren können,
welche Aktivitäten sie den Seniorinnen und Senioren
noch anbieten können.
Die Sachverständigenkommission hat aber noch auf einen weiteren Punkt hingewiesen, der nach meiner Meinung sehr wichtig ist. Sie hat noch einmal darauf hingewiesen, dass es eine große Diskrepanz zwischen der
demographischen Entwicklung - das heißt, wir werden
immer älter - und der Tatsache gibt, dass wir immer weniger über 50-Jährige im Arbeitsmarkt vorfinden, obwohl
wir wissen, dass die über 50-Jährigen noch voll in der Materie sind und in den Unternehmen durchaus wichtig sind.
Das heißt, bei Rationalisierungen, bei Personalabbau ist
diese Altersgruppe diejenige, die sehr gerne zuerst geht,
im Unterschied zu der Situation, wie wir sie aus den
neuen Ländern kennen, wo sehr viele unfreiwillig und
sehr früh aus dem Erwerbsleben ausscheiden mussten.
Wir wissen jedoch, dass wir - noch nicht im Jahre 2001
oder 2002, aber auf längere Sicht - stärker auf ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angewiesen sein werden. Daher müssen wir unserer Ansicht nach darauf achten - das ist ein Stück weit ein Ergebnis der Arbeit der
Kommission -, dass die Weiterbildungsprozesse - wir reden alle über lebenslanges Lernen - in den Unternehmen
und außerhalb der Unternehmen so gestaltet werden, dass
die Älteren miteinbezogen werden. Es darf nicht bei den
40-Jährigen Schluss sein nach dem Motto: Es lohnt sich
nicht mehr, weil sie eh nicht mehr lange da sind. Ich
glaube, es ist bei der Planung von Personalmaßnahmen,
von Weiterbildung, von lebenslangem Lernen unter Einbeziehung der älteren Gruppe eine ganz andere Richtung
notwendig.
Kollegin Eichhorn,
bitte.
Frau Ministerin, in
dem Bericht wird zu der viel gepriesenen Altenpflege
nach dem neuen Gesetz festgestellt, dass von einer Deprofessionalisierung gesprochen werden kann. Tatsache
ist, dass die Ausbildungsstandards gesenkt wurden.
Außerdem ist festzustellen, dass die Umsetzung des Gesetzes äußerst problematisch ist. Tatsache ist auch, dass
wir zu wenig Pflegekräfte haben. Ich frage Sie: Was gedenken Sie zu tun, damit mehr Menschen als bisher den
Beruf des Altenpflegers bzw. der Altenpflegerin ergreifen?
Zweite Frage. Die Sachverständigen konstatieren auch
eine drohende zunehmende Altersarmut. Sie stellen dazu
in dem Altenbericht lediglich fest, dass der Anteil der Sozialhilfeempfänger bei älteren Menschen geringer ist als
im Durchschnitt der Bevölkerung. Ich denke, das ist zu
billig; denn auch bei der Rentenreform haben die Fachleute ständig festgestellt, dass eine zunehmende Altersarmut droht. Sie haben im Zuge der Änderung des Rentenreformgesetzes zwar viele Vorschläge gemacht, aber
bezüglich der sozialen Sicherung der Frauen substanziell
überhaupt nichts verbessert. Was gedenken Sie insbesondere im Bereich der Hinterbliebenenrente zu tun, damit
Frauen nicht noch mehr in Altersarmut fallen?
Frau Ministerin.
Sie haben zwei
Punkte angesprochen, deren Darstellung nicht ganz dem
Sachverhalt entsprach.
Ich fange mit dem ersten Punkt an. Dabei geht es um
die bundeseinheitliche Altenpflegerausbildung. Ich weiß
nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass hier deprofessionalisiert wird oder dass es einen Abbau gibt. Die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung ist noch in Arbeit. Es
wäre gut, wenn sich alle kräftig daran beteiligen würden.
({0})
Sie haben den Pflegenotstand angesprochen. Ich kann
Ihnen sagen, woher dieser Pflegenotstand auch kommt,
nämlich daher, dass wir keine bundeseinheitliche Ausbildung haben und es Länder - unter anderem Bayern - gibt,
die keine Ausbildungsvergütung bezahlen.
({1})
Das wird sich zum 1. August dieses Jahres ändern. Wir
wollen eine Ausbildungsvergütung für alle und bundesweit die Erstausbildung in diesem Bereich. Wir haben hier
berufliche Aufstiegsmöglichkeiten geschaffen. Das heißt,
es gibt eine Aufwertung in diesem Beruf, was dazu führen
wird - davon gehe ich aus -, dass sich junge Leute für diesen Beruf entscheiden, sodass das, was an Pflegepersonal
benötigt wird, nicht nur durch Umschulung gewonnen
wird.
Ich sehe darin einen ganz wesentlichen Fortschritt. Das
sehen übrigens auch die Pflegeverbände in Bayern so. Sie
selbst haben in Bayern ja auch festgestellt, dass das mit
der zweijährigen Ausbildung wohl nicht mehr so ganz das
Wahre ist.
Dass wir das auf eine ordentliche Basis stellen, durch
eine bundeseinheitliche dreijährige Ausbildung und eine
Ausbildungsvergütung und die Erarbeitung einer ordentlichen Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, halte ich
für eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass wir in diesem Bereich wieder Nachwuchs bekommen, Nachwuchs,
der auch eine Aufstiegschance hat, und dass auch in der
Gesellschaft klar wird, dass das eine wichtige Arbeit ist,
die man nicht einfach so nebenher macht, weil man vielleicht schon einmal Erfahrungen bei der Pflege in der Familie gesammelt hat, sondern für die man entsprechende
medizinische Kenntnisse braucht. Wir könnten noch eine
halbe Stunde darüber reden. Es handelt sich um ein altes
Streitthema zwischen uns.
Ich bin froh, dass wir nach zehn Jahren endlich so weit
sind, dass wir diesen Beruf - wie wir wissen, ist er in der
Regel ein Frauenberuf - aufwerten.
({2})
Eine Nachfrage der
Kollegin Eichhorn.
Frau Ministerin, ich
darf feststellen, dass der Standard der Altenpflegeausbildung in Bayern sehr hoch ist. Gerade die Fachverbände
stellen fest, dass die bundeseinheitliche Altenpflege, wie
sie jetzt konzipiert ist, aufgrund der veränderten Ausbildungsbedingungen nicht dazu anregt, dass sich mehr
Menschen für die Altenpflege entscheiden. Darum stelle
ich noch einmal die Frage: Was gedenken Sie zu tun, damit sich mehr Menschen für die Altenpflege entscheiden?
Offensichtlich reicht das, was durch das Gesetz getan
wird, nicht. Im Gegenteil: Es ist kontraproduktiv.
Frau Ministerin.
Das behaupten Sie.
Ich will dazu nur Folgendes sagen: Ich war vor nicht allzu
langer Zeit beim Altenpflegetag in Bayern. Dort hat der
Staatssekretär des zuständigen Ministeriums erklärt, dass
die zweijährige Ausbildung keine Zukunft habe. Man
wolle zwar keine bundeseinheitliche, aber eine dreijährige Ausbildung. Es scheint in Bayern gewisse Zweifel
daran zu geben, ob das, was man dort im Moment macht,
der Stein der Weisen ist. Aber ich möchte aus der Angelegenheit keine Auseinandersetzung zwischen Bayern und
dem Bund machen.
Ich möchte deutlich sagen: Unserem Vorhaben haben
die Länder und die Verbände ihre Zustimmung gegeben.
Das Gesetz ist noch nicht in Kraft; es wird erst im August
in Kraft treten. Wir brauchen - das sage ich noch einmal die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung. Ich gehe davon aus, dass wir unter den veränderten Bedingungen
mehr Menschen finden werden, die in diesem Beruf arbeiten. Es ist zum Beispiel ein Unding, wenn man keine
Ausbildungsvergütung zahlt. Wie sollen Frauen - das
muss mir einmal jemand erklären - während der dreijährigen Ausbildung ihren Lebensunterhalt verdienen?
Ich gehe davon aus, dass wir die Bedingungen dafür geschaffen haben.
Sie haben das Thema Rente angesprochen. Ihre Wahrnehmung ist selektiv. In diesem Rentenpaket sind eine
ganze Menge Punkte enthalten, mit denen die Situation
der Frauen stark verbessert wird. Das Problem der Altersarmut fällt in den Bereich der jetzt anstehenden Rentenreform. Ich nehme Ihnen ab, dass Ihnen das Thema am
Herzen liegt. Wir wollen, dass diejenigen, denen eigentlich ergänzende Sozialhilfe zusteht - ich erinnere an die
verschämte Altersarmut -, diese über die Rentenzahlung
beziehen. Außerdem dürfen die Vermögensverhältnisse
der Kinder bei der Berechnung nicht herangezogen werden. Das sind die Gründe, weswegen viele alte Menschen
keine ergänzende Sozialhilfe beantragen. Ich gehe einmal
davon aus, dass Sie uns in diesen Punkten zustimmen.
Wir haben die Kinderberücksichtigungszeiten ausgebaut. Wir haben etwas für die Frauen getan, die Teilzeit arbeiten. Darüber hinaus haben wir die Situation der
Frauen, die zwei Kinder und mehr erziehen und deshalb
nicht erwerbstätig sind, verbessert. Dadurch, dass die
Kinderberücksichtigungszeiten bis zum zehnten Lebensjahr des jüngsten Kindes gelten, werden Beiträge aufgestockt und wird eine eigenständige Alterssicherung ein
Stück weit aufgebaut. Wenn das - neben der sozialen Absicherung - kein Vorteil für die Frauen in der Rentenversicherung ist, dann weiß ich nicht, was wirklich ein Vorteil ist.
Zur nächsten Frage
erteile ich der Kollegin Kerstin Griese das Wort.
Frau Ministerin, Sie haben uns
die Auswirkungen der demographischen Entwicklung,
wie sie der Sachverständigenbericht darstellt, geschildert.
Dort steht, dass der Anteil Älterer in der Bevölkerung in
Zukunft etwa 37 Prozent betragen wird. Als JugendpolitiBundesministerin Dr. Christine Bergmann
kerin frage ich: Welche Auswirkungen hat das Ihrer Meinung nach auf das Verhältnis der Generationen zueinander? Welchen Stellenwert, welche Bedeutung wird die ältere Generation in der Gesellschaft haben? Wenn demnächst in unserer Gesellschaft doppelt so viele über
60-Jährige wie unter 20-Jährige leben, dann können beide
Großeltern mit dem Enkel surfen. Das bietet gewisse
Chancen für das Verhältnis der Generationen zueinander.
Frau Ministerin.
Frau Abgeordnete
Griese, ich hatte schon ganz kurz angesprochen, dass die
in dem Bericht genannten Daten über das Generationenverhältnis - die Kommission hat sie vorgestellt - sehr erfreulich sind. Das Generationenverhältnis ist zurzeit gut.
Man lebt zwar nicht immer in einer Wohnung; aber es ist
trotz äußerer Distanz eine sehr große innere Nähe da. Das
sagen die Sachverständigen. Die Jüngeren helfen den Älteren dort, wo es notwendig ist. Umgekehrt fließt die eine
oder andere Mark von den Eltern in den Haushalt der Kinder. Vor allen Dingen zwischen Enkeln und Großeltern
besteht eine sehr enge Beziehung, die für eine Kultur des
Aufwachsens und für einen vernünftigen Umgang der Generationen miteinander nötig ist. Auch das, was wir in anderen Bereichen tun - wir haben gerade die Rente angesprochen -, macht klar, dass wir den Lebensstandard der
Älteren sichern, aber zugleich die Jüngeren nicht über Gebühr belasten.
Wenn jetzt die Einkommenssituation der Älteren gut
ist, was wir ja sicherlich alle als sehr erfreulich empfinden, dann müssen wir auf der anderen Seite natürlich der
Frage nachgehen, wo es Probleme in der Generation der
Jugendlichen gibt. Das, was wir im Rahmen von JUMP,
dem Sofortprogramm zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit, tun, ist ja nicht nur ein Signal, sondern es
schafft Chancen für Jugendliche, einen Ausbildungsplatz
zu bekommen, damit sie in den Arbeitsmarkt integriert
werden können. Wenn im Moment relativ viele Ältere
aufgrund der Altersteilzeit früher aus dem Erwerbsleben
ausscheiden, dann bedeutet dies auch ein Stück Generationensolidarität: Sie machen Arbeitsvolumen frei, weil
sie wissen, dass es eine Generation gibt, die Probleme hat,
in den Arbeitsmarkt hineinzukommen.
Wir sollten an diese gute Kultur, die wir zurzeit im
Lande haben, anknüpfen und dies nicht immer kaputtreden. Beim Lesen mancher Veröffentlichungen gewinnt
man ja den Eindruck, wir bekriegten uns untereinander.
Ich erlebe das in meinem Umfeld nicht, Sie hoffentlich
auch nicht. Daran müssen wir in unserem politischen,
aber auch gesellschaftlichen Handeln anknüpfen.
Zur nächsten Frage
erteile ich Kollegin Schewe-Gerigk das Wort.
Frau Ministerin, Sie haben gerade darauf hingewiesen, dass der Bericht ausgewiesen hat, dass ältere
Menschen ein hohes Maß an Familienarbeit und bürgerschaftlichem Engagement leisten. Sind Sie der Meinung,
dass das auch politisch unterstützt werden müsste, und
wie müsste das unterstützt werden?
Dazu kann ich ganz
klar Ja sagen. Jedes bürgerschaftliche Engagement unterstützen wir politisch und, wo es geht, natürlich auch materiell. Im Bereich der Älteren setzen wir mit einem Projekt, das wir gerade begonnen haben, ein wichtiges
Signal. Wir suchen und schulen Multiplikatorinnen und
Multiplikatoren, damit deren Erfahrungswissen viel mehr
als bisher in der Gesellschaft nutzbar gemacht wird. Sie
kommen aus unterschiedlichen Bereichen - der Wirtschaft, der Kultur, der Politik - und können in unterschiedlichen Bereichen ihr Wissen zur Verfügung stellen,
nachdem sie von uns noch ein Stück Qualifizierung dazu
bekommen haben. Wir wissen ja, dass viele Ehrenamtliche sich mit Leidenschaft engagieren, aber zuvor um Qualifizierung bitten, weil sie möchten, dass es mit ihnen
noch weitergeht. Auch müssen wir immer wieder deutlich
machen - dies versuchen wir auch mit unserer Kampagne
zum Internationalen Jahr der Freiwilligen -, dass das, was
man kann, unbezahlbar ist.
Ein solches Engagement erbringen die Älteren vielfach
gerade bei Jüngeren. Damit sind wir wieder beim Thema
Generationensolidarität. Wenn Ältere in Schulen gehen,
sich an der Berufsberatung beteiligen und dadurch die
Schüler in diesem schwierigen Prozess begleiten, dann ist
das eine tolle Sache, die zur Generationensolidarität
beiträgt. Wir müssen noch viel mehr herausstellen, wie
gut das in der Gesellschaft funktioniert und dass wir ohne
diesen Zusammenhalt eigentlich gar nicht vernünftig miteinander umgehen können.
Zur nächsten Frage
erteile ich dem Kollegen Andreas Storm das Wort.
Frau Ministerin, ich
möchte auf die Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer zurückkommen. Wir beurteilt die Bundesregierung
die Tatsache, dass die Erwerbstätigenquote in der Altersgruppe zwischen 55 und 64 Jahren in Deutschland im
internationalen Vergleich besonders niedrig liegt? Sie
liegt bei etwa 39 Prozent, während sie in Norwegen oder
der Schweiz bei rund 70 Prozent liegt, also etwa doppelt
so hoch ist. Worauf führen Sie es zurück, dass in diesen
Ländern - auch in anderen skandinavischen Ländern wie
Dänemark - ein wesentlich höherer Anteil älterer Menschen erwerbstätig ist?
({0})
Ich werde diesen
Zwischenruf gleich aufgreifen. - Ich habe schon gesagt,
wie die Arbeitsmarktsituation ist. Ich komme aus einem
der neuen Länder und war lange Arbeitssenatorin. Ich
weiß daher genau, was zum Beispiel in Berlin und seinem
Umland abgelaufen ist.
Wir haben eine schwierige Arbeitsmarktsituation. Aber
wir haben ganz gezielt versucht - hier hat es Generationensolidarität gegeben -, den Einstieg von Jugendlichen
in den Arbeitsmarkt an die oberste Stelle zu setzen. Deswegen ist das System der Altersteilzeit von uns ausgebaut
worden; denn das ist ein vernünftiges Modell.
Sie hätten natürlich in den Jahren davor mehr dazu beitragen können, dass die Arbeitsmarktsituation in diesem
Land insgesamt besser geworden wäre. In dem Moment,
da wir mehr Arbeitskräfte brauchen, verändert sich natürlich auch die Situation für Ältere. Das ist, denke ich, klar.
Wenn Sie diese Situation mit der in den Ländern vergleichen, die ganz andere Arbeitsmarktzahlen haben, dann
liegt die Antwort doch auf der Hand. Sie kennen doch die
Antwort.
({0})
Als nächster Rednerin
erteile ich Kollegin Christa Lörcher zu einer Frage das
Wort.
Frau Ministerin, ich hätte Sie
gern nach der Weiterentwicklung der Pflegeberufe gefragt. Aber da die Zeit sehr knapp ist, möchte ich eine ganz
andere Frage stellen, die überhaupt noch nicht angesprochen worden ist. Sie betrifft ältere Menschen mit Migrationshintergrund. Das ist die am stärksten wachsende
Gruppe in unserer Gesellschaft. Da sich auch dort die Familienstrukturen ändern, wird sicherlich ambulante oder
stationäre Hilfe nötig sein. Haben sich die Kommission
oder die Regierung oder beide schon Gedanken gemacht,
welche Anforderungen diese Situation mit sich bringt?
Frau Lörcher, wir haben gerade eine Studie in Auftrag gegeben, die sich mit
der Situation der nichtdeutschen Frauen in unserem
Lande beschäftigt. Wir haben nämlich sehr wenig Datenmaterial. Wir wissen, dass sich einiges verändert hat: Immer mehr Frauen, die zu uns kommen, sind erwerbstätig.
Damit werden bestimmte Leistungen, die vorher in der
Familie erbracht wurden, wie Pflege, auf Einrichtungen
nach außen verlagert.
