Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung des
politischen Extremismus, ganz gleich, ob von rechts oder
von links, ganz gleich, aus welchen ideologischen Quellen er gespeist wird,
({0})
die Bekämpfung von Gewalt und Extremismus in jeder
Form hat für meine Fraktion höchste Priorität.
({1})
Die Erfahrungen der vergangenen Tage zeigen, dass
wir neben dem Aufstand der Anständigen vor allen Dingen die Vernunft der Zuständigen brauchen.
({2})
Vorschnelle Festlegungen oder gar Vorverurteilungen
können den Blick auf die Realität verstellen und die Suche nach den wahren Tätern erschweren und damit ungewollt jene Kräfte stärken, die nun fälschlicherweise behaupten könnten, dass von ihnen - entgegen anders
lautenden Behauptungen - in Wahrheit keine Gefahr ausgehe.
({3})
Politischer Extremismus ist eine Kampfansage gegen
unsere verfassungsmäßige Ordnung und eine zentrale
Herausforderung für die wehrhafte Demokratie. Gerade
aus den bitteren Erfahrungen der Weimarer Republik wissen wir, wie wichtig es ist, dass eine Demokratie ihren
Feinden entschlossen entgegentritt, nicht nur mit Worten,
Demonstrationen und Lichterketten, sondern auch mit Taten. Der demokratische Verfassungsstaat ist den potenziellen Opfern politisch motivierter Gewalt, aber auch sich
selber ein Höchstmaß an Schutz schuldig.
Die NPD des Jahres 2000 ist nicht mehr die Altherrenriege der 60er-Jahre. Sie hat zwar einen großen Teil ihrer
Mitglieder seit jener Zeit verloren; gleichzeitig ist sie aber
noch extremer, noch radikaler und noch gewaltbereiter
geworden. Die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus ist unübersehbar und umfänglich dokumentiert. So hat zum Beispiel die Jugendorganisation der
NPD zum Teil wörtlich das 25-Punkte-Programm der
NSDAP von 1920 übernommen.
Dr. Michael Bürsch
Schon seit Jahren wird systematisch eine Radikalisierung der NPD in Richtung Neonationalsozialismus betrieben. In dem einschlägigen „NS-Kampfruf“ heißt es
unter anderem wörtlich:
Eines Tages werden diese Politbonzen ihrer absolut
notwendigen Beseitigung hinzugeführt werden! Für
das System keinen Millimeter Boden, sondern 9 Millimeter.
Wenn aus den Reihen der NPD gefordert wird, man
müsse die „Kanaken abknallen“ und auch „mit Ausländern verheiratete Deutsche müssten dieses Schicksal erleiden“, oder wenn der Pressesprecher der Jungen Nationaldemokraten wörtlich sagt:
Dieses verjudete Bonner System ..., manchmal
denke ich mir, eines Tages stehe ich früh auf, ziehe
meine schwarze Uniform an, und dann ist es so, als
ob nichts gewesen ist, und gehe nach Dachau ...
dann kann eine wehrhafte Demokratie nicht alleine mit
dem Hinweis reagieren, man müsse die NPD nicht mit einem Verbot, sondern mit dem Stimmzettel bekämpfen.
({4})
Angesichts der Umstände, dass die politischen Ziele
der NPD mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik in keiner Weise vereinbar sind,
dass sie antisemitisch, rassistisch und fremdenfeindlich
ist, dass sie den Parlamentarismus als Grundvoraussetzung unserer Demokratie in Frage stellt, dass sie in einem
hohen Maße für ein geistiges Klima verantwortlich ist,
das den Boden für gewaltsame Übergriffe von Rechtsextremisten auf Ausländer und andere Minderheiten in
Deutschland schafft, und dass sie darüber hinaus zur
Durchsetzung ihrer politischen Ideologie nicht nur Gewalt propagiert, sondern auch Gewalttätern eine politische Heimat bietet und sie logistisch unterstützt, ist ein
Antrag auf Verbot dieser Partei nicht nur rechtlich möglich, sondern auch politisch geboten.
({5})
- Jetzt hoffe ich, dass Sie ebenfalls kräftig applaudieren. - Dies alles wissen wir aufgrund des umfangreichen
Tatsachenmaterials, das uns in erster Linie die Verfassungsschutzbehörden der Länder übermittelt haben.
Nicht wenige von denen, die sich in ihrer Argumentation
heute auf die Informationen der Verfassungsschutzämter
berufen, haben in den vergangenen Jahren wenig dazu
beigetragen, die Arbeitsfähigkeit dieser wichtigen Behörden zu verbessern.
({6})
Im Gegenteil: So hat es beispielsweise in einem großen
norddeutschen Flächenstaat unter einem Ministerpräsidenten, der heute Bundeskanzler ist, eine Stellenreduzierung des Landesamtes für Verfassungsschutz um 40 Prozent gegeben. Andere Mitglieder der Regierungskoalition
haben sogar die Abschaffung des Verfassungsschutzes gefordert.
Wer unsere Demokratie stärken will, die freiheitlichste,
die es auf deutschem Boden je gab, darf die Verfassungsschutzbehörden nicht ausdünnen, sondern muss sie personell und organisatorisch stärken und ihre Arbeit auch politisch wollen und unterstützen.
({7})
Nach sorgfältiger Auswertung aller zur Verfügung stehenden Tatsachen und nach verfassungsrechtlicher Prüfung sind sowohl die Bundesregierung als auch der Bundesrat zu der Überzeugung gelangt, dass ein Antrag auf
Verbot der NPD aufgrund der Verfassungsfeindlichkeit
der Partei und wegen ihrer aggressiv-kämpferischen Haltung zur Abwehr von Gefahren für unser Land und zum
Schutz potenzieller Opfer ideologisch motivierter Gewalt
dringend geboten ist und vor dem Bundesverfassungsgericht auch Erfolg haben wird.
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir es, dass die Bundesregierung nach zunächst flächendeckend verkündeter
Ablehnung dann doch noch den Vorschlag des bayerischen Innenministers Günther Beckstein aufgegriffen hat,
die NPD verbieten zu lassen, und dass sie neben dem
Bundesrat ebenfalls einen Verbotsantrag stellen wird.
Aber: Das Begehren der Koalitionsfraktionen, der
Deutsche Bundestag solle neben der Bundesregierung
und dem Bundesrat als dritte Prozesspartei vor dem Bundesverfassungsgericht einen eigenen Antrag auf Verbot
der NPD stellen, ist weder rechtlich geboten noch politisch sinnvoll.
({8})
- Er hat vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestags dem ausdrücklich zugestimmt.
({9})
Für ein Parteiverbotsverfahren ist es ausreichend,
wenn entweder die Bundesregierung oder der Bundesrat
einen Antrag stellt. Im konkreten Fall haben sich bereits
Bundesregierung und Bundesrat entschlossen, jeweils einen eigenen Antrag zu stellen, sodass schon seit geraumer
Zeit feststeht, dass das Bundesverfassungsgericht demnächst mit der ihm eigenen Gründlichkeit sachlich und
rechtlich die Verbotsanträge prüfen wird. Dafür bedarf es
eines Antrages durch den Deutschen Bundestag nicht.
Die Stellung eines Antrages auf Verbot einer verfassungswidrigen Partei ist eine klassische Aufgabe der Exekutive.
({10})
Dies dürfte auch der Grund dafür sein, warum es für den
Antrag der Koalitionsfraktionen in der gesamten 55-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kein
Vorbild gibt.
({11})
Beim Verbotsverfahren gegen die SRP und die KPD war
die Bundesregierung alleinige Antragstellerin. Erst vor
wenigen Jahren wurden der Antrag gegen die Nationale
Liste nicht von der Hamburgischen Bürgerschaft, sondern
vom Hamburger Senat und der Antrag gegen die FAP von
der Bundesregierung und dem Bundesrat gestellt.
Dies geschah aus gutem Grund: Alleine die Regierungen des Bundes und der Länder kennen das gesamte Tatsachenmaterial, mit dem die Verbotsanträge begründet
werden sollen. Sie alleine kennen die Beweise und deren
Beweiskraft. Nur derjenige, der alle Tatsachen und alle
Beweismittel sowie deren Beweiswert kennt, ist in der
Lage, unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten die
entscheidenden Fragen zu beantworten, ob ein Parteiverbotsverfahren geboten ist und ob ein Antrag auf Verbot einer Partei hinreichende Aussicht auf Erfolg hat.
Dieser Ansicht ist im Übrigen auch der Kollege
Özdemir, der zutreffend darauf hingewiesen hat, der Bundestag solle keinen eigenen Antrag stellen, weil er kein
Beweiserhebungsverfahren durchführen könne. Nun
sind wir einmal gespannt, ob er dies auch nach seiner Einbindung in die Koalitionsdisziplin von diesem Pult aus
wiederholt.
({12})
Außerdem sei der Hinweis erlaubt, dass sich das Bundesverfassungsgericht sicherlich nicht von der Zahl der
Antragsteller, sondern ausschließlich von der Überzeugungskraft der Tatsachen und dem Beweiswert der angebotenen Beweismittel beeindrucken lassen wird.
({13})
Wir sollten vor dem Bundesverfassungsgericht schon den
Eindruck vermeiden, als wollten wir durch eine ganze
Phalanx von Antragstellern möglicherweise fehlendes
Gewicht von Argumenten kompensieren oder gar das Gericht unter Druck setzen.
({14})
Gegen das Parteiverbotsverfahren wurde eingewandt,
die NPD müsse nicht juristisch, sondern stattdessen politisch bekämpft werden. Diese Argumentation übersieht
jedoch, dass auch eine als verfassungswidrig anerkannte
Partei im öffentlichen Leben so lange als verfassungsgemäß behandelt werden muss, wie sie nicht verboten ist.
Jede nicht verbotene politische Partei, ganz gleich, ob
sie verfassungsfeindliche Ziele verfolgt oder nicht, hat
grundsätzlich Anspruch auf staatliche Parteienfinanzierung. Sie hat darüber hinaus auch Anspruch auf staatliche
oder öffentlich-rechtliche Leistungen, von der Zuteilung
von Sendezeiten im öffentlichen Rundfunk bis hin zur Bereitstellung von öffentlichen Räumen für Wahlveranstaltungen. Die „Bekämpfung der NPD“ durch die Gewährung staatlicher Mittel oder durch die Zur-VerfügungStellung kostenloser Sendezeiten dürfte keine Aussicht
auf Erfolg haben. Würden Bundesregierung und Bundesrat keinen Antrag stellen, hätte dies schließlich zur Folge,
dass von Staats wegen ein verfassungswidriger Zustand
nicht nur geduldet, sondern durch positives staatliches
Handeln auch noch gefördert würde und nach geltender
Rechtslage auch gefördert werden müsste - ein nicht nur
in sich widersprüchliches, sondern ein von den Müttern
und Vätern der Verfassung ganz sicher nicht gewolltes Ergebnis.
Gelegentlich wird auch dahin gehend argumentiert,
dass ein Parteiverbotsverfahren die politische Auseinandersetzung mit der NPD und ihrer Ideologie nicht ersetzen könne. Karlsruhe könne nur eine Partei, nicht aber
eine rechtsextreme Ideologie verbieten oder deren Anhänger zur Untätigkeit verurteilen. Auch diese Argumentation ist ebenso selbstverständlich wie nicht überzeugend.
Richtig ist, dass durch die Einleitung des Verbotsverfahrens die politische Auseinandersetzung mit der NPD
und anderen links- und rechtsextremen Gruppierungen
und Ideologien nicht in den Hintergrund treten darf.
({15})
Auch die NPD müssen wir nach wie vor - wie alle anderen Extremisten auch - politisch bekämpfen. Vor allen
Dingen müssen wir uns mit den Gründen von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewaltbereitschaft beschäftigen. Für eine erfolgreiche Bekämpfung von politischem Extremismus und Gewalt brauchen wir eine
vernünftige Kombination von sozialer Prävention einerseits und staatlicher Repression andererseits. Wir brauchen Hilfsangebote, vor allem für gefährdete Kinder und
Jugendliche; viele - gerade aus der rechtsextremistischen
Gewaltszene - sind noch sehr jung.
Gleichzeitig brauchen wir aber auch eine schnelle und
konsequente staatliche Reaktion auf Straftaten. Gut
75 Prozent der rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen
Gewalttäter sind jünger als 21 Jahre. Schon diese Zahl
verdeutlicht, welch wichtige Funktion neben der Erziehung auch dem Jugendstrafrecht bei der Bekämpfung des
Extremismus zukommt. Wir alle wissen, dass eine
schnelle Reaktion der Gerichte auf Jugendliche oftmals
mehr Eindruck macht als eine harte Strafe. Wenn der Bundesinnenminister in diesen Tagen gesagt hat, wir bräuchten ein Aussteigerprogramm für jene Anhänger der rechten Szene, die sich aus dem Milieu lösen wollen, hat er
Recht. Dann müssen wir im Parlament auch darüber nachdenken, ob es richtig war, die Möglichkeit zu beseitigen,
Zeugen, die gleichzeitig Straftaten begangen haben, durch
eine Kronzeugenregelung - wie immer man sie ausgestalten mag - aus der Szene herauszuholen.
({16})
Wir brauchen neben dem Aussteigerprogramm auch eine
Kronzeugenregelung. Bitte verweigern Sie sich nicht dieser Diskussion.
Natürlich gibt es im Milieu auch Fälle, bei denen Hopfen und Malz verloren ist. Das gilt aber nicht für alle, die
sich in diesem Milieu bewegen, und das belegen jene Aussteiger, die es bereits geschafft haben, die schiefe Bahn zu
verlassen. Für solche Menschen müssen wir Hilfsangebote haben. Vor allen Dingen brauchen wir eine Kultur der
Toleranz, der Akzeptanz desjenigen, der anders ist. Wir
brauchen eine Stärkung der Erziehungskraft sowohl der
Familien als auch der Schulen, wohl wissend, dass Schule
nicht die Reparaturwerkstatt für Versäumnisse in Familie,
Gesellschaft und Politik sein kann.
({17})
Die NPD propagiert den Kampf um die Köpfe, die Parlamente und die Straße. Deshalb dürfen wir Neonazis und
anderen Extremisten nicht auch noch öffentlichkeits- und
medienwirksame Kulissen für ihre Aufzüge bieten. Ich erinnere an den Aufmarsch der NPD am 29. Januar vor
dem Brandenburger Tor. Solche Aufzüge blamieren nicht
nur die Hauptstadt Berlin; sie diskreditieren Deutschland
insgesamt und schaden unserem Ansehen in der ganzen
Welt. Wir dürfen sie deshalb nicht länger zulassen.
({18})
Demonstrationen, deren erkennbares Ziel es ist, unsere
verfassungsmäßigen Werte zu verhöhnen, und die das Ansehen Deutschlands in der Welt nachdrücklich beschädigen, müssen unter erleichterten Bedingungen verboten
werden können.
Den Gegnern eines Verbotsantrages möchte ich noch
Folgendes sagen: Gerade in den vergangenen Monaten
haben wir auch an dieser Stelle eine Kultur des Wegsehens beklagt. Wir haben eine Kultur des Hinsehens und
der Einmischung gefordert. Wir haben die Bürgerinnen
und Bürger zu mehr Zivilcourage aufgefordert, was im
Übrigen viel leichter gesagt als getan ist. Wenn jedoch der
Staat selber die Möglichkeiten nicht nutzt, die er hat, um
sich selber, seine verfassungsmäßige Ordnung und die
Opfer zu schützen, wirkt er nicht besonders glaubwürdig.
Wer Zivilcourage fordert, der muss Staatscourage zeigen.
({19})
Ich erteile dem Kollegen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hat
sich die Entscheidung über den Verbotsantrag nicht leicht
gemacht. Ich verhehle nicht, dass für uns die grundsätzlichen demokratischen Bedenken gegen das Verbot ein
hohes Gewicht haben. Ein Verbotsverfahren kann in einer
Demokratie immer nur die Ultima Ratio sein. Es zeichnet
unser Grundgesetz gerade aus, dass die Entscheidung
über ein Parteienverbot der Exekutive entzogen ist und
an strenge rechtliche Auflagen gebunden ist. Art. 21
Abs. 2 des Grundgesetzes ist die Konsequenz aus der ungehinderten Verbreitung des Nationalsozialismus am
Ende der Weimarer Republik, als Hitler sogar noch sein
Legalitätsversprechen abgab. Gerade die Wiederholung
einer solchen Täuschung wollten die Väter und Mütter des
Grundgesetzes verhindern. Ich füge hinzu: Wir werden
dies verhindern!
Wir hätten uns nicht für ein Verbotsverfahren gegen die
NPD entschlossen, wäre es ausschließlich um die Frage
des politischen Wettbewerbs zwischen den Parteien gegangen. Eine Demokratie muss - das wissen wir alle auch falsche Lehren und sogar grobe Dummheit aushalten können. Die rote Linie ist aber dann überschritten,
wenn eine Partei unter dem Deckmantel ihrer verfassungsrechtlichen Stellung und mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Infrastruktur für Neonazis bereitstellt. Dies wollen wir nicht. Deshalb haben wir
uns heute hier versammelt.
({0})
Es geht nicht etwa um den politischen Meinungskampf,
sondern um den Schutz von Menschen vor ihren Feinden.
Wir sind es den mindestens 93 Opfern rechtsextremer Gewalt schuldig, jenseits strafrechtlicher Verantwortung auch
die organisatorische Infrastruktur rechter Gewalt zu zerschlagen.
({1})
Manche warnen vor der Beschränkung der Demokratie durch den Ausschluss einer Partei aus dem Wettbewerb. Wir warnen hingegen vor einer Demokratie, in
der sich Farbige, Mitglieder religiöser Minderheiten und
Schwule abends nicht mehr auf die Straße trauen können.
({2})
Wer eingeschüchtert und verängstigt zu Hause bleibt, der
hat Angst, an der Demokratie teilzunehmen. Liegt nicht
gerade in dem Rückzug die viel größere Gefährdung der
Bürgerrechte als in dem entschlossenen Vorgehen gegen
die Verantwortlichen für diesen Rückzug, nämlich die
völkische NPD?
({3})
Ralph Giordano schrieb kürzlich:
Allein weil sie Fremde sind, werden Menschen wie
Hasen durch die Straßen deutscher Städte gejagt,
krankenhausreif geschlagen, auf Gleise gestoßen,
schwer verletzt und ermordet, wobei von dem Verbrechensmarathon überhaupt öffentlich nur noch
Notiz genommen wird, wenn ein besonders scheußlicher Fall aus den übrigen hervorragt. Was heißt: Im
Deutschland des Jahres 2000 ist rechte Gewalt zur
Alltagsnorm geworden.
Er sagt zum Schluss sinngemäß: Wir haben lange Zeit die
NPD und die Rechtsextremen „wie ungezogene Verwandte behandelt“. Damit muss jetzt Schluss sein.
({4})
Für die Kolleginnen und Kollegen, die an der Anhörung des Innenausschusses zum Thema Rechtsextremismus nicht teilnehmen konnten, möchte ich Professor
Hajo Funke von der Freien Universität Berlin zitieren, der
bei dieser Anhörung Folgendes ausgeführt hat:
Wir sind seit nun mehr als neun Jahren mit der
Entwicklung und Verfestigung einer gegen Fremde
gerichteten völkischen Gewaltkultur konfrontiert,
die sich ungestraft und ohne angemessene Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Politik hat entfalten
können und nun in internen Sozialisationsprozessen
inzwischen die dritte Generation der heute Zwölfbis Vierzehnjährigen erfasst.
Auch dem wird sich das Bundesverfassungsgericht im
Falle eines Verbotsantrages stellen müssen. Auch dies
wird mit in die Beratungen einbezogen werden müssen.
Dass das notwendige öffentliche Interesse an der NPD
und ihrem Charakter zugleich eine Aufwertung der Partei bedeute - dies wird ja häufig von den Kolleginnen und
Kollegen der F.D.P. angeführt -, ist fast schon ein
autoritäres Argument. Es muss uns doch gerade darum gehen, dass große Teile auch der liberalen Öffentlichkeit
endlich das Ausmaß der Gefahr, in der sich potenzielle
Opfer auch heute noch befinden, und damit auch die Aushöhlung des Rechtsstaates wahrnehmen.
Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass dieser Staat die Einhaltung des Gewaltmonopols mit Blick
auf den Bau von Startbahnen und Atomkraftwerken zu
Recht eingefordert hat. Nur, dann müssen wir, wenn wir
glaubwürdig sein wollen, die Einhaltung des Gewaltmonopols auch im Hinblick auf rechts einfordern. Dies muss
einvernehmlich geschehen.
({5})
Wir machen allerdings auch deutlich: Wir würden der
Öffentlichkeit etwas vorgaukeln - ich weiß, dass wir alle
unter dem Druck der Öffentlichkeit stehen -, wenn wir
jetzt so tun, als würden wir mit der Verkündung einer entschlossenen Maßnahme den Rechtsradikalismus wegbekommen. Es wäre falsch, den Eindruck im Raum stehen
zu lassen, dass mit dem NPD-Verbot das Problem des
Rechtsradikalismus beseitigt sein wird. Das wird nicht der
Fall sein.
({6})
Wir werden uns während des Verfahrens und auch nach
dem Verfahren mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen müssen. Ich bin froh, dass diese Regierung als
Zeichen der Entschlossenheit im Bundeshaushalt 50 Millionen DM für die Jugendarbeit und für die Stützung der
Zivilgesellschaft bereitgestellt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, man
kann der Meinung sein - das wurde vorher zitiert -, dass
es angemessen ist, eine Unterstützungserklärung abzugeben. Diese Position ist durchaus begründbar. Was ich
nicht verstehe, ist, dass Sie Folgendes nicht begreifen: Sie
wären glaubwürdiger, wenn Sie nicht gleichzeitig dafür
Kritik an der Bundesregierung übten, dass sie die Zivilgesellschaft mit diesen 50 Millionen DM unterstützt.
Wenn Sie einerseits keinen Verbotsantrag des Bundestages wollen und andererseits jede Maßnahme der Bundesregierung zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus kritisieren, dann machen Sie sich unglaubwürdig.
({7})
Sie sollten uns dabei unterstützen, dass wir eine professionelle Jugend- und Sozialarbeit aufbauen, dass wir
die Sensibilisierung der Sicherheitsbehörden, die bereits
eingesetzt hat, weiter stärken, dass wir den Abbau von
Diskriminierung gegenüber Nichtdeutschen verstärken,
dass wir eine Bildungsoffensive auch in den Ländern starten und dass wir uns mit dem Thema „Wie können wir
heute, da es immer weniger Menschen gibt, die das Dritte
Reich noch erlebt haben, die Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus künftigen Generationen in einer interkulturellen Gesellschaft vermitteln?“ beschäftigen. Das sind
Fragen, über die Sie sich mit uns gemeinsam Gedanken
machen sollten.
Ich bin froh darüber, dass das EXIT-Programm, das
Ausstiegsprogramm für Rechtsradikale, von der Bundesregierung unterstützt wird. Das ist ein wichtiges Signal
an alle diejenigen, die aus dem Teufelskreislauf Rechtsradikalismus, wie er auch in der NPD vorhanden ist, aussteigen wollen. Niemandem von ihnen, der bereit ist, mit
dem Teufelshandwerk Schluss zu machen, ist die Tür verschlossen, zurück in die Gesellschaft zu finden. Die Gesellschaft muss die Möglichkeit geben, dass Rechtsextreme in die demokratische Gesellschaft zurückkommen.
({8})
Ich komme zum Schluss. Die Union schreibt in ihrem
Antrag, dass es eine klassische Aufgabe der Exekutive ist,
einen Verbotsantrag zu stellen. Ich finde, dass es auch eine
Frage der Demokratie ist. Daher sind die Volksvertreterinnen und Volksvertreter gefragt.
({9})
Es reicht eben nicht aus zu sagen: Die Bundesregierung
und der Bundesrat sollen diesen Antrag stellen. Zu meinem Verständnis des Parlamentarismus gehört ein solcher
Antrag. Wir alle hatten die Gelegenheit, das Material zu
sichten. Wenn das stimmt, was wir alle hinsichtlich des
Gefahrenpotenzials in der NPD festgestellt haben, dann
ist die Maßnahme, in Karlsruhe einen Verbotsantrag zu
stellen, richtig. Dafür setzen wir uns ein. Ich hoffe, dass
Karlsruhe diese Entscheidung unterstützen wird.
Lassen Sie uns aber auch mit der Verharmlosung
rechtsextremer Gewalt aufhören. Auch von dieser Stelle
aus wiederhole ich meinen Appell an Herrn Koch, den ich
kürzlich in der Haushaltsberatung geäußert habe: Hören
Sie auf, den Unsinn zu verbreiten, dass der Rechtsextremismus eine Erfindung der Medien sei! Wir wissen alle,
dass dies nicht der Fall ist.
({10})
Ich erteile dem Kollegen Guido Westerwelle, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fraktion der
Freien Demokraten wird einem Antrag auf Verbot der
NPD nicht aus Verfahrensgründen, sondern aufgrund sehr
grundsätzlicher Überlegungen nicht zustimmen. Wir
glauben, dass das Verbotsverfahren die rechtsradikale
Szene am Schluss eher stärken wird, als dass es sie
schwächen könnte.
({0})
Wir halten die Erfolgsaussichten eines solchen Antrages für fraglich und seine Nebenwirkungen für gefährlich.
Selbst ein positiver Ausgang des Verbotsverfahrens würde
das eigentliche Problem nicht lösen.
({1})
Ein Verbot wäre im Falle einer tatsächlichen Gefährdung
der Demokratie durch eine extremistische Partei das
richtige Mittel. In einer solchen Ausnahmesituation muss
die wehrhafte Demokratie auch vorbeugend zum Mittel
der Auflösung einer Partei greifen. Die Wahlergebnisse
der NPD zeigen aber, dass diese Gefahr nicht besteht und
dass die NPD von allen rechtsextremen Parteien die erfolgloseste ist.
Tatsächlich geht es - das haben alle bisherigen Redner
aufgezeigt - um die Bedrohung von Menschen durch
rechtsextremistische Gewalt. Diese Kriminalität muss
mit allen Mitteln des Rechtsstaates, das heißt in erster Linie mit Polizei und Strafrecht, bekämpft werden. Niemand ist in Deutschland vor strafrechtlicher Verfolgung
durch irgendein Parteibuch geschützt.
({2})
Kein Steinewerfer, kein Ausländerhetzer und kein Schläger wird durch das Verbotsverfahren bekämpft; schließlich sind solche Menschen von einem NPD-Parteiverbot
nicht betroffen. Das Parteiverbot - das wissen wir - ist
Staatsrecht und nicht Strafrecht, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({3})
Wir müssen die einschlägigen Jugendstrafverfahren
durch eine bessere Ausstattung der Justiz beschleunigen.