Dem tragen wir durch Modellprojekte Rechnung, zum
Beispiel durch Wohnprojekte oder durch Heimprojekte
für ältere Menschen. Es gibt vermehrt Beratungsangebote. Das ist noch ein sehr offenes Feld. Wir müssen ja
auch beachten, wie wir die Menschen mit den Angeboten
erreichen, damit sie entsprechend genutzt werden. Das
betrifft sowohl den Bereich der Pflege als auch den Bereich der gesamten Gesundheitserziehung.
Wir werden natürlich auch Daten aus dem Familienbericht dem politischen Handeln zugrunde legen. Ich denke,
wir bereiten uns auf die Situation vor und wir sind gerüstet. Wir müssen das Geschehen insgesamt besser kennen
lernen, weil wir zum Beispiel über die Remigration, also
über die Frage, wer in welchem Umfang wieder zurückgeht, noch viel zu wenig wissen. Aber wir sind darauf eingestellt.
Kollege Klaus Haupt,
bitte.
Frau Ministerin, Sie betonten
vorhin, dass Sie aus einem der neuen Länder kommen.
Gestatten Sie mir als jemandem, der auch aus einem der
neuen Länder kommt, eine ganz spezifische Frage. Der
Bericht geht ja darauf ein, dass die materielle Situation der
Senioren, der Rentner in den neuen Bundesländern eine
andere ist. Das bezieht sich auf die Alterseinkommen aus
der gesetzlichen Rente. Das Ganze wird noch durch die
Tatsache verschärft, dass die Rentner in den neuen Bundesländern aufgrund der vier Jahrzehnte DDR-Vergangenheit nicht über Kapitaleinkünfte oder über Eigentum
verfügen können.
Welche konkreten Schlussfolgerungen ziehen Sie in
Ihrem Haus oder ressortübergreifend angesichts dieser
differenzierten materiellen Situation, die in dem Bericht
dargestellt ist - auch vor dem Hintergrund der Tatsache,
dass die ältere Generation eine nicht zu unterschätzende
Wirtschaftskraft darstellt?
Herr Abgeordneter
Haupt, wenn Sie sich die Zahlen genau ansehen, dann
stellen Sie fest - ich habe es genannt -: In den neuen Bundesländern kommen 81 Prozent des Einkommens aus der
gesetzlichen Rente. In den alten Bundesländern sind es
weniger, nämlich 65 Prozent; dort kommen noch andere
Einkommensarten hinzu.
Bei den Rentenzahlbeträgen müssen wir natürlich festhalten, dass die Zahlbeträge heute sowohl bei Männern als
auch bei Frauen in den neuen Ländern höher sind als in
den alten. Das hat etwas mit den unterschiedlichen Erwerbsbiografien zu tun. Man war früher und länger erwerbstätig; das gilt insbesondere für Frauen. Diese Zahl
müssen wir auch beachten.
Wenn wir uns die Zahlen der Sozialhilfeempfänger anschauen, dann stellen wir auch fest, dass es weniger Menschen in den neuen Bundesländern gibt, die ergänzende
Sozialhilfe beziehen. Die Einkommenssituation - das sagen die Rentner ja auch; auch Sie wissen das aus Ihren Gesprächen mit Rentnerinnen und Rentnern - hat sich ganz
drastisch verbessert. Die Situation hat sich auch im Bereich der Pflege verbessert. Wir beide haben uns intensiv
damit beschäftigt und wissen, wie Altersheime in der
DDR aussahen: Das war wirklich eine Schande. Was in
den letzten zehn Jahren in diesem Bereich geleistet wurde,
ist ganz erstaunlich. Ich denke zum Beispiel an Formen
des betreuten Wohnens.
Selbstverständlich kann man innerhalb von zehn Jahren nicht alle Unterschiede beseitigen. Diese bestehen
zum Beispiel im Bereich des Wohneigentums. Aber
daran, dass bei der jüngeren Bevölkerungsgruppe ein
höherer Anteil als bei den Älteren Wohneigentum hat, sehen Sie, dass es Entwicklungen auf diesem Gebiet gibt.
Die gesetzlichen Regelungen, die wir in diesem Bereich
auf den Weg bringen und umsetzen, werden dieser Situation durchaus gerecht.
Es verbleiben jetzt
noch knapp drei Minuten. Deshalb möchte ich nun allgemeine Fragen zulassen, die bereits zu Anfang der Fragestunde angemeldet wurden.
Kollege Dirk Niebel, bitte.
Der „Bild“-Zeitung von heute
kann ich entnehmen, dass die Bundesregierung vor einiger Zeit eine Werbekampagne für ihr Rentenkonzept sowohl mit großformatigen Anzeigen in den Zeitungen als
auch durch Herausgabe einer Rentenbroschüre, in der
als Kernstück der Rentenreform der so genannte
Ausgleichsfaktor beworben wurde, gestartet hat. Nun
wurde das Rentenkonzept wieder verändert. Der Ausgleichsfaktor als Kernstück ist in dem neuen Entwurf so
nicht mehr vorhanden. In der „Bild“-Zeitung steht, dass
300 000 dieser Broschüren für 129 000 DM gedruckt wurden und die Restbestände nun eingestampft werden
müssen. Nachdem die Gesetze zu den 630-Mark-Jobs
fünfmal und die Regelungen zur so genannten Scheinselbstständigkeit dreimal verändert wurden, können wir
wohl feststellen, dass die Bundesregierung öfter ihre Vorlagen verändert. Mich würde interessieren, ob die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung in Zukunft weiter so
wie bisher durchgeführt werden soll
({0})
oder ob Sie in Zukunft erst dann Konzepte bewerben wollen, wenn sie beschlossen wurden.
({1})
Frau Staatssekretärin,
bitte.
Herr Niebel, Ihre
Annahme, dass der zentrale Punkt unseres Rentenreformkonzeptes und des Altersvermögensgesetzes der Ausgleichsfaktor ist, ist so nicht richtig.
({0})
Die entscheidende Weichenstellung besteht vielmehr
darin, dass wir die Vorsorgemaßnahmen für zusätzliches
Alterseinkommen massiv fördern. Wir sorgen damit für
einen Aufbau von Vermögen, das im Alter zur Verfügung
steht, wodurch die Rente von Alten besser gesichert wird
und sie zugleich für die Jungen bezahlbar bleibt. An diesem Altersvorsorgekonzept durch Vermögensaufbau hat
sich nichts geändert.
Darüber hinaus ist ein wichtiger Punkt unserer Reform
der Aufbau einer eigenständigen Alterssicherung von
Frauen. Wir unternehmen ganz erhebliche Anstrengungen, um Frauen die Möglichkeit zu geben, zusätzliche
Rentenanwartschaften zu erwerben, auch wenn sie nur ein
unterdurchschnittliches Einkommen haben.
Ein ganz wesentlicher Bestandteil unseres Rentenreformkonzepts - das ist der letzte Punkt - ist der Aufbau
einer sozialen Grundsicherung, um verschämte Armut im
Alter zu vermeiden.
({1})
Alle diese Punkte sind nach wie vor Bestandteil unseres Konzeptes und nach wie vor richtig. Diese Broschüre
bezieht sich also nicht nur auf den Ausgleichsfaktor. Sie
haben aber Recht, dass wir die Broschüre, da ein Teilbereich nicht mehr aktuell ist, in der 51. Kalenderwoche
zurückgezogen haben.
Im Übrigen haben wir genauso gehandelt wie auch die
alte Bundesregierung, indem wir nach einem Kabinettsbeschluss unser Konzept veröffentlicht haben. Bei dieser
Praxis werden wir auch in Zukunft bleiben.
({2})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Damit sind wir am Ende der Befragung der
Bundesregierung. Die vorgesehene Zeit ist vorbei.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 14/5065, 14/5077 Zum Ablauf der Fragestunde möchte ich folgende geschäftsleitende Hinweise geben: Wir kommen zunächst
zu den beiden eingereichten dringlichen Fragen aus dem
Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes. Nach den
Richtlinien für die Fragestunde werden im Anschluss daran die eingebrachten Fragen zum selben Themenkomplex aus den Geschäftsbereichen des Auswärtigen Amtes,
des Bundeskanzleramtes, des Bundesministeriums des Innern und des Bundesministeriums der Justiz aufgerufen.
Danach fahren wir, soweit wir noch Zeit haben, mit den
weiteren Fragen in der Reihenfolge fort, wie sie in der
Drucksache zu dieser Fragestunde stehen.
Ich rufe zunächst die dringliche Frage des Abgeordneten von Klaeden auf.
Ist der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer,
während seiner militanten Tätigkeit dem inzwischen verurteilten
Topterroristen Ilich Ramirez Sanchez, genannt Carlos, der Schakal, begegnet, wie Carlos behauptet ({0})?
Bitte schön, Herr Minister.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Präsident, gestatten Sie mir, dass ich zu Beginn eine etwas
ausführlichere Antwort gebe, da alle Fragen in einem
Sachzusammenhang stehen. Danach werde ich die einzelnen Fragen im Detail beantworten.
Herr Abgeordneter von Klaeden: ein definitives Nein.
Ich möchte, da dies eine Situation ist, in der fast täglich
neue, absurde Vorwürfe erhoben werden, hinzufügen - ({0})
- Ich komme gleich darauf zu sprechen. Wenn Sie ein Interesse an Unterrichtung haben, dann hören Sie sich das
an. Alles andere können wir nachher in der Aktuellen
Stunde debattieren.
({1})
Ich habe weder Waffenlager eingerichtet noch unterhalten, noch Waffen transportiert, noch wurden mit meiner Kenntnis irgendwelche Waffen mit meinem Auto
transportiert. Das weiß die Union übrigens seit 1985, als
ich zum ersten Mal Umweltminister wurde. Damals
wurde Franz Josef Jung, der Ihnen mittlerweile geläufig
ist, nach Karlsruhe zur Akteneinsicht bei der Bundesanwaltschaft geschickt. Er war über alles unterrichtet. Dennoch wurde ich von Ihnen in jedem Wahlkampf zum
Karry-Mörder erklärt, wider besseres Wissen.
({2})
Auch habe ich weder in meiner Wohnung noch in anderen Wohnungen mit Daniel Cohn-Bendit Waffen, egal
von wem, oder Sprengstoff verborgen. Wir hatten - in diesem Zusammenhang habe ich das klipp und klar zu sagen - auch nicht die Funktion von Herbergsvätern für Terroristen, egal welcher Gruppe sie zugehörig waren. - Dies
sind alles klare und eindeutige Aussagen.
Ich habe niemals Molotowcocktails geworfen und ich
habe auch nicht dazu aufgerufen, Molotowcocktails zu
werfen. Auch dies ist eine klare Aussage.
Was ich getan habe, will ich Ihnen auch klipp und klar
sagen. Ich war militant, ich habe mit Steinen geworfen,
({3})
ich war in Prügeleien mit Polizeibeamten verwickelt.
({4})
Ich wurde geprügelt, aber ich habe auch Polizeibeamte
geschlagen. Das habe ich jetzt nicht zum ersten Mal gesagt und dazu stehe ich. Ich stehe zu meiner Verantwortung. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich das jetzt
rechtfertige.
({5})
Ich habe bereits 1977 erkannt, dass der Weg der Gewalt,
und sei es nur der limitierten Gewalt mit Prügeln gegen
Polizeibeamte und mit Steinewerfen, falsch ist, ein Weg,
der auch in seinen moralisch guten Motiven ins Gegenteil
verkehrt wird, der die eigenen Gesichtszüge verzerrt. Ich
war damals kein Demokrat, sondern Revolutionär, aber
mit dem Freiheitsanspruch, dass der - ({6})
- Machen Sie nur so weiter! Ich will Ihnen meine Position
klipp und klar erläutern. Darauf haben Sie einen Anspruch.
Ich habe damals - das ist für mich die eigentliche Trennung - erkannt, wie Gewalt die eigenen Gesichtszüge verzerrt, selbst wenn man meint, diese Gewalt aus guten
Gründen einsetzen zu können. Das war für mich die entscheidende Erfahrung, die dazu geführt hat, dass ich mich
abgewandt habe, innerlich und auch in den politischen
Konsequenzen.
Ich habe damals Unrecht getan und ich habe mich dafür
bei allen, die davon betroffen waren, zu entschuldigen.
Dies habe ich getan und tue es heute wieder.
({7})
Ich stehe seitdem für einen Lebensweg, der auch die Integration jener Teile der Bevölkerung bedeutete, die damals
jung waren. Ich rede hier nicht von Jugendsünden. Das
haben andere getan. Ich war damals bereits im Erwachsenenalter. Ich stehe seitdem für eine Politik, die nicht nur
Gewaltfreiheit propagiert und durchsetzt, sondern die vor
allen Dingen auch die Hineinentwicklung in die demokratische Grundordnung beinhaltet. Ich weiß, was dieses
bedeutet; denn im Gegensatz zu all den Gerechten musste
ich mich erst dort hineinentwickeln, und zwar aus Gründen, die ich in dieser Antwort nicht darstellen will. Aber
ich habe mich wirklich aus Überzeugung zum Demokraten gewandelt. Dies entspricht meinem politischen Lebensweg und dem Weg meiner Partei.
({8})
Meine Partei hat es nicht nötig, sich, von wem auch immer, zur Gewaltfreiheit aufrufen zu lassen. Denn der
Schritt zu den Grünen war für mich ganz entscheidend
auch durch das Bekenntnis zur Demokratie und zur Gewaltfreiheit bedingt.
({9})
Was ich in den letzten Tagen erlebe - Herr Präsident,
das möchte ich hier nochmals klipp und klar ansprechen -,
ist, dass mit viel Geld versucht wird, Leute dazu zu veranlassen, aus nichts als ihrer Erinnerung heraus nach über
20 Jahren Behauptungen aufzustellen, nach Möglichkeit
diese dann durch eine eidesstattliche Versicherung zu untermauern und mich in die Situation zu bringen, dass ich
mich dazu verhalten und etwas dazu sagen soll.
Es wird also gefragt: Was hast du vor 25 Jahren bei dieser und jener Diskussion gesagt? Ich verstehe ja Ihre politische Interessenlage. Aber versuchen Sie selbst einmal,
ob es Ihnen gelingt, sich auch nur an wichtige Diskussionen zu erinnern und zu sagen, was Sie wo vor 22 oder
25 Jahren gesagt haben.
({10})
Es wäre für mich ein Wunder, wenn Sie das könnten. Ich
habe in den letzten 14 Tagen versucht, mich an Einzelheiten aus dieser Zeit zu erinnern. Dabei habe ich mein Gedächtnis bis an die Grenze der Erinnerungsfähigkeit gefordert.
Herr Präsident, ich möchte noch folgenden Punkt ausführen dürfen. Mir liegt mittlerweile ein Briefwechsel
vor, der zeigt, wie man mit viel Geld die Sache angeht.
Einem Zeugen, der Entlastendes aussagte, wurden
16 000 DM angeboten. Es wurde ihm gesagt: Denk noch
einmal nach! Wenn du nicht den passenden Täter und den
passenden Tathergang schilderst, dann wird das nichts mit
dem Geld.
({11})
Diese Erkenntnisse liegen mir vor.
({12})
- Das sind nicht die alten Methoden.
Für solche Informationen wurden über 1 Million DM
verlangt. Ich erwähne diese Tatsache nur, damit Sie die
Aussagen richtig einordnen können.
Herr von Klaeden, ich habe damit Ihre Frage und alle
anderen mich betreffenden Fragen klipp und klar für das
Protokoll beantwortet.
({13})
Ich bitte um Verständnis, dass der Minister, wie er es angekündigt hat, etwas
ausführlicher auf die erste Frage eingegangen ist. Ich
denke, dies ist nach der Vorgeschichte verständlich. Ich
bitte aber darum, dass die Beantwortung der weiteren Fragen in kürzerer Form erfolgt.
Wollen Sie eine Zusatzfrage stellen, Kollege von
Klaeden?
Herr Präsident,
vielleicht ist es für die Öffentlichkeit interessant, zu erfahren, dass diese weitschweifige Apologie des Herrn
Außenministers auf eine Frage erfolgte, die lediglich zum
Inhalt hat, ob er - wie es in der „Welt“ und in einigen anderen internationalen Zeitungen zu lesen war ({0})
dem Terroristen Carlos begegnet ist.
({1})
- Frau Kollegin, wir bestimmen immer noch selber, was
uns interessiert.
({2})
Da Sie, Herr Minister, erklärt haben, Sie hätten sich
1977 vom Terrorismus und seiner ideologischen Unterstützung abgewandt, darf ich Sie fragen:
({3})
Ist das Zitat richtig, das in dem Buch von Christian
Schmidt „Wir sind die Wahnsinnigen“ zu finden ist?
Demnach haben Sie noch 1978 in der Zeitschrift „Pflasterstrand“ nach der Ermordung von Generalbundesanwalt
Buback, des Bankies Ponto und Hanns-Martin Schleyers
durch die RAF Folgendes erklärt - ich zitiere -:
Bei den drei hohen Herren mag in mir keine rechte
Trauer aufkommen, das sag ich ganz offen, für mich.
Wenn Sie dieses Zitat dementieren sollten, dann möchte
ich Sie jetzt schon fragen, warum Sie gegen diese Behauptung keine juristischen Schritte eingeleitet haben;
denn dieses Buch werden Sie sicherlich gelesen haben.
Herr Minister.
Ich will Ihnen gerne auf diese Frage antworten. Die Behauptung, ich hätte mich 1977 von dem Terrorismus und
seiner ideologischen Unterstützung losgesagt, ist schlicht
falsch.
({0})
Ich musste mich von dem Terrorismus und seiner ideologischen Unterstützung nicht lossagen.
Wenn Sie nicht nur ein parteipolitisches Interesse an
dieser Sache haben - das ist aber durchaus legitim -, sondern für meine Situation etwas Verständnis aufbringen,
dann ist dieser Aspekt wichtig: Wir, Daniel Cohn-Bendit
und ich, waren damals die entschiedensten Gegner des
Wegs in den Terrorismus.
({1})
Wir waren diejenigen, die andere daran gehindert haben,
in den revolutionären Untergrund zu gehen.
({2})
- Ich merke, dass Sie kein Interesse an einer Aufklärung
haben.
({3})
Ich muss Ihnen sagen, dass Sie dieses Zitat aus dem
Zusammenhang gerissen haben. Bei der Debatte 1978
ging es um eine grundsätzlich andere Orientierung, die
auf den Rückzug abstellte. Sie haben das Zitat völlig aus
dem Zusammenhang gerissen.
({4})
Für mich waren die schockierendsten Erfahrungen
nach Entebbe die Ermordung von Hanns-Martin Schleyer
und die Sprache in dem damaligen so genannten Kommando-Kommunique, das den Mord dargestellt hat. Das
war für mich die völlige Verkehrung. Es war die Sprache
der Unmenschen, die kalte, zynische Sprache der Nazis.
Das war meine damalige Position. Diese habe ich an
verschiedenen Stellen artikuliert und klar zum Ausdruck
gebracht. Insofern kann ich nur sagen: Sie versuchen hier
ein Zerrbild des damaligen Joschka Fischer darzustellen,
({5})
das nichts mit dem zu tun hat, wie ich damals gedacht
habe.
({6})
Eine zweite Zusatzfrage des Kollegen von Klaeden.
Herr Minister, ich
will Sie noch einmal fragen: Erstens. Stimmt dieses Zitat
oder stimmt es nicht? Zweitens. Darf ich Sie um die Erläuterung des Zusammenhangs bitten, in dem dieses Zitat
einen Sinn macht?
({0})
Es tut mir Leid, Herr Kollege von Klaeden, ich müsste
dieses Zitat im Zusammenhang des ganzen Artikels sehen.
({0})
- Entschuldigung, ich habe Ihnen meine Position erläutert
und ich bin gerne bereit, gemeinsam mit Ihnen den ganzen
Artikel durchzugehen. Dann unterhalten wir uns noch einmal.
({1})
Wir kommen zur
dringlichen Frage 2 der Kollegin Sylvia Bonitz:
Wie erklärt der Bundesminister des Auswärtigen und Vizekanzler, Joseph Fischer, seine Äußerung im Prozess „Ich habe gesagt: „Geht weg von den Bomben ({0}) greift wieder zu den Steinen“ vor dem Hintergrund seiner Interviews im „Spiegel“ vom
8. Januar 2001 und im „Stern“ vom 4. Januar 2001, in denen er
zumindest den Eindruck erweckt hat, nicht Anstifter zu Gewalttaten gewesen zu sein und selbst keine Waffen genutzt zu haben?
Bitte schön, Herr Minister.
Frau Kollegin Bonitz, wie ich gehört habe, waren Sie gestern bei dem Prozess anwesend. Das zeigt ein großes Interesse an meiner Zeugenvernehmung.
({0})
Bei der von Ihnen hier angeführten Äußerung handelt
es sich nicht um eine Äußerung anlässlich meiner Zeugenaussage vom 16. Januar, sondern um ein Zitat aus einer Rede, die ich, Herr Kollege Klaeden, im Jahre 1976
gehalten habe und über das wir am 16. Januar gesprochen
haben. In meiner Rede 1976 anlässlich des Pfingstkongresses auf dem Römerberg ging es um das genaue Gegenteil eines Aufrufs zur Gewalt. Es war der Appell an
jene, die in den Untergrund gegangen waren oder abzugleiten drohten, die Waffen niederzulegen, mit dem
Bomben aufzuhören und zurückzukehren. Es ging 1976
darum, diese noch zu erreichen und anzusprechen, mit
diesem mörderischen Irrsinn Schluss zu machen.
Diese Römerberg-Rede ist für jedermann in ihrer
vollen Länge nachlesbar. Sie werden auch darin sicher
den einen oder anderen Satz finden, bei dem Sie sagen
können: „Aha!“, aber dann wäre das völlig sinnentstellt.
Das war 1976 und darauf habe ich mich bezogen.
Bitte, Ihre Zusatzfrage, Frau Kollegin Bonitz.
Meine erste Zusatzfrage
lautet: Wie erklären Sie sich, Herr Minister, dann den Widerspruch zu Ihrer gestrigen Prozessaussage in Frankfurt?
Gestern haben Sie gesagt, dass die Spontis damals niemals absichtlich Menschen verletzen oder gar töten wollten. Aber gleichzeitig haben Sie damals - durchaus in dem
Kontext, der mir bekannt ist - zum Steinewerfen aufgerufen. Das Steinewerfen beinhaltet doch ein erhebliches
Verletzungsrisiko, das, wie ich denke, auch Ihnen bekannt
ist. Das heißt, dass Sie damit die Schädigung von Personen und auch von Sachen gebilligt oder zumindest in Kauf
genommen, wenn nicht sogar dazu angestiftet haben, und
zwar immerhin als „Comandante“ - das ist der Begriff,
der immer wieder auftaucht - der Putzgruppe, die in der
Szene damals den Spitznamen „Proletarische Union für
Terror und Zerstörung“ hatte. Vielleicht können Sie in Ihrer Antwort freundlicherweise auch auf diese Namensgebung eingehen.
Den Begriff „Proletarische Union für Terror und Zerstörung“ höre ich jetzt zum ersten Mal.
({0})
- Es tut mir Leid. Ich habe in den vergangenen Tagen
manches zum ersten Mal gehört.
Das ist interessant, weil der Begriff nicht „Proletarische Union für Terror und Zerstörung“ war. Wer ein bisschen Südhessisch kann, weiß genau, woher der „Putz“
kommt. Wenn Sie dann noch den italienischen Ursprung,
nämlich „Casino“, nehmen, dann haben Sie es. Allein
„proletarische Union“ ist eine spontiwidrige Vorstellung.
({1})
Sie scheinen uns mit der ML zu verwechseln, Frau Kollegin.
Im Übrigen sehe ich da überhaupt keinen Widerspruch.
Ich will es einmal zugespitzt sagen: Hätte mein Aufruf
„Legt die Waffen nieder, lasst das Bomben sein, nehmt die
Steine wieder in die Hand“ - der nicht nur in meinem Namen erfolgt ist, aber ich habe ihn gemacht und verantworte ihn - doch damals Erfolg gehabt! Wäre es damals,
1976, so gekommen, dann wäre uns viel mörderischer Irrsinn erspart geblieben. Dann wären viele, die ermordet
wurden, noch am Leben. Deswegen sehe ich in meiner
damaligen Haltung überhaupt keinen Widerspruch.
({2})
Eine zweite Zusatzfrage der Kollegin Bonitz.
Gestatten Sie ganz kurz,
dass ich erläutere, wer diesen Namen überhaupt verwandt
hat: Es war Christian Schmidt in seinem Buch „Wir sind
die Wahnsinnigen“. Dieser Begriff ist daneben immer
wieder in Pressepublikationen aufgetreten.
({0})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß nicht, warum
Sie dieses Thema so aufregt und Sie so viele Zurufe machen. Wir wollen diesen Fragenkomplex sachlich abarbeiten.
({1})
Meine zweite Frage bezieht sich darauf, dass Sie unter
dem Wort „Hinlangen“ offensichtlich auch das Steinewerfen verstehen. Den Begriff „Hinlangen“ verwenden
Sie in einer im Grunde genommen banalisierenden Art
und Weise. Im Terroristenprozess vor dem Frankfurter
Landgericht und in verschiedenen Interviews haben Sie
gesagt: „Wir haben auch kräftig hingelangt“. Was heißt
das eigentlich konkret? Was zählen Sie zu diesem „Hinlangen“? Das Schlagen von Personen, das Treten von Personen, das Werfen mit Steinen
({2})
oder vielleicht auch das Werfen von Brandsätzen? Wo ist
die Grenze dieses Hinlangens? Ist es das Prügeln?
Ich frage das auch in folgendem Zusammenhang: Welches Maß an Gewalt hielten Sie damals und auch heute in
welchen Situationen für tolerabel?
({3})
Ich denke zum Beispiel daran, dass Sie noch in den
90er-Jahren anlässlich von Castor-Transporten Gewalt
nicht abgelehnt haben.
({4})
Frau Kollegin Bonitz,
das ist eine ganze Serie von Fragen. Jetzt müssen Sie dem
Herrn Minister die Chance geben zu antworten.
Frau Kollegin Bonitz, ich habe in den 90er-Jahren anlässlich von Castor-Transporten nicht zu Gewalt aufgerufen.
Ich erinnere mich sehr gut daran, dass das Gegenteil der
Fall war.
Damit ich nicht missverstanden werde: Wenn ich die
Position des damaligen Joschka Fischer bezogen auf das
Steinewerfen, wozu ich mich bekenne, benannt habe,
dann nicht affirmativ-bestätigend, sondern unter dem
Gesichtspunkt, dass dies falsch war, dass es aus meiner
Sicht eine enorme Gefahr bedeutet, Gerechtigkeit und
Recht, beginnend im Kopf, zu trennen. Ich will mein damaliges Vorgehen nicht rechtfertigen. Ich stehe dazu, weil
es meine Geschichte ist, aber nicht in dem Sinne: Das war
toll. - Das war Teil meiner Erfahrungen. Es gab damals
ohne jeden Zweifel auch gewaltfreie Teile, zu denen ich
nicht gehörte.
In meiner Antwort zur ersten dringlichen Frage bin ich
sehr präzise - mir wurde ja soeben vorgeworfen, dass ich
weitschweifig war - auf alle anderen Punkte eingegangen.
Ich habe dargelegt, was ich getan habe und was ich nicht
getan habe. Ich habe mich mit Polizisten geprügelt. Ich
wurde von ihnen verprügelt und dann und wann habe auch
ich einen Polizisten verprügelt. Aber ich habe nie auf am
Boden Liegende getreten. - Wenn anderes behauptet
wird, weise ich dies zurück. Wer mich kennt, weiß, dass
ich das aus guten Gründen zurückweisen kann. - Das sollten Sie akzeptieren.
({0})
Das Wort zu einer Zusatzfrage erteile ich dem Kollegen Helmut Lippelt.
Herr Minister, stimmen Sie mir darin zu, dass es für eine
so große Fraktion wie die CDU/CSU, die hier sehr stark
vertreten ist und deren Mitglieder die „FAZ“ bekanntlich
sehr gründlich lesen - hinter der „FAZ“ stecken ja kluge
Köpfe -, ein Armutszeugnis ist, dass sie sich mit Ihrem
Verhältnis zur Gewalt beschäftigt, ohne die reichhaltige
Dokumentation, die in der „FAZ“ abgedruckt wurde und
die Ihren grundsätzlichen Artikel von 1976, in dem Sie
sich mit den damaligen Geschehnissen auseinander setzten, enthält - dieser Artikel liegt vor und ist nachlesbar;
Sie haben sich auf ihn bezogen -, zur Kenntnis zu nehmen?
({0})
- Ich frage, ob der Minister Ihr Verhalten nicht auch für
politisch sehr begründet, inhaltlich aber wirklich für ein
Armutszeugnis hält. Es werden 16 Fragen gestellt, ohne
die Dokumente der grundsätzlichen Auseinandersetzung
des Außenministers in seiner Jugend mit dem Problem der
Gewalt zur Kenntnis zu nehmen. Ich meine die Artikel
von 1976 und von 1978.
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Herr Kollege Lippelt, als Beantwortung Ihrer Frage: Ich
begreife dies nicht als einen Prozess der Wahrheitsfindung, sondern als eine völlig legitime politische Auseinandersetzung, und so findet sie auch hier statt.
({0})
Herr Kollege
Hohmann, eine Zusatzfrage.
Herr Minister, Sie
haben soeben zugestanden, dass Sie Steine geworfen haben. Können Sie ausschließen, dass Sie mit Ihren Steinwürfen Menschen getroffen und verletzt haben?
Nach meinen Erkenntnissen ja.
Sie können also ausschließen, dass Sie Menschen bei den Steinwürfen getroffen und verletzt haben?
Mir ist davon nichts bekannt. Es müsste mir bekannt sein,
wenn ich es bejahen sollte.
Warum haben Sie
denn dann die Steine geworfen?
({0})
Haben Sie die einfach in die Luft geworfen?
({1})
Ich habe die Steine einfach in die Luft geworfen, ja.
({0})
Das Wort zu einer
weiteren Zusatzfrage erteile ich Herrn Kollegen Pflüger.
Herr Bundesminister, ich möchte Sie fragen, wann Sie aufhören wollen,
uns Gewalt gegen Polizisten, das Verprügeln von Polizisten und das Treten nach Polizisten als Gegengewalt gegen
Polizisten, die prügeln, darzustellen.
Ich möchte Sie zweitens fragen: Wo beginnt für Sie eigentlich genau Terrorismus? Wo beginnt für Sie - ({0})
- Dann stelle ich eine Zusatzfrage und warte, bis ich die
nächste stellen kann.
Herr Minister, bitte.
Herr Kollege Pflüger, ich bin permanent in der Situation,
etwas erklären zu sollen, ohne es zu rechtfertigen. Aber
ich muss es erklären, wenn wir über das damalige Verhalten sprechen. Das werden gerade Sie verstehen. Ich
möchte jetzt nicht noch einmal die ganze Situation vor
Ihren Augen entstehen lassen, was es bedeutet, wenn man
selbst einmal Opfer eines Übermaßes an staatlicher Gewalt geworden ist.
({0})
- Entschuldigung, es mag sein, dass Sie das nie erfahren
haben.
Ich möchte jetzt nicht den ehemaligen Polizeipräsidenten von Frankfurt, Müller, der damals für uns eine - ich
sage es nochmals - Hassfigur war - im Rückblick auch
dies eine Verblendung -, zitieren. Ich könnte jetzt zitieren,
wie er gegenüber AP die damalige Situation dargestellt
hat. Nur geht es mir nicht darum, das zu rechtfertigen. Aus
heutiger Sicht oder schon aus der Sicht nach 1977 war
dies etwas, was wir nicht hätten tun sollen und tun dürfen.
Insofern müssen Sie nicht annehmen, mich an diesem
Punkt mit dem Nachgang von fast 30 Jahren noch auf den
Pfad der Gewaltfreiheit bringen zu müssen. Ich meine,
das hat mein bisheriges politisches Leben klargemacht.
({1})
Herr Kollege Pflüger, wenn ich in Kommentaren seriöser Blätter lese, dass 1968 und der Frankfurter Häuserkampf, bei dem es um den Erhalt des Westends ging, mit
der Noltedebatte oder gar mit dem Nationalsozialismus
vergleichbar seien, muss ich Ihnen allerdings sagen: Hier
scheinen die Proportionen völlig verloren gegangen zu
sein.
({2})
Bei allem, was wir falsch gemacht haben, bei allem, wofür
wir Verantwortung zu übernehmen haben, wofür wir uns
zu entschuldigen haben und wovon wir uns zu trennen
hatten, war es doch letztendlich eine Freiheitsrevolte mit
Elementen totalitärer Gewalt.
({3})
An diesem Punkt, Herr Kollege Pflüger, bin ich dann anderer Meinung. Es hatte totalitäre Elemente, es hatte gewalttätige Elemente, zu denen ich persönlich auch zu stehen habe; aber 1968 und das Folgende hat zu mehr
Freiheit und nicht zu weniger Freiheit in diesem Lande
geführt. Das ist meine Haltung bis heute.
({4})
Kollege Pflüger, ich
erlaube Ihnen noch eine Zusatzfrage.
Herr Bundesminister, Sie haben eben gesagt, dass Sie sich vom Terrorismus nicht nur distanziert, sondern ihn immer bekämpft
haben. Ich zweifle gar nicht daran, dass Sie Leute aufgefordert haben, nicht Terroristen zu werden. Herr Kollege
Lippelt hat eben von der Dokumentation in der „FAZ“ gesprochen. Dort wird folgende Äußerung von Joschka
Fischer auf dem Pfingstkongress des Sozialistischen
Büros aus dem Jahr 1976 zitiert:
Gerade weil unsere Solidarität den Genossen im
Untergrund gehört, weil wir uns so eng mit ihnen
verbunden fühlen, fordern wir sie auf, Schluss zu
machen, die Bomben wegzulegen und die Steine
wieder aufzunehmen. Aber wir können uns nicht einfach von der Stadtguerilla distanzieren, weil wir unter demselben Widerspruch leiden.
War die Distanzierung vom Terrorismus eine grundsätzliche oder war sie nicht vielmehr eine taktische,
({0})
weil die revolutionäre Situation für den Terrorismus nicht
reif gewesen ist?
({1})
Kollege Pflüger, ich will hier zu der Frage, ob eine revolutionäre Situation da gewesen ist, eine sehr ernste, nachdenkliche Antwort versuchen, auch wenn ich weiß, dass
auch das wieder entsprechende Reaktionen mit sich bringen wird: Ja, Teile der neuen Linken damals haben eine
revolutionäre - das heißt auch: eine gewalttätige, eine
nicht demokratische - Politik nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Das war der eigentliche politische Fehler, den
ich mir selbst vorwerfe. Das ist der eigentliche Kern. Als
ich die Schriften etwa von Manès Sperber oder
Solschenizyn Anfang der 70er-Jahre zum ersten Mal in
den Händen hatte, habe ich sie sofort wieder weggelegt
- ab Mitte der 70er-Jahre habe ich sie verschlungen -; das
ist der eigentliche politische Vorwurf, den ich mir selbst
mache, bis heute. Daraus ist das entstanden. Ich bin gerne
bereit, darüber sehr ernsthaft zu diskutieren. Ich sage das
hier in aller Offenheit.
Aber was Sie ansprechen, ist etwas völlig anderes:
Diese Rede ist sehr genau überlegt worden. Es war der
Versuch, Leute daran zu hindern, in den Untergrund zu
gehen, und es war der Versuch, die im Untergrund zu
überzeugen. Dass sie teilweise darüber gelacht haben, ist
das eine; dass andere darüber diskutiert haben, ob man
Cohn-Bendit und Fischer nicht eliminieren muss, habe ich
vor einer Woche erfahren.
({0})
- Nein, ich werde nicht zum Opfer. - Gerade in dieser
Antwort habe ich versucht, klar zu machen, wo ich den
Kernfehler sehe: in der Entscheidung - nicht nur meiner,
sondern der politischen Entscheidung -, auf Gewalt zu
setzen unter dem Signum der Revolution, gegen die entstehende Demokratie der Bundesrepublik Deutschland.
Ich stelle mich zu dieser Verantwortung, weil das für mich
bis heute den Kern des Problems ausmacht. Das hat nichts
mit einer Rechtfertigung zu tun.
({1})
Das Wort zu einer Zusatzfrage erteile ich Kollegin Antje Vollmer.
Herr Minister, da ich - wie auch Sie - finde, dass der, der
zu den 68ern gehörte, auch die Pflicht und die Verantwortung hatte, sich mit Terrorismus und dieser Form der Gewalt auseinander zu setzen: Darf ich Sie daran erinnern,
dass es aus unserer Fraktion heraus einen Versuch gegeben hat, den Terrorismus zu beenden - der im Übrigen
erfolgreich war -, der darin bestand, den Dialog mit Terroristen zu führen? Auch ich persönlich habe viele Gespräche mit denen geführt und habe für diese Gespräche
auch andere Personen aus unserer Fraktion angeboten. Es
war so, dass den Terroristen zwei Namen am verhasstesten waren, nämlich Dany Cohn-Bendit und Joschka
Fischer, und zwar genau wegen dieser Absage während
der Römerberg-Gespräche. Ist Ihnen das noch in Erinnerung?