Da sind die Defizite. Wir müssen polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Sondereinheiten auf alle Bundesländer
ausdehnen, in denen sich rechtsextremistische Jugendszenen gebildet haben. Vor allem müssen Strafen ausgesprochen werden, die den Taten angemessen sind.
({4})
Wenn in Deutschland - dieses Urteil ist keine zwei Wochen alt - ein junger Mann von einer Horde rechter Gewalttäter zu Tode gehetzt wird und die Täter überwiegend
mit Bewährungsstrafen und Verwarnungen davonkommen, dann ist das die falsche Antwort des Rechtsstaates.
Das ist der eigentliche Casus Belli in dieser Auseinandersetzung.
({5})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen zu den Verboten der SRP und der KPD zu
Recht sehr hohe Maßstäbe angelegt. Damals, zu Beginn
und Mitte der 50er-Jahre, stand unsere Demokratie weiß
Gott nicht auf so sicherem Boden. Das hat sich in den letzten 50 Jahren geändert. Deutschland ist seit langem eine
gefestigte Demokratie. Es ist nicht zu erwarten, dass das
Bundesverfassungsgericht die hohen Anforderungen an
ein Parteiverbot herunterschrauben wird. Nach den uns
zur Verfügung stehenden Unterlagen hat das Verbotsverfahren ein hohes Prozessrisiko. Das Scheitern einer solchen Klage wäre ein Desaster, weil die NPD gewissermaßen mit einem TÜV-Siegel anschließend in die
Wahlkämpfe ziehen wird.
({6})
Ein NPD-Verbotsverfahren wird sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, über Jahre! Das SRP-Verfahren
hat ein Jahr gedauert, das KPD-Verfahren etwa fünf Jahre.
In dieser Zeit hat die NPD die Möglichkeit einer erheblichen Propaganda gewissermaßen im öffentlichen
Licht. Selbst im - unsicheren - Fall eines Verbotes verschwinden die Anhänger der NPD nicht plötzlich von der
politischen Landschaft; sie werden zu den anderen rechtsradikalen Parteien gehen, zur DVU und zu den Republikanern. Deswegen glaube ich: Selbst ein erfolgreiches Verbotsverfahren wird eher zur Stärkung als zur Schwächung
der rechtsradikalen Szene beitragen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie beklagen zu
Recht die Sendezeit der NPD in öffentlich-rechtlichen
Medien bei Wahlkämpfen.Wir sollten uns aber einen Augenblick Gedanken darüber machen, wie viel Sendezeit
diese schlimme Partei NPD allein durch dieses Verfahren
bekommen wird.
({8})
Als ein wesentliches Argument für das Verbot der NPD
wird das Geld genannt. Es stimmt: Die NPD hat etwa
800 000 DM aus staatlichen Mitteln erhalten - die DVU
doppelt so viel, die Republikaner fast das Sechsfache. Die
relative Erfolglosigkeit der NPD gegenüber den anderen
rechtsextremen Parteien wird dadurch noch einmal unterstrichen.
({9})
Das Entscheidende aber ist, dass ein Verbot der NPD rechtes Gedankengut nicht beseitigt. Die staatlichen Gelder,
die jetzt die NPD bekommt, kämen dann ja nicht den demokratischen Parteien oder der Zivilgesellschaft zugute,
sondern würden bei den anderen rechtsradikalen Parteien
landen. Dies zöge wiederum eine Stärkung der Szene
nach sich.
({10})
Ich möchte auf ein Argument hinweisen, das beispielsweise die Vorsitzende des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, Frau Vogt, die der SPD angehört, in
die Debatte eingeführt hat; denn ich halte dies für richtig:
Schon jetzt nutzen die Republikaner in Baden-Württemberg das Vorgehen gegen die NPD gewissermaßen als Gütesiegel in eigener Sache, nach dem Motto: Das sind die
schlimmen Rechtsradikalen, gegen die geht man vor. Wir
sind die anständigen Rechtsradikalen, uns könnt ihr ruhig
wählen. - Das rechte Gedankengut in den Köpfen muss
man bekämpfen. Ein Parteiverbotsverfahren hilft uns
nicht weiter, meine Damen und Herren.
({11})
Die Konzentration auf ein Verbot der NPD lenkt
schließlich von den eigentlichen Problemen des Rechtsextremismus ab. Es wird immer wieder gesagt, durch den
Verbotsantrag müsse ein Zeichen gesetzt werden. Wenn
sich ein Verfahren nicht für Symbolik eignet, dann ist es
ein Parteiverbotsverfahren. Das Zeichen-Setzen muss an
anderer Stelle geschehen: zum Beispiel dadurch, dass die
Parteien gemeinsam eine Kundgebung organisieren, zum
Beispiel dadurch, dass die Urteile entsprechende Härte
und Konsequenz zeigen, zum Beispiel dadurch, dass die
Mittel für politische Bildung aufgestockt und nicht abgebaut werden. Das sind die Zeichen, die gesetzt werden
müssen.
Ein Verbotsverfahren ist die Ultima Ratio in einer parlamentarischen Demokratie. Diese Situation ist heute nicht
gegeben. Ein Zeichen muss man anders setzen. Der Bundestag muss politische Zeichen setzen, aber nicht ein solches Verfahren einleiten.
({12})
Rechtsextremismus muss politisch bekämpft werden.
Das ist vor allem dort aussichtsreich, wo der Einfluss auf
Menschen, vor allem auf junge Menschen, noch möglich
ist. Die Ursachen für Rechtsextremismus sind - das wissen wir - vielfältig: Es sind die Defizite in Elternhaus,
Ausbildung und Bildung, es ist die fehlende Infrastruktur
für Jugendliche, es ist das soziale Umfeld, es ist die Perspektivlosigkeit durch Arbeitslosigkeit und es ist gelegentlich auch Mitläuferschaft. In allen diesen Bereichen
müssen die Maßnahmen ansetzen. Entscheidend ist daher,
dass junge Menschen zu mehr Mitmenschlichkeit, Toleranz und demokratischem Verhalten erzogen werden.
Hier hat die Bundesregierung die falschen Signale gesetzt. Die Globalzuschüsse für die politischen Stiftungen
sind im Vergleich zu 1998 um 20 Millionen DM auf
167 Millionen DM gekürzt worden und die Bundeszentrale für politische Bildung hat für ihre Bildungsarbeit
jetzt mit 30 Millionen DM rund 25 Prozent weniger Gelder zur Verfügung als 1998.
Die F.D.P. hatte zum Haushalt dieses Jahres beantragt,
ein Sonderprogramm für „Erziehung zu Mitmenschlichkeit und Toleranz“ in Höhe von mindestens 300 Millionen DM aufzulegen. Diesen Antrag hat die Mehrheit des
Hauses leider abgelehnt. Ein NPD-Verbot kann solche
Maßnahmen aber nicht ersetzen. Wer die rechte Gesinnung rechtzeitig bekämpft, muss sich später nicht gegen
rechte Gewalt wenden, meine Damen und Herren.
({13})
Ein Parteienverbot trägt hierzu nicht bei.
Es geht nicht darum, was wir von der NPD halten und
wie wir sie politisch einschätzen. Darüber, dass die NPD
eine widerwärtige und auch verfassungsfeindliche Partei
ist, die mit allen politischen Mitteln bekämpft werden
muss, besteht in diesem Hause Einigkeit. Die Frage, ob
sie damit eine verfassungswidrige Partei im Sinne der
KPD-Verbotsentscheidung von 1956 ist, ist damit überhaupt nicht beantwortet. Das wissen die Juristen hier ganz
genau.
({14})
Auch zum Verfahren möchte ich noch etwas sagen.
Die Bundesregierung hatte ursprünglich angekündigt,
zunächst sorgfältig die von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder zusammengetragenen Informationen auszuwerten und anschließend eine
rechtliche und politische Beurteilung abzugeben.
({15})
Das hat sie aber ohne Not frühzeitig gelassen, indem sie
sich öffentlich auf ein Verbotsverfahren festgelegt hat.
Da ich hier durch viele Zwischenrufe auch Kritik für
meine Ausführungen erfahre, will ich Ihnen sagen: Noch
im Sommer hatte Innenminister Schily
({16})
seine Skepsis gegenüber einem NPD-Verbot zum Ausdruck gebracht. Ich zitiere ihn wörtlich aus dem „Spiegel“:
Ich neige
- so sagte der Innenminister eher zur Skepsis. Zumal man sich die Frage stellen
muss, wie führe ich dann die Auseinandersetzung
mit einer solchen Partei, wenn sie in den Untergrund
gedrängt wird? Die Gefahr ist groß, dass ich ihre Militanz noch weiter erhöhe.
Das sagte der Verfassungsminister.
Ich als Freier Demokrat bestreite niemandem das Recht,
seine Meinung zu ändern, aber ich halte es für gänzlich unangebracht, denjenigen, die heute noch die Auffassung des
Bundesinnenministers teilen, vorzuwerfen, sie würden
sich einer gemeinsamen Initiative verweigern.
({17})
Es gibt eben kein neues Material. Wir erleben hier die
Neubewertung - und zwar die politische Neubewertung alten Materials.
({18})
Bis heute haben wir entscheidungserhebliches Material
nicht erhalten, wenn ich zum Beispiel an die Telefonüberwachungsmaßnahmen denke. Da alle diese Akten ohnehin
vor Gericht öffentlich werden, kann ich nicht einsehen,
warum nicht dem Deutschen Bundestag als Verfassungsorgan rechtzeitig alle diese Fakten vorgetragen worden
sind.
({19})
Vor Gericht bleibt nichts geheim. Hier wird ein Popanz
aufgebaut; das ist ein unangemessener Umgang mit dem
Verfassungsorgan Deutscher Bundestag. Man erwartet
von uns, dass wir eine eigene Entscheidung sui generis
fällen, aber gleichzeitig sagen die Exekutiven: Das Material kriegt ihr nur zu einem Teil. So geht man unter Verfassungsorganen nicht miteinander um, meine Damen
und Herren.
({20})
Ich will noch eine letzte Bemerkung an Sie, meine
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, richten,
um das noch einmal klar zum Ausdruck zu bringen: Wenn
man sagt, man kenne das Material nicht und könne deswegen einen eigenen Antrag nicht unterstützen, dann
kann man auch nicht den Antrag anderer unterstützen.
({21})
Herr Kollege
Westerwelle, Ihre Redezeit ist überschritten.
Vielen Dank für den
Hinweis, Herr Präsident; ich komme zum Schluss.
Es gäbe noch viel mehr Argumente vorzutragen. Wir
sind die einzige Partei, die aus grundsätzlichen Überlegungen den Antrag und die Initiative im Verbotsverfahren
ablehnt. Nicht aus irgendeiner Sympathie mit der NPD
sind wir gegen dieses Verbotsverfahren, sondern weil wir
glauben: Das Gegenteil von „gut gemacht“ ist meistens
„gut gemeint“.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das nationalsozialistische Herrschaftssystem von 1933 bis 1945 ist und bleibt das dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte. Nie vorher
und nie nachher gab es eine Diktatur, die im Wege des
Staatsterrorismus eine solche Vernichtungspolitik, einen
solchen Massenmord organisierte. Diktaturen gab es vor
dem NS-Regime, zeitgleich, nach dem NS-Regime und
wird es leider auch in Zukunft noch geben. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Gleichschaltung in der
Gesellschaft anstreben und Widerstand - in der Regel
schon Widerspruch - nicht dulden. Ihren vermeintlichen
oder wirklichen Gegnerinnen und Gegnern nehmen sie
häufig die Freiheit, nicht selten das Leben.
Die NS-Diktatur verfolgte nicht nur ihre vermeintlichen oder wirklichen Gegner. So begann sie zwar mit dem
Verbot der KPD und der Verfolgung und Ermordung der
Kommunistinnen und Kommunisten. Kurze Zeit später
folgten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten,
linke Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und auch
Frauen und Männer des christlichen und des bürgerlichen
Widerstandes. Sie hatte aber darüber hinaus das einmalige
Ziel, die Juden in ganz Europa zu vernichten. Sie organisierte in Vernichtungslagern den millionenfachen Massenmord an ihnen. Ein gleiches Ziel verfolgte sie hinsichtlich der Sinti und Roma. Sie ermordete Menschen mit
Behinderungen als so genanntes unwertes Leben, verfolgte Homosexuelle, Zeugen Jehovas und viele andere.
Ihre Rassenideologie erklärte Menschen anderer Nationen, insbesondere Slawen, für minderwertig.
So unterschied sich dann auch der Krieg des NS-Regimes von anderen Kriegen. Im Osten Europas wurde er
als Vernichtungskrieg geführt. Vor allem sowjetische
Kriegsgefangene, aber nicht nur sie, auch andere, wurden
entgegen dem internationalen Recht in Konzentrationslager eingesperrt und zu Abertausenden ermordet. Die Verbrechensliste des NS-Regimes ist lang und einmalig.
Deutschlands Eroberungskrieg endete in einer bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945. Deutschland
war zerstört. 50 Millionen Tote waren das Ergebnis der
NS-Verbrechen und des Aggressionskrieges. Es war verständlich, dass viele Menschen in Europa davon ausgingen, dass Deutschland von der Landkarte getilgt werden
sollte.
In Anbetracht der Größe der Verbrechen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, aber auch ohne jeden Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg ist das
Urteil der Geschichte über uns Deutsche - zumindest aus
heutiger Sicht - relativ milde ausgefallen. Deutschland
selbst war im Ergebnis des Krieges zerstört. Millionen
deutscher Soldaten hatten ihr Leben auf den Schlachtfeldern gelassen. Millionen Zivilisten kamen während der
Bombenangriffe auf Deutschland ums Leben. Die meisten verloren Hab und Gut. Im Ergebnis des Krieges wurde
das Territorium Deutschlands verkleinert. Als Folge davon wurden die Deutschen aus den dann nicht mehr deutschen Territorien vertrieben. Sie haben stellvertretend für
Millionen andere Deutsche besonders gelitten. Deutschland wurde letztlich geteilt - 40 Jahre lang. Aber ohne die
bedingungslose Kapitulation, ohne die militärischen
Siege der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Polens und anderer Länder hätte das Nazi-Regime
nicht geendet. Deshalb - wie die Einzelne oder der Einzelne diesen Tag auch erlebt haben mag - war dieser Tag
auch für das deutsche Volk ein Tag der Befreiung von der
barbarischen Nazi-Herrschaft.
({0})
Erst recht war dies ein Tag der Befreiung für die anderen europäischen Völker und insbesondere für jene, die
sich bis dahin verstecken mussten, die aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen befreit werden konnten.
Die deutschen Frauen und Männer, die aktiv Widerstand
gegen das NS-Regime geleistet hatten, die die Verbrechen
des NS-Regimes auf unterschiedliche Art und Weise
bekämpften, die zum Beispiel Jüdinnen und Juden versteckten oder sich zumindest weigerten, sich an den Verbrechen zu beteiligen, haben den größten Anteil daran,
dass es heute noch Deutschland auf der Landkarte gibt.
Denn mit ihnen verband sich die Hoffnung auf ein anderes Deutschland.
({1})
Wie unterschiedlich man ihr Wirken vor 1933 und nach
1945 auch einschätzen mag: In der Zeit zwischen 1933
und 1945 ragten sie heraus und signalisierten sie, dass die
NS-Ideologie nicht alle Deutschen erreicht hatte, machten
sie Hoffnung durch ihren Mut, durch ihren Widerspruch.
Deshalb, lieber Herr Westerwelle, wäre es vielleicht
doch besser gewesen, die NSDAP wäre in den 20er-Jahren endgültig verboten worden und hätte nicht die Chance
gehabt, über Wahlen und eine rassistische sowie antisemitische Ideologie bis zur Machtübernahme erfolgreich
zu sein - und das auch noch auf legalem Wege.
({2})
Allein schon die Gründung der NPD 1964 war eine
Provokation. Von Beginn an versuchte diese Partei, die
Geschichte umzuschreiben, die Verbrechen des NS-Regimes, die ich kurz dargestellt habe, zu leugnen, zumindest zu bagatellisieren. Von Beginn an gab es aus dieser
Partei heraus Rechtfertigungen für Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Nach anfänglichen Erfolgen wurde die Partei immer bedeutungsloser, bis sie in
den letzten Jahren wieder an Gewicht gewann. Sie verfügt
über zahlreiche Verbindungen in die militante Szene und
trägt intellektuelle und zum Teil auch organisatorische
Verantwortung bzw. Mitverantwortung für die Zunahme
rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland. Sie hat mit
der im Grundgesetz verankerten freiheitlich-demokratischen Grundordnung nichts am Hut. Sie ist verfassungswidrig. Vor allem aber verletzt ihre gesamte Programmatik, ihr gesamtes Auftreten Art. 1 des Grundgesetzes der
Bundesrepublik Deutschland. Für sie ist die Würde des
Menschen antastbar - und sie tastet sie täglich an.
({3})
Das beginnt schon damit, dass Nichtdeutsche für sie
Menschen zweiter Klasse sind, erst recht Menschen jüdischen Glaubens. In geradezu beispielloser Art und Weise
hetzt sie gegen politische Gegnerinnen und Gegner, insbesondere gegen linke, aber auch gegen bürgerliche. Die
NPD ist ein Feind des Art. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
Gegen die zunehmende rechtsextremistische Gewalt
hat der Bundeskanzler den Aufstand der Anständigen gefordert. Michel Friedman, Mitglied der CDU und stellvertretender Vorsitzender des Zentralrates der Juden in
Deutschland, hat zu Recht gefordert, diesen Aufstand
durch einen Aufstand der Zuständigen zu ergänzen. Jede
Bürgermeisterin, jeder Bürgermeister, jede Landrätin, jeder Landrat, jeder Ministerpräsident verletzt seine Zuständigkeit, wenn er rechtsextremistische Gewalt im
Interesse des vermeintlichen Ansehens seiner Region verharmlost. Die Zeit der Verharmlosung muss eindeutig
vorüber sein.
({4})
Auch wir hier im Bundestag sind Zuständige. Mit einem
Antrag auf Verbot der NPD verhalten wir uns als Zuständige.
({5})
Ein Parteienverbot muss natürlich die absolute Ausnahme sein. Es darf nicht zur Normalität werden. Daran
sind höchste Anforderungen zu knüpfen; darin stimmen
wir hier wohl alle überein.
({6})
Aber im Falle der NPD ist eine solche Ausnahme gegeben.
({7})
Herr Westerwelle, Sie sagen, gerade die Erfolglosigkeit der NPD bei Wahlen halte Sie von einem solchen Verbot ab. Meiner Meinung nach wäre es viel problematischer, ein solches Verfahren durchzuführen, wenn die
NPD mit jeweils 20 Prozent in den Landtagen säße, und
zwar nicht nur deshalb, weil es dann vielleicht zu spät
wäre, sondern auch deshalb, weil uns dann unterstellt
würde, wir würden uns auf diese Art und Weise einer unliebsamen Konkurrenz entledigen wollen. Das aber kann
uns gegenwärtig glücklicherweise niemand unterstellen.
({8})
Dann möchte ich den Aspekt der Zweckmäßigkeit ansprechen; denn darüber kann man diskutieren. Dazu sage
ich hier ganz offen und gleichzeitig so neblig, wie ich es
nur formulieren kann: Über Zweckmäßigkeit kann man
hinter verschlossenen Türen diskutieren, solange die Forderung nach einem Verbot nicht in breiter und öffentlicher
Form erhoben worden ist. In dem Moment, wo dies geschehen ist, bedeutet eine Diskussion über den Grad der
Zweckmäßigkeit eine Aufwertung dieser rassistischen
und antisemitischen Partei.
({9})
Genau das können wir uns dann nicht mehr leisten. Das
hätte man vorher tun müssen.
Ich möchte auch an die schwierige Situation von Justiz
und Polizei erinnern. Heute ist die NPD noch eine legale
Partei. Immer wieder versuchen Innensenatoren und viele
andere Verantwortliche, ihre Demonstrationen, in denen
klares rechtsextremistisches Gedankengut ausgetragen
wird, zu verbieten. Sie scheitern in der Justiz am Parteienprivileg. Aufgrund dessen ist die Polizei verpflichtet,
auch solche Demonstrationen zu schützen, weil die dann
Ausdruck der Wahrnehmung eines Grundrechts sind.
Dann kommen nicht selten Linke und beschimpfen die
Polizei. Dabei ist sie dafür überhaupt nicht verantwortlich. Wir sind zuständig, dafür zu sorgen, dass so etwas
nicht legal betrieben werden kann.
({10})
Herr Kollege Gysi,
Sie müssen zum Ende kommen.
Es ist wahr: Das NPD-Verbot
ist weiß Gott nicht alles. Aber es ist auch nicht nichts.
Dass wir viel im Bereich Bildung und in manchen anderen Bereichen - dazu kann ich jetzt nicht mehr sprechen tun müssen, scheint mir klar. Darüber sind wir uns hier
wohl auch einig. Zu Recht haben Sie auch die Bundesregierung hinsichtlich ihrer Geheimniskrämerei kritisiert.
Ich sehe überhaupt nicht ein, weshalb wir hier nicht vollständig informiert worden sind.
Herr Präsident, meine letzte Bemerkung: 40 Jahre lang
war unser Land als Ergebnis der Verbrechen des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges geteilt. Trotz aller
Leiden, die damit verbunden waren, war das - wie gesagt - ein eher mildes Urteil der Geschichte. Nach dieser
Bewährungszeit entstand wieder ein Deutschland mit
dem Recht auf Gleichberechtigung im Bund der Staaten
und Völker, aber auch mit der Verantwortung, nichts, aber
auch gar nichts zuzulassen, was uns je in solche Verhältnisse wie im Jahre 1933 zurückführen könnte. Deshalb,
meine Damen und Herren, gehört die NPD verboten.
({0})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Erika Simm, SPD-Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich kann es
mir ersparen, hier noch rechtliche Ausführungen zu den
Kriterien zu machen, die das Bundesverfassungsgericht
bei der Prüfung der Frage, ob eine Partei verfassungswidrig ist oder nicht, anlegt. Herr Gysi hat zum Schluss
manch Kluges dazu gesagt. Vor allem aber Herr Bosbach
hat diese Aspekte schon breit und zutreffend dargelegt.
Was mich etwas wundert, ist die Volte, die er dann bei der
Frage geschlagen hat, welche Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass die NPD eine verfassungswidrige Partei ist,
zu ziehen sind.
({0})
Die Begründung, die er uns geliefert hat, warum sich
die CDU/CSU trotzdem nicht dem Antrag von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen anschließen möchte, erschöpfte
sich ja eigentlich darin, dass es eine klassische Aufgabe
der Exekutive sei, einen solchen Verbotsantrag zu stellen, weil Bund und Länder über ihre Verfassungsschutzbehörden originäre Erkenntnisse gewinnen könnten.
Ich halte dieses Argument - verzeihen Sie - für ausgesprochen schwach. Ich meine, dass damit eigentlich nicht
mehr gesagt wird als: Das haben wir noch nie gemacht;
deswegen machen wir es auch jetzt nicht.
({1})
Substanziell steht nichts anderes dahinter.
Ich bin der Meinung, dass der Deutsche Bundestag
einen eigenen Antrag stellen sollte. Die einschlägige
Vorschrift des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes besagt, dass antragsberechtigt der Deutsche Bundestag, der
Bundesrat und die Bundesregierung sind. Sie sind dort in
dieser Reihenfolge genannt. Einen Vorrang der Exekutive
vermag ich in dieser Frage nirgendwo zu erkennen. Er
scheint mir auch objektiv nicht gegeben.
({2})
Wir haben Materialien bekommen, und zwar in so ausreichendem Umfange, dass wir uns ein Urteil bilden können.
Wir schauen fern, wir lesen Zeitungen und wir erleben die
Auftritte dieser Partei. Ich denke, das, was wir wissen und
was uns zugänglich ist, reicht dafür aus, dass wir uns ein
eigenes Urteil bilden.
({3})
Ich hielte es für sehr gefährlich, wenn nicht auch der
Deutsche Bundestag diesen Antrag stellte, weil eine solche Enthaltsamkeit Anlass zu Missdeutungen geben
könnte. Wir erweckten den Eindruck, wir stünden nicht
wirklich hinter diesem Antrag, wir seien uns unserer Sache nicht sicher und wir seien uns nicht sicher, dass wir
ausreichende Argumente haben; mehr noch: wir würden
uns möglicherweise von den Anträgen der Bundesregierung und des Bundesrates distanzieren. Einen solchen
Eindruck hielte ich für äußerst schädlich. Ich bin der Meinung, die Sache gebietet es, dass alle drei Verfassungsorgane gleich lautend und geschlossen diesen Antrag stellen. Das halte ich für eine Notwendigkeit, um nach außen
hin überzeugend auftreten zu können.
({4})
Nun ein Wort zu der Argumentation, die Herr
Westerwelle für die F.D.P. vertreten hat und die wir aus
dem Antrag der F.D.P. kennen. Die F.D.P. möchte aus angeblich grundsätzlichen Erwägungen keinen Antrag
stellen.
({5})
Schaut man sich die grundsätzlichen Erwägungen an, so
handelt es sich tatsächlich um Zweckmäßigkeitsüberlegungen.
({6})
Solche Überlegungen sind zulässig und durchaus legitim.
({7})
Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Auch wenn
die Verfassungswidrigkeit einer Partei feststeht, muss weder Bundestag noch Bundesrat noch Bundesregierung einen Verbotsantrag stellen. Ob dies geschehe oder nicht,
liege vielmehr in ihrem pflichtgemäßen politischen Ermessen. Dabei können auch Zweckmäßigkeitsüberlegungen angestellt werden. Aber, Herr Westerwelle, ich beantworte die von Ihnen aufgeworfenen Fragen anders: Wenn
es sich um die Frage dreht, ob ein Parteiverbot das geeignete Mittel sei, dann stellen Sie diese Frage in einer Art
und Weise, die unterstellt, wir wollten darüber hinaus
nichts tun. Wenn Sie dies behaupten, behaupten Sie es wider besseres Wissen. Denn wir haben - das wissen Sie
ganz genau; ich glaube sogar, noch vor Ihnen - einen umfassenden Antrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eingebracht.
({8})
Inzwischen haben dies alle Parteien dieses Hauses getan.
Wir haben uns vorgenommen, über diese Anträge zu diskutieren, sie zu beraten, zu versuchen, eine gemeinsame
Entschließung zu finden und ein gemeinsames
Maßnahmepaket zu schnüren. Ich halte es für erstrebenswert, dies zu tun, um deutlich zu machen, dass alle Parteien dieses Hauses den Rechtsextremismus an der Wurzel bekämpfen und nicht nur die NPD verbieten wollen.