Mir ist das im Detail in Erinnerung. Ich hätte mir gewünscht, dass ähnlich wie in Italien die Bemühungen,
diesen sinnlosen, mörderischen Terrorismus, den wir
noch zu Beginn unserer parteipolitischen Existenzen als
parlamentarische Fraktion mitbekommen haben, zu beenden, früher erfolgreich gewesen wären. Im Übrigen
habe ich dazu aus meiner Sicht schon alles gesagt.
Eine letzte Zusatzfrage zu dieser Frage, Herr Kollege von Klaeden.
Ich möchte die
Frage der Kollegin Vollmer zum Anlass nehmen, zunächst
einmal festzustellen, dass an meiner Aussage, Sie hätten
dem Terrorismus eine Absage erteilt, wohl so viel nicht
falsch gewesen sein kann, wenn, wie ich gerade gehört
habe, das dazu geführt hat, dass Sie so verhasst gewesen
seien.
Weil die Initiative der Fraktion zur Bekämpfung des
Terrorismus angesprochen worden ist, will ich Sie etwas
fragen: Ihr Freund Daniel Cohn-Bendit hat gestern in n-tv
gesagt, dass er den Terroristen Hans-Joachim Klein bei
seiner Flucht und in seinem Versteck finanziell unterstützt
hat.
Ich frage Sie erstens, ob auch Sie eine solche oder andere Unterstützung geleistet haben, und zweitens: Wussten Sie, dass Daniel Cohn-Bendit diese Unterstützung leistet, und haben Sie von dem Aufenthaltsort Kleins
gewusst?
Ich habe gestern vor Gericht diesbezüglich - wie Ihnen
Ihre dort anwesende Kollegin sicherlich berichtet hat klar und eindeutig, ohne danach gefragt worden zu sein,
Stellung genommen. Ich will dies aber auch für Sie hier
tun: Nein, an mich wurde nicht herangetreten. Insofern
habe ich auch nichts davon gewusst. Allerdings, wäre
man an mich herangetreten - diese Frage haben Sie nicht
gestellt, ich beantworte sie dennoch -, hätte ich ihm auch
geholfen, aus der Terrorszene auszusteigen.
Ich nehme an, Sie wissen, dass Dany Cohn-Bendit in
Absprache mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz alles versucht hat, Herrn Klein dazu zu bringen, dass er sich
stellt. Ihm werden schwerste Taten vorgeworfen. Dafür
wird er ein Urteil bekommen, das er akzeptieren muss. Es
ist aber etwas völlig anderes, sich dann von dem Menschen zu distanzieren, nicht von dem, was er getan hat,
sondern von dem Menschen, der auch nach dem Urteil einen Anspruch auf Achtung seiner Menschlichkeit hat.
Dies gilt vor allen Dingen dann, wenn es darum geht, dass
er aussteigt.
Von der damaligen Situation Ende der 70er-Jahre weiß
ich: Dany Cohn-Bendit wurde teilweise physisch angegriffen. Der „Pflasterstrand“, den Sie heute zitieren,
wurde unter anderem wegen bestimmter Artikel direkt angegriffen. Dany Cohn-Bendit - ein politischer Freund,
dem ich sehr viel verdanke, weil ich nicht weiß, wo ich,
der junge Joschka Fischer, und viele andere in Frankfurt
ohne ihn gelandet wären - hat weiß Gott unter anderem
auch durch das, was er für Hans-Joachim Klein gemacht
hat, viel dazu beigetragen, diesen mörderischen Irrsinn
wirklich zu beenden. Dass er am Ende nicht erfolgreich
war, ist eine Tragödie, die er mit sich selbst herumträgt.
({0})
Wir kommen damit
zur Frage 13 des Abgeordneten Volker Kauder:
In welcher konkreten Art und Weise war der Bundesminister
des Auswärtigen und Stellvertreter des Bundeskanzlers, Joseph
Fischer, an der Vorbereitung und Ausführung einer militanten Demonstration am 10. Mai 1976 in Frankfurt am Main beteiligt, bei
der ein gezielt geworfener Brandsatz den Polizeibeamten J. W. in
seinem Einsatzfahrzeug am Rossmarkt entflammte, und trifft es
zu, dass der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer, sich
am Vorabend dieser „Schlacht“ für den Einsatz von Brandsätzen
ausgesprochen hat ({0})?
Herr Kollege Kauder, nein, ich habe damals weder ein
Strategietreffen geleitet noch hatte ich die von Ihnen unterstellte Einstellung.
Zusatzfrage.
Herr Außenminister, haben Sie an diesem Treffen am 9. Mai 1976, am Vorabend
dieser Großdemonstration, bei der die Molotowcocktails
geflogen sind, teilgenommen, wenn Sie jetzt schon behaupten, Sie hätten die Sitzung nicht geleitet?
Aus meiner Erinnerung habe ich daran teilgenommen.
Aber ich habe eine völlig andere Erinnerung an dieses
Treffen, als das, was 1998 dargestellt wurde. Insofern
muss ich das entschieden zurückweisen.
Eine zweite Zusatzfrage.
Ich habe nicht behauptet, dass Sie dabei waren. Ich habe auch nichts zum Inhalt
gesagt.
({0})
Ich habe Sie in meiner Zusatzfrage nur gefragt, ob Sie an
diesem Treffen teilgenommen haben,
({1})
in dem nach Auskünften von Teilnehmern über den Einsatz von Molotowcocktails gesprochen wurde.
Aber nun zu meiner zweiten Zusatzfrage: Herr Außenminister, ist es richtig, dass in den 90er-Jahren in der Fraktion Bündnis 90/Grüne eine Gewaltdebatte im Zusammenhang mit Castortransporten geführt worden ist und
dass Sie sich zu diesem Zeitpunkt grundsätzlich auch für
den Einsatz von Gewalt in der Demokratie ausgesprochen
haben?
({2})
Herr Kollege Kauder, man bekommt ja einiges mit. Wir
sind eine offene Gesellschaft, ein offenes Parlament und
offene Fraktionen. Dass sich die Informantin nicht traut,
diese Frage im Angesicht ihrer ehemaligen Fraktionskollegen selbst zu stellen, sondern Sie vorschickt, finde
ich traurig.
({0})
Zur Sache kann ich Ihnen nur sagen, dass ich es von der
politischen Haltung her erbärmlich finde. Die Grünen haben der CDU/CSU keine Rechenschaft abzulegen.
({1})
Ich muss Ihnen sagen, dass ich mich wirklich sehr
zurückhalten muss.
({2})
Meine Damen und Herren von der Union, wir reden nicht
über das, was ich mir aus meiner Vergangenheit in den
70er-Jahren zu Recht vorhalten lassen muss, sondern wir
reden ganz offensichtlich über eine Information einer ehemaligen Kollegin, die Ihnen zugespielt wurde. Diese Information ist schlicht falsch. Die Kollegin hat wohl nicht
den Mut, selbst zu fragen.
Sie verdächtigen meine Fraktion, dass wir uns damals,
als ich noch Fraktionsvorsitzender war, für Gewalt eingesetzt haben. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Das gilt weder für mich noch für meine Fraktion. Es ist erbärmlich,
was Sie hier machen, Herr Kollege Kauder. Das ist doch
das Allerletzte!
({3})
Kollege Kauder, nach
der Geschäftsordnung hat jeder Fragesteller zwei Zusatzfragen, die Sie schon verbraucht haben.
Herr Präsident -
Herr Kauder, schildern Sie uns ganz kurz, warum Sie noch eine dritte Frage
haben wollen.
Ich wollte nur sagen:
Die Art und Weise, wie der Herr Außenminister versucht,
nicht auf Fragen einzugehen, ist unerträglich.
({0})
Kollege Kauder, was
Sie gemacht haben, ist außerhalb der Geschäftsordnung.
Sie können in einer politischen Debatte jeden Kommentar abgeben, aber in der Fragestunde muss man sich an das
Frage-und-Antwort-Spiel halten. Das heißt, der Antwortende hat das Recht, so zu antworten, wie er es für richtig
hält. Sie können kommentieren, wo immer Sie wollen,
aber nicht in einer neuen Frage.
({0})
Eine Zusatzfrage der Kollegin Bonitz.
Herr Minister, aus der Erregung bei Ihrer Antwort schließe ich, dass Sie fürchten,
Ihnen könnte heute ein immer noch nicht ganz differenziertes Verhältnis zur Gewalt unterstellt werden, wie es in
Ihrem Amt erforderlich ist.
Um dies zu verdeutlichen, werde ich dazu eine konkrete Frage stellen, die sich auf die jüngste Zeit bezieht.
Es geht nicht nur um Vorgänge von vor 25 oder 30 Jahren.
Ist es zutreffend, wie in der „Welt am Sonntag“ vom
vergangenen Wochenende zu lesen war, dass Sie noch
1998, und zwar in einem Interview am 4. März 1998, Folgendes gesagt haben:
Ich war nie gewaltfrei. Ich bin es heute noch nicht in
meinen Überzeugungen. Ich war nie gewaltfrei und
in dieser Zeit schon gar nicht.
Haben Sie dies so gesagt?
Als Nächstes kommt sicherlich die Frage: Schlagen Sie
Ihre Frau?
Ich muss Ihnen sagen: Meine Position habe ich mehr
als sehr klar erläutert. Ich habe gesagt: Für mich ist aufgrund meiner Erfahrung Gewalt verabscheuungswürdig.
({0})
- Gewalt im Allgemeinen. Die Differenzierung zwischen
Sachen oder Personen ist mit mir nicht zu machen. Ich bin
gegen Gewalt.
({1})
- Ich komme gleich auf 1998 zu sprechen.
Ich bin aufgrund meiner Erfahrungen ein überzeugter
Anhänger des staatlichen Gewaltmonopols geworden,
weil ich erlebt habe, wohin nicht staatliche Gewalt führen
kann und was es bei der eigenen Person bewirken kann.
Ich komme jetzt auf das Jahr 1998 zu sprechen. Wenn
nichts mehr hilft, kann ich allerdings Gewalt als allerletztes Mittel nicht ausschließen; denn sonst hätte ich doch
zurücktreten müssen,
({2})
bevor der Kosovo-Einsatz - ({3})
- Ja, ich habe mich auf die Staatsgewalt bezogen. Sie können mir vieles unterstellen, aber doch nicht, dass ich 1998
gesagt habe: Eigentlich bin ich dafür, dass man ordentlich
draufhauen sollte, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Das
mag bei der CDU/CSU die Sicht von Fischer sein. Aber
das ist doch grotesk und das wissen Sie ganz genau.
({4})
Gerade bei Frau Merkel wundert mich das: Wir haben
am 9. November doch zusammen demonstriert, wo es
sehr eng wurde.
({5})
- Nicht gehauen, sondern ganz im Gegenteil: aneinander
gehangen!
({6})
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Hohmann.
Herr Minister, Sie haben eben gesagt, dass Sie an dem bewussten Treffen am
9. Mai,
({0})
bei dem es darum ging, ob Brandflaschen eingesetzt werden sollten oder nicht, zumindest dabei gewesen sind. Ich
möchte konkret fragen: Haben Sie jemals Brandflaschen
hergestellt oder waren Sie an der Herstellung von Brandflaschen beteiligt?
({1})
Ich verweise auf meine Antwort zu Frage 1. Ich habe das
klar und definitiv verneint.
Eine Zusatzfrage des
Kollegen Wilhelm.
Herr
Minister, Christian Schmidt hat in seinem Buch zu der
Frage Ihres Einsatzes an diesem Abend eine andere Darstellung als Sie gegeben. Er hat ausgeführt, dass Sie vehement für die - wie er formuliert - „Wunderwaffe“ plädiert hätten. Nur einer kann Recht haben: er oder Sie.
Wenn er Unrecht hat, warum sind Sie dann gegen die
Behauptungen in seinem Buch nicht gerichtlich vorgegangen? Beabsichtigen Sie, vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion dies noch zu tun?
Ich bin auch nicht gerichtlich gegen die Behauptungen der
hessischen CDU und anderer, ich wäre der Karry-Mörder,
vorgegangen. Andere behaupten, ich wäre ein Polizeispitzel gewesen. Die Tatsache, dass ich nicht dem Haftrichter
vorgeführt wurde, wird ja mitnichten als entlastend interpretiert. Es wurde gefragt: Warum wurde der nicht dem
Haftrichter vorgeführt? Eine Antwort könnte sein, dass
nichts Gewichtiges gegen mich vorlag. Der damals verantwortliche Polizeipräsident hat dies vor zwei Tagen genau so gesagt. Es wird behauptet, es fehlten Akten beim
Staatsschutz, und dabei wird sofort unterstellt, Fischers
langer Arm hätte die Akten verschwinden lassen. Es wird
behauptet, ich wäre ein Polizeispitzel gewesen, weil ich
beim Staatsschutz in die Mangel genommen wurde und
dann ausgepackt hätte. Deswegen seien auch die Akten
verschwunden. Ich habe das zum ersten Mal gehört und
werde auch dagegen nicht vorgehen.
Heute habe ich auf dem Wege hierher einen Anruf bekommen, in dem mir mitgeteilt wurde, dass behauptet
wird, westliche Geheimdienste hätten noch Akten über
mich, nach denen ich mit ihnen kooperiert hätte. Die
nächste Stufe werden östliche Geheimdienste sein.
({0})
Gegen all das werde ich nicht vorgehen, weil das Spiel
völlig klar ist: Es werden Behauptungen aufgestellt, die
sich auf Erinnerungen gründen. Herr Schmidt hat solche
Behauptungen 1998 - also 22 Jahre nach den Vorfällen zum ersten Mal formuliert. Es werden Behauptungen aus
dem Gedächtnis aufgestellt und wir erleben doch gegenwärtig im Zusammenhang mit Herrn Schäuble und Frau
Baumeister, was Behauptungen aus dem Gedächtnis bewirken.
Soweit ich es mitbekomme, ist es doch in der hessischen CDU schwierig, sich an die vergangenen Wochen
oder Monate zu erinnern.
({1})
Tun Sie doch nicht so, als ob das bei Ihnen eine Chorknaben- oder Chormädchenveranstaltung wäre. Wenn ich mir
in diesem Zusammenhang die Gedächtnislücken bzw. Gedächtnisleistungen ansehe, muss ich Ihnen sagen: Ich
habe Ihnen hier klipp und klar Antwort gegeben. Im Übrigen können Sie im „Spiegel“ schon wieder eine andere
Version lesen.
Jetzt werden Sie mich gleich wieder fragen: Haben Sie
gesagt: „Sei es drum“? Ich werde also 25 Jahre danach gefragt, ob ich „Sei es drum“ gesagt hätte. Herr Wilhelm:
Was haben Sie vor 5 Jahren auf einer CDU-Kreisversammlung gesagt? Es wird behauptet, ich hätte die Versammlung geleitet. Die meisten Sponti-Versammlungen
wurden überhaupt nicht geleitet.
({2})
Es gibt über mich einen Artikel, den Sie gerne nachlesen
können. Darin wird ausgeführt, dass ich, als ich 1983 zum
ersten Mal in den Bundestag gewählt wurde, über das formelle Sitzungsgebaren kulturell schockiert war, weil ich
das überhaupt nicht gewöhnt war. Es wird weitergehen
und plötzlich behauptet werden: „Herr Carlos: CohnBendit und Fischer waren unser Waffendepot.“ Was wird
der nächste Vorwurf sein?
Das Wort zu einer Zusatzfrage erteile ich der Kollegin Vollmer.
Herr Minister, Sie haben mir schon teilweise das Stichwort geliefert. Im Hinblick auf das besagte Treffen am
9. Mai möchte ich Sie fragen: Könnte es schlichtweg sein,
dass die Kollegen von der CDU/CSU - das kann man milieu- und altersmäßig sehr gut verstehen - einfach keine
Ahnung haben, wie ein Sponti-Treffen aussah,
({0})
dass sie sich ein Sponti-Treffen ungefähr wie eine Parteiversammlung mit Vorsitz, Tagesordnung, Wortführern
und Beschlussfassung am Ende vorstellen?
Herr Minister.
Frau Kollegin Vollmer, Sie haben ja weiß Gott erlebt, welche Schwierigkeiten ich in der Anfangsphase der Grünen
mit dem formellen Sitzungsgebaren, der Geschäftsordnung, den Geschäftsordnungsanträgen, der Sitzungsleitung und Ähnlichem hatte.
({0})
- Ja, auch das hat sich geändert. - Sie haben Recht: Mit
solchen Dingen habe ich generell ein Problem. Das gebe
ich ganz offen zu.
Politisch und intentional ist der Sinn der Fragen nach
meiner Vergangenheit klar. Das habe ich nicht zu kritisieren. Aber man kann die damalige Situation nicht wirklich
bewerten, wenn man sie nicht konkret kennt.
({1})
- Darum geht es doch gar nicht. Ich habe hier nun weiß
Gott klargemacht, ab wann es in meiner Position zur Gewalt einen Bruch gab, ich mich von der Gewalt distanziert
habe. Wie oft soll ich es noch wiederholen?
({2})
Zu einer Zusatzfrage
erteile ich dem Kollegen Siemann das Wort.
Herr Minister, Sie haben eingeräumt, militant gewesen zu sein und sich strafrechtlich relevant verhalten zu haben. Sie haben sich dafür
entschuldigt und erwecken hier den Eindruck, dass es damit für Sie erledigt sei. Billigen Sie die gleichen Entlastungs- und Bagatellisierungsmöglichkeiten den Tätern zu,
die sich, links- und rechtsextremistisch motiviert, heute
genauso verhalten wie Sie damals?
Ich muss zurückweisen, dass ich hier irgendetwas bagatellisiert habe. Das muss ich klar sagen.
({0})
Ich habe - Sie haben das angesprochen - es immer für
verachtenswert gefunden - ich finde das bis heute so -,
Schwächere zu schlagen und zu treten. Wir haben uns damals nicht gegen die Bewohnerinnen und Bewohner, die
teilweise auf übelste Art und Weise malträtiert und traktiert wurden, gewandt. Wir haben damals versucht, Familien von so genannten Gastarbeitern und Arbeitsemigranten zu beschützen.
({1})
- Oh ja! Das kann ich Ihnen sagen: zum Beispiel vor
Trupps, die versuchten, Häuser auf illegale Art und Weise
mieterfrei zu bekommen, weil sie im Sanierungsgebiet lagen und abgerissen werden sollten. Das rechtfertigt
nicht - ich sage das ausdrücklich, damit ich gleich nicht
wieder missverstanden werde - den Schritt zur Gewalt.
Aber Sie müssen den Unterschied zwischen heute und damals sehen. Darauf lege ich sehr großen Wert.
({2})
Ich erteile der Kollegin Buntenbach das Wort zur letzten Zusatzfrage zu dieser Frage.
Herr Minister, halten Sie es nicht auch für ein trauriges Zeugnis von mangelnder Auseinandersetzung mit
der neueren und neuesten Geschichte und der politischen
Kultur, wenn man sich wie die CDU/CSU so sehr in lieb
gewonnene Ideologien verbissen hat, dass man trotz all
der erschreckenden Bilder von rassistischer und rechtextremer Gewalt den Rechtsextremismus mit dem Linksextremismus gleichsetzt und jetzt die Lücke, die mangels
aktueller Bilder von linksextremer Gewalt entstanden ist,
mit einem historischen Rückgriff füllt, weil einem alte
und falsche Ideologien wichtiger sind als die gesellschaftliche Realität, und teilen Sie die Auffassung, dass
eine solche Gleichsetzung nicht nur sachlich völlig verfehlt ist, sondern allzu oft auch dem Zweck dient, sich aus
der Verantwortung für die Bekämpfung des Rechtsextremismus zu stehlen?
({0})
Frau Kollegin Buntenbach, was den Zwischenruf „Linker
Mord ist besser als rechter Mord“ betrifft, so sehe ich im
wiedervereinigten Deutschland einen Riesenfortschritt.
Dieser besteht darin, dass das - hoffentlich - in unserer
Geschichte, und zwar hauptsächlich die Linken und nicht
die Rechten betreffend, nie wieder eine Rolle spielt. Ich
denke, das ist einer der ganz großen Fortschritte. Dazu
haben namhafte Christdemokraten - ich darf an Richard
von Weizsäcker mit seiner Rede 1985, aber auch an
Helmut Kohl mit seiner Europapolitik und andere erinnern - wesentlich beigetragen.
({0})
Ich möchte an Sie appellieren, dass wir das Denken
„Linker Mord ist besser als rechter Mord“ oder „Rechter
Mord ist besser als linker Mord“
({1})
- lassen Sie mich das einmal erläutern - lassen.
({2})
Ich will Ihnen auch an dieser Stelle noch einmal sagen:
Das, was Linke in den 70er-Jahren getan haben, nämlich
Menschen zu Schweinen zu erklären und zu meinen, sie
ermorden zu dürfen, und dieses als revolutionäre Tat zu
feiern, ist das Schlimmste, was sich die Linke, die damals
zur Gewalt gegriffen hat, die terroristische Linke, vorzuwerfen hat. Ich verabscheue dies.
({3})
Aber genauso sollten wir das auch für rechts gelten lassen.
({4})
Wenn ich eine Konsequenz zu ziehen habe, dann ist es
folgende - ich sage das nochmals -: Ich werde in bestimmten Situationen - nicht in rechtsstaatlichen Situationen, aber dort, wo Menschen unterdrückt werden und
wo sie keine andere Alternative haben, als sich spontan zu
wehren - immer auf der Seite der Unterdrückten stehen,
die sich wehren. Ich habe dies schon gemeinsam mit
CDU- und CSU-Abgeordneten erlebt: Als damals der
Putsch in Moskau war, waren wir im Landtag gemeinsam
froh, als die Putschisten gewaltsam niedergeschlagen
wurden und Jelzin auf dem Panzer schließlich gesiegt hat.
Aber jenseits der Fälle, in denen Gewalt als letztes Mittel für Freiheit und Leben eingesetzt wird, ist sie kein Mittel der Politik. Ich bitte Sie, dabei nicht wieder zwischen
links und rechts zu unterscheiden; vielmehr muss die
Konsequenz sein, dass dies ausgeschlossen ist
({5})
und dass diejenigen, die die Mehrheit haben - ob es die
Linken oder die Rechten sind -, nie wieder so die Ohren
verschließen sollten, wie das unter anderem Ende der
60er-Jahre historisch bedingt gegenüber der jüngeren Generation der Fall war. Auch das sollte man nicht tun.
({6})
Wir kommen damit
zur Frage 14 des Kollegen Kauder:
Wenn nein, hatte der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph
Fischer, positive Kenntnis - zum Beispiel durch seine Leitung des
„Strategietreffens“ am Vorabend der Demonstration -, dass andere
Teilnehmer im Vorfeld Brandsätze hergestellt und zum gezielten
Werfen auf Polizeibeamte aufgerufen haben?
Bitte sehr, Herr Minister.
Herr Abgeordneter Kauder, die Frage bezieht sich im
Grunde genommen auf all das, was hier über Spontitreffen schon gesagt worden ist. Ich habe damals weder ein
Strategietreffen geleitet noch hatte ich die von Ihnen unterstellten Erkenntnisse.
Gibt es dazu
Zusatzfragen? - Kollegin Lengsfeld, bitte.
({0})
Herr Minister, möchten
Sie erstens bitte zur Kenntnis nehmen, dass die Frage, die
der Kollege Kauder vorhin gestellt hat, nicht mit mir
abgestimmt war und dass ich auch nicht dahinter stand?
Herr Minister, möchten Sie als Zweites zur Kenntnis
nehmen,
({0})
dass ich mich, weil Sie bei meinem Parteiübertritt von den
Grünen zur CDU sehr fair gewesen sind, was man nicht
von allen Kollegen aus der grünen Partei, besonders den
Thüringern, sagen kann, nicht in der Öffentlichkeit gegen
Sie äußern wollte?
Ich möchte aber über den Sachverhalt sprechen, den
ich in einer Fraktionsvorstandssitzung mitgeteilt hatte.
War es nicht so, dass in einer Diskussion der grünen Bundestagsfraktion anlässlich der Blockade der Castortransporte von mir und anderen Kollegen aus der Fraktion
gefordert wurde, dass sich die grüne Fraktion von den gewaltsamen Vorgängen während des Castortransports distanziert, und war es nicht so, dass Sie als Fraktionsvorsitzender damals verhindert haben, dass dieser Antrag oder
diese Bitte der Fraktionskollegen von der Fraktion übernommen worden ist?
({1})
Gar nicht „Hört! Hört!“ - es war nicht so!
({0})
- Nicht „lebhafte Änderungen“. - Ich sage Ihnen, Frau
Kollegin Lengsfeld: Es war nicht so! Im Gegenteil, Sie
werden öffentliche Äußerungen von mir in der damaligen
Situation finden, die definitiv und klar besagen: friedlicher Protest - ja! Verkehrsblockaden, Transportgefährdungen etc. - nein! Das können Sie nachlesen.
({1})
- Sicherlich können Sie das nachlesen.
Frau Kollegin Lengsfeld, ich muss ganz ehrlich sagen
- seien Sie mir nicht böse -: Ich habe von dem, was ich
vorhin gesagt habe, wirklich gar nichts wegzulassen. Ich
bin heute um eine menschliche Enttäuschung reicher geworden. Das muss ich Ihnen sagen.
({2})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, mir ist mitgeteilt worden, dass die weiteren
Fragen zu diesem Themenkomplex nicht und die Fragen
zu den übrigen Geschäftsbereichen schriftlich beant-
wortet werden sollen.1)
Gemäß Nr. 1 b der Richtlinien in Anlage 5 unserer Geschäftsordnung hat die Fraktion der CDU/CSU eine Aktuelle Stunde beantragt.
Ich rufe auf:
Aktuelle Stunde
Ich erteile als Erstem dem Kollegen Bosbach,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundesminister
Fischer, um es gleich auf den Punkt zu bringen: Sie waren
in den Jahren und Jahrzehnten, über die wir heute
sprechen, nicht Opfer, sondern Täter.
({0})
1) Nicht beantwortet bzw. zurückgezogen: Fragen 6, 12, 15 bis 25, 33,
36 und 37.
Sie mussten sich nicht gegen eine brutale, repressive
Staatsmacht zur Wehr setzen. Sie wollten diesen Staat
- die parlamentarische Demokratie und die freiheitlichste
Verfassung, die wir jemals hatten - angreifen. Sie wollten
unschuldige Menschen angreifen.
({1})
Sie haben angegriffen und sich nicht, wie Sie hier glauben
machen wollen, verteidigt. Sie haben in einer Antwort
heute lapidar gesagt, Sie hätten Steine motivlos in die Luft
geworfen. Das ist nicht lustig.
({2})
Frau Kollegin Vollmer, bei allem Respekt vor Ihrem
Amt und Ihrer persönlichen Leistung: Wenn Sie hier in
einer persönlichen Bewertung ein Spontitreffen vom
9. Mai 1976 als eine Art Karnevalsveranstaltung
({3})
mit politischem Touch charakterisieren - wohl wissend,
dass am nächsten Tag ein Polizeibeamter fast zu Tode gekommen ist -, dann ist das in jeder Hinsicht inakzeptabel.
({4})
Ihre Vergangenheit, Herr Minister, ist heute einmal
mehr nicht zuletzt deshalb Thema, weil Sie Ihre - im
wahrsten Sinne des Wortes - fragwürdige Vergangenheit
nicht einfach wie eine alte Jeans oder einen Motorradhelm
entsorgen können. Auch mit staatsmännischer Attitüde
können Sie Ihre Vergangenheit und Ihre heutige Haltung
zu Ihrem damaligen Treiben nicht vergessen machen. Sie
wollen sich mit dem Hinweis rechtfertigen, Sie stünden zu
Ihren Taten, sie seien schließlich Bestandteil Ihrer Biografie. - Die Tat eines jeden Täters ist Bestandteil seiner
Biografie! Was soll sie anderes sein?
({5})
Sie haben bis zur Stunde ohnehin nur das zugegeben,
was man Ihnen längst nachgewiesen hat und was Sie
ernsthaft nicht bestreiten können.
({6})
Ihre Rechtfertigungsversuche machen die Sache nicht
besser, eher schlimmer.
({7})
Ihre Verteidiger sagen: Es handelt sich um Jugendsünden.
Wollen Sie ernsthaft den Angriff eines 25-Jährigen auf einen Polizeibeamten mit der Schwarzfahrt eines 15-Jährigen vergleichen? Es ist doch albern, überhaupt eine solche Erklärung abzugeben!
({8})
Originalzitat unseres Außenministers:
Ich habe nie bestritten, dass ich fast zehn Jahre lang
auch unter Einsatz von Gewalt die verfassungsmäßige Ordnung in der Bundesrepublik umstürzen
wollte. ... Wir haben uns nicht an die Regeln des
Strafgesetzbuches gehalten.
Wie sollen die Menschen folgenden Satz aus Ihrem
„Stern“-Interview verstehen?
Zuerst wurde man geschlagen, dann hat man sich
gewehrt und zurückgeschlagen. Dann begann auch
die Faszination revolutionärer Gewalt.
Wollen Sie den Menschen ernsthaft einreden,
({9})
Sie seien selber völlig schuldlos von Polizeibeamten
grundlos niedergeknüppelt worden und hätten sich dann
zehn Jahre lang in einer Art Notwehrsituation gegen diesen Staat verteidigen müssen?
Ihre Argumentation passt zu Ihrer neuen Hoffnungsträgerin Claudia Roth - dieses Zitat muss man sich auf der
Zunge zergehen lassen -, die in N-TV Folgendes gesagt
hat:
Der Staat hat damals Fehler gemacht, war hoch
gerüstet, es gab systematische Entrechtung, Berufsverbote, viel Hysterie.
({10})
Vielleicht hätte es keine RAF gegeben und Ulrike
Meinhof wäre Familienministerin geworden, wenn
der Staat anders reagiert hätte.
({11})
Im Klartext: Nicht Herr Fischer oder die RAF-Terroristen tragen Schuld, sondern der angeblich hoch gerüstete
Staat. Schuld am Terror waren nicht die Terroristen,
schuld am Terror war der Staat.
({12})
Schuld waren nicht die Täter, schuld waren die Umstände.
Wie oft haben wir das schon von anderen gehört!
({13})
Wo bleibt eigentlich, liebe Kolleginnen und Kollegen,
die flächendeckende Empörung bei der SPD angesichts
dieser Geschichtsfälschung? Gemeint ist doch der Staat
von Helmut Schmidt und Willy Brandt.
({14})
Alle Attacken, die hier gefahren werden, richten sich im
Kern gegen die damalige Bundesregierung. Willy Brandt
hatte seinerzeit gesagt: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“
Kollege Bosbach, Sie
haben Ihre Redezeit überschritten.
Ich komme gleich
zum Schluss.
Wenn Frau Künast sagt, Joschka Fischer repräsentiere
das Schicksal einer ganzen Generation, dann zeigt dies
das Ausmaß der Verblendung und Anmaßung und es ist
eine Beleidigung dieser Generation.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Peter Struck, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beiträge, die ich
eben in der Fragestunde von den Kolleginnen und Kollegen aus der Unionsfraktion gehört habe, lassen mich zu
dem Ergebnis kommen: Ihnen geht es nicht um die Sache,
sondern Ihnen geht es darum, einen Menschen wegen
seiner politischen Vergangenheit zu vernichten, ihn politisch zu beschädigen.
({0})
Ich sage Ihnen klipp und klar: Wir lassen das nicht zu. Der
Außenminister der Bundesrepublik Deutschland hat die
volle Solidarität der SPD-Bundestagsfraktion.
({1})
Sie wollen nur davon ablenken, dass Sie keine inhaltlichen Alternativen zu unserer Politik haben, und deshalb
versuchen Sie es über die Person.
({2})
Was Sie machen, ist unanständig.
({3})
Es wird jemand aus der Fraktion als Prozessbeobachter
geschickt, um aufzupassen, was der Zeuge sagt. Offenbar
ist Ihre ganze Fraktion verpflichtet worden, ein Buch von
jemandem zu kaufen, der Joschka Fischers Vergangenheit
diskriminieren will. Was ist das denn für eine Art und
Weise der politischen Auseinandersetzung? Das hat doch
mit Seriosität nichts mehr zu tun!
({4})
Viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten halten den Weg, den Joschka Fischer gegangen ist, nicht für
richtig.
({5})
- Ich habe es nicht für richtig gehalten - viele meiner
Parteifreundinnen und Parteifreunde auch nicht -, mit Gewalt gegen Menschen oder Sachen diesen Staat bekämpfen zu wollen.
({6})
Das, was Joschka Fischer und seine politischen
Freunde damals aus ihrer politischen Situation heraus gemacht und zu verantworten haben, war eine Folge ihrer alleinigen Entscheidung. Wenn der Außenminister der Bundesrepublik Deutschland heute sagt, dass er diese
Entscheidung bedauert, und sich für das, was er getan hat,
entschuldigt,
({7})
dann sollten Sie so viel Anstand haben, das anzuerkennen,
und ihm daraus nicht einen Strick drehen.
({8})
Jeder hat seine Vergangenheit und jeder hat Brüche in
seiner Vergangenheit. Kollege Merz hat ja auch von seiner eigenen Vergangenheit gesprochen. Da gibt es offenbar ebenfalls einige Brüche.
({9})
Er hat sich mit tapferen Taten als Motorradfahrer gebrüstet und so weiter - darüber will ich gar nicht reden. Ich
finde nur: Sie sollten sich nicht zum Handlanger von Pressekonzernen machen, die versuchen wollen, diese Regierung auf so unanständige Weise aus dem Amt zu bringen.
Das wird Ihnen nicht gelingen.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Gerhardt, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Ich kann mich über manches
Gelächter bei dieser Debatte nur sehr wundern. Es gibt
bestimmte Grundsätze, die wir nicht bereit sind, irgendeinem Amüsierbetrieb preiszugeben.
({0})
Um gleich darauf zu sprechen zu kommen: Egal, ob im
Zusammenhang oder aus dem Zusammenhang - Herr
Bundesaußenminister, ich beziehe mich auf Ihre Rückfrage zum Kollegen von Klaeden, man möge Ihnen den
Zusammenhang darstellen und Sie seien bereit, den gesamten Artikel im „Pflasterstrand“ nachzulesen -; auch
ein Zusammenhang legitimiert nicht den Gedankengang,
nach der Ermordung von Ponto, Buback und Schleyer zu
sagen: Bei den drei hohen Herren mag bei mir keine
rechte Trauer aufkommen.
({1})
Ich sage das ganz offen. Das rechtfertigt kein Zusammenhang; dafür gibt es keinen Grund. Ein Demokrat darf nicht
einmal in die Nähe eines solchen Gedankenganges kommen.
({2})
Zum zweiten Sachverhalt. Ihre Entschuldigungen sind
in so manche Koketterie mit Ihrer Biografie eingestreut.
({3})
Es handelt sich nicht um Jugendsünden. Der Mann war in
der zweiten Hälfte seiner 20er-Jahre; er war voll geschäftsfähig.
({4})
Das war kein 15- oder 16-Jähriger. Wie nett ist es, dass er
hier zugibt, er habe niemals auf einen am Boden liegenden Polizisten eingeprügelt! Das sagt mir gar nichts. Mit
Gewalt auf einen Polizisten so einzuschlagen, wie es das
Bild zeigt - er steht mit der Mehrheit einem Einzelnen gegenüber -, ist unakzeptabel. Darüber muss man nicht weiter reden.
({5})
Herr Kollege Fischer, Sie sind ja nicht jemand, der einen politischen Gegner je mit Glacéhandschuhen angefasst hätte. Deshalb darf ich mir schon erlauben, einiges
deutlich zu sagen. Ich weiß, was Sie gegenüber Kollegen
gesagt haben, die in Untersuchungsausschüssen sagten,
sie könnten sich nicht mehr so erinnern.
({6})
Sie sind mit massivem öffentlichem Getöse auf diese eingestiegen. Deshalb darf ich Ihnen heute sagen: Ich respektiere Ihre Erinnerungslücken nur sehr begrenzt; denn
sie treten an ganz entscheidenden Stellen auf, die für Sie
wichtig sind.
({7})
Denn wenn diese nicht da wären und Sie sich erinnern
könnten, müssten Sie das hier debattieren und Sie hätten
keine Gelegenheit, eine feinsinnige Unterscheidung zwischen Gewalt und Gewalt zu machen. Sagen Sie ja nicht
- ich will Ihnen auf die Sprünge helfen -, das sei irgendwann beendet gewesen. Ich habe hier eine Meldung der
Associated Press, die bestätigt, was ich mit „kokettieren“
meine. Sie sind dabei nicht klar zu fassen, aber ich trage
sie hier trotzdem vor. 1997 sagte Ihre Kollegin Kerstin
Müller zu den Castortransporten, sie werde sich an Aktionen in Gorleben wohl beteiligen. Daraufhin sagten Sie, es
sei noch offen, ob Sie dorthin reisten oder ob Sie in Frankfurt Bahnschienen blockieren würden. Das ist diese Feinsinnigkeit, die unakzeptabel ist. Sie ist eine Koketterie mit
Verletzung des Rechts.