So viel dazu.
({9})
Dann befürchten Sie, dass im Falle eines Verbotes der
NPD deren Mitglieder zu anderen rechtsextremen Gruppierungen abwandern würden und dies zu einer Vereinigung der rechten Gruppierungen und Parteien führen
würde. - Herr Westerwelle, umgekehrt wird ein Schuh daraus! Es ist doch zurzeit die NPD, der es gelungen ist, eine
Vielzahl von rechtsextremen Strömungen und Gruppierungen in sich zu vereinigen und ihnen ein ideologisches
Dach und eine politische Heimat zu bieten. Deshalb denke
ich, dass wir, wenn wir die NPD verbieten, wenn wir ihre
Strukturen durch das Verbot und die nachfolgende Auflösung zerschlagen, das rechte Lager schwächen, statt es zu
stärken.
({10})
Auch aus diesem Grunde halte ich das Verbot der NPD für
geboten. Denn es macht - es ist schon gesagt worden - gerade den Unterschied zwischen der NPD und anderen
rechtsextremen Parteien aus, dass sie eine relativ organisationsstarke Partei ist, die über eine stabile Mitgliederschaft und auch ausreichende Finanzen verfügt, um
Aktionen tatsächlich durchziehen zu können.
Dann argumentieren Sie, die Wahlergebnisse der
NPD seien schlecht und zeigten ihre politische Bedeutungslosigkeit, sodass sie keine Gefahr für die Demokratie bedeute. - Dazu sage ich: Gott sei Dank ist es so! Gott
sei Dank sind wir eine wehrhafte, stabile Demokratie und
brauchen wegen der NPD keine unmittelbaren Befürchtungen zu haben. Aber die Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen 1998 in Mecklenburg-Vorpommern, 1999 in
Sachsen und heuer in Schleswig-Holstein haben immerhin ausgereicht, die NPD wieder in den Genuss staatlicher Parteienfinanzierung kommen zu lassen, zuletzt
- es ist schon gesagt worden - 1,16 Millionen DM für
1999.
Was bedeutet das? Wir alimentieren aus staatlichen
Mitteln eine als verfassungswidrig erkannte und von uns
so eingeschätzte Partei. Wir finanzieren deren ekelhafte,
widerliche, aggressive Auftritte aus Steuergeldern mit.
Ich bin der Meinung, wir können der großen Mehrzahl unserer Bürger, die mit dieser Partei nichts am Hut haben,
aber brav ihre Steuern zahlen, nicht zumuten, dass wir als
demokratisch strukturierter Staat die Aktionen der NPD
weiterhin mit finanzieren.
({11})
Was mir zudem große Sorge macht, ist die Tatsache,
dass die NPD es versteht, zumindest in einem bestimmten
Spektrum der Jugend - diese Jugendlichen sind Leute aus
der Skinheadszene, junge Neonazis - für sich zu werben
und diese Jugendlichen zu gewinnen. Sie rühmt sich, dass
das durchschnittliche Beitrittsalter der Neumitglieder
mittlerweile auf etwa 25 Jahre gesunken sei. Sie bietet
diesen Jugendlichen, die in unserer Gesellschaft sonst
eher eine Außenseiterrolle einnehmen, eine politische
Heimat, Anerkennung und die ideologische Rechtfertigung ihres menschenverachtenden, gemeinschaftsfeindlichen Verhaltens. Das können wir doch nicht weiterhin zulassen!
({12})
Natürlich bedarf es, um diese Jugendlichen aus ihrer
Szene herauszuholen und Verhaltensweisen zu ändern, einer Vielzahl von Maßnahmen im sozialen Bereich und im
Bildungsbereich, internationaler Begegnungsmöglichkeiten und natürlich auch konsequenter Strafverfolgungsmaßnahmen.
Das alles enthalten unsere Anträge, die wir bereits eingebracht haben, enthält auch Ihr Antrag.
Aber daneben bedarf es in meinen Augen des Verbotes
der NPD, die diese Jugendlichen gezielt für sich und ihre
politischen Zwecke instrumentalisiert und in ihren Verhaltensweisen bestärkt. Ich bin der Meinung, wir müssen
beides tun: die NPD verbieten bzw. einen Antrag auf ein
Verbot stellen, auch als Deutscher Bundestag, und ein Paket vielfältiger Maßnahmen schnüren, um Rechtsextremismus und rechtsextremistisch motivierte Gewalt an der
Wurzel zu bekämpfen.
Ich danke Ihnen.
({13})
Nun hat der Kollege
Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch die Union
hat sich die Frage eines Verbotsverfahrens und eines eigenen Antrags in dieser Richtung bzw. der Zustimmung
zu einem solchen Antrag mit Sicherheit nicht leicht gemacht. In dieser Debatte ist, glaube ich, deutlich geworden: Niemand in diesem Saal hält die NPD in ihrer
derzeitigen Verfassung für eine mit dem Grundgesetz
übereinstimmende Partei. Jeder hier erklärt, die NPD
wolle die Werteordnung des Grundgesetzes beseitigen,
und zwar in aggressiv-kämpferischer Haltung.
Es ist allerdings eine ganz andere Frage, ob man deshalb gleich einen Verbotsantrag stellen muss. Jeder der
Vorredner hat klar zwischen der Prüfung der Situation dieser Partei und der Prüfung der Frage, ob ein Verbotsverfahren verhältnismäßig und im Sinne der politischen Auseinandersetzung sinnvoll wäre, unterschieden. Aber eines
wird man nicht bestreiten können: Die Zahl der Antragsteller beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
macht die NPD mit Sicherheit nicht verfassungsfeindlicher. Ob zwei oder drei Verfassungsorgane einen Verbotsantrag stellen, hat - mit Sicherheit wird hier niemand
das Gegenteil behaupten - keinen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens. Ein eigener Antrag des Bundestages
ist in vorangegangenen Verfahren nie gestellt worden.
Jetzt kann man natürlich sagen, das Grundgesetz teile
allen dreien die Kompetenz zu, einen Verbotsantrag zu
stellen.
({0})
Ihr Bundeskanzler hat im Sommer zunächst erklärt, er
gehe nur nach Karlsruhe, wenn das alle Verfassungsorgane tun. Ich fühle mich aber vorbelastet, wenn mir gegenüber öffentlich Erwartungen geäußert werden, bevor
wir diskutieren und Unterlagen einsehen können.
({1})
Ich finde, das ist kein guter Umgang mit einem Parlament;
und es gab ja in den Parteien, die jetzt zur Koalition
gehören, ähnliche Bedenken. Herr Westerwelle und Herr
Bosbach haben mit deutlichen Zitaten darauf hingewiesen.
Von Mallorca aus hat der Kanzler dann angerufen und
gesagt, die NPD werde bekämpft. Damit hieß es für die
Truppe: Kehrt, marsch, marsch!
({2})
Vier Wochen später gab es die Erklärung, man prüfe die
Verbotsfrage durch einen Arbeitsstab. Weitere vier Wochen später war klar: Die, die Bedenken hatten, mussten
widerrufen. So kam es zu diesem Verfahren.
Ich wiederhole: Ich halte einen Verbotsantrag bei Gericht für richtig, und deswegen haben wir uns zu einer Zustimmung zu dem laufenden Verbotsverfahren durchgerungen.
({3})
Aber ich stelle oder unterstütze - da bitte ich wirklich um
Verständnis - einen eigenen Verbotsantrag des Parlaments
nur, wenn ich im Vollbesitz aller Unterlagen bin. Solange
mir die Exekutive in zig Erklärungen sagt, es gebe fünfzig Seiten zusätzliches Material, und wenn ich das kennen
würde, hätte ich eine klarere Sicht,
({4})
und zusätzlich gebe es Abhörprotokolle, die ich nicht
kenne, deren Kenntnis zu einer noch deutlicheren Meinung führen würde, sage ich Ihnen:
({5})
So kann man mit dem Verfassungsorgan Parlament nicht
umgehen.
Dennoch halte ich in diesem Fall die Zustimmung zu
einem Antrag durchaus für vertretbar.
({6})
Aber natürlich ist es eigentlich Sache der Exekutive, einen Antrag zu stellen und diesen bei Gericht zu vertreten,
wenn sie mehr Unterlagen hat, als sie uns zur Verfügung
stellt.
({7})
Ich muss an dieser Stelle aber ganz klar sagen: Wenn
man einen Antrag bei Gericht stellt - auch wenn das Parlament das macht -, ist damit nicht automatisch als Ergebnis das Verbot der Partei verbunden. Sie tun manchmal
so, als sei ein Verbot schon klar und deutlich abzusehen.
Ich halte das für ein Stück Missachtung des Verfassungsgerichts. Wer die Prozesslage kennt, muss öffentlich darauf hinweisen, dass theoretisch durchaus die Gefahr oder
die Chance - je nachdem, wie Sie es nehmen - besteht,
dass diese Partei, die auch ich derzeit für verfassungswidrig halte, bis zur letzten Verhandlung durch Klärungsoder Reinigungsprozesse - etwa, indem sie die großen
Idioten rausschmeißt oder sich von ihnen distanziert - einem Verbot „entkommt“. Es gibt also „Zwischentöne“
und ich warne davor, die Entscheidung vorzubelasten.
Sonst heißt es eventuell hinterher - wenn es zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit, aber nicht zu einem
Verbot der Partei käme -, dass alle, die einen Antrag gestellt haben, eine Niederlage erlitten hätten. Dazu sage ich
ganz deutlich: Wir wollen eine Klärung der Frage. Gerichte sind aber souverän und unabhängig und werden alle
Unterlagen prüfen. Wenn die Exekutive sagt, sie habe
noch einiges in der Hinterhand, dann bitte schön!
({8})
Kollege Zeitlmann,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, ich bitte um
Entschuldigung. Wir haben diese Frage in den Ausschüssen schon so lange diskutiert. Ich bitte um Verständnis.
Ich will eins noch ganz klar sagen: Herr Gysi, es geht
nicht an, dass Sie sich hinstellen und nur einen Teil der
deutschen Geschichte behandeln. Sie waren heute MorWolfgang Zeitlmann
gen ein typisches Beispiel dafür, wie Blinde auftreten: Sie
haben nur das „Rechtsaußen“ der deutschen Geschichte
dargestellt und haben mit fast keinem Wort auf die zweite
Diktatur in Deutschland verwiesen.
({0})
Damit haben Sie den Eindruck erweckt, als seien nur auf
der rechten Seite Radikalität und Extremismus vorhanden gewesen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich sage jetzt etwas, was
ganz links sicher nicht auf Wohlgefallen stößt. Ich behaupte, diese Republik hat 1990 den großen Fehler gemacht, dass sie die SED und deren Nachfolgeorganisationen nicht auch verboten hat. Das sage ich ganz offen.
({2})
Dann wäre uns manches erspart geblieben.
({3})
Wir haben es uns in der Frage eines Verbotsantrages
wirklich schwer gemacht, denn eins ist klar: In diesem
Land gibt es seit diesem Sommer leider eine Form der
Hysterie im Umgang mit Radikalität. Ich verweise nur auf
die Stimmungslage in diesem Land nach den Vorkommnissen in Sebnitz.
({4})
Gestern liefen die Feststellungen der Sicherheitsbehörden
zum Angriff auf die Synagoge in Düsseldorf über die
Ticker. Ich bitte all diejenigen, die damals gleich Stimmung gemacht und „die Unanständigen in diesem Lande“
- Sie wissen, was ich meine - tituliert haben: Es muss unter Demokraten in diesem Hause bei solchen Themen wieder möglich sein, normal miteinander umzugehen und zu
diskutieren. Solche Stimmungsmache kann nicht richtig
sein.
({5})
In vielen Veröffentlichungen seit dem Sommer - ich
könnte sie Ihnen vorlegen - habe ich festgestellt, dass in
der Semantik in dem berechtigten Bemühen, gegen
Rechtsextremismus zu kämpfen, versucht wird, die
Grenze zu verschieben. Ich erinnere mich zum Beispiel an
eine Karte der Bundeszentrale für politische Bildung, in
der es heißt: „Kampf gegen Rechts“. Ganz klein gedruckt
steht dahinter noch „Extremismus“. Ich kenne Unterlagen
von SPD-Kollegen, die ganz eindeutig nur noch von
„rechts“ sprechen.
({6})
Meine Damen und Herren, ich nehme für mich in Anspruch, ein Politiker zu sein, der in der Mitte und rechts
steht. Dazu stehe ich. Es gibt eine demokratische Rechte.
({7})
Es wird Ihnen nicht gelingen, hier den Eindruck zu vermitteln, als ob man rechts generell - ({8})
- Das war nicht die Frage. Aber es gab in den letzten Monaten genügend Anlass, hierzu ein Wort zu sagen.
Herr Kollege
Zeitlmann, ich muss Sie noch einmal fragen: Gestatten
Sie eine Zwischenfrage?
Ich habe es schon
gesagt: Ich werde heute keine Zwischenfragen zulassen.
Ich möchte nun noch etwas zur Frage der Verhältnismäßigkeit sagen. Natürlich muss ein Staat mit einem Verbotsantrag nicht warten, bis eine immanente und übermäßig große Gefahr droht und konkrete Existenzgefahr
besteht. Wir haben die Pflicht, vorher zu handeln. Vor Gericht wird das große Problem aber sein, nachzuweisen,
dass 7 000 oder 8 000 Rechtsextreme bei etwa 30 000
BGS-Beamten und etwa 150 000 Länderpolizisten und
Verfassungsschützern eine existenzielle Gefährdung für
diese Republik darstellen. Ich bin für einen Antrag. Aber
man wird doch wohl noch offen über die Risiken eines
Gerichtsverfahrens diskutieren dürfen.
Ich stelle fest: Diese Regierung hat in den Monaten vor
dem Sommer keinerlei Anstalten gemacht, um auf eine
Gefahr hinzuweisen. Es gibt weder ein „Braunbuch“ über
die schweinischen Äußerungen von führenden NPD-Leuten noch eine politische Auseinandersetzung;
({0})
es gibt vielmehr nur einen Verbotsantrag, dem wir mit unserer Resolution zustimmen. Gleichzeitig möchten wir
aber deutlich machen, dass der Kampf auch auf anderen
Ebenen, unter anderem in der politischen Auseinandersetzung, stattfinden muss, und zwar mit klar definierten
Zielen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Ich erteile der Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Zunächst möchte ich feststellen, dass die Bekämpfung des
Rechtsextremismus ein zentrales Anliegen der Koalitionsfraktionen ist und dieses ganzen Parlaments sein
sollte. Herr Kollege Zeitlmann, ich sehe überhaupt keinen
Grund für eine Entwarnung.
({0})
Seit der Debatte im Sommer haben wir dieses Thema endlich in den Blickpunkt gerückt. Es hätte uns alle hier und
die Gesellschaft schon viel länger beschäftigen müssen.
Wie gesagt: Es gibt überhaupt keinen Grund zur Entwarnung.
Das Verbot der NPD ist in diesem Zusammenhang ein
notwendiger Schritt zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Es kann aber nur eine Maßnahme unter vielen
sein; das muss klar sein. Ich fürchte, die Fokussierung der
Debatte auf das Verbot in den letzten Monaten hat der Sache eher geschadet als genutzt. Sie hat von einer Auseinandersetzung mit den Ursachen des Rechtsextremismus abgelenkt. Das Hauptproblem liegt nicht außerhalb,
sondern in der Mitte der Gesellschaft und ist nicht allein
durch die markige Demonstration staatlicher Gewalt zu
lösen.
({1})
Deshalb bin ich froh, dass wir in den Haushaltsberatungen auf der Grundlage eines Antrages der Koalitionsfraktionen, den wir übrigens schon vor dem Sommer eingebracht haben, Herr Zeitlmann, ein deutliches Zeichen
zur Förderung der Zivilgesellschaft gesetzt haben. Für
Opferschutz, Aufklärung, Beratung und Jugendarbeit sind
50 Millionen DM zusätzlich bereitgestellt worden. Dazu
kommt das Xenos-Programm „Leben und Arbeiten in
Vielfalt“, das bereits in diesem Jahr angelaufen ist, mit
Maßnahmen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung
auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft. Hierfür stehen noch einmal je 25 Millionen DM in den nächsten drei
Jahren aus EU-Mitteln zur Verfügung. Ich glaube, das ist
ein Gesamtprogramm, das sich sehen lassen kann,
({2})
ein notwendiger und richtiger Schritt der Koalitionsfraktionen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.
Aber der Verbotsantrag gegen die NPD ist ein ebenso
notwendiger Schritt, den wir heute auch als Parlament tun
sollten. Ich kann die Kritik der F.D.P. daran überhaupt
nicht nachvollziehen. Sicher lassen sich Meinungen nicht
verbieten, das ist richtig. Über Meinungen und Einstellungen müssen wir uns auseinander setzen. Aber bei Aufstachelung zu Antisemitismus, zu Rassismus, zu Hass und
Gewalt endet die Meinungsfreiheit und beginnt das Verbrechen.
({3})
Das geht doch aus dem über 500-seitigen Material, das
uns allen vorliegt, deutlich hervor. Die NPD nutzt die Privilegien und den Schutz des Parteiengesetzes für eine intensive Förderung und die Zusammenarbeit mit der offen
gewalttätigen Neonaziszene. Viele Neonazis aus verbotenen Organisationen haben in der Partei ein neues Betätigungsfeld gefunden und betrachten sie als Ersatzorganisation. Weder für mich noch für viele andere Bürgerinnen
und Bürger, die wir ja zu Engagement und Zivilcourage
aufgerufen haben, ist es nachvollziehbar, dass über die
Parteienfinanzierung Millionenbeträge in rassistische,
antisemitische und neonazistische Propaganda fließen.
Natürlich, Herr Westerwelle, haben wir in der Bundesrepublik Gesetze gegen Mord und Totschlag, gegen Überfälle und rassistische Angriffe und Pöbeleien. Auch ich
wünsche mir, dass sie von Polizei und Justiz flächendeckend entsprechend angewendet werden. Ich wünsche
mir Prozesse, wie sie in Dessau geführt worden sind, und
nicht entwürdigende, lange Verfahren wie zum Beispiel in
Guben.
Aber das Strafrecht allein hier als Mittel gegen rechtsextreme Gewalt ins Feld zu führen, das heißt, die fatale
Wirkung einer offen auftretenden Organisation mit menschenverachtender Demagogie und rassistischer Praxis zu
unterschätzen, die, wenn sie denn offen auftreten kann,
anscheinend - das ist ja genau die Wirkung - auch von den
anderen Parteien als Teil der Normalität akzeptiert wird.
Die NPD ist ein Schutzschild für nationalsozialistische
Gewalttäter und in diesem Bereich macht sie auch ihre
Angebote. Sie tritt offen auf und spricht gerade Jugendliche an, die eben dadurch an Nazigewalt herangeführt werden.
Das Argument, die NPD-Mitglieder könnten in den
Untergrund abtauchen, das ja immer wieder vorgebracht
wird, verkennt die Realität, dass die Partei schon immer
eine Funktion als Durchlauferhitzer für die gewalttätige
Neonaziszene hatte - bis hin zu Wehrsportgruppen und
terroristischen Ansätzen. Rechtsextreme, die einst in die
offen und öffentlich auftretende NPD eingetreten sind,
haben sich offenbar dort radikalisiert und Kontakte zu entsprechenden Kreisen gefunden.
Deshalb, Herr Westerwelle, ist es eine völlige Fehleinschätzung auf Ihrer Seite, dass mit einem Verbot der NPD
die rechtsextreme Gewalt noch zunehmen würde. Das
Gegenteil ist der Fall.
({4})
Die NPD zu verbieten ist ein Schritt, keineswegs der einzige, um den Aktionsradius von Rechtsextremisten einzuschränken.
Die Gründe für ein Verbot der NPD sind in dem vorliegenden Material hinreichend dargelegt und untermauert. Daher verstehe ich überhaupt nicht, warum sich die
CDU/CSU-Fraktion nicht in der Lage sieht - Herr
Zeitlmann, verzeihen Sie mir, aber da finde ich Ihre Argumentation doch wirklich verworren -, das, was vorliegt, auch zu bewerten und daraus Konsequenzen zu ziehen.
Ich verstehe Sie auch deshalb nicht, weil ein eigener
Antrag des Bundestages schließlich auch da die Möglichkeit von Ergänzungen bietet, wo die spezifische Sicht der
Verfassungsschutzämter Lücken gelassen hat. So ist in
dem Material zwar das theoretische Konzept der „national befreiten Zonen“ zur Kenntnis genommen worden,
nicht aber die praktische Umsetzung. Dafür müsste zugegeben werden, dass es solche Angsträume in der Realität
unserer Republik auch wirklich gibt, in denen sich Menschen mit anderer Hautfarbe, Obdachlose, Homosexuelle,
alternative Jugendliche oder Menschen jüdischen Glaubens nicht mehr frei bewegen können. Mit dieser Erkenntnis tun sich die zuständigen Behörden oft schwer.
Ein eigenständiger Verbotsantrag des Bundestages bietet die Möglichkeit - und diese Chance sollten wir nutzen -, die vielfach weiter gehenden Kenntnisse von Wissenschaft, Initiativen und Fachleuten in das Verfahren mit
einzubeziehen.
Auch deshalb, weil Sie bzw. wir aus der eigenständigen Position des Parlaments heraus gestalten und Einfluss
nehmen können, möchte ich für die Unterstützung unseres Antrags werben. Denn dass ein Verbot notwendig ist,
dafür sind heute viele überzeugende Argumente auch aus
den Reihen der Opposition vorgetragen worden. Deshalb
sollten wir diesen Antrag gemeinsam unterstützen.
({5})
Ich erteile das Wort
Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz gibt dem Deutschen
Bundestag das Wächteramt über unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Heute ist ein guter Tag, weil
wir zum Handeln fähig sind. Es ist ein guter Tag für die,
die uns besorgt aus dem Ausland zusehen und sich fragen,
was bei den Deutschen los ist. Es ist ein guter Tag für die,
die in Deutschland an vielen Stellen wieder Angst und
echte Zukunftssorgen haben. Man muss nur einmal zu den
jüdischen Gemeinden gehen, ihnen zuhören und mit ihnen
reden, um zu erfahren, wie hier wieder die Angst umgeht.
Es ist wirklich Zeit geworden zu handeln.
({0})
Heute ist für mich aber auch ein beschämender Tag,
weil es in Deutschland wieder so weit gekommen ist, dass
wir handeln müssen,
({1})
und weil das, was wir nach der Katastrophe des Nationalsozialismus überwunden glaubten, noch fruchtbar ist.
Wir haben alle miteinander in der Vergangenheit einiges
versäumt. Umso wichtiger ist es, dass wir uns jetzt damit
auseinander setzen.
In diesem Sommer ist der zweite Band von Heinrich
August Winklers Werk: „Der lange Weg nach Westen“ erschienen. Ich kann jedem, der sich zu Weihnachten etwas
Gutes tun will, diese beiden Bände von Heinrich August
Winkler, die sich mit der deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre befassen, nur empfehlen und darin insbesondere die Kapitel über die Entwicklung der Weimarer
Republik. Wie der Titel schon sagt: Es geht um die traurige Erkenntnis - für mich ist das eine der schlimmsten
Belastungen für das demokratische Selbstgefühl -, dass
die Deutschen allein nicht in der Lage waren, zur Demokratie zu kommen. Vielmehr musste die ganze Welt helfen, um die Deutschen zur Demokratie zu befreien. Aus
diesem Grund sind wir umso mehr gehalten, das, was wir
auf dieser Grundlage aufgebaut haben, mit Leidenschaft
zu verteidigen.
({2})
Ich kann zwei weitere Bände, nämlich die von Ian
Kershaw, empfehlen. Es hilft nichts. Denn manches, was
hier nur vordergründig gesehen wird, bekommt seine Bedeutung erst vor dem Hintergrund der historischen Folie.
Wenn Sie sowohl Heinrich August Winkler als auch die
Kershaw-Biografie über Hitler lesen und sich mit der
Weimarer Zeit beschäftigen, dann können Sie etwas über
die Entwicklung der NSDAP von ihrer anfänglichen Bedeutungslosigkeit bis zur explosionsartigen Überwindung
der Demokratie erfahren. Sie werden etwas über die Verharmlosung der Nationalsozialisten durch das Bürgertum
in Deutschland lesen. Diesen Hintergrund muss man sehen, denn daraus erwächst für uns eine besondere Verantwortung.
({3})
Vor allem diejenigen, deren Vorfahren Hitler 1933 mit ermächtigt haben, sind gehalten, diese Erfahrungen aus der
Geschichte ernst zu nehmen und intensiv zu studieren.
({4})
Wer die NSDAP in der Weimarer Zeit und ihre Entwicklung mit der NPD und deren Aktivitäten vergleicht,
sieht, dass wir es hier mit einer Kopie zu tun haben. Ich
meine damit nicht nur die Übernahme des 20-Punkte-Programms durch die Jungen Nationaldemokraten. Vielmehr
haben wir es in Stil, in Systemfeindschaft und in Sprache
mit einer Neuauflage der NSDAP zu tun.
Es beginnt mit der Systemfeindschaft. Der NPD geht
es nicht um die Verbesserung des Systems, sondern sie
sagt, das System sei das Problem. Wer Weimar kennt,
weiß, was mit diesem Systembegriff angefangen worden
ist.
({5})
Da sind wir als Parlament angesprochen. Auch bei der
NPD geht es um einen Kampf gegen das liberale System,
gegen den Liberalismus, weil die demokratische Tradition mit der Tradition des Liberalismus eine ganze Menge
zu tun hat. Wer es angreift, greift den „langen Weg nach
Westen“ an, will wieder in die reaktionäre oder gar völkische Ideologie zurück und wählt den Weg von der Demokratie zurück zur Diktatur. Das müssen wir ernst nehmen.
Hier dürfen wir nicht wie bei Max Frischs „Biedermann
und die Brandstifter“ sagen, es sei schon nicht so
schlimm, es werde schon wieder werden, sie hätten gar
keine Zündhölzer dabei. Nein, wer so gebrannte Kinder
wie wir in Deutschland hat, der muss besonders wachsam
und aufmerksam sein.
({6})
Wenn die NPD mit ihren rechtsradikalen Kameradschaften durch das Brandenburger Tor marschiert, dann
ahmt sie den Marsch der SA in die Diktatur nach. Das ist
ein Symbol der Überwindung der Demokratie durch die
Diktatur. Wenn ich die Hetz- und Hasslieder höre und mir
anschaue, was dort in jungen Menschen vor sich geht,
dann erinnert mich das immer an Annette von DrosteHülshoff: des Vorurteils geheimen Seelendieb, der in
junge Brust die zähen Wurzeln trieb.
({7})
- Ja, sie hat es hervorragend ausgedrückt. Besser und sensibler kann man einen solchen Sozialisationsvorgang gar
nicht beschreiben.
({8})
Wer ständig Hitler, Heß und andere verherrlicht, der steht
in einer anderen Tradition.
Wir haben in der Tat einen breiten Verfassungsbogen,
Herr Zeitlmann. In ihn gehören Sie sicherlich ohne Probleme mit hinein.
({9})
- Er hat doch Angst geäußert und von uns die Bestätigung
gewollt, dass er dort hinein gehört. Ich antworte ja nur auf
ihn. Aber es gibt eben den Art. 79 Abs. 3, den Art. 1 und
den Art. 20 des Grundgesetzes, wonach die Menschenwürde und die demokratische Ordnung unantastbar sind.
Wer das nicht bejaht, ist nicht im Verfassungsbogen.
({10})
Meine Damen und Herren, wir müssen also lernen,
„der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das alles kroch“,
wie Bert Brecht einmal sagte, und diesen Kampf aufnehmen. Herr Westerwelle, Ihre Abwägung beruht darauf,
dass Sie die Gefahr unterschätzen. Ich erinnere an die Stabilisierung der Weimarer Demokratie, als alle, auch Sozialdemokraten, die Nazis schon abgeschrieben und gedacht hatten, sie seien eine vorübergehende Erscheinung
gewesen. Bei der nächsten Krise aber waren sie explosionsartig wieder da. Hier heißt es wirklich: Principiis
obsta, sero medicina paratur, si mala per longas convaluere moras!
({11})
Aus dieser Debatte geht aber auch etwas Tröstliches
hervor. Das habe ich kürzlich auch Leuten aus der amerikanischen Botschaft gesagt, die besorgt nachfragten: Der
Unterschied zu Weimar besteht darin, dass sich in der
Weimarer Zeit die wichtigsten und mächtigsten Menschen des Landes die Nazis wie flegelhafte Nutztiere halten wollten und am Ende selbst gehalten worden sind.
Gott sei Dank ist in Wirtschaft und Gesellschaft des heutigen Deutschlands kein vernünftiger Mensch bereit, auf
diese Karte zu setzen. Das ist der Unterschied zu Weimar.
Das haben wir gemeinsam erreicht und das sollten wir der
Welt auch gemeinsam sagen.
({12})
Meine Damen und Herren, warum das Parlament?
Warum stellen wir den Antrag? Nicht nur, weil wir ein
Wächteramt haben, sondern weil der zentrale Angriff derer, die auf Volksgemeinschaft, Führerprinzip und völkische Gedanken setzen, gegen das Parlament, gegen die
Vertretung des Volkes und gegen den parlamentarischen
Prozess geht.
({13})
Dagegen richtet sich der Angriff und unsere Antwort muss
und wird sein: Wir sagen nicht nur, andere sollten handeln, sondern wir handeln selber und sind dazu in der
Lage.
({14})
Wir schauen nicht nur zu, ob die anderen möglicherweise
ein Risiko eingehen, um dann hinterher vielleicht ätzende
Kommentierungen abzugeben. Es ist eine manchmal zu
beobachtende bürgerliche Verhaltensweise, erst einmal zu
schauen, ob sich andere den Hals brechen.
({15})
Nein, wir sind davon überzeugt: Die NPD hat in unserer Ordnung nichts zu suchen, wir kämpfen miteinander
und werden miteinander Erfolg haben, damit diese Gedanken und dieses Handeln aus unserem Land dauerhaft
verschwinden.
({16})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen.
Zunächst zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Erkenntnisse der
Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern zur
Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokratischen Partei Deutschlands‘“, Drucksachen 14/4500 und 14/4923.
Der Ausschuss empfiehlt dem Bundestag, beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD sowie die Folgeentscheidungen dazu zu
beantragen. Weiter wird empfohlen, den Präsidenten des
Bundestages zu beauftragen, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen und die Entscheidungen der Bundesregierung und des Bundesrates, Anträge auf ein Verbot der
NPD zu stellen, zu begrüßen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 14/4923? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
damit mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, PDS und einer Stimme der F.D.P. gegen die Stimmen
von CDU/CSU und der restlichen F.D.P. und bei einigen
Enthaltungen bei Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4883 mit dem
Titel „Verfassungswidrigkeit der Nationaldemokratischen
Partei Deutschlands“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen, der F.D.P.
und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/4888 mit dem Titel „Für eine wirksame und nachhaltige Bekämpfung des
Rechtsextremismus - deshalb gegen ein NPD-Verbot“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen
der F.D.P.-Fraktion und bei einigen Enthaltungen der
CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im
Übrigen abgelehnt worden.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4897 mit dem Titel
„Bestrebungen zur Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankenguts sind verfassungswidrig“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDSFraktion und gegen einige Stimmen der SPD-Fraktion mit
den Stimmen des Hauses im Übrigen abgelehnt.
Es sind einige Erklärungen zur Abstimmung zu Protokoll genommen worden, und zwar von den Kollegen und
Kolleginnen Volker Beck ({1})1), Angelika Beer, Grietje
Bettin2), Wolfgang Börnsen ({2})3), Antje Vollmer4),
Axel Berg und Konrad Gilges5).
Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunkts
angelangt.
Ich möchte mitteilen, dass es heute keine namentlichen
Abstimmungen gibt.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und bitte diejenigen, die an
der Debatte nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal möglichst geräuschlos zu verlassen.
Ich erteile das Wort dem Kollegen Wilhelm Schmidt.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Man hat immer das Gefühl, dass der
Vermittlungsausschuss ein eher trockenes Gremium ist,
ein Gremium, das hinter den Kulissen versucht, die eine
oder andere Position zusammenzubringen, damit Ergeb-
nisse erzielt werden können, die sowohl dem Verfas-
sungsorgan Bundestag als auch dem Verfassungsorgan
Bundesrat am Ende die Zustimmung ermöglichen. Die
gestrige Vermittlungsausschusssitzung hat nicht nur sehr
lange gedauert, sondern ist auch genau diesem Anspruch
gerecht geworden. Man hat sich über die unterschiedli-
chen Positionen ausgetauscht und hat sich sehr stark da-
rum bemüht, einen Kompromiss zu finden. Dass das an-
gesichts der vorliegenden Vermittlungsaufträge nicht
ganz leicht sein würde, war klar. Wir haben deswegen
- ohne die Zeit für die Vorbesprechungen einzurechnen -
siebeneinhalb Stunden gebraucht und sind zu Ergebnissen
gekommen, die heute, so hoffe ich, die Zustimmung des
Hauses, aber auch am 21. Dezember dieses Jahres die Zu-
stimmung des Bundesrates finden werden.
Sie sehen mich als Vertreter der Koalition, insbeson-
dere der SPD, sehr zufrieden, weil wir bei den Entschei-
dungen, die der Vermittlungsausschuss gestern getroffen
hat, weitestgehend unsere Positionen durchgesetzt haben,
ohne dabei, wie ich finde, die andere Seite übermäßig ver-
letzt bzw. die anderen Positionen nicht ausreichend
berücksichtigt zu haben. Ich hoffe deswegen auch darauf,
dass die Opposition dieses Hauses, aber auch die B-Län-
der im Bundesrat die erzielten Ergebnisse entsprechend
würdigen und entsprechend abstimmen werden.
Wir haben zwei der vier Vermittlungsaufträge zunächst
nicht behandelt. Das Verkehrswegeänderungsgesetz wur-
de nicht behandelt, weil es hier noch Abstimmungsbedarf
gibt, und zwar sowohl aufseiten der Bundesregierung als
auch aufseiten der Bundesländer. Das haben wir entspre-
chend gewürdigt und haben deswegen das Gesetzespaket
von der Tagesordnung abgesetzt.
Wir haben auch das Bundeswahlgesetz nicht behan-
delt, obwohl die Dinge dadurch - das gebe ich zu - ein
wenig schwieriger werden; denn die Vorbereitungen für
die nächste Bundestagswahl müssen im administrativen
Bereich nun wirklich langsam in Gang kommen. Aber da
wir auch noch die Wahlkreisreform vor uns haben, schien
es uns gerechtfertigt zu sein, dass wir dem Wunsch der
Bundesländer nachkommen, keine Entscheidung am ges-
trigen Abend herbeizuführen. Das ist insbesondere auch
deswegen wichtig, weil die Frage der Entschädigung für
die Wahlorganisationskosten eine besondere Rolle für die
Gemeinden und Städte spielt. Hier gibt es noch Verhand-
lungsbedarf. Dem wollten wir Rechnung tragen.
Ich komme nun auf den Punkt zu sprechen, den wir ab-
schließend behandelt haben, nämlich die Gefangenenent-
lohnung. Sie wissen, dass es dazu ein Verfassungsge-
richtsurteil gibt, das uns zwingt, jetzt zügig zu handeln. Das
haben wir auch getan: Der Deutsche Bundestag hat vor ei-
niger Zeit mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen die
Änderung des betreffenden Gesetzes beschlossen, die die
Anhebung der Gefangenenentlohnung zum Ziel hatte. Dies
ist nicht auf Zustimmung der Länder gestoßen. Wir wollen
das im Grundsatz durchaus respektieren, weil die Länder
Präsident Wolfgang Thierse
1) Anlage 14
2) Anlage 15
3) Anlage 16
4) Anlage 17
5) Anlage 18
diejenigen sind, die das ganz allein zahlen müssen. Von daher ist das Interesse auf der Länderseite naturgemäß größer.
Aber es besteht auch ein prinzipielles Interesse daran,
dass die Gefangenenentlohnung, die bisher 5 Prozent vom
Ecklohn betragen hat, also bei voller Beschäftigung etwa
220 DM im Monat ausmachte, nicht mehr auf diesem
niedrigen Niveau verharrt. Insofern haben wir das Verfassungsgerichtsurteil begrüßt. Wir haben begonnen, die notwendigen Veränderungen herbeizuführen.
In den Verhandlungen von gestern Abend ist aber nicht
mehr herausgekommen, als den Ecklohn auf 9 Prozent anzuheben. Das ist eine Anhebung um immerhin fast das
Doppelte. Es ist wichtig, das als Ausgangspunkt zu bewerten; jedenfalls sehen wir es so. Der Bundestagsbeschluss von 15 Prozent ist damit nicht im Entferntesten erreicht worden; aber unter diesen Umständen war nicht
mehr möglich. Ich sage noch einmal: Wir betrachten das
als Ausgangspunkt.
Der zweite Beschluss in diesem Paket besteht darin,
die Entlassungsmöglichkeit vorzuziehen oder Arbeitsurlaub, festgesetzt auf sechs Tage, zu gewähren. Auch das
ist ein Faktum, das, auch wenn es keine direkten finanziellen Auswirkungen hat, den arbeitenden Gefangenen
entgegenkommt.
Schließlich haben wir den Ausgleichsfaktor für die
Zahlungen, die mit diesem Arbeitsbefreiungstatbestand
zusammenhängen, auf 15 Prozent festgesetzt.
Ich glaube, dass dies insgesamt zwar nicht unbedingt
das Gelbe vom Ei ist, aber ein Ergebnis, das wir tragen
können und tragen wollen. Deswegen empfehlen wir Ihnen hier die Zustimmung. Im weitesten Sinne hat es diese
Zustimmung gestern im Vermittlungsausschuss gegeben:
Es gab immerhin 23 Stimmen für dieses Paket.
Ich will noch einen kurzen Hinweis auf die Diskussion
über die Entfernungspauschale geben. Wir fühlen uns in
der Koalition darin bestärkt, mit der Entfernungspauschale, die gestern als unechter Beschluss zustande gekommen ist, unsere Politiklinie aufrechterhalten zu haben.
({0})
Diese Linie lässt sich mit folgenden Worten skizzieren:
Wir wollen ökologisch vorgehen und der Bevölkerung
klarmachen, dass sie dadurch, dass wir den ÖPNV dem
PKW-Verkehr, was die steuerliche Entlastung angeht,
gleichstellen, eine neue Chance hat, die sie nutzen sollte.
Ich bin sehr zufrieden. Ich empfehle Ihnen, beide Ergebnisse des Vermittlungsausschusses anzunehmen.
({1})
Ich erteile dem Kollegen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Schmidt,
um es von vornherein klarzustellen: Das Ergebnis der Verhandlungen zur Entfernungspauschale, das gestern Abend
im Vermittlungsausschuss erzielt worden ist - Sie haben
es gewollt -, werden wir im Bundestag eindeutig ablehnen.
({0})
Die ganze Diskussion über eine Entfernungspauschale
und einen Heizkostenzuschuss ist letztlich nur ein plumpes Ablenkungsmanöver von der völlig verfehlten Ökosteuer.
({1})
Wir haben von Anfang an gesagt - die Menschen haben
das spätestens im letzten Jahr gemerkt -, dass mit dieser
Steuer allen Bürgern das Geld aus der Tasche gezogen
wird. Mit der Entfernungspauschale geben Sie davon einem Bruchteil der Bevölkerung etwas zurück.
Als die Verärgerung über die Ökosteuer für die Regierung gefährlich wurde, hat Schröder reagiert. Aber die
nächstliegende Konsequenz, die Abschaffung der Ökosteuer oder zumindest der Verzicht auf die nächste Erhöhung ab dem 1. Januar, konnte und wollte der Kanzler
- offenbar aus politisch-taktischen Gründen - nicht ziehen. Dem stand die Rücksichtnahme auf die Grünen entgegen, denen er nicht die letzte Trophäe ihrer Regierungsverantwortung nehmen wollte. Dem stand auch die
gebetsmühlenhaft wiederholte Behauptung entgegen,
dass die Ökosteuer zur Senkung der Rentenbeiträge verwendet werde. Also musste der Kanzler ein anderes Kaninchen aus dem Zylinder ziehen. Das waren dann die
Entfernungspauschale und der Heizkostenzuschuss. Sie
sollen den Volkszorn beschwichtigen, ohne die Grünen zu
demütigen und ohne dass die Regierung eingestehen
muss, dass die Ökosteuer im Kern gescheitert ist.
Aber wie das „Handelsblatt“ treffend schrieb: Wer es
allen recht machen will, macht alles falsch.
({2})
Genau das ist bei der Entfernungspauschale der Fall. Sie
ist der Ausdruck einer Politik, die sich nicht an sachlichen
Notwendigkeiten orientiert,
({3})
sondern den einzigen Zweck der Machtausübung im
Machterhalt sieht.
Das Gesetzgebungsverfahren zur Entfernungspauschale ist ein Modellfall dafür, wie der Bundeskanzler
reagiert. Erst geht er großspurig mit dem Versprechen an
die Öffentlichkeit: 80 Pfennig Entfernungspauschale für
alle, unabhängig von den Verkehrsmitteln. - Dann bekommt er Druck von den Ländern, weil die nicht mit finanzieren wollen, und so werden aus den 80 Pfennig für
die Bahn-, Bus- und Radfahrer 60 Pfennig und oben wird
noch ein Deckel eingezogen. Dann laufen die Grünen
Wilhelm Schmidt ({4})
Sturm und von den groß angekündigten 80 Pfennig bleiben noch 70 Pfennig für alle. Erst ab 11 Kilometer bleiben die ursprünglich von Schröder versprochenen
80 Pfennig, unabhängig vom Verkehrsmittel. Der eingezogene Deckel bewirkt, dass das Ganze schön bürokratisch die Probleme erschwert und die Finanzämter noch
mehr Arbeit haben.
({5})
Meine Damen und Herren, dieses Gesetz erfreut nicht
einmal mehr die Steuerberater, denn sie haben schon mit
der Steuerreform genug zusätzliche Arbeit bekommen.
Das ist ein Regierungsstil nach dem Motto: Mal sehen,
was dabei herauskommt, Hauptsache, es ist falsch.
({6})
Kollege Rauen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwalbe?
Ja, bitte.
Herr Kollege
Rauen, Sie haben gerade davon gesprochen, dass ein oberer Deckel eingezogen wird. Können Sie vielleicht einmal
erklären, wie eine Verkäuferin entlastet wird, die in Merseburg oder in Weißenfels im Saalepark - um ein Beispiel
aus meinem Wahlkreis zu nehmen - mit einem Geringverdienervertrag, einem 630-Mark-Vertrag, arbeitet und
jeden Tag 15 bis 20 Kilometer zur Arbeit fahren muss?
Das ist eine sehr interessante Frage.
({0})
- Ich will das in aller Ruhe beantworten, denn das ist eine
sehr solide Frage. Genau die, die am meisten leiden, nämlich die Autofahrer, die ihr Auto dringend brauchen, um
überhaupt zur Arbeit zu kommen, werden überhaupt nicht
entlastet. Bei dieser Verkäuferin ist der Fall gegeben - da
sie den Grundfreibetrag ohnehin nicht erreicht -, dass
8 Kilometer wirksam werden. Davon hat sie einen Groschen mehr - 80 Pfennig täglich - und sie fährt zwanzigmal im Monat hin und her. Das heißt, 20 mal 80 Pfennig
kann sie steuerlich geltend machen.
({1})
- Ich weiß ja, Sie wollen das Beispiel nicht hören. Ich
habe es ja gestern auch gemerkt. Sie wissen genau, dass
es wahr ist. Sie wollen nicht hören,
({2})
dass die deutsche Öffentlichkeit erfährt, wie gering die
Entlastung für diejenigen ist, die wirklich belastet werden.
Ich bleibe bei der Antwort: Sie kann also 80 Pfennig
pro Tag steuerlich absetzen. Das sind bei 20 Fahrten im
Monat 16 DM. Ich unterstelle einmal, sie hat eine Steuerprogression von 35 Prozent, dann sind das 5,60 DM.
({3})
Sie muss aber im Monat 20 mal 40 Kilometer fahren, das
sind 800 Kilometer.
({4})
Wenn sie 10 Liter pro 100 Kilometer braucht, sind das
80 Liter im Monat. Das macht genau 5,60 DM im Monat,
die sie aufgrund der 7 Pfennig Erhöhung durch die nächste
Stufe der Ökosteuerreform mehr zahlen muss. Das heißt,
es ist ein völliges Nullsummenspiel. Sie hat keine Entlastung, sie bekommt lediglich das zurück, was sie aufgrund
der Erhöhung im nächsten Jahr mehr zahlen muss.
Kollege Rauen, der
Kollege Schwalbe will noch einmal nachfragen, und dann
möchte Ihnen die Kollegin Hendricks noch eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte schön.
Erst Kollege
Schwalbe, weil er noch nachfragen möchte.
Herr Kollege
Rauen, ich wollte eigentlich nicht hören, was sie eventuell absetzen könnte. Vielmehr geht es mir darum: Wenn
eine Arbeitskraft nur einen 630-Mark-Job hat, zahlt sie
meines Wissens überhaupt keine Steuern. Wie soll sie
steuerlich etwas geltend machen, wenn sie überhaupt
keine Steuern zahlt?
({0})
Bei einem 630-Mark-Job
kann sie in der Tat nichts absetzen.
({0})
Sie hat aber die Chance, dass ihr Arbeitgeber ihr die
80 Pfennig pro Kilometer Entfernung steuerfrei zahlt,
wenn er eine pauschale Lohnsteuer von 15 Prozent dazubezahlt.
Herr Kollege,
gestatten Sie auch eine Zwischenfrage der Kollegin
Hendricks?
Ja.
Herr Kollege Rauen,
der Kollege Schwalbe ist mir mit seiner Zusatzfrage in gewisser Weise zuvorgekommen. Ich wollte Sie nämlich
fragen, ob Sie bereit sind, zu bestätigen, dass jemand, der
ohnehin steuerfrei ist, auch nicht steuerlich entlastet werden kann.
({0})
Und sind Sie auch bereit, mir zu bestätigen, dass jemand,
der einen Geringverdienerarbeitsvertrag mit 630 DM im
Monat hat, jedenfalls ziemlich ausgebeutet sein muss,
wenn er dafür zwanzigmal zur Arbeit fahren muss, also jeden Arbeitstag im Monat?
Sind Sie schließlich auch bereit, mir zu bestätigen, dass
dann, wenn jemand schon auf diese Weise so ausgebeutet
wird, der Arbeitgeber eben diesem Arbeitnehmer höchstwahrscheinlich auch keine pauschal versteuerte Fahrkarte
zur Verfügung stellen wird - leider Gottes?
Den Menschen geht es nicht wegen der steuerlichen
Bedingungen schlecht, sondern wegen der Arbeitsmarktbedingungen, die in manchen Gegenden dieses Landes
leider herrschen.
({1})
Frau Hendricks, das ist ja
eine wunderschöne klassenkämpferische Frage, die Sie da
stellen. Aber vielleicht können Sie sich vorstellen, dass
diese Verkäuferin, von der gesprochen wurde, froh ist, die
630-Mark-Arbeitsstelle überhaupt zu haben, und deshalb
auch gerne zu der Arbeitsstelle fährt.
Sie wollen ja nur von der Tatsache ablenken, dass mit
dem, was Sie zur Entfernungspauschale vorschlagen, mit
dieser Erhöhung um 10 Pfennig für die Menschen auf dem
flachen Land, die keine Alternative zu ihrem Auto haben,
um zur Arbeit zu kommen, in der Tat gerade nur die Mehrkosten abgedeckt werden, die durch die Ökosteuererhöhung ab nächstem Januar auf sie zukommen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir haben ja mitbekommen,
wie sich die Ergebnisse durch die Diskussionen in der Koalition täglich geändert haben. Dass dieses Verfahren Methode hat, zeigt ein anderes Beispiel aus den letzten Tagen; ich meine die Auseinandersetzung um die Neufassung der AfA-Tabellen. Die Bundesregierung hat immer wieder beteuert, dass die Verlängerung der Abschreibungsfristen für die Wirtschaft zu Mehrbelastungen von
nicht mehr als 3,4 Milliarden DM führen soll. Das stand
nicht nur im Finanztableau des Steuersenkungsgesetzes,
das hat nicht nur der Bundesfinanzminister gesagt, sondern das hat auch Bundeskanzler Schröder in den jüngsten
Tagen der Wirtschaft mehrmals sehr deutlich versprochen.
Weil auch der zweite Entwurf des Bundesfinanzministeriums weit über das gesetzte Ziel hinausschießt, beschließen die Finanzminister des Bundesfinanzministeriums und der Länder eine öffentliche Anhörung. In dieser
Anhörung am 30. November 2000 führt sich der Steuerabteilungsleiter des Bundes dann so arrogant oder provozierend auf, dass die Veranstaltung in einem allgemeinen
Tumult endet und sich die Vertreter der Wirtschaft fragen,
warum sie überhaupt dort hingekommen sind. Obwohl
danach selbst Frau Scheel von den Grünen anmahnt, die
Sorgen und Einwände der Wirtschaft ernst zu nehmen,
({1})
obwohl die Finanzminister der von der Union regierten
Länder ebenso wie der Wirtschaftsausschuss des Bundesrates mit guten Gründen eine förmliche Beteiligung des
Bundesrates fordern und der Einführung der neuen Tabellen ausdrücklich widersprechen - so wie gestern im Bundesrat geschehen -, will das Bundesfinanzministerium
diese Tabellen jetzt einfach durchsetzen und ab 1. Januar
in Kraft treten lassen. Das ist wiederum ein schwerer Anschlag gegen die Wirtschaft, der insbesondere zur Benachteiligung des Mittelstandes führt.
({2})
Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler: War die Anhörung
vom 30. November 2000 nur eine Alibiveranstaltung?
Waren Ihre Zusagen an die Wirtschaft nur leere Versprechungen oder entscheidet jetzt gar der Steuerabteilungsleiter des Bundesfinanzministeriums, wo es mit den Steuertabellen langgeht?
Wenn die Ökosteuer gegen alle Vernunft dennoch
nicht abgeschafft wird, sind auch wir der Meinung, dass
die Pendler entlastet werden müssen. Aber wir wollen vor
allen Dingen diejenigen entlasten, die keine Alternative
zum Auto haben, um zur Arbeit zu kommen. Bei denen
reicht, um es zu wiederholen, die Entlastung gerade aus,
um die Erhöhung der Ökosteuer in der nächsten Stufe zu
finanzieren. Die einzige Möglichkeit, die Folgen des massiven Energiepreisanstiegs abzufedern, ist der Verzicht
auf die Ökosteuer. Das sagen nicht nur wir, das hat auch
die öffentliche Anhörung des Finanzausschusses zu unseren Gesetzentwürfen ergeben.
({3})
Der Verzicht auf die Ökosteuer ist aber nicht nur ein
Gebot der wirtschaftlichen Vernunft. Er wird sich wahrscheinlich auch aus Rechtsgründen gar nicht vermeiden
lassen. Wir alle haben gehört, dass der Bundesfinanzhof
in einer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfassungsgericht wesentliche Teile des Ökosteuergesetzes als
verfassungswidrig bezeichnet hat. Die Kritik des Bundesfinanzhofes gilt den Vergünstigungen, die für energieintensive Betriebe des produzierenden Gewerbes vorgesehen sind. Diese sollen Nachteile für Unternehmen, die im
internationalen Wettbewerb stehen, vermeiden. Das führt
zu solchen Blüten, dass zum Beispiel die Brotfabrik bei
der Ökosteuer entlastet wird, der Bäckermeister aber die
volle Ökosteuer bezahlen muss.
Natürlich stehen nicht nur die Betriebe des produzierenden Gewerbes im internationalen Wettbewerb. Auch
dienstleistende Unternehmen müssen sich gegenüber ausländischen Konkurrenten behaupten. Die Logik, die den
Ermäßigungen für das produzierende Gewerbe zugrunde
liegt, würde doch fordern, auch die deutschen Transportunternehmen von der Ökosteuer auszunehmen. Oder
braucht man diese nur deshalb nicht zu berücksichtigen,
weil es sich bei ihnen zum großen Teil um kleine oder
kleinste Betriebe handelt?
Auch Ihre Behauptung, dass die Bürger das, was Sie
ihnen durch die Ökosteuer abnehmen, über niedrigere Rentenversicherungsbeiträge zurückbekämen, wird
durch die gebetsmühlenhafte Wiederholung nicht richtiger. Bei der Einführung der Ökosteuer Anfang 1999 haben Sie sich noch bemüht, den Schein zu wahren. Die
Senkung der Rentenversicherungsbeiträge entsprach damals genau dem Betrag, den Sie mit der ersten Stufe der
Steuerreform eingenommen haben. Dieses Junktim war
im Gesetz damals, Anfang 1999, auch exakt formuliert. In
der Begründung des Gesetzes zur Fortführung der ökologischen Steuerreform Ende 1999 war von einer solchen
Entsprechung schon nicht mehr die Rede. Da heißt es nur
noch unverbindlich: Das Aufkommen ermöglicht, die
Beiträge zur Rentenversicherung in den weiteren Stufen
zu senken.