({8})
Den Sozialdemokraten sage ich: So einfach entkommen Sie nicht!
({9})
Ihr Bundeskanzler Helmut Schmidt hat sehr genau gewusst, was er 1975 im Deutschen Bundestag gesagt hat.
({10})
Damals ging es um diese ganzen feinsinnigen Kreise, die
sich zum Teil mit dem Terror nicht identifizierten, sondern
gegen ihn kämpften, indem sie sagten: Schmeißt keine
Molotowcocktails, werft lieber Steine! So möchte ich das
einmal vereinfachend darstellen.
({11})
Helmut Schmidt hat noch klar gewusst, wo Grenzen zu
ziehen sind. Er hat erklärt:
Dies muss auch denjenigen gesagt werden, die es ja
auch gibt - es sind nicht ganz so viele Menschen in
unserem Lande -, die immer noch glauben, dass die
Terroristen eigentlich einen politischen Anspruch erheben könnten. Dass sie nur leider die falschen Mittel wählten. Es muss Schluss sein mit solcher Art von
versteckter Sympathie. Wer da liebäugelt, macht sich
mitschuldig.
Ich habe dem gar nichts hinzuzufügen.
({12})
Wenn wir über Zeitumstände reden, dann über die damaligen Zeitumstände. Es handelte sich um den einzigartigen Versuch, die Freiheit im Namen der Freiheit großflächig zu bekämpfen, diesen Staat in einen anderen Staat
zu verwandeln. Wer dabei in diesem Abschnitt seines Lebens Gewalt angewandt hat, der darf damit heute nicht
noch kokettieren, kleinere Entschuldigungen streuen und
uns größere Erinnerungslücken auftischen. Das ist nicht
akzeptabel, meine Damen und Herren.
({13})
Kollege Gerhardt,
Ihre Redezeit ist überschritten.
({0})
Es genügt auch völlig, was ich hier vorgetragen habe.
({0})
Mir geht es nicht um eine kleinkarierte Kritik,
({1})
mir geht es darum, nicht zuzulassen, dass sich der Bundesaußenminister heute, anders gekleidet, seiner eigenen
Biografie mit Koketterie entledigt. In dieser Biografie
steckt ein Stück Überschreiten jeglicher Grenzen eines
demokratischen Rechtstaates. Das muss hier offen besprochen werden.
({2})
Ich erteile dem Kollegen Rezzo Schlauch, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich
während der Fragestunde, ihres frühzeitigen Abbruchs
und des Übergangs in die Aktuelle Stunde gefragt, um was
es Ihnen eigentlich geht.
({0})
Wenn Sie die Antworten des Außenministers in den letzten zwei Wochen in den Printmedien, im Fernsehen, gestern im Zeugenstand und heute hier nicht zur Kenntnis
nehmen wollen, dann kann ich nur feststellen: Es geht Ihnen offensichtlich nur noch darum, ein verlorenes Feindbild neu aufleben zu lassen, weil Sie keines mehr haben.
({1})
Es geht nicht nur um den Außenminister Fischer, sondern
es geht darum,
({2})
dass Sie einer ganzen politischen Generation den Prozess
machen und sie auf die Anklagebank setzen wollen.
({3})
Es handelt sich um eine Generation, die den Staat in seiner damaligen Verfasstheit zugegebenermaßen mit Gewalt bekämpfen wollte. Man sprach damals von der formalen Demokratie. Es ist richtig: Gewaltanwendung war
weit verbreitet, nicht nur unmittelbare Gewaltanwendung.
Gewalt ist tausendfach von vielen von uns auch öffentlich
gerechtfertigt worden. Das war so und das war falsch.
({4})
Die Gewalt ist uns aber nicht in die Wiege gelegt worden und uns nicht in unseren Elternhäusern anerzogen
worden und ist nicht in der Schule gelehrt worden. An diesem Punkt blenden Sie einen gesamten Part der Geschichte vollständig aus. Sie tun so, Herr Gerhardt, als ob
wir schon damals ein liberales, ein weltoffenes, ein tolerantes Land gewesen seien. Das war mitnichten so.
({5})
- War es liberal, war es tolerant, wenn ein Senatsrat Prill
gesagt hat: „Die Demonstranten sollen nur kommen, dann
kriegen sie eins mit dem Knüppel auf den Kopf; das ist ein
gutes Übungsfeld für unsere Polizeibeamten.“?
An diesem Punkt verstehe ich die Debatte nicht. Wir
reden hier gemeinsam über eine demokratische Erfolgsgeschichte, über die Geschichte des Erfolges unserer Demokratie,
({6})
an dem Sie Ihren Anteil hatten, an dem aber auch wir unseren Anteil hatten. Damals war von keinem Polizeipräsidenten bei einer Demonstration der Begriff der Deeskalation angewendet worden. Sie wird heute im Vorfeld jeder
Demonstration angewendet. Lesen Sie die Ausführungen
des damaligen Frankfurter Polizeipräsidenten nach, der
gesagt hat: Auch das, was wir zum Teil gemacht haben,
auf am Boden liegende Demonstranten einzuprügeln, war
nicht richtig. - Das müssen Sie doch einmal gegeneinander halten.
Wir haben die Möglichkeit, über die Anteile an der Erfolgsgeschichte der deutschen Demokratie zu diskutieren,
und das sollten wir auch tun. Sie haben einen Anteil und
wir haben einen Anteil. Meine Damen und Herren Kollegen, Sie haben dabei wiederum zwei Möglichkeiten. Sie
können sich Ihren Anteil offensiv aneignen. Dann gehen
wir wieder in die politische Diskussion zurück und dann
führen Sie die Opposition. Sie haben aber auch die Möglichkeit, Ihren Anteil sozusagen zu verleugnen und virtuell in die Zeit vor 1968 zurückzukehren nach dem Motto:
Wer hat denn Recht gehabt? Wir werden die vergangenen
Schlachten mit Ihnen jedenfalls nicht schlagen. Wir sind
unseren Weg gegangen. Wir haben uns in diesem Land demokratisch engagiert, zum Wohle dieses Landes. Das
werden wir fortsetzen. Sie haben die Möglichkeit, sich daran zu beteiligen oder in eine Uropposition von vor 1968
zurückzufallen.
({7})
Ich erteile der Kollegin Heidi Knake-Werner, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steine, Knüppel,
Fußtritte gegen Menschen habe ich früher ebenso
abgelehnt wie heute, auch und vor allem als Mittel der
politischen Auseinandersetzung.
({0})
Dies sage ich zu Anfang ausdrücklich, weil ich, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Konservativen, einen
Verdacht nicht loswerde: Der CDU und allen, die in den
vergangenen beiden Wochen so etwas wie eine öffentliche
Empörung über ein Jugendfoto des Außenministers organisiert haben,
({1})
geht es zuallererst nicht um den Nachweis einer Gewaltstraftat oder um den Außenminister persönlich; es geht ihnen in der Tat vielmehr um die nachträgliche Kriminalisierung einer ganzen Bewegung.
({2})
Es interessiert sie zwar auch, ob Minister Fischer eine
strafbare Handlung nachzuweisen ist. Aber es geht ihnen
besonders darum, dass er nach ihrer Meinung politisch
sträflichen Haltungen und Überzeugungen anhing.
Thomas Schmid brachte es am 5. Januar in der „FAZ“
auf den Punkt. Er schrieb:
Der Joschka Fischer, der heute Außenminister ist, hat
auf dem Weg dahin buchstäblich alle Überzeugungen
ablegen müssen,
({3})
die ihn einst zum politischen Tier machten.
Ich wiederhole: „Überzeugungen..., die ihn einst zum politischen Tier machten“. Wenn also jemand in der Sache
auf die Anklagebank gesetzt werden soll, dann ist es nicht
der inzwischen zum Minister gewordene Hausbesetzer
Joschka Fischer, sondern dann sind es die politischen Haltungen und Überzeugungen der 68er-Bewegung insgesamt.
({4})
Wir debattieren heute nicht über irgendeine im Frankfurter Häuserkampf begangene Jugendsünde. Diese
Debatte dient vielmehr der Geschichtsinterpretation: Es
sollen Überzeugungen und Ideale der Protestbewegung
entsorgt werden. Mich macht besonders betroffen - auch
das will ich offen sagen -, dass viele der damals Aktiven
selbst zur Entsorgung und zur Geschichtsklitterung ihrer
eigenen politischen Vergangenheit beitragen.
({5})
Es ist absurd: Da wird nachgekartet und uminterpretiert und da werden die abenteuerlichsten Vergleiche gezogen, um die 68er-Bewegung auf eine Stufe mit ihrer
faschistischen Vätergeneration zu stellen. Ich weiß nicht,
was an den Parallelen, die in den vergangenen Tagen
gezogen wurden, unappetitlicher ist: die Verharmlosung
des Faschismus oder die Verteufelung der 68er-Bewegung.
({6})
Mir scheint beides für das politische Klima in diesem
Land bedrohlich zu sein.
({7})
Als eine, die sich der 68er-Bewegung zurechnet und
dort entscheidende politische Schritte gemacht hat, will
ich deutlich sagen - ich habe es eingangs schon betont -,
dass Gewaltfreiheit zu meiner damaligen wie auch zu
meiner heutigen Überzeugung gehört. Ich sage aber auch
genauso deutlich, dass diese Überzeugung weder konfliktfrei noch leicht in meiner politischen Biografie durchzuhalten war: weder in der Anti-Notstands-Kampagne
noch in den Rote-Punkt-Aktionen, noch bei den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg oder gegen die Berufsverbote.
Ohnmächtige Wut hat viele von uns ergriffen angesichts der demonstrativ zur Schau gestellten staatlichen
Gewaltbereitschaft. Die Todesschüsse auf Benno Ohnesorg
haben bittere Spuren hinterlassen.
({8})
Wer hat sich eigentlich jemals dafür entschuldigt? Es war
Heinrich Albertz als Privatmann.
({9})
Dafür gebührt ihm auch heute noch Respekt.
Das Klima von Hetze und Hass, von politischem Muff
und von Intellektuellenfeindlichkeit sieht man auf den
Bildern von damals. Welche Wechselwirkungen damals
bestanden haben, haben Sie bis heute nicht begriffen. Ich
glaube, Sie werden es auch nicht begreifen.
({10})
Die PDS-Fraktion beschäftigt nicht vorrangig die Vergangenheit von Joschka Fischer.
({11})
Es ist die Vergangenheit einer sehr unterschiedlich rebellischen Generation. Sie darf weder von Joseph Fischer
noch von seinen politischen Gegnern insgesamt in Haftung genommen werden. Es ist die Aufgabe vieler in diesem Parlament, diese Vergangenheit endlich einmal differenziert aufzuarbeiten.
({12})
Dabei dürfen die Anstöße der 68er-Protestbewegung
für die demokratische Entwicklung in diesem Land, für
Emanzipation und für ein friedliches Zusammenleben der
Völker nicht der Auseinandersetzung um Steinewerfer,
um Molotowcocktails und um Militanz zum Opfer fallen.
({13})
Ich sage ausdrücklich: Die PDS ist weit mehr um die Gegenwart als um die Vergangenheit von Joschka Fischer besorgt. Sein heutiges Bekenntnis zur Gewaltfreiheit ist unglaubwürdig, solange von ihm Krieg als Mittel der Politik
nicht nur akzeptiert, sondern auch aktiv eingesetzt wird.
({14})
Frau Kollegin Knake-Werner, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich hatte leider
keine Uhr, Herr Präsident. - Durch die Zustimmung zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, zu den Bomben
im Kosovo und zur Gewalt gegen die Zivilbevölkerung
hat Außenminister Joschka Fischer sich endgültig von seiner Vergangenheit verabschiedet.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Gernot Erler von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Die Außenpolitik ist ein Erfolgsthema der
rot-grünen Regierung. Der Mann Joschka Fischer und
seine Politik haben in der Öffentlichkeit Popularitätswerte, von denen Sie nur träumen können, und das wird
auch so bleiben.
({0})
Jetzt wird eine Geschichte ausgegraben - keine neue,
sondern eine, mit der sich Joseph Fischer längst intensiv
und schmerzlich auseinander gesetzt hat -, die Sie überhaupt nicht interessiert. Sie interessiert weder die Frage
von Gewalt in den 70er-Jahren noch das Wechselverhältnis von Provokation und Eskalation. Selbst die Opfer interessieren Sie nicht, die es übrigens auf beiden Seiten, bei
den Polizisten, aber auch bei den Demonstranten und bei
unbeteiligten Passanten, gegeben hat. Das alles interessiert Sie überhaupt nicht.
({1})
Sie interessiert nur, wie Sie bestimmte Bilder, die Sie mit
bestimmten falschen Konnotationen in die Öffentlichkeit
bringen, politisch ausnutzen und instrumentalisieren können.
({2})
Sie sind auf Beute aus. Auf der rechten Seite des
Hauses sitzt eine ehrenwerte Jagdgesellschaft. Sie haben
vergessen, die Jagdhörner mitzubringen; aber hier drinnen und auch draußen kann man ihren Klang hören.
({3})
Dabei werden Sie keinen Erfolg haben, denn Sie machen
das alles zu offensichtlich. Ihre Treibjagd ist durchschaut;
das Publikum ist nicht so blöd, wie Sie denken.
({4})
Ihre Methode ist, gegen die real existierende Biografie
des Außenministers eine hypothetische Biografie zu setzen.
({5})
- Das ist die Logik. - Sie argumentieren: Was ist das eigentlich für ein etablierter Politiker, der in seinem Leben
einen Abschnitt hat, in dem er sich eingemischt hat, in
dem er sich aufgeregt hat, in dem er auf die Straße gegangen ist, in dem er polemisch geworden ist, in dem er radikal geworden ist, in dem er sich geirrt hat, in dem er sich
geprügelt hat, in dem er sich dann mit den eigenen Leuten
angelegt hat und schließlich aus dem eigenen Ausstieg
ausgestiegen ist? Sie fragen sich: Was ist das überhaupt
für ein Leben? Wo bleibt da die Übersicht? Warum ist er
nicht in die Jugendorganisation einer etablierten Partei, in
die Junge Union oder wenigstens bei den Jungsozialisten,
eingetreten?
({6})
Hat er überhaupt gedient? Warum hat er nicht irgendwann
einmal einen Dr. jur. oder Dr. rer. pol. gemacht, damit er
etwas in seinem Briefkopf hat? Wann hat er überhaupt seinen ersten Briefkopf gehabt?
Das alles fragen Sie hier und setzen damit die scheinbare Normalität eines Politikerlebens gegen diese real
existierende Biografie. Sie merken aber nicht, dass die
Öffentlichkeit dabei gar nicht Beifall klatscht.
({7})
Es haben noch viel mehr Menschen eine eigene Lebenserfahrung, eine andere als Sie.
Ich möchte Ihnen einmal eine Situation schildern, bei
der ich selber beteiligt war. 1975 wurde am Kaiserstuhl
der Bauplatz für ein Atomkraftwerk besetzt.
({8})
- Ich war dabei, jawohl. - Da waren Bauern, Winzer, ganz
normale Bürger, die es als Gewalt empfunden haben, dass
vor ihre Nase, in ihre Lebenswelt ein Kernkraftwerk gesetzt werden sollte. Wissen Sie, was die Landesregierung
gemacht hat? - Sie hat von weit her Polizisten geholt und
gesagt, den Bauplatz hätten Spontis besetzt. Dann haben
die Polizisten auf die Bauern und auf die Winzer draufgehauen.
({9})
- Sie sind von weit her angekarrt worden, damit sie nicht
wissen, was da los ist.
Das sind Erfahrungen, die wir gemacht haben. Was
meinen Sie, welche Diskussion es da gegeben hat! Die
Bauern und Winzer waren auf der Kippe, selber Gewalt
anzuwenden. Das hätte anders ausgesehen, als wenn ein
Sponti einen Stein wirft. Sie hätten ihre schweren Geräte
eingesetzt. Diese Diskussionen sind geführt worden, und
zwar nicht nur dort, sondern an vielen Orten dieser Republik. Wer davon nichts weiß, der sollte hier über diese
Jahre nichts sagen, der hat keine Ahnung.
({10})
Deswegen sage ich Ihnen voraus: Ihre Treibjagd ist so
durchschaubar, dass sie keinen Erfolg haben wird. Denn
die deutsche Gesellschaft des Jahres 2001 ist eine mündige Gesellschaft. Die Gesellschaft durchschaut Ihre
Taktik, Ihre Nichtbetroffenheit und Ihr artifizielles Kesseltreiben. Unser bester Verbündeter in dieser Auseinandersetzung ist der mündige Bürger, die mündige Gesellschaft, die eine eigene reiche Lebenserfahrung hat, die
sie nicht nachträglich aufregender machen muss, als sie
ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Dr. Angela
Merkel von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Je länger diese Debatte dauert, umso mehr verstärkt sich mein Eindruck, dass wir wieder einmal die
Grundzüge unserer Demokratie miteinander besprechen
sollten.
({0})
In unserem Lande ist das Gewaltmonopol des Staates - und
das seit Existenz des Grundgesetzes - aus gutem Grunde
ein fest verankertes Prinzip. Das ist gut so!
({1})
Der Herr Bundesaußenminister hat in einem Interview
im „Stern“ den Journalisten gefragt: „Sind Sie sicher, dass
Sie noch nie einen Stein geworfen haben?“ Dieser antwortete: „Ja.“ Daraufhin stellte der Bundesaußenminister
fest: Dann fragen Sie einmal im Deutschen Bundestag
und in Ihrer Redaktion herum. - Auf diese Art und Weise
macht der Bundesaußenminister sein Verhalten zu einem
ganz normalen Vorgang. Ich sage Ihnen: Die Mehrheit
dieses Landes hat weder 1949 noch 1959, noch 1969,
noch 1979 mit Steinen geworfen. Das ist die Realität.
({2})
Herr Schlauch, es geht doch nicht darum, einer ganzen
politischen Generation den Garaus zu machen, sondern es
geht um die Frage, ob die damalige Republik, die von
Bundeskanzler Willy Brandt regiert wurde, ein liberales
Land war oder ob sie eine Diktatur war. Ich sage: Sie war
ein liberales Land, obwohl wir nicht regiert haben. Für die
Regierungszeit von Helmut Schmidt gilt das Gleiche.