Tatsache ist: Mit der Ökosteuer werden Sie bis zum
Jahr 2003, wenn alle fünf Stufen gegriffen haben, einschließlich Mehrwertsteuer 37 Milliarden DM einnehmen. Im Rentenbericht der Regierung steht, dass der Beitrag von 1998 bis 2003 um ganze 1,2 Prozent fallen wird.
Das sind aber bei 16 Milliarden DM pro Prozentpunkt
Rentenversicherungsbeitrag ganze 19 Milliarden DM.
Wo bleiben die restlichen circa 19 Milliarden DM, die Sie
in Form von Beitragssenkungen den Bürgern wieder
zurückgeben wollen? So haben Sie es versprochen.
({4})
Herr Bundeskanzler, ziehen Sie den Schlussstrich unter diese verfehlte Politik!
({5})
Verzichten Sie auf die Flickschusterei mit der Entfernungspauschale und dem Heizkostenzuschuss. Sie erreichen damit 2 Millionen Haushalte. Wir haben 39 Millionen Haushalte in Deutschland, die durch die Erhöhung
der Energiekosten genauso belastet sind und die durch die
Mehrkosten oft an die Grenze kommen, bis zu der sie sich
noch selbst helfen können. An all diese Haushalte wird
nicht gedacht. Es wird ein kleiner Teil ausgenommen; der
Rest hat letztlich nur die Kosten zu tragen.
({6})
Machen Sie Nägel mit Köpfen! Schaffen Sie die Ökosteuer ab! Alles andere ist weiße Salbe und Flickschusterei.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Kerstin Müller.
Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuss hat gestern unter anderem die Erhöhung der Entfernungspauschale beschlossen. Ich kann für meine
Fraktion sagen: Wir finden dieses Ergebnis sehr gut; denn
damit wird nach jahrelangen Diskussionen endlich mit
der einseitigen steuerlichen Bevorzugung des Autos, auch
durch die Kilometerpauschale, Schluss gemacht.
({0})
Diese einheitliche Entfernungspauschale stellt erstmals
Fußgänger, Radfahrer und eben auch die Nutzer von Bus
und Bahn den Autopendlern gleich. Das ist ein großer Erfolg der Koalition und ein riesiger Fortschritt im Vergleich
zur bisherigen Situation.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, eigentlich würden Sie ja gerne zustimmen. Deshalb haben Sie
hier einen solch quälenden Redebeitrag abgeliefert. Auch
Sie haben nämlich dies alles in Ihrem Programm stehen.
({1})
Ich will die Gründe nennen, warum es vernünftig ist,
eine einheitliche Entfernungspauschale einzuführen: Erstens ist es gerecht. Denn es wird endlich kein Verkehrsmittel mehr einseitig steuerlich privilegiert. Wir schaffen
damit endlich die jahrzehntelange Autovorrangpolitik, die
wir im Steuerrecht hatten, ab und stellen Wettbewerbsgerechtigkeit für Busse und Bahnen her.
({2})
Zweitens. Die Entfernungspauschale, die wir jetzt beschlossen haben, ist unbürokratisch und transparent. Bis
zum zehnten Kilometer sind 70 Pfennig und ab dem
elften Kilometer sind 80 Pfennig anzusetzen. Damit machen wir endlich Schluss mit der bisherigen Verführung
zur Steuerhinterziehung.
({3})
Seien wir doch einmal ehrlich: Bisher war es so - das haben auch Sie von der Opposition in den Debatten bemängelt -, dass diejenigen, die mit dem öffentlichen Nahverkehr gefahren sind, in der Regel dennoch steuerlich den
PKW abgerechnet haben. Damit machen wir jetzt
Schluss; denn wir sehen eine einheitliche Behandlung
aller Verkehrsmittel vor. Das ist ein großer Erfolg. Es gibt
keine Bevorzugung mehr.
({4})
An dieser unbürokratischen Regelung ändert auch die
von uns vorgesehene Nachweisgrenze von 10 000 DM
nichts. Das bedeutet nämlich, dass 97 Prozent aller
Pendler ihre Kosten pauschal angeben können und dass
nur 3 Prozent ihre Fahrten individuell nachweisen müssen. Denn 97 Prozent der Pendler fahren weniger als
58 Kilometer. Das heißt, mit dieser Nachweisgrenze verhindern wir Missbrauch. Dies ist auch vernünftig. Wir haben also auch an diesem Punkt im Vermittlungsausschuss
eine gute Regelung gefunden.
({5})
Drittens. Die Entfernungspauschale ist ökologisch.
Weil mit ihr endlich alle Verkehrsmittel gleich behandelt
werden, schafft sie nicht nur den Anreiz, genau abzurechnen, wie man fährt, sondern auch den Anreiz, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Damit ist sie ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz.
Außerdem kommen zwei Drittel dieser zusätzlich von
uns beschlossenen Förderung in Höhe von 1 Milliarde DM - so hoch ist nur noch das Finanzrisiko von Bund
und Ländern - den Nutzern des öffentlichen Nah- und
Fernverkehrs zugute und ein Drittel den PKW-Pendlern.
Das heißt, gerade für die Nutzer des öffentlichen Nah- und
Fernverkehrs ist diese Vereinbarung ein echter Fortschritt.
Ich will deshalb gerade mit Blick auf den Bundesrat, zum
Beispiel auf Hamburg und Berlin, deutlich sagen: Wir unterstützen mit diesem Vorschlag nicht nur die Pendler in
der Fläche, sondern gerade auch die Menschen, die tagtäglich millionenfach den öffentlichen Nahverkehr in den
Metropolen nutzen.
({6})
Ich kann deshalb an die Länder Berlin und Hamburg nur
appellieren, diesem Vorschlag zuzustimmen. Denn dies
ist eine echte Entlastung für die Menschen in den Städten
und nicht nur für die Menschen auf dem Land.
({7})
Das Ganze zeigt, dass die Entfernungspauschale alles
andere als ein Widerspruch zum Konzept der Ökosteuer
ist. Im Gegenteil: Sie ist eine absolut sinnvolle Ergänzung.
Die Vorteile der Entfernungspauschale im Vergleich
zur bisherigen Kilometerpauschale liegen auf der Hand.
Deshalb haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, und zwar sowohl Sie von der F.D.P. als auch Sie
von der CDU/CSU, inzwischen längst das Konzept einer
verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale der
Grünen und der SPD übernommen. In den Petersberger
Beschlüssen von 1998 forderten Sie von der Union zum
Beispiel eine Pauschale von 40 Pfennig.
({8})
Ich habe mir heute das aktuelle steuerpolitische Konzept
der CDU, das im Internet zu finden ist, genauer angesehen. Noch kann man es im Internet nachlesen; vielleicht
kommt Frau Merkel jetzt auf die Idee, es zu löschen. Dieses Konzept ist überschrieben mit: „Die bessere Alternative“. Was ist nun gerade in diesem Punkt Ihre „bessere
Alternative“? Die sollte man einmal vortragen; denn ich
finde, die Menschen sollten sie kennen. Sie fordern in diesem Konzept - Herr Rauen, hören Sie einmal zu - „eine
Pauschale von 50 Pfennig“,
({9})
und zwar erst dann - das ist wichtig -, wenn „die Arbeitsstätte weiter als 15 Kilometer von der Wohnung entfernt ist.“
({10})
Außerdem wollen Sie einen „auf 1 500 DM verminderten
Arbeitnehmerpauschbetrag“ einführen.
({11})
- Ich habe also richtig verstanden.
Erstens wollen Sie für alle, die einen Arbeitsweg von
weniger als 15 Kilometern haben, die Pauschale komplett
streichen,
({12})
während wir bis zum zehnten Kilometer eine Pauschale
von 70 Pfennig vorsehen. Diese Tatsache sollten alle Bürger kennen. Immerhin ist davon die Hälfte aller Pendler
betroffen, weil sie einen Arbeitsweg unter 15 Kilometern
haben.
({13})
Zweitens wollen Sie für alle anderen Pendler eine Kilometerpauschale einführen, die 30 Pfennig unter unserer
Pauschale liegt.
({14})
Außerdem wollen sie für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so ganz nebenbei noch die Werbungskostenpauschale um 500 DM kürzen. Das soll Ihre so genannte
bessere Alternative sein? Mit Ihren Vorschlägen hätten
Sie alle Pendler um ein Vielfaches zusätzlich belastet. Ich
kann nur sagen: Unser Vorschlag ist besser.
({15})
Unsere Maßnahme ist eine gute Ergänzung zum Konzept der ökologischen Steuerreform. Diesen Punkt will
ich noch näher ausführen. Vor zwei Jahren, im Wahlkampf
1998, hat die gesamte Republik - also nicht nur wir und
die SPD - die Senkung der Lohnnebenkosten gefordert.
Wir haben das umgesetzt. Das Aufkommen aus der ökologischen Steuerreform wird in vollem Umfang für die
Senkung des Rentenversicherungsbeitrages genutzt.
Kerstin Müller ({16})
({17})
Damit konnten wir die versicherungsfremden Leistungen
aus der gesetzlichen Rentenversicherung sozusagen auslagern. Das haben nicht nur wir, sondern auch Sie gefordert.
Wir entlasten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Unternehmen im kommenden Jahr um insgesamt 22 Milliarden DM. Sie sollten angesichts dieser
Entlastung aufhören, falsche Behauptungen aufzustellen.
Die Forderung nach Aussetzung der Ökosteuer macht
überhaupt keinen Sinn. Wer das fordert, muss auch gleichzeitig zugeben - da sollte er ehrlich sein -, dass er damit
eigentlich auch die Erhöhung des Rentenbeitrags fordert.
Der Beitrag würde nämlich steigen, wenn das Aufkommen aus der Ökosteuer nicht mehr in die Rentenversicherung fließen würde.
Ich will Ihnen ein Beispiel geben, weil mich Ihre Vorwürfe wirklich nerven.
({18})
Ein Ehepaar mit einem durchschnittlichen Einkommen
von 5 000 DM im Monat fährt mit einem Achtliterauto
15 000 Kilometer im Jahr. Was würde diese Familie sparen, wenn wir die Ökosteuer aussetzen? Wenn wir die Entlastung einbeziehen, die die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages mit sich bringt, dann kommt man auf
einen Betrag von sage und schreibe 20 Pfennig, die diese
Familie im Monat spart.
({19})
Da wir uns in einer steuerpolitischen Debatte befinden,
muss ich noch Folgendes hinzufügen: Die gleiche Familie entlasten wir mit unserer Steuerreform im nächsten
Jahr um 163 DM im Monat. Was soll also die Debatte um
20 Pfennig im Monat, wenn wir mit unserer Steuerreform
eine Entlastung um 163 DM für diese Familie schaffen?
({20})
Das ist Steuerpolitik à la Rot-Grün: Wir entlasten die Familien.
({21})
Wir steuern außerdem ökologisch um.
({22})
Das war absolut überfällig, nachdem Sie 16 Jahre lang
nichts für den Klimaschutz und fast gar nichts für die Familien getan haben.
({23})
Ich komme jetzt zu der Frage der Finanzierung. Wir
haben das Finanzvolumen auf 1 Milliarde DM reduziert.
Nach meiner Meinung kann es keinen Hinderungsgrund
für die Länder mehr geben, diesem Vermittlungsergebnis
zuzustimmen. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass es gerade die Ministerpräsidenten der
Länder waren - auch die Ministerpräsidenten der von Ihnen regierten Länder -,
({24})
die nach einem sozialen Ausgleich für die gestiegenen
Energiekosten - nicht aufgrund der Ökosteuer, sondern
aufgrund der höheren Energiepreise - gerufen haben. Ich
meine: Wer die Musik bestellt, der sollte sich wenigstens
an der Finanzierung beteiligen.
({25})
Ich möchte für den Bund deutlich sagen: Man kann nun
wirklich nicht behaupten - das haben die Länder gestern
eindeutig zugegeben -, der Bund sei den Ländern nicht
entgegengekommen. 75 Prozent der Kosten des gesamten
Entlastungspaketes trägt der Bund. Die restlichen 25 Prozent sollen sich Länder und Gemeinden teilen. Ich meine,
dass wir ein sehr faires Angebot bezüglich der Finanzierung vorgelegt haben. Ich kann von dieser Stelle aus nur
noch einmal an alle Länder appellieren, diesem ökologisch und sozial vernünftigen Ergebnis, dessen Lasten finanziell gerecht verteilt werden, im Bundesrat am 21. Dezember zuzustimmen.
({26})
Für meine Fraktion handelt es sich um ein in jeder Hinsicht gutes Ergebnis: die Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer, die Unterstützung für Pendler, die nur einen kurzen Arbeitsweg haben, und die Entlastung der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir werden dem
Ergebnis deshalb gerne zustimmen.
Ich möchte noch einmal an Sie appellieren. Auch Ihr
Programm beinhaltet eine Entfernungspauschale. Sie ist
sogar niedriger als die, die wir vorsehen. Ich hielte es für
ein gutes Zeichen, wenn wir diese Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam beschließen würden.
({27})
Vielleicht können Sie heute - was Sie gestern Nacht
nach zweieinhalb Stunden nicht geschafft haben - Ihrem
Herzen folgen und über die Hürde springen und dem
Ergebnis des Vermittlungsausschusses zustimmen. Ich
- und ich glaube, auch die Menschen in unserem Land hielte das für vernünftig.
Danke schön.
({28})
Kerstin Müller ({29})
Jetzt folgt eine
Kurzintervention des Kollegen Rauen.
Frau Müller, Sie haben
mich eben auf die Entfernungspauschale angesprochen,
die im Steueränderungsgesetz von 1997 enthalten war.
({0})
Sie haben richtig gesagt, dass dies eine Fernpendlerpauschale in Höhe von 50 Pfennig pro Kilometer für alle, unabhängig vom Verkehrsmittel, war, die eine tägliche
Strecke von mindestens 15 Kilometern zum Arbeitsplatz
zurücklegen mussten. Dieser Betrag sollte unabhängig
von dem Arbeitnehmerpauschbetrag gezahlt werden, der
zurzeit immer noch verrechnet wird.
({1})
Erst muss jemand den Pauschbetrag erreichen, bevor er
die Entfernungspauschale überhaupt angerechnet wird.
Ist Ihnen bekannt, dass dieser damalige Vorschlag
({2})
im Gesamtkontext mit einem Reformkonzept mit einem
Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einem Ausgangssteuersatz von 39 Prozent, einem flachen Tarif, stand,
nach dem die Arbeitnehmer bereits ab 1998 massiv entlastet worden wären? Dieser Tarif kommt erst im Jahre
2005. Jetzt werden die Arbeitnehmer zunächst nicht entlastet und haben zusätzlich diese Belastung.
({3})
Ist Ihnen bekannt, dass wir damals keine Probleme mit
dem Energiepreis hatten und dieses Gesetz damals erst
recht nicht mit einem solchen Irrsinn von Ökosteuergesetz
gekoppelt war, wie wir ihn zurzeit in Deutschland haben?
({4})
Frau Müller, Sie
können erwidern, müssen es aber nicht.
Da ich eher selten dazu Gelegenheit habe, möchte
ich etwas erwidern.
Ich spreche nicht von Ihrem Konzept von 1997, sondern von dem, das ich mir heute aus dem Internet gezogen
habe. Das ist Ihr aktuelles Konzept.
({0})
In diesem aktuellen Konzept schlagen Sie die Regelungen vor, die ich eben genannt habe, das heißt, eine
Pauschale, die erst bei einer Strecke von 15 Kilometern
greift und sich auf 50 Pfennig und eben nicht auf 70 oder
80 Pfennig beläuft. Ich finde, das sollten die Menschen
wissen.
({1})
- Das ist keine gefälschte Wiedergabe. - Wenn Sie etwas
anderes wollen, müssen Sie Ihr Konzept ändern. Entweder Sie stehen zu Ihrem Steuerkonzept oder nicht. Ich
habe Ihr aktuelles Steuerkonzept vorgelesen, mehr nicht.
({2})
Jetzt hat Herr
Kollege Hermann Otto Solms das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die F.D.P. hat
seit vielen Jahren die Umwandlung der Kilometerpauschale in eine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale gefordert.
({0})
So war es auch im Koalitionsbeschluss zu den Petersberger Beschlüssen vereinbart, allerdings im Rahmen eines
völlig anders gestalteten Gesamtkonzeptes. Deswegen ist
der Vergleich so nicht zulässig.
({1})
Wir haben noch vor wenigen Monaten dieses Konzept im
Bundestag zur Abstimmung gestellt. SPD und Grüne haben es mit ihrer Mehrheit abgelehnt.
({2})
Noch im Juni hat Frau Staatssekretärin Dr. Hendricks
im Rahmen der Beantwortung einer Frage gesagt: „Die
Bundesregierung ist gegen kurzfristige aktionistische
steuerliche Maßnahmen; vielmehr wird sie die Entwicklung der Benzinpreise sorgfältig beobachten.“
({3})
Interessant ist - mit den gestiegenen Energiepreisen begründen Sie auch Ihren Gesetzentwurf -, dass Sie in dem
Moment, in dem die Energiepreise wieder drastisch sinken und der Euro steigt, doch zu kurzfristig wirkenden
Maßnahmen bereit sind. Es scheint also mit der Begründung nicht weit her zu sein.
({4})
Es scheint doch darum zu gehen, die fehlerhafte
Entwicklung und insbesondere die schädlichen Auswirkungen der Ökosteuer auf die Wählerschaft ausgleichen und tarnen zu wollen, weil Sie Angst vor der nächsten Erhöhung und deren Folgen, insbesondere im
Zusammenhang mit den bevorstehenden Wahlen, haben.
({5})
Wir sind für die Entfernungspauschale. Aber weil Sie
diese auch jetzt wieder falsch machen - dazu werde ich
gleich etwas sagen -, werden wir ihr nicht zustimmen.
Wir werden uns enthalten. Ich will auch erklären, warum.
Das Interessante ist, dass es einen heftigen - wie in der
Presse berichtet wurde - Streit zwischen Grünen und SPD
darüber gegeben hat, wie diese ausgestaltet werden soll.
Wie immer ist ein fauler Kompromiss herausgekommen.
Die SPD wollte - so interpretiere ich das - vorwiegend
eine Entlastung der Pendler erreichen. Nur, mit dieser
Entlastung von 80 Pfennig bei mehr als 10 Kilometern
Entfernung entlasten Sie die Pendler nicht ausreichend.
Die Entlastung eines durchschnittlichen Pendlers mit
20 Kilometern Entfernung und 9 Litern Benzinverbrauch
auf 100 Kilometern liegt bei etwa 55 DM, die Belastung
aber bei 277 DM.
({6})
Das ist also nur eine teilweise Entlastung.
Was mir wichtiger ist: Ökologisch ist dies das völlig
falsche Instrument. Deswegen verstehe ich die Begründung von Frau Müller überhaupt nicht.
({7})
Wenn sich die Grünen für eine ökologische Steuerreform
eingesetzt hätten, hätten sie natürlich eine Erhöhung der
Pauschale verhindern müssen; denn die Erhöhung der
Pauschale führt dazu, dass die so genannte Lenkungswirkung der Ökosteuer - die ja ohnehin nicht vorhanden
ist - noch einmal geschwächt wird.
({8})
Aus diesem Grunde war unser Konzept, das wir auf
dem Petersberg beschlossen haben, ökologisch stimmig.
Wir haben gesagt, wir müssen die ökologische Wirkung
erhöhen und deshalb die Entfernungspauschale etwas
niedriger ansetzen. Deswegen hatten wir 50 Pfennig
beschlossen. Es wird doch ökologisch erst ein Schuh daraus, wenn damit eine Lenkungswirkung erzielt wird,
wenn man versucht, die Leute dazu zu bewegen, von den
privaten Verkehrsmitteln etwas weniger Gebrauch zu
machen.
Deswegen ist diese Maßnahme in sich widersprüchlich, wie überhaupt die ganze ökologische Steuerreform
in sich widersprüchlich ist. Das ist auch mehrfach
bestätigt worden, jüngst vom Sachverständigenrat, der
gesagt hat, dass diese Unstimmigkeit Anlass geben sollte,
den bisher verfolgten Ansatz aufzugeben. Das ist die alte
Diskussion.
Bei der Ökosteuer haben Sie die Betriebe, die besonders energieintensiv arbeiten, geschont, indem Sie sie
ausgenommen oder deren Belastung niedrig gehalten
haben. Sie haben das Aufkommen aus der Ökosteuer
genutzt, um die Rente zu finanzieren, damit eine Rentensteuer verhindert und so dazu beigetragen, dass eine völlige Verwirrung eingetreten ist und kein Mensch mehr
den Eindruck hat, dass etwas ökologisch Vernünftiges
geschieht.
Das ist in meinen Augen das große Dilemma bei dieser
Diskussion: dass hier das gute Argument, eine vernünftige
ökologische Politik zu machen - das wir alle unterstützen -, mit einer völlig verfehlten Maßnahme ad absurdum
geführt wird
({9})
und dass die Menschen draußen im Lande den Eindruck
gewinnen, die ökologische Argumentation sei nur eine
vorgeschobene, eine Scheinargumentation zur Durchsetzung ganz anderer Ziele.
({10})
Das haben Sie mit dieser Diskussion bewirkt und das ist
schädlich.
Es ist nun einmal so: Wenn man eine Sache falsch anfängt, schafft man es nie mehr, sie wieder stimmig zu
machen.
({11})
Das hat schon Johann Wolfgang von Goethe festgestellt,
indem er sagte: „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt
mit dem Zuknöpfen nicht zurande.“
({12})
So ist es geschehen. Sie haben mit Ihrer Ökosteuer ein
falsches, nicht stimmiges Konzept auf den Tisch gelegt,
({13})
was daran liegt, dass es unterschiedliche Vorstellungen
zwischen der SPD und den Grünen gibt. Das Ergebnis ist
eine totale Verwirrung und Enttäuschung bei den Betroffenen. Mit der fehlangelegten Maßnahme, die Sie jetzt
durchsetzen wollen, wird die Situation nicht bereinigt,
sondern noch schlimmer. Deswegen können Sie von uns
keine Zustimmung erwarten.
Vielen Dank.
({14})
Die heutige Debatte zeigt, dass es im Deutschen Bundestag gute Literaturkenntnisse gibt.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS wird dem Vermittlungsergebnis bezüglich der Änderung des Strafvollzugsgesetzes zustimmen. Obwohl wir die Lösung nicht für optimal
halten, finden wir, dass das zumindest ein Schritt in die
richtige Richtung ist.
Nun zur Frage der Entfernungspauschale, der
verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale. Ich
denke, sowohl das unechte Vermittlungsergebnis als auch
das Gezerre auf dem Weg dahin zeigt noch einmal die
Verkorkstheit der rot-grünen Ökosteuer
({0})
- Herr Schmidt, halten Sie sich noch etwas zurück und
warten Sie auf die Begründung -, einer Steuer, die weder
eine ausreichende ökologische Lenkungswirkung entfaltet noch sozial gerecht ist. Wir meinen, dass das Vermittlungsergebnis, das jetzt erzielt wurde, zumindest einen gewissen sozialen Ausgleich schafft. Aber es zeigt im
Nachhinein auch das Eingeständnis, dass es notwendig
war, bei Ihrer Ökosteuer einen sozialen Ausgleich herzustellen.
Wir alle in diesem Haus wissen sicherlich, dass die Ursache für die gestiegenen Mineralölpreise nicht in erster Linie bei der OPEC liegt und nicht in erster Linie auf die
Ökosteuer zurückzuführen ist. Vielmehr haben insbesondere die Mineralölkonzerne einen riesigen Reibach gemacht.
({1})
Trotzdem sind wir als Politikerinnen und Politiker für den
Teil der Verteuerung, den wir geschaffen haben, verantwortlich. Das ist nun einmal die Ökosteuer.
Frau Müller hat versucht, zu beweisen, wie gut jetzt der
soziale Ausgleich sei. Sie haben als Beispiel eine berufstätige Familie herausgegriffen - natürlich, weil nur dann
Einkommensteuer gezahlt wird, wenn jemand berufstätig
ist. Es ist und bleibt aber so, dass weder die Rentnerin und
der Rentner noch die Studentin und der Student, noch die
von der Sozialhilfe abhängigen Familien einen sozialen
Ausgleich bekommen - auch nicht durch die Entfernungspauschale. Diese Menschen sind aber die durch die
Ökosteuer wirklich Gekniffenen.
({2})
Denn sie haben mehr Belastungen, aber keinerlei sozialen
Ausgleich.
Vor diesem Hintergrund müssen Sie verstehen, dass
unsere Begeisterung sich etwas in Grenzen hält. Zumindest ist das nun gefundene Ergebnis aber ein Schritt in die
richtige Richtung. Allerdings kann ich mir nicht verkneifen, Sie noch einmal daran zu erinnern, dass wir es waren
- in diesem Jahr in der ersten Lesung zum Haushalt waren es mindestens drei Rednerinnen und Redner von der
PDS -, die gefordert haben, die verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale als eine mögliche Nachbesserung zur Ökosteuer einzuführen. Das wurde damals von
Rot-Grün noch abgelehnt. Wir freuen uns, das der PDSVorschlag jetzt eine solche Mehrheit findet.
({3})
- Natürlich hat das mit der Ökosteuer zu tun; das wissen
wir auch alle.
Wir freuen uns, dass es endlich gelungen ist, Fußgänger, Radfahrer, Benutzer und Benutzerinnen des ÖPNV
den Autopendlern gleichzustellen. Unzulänglichkeiten
sind aber geblieben. Es ist klar, dass sich bei einem Betrag
von 70 Pfennig pro Entfernungskilometer für die große
Masse der Autopendler - die durchschnittliche Entfernung zwischen Arbeits- und Wohnort beträgt 10,7 Kilometer - nichts ändern wird.
Im Zusammenhang mit der Einführung und Erhöhung
der Entfernungspauschale wird häufig über die Gefahr
der Zersiedlung gesprochen. Ich finde, man sollte nicht
aus dem Auge verlieren - das möchte ich noch einmal
hervorheben -, dass sehr viele Menschen aus den Stadtkernen heraus in Gewerbegebiete, die außerhalb der
Wohngebiete liegen, fahren müssen. Lange Pendelwege
entstehen eben nicht ausschließlich, weil die Menschen
ins Grüne ziehen wollen, sondern weil die Gewerbegebiete auf der grünen Wiese entstanden sind und weil - das
ist die Hauptursache - eine Vielzahl von Menschen überhaupt keine Chance hat, vom Auto auf andere Verkehrsmittel umzusteigen.