({3})
Wenn ich es recht verstanden habe, dann waren der
Herr Bundesaußenminister und der Herr Bundeskanzler
unglaublich stolz darauf, dass vor wenigen Wochen ein
Platz in Warschau nach Willy Brandt benannt wurde.
Denn Willy Brandt stand für Aussöhnung und hat damals
gesagt: Deutsche, ihr könnt stolz auf euer Land sein. - Das
ist die Wahrheit und zu der haben wir alle miteinander
heute zu stehen.
({4})
Ich bin aber nicht bereit - und darum geht es -, zu konzedieren, dass diejenigen, die Steine geworfen haben, und
diejenigen, die zu den RAF-Terroristen gehörten, einen
Beitrag zur Freiheit in der Bundesrepublik Deutschland
geleistet haben.
({5})
Herr Vizekanzler, ich erwarte von Ihnen nicht nur, dass
Sie sich für das Werfen von Steinen auf einen konkreten
Menschen entschuldigen. Ich erwarte von Ihnen viel mehr
auch, dass Sie sagen: Ich hatte in der damaligen Zeit eine
total verquere Sicht von der Bundesrepublik Deutschland.
({6})
Ich habe mich geirrt. Ich habe eine falsche Sicht gehabt.
Dies war nicht die richtige Sicht und ich habe deshalb
Buße zu tun und das anzuerkennen.
({7})
- Nein. Er hat sich nur für das Steinewerfen entschuldigt
und ist der Meinung, die 68er hätten einen Beitrag zur Befreiung geleistet.
({8})
Darin hat er sich selbst gleich mit eingeschlossen.
({9})
Herr Bundeskanzler, dass Ihr Vizekanzler das nicht tut,
ist deshalb so schlimm - nicht, weil er eine verquere Geschichtssicht hat; das könnte uns allen egal sein -,
({10})
weil wir es heute wieder mit Gewalt von Jugendlichen zu
tun haben, mit politisch und nicht politisch motivierter
Gewalt. Wenn wir glaubwürdig gegen diese Gewalt
vorgehen wollen - das wollen und das müssen wir gemeinsam tun -, müssen wir sagen: Gewalt war zu keiner
Zeit gerechtfertigt und unsere Sicht auf die Geschichte
war falsch;
({11})
es gab zu keiner Zeit in der Bundesrepublik Deutschland
die Notwendigkeit, den Staat so zu verändern, dass man
Gewalt gebrauchen musste. ({12})
Nur so lässt sich das legitimieren.
Deshalb ist das nicht richtig, was Ihre zukünftige Parteivorsitzende sagt: „Der Staat hat damals den Fehler gemacht...“ Nicht der Staat hat den Fehler gemacht, sondern
diejenigen, die Gewalt angewendet haben, haben den
Fehler gemacht! Das ist der Unterschied.
({13})
Wenn Fehler im Rechtsstaat gemacht werden - das gilt für
Polizisten heute und das galt für Polizisten damals -, hat
sich der Rechtsstaat mit diesen Fehlern auseinander zu
setzen.
({14})
Aber generell zu sagen, der Staat habe Fehler gemacht
und Ulrike Meinhof wäre Familienministerin, wenn der
Staat nicht Fehler gemacht hätte, zeigt eine falsche Sicht.
({15})
- Das hat Claudia Roth in N-TV gesagt. Und jetzt lassen
Sie mich zum Schluss kommen und schreien Sie nicht so!
({16})
Meine Damen und Herren, wir haben vor zehn Jahren
eine Veränderung in Deutschland erlebt. Damals sind die
Menschen in einer Diktatur friedlich auf die Straße gegangen. Damals haben wir mit Kerzen friedlich demonstriert und haben es geschafft, eine Diktatur zum Einsturz
zu bringen.
({17})
Wenn Brüche im Leben von Menschen dazu beitragen
sollen, dass sie Vorbilder für Jugendliche werden, möchte
ich, dass dies Menschen betrifft, die eine Veränderung
friedlich herbeigeführt haben. Auf diese Teile der deutschen Geschichte können wir stolz sein. Alle anderen
müssen kritisiert werden. Unser Staat, die Bundesrepublik
Deutschland, ist seit 1949 ununterbrochen eine freiheitliche, solidarische, weltoffene Republik, auf die wir stolz
sein können. Mit dieser Sicht können wir gemeinsam weiter arbeiten, aber nicht mit Ihrem Geschichtsbild. Das ist
die Wahrheit.
({18})
Das Wort hat jetzt der
Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Merkel,
ich weiß nicht, was größer ist, Ihre Selbstgerechtigkeit
oder Ihr Jagdfieber.
({0})
Sie haben Willy Brandt erwähnt - und vor allem aus diesem Grunde habe ich das Wort genommen - und Sie sind
Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Union. Sie
haben in dieser Erwähnung Bezug auf die Ostpolitik
Willy Brandts und die damit verbundene Aussöhnung genommen.
Ich werfe Ihnen nicht vor, dass Sie damals nicht dabei
sein konnten, als die Auseinandersetzung im Deutschen
Bundestag stattfand;
({1})
niemand kann Ihnen das vorwerfen. Aber ich muss Ihnen
vorwerfen, dass Sie sich mit der Historie Ihrer Partei nicht
zureichend auseinander gesetzt haben.
({2})
Viele von uns - Frau Merkel, hören Sie einmal einen Moment zu - waren Zeitzeugen und haben noch im Ohr, mit
welcher Unversöhnlichkeit Sie diese Ostpolitik bekämpft
haben und in welcher hämischen Art und Weise Sie Willy
Brandt bekämpft haben. Sie können sich nicht auf ihn berufen!
({3})
Wir Sozialdemokraten haben genau im Ohr, mit welch
hämischer Zustimmung der äußersten Rechten dieses
Landes - es gab durchaus Verbindungen hinein in Ihre damalige Partei -, mit welch hämischer Unversöhnlichkeit
dieser Kampf geführt worden ist. Dies ging bis hin zu
Leuten, die - man mag es ja gar nicht wiederholen: das
waren nicht Unionspolitiker, jedenfalls nicht Unionspolitiker aus dem Deutschen Bundestag - diese verräterischen
Sätze sagten wie „Brandt an die Wand!“ Wir haben das nie
vergessen.
({4})
- Wo stehen Sie denn historisch?
({5})
In dieser Auseinandersetzung hat die Union keinerlei
Recht, sich auf Willy Brandt zu berufen. Das kann nicht
gestattet werden.
({6})
Jetzt reden wir einmal über das, was hier wirklich los
ist. In dieser Auseinandersetzung, die Sie angefangen haben, meine Damen und Herren,
({7})
ist doch auch die Frage nach der Qualität unserer Gesellschaft zu beantworten: Was für eine Gesellschaft wollen
wir eigentlich? Man könnte dies auch auf die heutige
junge Generation beziehen. Wollen wir eine Gesellschaft,
die gegenüber politischen Irrtümern - sie waren schwerwiegend genug und sie werden ja auch zugestanden - erbarmungslos ist,
({8})
oder wollen wir eine Gesellschaft, die politische Irrtümer
diskutiert und die daraus resultierenden Konsequenzen,
die in einem langen Werdegang beschrieben sind, akzeptiert?
({9})
Angesichts einiger Reden, die hier heute gehalten wurden, ist für mich nur der Schluss nahe liegend: Sie wollen
nicht urteilen - wozu Sie ein Recht haben; auch Sie wollen das nicht, Herr Gerhardt -, sondern verdammen.
({10})
Sie wollen damit nicht einen politischen Irrtum kennzeichnen - den der Bundesaußenminister zugegeben
hat -, sondern seine politische Existenz vernichten. Das
ist Ihr Ziel. Nur: Sie werden es nicht erreichen.
({11})
Ich fand das, was Sie, Frau Knake-Werner, gesagt haben - bis auf den Schluss Ihrer Rede -, genauso wie das,
was Sie, Herr Erler, gesagt haben, bemerkenswert, wichtig und richtig: Hier spielt auch eine Rolle, dass Sie eine
ganze Generation, nämlich die, die man „68er“ nennt
- ich kann das sagen, weil ich das miterlebt habe -, pauschal verdammen wollen. Sie wollen doch gar nicht einzelne politische Irrtümer - und seien sie noch so schwerwiegend - diskutieren.
({12})
Sonst hätten Sie hier anders geredet. Nein, Sie wollen die
Generation, die einen politischen Aufbruch wollte, die in
dieser Gesellschaft etwas bewegt hat - auch diejenigen,
die sich nicht die geringste, gar strafrechtlich zurechenbare, Schuld haben zukommen lassen -, diffamieren. Das
geht doch nicht.
({13})
Meine Damen und Herren von der Opposition, im
Grunde ist das, was Sie hier versuchen, ebenso lächerlich
wie erfolglos.
({14})
Was Sie nämlich versuchen, ist, einen Politikbegriff zu
definieren, der so verengt ist wie Ihrer, und diesen für alle
verbindlich zu machen.
({15})
Sie versuchen, eine Politikergeneration wie die Ihre als
beispielhaft hinzustellen - die mit Ihrem Werdegang und
mit Ihrem politischen Scharfsinn ausgestattet ist. Auch
das will die Mehrheit der Deutschen nicht. Sie will schon
eine plurale Gesellschaft.
({16})
In einer pluralen Gesellschaft müssen auch unterschiedliche Biografien akzeptiert werden.
Wenn diese Art von Selbstgerechtigkeit, von unhistorischem Umgang mit unserer eigenen jüngeren Vergangenheit hier wirklich Platz greift, wenn diese Art von Erbarmungslosigkeit in Bezug auf politische Irrtümer
({17})
die Basis unseres politischen Verhaltens wird, weiß ich
nicht mehr, wie man national und international erklären
soll, dass zur Zivilisation und zu zivilisierten Gesellschaften auch immer gehört,
({18})
dass man Integration erlaubt, nachdem jemand Irrtümer
eingestanden hat. Dieses Fähigkeit zur Integration macht
die Qualität einer freien, einer offenen Gesellschaft aus.
Seien Sie sicher: Diese Qualität einer offenen Gesellschaft werden wir gegen Ihre Versuche, hier ein vordergründiges Spiel zu spielen, nicht wirklich etwas zu klären,
sondern den Bundesaußenminister zu diffamieren, verteidigen, und dies - da seien Sie ganz beruhigt - mit großem
Erfolg.
({19})
Als
nächster Redner hat der Fraktionsvorsitzende der
CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, die Zeit einer solchen Aktuellen Stunde reicht nicht aus, um die gesamten
60er- und 70er-Jahre angemessen zu besprechen. Aber
eine Feststellung möchte ich zu Beginn treffen. In den
70er-Jahren hat es in Deutschland eine harte Auseinandersetzung um die Ostpolitik von Willy Brandt gegeben.
Ich bin in dieser Zeit in die CDU eingetreten, weil ich
diese Politik für falsch gehalten habe. Aber ich bin in eine
Partei eingetreten, in der nicht ein einziger maßgeblicher
Repräsentant gegen die für falsch gehaltene Politik in diesem Land Steine geworfen hat. Darum geht es.
({0})
Herr Bundeskanzler, Sie müssen sich natürlich vor
Ihren Außenminister stellen. Ich möchte deswegen noch
einmal feststellen: Nicht eine Initiative der Opposition,
sondern ein Interview des Bundesaußenministers, in dem
er versucht hat, seine Vergangenheit zu erklären, ist der
Auslöser einer lang anhaltenden Debatte in Deutschland
gewesen,
({1})
ein Interview des Betroffenen selbst.
Nun maße ich mir kein Urteil darüber an, was damals
war. Ich bin in der Zeit, als Sie, Herr Fischer, politisch sozialisiert worden sind,
(Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Moped gefahren!
dafür zu jung gewesen.
Es geht um die Frage, wie Sie heute dazu stehen und
wie Sie heute mit Ihrer eigenen Biografie umgehen. Deswegen will ich Ihnen noch einmal in aller Klarheit sagen:
Niemand von uns bestreitet Ihnen oder irgendeinem anderen in diesem Hause das Recht auf Irrtum. Aber Sie sind
heute einer der maßgeblichen Repräsentanten dieses Landes. Deswegen müssen Sie sich, ob Sie wollen oder nicht,
die Frage gefallen lassen, wie Sie es heute mit den Grundentscheidungen unserer Verfassung halten
({2})
und wie Sie heute zur Anwendung von politischer Gewalt
stehen.
Dazu will ich Ihnen zwei Dinge nennen, die mit Ihrem
Amt unvereinbar sind: In keiner einzigen Ihrer Ausführungen - wenn ich sie richtig und vollständig nachverfolgt habe -, auch nicht in dieser Debatte heute, ist ein
klares und unmissverständliches Bekenntnis zum Gewaltmonopol des Staates über Ihre Lippen gekommen.
({3})
Herr Außenminister, Sie haben sich immer, Sie haben
sich zu jedem Zeitpunkt ein Hintertürchen offen gehalten,
um dann, wenn es die politische Opportunität erlaubt,
eben doch wieder Gewalt anzuwenden. Das widerspricht
zutiefst dem, was eine Demokratie ausmacht. Eine Demokratie verträgt nicht die von eigener Moral geprägte
Anwendung von Gewalt
({4})
gegen demokratisch zustande gekommene Entscheidungen. Das ist der entscheidende Punkt.
({5})
Ich nenne einen zweiten Punkt. Sie mögen aufgrund Ihrer tiefen und festen Freundschaft zu Daniel Cohn-Bendit
darauf vertrauen, dass es vieles gibt, was niemals ans
Licht der Öffentlichkeit gelangt. Ich glaube Ihnen nicht,
dass Sie bei dieser tiefen persönlichen Freundschaft nicht
wussten, dass Ihr damaliger enger Freund und Wegbegleiter Hans-Joachim Klein durch Ihren engsten persönlichen Freund in Frankreich der deutschen Strafverfolgung
über eine lange Zeit entzogen worden ist. Ich glaube Ihnen nicht, Herr Fischer, dass das so war.
({6})
Es widerspricht jeder Lebenserfahrung, Herr Fischer,
dass Sie bei einer so engen Freundschaft zwischen Ihnen
und Herrn Cohn-Bendit diesen Sachverhalt nicht kannten.
Sie müssen es mir schon zugestehen, dass ich Ihnen sage:
Das glauben wir nicht. Aber dies ist eine subjektive Beurteilung.
Eine wirkliche Distanzierung von dem, was Sie politisch zu verantworten haben, ist bis jetzt nicht über Ihre
Lippen gekommen. Deswegen will ich Ihnen vortragen,
was vor wenigen Tagen wirklich distanziert zu dem, was
war, in einer großen Zeitung geschrieben worden ist, die
uns nicht nahe steht und uns oft kritisiert. Joachim Kaiser
schreibt in der „Süddeutschen Zeitung“:
In Wahrheit - so kommt es mir beim Betrachten der
Fotos wieder hoch - ist der damalige APO-Fanatismus kaum ein von der Geschichte, gar dem „Weltgericht“ beglaubigter, idealischer Kampf gewesen,
sondern in seiner exzessiven Form ein Verrat an dem,
was wir nach 1945 endlich und endgültig begriffen
zu haben glaubten: nämlich: dass der parlamentarische Formalismus ({7})
- Sie haben das selbst so zum Ausdruck gebracht jene politische Zivilisation darstellt, die Deutschland
endlich hätte lernen, verinnerlichen können und
müssen.
Diese Worte haben Sie nicht zum Ausdruck gebracht.
In Ihrer Biografie, lieber Herr Fischer, sind wesentlich
weniger Brüche, als Sie versuchen darzustellen,
({8})
und ist wesentlich mehr Kontinuität, als Sie selbst offensichtlich glauben.
({9})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Antje Vollmer von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Frau Merkel, lieber Herr Merz, ich glaube, wenn es um
Auseinandersetzungen mit Joschka Fischer geht, kann ich
es fast mit jedem in diesem Saal aufnehmen.
({0})
Wir haben immer um Sachverhalte und Einschätzungen gestritten. Wir haben auch oft um politische Positionen gestritten. Im Übrigen ist die Auseinandersetzung um
die Militanz bei den 68ern eine ungeschriebene Geschichte. Aber gerade weil ich weiß, dass vieles auch über
68 zu diskutieren ist, frage ich mich zunehmend irritiert,
worum es jetzt hier geht.
Es geht nicht um die Professionalität des Außenministers, nicht um Versagen im Amt, nicht um Missbrauch im
Amt und auch nicht um Untaten, die nicht bekannt wären.
Es geht auch nicht nur um 68. Vielmehr geht es um einen
hochmoralisch aufgeladenen Kulturkampf. Deswegen erinnert mich in dieser Diskussion, obwohl es um ganz andere Sujets geht, vieles an die Clinton-Debatte in den
USA.
({1})
- Genau daran erinnert es mich.
Es scheint eine Generationendebatte zu sein, aber im
Kern ist es eine Auseinandersetzung um das, was Politik
ist und was Politiker sind. Da sage ich: Vorsicht vor Pharisäertum, Vorsicht vor Puritanismus!
({2})
Politiker haben Politik zu betreiben und die Kirchen sind
für die Moral zuständig. Das ist ein feiner und sehr wichtiger Unterschied.
({3})
Wehe, wenn wir nur Politiker nach dem Bild puritanischer
und pharisäischer Debatten bekommen. Wir hätten in diesem Land keinen Theodor Heuss, keinen Herbert Wehner
und keinen Willy Brandt gehabt. Wir hätten übrigens auch
Franz Josef Strauß nicht länger als ein paar Monate gehabt. Das müssen Sie sich ganz genau überlegen.
({4})
Nun will ich auch etwas zu 68 sagen. 68 ist ein Mythos.
Ich finde, es ist sehr wichtig und interessant, über diesen
Mythos zu reden, und zwar nicht nur über seine heroische,
sondern auch über seine belastende Seite. 68 war für die
damals politisch Verantwortlichen - das gehört zur Tragödie dieses Landes - tatsächlich ein unglaublicher Schock.
Dieser Schock hielt noch länger an: 68 ist eine Bleilast für
die Generationen, die nach uns gekommen sind; das weiß
ich wohl. Deswegen ist es vielleicht wichtig, 68 ein kleines bisschen vom Sockel zu heben.
({5})
Allerdings: Nicht zu begreifen, was 68 war, und kein Interesse dafür zu entwickeln, ist bodenlos naiv, und zwar
naiver, als Politiker sein dürfen.
({6})
Wenn ich in diesem Land etwas hasse, dann sind das zu
späte Siege, die gefeiert werden, wenn die Kämpfe sehr
billig werden. Auch in diesem Punkt gibt es eine unselige
Tradition.