Damit sind wir wieder bei der Ökosteuer. Es bleibt nun
einmal ein Grundfehler der Ökosteuer, dass man die Mehreinnahmen in die Rentenkassen gibt, anstatt sie für den
ökologischen Umbau der Gesellschaft zu verwenden.
({4})
Wir können einen ökologischen Umbau der Gesellschaft
mit den Menschen gemeinsam nur erreichen, wenn sie
vernünftige Chancen haben, ihr persönliches Verhalten zu
ändern, zum Beispiel indem sie die Möglichkeit bekommen, vom Auto auf andere Verkehrsmittel umzusteigen.
Bislang ist es aber nicht zu einer Verkehrswende gekommen. Wir brauchen den Ausbau der Bahn; wir brauchen eine Senkung der Tarife im Personennahverkehr; wir
brauchen die Verbesserung des Angebotes des ÖPNV. Die
Diskussionen der letzten Wochen zeigen aber, dass genau
der gegenteilige Prozess einsetzt. Die Bahn zieht sich
massiv aus der Fläche zurück und ganze Regionen - zum
Beispiel im Schwarzwald, in Ostfriesland oder im Umland von Berlin - werden vom Schienenverkehr abgekoppelt. Das kann nicht sein. Wir müssen das Geld aus der
Ökosteuer gezielt für den ökologischen Umbau einsetzen.
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft
einen weiteren Fehler der Ökosteuer - übrigens ist dieser
Fehler der Grund dafür, dass Sie heute Nacht so lange diskutieren mussten -: Der Bund nimmt die Mehreinnahmen
aus der mit Ihrer Mehrheit verabschiedeten Ökosteuer zur
Gänze. Jetzt aber, wenn es einen ersten sozialen Ausgleich
gibt, sollen sich die Länder und die Kommunen an der Finanzierung des sozialen Ausgleiches beteiligen. Das ist
ganz einfach ein Grundfehler in der Konstruktion.
({5})
Ich denke, es ist mehr als verständlich, dass die Länder an
diesem Punkt erst einmal protestiert haben.
Frau Müller hat angemahnt, die Länder sollten sich beteiligen. Ich finde, wir müssen die Ermahnung erweitern:
Die Länder dürfen ihre Belastungen nicht ihrerseits auf
die Kommunen abwälzen, denn die Kommunen sind
durch die Ökosteuer schon genug belastet. Wenn die Länder und Kommunen diesen sozialen Ausgleich im Ergebnis zu über 50 Prozent gegenfinanzieren sollen, dann ist
das für sie schon ein Problem.
Abschließend möchte ich feststellen: Die PDS wird
dem Vermittlungsergebnis zustimmen, obwohl die Verkorkstheit der Ökosteuer dadurch nicht aufgehoben wird.
Die Verkehrsmittelunabhängigkeit ist aber ein Schritt in
die richtige Richtung. Und es erfolgt ein gewisser sozialer Ausgleich. Den unterstützen wir mit ganzer Kraft.
Ich bedanke mich.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Joachim Poß.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So sehr man Literaturkenntnisse in
diesem Hohen Hause begrüßen sollte, wie die Präsidentin
das gemacht hat, so sehr muss man doch bemängeln,
wenn die Kenntnis der eigenen Parteiprogramme nicht in
gleicher Weise ausgeprägt ist.
({0})
Ich hatte den Eindruck, dass sich Herr Rauen schon des
eigenen Konzeptes schämt. Wir reden nicht von den Petersberger Beschlüssen, sondern - erinnern Sie sich an
den Anfang dieses Jahres - von der „besseren Alternative
der CDU/CSU“, erarbeitet in einem sehr mühsamen Prozess von den Herren Faltlhauser und Merz.
({1})
In diesem Vorschlag steht - das müssen die Pendlerinnen
und Pendler wissen -: Bis zum 15. Kilometer soll jede
Pauschale wegfallen. Ab dem 16. Kilometer gibt es dann
nur noch eine einheitliche, verkehrsmittelunabhängige
Entfernungspauschale auf der Basis von 50 Pfennig. Damit errechnete die CDU/CSU sich ein Volumen von
5,1 Milliarden DM, mit dem sie im Wesentlichen die Absenkung des Spitzensteuersatzes auf 35 Prozent gegenfinanzieren wollte. Für die Spitzenverdiener sollten die
Pendler also abkassiert werden! Das ist Ihr Konzept.
({2})
Das werden wir den Bürgerinnen und Bürgern in den
nächsten Wochen bis zum 21. Dezember noch einmal
deutlich vor Augen führen.
Heute ist der letzte Sitzungstag des Deutschen Bundestages in diesem Jahr. Wir stehen kurz vor Weihnachten. Wir können feststellen: Es war für die Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland steuerpolitisch ein gutes Jahr.
({3})
Die Koalition hat für sie Steuerentlastungen in einer
Höhe beschlossen, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben hat.
({4})
- Das ist nicht falsch. Ich kenne die Steuergeschichte der
80er-Jahre etwas besser als Sie. Ich will mich hier aber
nicht in Details verlieren.
({5})
Ob ein großer Teil der Steuerzahler, nämlich Pendlerinnen und Pendler sowie die Benutzer der öffentlichen
Verkehrsmittel, eine zusätzliche steuerpolitische Gabe auf
ihrem Tisch wiederfinden, hängt vom Verhalten der
CDU/CSU und der von ihr geführten Länder am 21. Dezember dieses Jahres ab. Denn mit dem Ergebnis, das wir
gestern mit diesem so genannten unechten Vermittlungsergebnis erzielt haben, werden die Bürgerinnen und
Bürger zusätzlich zu den 45 Milliarden DM, die wir schon
an Entlastung beschlossen haben, im nächsten Jahr um
eine weitere Milliarde DM entlastet.
({6})
- Wir haben doch gemerkt, wie „leicht“ es Ihnen fiel, zu
einem Ergebnis zu kommen. Weshalb haben Sie denn
dann bei den Beratungen eine Auszeit von zwei Stunden
genommen? Sie haben sie gebraucht, weil Sie die Probleme sehen, vor denen Sie stehen. Ihre Länder müssen
doch begründen, warum die Pendler und die Benutzer des
öffentlichen Nahverkehrs nicht entlastet werden sollen.
Herr Kollege
Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Rössel?
Ja, gerne.
Herr Kollege Poß, ich
nehme Bezug auf Ihre Bemerkung zu dem „erfolgreichen
Jahr in der Steuerpolitik“. Nehmen Sie diese Bewertung
auch angesichts der Entwicklung der Aktienkurse der
Versicherungsunternehmen vor? Ich frage vor dem Hintergrund der Tatsache, dass nach Bekanntwerden der
Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne an Beteiligungen
die Aktienkurse der Allianz und der Münchner Rückversicherung von einem Tag auf den anderen um 20 Prozent
gestiegen sind. Können Sie bestätigen, dass ein Ergebnis
der Steuerpolitik der Bundesregierung darin besteht, diese
Entwicklung maßgeblich befördert zu haben?
({0})
Ich will ja nicht persönlich werden, sondern bleibe ganz sachlich.
Ich kann Ihnen bestätigen, Herr Kollege Rössel, dass
wenige Tage nach Bekanntwerden dieser Konzeption an
den Börsen die von Ihnen beschriebene Reaktion eingetreten ist. Im Übrigen hatten wir kurz darauf, eine Woche
später, schon wieder eine andere Entwicklung. Ich wäre
also vorsichtig mit solchen Belegen. Aber richtig ist, das
haben wir gesagt: Wir wollen Verkrustungen aufbrechen.
Und das scheint uns eine geeignete Maßnahme zu sein,
diese Verkrustungen aufzubrechen, Herr Rössel. Deswegen stehe ich auch zu dem, was wir beschlossen haben.
({0})
Ich bin gespannt darauf, wie Ihre Länder sich am
21. dieses Monats verhalten werden. Es gibt nämlich keinen vernünftigen Grund, den von unserer Seite vorgelegten Kompromiss im Bundesrat endgültig scheitern zu lassen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht die
Zustimmung der unionsgeführten Länder zu der von uns
vorgeschlagenen Entlastung für alle Pendler.
Frau Kollegin Müller hat schon die Vorteile dieser Entfernungspauschale dargestellt: dass damit erstmals alle
Verkehrsmittel gleich behandelt werden. Der öffentliche
Verkehr wird dem Individualverkehr gleichgestellt. Das
ist ein Durchbruch für die Bundesrepublik Deutschland,
meine Damen und Herren.
({1})
Künftig können alle Pendler ohne Nachweis einen Betrag von bis zu 10 000 DM jährlich von der Steuer absetzen. Das entspricht einer Entfernung von der Wohnung
zur Arbeitsstätte von circa 56 Kilometern. Einen längeren
Weg haben nur drei Prozent aller Pendler. Diese Langpendler können einen höheren steuerlichen Abzug geltend
machen, wenn sie nachweisen, dass sie mit ihrem eigenen
PKW oder mit einem zur Nutzung überlassenen PKW
eine größere Wegstrecke zur Arbeit zurückgelegt haben.
Wenn Sie jetzt kritisieren, das sei bürokratisch, müssen
Sie doch ehrlicherweise den Menschen auch sagen, dass
Sie gestern Abend eine Grenze von 6 500 DM vorgeschlagen haben. Damit würden Sie Bürokratie produzieren,
Herr Rauen, nicht mit unserem Vorschlag. Jeder Fachkundige weiß, dass wir keine Bürokratie produzieren.
({2})
Das müssen sie im Übrigen einmal weitergeben an Ihren
CDU-Generalsekretär Meyer. Der kennt nicht einmal das
eigene Programm, wie seine heutige Stellungnahme bewiesen hat. Er hat nämlich gesagt, das sei ein Programm
für Steuerberater. Das ist kein Programm für Steuerberater. Offenbar weiß Herr Meyer nicht einmal, dass auch in
Ihrem Programm die Entfernungspauschale als Instrument vorgeschlagen wird. Es wird Zeit, dass der Mann dazulernt; diese Inkompetenz fällt doch langsam auf.
({3})
Die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel werden durch
die vorgeschlagene Regelung gegenüber dem geltenden
Recht sämtlich begünstigt. Wir haben als Nachweisgrenze
einen Betrag von rund 10 000 DM gewählt. Dieser Betrag
entspricht dem Preis einer Jahresnetzkarte der Deutschen
Bahn in der ersten Klasse. Das Ergebnis ist ein deutliches
Signal und ein großer Anreiz für die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel und damit eine wichtige umwelt- und verkehrspolitische Weichenstellung.
Sie haben diesen Kompromiss mit fadenscheinigen
Gründen abgelehnt, zum Beispiel mit dem Grund, dass
wir darauf bestehen, dass die Finanzverfassung eingehalten wird. Ja, wollen wir denn, dass wir bei der Gelegenheit Verfassungsbruch begehen? Was haben Sie denn
überhaupt für Vorstellungen?
({4})
- Herr Fromme, Sie haben ja sogar eine gewisse formale
Ausbildung. Sie sollten mit solchen Behauptungen vorsichtig sein.
({5})
Das muss man Ihnen, glaube ich, sagen, weil Sie nicht
Unkenntnis für sich in Anspruch nehmen können.
({6})
Die Wählerinnen und Wähler werden sehr schnell erkennen, welch eine obstruktive Haltung Sie hier eingenommen haben. Ich bin mir deshalb ganz sicher: Wir werden uns am 21. Dezember so durchsetzen, wie wir uns am
14. Juli durchgesetzt haben.
({7})
Das gilt auch für eine weitere Entlastung der Landwirte
mit einem noch einmal ermäßigten Steuersatz fürAgrardiesel. Wir haben uns bereit erklärt, bei einer Zustimmung
der Unionsseite zur Entfernungspauschale auch hier eine
entsprechende Initiative zu ergreifen.
Im Sommer wurde eine Steuerreform - mit Stimmen
auch aus dem Lager der von der Union geführten oder
mitregierten Bundesländer - beschlossen, wie es sie in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht
gegeben hat.
({8})
Das Steuersenkungsgesetz allein hat ein Entlastungsvolumen von 63 Milliarden DM.
Das Bundesfinanzministerium hat am Mittwoch damit
begonnen, die Bürger in den letzten Wochen vor dem Jahreswechsel über die Reformschritte zu informieren. Das
ist wichtig, denn jeder soll wissen, was Bundestag und
Bundesrat beschlossen haben. Jeder soll mitbekommen,
dass CDU/CSU und F.D.P. jahrelang von Entlastung immer nur geredet, aber nie finanzierbare Konzepte vorgelegt haben.
({9})
Wir machen die Entlastung praktisch. Großer Gewinner dieser Steuerpolitik ist neben den Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern und den Familien mit Kindern der
Mittelstand.
({10})
Ich hebe das hervor, weil Sie wahrheitswidrig immer noch
anderes behaupten. Der Vorwurf, dass wir Politik für die
Großkonzerne machten, ist schlichtweg falsch. Die Zahlen belegen das Gegenteil. Die Informationskampagne
des Finanzministeriums wird dazu beitragen, diese Behauptung der Opposition ad absurdum zu führen.
({11})
- Ich kann ja verstehen, Herr Fromme, dass Parteien, die
es 16 Jahre lang nicht geschafft haben, den Mittelstand zu
entlasten, jetzt nicht begeistert „Hurra!“ schreien.
({12})
Ein bisschen mehr Wahrheitsliebe wäre allerdings geboten.
({13})
Um in diesem Zusammenhang nur einen einzigen
Punkt herauszugreifen: Wir haben es geschafft, die Personenunternehmen, von denen ein Großteil dem Mittelstand
zuzurechnen ist, faktisch von der Gewerbesteuer zu befreien. Das ist eine Forderung, die jahrzehntelang von den
Verbänden erhoben worden ist. Wir haben das geschafft und nicht Sie!
({14})
Wir haben es so gemacht, dass die Gewerbesteuer als
Hauptfinanzierungsquelle der Kommunen erhalten bleibt.
Das war übrigens im Konzept der Union anders: Sie wollten den Kommunen ans Leder. Aber das ist mit uns nicht
zu machen.
Unsere steuerpolitische Bilanz ist eindrucksvoll.
Gleichzeitig gefährden wir damit nicht unser Konsolidierungsziel. Also: Ohne Gefährdung des Konsolidierungsziels realisieren wir die größte Steuerentlastung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und leisten
damit sichtbare Beiträge zu mehr Gerechtigkeit und mehr
sozialer Ausgewogenheit, zur Förderung eines nachhaltigen Aufschwungs, zur Entlastung des Mittelstands, des
Motors der deutschen Wirtschaft, zu international wettbewerbsfähigen Steuersätzen und zu strukturellen Verbesserungen bei der Besteuerung der Unternehmen sowie zum
konsequenten Abbau fragwürdiger Sonderregelungen und
ungerechtfertigter Steuervergünstigungen - und das alles,
nachdem CDU/CSU und F.D.P. das deutsche Steuerrecht
verwüstet hatten und Millionäre in vielen Fällen überhaupt keine Steuern gezahlt haben.
({15})
Wir setzen den Verfassungsgrundsatz der Besteuerung
nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch. Wir
haben mit unserer Politik zu einer verbesserten Umwelteffizienz des Steuersystems und zur Entlastung des Faktors Arbeit beigetragen - nicht mehr und nicht weniger.
Das ist die Bilanz, mit der wir vor Weihnachten in diesem
Jahr den Bürgern gegenübertreten.
Ein wichtiges Standbein unserer Steuerpolitik ist die
sozialökologische Steuerreform; landläufig wird sie als
Ökosteuer bezeichnet. Sie nennen sie Abzockersteuer und
wollen sich damit beliebt machen. Ruprecht Polenz wollte
dieses perfide Spiel offensichtlich nicht mehr mitspielen.
({16})
Er wollte sich bei der nächsten Ökosteuerkampagne nicht
mehr auf ein Kickboard stellen lassen
({17})
und die Leute glauben machen, bald müssten sie alle Roller fahren, weil die Sozis das Benzin verteuern.
({18})
Ruprecht Polenz hat die Reißleine gezogen und damit einer Oppositionspolitik, die nur diskreditiert, verleumdet
und auf Stimmungen setzt, eine klare Absage erteilt. Das
gilt übrigens auch für die Sozialdemagogie der PDS, um
das noch einmal hinzuzufügen.
({19})
Ich will deshalb auf diesen Punkt der Ökosteuer nicht
eingehen. Ich will nur noch einmal an Folgendes erinnern:
Sie werfen uns vor, wir „tanken für die Rente“. Sie haben
aber in der Vergangenheit dann nach dem Motto gehandelt: Wir tanken, um Löcher zu stopfen. Das kommt für
uns nicht in Frage.
({20})
- Ich bin überhaupt nicht verbittert. Ich bin voller Freude,
dass wir kurz vor Weihnachten eine solch eindrucksvolle
steuerpolitische Bilanz hier im Bundestag diskutieren
können.
({21})
Wir haben bereits jetzt - durch das Steuerentlastungsgesetz und das Familienförderungsgesetz - dafür gesorgt,
dass die Familien mit Kindern jetzt zu Weihnachten wieder stärker zu ihrem Recht kommen. Etwas pathetisch gesprochen: Sie können wieder etwas mehr auf den Gabentisch legen. Das gilt auch für die Durchschnittsverdiener,
die bei Ihnen jahrelang die Lastesel der Nation waren. Das
haben wir geändert.
({22})
Diese Politik setzen wir überzeugend fort. Deswegen:
Es war ein gutes Jahr, nicht nur für diese Koalition, sondern für die Bürgerinnen und Bürger, für Arbeitnehmer,
für Familien und für den Mittelstand.
({23})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Gerda Hasselfeldt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Herr Poß, Sie tun ja gerade so, als würden Sie
heute über die größte Wohltat aller Zeiten
({0})
- das schönste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten - entscheiden. Aber nun wollen wir einmal das Ganze wieder
auf die Realität zurückführen.
Was tun Sie denn? Sie zocken die Bürger durch fünfmalige Steuererhöhungen auf brutale Weise ab.
({1})
Sie haben sie geprügelt und Sie prügeln sie auch in Zukunft durch weitere drei Steuererhöhungen.
({2})
Anschließend versuchen Sie, die Verwundungen, die Sie
damit angerichtet haben, mit einem kleinen Heftpflaster
zu heilen. Meine Damen und Herren, so geht es nicht. Wir
sind der Meinung, wenn man die Leute erst gar nicht prügelt, braucht man auch kein Heftpflaster.
({3})
Das Ganze wird jetzt aber noch etwas pikant gewürzt;
hier zeigt sich - das will ich nicht verschweigen - eine gewisse Raffinesse des Finanzministers. Der Bundesfinanzminister kassiert die Ökosteuer ganz allein, sorgt aber
dafür, dass für das Heftpflaster, also den Ausgleich der
Ökosteuer, den größten Teil die Länder zahlen müssen.
Meine Damen und Herren, so geht es natürlich auch nicht.
({4})
Ich habe sehr wohl Verständnis für die Kritik der Länder, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Berechnungen von Bayern und Nordrhein-Westfalen - auch dies ist
gestern deutlich zum Ausdruck gekommen und heute
noch einmal bestätigt worden - andere als die vom Bund
vorgelegten sind.
({5})
Von vornherein besser wäre es gewesen und wäre es
immer noch, wenn Sie das Grundübel beseitigten, wenn
Sie also die Ökosteuer abschafften oder zumindest die
weiteren Stufen ab dem 1. Januar 2001 aussetzten.
({6})
Vorhin ist behauptet worden, dass dann die Beiträge
zur Rentenversicherung steigen müssten. Ich will Ihnen
dazu einmal etwas sagen: Zum 1. Januar erhöhen Sie erneut die Ökosteuer; die Erhöhung macht in einem Jahr
fast 6 Milliarden DM aus. Der Rentenversicherungsbeitrag sinkt jedoch nicht im gleichen Maße. Die zukünftige
Beitragssenkung bei der Rentenversicherung macht gerade einmal 3,2 Milliarden DM aus. Angesichts dessen
können Sie doch nicht ständig behaupten, die Ökosteuer
werde zur Senkung der Beitragssätze in der Rentenversicherung verwendet. Dem ist nicht so und das muss man
auch deutlich zum Ausdruck bringen.
({7})
Nun möchte ich aber auch ein paar Sätze darauf verwenden, was nun tatsächlich an konkreten Auswirkungen
für die Bürger im Beschluss des Vermittlungsausschusses
enthalten ist. Ist die Entfernungspauschale wirklich ein
Ausgleich für die gestiegenen Benzinkosten und für das,
was Sie mit Ihrer Ökosteuer angerichtet haben? Ich verdeutliche Ihnen das an einem Beispiel: Bei einer Fahrtstrecke von 20 Kilometern und einem Durchschnittsverbrauch von 10 Litern pro 100 Kilometer
({8})
beträgt der Mehraufwand bei einer Benzinpreiserhöhung
von 35 Pfennigen - das ist genau der Preisanstieg, den Sie
allein durch die Ökosteuererhöhungen verursachen 280 DM im Jahr. Nun betonen Sie, ab 10 Kilometern
werde die Pauschale für Autofahrer um 10 Pfennige erhöht. Das bringt bei einem Grenzsteuersatz von 35 Prozent nicht etwa eine Steuerersparnis von 280 DM - dies
entspräche den Mehrkosten -, sondern nur von ganzen
70 DM. Hier kann man nicht von Entlastung der Autofahrer sprechen, sondern das ist, wie ich vorhin sagte, ein
kleines Heftpflaster auf die große Wunde, die Sie den
Menschen zunächst einmal zugefügt haben.
({9})
Ich füge ein Zweites hinzu - Frau Müller hat es vorhin
selbst gesagt -: Der Großteil der Entlastungen in diesem
Paket landet eben nicht bei den Autofahrern, die durch die
Ökosteuer zusätzlich belastet sind, sondern bei denen, die
zum Beispiel die Bahn benutzen. Genau hier wird in einem wesentlich höheren Maße entlastet - letztlich subventioniert -, obwohl keine entsprechende Belastung vorhanden ist. Frau Müller hat gesagt, 75 Prozent des
gesamten Volumens lande bei den Bahnbenutzern und nur
25 Prozent bei den Autofahrern.
({10})
- Natürlich hat sie das gesagt, sie hat von drei Viertel und
ein Viertel gesprochen, das sind nach Adam Riese 75 bzw.
25 Prozent.
Angesichts dessen wird deutlich: Nicht der Personenkreis, von dem Sie ständig reden, wird entlastet; entlastet
wird vielmehr ein ganz anderer Personenkreis, der aber
durch die Belastungen nicht so stark in Anspruch genommen wird.
({11})
Ein Weiteres zu den konkreten Auswirkungen: Die Geringverdiener - Peter Rauen hat in seinem Beitrag das
Beispiel einer Verkäuferin gebracht -, diejenigen, die
steuerlich kaum etwas oder gar nichts geltend machen
können, aber doch auf das Auto angewiesen sind, werden
durch die Ökosteuer zwar belastet, aber durch keine Ihrer
Maßnahmen entlastet.
({12})
Ich will jetzt noch auf das eingehen, was in der Debatte
eben eine Rolle gespielt hat, nämlich auf den Vorschlag
seinerzeit in unserem Steuerkonzept, die Entfernungspauschale zu reduzieren. Ich finde, es ist schon fast ein bisschen unverschämt, dass dies immer wieder erwähnt wird,
ohne den Gesamtzusammenhang zu sehen.
({13})
Deshalb will ich die zwei Punkte, die für eine Gesamtbetrachtung wesentlich sind - wesentlich auch für die
Beurteilung dessen, was Sie im Unterschied dazu vorsehen -, herausstellen:
Erstens. Im Zusammenhang mit der Senkung der Pauschale war bei uns ein Steuersatz von 15 bis 35 Prozent
vorgesehen, und zwar nicht erst im Jahr 2005, sondern
schon wesentlich früher.
Zweitens. Wir hatten all dies ohne Mehreinnahmen
durch eine Ökosteuer geplant. Sie dagegen veranstalten
den ganzen Zirkus nur deshalb, weil Sie die Ökosteuer
eingeführt und erhöht haben.
({14})
Ansonsten würden Sie ja weder die Entfernungspauschale
einführen noch die Kilometersätze erhöhen. Den Zusammenhang mit der Ökosteuer können Sie nicht auflösen; er
ist vorhanden und der entscheidende Punkt.
Was Sie jetzt machen, ist eine massive Steuererhöhung
in fünf Schritten. Sie sind nicht bereit, trotz unserer ständigen Anträge und trotz der Argumentation von Fachleuten, wenigstens auf die weiteren Stufen der Ökosteuer
zu verzichten. Sie sehen nicht einmal eine vollständige
Entlastung der Pendler vor,
({15})
sondern belasten stattdessen einseitig die Geringverdiener
und bevorzugen letztlich diejenigen, die durch die Ökosteuer nicht so sehr belastet sind, nämlich die Bahnfahrer.
All dies macht deutlich: Sie betreiben eine riesengroße
Flickschusterei, weil Sie nicht in der Lage sind, Ihre ideologischen Scheuklappen endlich abzustreifen und etwas
Vernünftiges zu machen.
({16})
Wir haben unsere Bereitschaft zum Kompromiss heute
Nacht gezeigt. Wir haben sehr lange verhandelt, weil wir
der Meinung sind, wir sollten uns nicht verschließen,
wenn es irgendwo eine Möglichkeit gibt, zu Verbesserungen für die Betroffenen zu kommen. Aber nachdem Sie
keine Bereitschaft gezeigt haben, auf die berechtigten Finanzierungsprobleme der Länder einzugehen, nachdem Sie keine Bereitschaft gezeigt haben, die einseitige
Bevorzugung derjenigen, die durch die Ökosteuer nicht
belastet werden, zu beseitigen und auch nicht bereit waren, andere Probleme im Zusammenhang mit der Ökosteuer zu lösen, ist eine Zustimmung unsererseits nicht
möglich gewesen und wird auch heute nicht möglich sein.
({17})
Die richtige Entscheidung kann nur sein, das Übel an
der Wurzel zu packen und die Ökosteuer wieder abzuschaffen. Ich will in diesem Zusammenhang noch einmal
auf das hinweisen, was Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung geschrieben haben. Dort hieß es noch, Entscheidungen über die Ökosteuer seien immer im Lichte der Preisentwicklung auf dem Energiemarkt und der konjunkturellen Entwicklung zu sehen. Wenn Sie wenigstens das
ernst nehmen würden, was Sie selbst in Ihrer Koalitionsvereinbarung geschrieben haben, wären wir schon ein
Stück weiter. Sie müssten dann die Konsequenz ziehen
und wenigstens die weiteren Stufen der Ökosteuer aussetzen.
({18})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Mehl.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe einmal gehört, dass man einen Lerninhalt, den man vermitteln muss, etwa 40 Mal
wiederholen muss, damit er haften bleibt. Ich glaube, das
haben wir in den letzten Wochen gemacht. Aber bei Ihnen
bleibt nichts haften. Ich verstehe das nicht.
({0})
Vor allen Dingen sollten Sie einmal über Ihre eigene Argumentation nachdenken, die vorne und hinten nicht
stimmt.
Ich halte es für einen richtig guten Erfolg, dass es jetzt
eine Entfernungspauschale gibt. Das passt auch zum
Konzept der Ökosteuer.
({1})
Zum ersten Mal wird der öffentliche Personennahverkehr
mit begünstigt, und zwar nicht aus Gründen des Selbstzwecks, sondern aus Klimaschutzgründen. Wer Klimaschutz will, der darf nicht heiße Luft produzieren, so wie
Sie das tun, sondern muss Entscheidungen treffen. Wir haben sie getroffen, und zwar die richtigen.
({2})
Der Sachverständigenrat, Herr Solms, hat eine ganze
Reihe von Gutachten vorgelegt. Ich kann mich an viele
Debatten erinnern, die wir über diese Gutachten geführt
haben. Ich weiß inzwischen, dass man vorsichtig sein
muss, wenn man bestimmte Teile aus solchen Gutachten
zur Unterstützung der eigenen Argumentation heranzieht.
Aber zur Ökosteuer hat sich der Sachverständigenrat ganz
klar geäußert: Sie ist notwendig und richtig; man hätte
zwar auch einen anderen Ansatz wählen können; aber die
Einführung der Ökosteuer ist gut. Der Sachverständigenrat hat auch schon in früheren Gutachten einen Benzinpreis von 4,50 DM pro Liter empfohlen. Wenn Sie sich
diese Position zu Eigen machten, dann könnten Sie etwas
erleben. Ich empfehle Ihnen das nicht. Deswegen lassen
wir die Energiepreise in maßvollen, planbaren und überschaubaren Stufen ansteigen. Dies ist auch in weiten Teilen der Wirtschaft auf positive Resonanz gestoßen.
Frau Kollegin
Mehl, der Kollege Seifert und der Kollege Solms haben
den Wunsch, Zwischenfragen zu stellen.
Ich lasse jetzt keine zu, sorry.
Es wird immer behauptet, dass die Ökosteuer schuld an
den vergleichsweise hohen Benzinpreisen in Deutschland
sei. Das ist nicht wahr. Die Ökosteuer hat an den Benzinpreiserhöhungen, die es jetzt gegeben hat, nur einen verschwindend geringen Anteil.
({0})
Entscheidend war, dass der Erdölpreis weltweit gestiegen
ist und dass der Dollarkurs eine entsprechende Wirkung
hatte. Darauf und nicht auf die Ökosteuer haben wir mit
der Einführung der Entfernungspauschale reagiert. Die
Ökosteuer wird komplett zurückgegeben, nicht aber die
Kosten des Benzinpreisanstiegs.
Sie haben in den Debatten über die Ökosteuer immer
behauptet, Deutschland mache mit der Einführung einer
solchen Steuer einen Alleingang. Dem ist nicht so. Eine
ganze Reihe anderer europäischer Staaten hat längst die
Ökosteuer eingeführt, allen voran Dänemark. In einer Studie der Forschungsstelle der Universität Berlin - man
kann zwar nicht alles miteinander vergleichen; Dänemark
ist anders strukturiert als Deutschland und hat eine andere
Form der Ökosteuer gewählt; aber vom Prinzip her ist es
ähnlich - wurde Dänemark bescheinigt, dass es mit seiner
Klimaschutzpolitik beispielgebend ist, insbesondere wegen seiner Konstruktion der Ökosteuer.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich - ich möchte das
noch einmal sagen, obwohl wir schon viele Male darauf
hingewiesen haben - klar machen, wie Sie argumentieren.
Die CDU hat in ihrem Zukunftsprogramm 1998 Folgendes formuliert:
Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade das
teuer, was wir am dringendsten brauchen: Arbeitsplätze. Dagegen ist das, woran wir sparen müssen,
eher zu billig zu haben: Energie und Rohstoffeinsatz.
Dieses Ungleichgewicht müssen wir wieder stärker
ins Lot bringen, wenn wir unseren beiden Hauptzielen, mehr Beschäftigung und weniger Umweltbelastung, näher kommen wollen.
Dem kann man nur zustimmen.
({1})
Die ehemalige Bundesumweltministerin Angela Merkel
hat 1995 gesagt:
Als Umweltministerin halte ich es für erforderlich,
die Energiepreise schrittweise anzuheben und so ein
deutliches Signal zum Energiesparen zu geben.
Ich frage mich, wie Ihre Sinneswandlung zustande gekommen ist; denn an den Fakten selbst hat sich nichts
geändert, sieht man einmal davon ab, dass Sie auf den Oppositionsbänken sitzen.
({2})
- Ich habe noch mehr Zitate.
Zum Schluss möchte ich noch auf etwas anderes zu
sprechen kommen. Es gibt eine von Ihnen eingerichtete
Internetseite, deren Adresse „www.weg-mit-der-oekosteuer.de“ lautet. Auf dieser Seite kann man sich, indem
man die entsprechenden Zahlen eingibt, ausrechnen, wie
hoch die Steuerbelastung am Ende ist. Bei einem Benzinpreis von 2,07 DM, 15 000 gefahrenen Kilometern und
einem Verbrauch von 6,7 Liter auf 100 Kilometern kommt
man auf folgendes Ergebnis: 1 289,38 DM Ökosteuer, Mineralölsteuer und Mehrwertsteuer. Sie verschweigen dabei, dass mindestens 50 Pfennig der Mineralölsteuer entstanden sind, als Sie noch an der Regierung waren.
({3})
Das wird natürlich schön verheimlicht.
Im Übrigen kann man auf dieser Internetseite noch
nicht einmal den eigentlichen Ökosteueranteil dieses Betrags ausrechnen. Legt man eine Erhöhung der Ökosteuer
um drei mal 6 Pfennig zugrunde, dann beträgt die Belastung durch die Ökosteuer 180 DM im Jahr; pro Tag sind
das 50 Pfennig. Dennoch sprechen Sie von Abzockerei
und vom Untergang der Republik. Das nenne ich Heuchelei.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Seifert das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hätte die Kollegin Mehl eine Zwischenfrage zugelassen, dann hätten wir diesen Tagesordnungspunkt schneller abschließen können. Das sage ich
auch an die Adresse derjenigen, die soeben ein bisschen
herumgenölt haben.
Ich möchte darauf hinweisen, dass der von Ihnen soeben beschriebene große Erfolg nur für einen Teil der Bevölkerung zutrifft. Bestimmte Teile der Bevölkerung,
zum Beispiel Behinderte, die auf ihr Auto angewiesen
sind, haben von der Entfernungspauschale nichts, da ihr
ausschließlich berufliche Zwecke zugrunde gelegt werden.
({0})
Es gibt aber Personen, die müssen das Auto benutzen,
wenn sie einmal ins Theater, zum Arzt oder woandershin
wollen bzw. wenn sie einfach nur am Leben teilhaben
möchten.
Es ist in Ihrer Regierungszeit nicht das erste, nicht das
zweite und nicht das fünfte Mal, dass Menschen mit Behinderungen von bestimmten sozialen Maßnahmen ausgeschlossen werden. Das muss zumindest gesagt werden
dürfen. Beim nächsten Mal sollte man berücksichtigen,
dass es so nicht weitergehen kann.
Danke schön.
({1})
Herr Kollege, Sie haben Recht,
wenn Sie sagen, dass man natürlich auch solche Dinge
berücksichtigen soll. Ich sage dazu nur einen Satz: Man
darf das eine gegen das andere nicht ausspielen; vielmehr
muss man schauen, an welcher Stelle ein solches Anliegen zu regeln ist.
({0})
Ich schließe die
Aussprache.
Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Einführung einer
Entfernungspauschale
- Drucksachen 14/4242, 14/4435, 14/4631,
14/4899, 14/4942 Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Poß
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das
ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Auch das ist nicht der Fall.
Wir kommen also zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über
die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/4942? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen
der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen.
({1})
Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Fünften Gesetz zur Änderung
des Strafvollzugsgesetzes
- Drucksachen 14/3763, 14/4452, 14/4622,
14/4943 Berichterstattung:
Abgeordneter Ludwig Stiegler
Der Berichterstatter, Ludwig Stiegler, wünscht kurz
das Wort zur Berichterstattung.
({3})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen jetzt einen
Moment aufpassen, weil es um eine Korrektur geht. Das
müssen Sie schon zur Kenntnis nehmen.
Bitte schön, Herr Stiegler.
Frau Präsidentin! Meine Da-
men und Herren! Dem Sekretariat ist in langer Nachtar-
beit ein kleiner Fehler unterlaufen. In der Drucksa-
che 14/4943 habe ich zwei Änderungen anzubringen.
In Art. 1 Nr. 8 ist in § 47 Abs. 1 des Strafvollzugsgeset-
zes der zweite Satz zu streichen. Dieser Satz ist überflüs-
sig, weil bei Untersuchungsgefangenen keine Aufteilung
zwischen Hausgeld, Eigengeld und Überbrückungsgeld
stattfindet.
Außerdem müssen in Art. 1 Nr. 9 in § 200 die Wörter
„Die Bemessungen“ durch die Wörter „Der Bemessung“
ersetzt werden.
Ich bitte Sie, über die Beschlussempfehlung nach Maß-
gabe dieser Korrekturen abzustimmen.
Vielen Dank.
Ich danke
auch. - Wird noch das Wort zur Erklärung gewünscht? -
Das ist nicht der Fall. Dann können wir jetzt abstimmen.
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass über
die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt
für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschus-
ses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bis
auf die F.D.P., die sich enthalten hat, angenommen wor-
den.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes
Singhammer, Karl-Josef Laumann, Mario Eichhorn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Die Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die sozialen Sicherungssysteme
öffentlich machen
- Drucksache 14/4645 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung
b) Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche
Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der
Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß 154 SGB VI
({1})
und
Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2000
- Drucksache 14/4730 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Ernst Burgbacher,
Hildebrecht Braun ({4}), weitere Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Jährliche Vorlage einer Generationenbilanz
und Aufnahme der Daten in die Haushaltsstatistik des Bundes
- Drucksachen 14/1758, 14/4910 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Lotz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Es gibt
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Erika Lotz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die CDU legt heute einen Antrag
vor, in dem es sinngemäß heißt, dass die Reformen der
sozialen Sicherungssysteme, also auch der Rentenversicherung, nur mit einer zukunftsgerichteten Familienpolitik sinnvoll sind. Da kann ich Ihnen nur voll zustimmen - zum einen aus meiner innersten Überzeugung heraus, zum anderen aber vor allem deshalb, weil das genau
unsere Politik ist.
Wenn Sie auf die vergangenen beiden Jahre zurückblicken, in denen wir regieren, dann werden Sie sicher
feststellen, dass wir gerade in der Familienpolitik viel getan haben, um die finanzielle Situation der Familien zu
verbessern.
In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass viele der Maßnahmen überfällig
waren, weil CDU/CSU-F.D.P.-Regierungen in dieser Hinsicht jahrelang untätig waren.
({0})
Das kann ich Ihnen gern an einigen Beispielen erläutern.
Familienpolitik kann ja nicht losgelöst von den allgemeinen politischen Rahmenbedingungen gestaltet werden. Gerade die Zukunft unserer Kinder setzt konsolidierte Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen
voraus. Bei Regierungsantritt haben wir eine Situation
vorgefunden, in der fast jede vierte Steuermark für Zinsen
an die Banken ausgegeben werden musste und nicht für
Bürgerinnen und Bürger sowie für Familien ausgegeben
werden konnte. Eine solche Situation ist nicht tragbar und
in hohem Maße zukunftsgefährdend. Deshalb haben wir
als Erstes ein Zukunftsprogramm aufgelegt - wie wir inzwischen feststellen können, mit gutem Erfolg. Dies war
die Voraussetzung, um die Handlungsfähigkeit der Regierung wieder herzustellen.
Ich muss auch an das Familienurteil erinnern - das
kann ich Ihnen nicht ersparen -: Die Beschlüsse des
Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998
sind gefasst worden, weil es bei der Familienförderung
eklatante Versäumnisse gab, Versäumnisse von Ihnen und
nicht von Rot-Grün.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat damals unter anderem
entschieden, dass in den Jahren 1985, 1987 und 1988
Kindergeld und Kinderfreibeträge nicht in allen Fällen
ausreichten, ein Mindestmaß an Sachbedarf von Kindern
steuerfrei zu stellen. Wer hat denn in diesen Jahren regiert?
Infolge der verfehlten Familienpolitik der CDU beschäftigen sich jetzt die Finanzämter mit offenen Altfällen.
Alle noch nicht bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen der zwischen 1983 und 1995 liegenden Jahre
müssen überprüft werden. Sofern entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ein Nachbesserungsbedarf besteht, kann mit einer Steuererstattung gerechnet
werden. Das erfolgt zurzeit.
Auch möchte ich noch daran erinnern, dass wirkliche
familienpolitische Maßnahmen, wie beispielsweise die
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Erhöhung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes
im Jahre 1996, nur auf Drängen der SPD in Kraft traten.
Bereits ein Jahr später, als die zweite Anhebung in Kraft
treten sollte, bekam die Union kalte Füße und wollte die
ein Jahr zuvor geplante weitere Erhöhung zur Förderung
der Familien um ein Jahr verschieben. Allein dem damals
drohenden Widerstand der SPD im Bundesrat gegen dieses Ansinnen war es zu verdanken, dass dieses Vorhaben
noch vor der Beratung im Bundesrat zurückgezogen
wurde. Auch in dem Petersberger Steuerkonzept von
1998/1999 war weder eine Erhöhung des Kindergeldes
noch des -freibetrages vorgesehen. Mittelfristig war dies
schon aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar.
Die Quittung hat uns das Bundesverfassungsgericht
prompt präsentiert. Wir mussten darauf natürlich reagieren
und wir haben darauf reagiert. Aber wir haben - das
möchte ich ausdrücklich betonen - nicht nur die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt, sondern
wir sind auf der Grundlage unseres Verständnisses von einer sozial gerechten Familienpolitik entsprechend weit
über die Vorgaben hinausgegangen. Das Familienurteil
zielte lediglich auf die Herstellung der horizontalen Steuergerechtigkeit ab. Das führte jedoch dazu, dass Familien
mit hohem Einkommen erhebliche Verbesserungen ihrer
Einkommenssituation erfuhren, bei Familien mit geringerem Einkommen aber keine oder nur geringfügige Verbesserungen spürbar wurden.
Da unser Ziel die bedarfsgerechte Förderung der Familien war, haben wir nicht nur die Kinderfreibeträge,
sondern auch das Kindergeld erhöht, um zu einer möglichst gleichmäßigen Verbesserung der Einkommenssituation der Familien zu kommen. Im Rahmen des Gesetzes zur Familienförderung hat die Bundesregierung in der
ersten Stufe ab 2000 zusätzlich zum Kinderfreibetrag in
Höhe von gegenwärtig 6 912 DM einen einheitlichen
Freibetrag für Kinderbetreuung in Höhe von 3 024 DM
für alle Kinder bis zu 16 Jahren eingeführt. Nachdem das
Kindergeld bereits zum 1. Januar 1999 von 220 DM auf
250 DM erhöht wurde, ist es zum Jahresbeginn 2000 noch
einmal um weitere 20 DM auf 270 DM im Monat erhöht
worden.
Die ab 1. Januar 2000 verbesserte Familienförderung
erreicht auch Familien, die Sozialhilfe beziehen. Das war
bisher nicht der Fall. Bislang bewirkten Kindergeldzahlungen bei Sozialhilfeempfängern eine entsprechend verminderte Sozialhilfe. Das erhöhte Kindergeld kommt damit den einkommensschwachen Familien in voller Höhe
zugute.
Das zweistufig angelegte Paket zur Familienförderung
wird die jahrzehntelange, von der früheren Koalition zu
verantwortende verfassungswidrige Benachteiligung von
Familien mit Kindern im Steuerrecht beenden. Bereits mit
dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 hat die
Bundesregierung deutlich gemacht, dass sie in der Entlastung von Familien insbesondere mit geringen oder mittleren Einkommen einen wichtigen steuerpolitischen
Schwerpunkt sieht. Diese Politik wird nun konsequent
fortgeführt.
({2})
Einher geht damit ein Beitrag zur Steuervereinfachung, weil mehrere bisher gesonderte steuerliche Regelungen zur Berücksichtigung kindbedingter Aufwendungen in den neuen Tatbeständen aufgehen und damit
entbehrlich werden. Insgesamt führt die jetzt geltende
erste Stufe der Neuregelung einschließlich der Erhöhung
des Kindergeldes für erste und zweite Kinder von monatlich 250 DM auf 270 DM im Entstehungsjahr zu Mindereinnahmen von rund 5,5 Milliarden DM. Im Umkehrschluss will ich damit betonen, dass 5,5 Milliarden DM an
zusätzlicher Förderung für die Familien jetzt bereitstehen.
({3})
Im Jahr 2001 wird die Bundesregierung entscheiden,
wie ab dem Jahr 2002 auch die steuerliche Berücksichtigung des Erziehungsbedarfs neu zu regeln ist. Diese
Entscheidung wird im Einklang mit den dann gegebenen
familien- und finanzpolitischen Rahmenbedingungen getroffen.
Die Maßnahme soll mit einer Reform der Ausbildungsförderung verzahnt werden. In dem in der letzten
Woche vom Bundestag verabschiedeten Haushalt für das
kommende Jahr stehen für die BAföG-Reform rund
400 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung. Wir werden
mit dieser Strukturreform erreichen, dass circa 80 000 Jugendliche BAföG-berechtigt sind. Auch diese Maßnahme
entlastet die Familien und ermöglicht auch Kindern von
Eltern mit geringem Einkommen, ein Studium zu absolvieren.
Wir haben aber nicht nur mit finanziellen Mitteln versucht, die Lage der Familien zu verbessern, sondern haben bei der Gesetzesnovelle zum Erziehungsgeld vor allem Wert darauf gelegt, dass Eltern bei der Gestaltung der
Aufgabenverteilung in der Familie mehr Wahlfreiheit erhalten. Beide Eltern können jetzt gleichzeitig Erziehungsurlaub - Elternzeit - in Anspruch nehmen und
während des Erziehungsurlaubs bis zu 30 Stunden in der
Woche einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Vätern wird
durch den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit erstmals
eine realistische Chance eröffnet, sich an den Erziehungsaufgaben zu beteiligen.
({4})
Gleichzeitig erhalten Frauen damit bessere Möglichkeiten, durch eine Teilzeitbeschäftigung den Kontakt zum
Beruf aufrechtzuerhalten. Das ist zukunftsfähige Familienpolitik.
({5})
Insgesamt können wir schon jetzt eine Bilanz vorweisen, die sich sehen lassen kann. Wir wollen aber natürlich
nicht auf der Stelle stehen bleiben. Wenn Sie den Entwurf
des Altersvermögensgesetzes aufmerksam gelesen haben,
dann ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass dort viele Elemente enthalten sind, die die Situation der Familien weiter verbessern und Paare ermutigen sollen, sich für Kinder zu entscheiden.
Nicht unwesentlich ist für Frauen bei der Entscheidung
für Kinder die Tatsache, dass durch Kindererziehung
Lücken im Erwerbsleben entstehen bzw. durch Teilzeitbeschäftigung unterdurchschnittliche Löhne in diesen
Zeiten zu niedrigen Renten führen. Deshalb wollen wir
kindbezogene Lücken durch Höherbewertung der entsprechenden Versicherungszeiten schließen. Niedrige
Entgelte in den so genannten Kinderberücksichtigungszeiten werden nach den Grundsätzen der Rente nach Mindesteinkommen aufgewertet. Dabei werden die individuellen Entgeltpunkte um bis zu 50 Prozent auf maximal
100 Prozent des Durchschnittseinkommens erhöht. Diese
Regelung kommt auch Alleinerziehenden zugute, die von
den bisherigen Regelungen der Rente nach Mindesteinkommen vielfach nicht begünstigt wurden, weil sie gezwungen waren, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen.
Für die Frauen, die wegen gleichzeitiger Erziehung
von zwei oder mehr Kindern nicht erwerbstätig sein können, werden zusätzlich zu den Kindererziehungszeiten
- dies sind drei Jahre je Kind - die verbleibenden Jahre
der Kinderberücksichtigungszeit mit 33 Prozent des
Durchschnittseinkommens bewertet.
Auch der Rentenversicherungsbericht 2000 ist Gegenstand der Tagesordnung.
({6})
Ich möchte auch dazu noch ein paar Worte sagen: Der
Rentenversicherungsbericht legt noch einmal detailliert
die Notwendigkeit unserer angestrebten Rentenreform
dar. Die Berechnungen über die künftige Entwicklung
aller relevanten Daten geben uns Recht. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Sozialbeirat in seinem Gutachten.
Er stellt fest, dass das von der Bundesregierung angestrebte Beitragsniveau von etwa 22 Prozent im Jahre 2030
erreicht werden kann. Dies ist ein Ziel, das uns im Interesse der Arbeitnehmer sowie möglichst geringer Lohnnebenkosten besonders am Herzen liegt. Denn hohe
Lohnnebenkosten - das wissen Sie - wirken sich negativ
auf die Konkurrenzfähigkeit unserer Produkte aus. Darunter leiden auch die Arbeitnehmer, weil dies zum Abbau
von Arbeitsplätzen führt. Ich bin stolz darauf, dass es uns
gelungen ist, schon zweimal den Rentenversicherungsbeitrag zu senken. Eine dritte Absenkung steht vor der
Tür. Das erleben die Menschen seit 16 Jahren zum ersten
Mal.
({7})
Weiterhin stellt der Sozialbeirat fest, dass die aktuellen
Rentenwerte - dies sind bessere Indikatoren für das Leistungsniveau als das Rentenniveau - in den kommenden
vier Jahren um 8,5 Prozent steigen werden: um 8,2 Prozent in den neuen Ländern, um 9,8 Prozent in den alten
Ländern. Das hängt damit zusammen, dass im Vergleich
zu früheren Prognosen die Beschäftigungsentwicklung
der Zukunft wesentlich günstiger eingeschätzt wird. Dies
ist sicher nicht zuletzt auf die positive Steuerpolitik der
Regierung und auf die Begrenzung der Lohnnebenkosten
zurückzuführen, die erst mit diesem Rentenkonzept möglich wird.
Darüber hinaus bewertet der Sozialbeirat das vorgesehene Rentenanpassungsverfahren positiv, da diskretionäre Eingriffe zur Eliminierung unerwünschter Effekte
von vornherein vermieden werden und dem Gesetzgeber
insbesondere durch die Entkopplung von steuerpolitischen Entscheidungen einerseits und Entscheidungen zur
Gestaltung der Leistungen der Rentenversicherung andererseits größere Handlungsfreiheit in den verschiedenen
Bereichen verschafft und gleichzeitig die Zielgenauigkeit
der Maßnahmen erhöht wird.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Der vorgelegte
Rentenversicherungsbericht bestätigt, dass mit der im November dieses Jahres verabschiedeten Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und mit dem Altersvermögensgesetz die Grundlage für eine zukunftsfähige Altersversicherung gelegt wurde, eine Altersversicherung, die den demographischen und gesellschaftlichen
Veränderungen entspricht.
Nun noch ein paar Worte zu dem Antrag der F.D.P.,
jährlich eine Generationenbilanz vorzulegen. Natürlich
möchten alle wissen, wie die Zukunft aussieht, welche
Belastungen den kommenden Generationen entstehen.
Aber, diese Bilanz muss seriös sein. Mit den Modellen,
die jetzt vorliegen, ist dies nicht möglich. Der Manipulation können Tür und Tor geöffnet werden.
Kritisch ist schon die Wahl des Basisjahres. Dabei
muss berücksichtigt werden, wie gut oder wie schlecht die
Konjunktur ist. Trotz dieser Unsicherheiten werden Berechnungen hinsichtlich der zukünftigen Situation angestellt. Man muss daher sagen, dass es einfach zu viele
Möglichkeiten der Manipulation gibt.
({8})
Ich schließe nicht aus, dass dieses Instrument weiterentwickelt werden kann. Zurzeit ist dies aber nicht der
Fall. Deswegen ist der Vorschlag, der im Haushaltsausschuss gemacht und der im Ausschuss für Arbeit und
Sozialordnung beraten wurde, richtig, nämlich den Wissenschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums
zu bitten,
({9})
die Anwendbarkeit des Konzeptes im Hinblick auf die
Haushaltsbilanz zu prüfen.
Wir sorgen dafür, dass weder die heutigen noch die
zukünftigen Beitragszahler überfordert werden. Gleichzeitig sorgen wir dafür, dass das Leistungsniveau einen
angemessenen Standard behält.
({10})
Wir geben mit unserer Reform insbesondere den jüngeren
Generationen eine Perspektive für die Alterssicherung.
({11})
Die Opposition ist nach wie vor eingeladen, daran mitzuwirken.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Andreas Storm.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Der demographische Wandel
stellt in der Tat eine große Herausforderung für unsere gesamte Gesellschaft dar. Kein Geringerer als unser Kollege
und frühere Bundestagsvizepräsident, Hans-Ulrich Klose,
hat ihn sogar als eine „Revolution auf leisen Sohlen“ bezeichnet.
Die nackten Tatsachen sind, dass heute etwa drei Erwerbstätige auf einen Rentner kommen. In 30 Jahren werden auf drei Erwerbstätige zwei Rentner kommen. Das
heißt, wir müssen in den nächsten drei Jahrzehnten mit einer Verdoppelung des Anteils älterer Menschen, bezogen
auf die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, rechnen. Hinter diesen statistischen Zahlen verbirgt sich eine
Veränderung unserer Gesellschaft, die ihresgleichen
sucht. Nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, aber
eben auch diese, werden vor dramatischen Herausforderungen stehen.
Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben schon seit einigen Jahren die Konsequenzen untersucht. Das Deutsche
Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin kam in diesem
Sommer zu dem Ergebnis, dass ohne weitere Reformen
der Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung bis zum Jahr 2030 von heute 13,6 Prozent über die
20-Prozent-Marke steigen würde. Bis zum Jahr 2040
würde er sogar auf über 23 Prozent steigen. Für die Pflegeversicherung wird bis zum Jahr 2030 eine Verdoppelung des Beitragssatzes erwartet.
Welche Konsequenzen zieht die Koalition aus diesen
Prognosen? Diese Frage ist gerade in Bezug auf das
Thema Rentenreform sehr spannend; denn steigende
Beiträge in der Kranken- und der Pflegeversicherung haben gravierende Auswirkungen auf die Rentenfinanzen.