({7})
Sie sollten sich die damaligen Gegner zum Vorbild nehmen. Zum Beispiel hat Herr Boenisch, der sich 68 wirklich fürchten musste, in der „Bild“-Zeitung mit großem
Respekt von diesen Auseinandersetzungen gesprochen
und gesagt, sie hätten auch ihn verändert. Horst Herold
- Claudia Roth hat das Zitat gebracht - war es, der gefragt
hat, ob Ulrike Meinhof nicht unter anderen Umständen
hätte Gesundheitspolitikerin werden können. Horst
Herold war einer, der damals um sein Leben fürchten
musste.
Ich möchte Hans-Jochen Vogel - damals auch ein Gegner - zitieren. Er hat Folgendes gesagt - ich bitte Sie, die
Tonlage dieses Zitates zur Kenntnis zu nehmen und vielleicht ein bisschen in Ihre Herzen aufzunehmen -:
Was bedeutet die Causa Fischer für unsere Demokratie und unser Gemeinwesen insgesamt? Stärkt er
oder schwächt er sie?
- Das ist doch die entscheidende Frage. Ich meine, er stellt beiden ein gutes Zeugnis aus und
stärkt sie deshalb.
Er stärkt beide: sowohl Demokratie als auch Gemeinwesen.
({8})
Liebe Frau Merkel und lieber Herr von Klaeden, Sie
können sich an 68 abarbeiten, aber Sie sollten ziemlich
froh sein, dass es uns gegeben hat. Die Republik sähe
nämlich anders aus,
({9})
wenn dieses Kapitel deutscher Geschichte ausgefallen
wäre. Frau Merkel, wenn wir schon über die Grundlagen
der Demokratie reden, muss ich Ihnen sagen: Zu den
Grundlagen der Demokratie gehören nicht nur Regeln
und Institutionen, sondern immer auch die unverwechselbare Geschichte dieser Demokratie.
({10})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Friedbert Pflüger von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
Vollmer, es geht nicht um selbstgerechtes Feiern später
Triumphe und Siege.
({0})
Es geht darum, eine Klärung herbeizuführen.
({1})
Es geht darum, eine Klärung über die politische Vergangenheit und über die Art und Weise, wie heute mit dieser
Vergangenheit umgegangen wird, herbeizuführen.
Es gibt einen Außenminister, der Steine geworfen hat
und der erklärt - so zumindest die „Welt“ -, das sei ihm
aber nicht unangenehm. Ich kann nur sagen: Wer sich so
disstanziert, wer sagt, er stehe zu dem, was er gemacht
habe und es sei ihm nicht unangenehm, das gehöre zur Biografie des Joschka Fischer, muss sich wirklich fragen, ob
er an dem Platz, an den er gesetzt ist, für unser Land
richtig ist.
({2})
Der Herr Bundeskanzler hat gesagt, die Demokratie
freue sich über jeden, der in ihren Schoß zurückkehre. Es
ist klar, dass wir darum werben. Es ist auch richtig, was in
der Bibel steht: Über einen, der Sünder ist und umkehrt,
freut sich der Himmel mehr als über 99 Gerechte. Aber es
steht nicht in der Bibel, dass derjenige auch gleich Vizekanzler eines Landes werden muss.
({3})
Sie sollten daran denken, was einer der Weggefährten
von Joschka Fischer, Thomas Schmid, gesagt hat:
Trotz seiner Entschuldigung spricht Fischer über
seine militante Vergangenheit in einer Mischung aus
nachdenklicher Zerknirschtheit und geheimem
Stolz.
({4})
Genau diesen geheimen Stolz, den Sie, Herr Bundesminister, eben auch in der Regierungsbefragung wieder gezeigt haben, nehme ich Ihnen übel. Sie haben zwar zugegeben: „Die Gewalt war falsch.“, aber letztlich diente sie
der Erreichung eines heroischen Zieles, nämlich des Zieles, diese Republik endlich liberal zu machen. Wenn Ihre
Haltung zu den damaligen Geschehnissen so aussieht,
dass es 1969 und danach notwendig war, Steine zu werfen, um diese Republik zu reformieren, dass diese Einstellung zumindest verständlich ist, dann kann ich Ihnen
nur sagen, dass Sie in der Tat nichts von dem, was damals
vorgegangen ist, verarbeitet haben.
({5})
Sie machen Folgendes: Einerseits entschuldigen Sie
sich. Sie wissen, dass Sie das machen müssen, um in Ihrer jetzigen Position bleiben zu können und Anerkennung
zu bekommen.
({6})
Andererseits tun Sie alles, um Ihren früheren Weggefährten zu signalisieren: Ich stehe zu meiner Biografie. Damals schlug man zurück. So war das. Ich sage Ihnen
- auch Sie dürften die ersten Kommentare in den internationalen Medien zur Kenntnis genommen haben -: Wenn
Sie in einem so wichtigen Amt wie dem des Außenministers bleiben wollen, dann kommen Sie mit dieser Wischiwaschiposition nicht durch. Sie müssen entweder sagen: Ich stehe zu den Sachen, oder: Ich bereue diese
Sachen. Beides zusammen geht nicht, Herr Kollege
Fischer.
({7})
1973 bin ich in den RCDS eingetreten,
({8})
also zu der Zeit, als Fischer mit seiner Putzgruppe begann,
radikal und gewalttätig zu werden. Wir sind damals ausgegrenzt, isoliert und manchmal sogar verprügelt worden.
({9})
Wir haben unter der manifesten Gewalt von Teilen der
Studentenbewegung bzw. der Ausläufer der Studentenbewegung gelitten.
({10})
Damals ist abgestimmt worden, Herr Kollege Schlauch,
ob wir vom RCDS überhaupt reden dürfen. Ich bin aus der
Universität Bremen mit der Begründung herausgetragen
worden, Faschisten hätten hier nichts zu suchen. Ich
möchte Ihnen, Herr Kollege Schlauch, sagen: In dieser
Zeit haben wir vom RCDS erkannt, dass Faschismus nicht
nur von rechts, sondern auch von links kommen kann.
({11})
Wenn Sie uns jetzt Herrn Fischer als einen Gewinn für
die Republik präsentieren - es sei doch schön, wenn jemand Brüche in seiner Biografie habe; denn das zeige,
dass er sich weiterentwickelt habe, dass er sich nach einem langen selbstquälerischen Prozess zur Demokratie
bekannt habe -, dann sage ich Ihnen: Ich freue mich und
bin stolz darauf, dass ich auf meinem Weg in den Bundestag und in die politische Verantwortung keine Polizisten verprügelt habe.
({12})
Natürlich gab es damals den „Muff unter den Talaren“.
Natürlich gab es Strukturen, die verändert und modernisiert werden mussten. Wer wollte das bestreiten? Natürlich hat auch die Studentenbewegung viel in diesem Land
bewirkt. Die Frage ist nur, ob es in den 70er-Jahren notwendig war, Gewalt anzuwenden, nachdem es schon einen Regierungswechsel in der Bundesrepublik gegeben
hatte und Willy Brandt am Warschauer Mahnmal niedergekniet war. Fraglich ist auch, ob dies in den 60er-Jahren
notwendig war. Sicher, die Studentenbewegung hat auch
manches in diesem Lande bewirkt, aber nicht die Gewalttäter. Ich muss den SDS und große Teile der Studentenbewegung vor dieser Art der nachträglichen Gewaltrechtfertigung in Schutz nehmen.
({13})
Kommen Sie bitte
zum Schluss, Herr Kollege.
Joschka Fischer
selbst ist es, der hohe moralische Messlatten an alle anlegt, der immer wieder großartig Rücktritte gefordert hat,
der sich aufgrund seiner angeblichen Tugendhaftigkeit
immer wieder das Recht herausnimmt, andere zu zensieren, und der sich immer wieder in einer entsprechenden
Pose präsentiert. Das fällt jetzt auf Sie, Herr Kollege
Fischer, ein bisschen zurück. Auch wenn Sie in Ihrem Amt
bleiben sollten,
({0})
sollten Sie in Zukunft ein bisschen demütiger im Umgang
mit dem politischen Gegner werden und nicht mehr diese
unerträgliche Arroganz an den Tag legen.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Ludwig Stiegler von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Pflüger hat eben die Bibel
zitiert. Darin steht auch der Satz: Oh Herr, wie danke ich
dir, dass ich nicht so bin wie diese. - Ich glaube, das war
die Stelle vom Pharisäer.
({0})
Herzlichen Glückwunsch!
Ich spreche hier für die Sozialdemokratie. Die Geschichte unserer Partei ist die Geschichte der friedlichen
Reformen vom ersten Tag an, der Auseinandersetzungen
ohne Gewalt und der Erreichung ihrer Ziele mit friedlichen Mitteln von 1863 an. Wir haben deshalb keine Veranlassung, das, was war, irgendwo zu rechtfertigen. wir
haben vielmehr Veranlassung, dankbar zu sein, dass jemand vom Weg der Gewalt zum Weg der friedlichen Reformen gefunden hat.
({1})
Ich kann das von Konservativen und Liberalen in
Deutschland nicht immer sagen. Ich erinnere an die Sozialistengesetze, als sie ungeniert zur Gewalt gegriffen
haben. Ich erinnere daran, dass sie eines Tages Hitler ermächtigt und damit auch die Gewalt dieser Banden unterstützt haben.
({2})
- Ja, 1933 haben Konservative und Liberale Hitler zur
Mehrheit für das Ermächtigungsgesetz verholfen. Ich
bitte Sie: Schauen Sie sich Ihre eigene Geschichte an.
Schauen Sie sich das an, was Sie alles gemacht haben.
({3})
Zweitens. Sie tragen ja das hohe C vor. Gehen Sie einmal
die Kirchengeschichte durch. Ich empfehle Augustinus’
„Confessiones“ und viele andere. Da werden Sie sehen,
was Heilige in ihrer Jugendzeit alles angestellt haben, um
endlich ans Ziel zu gelangen.
({4})
- Man muss das einmal deutlich sagen. Ich spreche den
Außenminister nicht heilig; damit da keine Missverständnisse entstehen. Aber ich sage: Die Unbarmherzigkeit, mit
der Sie Bekenntnis, Reue und Veränderung verurteilen, ist
zutiefst unchristlich.
({5})
So wie sich Herr Merz hier hingestellt hat, ist er mir
vorgekommen wie der Großinquisitor in „Der Name der
Rose“. Er hat vorher immer schon das Feuer brennen sehen. Der Betreffende konnte sagen, was er wollte; kein
Argument zählte. Wer Herrn Fischer zugehört hat, kann
nicht so reden wie Sie, Herr Merz, wenn er nicht die Ohren verstopft hat oder ein vorgefertigtes Urteil hat.
({6})
Wer so auf Fischer zeigt, auf den - so sagte Gustav
Heinemann - zeigen drei Finger zurück. Dies veranlasst
mich, einmal daran zu erinnern, woher denn der ganze
Protest kam, was eine ganze Generation in den Protest
trieb: Das war das, was wir 68er CDU-Staat nannten.
({7})
Das waren die alten Nazis, ob Globke oder Oberländer.
Das waren die getarnten Braunen an den Universitäten.
Das war die Sympathie von Strauß für Salazar, für die
griechischen Obristen und für Franco. Das war die Situation.
({8})
Das war der Umgang mit den Intellektuellen. Ich erinnere
daran, wie Intellektuelle als „Pinscher“ und „Ratten“ bezeichnet worden sind. Das war Ihre Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit. Davon ist das gekommen.
Dann kam Willy Brandt mit Walter Scheel und hat
diese Generation mit dem Wort „Mehr Demokratie wagen“ wieder geholt für diesen demokratischen Staat.
({9})
Ich war damals Student und habe in Bonn miterlebt,
wie Sie von der CDU/CSU sich alle über den Satz: „Wir
sind nicht am Ende der Demokratie, wir fangen erst an.“
aufgeregt haben. So hat es begonnen: Sie haben gegen den
Marsch der Linken durch die Institutionen gehetzt. Sie
wollten die anderen aussperren. Das war Ihre Reaktion.
Während Brandt und Scheel damals um jede Seele
gekämpft haben, haben Sie diejenigen, die sich, wie Frau
Vollmer oder andere, um die Verirrten gekümmert haben,
als „Sympathisanten“ beschimpft. So war die Situation.
({10})
Ich verurteile die Art und Weise, wie Sie hier versuchen, von Ihrer eigenen Geschichte abzulenken. Ihre Vorgänger sind eine der Hauptursachen für die entstandenen
Probleme. Wir können dafür dankbar sein, dass wir es gemeinsam geschafft haben, in dieser offenen Demokratie
leben zu können.
Ich schließe mit der Bibel. Dort heißt es, dass im Hause
des Vaters über einen reuigen Sünder mehr Freude als
über 100 Gerechte besteht.
({11})
Von Freude ist da die Rede; deshalb kann Herr Fischer
Außenminister sein. Im Himmel herrscht Missvergnügen
über Selbstgerechte, Scheinheilige, Pharisäer. Lassen Sie
sich das gesagt sein!
({12})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben
heute den Versuch Joschka Fischers erlebt, sich als gereifter Überzeugungstäter von einst staatstragend in
Szene zu setzen. Doch, Herr Außenminister, dieser Versuch ist Ihnen gründlich misslungen.
({0})
Fabelhaft staatsmännisch, in saturierter Bonhomie,
fein angezogen im Dreiteiler von Luxusschneiderhand so zeigt er sich uns. Ich zitiere hierbei die „Süddeutsche
Zeitung“. Heute putzt er sich nicht mehr mit einer Putztruppe auf den Straßen Frankfurts, sondern mit einem feinen Siegelring am Finger.
({1})
Herr Fischer, so geht es nicht.
({2})
Sie machen es sich zu leicht, wenn Sie heute - ich habe
Ihnen zugehört - mit frivolem Pathos hier erklären: Ich
war ein Revolutionär mit Freiheitsanspruch. Herr Fischer,
Sie machen sich mit solchen Äußerungen doch lächerlich.
({3})
Dann faselt er noch weiter: Es sei eine Freiheitsrevolte
gewesen, an der er sich beteiligt habe. Herr Fischer, was
für ein groteskes Zerrbild vom damaligen Deutschland
haben Sie? Glauben Sie, Sie könnten uns alle hier für
dumm verkaufen? Wir sind doch fast alle Zeitzeugen dieses Deutschlands gewesen. Wo war das Terrorregime, in
dem wir angeblich gelebt haben? In welchem Unterdrückungsstaat sollen wir gelebt haben? Sie reden wirres
Zeug, wenn Sie behaupten, dass Sie sich als Freiheitsrevolutionär haben aufspielen müssen. Das ist doch unerträglich!
Wir wollen wissen, ob sich Ihre Überzeugung gewandelt hat. Wir wissen, Ihre Taten waren keine Jugendsünden. Sie waren weder jung noch sündig; sie waren kriminell und erwachsen.
({4})
In Wahrheit war der APO-Fanatismus kein Kampf von
Idealisten. Es war ein Verrat an der Demokratie. Sie waren ein Feind der Demokratie.
({5})
- Ja, das war er. - Die erste deutsche Demokratie wurde
von den Nazis vernichtet. Der Reichstag wurde von
Goebbels als „Quasselbude“ bezeichnet. Sie und Ihre Genossen sind mit der gleichen Impertinenz und mit der
gleichen verwerflichen Gesinnung ans Werk gegangen.
Sie und die APO wollten die zweite deutsche Demokratie,
die Nachkriegsdemokratie, vernichten.
({6})
Die Parallelen sind unverkennbar. Der gewalttätige politische Straßenkampf findet immer nach den gleichen
Spielregeln statt.
({7})
Die Spielregeln der SA sind uns bekannt:. Die SA als
Sturmabteilung der NSDAP hat sich in Saalschlachten
und in Straßenschlachten hervorgetan.
({8})
Die SA war ein Machtinstrument der Nazis. Ihr Machtinstrument, Herr Fischer, war Ihre Putztruppe.
({9})
Sie hatten mit Ihrer Putztruppe natürlich nicht denselben
militanten Erfolg wie die SA-Schläger, aber Sie wünschten sich einen ähnlichen Erfolg. Daran sehen wir, dass die
Franzosen mit dem Wort „Les extrêmes se touchent“
Recht haben: Die Linksextremen und die Rechtsextremen
bedienen sich immer derselben Instrumentarien.
({10})
Fischer war ein wortgewaltiger Agitator, er war ein
Scharfmacher, er war ein Anstifter, er war ein Rädelsführer.
({11})
Jetzt wollen Sie nichts mehr davon wissen.
Was ist es eigentlich für eine Entschuldigung, wenn
man einen Polizisten zusammenschlägt und dann 25 Jahre
verstreichen lässt, bis man unter massivem politischen
Druck ein Telefongespräch führt? Herr Fischer, das ist
doch unerträglich.
({12})
Nein, wir wollen wissen, ob sich Ihre Gesinnung wirklich geändert hat.
({13})
Wir werden hier nicht nachgeben. Man kann nicht oft
genug wiederholen, dass Sie nach der Ermordung von
Buback, Ponto und Schleyer nicht in Rage, sondern
schriftlich geäußert haben:
Bei den drei hohen Herren mag mir keine rechte
Trauer aufkommen.
Das ist das Gedankengut der Sympathisanten der Terroristen.
({14})
Dieses Gedankengut ist Ihr Gedankengut gewesen.
Dazu fällt Ihnen nur ein, dass Sie den Artikel einmal im
Zusammenhang sehen wollten, weil Sie sich nicht an alles erinnern könnten. Dabei halten Sie uns vor, ob wir uns
an jede Kreisvorstandssitzung erinnern könnten. Das ist
doch eine Frechheit. Die damalige Situation nach dem
Selbstmord von Ulrike Meinhof in der Zelle, nachdem ein
Schock durch Ihre Szene ging und nachdem Sie bei einer
Demonstration eine führende Rolle eingenommen haben,
vergleichen Sie mit einer Kreisvorstandssitzung einer
Partei. Und Sie können sich an nichts mehr erinnern, obwohl Sie immer dabei waren!
({15})
Wir werden Ihnen helfen, sich zu erinnern, Herr
Fischer,
({16})
weil wir wissen - Sie wissen es auch -, dass der Terrorismus in Deutschland ohne diese Sympathisantenszene niemals möglich gewesen wäre.
({17})
Deswegen wollen wir wissen - die deutsche Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, es zu erfahren -, welche Rolle
Fischer wirklich gespielt hat.
({18})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 18. Januar 2001,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.