Die Rentenkassen haben nämlich die Hälfte des Anstiegs
der Beitragsbelastung zu tragen; die andere Hälfte schmälert das Alterseinkommen der Rentner.
Wenn man sich nun anschaut, mit welchen Annahmen
Sie bei der Vorlage Ihrer Rentenreform gerechnet haben,
stellt man fest, dass Sie davon ausgehen, dass bis zum Jahr
2029, also fast drei Jahrzehnte lang, der Krankenversicherungsbeitrag unverändert auf dem heutigen Niveau
bleibt. Das ist aber eine Annahme, die möglicherweise
schon nächstes Jahr zu Ostern überholt ist.
Die Wissenschaftler sagen uns - ich wiederhole dies -:
Ohne Reformen steigt der Krankenversicherungsbeitrag
über die 20-Prozent-Marke. Sie unterstellen aber, er
bliebe konstant bei 13,6 Prozent. Allein der Anstieg des
Krankenversicherungsbeitrags hätte zur Folge, dass der
Beitragssatz für die Rentenversicherung um weit über einen halben Prozentpunkt höher liegen würde, als dies
nach Ihren Berechnungen der Fall wäre.
({0})
Die Sachverständigen, die ihr Jahresgutachten Mitte
November abgegeben haben, haben außerdem kritisiert,
dass bei der Annahme in Bezug auf den Anstieg der Lebenserwartung mit viel zu günstigen Prognosen gerechnet worden ist. Im Jahresgutachten des Sachverständigenrates wurde darauf hingewiesen, dass der gegenüber den
bisherigen Annahmen in den nächsten drei Jahrzehnten zu
erwartende um ein Jahr höhere Anstieg der Lebenserwartung, wie ihn führende Bevölkerungsforscher in Deutschland annehmen, auch einen nachhaltigen Einfluss auf den
Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung hat,
({1})
nämlich einen Anstieg um weitere 0,4 Prozent.
Diese beiden Beispiele zeigen zunächst einmal, dass
bisher mit Annahmen, die massiv schönrechnen, operiert
worden ist
({2})
und dass die Zielsetzung, lieber Kollege Dreßen, den Beitragsatz in der gesetzlichen Rentenversicherung bei
22 Prozent zu stabilisieren, nicht zu erreichen ist.
({3})
Diese Beispiele zeigen aber ein Zweites, nämlich dass
alle sozialen Sicherungssysteme massiv vom demographischen Wandel betroffen sein werden, dass es erhebliche Rückwirkungen auf die einzelnen sozialen Sicherungssysteme geben wird. Aus diesem Grunde ist es
höchste Zeit, der Öffentlichkeit diese Dramatik bewusst
zu machen. Es ist unumgänglich, unverzüglich ausreichende Reformmaßnahmen durchzuführen, für die die
Regierung Vorschläge vorlegen muss.
({4})
Genau darauf zielt unser Antrag ab.
({5})
Die Bundesregierung hätte eigentlich schon längst Berechnungen und einen umfangreichen Bericht vorlegen
müssen, welche Auswirkungen der demographische Wandel auf die sozialen Sicherungssysteme hat.
({6})
Deshalb fordern wir von Ihnen, dass Sie spätestens im
kommenden Jahr - früher geht es natürlich nicht; denn das
Jahr ist zu Ende - einen Bericht über die Auswirkungen
des demographischen Wandels auf die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sowie die anderen öffentlichen Alterssicherungssysteme vorlegen.
Dann müssen Konsequenzen daraus gezogen werden.
Dabei muss es darum gehen, die durch die Veränderung
der Alterspyramide entstehenden Belastungen gerecht
zwischen den Generationen zu verteilen. Hierzu sind Sie
nicht in der Lage.
({7})
Herzstück Ihrer Rentenreform ist ein so genannter Ausgleichsfaktor,
({8})
der in Wirklichkeit nichts anderes als ein willkürlicher
Kürzungsfaktor ist, durch den einseitig die jüngere Generation belastet wird.
({9})
Ich darf Ihnen kurz das Fazit vortragen, das der Sachverständigenrat zu Ihrem Ausgleichsfaktor zieht:
Unstrittig ist dennoch, dass die Vermittelbarkeit und
damit die Akzeptanz der Reform unter den asymmetrischen Verteilungswirkungen des Ausgleichsfaktors leidet, zumal es für diesen Faktor, anders als für
einen demographischen Faktor, keine systematischanalytische Begründung gibt, sondern nur eine fiskalische.
Soweit der Sachverständigenrat.
({10})
Ein vernichtenderes Urteil über eine Rentenreform als
das, dass Ihnen jede systematische und analytische
Grundlage für die von Ihnen vorgeschlagene Rentenformel fehlt, hat bisher kaum ein Expertengremium gefällt.
({11})
Deshalb rufe ich Sie an dieser Stelle noch einmal auf:
Lassen Sie die Finger von dieser willkürlichen Kürzung
der Renten für die junge Generation!
({12})
- Kollege Dreßen, wie Sie eben gehört haben, ist die Einführung eines Demographiefaktors nach Einschätzung
der Sachverständigen ein Vorschlag, der systematisch und
analytisch begründet und eben nicht willkürlich ist. Durch
ihn werden die Lasten zwischen den Generationen gerecht verteilt.
({13})
Aber es gibt ja noch einen weiteren Vorschlag, nämlich
den der Rentenversicherungsträger. Dieser Vorschlag
wäre eine Lösung. Er würde alle Nachteile Ihrer Rentenformel ausschließen und zu einer gerechten Lastenverteilung zwischen den Generationen führen. Er würde
dazu führen, dass das Rentenniveau auch noch nach drei
Jahrzehnten für alle akzeptable ist.
Laufen Sie nicht wie mit Scheuklappen durch die Gegend! Geben Sie sich endlich einen Ruck und machen Sie
den Weg frei für eine Rentenreform, die auch auf lange
Sicht Bestand haben kann!
({14})
Ihre bisherigen Vorschläge sind nicht geeignet, das
Vertrauen der älteren Generation, aber auch der jüngeren
Generation in die Handlungsfähigkeit der Sozialpolitik
wieder herzustellen. Es ist wirklich Zeit für einen Neubeginn - nicht nur in der Rentenpolitik, sondern in der gesamten Sozialpolitik.
({15})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Thea Dückert.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen
heute ein paar Tage vor dem Einstieg in eine sehr anstrengende, differenzierte, tief gehende Debatte um eine
notwendige grundsätzliche Rentenreform.
({0})
Wir befinden uns an der Schwelle einer sehr großen Reform und werden am Montag mit den Anhörungen dazu
beginnen. Deswegen ist es gut, bereits heute den Rentenbericht und insbesondere die Anmerkungen des Sozialbeirates dazu sowie die Würdigung durch den Sachverständigenrat zu diskutieren, Herr Storm.
({1})
Denn sowohl der Rentenbericht als auch der Sachverständigenrat, der sich mit vielen Punkten der Reform auseinander setzt, und der Sozialbeirat kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine große Rentenreform
absolut notwendig ist, unter anderem wegen der veränderten demographischen Entwicklung, des veränderten
Altersaufbaus in der Bundesrepublik Deutschland. Sie
kommen ebenso übereinstimmend zu der Einschätzung,
dass die Konsequenzen, die wir daraus ziehen, nämlich
die private und die betriebliche Vorsorge als zusätzliche
Säulen neben die gesetzliche Rentenversicherung zu stellen,
({2})
der richtige Schritt sind, um ein zukunftssicherndes Rentensystem aufzubauen, das auch für die jungen Generationen eine sichere Altersversorgung schaffen wird.
Genau dies ist der Unterschied zu dem, was wir hier
vorgefunden haben. Wir haben in der Tat den Versuch einer Rentenreform vorgefunden. Aber die blümsche Reform hat an dieser Stelle versagt,
({3})
da sie sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht
hat, wie den Schwierigkeiten in der gesetzlichen Altersvorsorge durch zusätzliche Konzepte, durch eine zusätzliche Stütze in Form der privaten Altersvorsorge entgegengetreten werden kann.
Der Sachverständigenrat bestätigt uns, dass wir hier
große Schritte in die richtige Richtung machen, dass wir
mit dieser Rentenreform sozusagen einen doppelten Paradigmenwechsel eingeleitet haben, den der Sachverständigenrat positiv bewertet. Da muss ich schon sagen, Herr
Storm: Sie haben den Bericht des Sachverständigenrates
offenbar mit einer völlig falschen Brille gelesen.
({4})
- Wirklich, Herr Storm, im Ernst! Der Sachverständigenrat ist ja nun wirklich kein Gremium, das man in irgendeiner Weise grüner oder roter Positionen verdächtigen
könnte. Neben den Einschätzungen des Sozialbeirates bewertet gerade dieser Bericht die Eckpfeiler der Rentenreform, über die wir ab der nächsten Woche, auch in den Anhörungen, diskutieren werden, in hohem Maße positiv.
Es wird ausdrücklich gelobt, dass die private Vorsorge,
und zwar in der von uns vorgesehenen Struktur, aufgebaut
wird. Es wird ausdrücklich auch die Kinderkomponente
bei dieser privaten Vorsorge gelobt.
({5})
Darüber hinaus wird vom Sozialbeirat - selbstverständlich, weil er sie selber vorgeschlagen hat -, aber ebenso
vom Sachverständigenrat die modifizierte Nettolohnanpassung gelobt.
Der Rentenbericht und diese beiden Gutachten zeigen
deutlich, dass wir ohne die Ökosteuer und ohne die modifizierte Nettolohnanpassung in der Zukunft eine Beitragsentwicklung haben würden, die volkswirtschaftlich und
unter den Aspekten der Generationengerechtigkeit nicht
hinzunehmen sein würde. Beide Gremien und der Rentenbericht machen absolut deutlich, dass sowohl die Ökosteuer wie auch die modifizierte Nettolohnanpassung
wichtige Elemente sind, um für die Zukunft eine vernünftige Rentenentwicklung zu sichern. Sie zeigen uns, dass
es auf diese Weise mit großer Wahrscheinlichkeit gelingt,
die 22-Prozent-Marke bei den Beiträgen bis 2030 nicht zu
überschreiten. Ebenso zeigen sie uns, dass die Beiträge in
den nächsten 20 Jahren mit Sicherheit unter 20 Prozent
bleiben werden, große Strecken sogar unter 19 Prozent.
Man sollte die Beiträge als einen wichtigen Faktor zur
Herstellung eines gerechten Ausgleiches zwischen den
Generationen betrachten. Insofern haben wir noch einmal
gutachterlich bescheinigt bekommen, dass wir bei der
Rentenreform auf dem richtigen Weg sind.
Meine Damen und Herren, auch die anderen Aspekte
der Rentenreform wie beispielsweise die Hinterbliebenenversorgung oder auch die
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Storm?
- Ja, wenn ich meinen Satz zu Ende gebracht habe; dann
gerne, Herr Storm. - Unterstützung von Frauen, die allein
erziehend sind, sind wesentlich und zukunftsweisend.
Herr Storm, bitte schön.
Frau Kollegin Dückert,
Sie haben gesagt, Sie fühlen sich in Ihrer Auffassung bestätigt, dass die 22-Prozent-Marke erreicht werde. Haben
Sie zur Kenntnis genommen, dass die Sachverständigen
- wie ich schon ausgeführt habe - in ihrem Gutachten
diese Berechnungen infrage gestellt haben und zu dem Ergebnis gekommen sind, dass durch Anpassungsformel,
Ausgleichsfaktor usw. diese Beitragsentwicklung wohl
nicht erreicht werden könne und dass deshalb die Verpflichtung bestehe, zu anderen geeigneten Maßnahmen zu
greifen, dass also aus Sicht des Sachverständigenrates die
Reform - unabhängig von der Bewertung der Einzelmaßnahmen - nicht ausreicht, um das Beitragsziel zu erreichen?
Herr Storm, ich weiß ja, dass Sie nächtens sehr gerne
rechnen.
({0})
Deshalb ist Ihnen bestimmt nicht entgangen, dass den Berechnungen neun verschiedene Modelle sowie drei unterschiedliche Entwicklungspfade bezüglich Beschäftigungs- und Beitragssatzentwicklung zugrunde gelegt sind
und dass bei verschiedenen Kombinationen in der Tat unterschiedliche Ergebnisse herauskommen. Alle Wissenschaftler, auch der Sachverständigenrat und der Sozialbeirat, sagen, dass man das nicht über einen Zeitraum von
15 Jahren - auf den der Bericht angelegt ist - und schon
gar nicht über einen Zeitraum von 30 Jahren hundertprozentig berechnen kann. Diese Bundesregierung ist aber
- auch das sagen Sachverständigenrat und Sozialbeirat bereit - und das ist bislang einmalig; Sie haben das zum
Beispiel nicht gemacht -, in diesen Gesetzentwurf zur
Rentenreform die Selbstverpflichtung aufzunehmen, die
22-Prozent-Marke mit gesetzlichen Maßnahmen zu sichern, wenn sie anders nicht gehalten werden kann. Abseits von allen Modellrechnungen, an denen man sich erfreuen kann oder auch nicht, haben wir die Verantwortung
dafür übernommen, dass diese Marke eingehalten wird,
weil wir sie im Sinne der Generationengerechtigkeit für
wichtig halten.
({1})
Meine Damen und Herren, insgesamt sind die uns vorliegenden Gutachten eine gute Ausgangsbasis. Es gibt kritische Anmerkungen und das finde ich auch richtig. Darüber werden wir diskutieren müssen. Der zentrale Aspekt
sind die Fragen, die sich um den Ausgleichsfaktor ranken:
Was ist gerecht? Was ist generationengerecht? Gibt es gerechtere Formen? Diese Debatte dreht sich allein um die
Fragen: Ist es richtig, diejenigen, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr ausreichend privat vorsorgen können, in der Phase der Rentenauszahlung mittels
eines Abschlagsfaktors nicht zu sehr zu belasten? Ist
es richtig, diejenigen stärker zu belasten, die heute jung
sind und mit staatlicher Förderung die private Vorsorge
aufbauen können? Die Argumente zu diesen Fragen muss
man ernsthaft gegeneinander abwägen.
Wir halten unseren Vorschlag für gerecht. Weil die
Rentenreform in der Bevölkerung Unterstützung finden
muss, muss man - das weiß ich wohl - über Gerechtigkeitsvorstellungen auch streiten. Das werden wir in der
Zukunft tun. Ich freue mich darauf, mit Ihnen diese Debatte im Ausschuss führen zu können.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Es ist bezeichnend, dass die
Kollegin Dückert den Antrag zur Generationenbilanz mit
keinem Wort erwähnt hat. Aber auf die Grünen komme
ich gleich noch zu sprechen.
In der 58. Sitzung des 14. Deutschen Bundestages am
30. September 1999 hat der Arbeitsminister Walter
Riester gesagt - ich zitiere -:
Zunächst komme ich zu der ... Forderung ... eine
Generationenbilanz vorzulegen. Diese Grundlinie
halte ich für spannend und wichtig.
Riester sagte weiter, er wolle diese Überlegung aufnehmen. Wörtlich:
Ich wäre sehr daran interessiert, wenn wir an dieser
Frage einer Generationenbilanz arbeiten könnten.
Der Bundesarbeitsminister ist hier heute leider nicht
anwesend. Seit der Antrag, eine Generationenbilanz in
die Haushaltsgesetzgebung aufzunehmen, an den Ausschuss überwiesen wurde, sind 36 Wochen vergangen,
ohne dass irgendetwas geschehen ist. Wir waren geduldig
und wollten auf die Zusammenarbeit warten. Wir hatten
gedacht, dass wenigstens mit der Vorlage des Rentenreformgesetzes die Frage der Generationengerechtigkeit aufgegriffen würde. Aber nichts ist passiert. Es ist
Aufgabe des Ausschussvorsitzes, wichtige Dinge zu bearbeiten. Wenn man signalisiert, dass man bereit ist, etwas
gemeinsam auf den Weg zu bringen, dann hätten wir vonseiten der Regierungskoalition mehr Engagement erwartet.
({0})
Nicht einmal in der Rentendebatte haben Sie dieses
Thema aufgenommen. Hätten wir nicht gemeckert, wäre
es auch heute nicht zur Sprache gekommen. Das ist also
Generationengerechtigkeit, wie Sie sie verstehen.
({1})
Seit Sie regieren, meine Damen und Herren, wird in
diesem Land weniger erwirtschaftet. Dennoch wird der
Umfang der Leistungen ausgeweitet; es wird immer mehr
verteilt. Das haben wir beim Gesetz zur Neuregelung der
Einmalzahlungen gerade wieder gesehen. Sie verfrühstücken die Zukunft unserer Kinder, wenn Sie diesen für
die Handlungsfähigkeit und die finanziellen Spielräume
der Republik wichtigen Indikator nicht aufnehmen und in
Zukunft bei politischen Entscheidungen nicht berücksichtigen wollen.
({2})
Gerade die Grünen, die hier vor Selbstgerechtigkeit
triefen und sich immer wieder als Rächer der Enterbten
aufführen, machen überhaupt nichts für die kommenden
Generationen, sondern wollen den Rentenversicherungsbeitrag auf insgesamt 26 Prozent nur für die Altersvorsorge erhöhen. Das ist absolut nicht das, was wir uns als
Liberale unter Generationengerechtigkeit vorstellen.
({3})
Eine Generationenbilanz ist eine Entscheidungshilfe
für die Politik. Sie soll Brücken bauen zwischen den Generationen; denn nur Fairness bei der Belastung jeder einzelnen Generation kann dazu führen, dass die jungen
Menschen in diesem Land den Generationenvertrag
nicht von sich aus kündigen werden.
({4})
Die demographische Entwicklung zeigt, dass wir politisch handeln müssen. Die F.D.P. versteht sich als die Partei der sozialen Verantwortung.
({5})
Wir fordern Sie deshalb auf, diese Gefälligkeitspolitik
endlich zu beenden! Wir fordern Sie auf, die Bilanzergebnisse bei Ihren politischen Handlungen zu berücksichtigen! An dem Umfang der Umsetzung der Ergebnisse der Generationenbilanz wird man Erfolg und
Misserfolg Ihrer Regierungsarbeit messen können.
({6})
Der Haushaltsausschuss hat im ersten Satz eines Entschließungsantrages, der Ihnen vorliegt, gesagt - ich zitiere -:
Eine Zuordnung der Abgaben an den Staat und der
Leistungen des Staates zu einzelnen Altersgruppen
der Bevölkerung kann wichtige Hinweise für die
Ausrichtung der Finanzpolitik liefern und Reformbedarf verdeutlichen.
({7})
Genauso ist das. Es gibt überhaupt keine Veranlassung,
dieses wichtige Thema wieder einmal in einen Arbeitskreis abzuschieben. Ihre Tatenlosigkeit geht den Menschen in diesem Land auf die Nerven! Es ist in der Öffentlichkeit einfach nicht mehr erklärbar, wieso, weshalb
und warum Sie versuchen, eine Generation gegen die andere Generation auszuspielen.
({8})
Es geht nicht nur darum, dass die Jungen keine Rente
mehr bekommen werden, wenn Sie so weitermachen. Es
geht auch darum, dass sich die Älteren Gedanken und Sorgen über die Zukunft ihrer Kinder machen. Ich sage Ihnen
offen und ehrlich: Das ist keine Fairness und keine gleichmäßige Belastung unterschiedlicher Generationen.
({9})
Wenn ich mir den Antrag der Union ansehe, dann muss
ich feststellen: Es ist selbstverständlich richtig, dieses
Thema zu bearbeiten. Er ist aber auch der Beweis dafür,
dass es dringend notwendig ist, in naher Zukunft, noch in
dieser Legislaturperiode und deutlich vor der Bundestagswahl, die Zuwanderung in diesem Land gesetzlich
zu regeln.
({10})
Die F.D.P. hat hierzu mittlerweile zwei Vorschläge in die
Beratungen des Deutschen Bundestages eingebracht. Wir
werden uns auf der Basis dieser Vorschläge bestimmt mit
Ihnen verständigen können. Sie sind die Grundlage dafür,
dass sich die Liberalen wie bei so vielen Gesetzesvorhaben durchsetzen werden.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss:
Generationenbilanz, Transparenz, F.D.P. - mehr davon.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Pia Maier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Was wir hier gerade von der CDU und von der
F.D.P. gehört haben, klang schon dramatisch: Herr Storm
hat die Zukunft furchtbar schwarz gemalt; Herr Niebel
sieht die Zukunft seiner Kinder „verfrühstückt“.
Was Sie mit Ihren Anträgen erzeugen wollen, ist Panik
vor jeder Rentenreform, vor dieser wie vor einer alternativen, die durchaus möglich wäre. Das ist wirklich nicht
die richtige Zeit dafür.
({0})
Herr Storm hat freundlicherweise schon ein paar Zahlen zum Verhältnis Beitragszahler-Rentner zitiert. Ich
möchte noch eine Zahl hinzufügen und fange der Vollständigkeit halber von vorne an: 1965 haben 4,6 Beitragszahler einen Rentner finanziert. Heute sind es 2,4. 2030
werden es 1,7 sein. Eine Halbierung des Verhältnisses von
Beitragszahlern zu Rentnern haben wir in den letzten
35 Jahren schon erlebt. Ich sehe nicht ein, warum eine geringere Verschiebung des Verhältnisses in den nächsten
30 Jahren eine Rentenreform, wie sie die derzeitige Regierungskoalition plant, wirklich rechtfertigen soll.
({1})
Eine Rentenreform geht auch anders. Es geht nämlich
nicht nur um das Verhältnis von Alten zu Jungen, sondern
auch um das Verhältnis von Einnahmen zu Ausgaben, die
für die Rente verwandt werden. Es geht um eine Ausweitung der Beitragspflicht, mit der man auch die Beiträge
zur Rentenversicherung erhöhen könnte, mit der man
dafür sorgen könnte, dass es eine Rente von allen für alle
bleibt.
({2})
Es geht auch nicht nur um die Frage der Belastung mit
Steuern und Abgaben, wie sie die F.D.P. bis auf Heller und
Pfennig genau ausgerechnet haben möchte, sondern es
geht um die Frage der Bemessungsgrundlage für die Beiträge, nicht nur für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, sondern auch für die Unternehmen.
Der technische Fortschritt, den sich vor der Einführung
der sozialen Sicherungssysteme ja auch keiner vorstellen
konnte, wird weitergehen und die Sozialversicherungen
haben sich angepasst. Heute ist mit immer weniger
Arbeitskräften immer mehr Wertschöpfung möglich. Die
Produktivität ist enorm gestiegen. Deswegen ging auch
die Veränderung der sozialen Sicherungssysteme bis
heute gut.
Auf diese Belastungen und Veränderungen müssen wir
reagieren. Eine Wertschöpfungsabgabe, bei der die
Beiträge zur sozialen Sicherung nicht mehr nach Arbeitskräften, sondern nach der Wertschöpfung des Betriebes
festgelegt werden, wäre wirklich eine Alternative, um die
Beitragslast der Unternehmer zeitnah und modern zu gestalten.
({3})
Der Panikmache kann also weder mit dem Konzept der
CDU/CSU wirksam begegenet werden noch mit der Generationenbilanz der F.D.P., noch mit der aktuellen Reform, wie die Regierungskoalition sie vorschlägt.
({4})
Ein Systembruch hin zu einer zwangsweisen privaten
Vorsorge ist, wenn man nicht nur die Zahlen zur Entwicklung der Rente und der sozialen Sicherung von heute
bis 2030, sondern auch die Entwicklung in den letzten
30 Jahren berücksichtigt, nicht nötig. Eine Alternative ist
wirklich möglich. Es gibt eine andere Rentenreform, die
sowohl den jetzigen Rentnern und Rentnerinnen als auch
meiner Generation und zukünftigen Generationen ihre
Rente sichert.
Meine Damen und Herren, es ist der letzte Plenarsitzungstag vor Weihnachten. Es ist bereits gestern Abend
hier etwas lockerer zugegangen. Ich möchte meine letzte
Rede vor Weihnachten auch dazu nutzen, noch ein kleines
Geschenk zu überreichen. Mein Geschenk soll an Herrn
Bundeskanzler Schröder gehen. Ich hoffe, Frau Mascher
übergibt es ihm im Kabinett.
({5})
Ich hoffe, dass Herr Schröder an dem „Basta“, das er
geäußert hat, noch lange zu knabbern haben wird und dass
er dieses Lebkuchenherz solidarisch mit dem ganzen Kabinett teilt.
({6})
Es ist Weihnachten. Ich wünsche noch einen schönen
Tag.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nichts wird die
sozialen Grundlagen in den kommenden Jahren in
Deutschland so sehr beeinflussen wie der Verlust des
Gleichgewichts zwischen den Generationen. Wenn sich
der freie Fall der Geburtenzahlen in Deutschland so fortsetzt, dann werden weder die Rentenversicherung noch
die Krankenversicherung noch die Pflegeversicherung
dauerhaft auf einem sicheren und festen Fundament weiterentwickelt werden können.
Um gleich zu Beginn jedes Missverständnis auszuschließen, sage ich: Wenn wir diese Thematik hier ernsthaft und seriös diskutieren, geht es nicht darum, die Zahl
der Deutschen zu erhöhen. Die Berechenbarkeit der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland hängt nicht davon ab, ob 70, 80 oder 85 Millionen Einwohner in der
Bundesrepublik leben. Die Sicherheit der Rente und die
Finanzierbarkeit der Kranken- und Pflegeversicherung
hängen aber sehr wohl davon ab, dass das Gleichgewicht
zwischen den Generationen nicht weiter aus der Balance
gerät.
({0})
Derzeit stehen zehn Personen im erwerbsfähigen Alter
ungefähr vier Personen gegenüber, die über 60 Jahre alt
sind. In den kommenden Jahren, bis 2030, wird sich das
Verhältnis dramatisch ändern: Dann werden zehn erwerbsfähigen Personen rund acht Rentner gegenüberstehen. Der bisherige Generationenvertrag wird damit faktisch aufgekündigt.
Eine gleiche Entwicklung sehen wir in unseren europäischen Nachbarländern, gerade in Italien, Griechenland
oder Spanien. Diese Länder galten in der Vergangenheit
immer als besonders familien- und kinderfreundlich. Dort
ist jetzt eine ähnliche Entwicklung und eine gleiche Problematik feststellbar; für Deutschland ist sie allerdings
besonders gravierend.
Schauen wir uns nur den Arbeitsmarkt an! Jahr für
Jahr scheiden 230 000 Menschen mehr aus dem Erwerbsleben aus, als neu hinzukommen. Das bedeutet natürlich
auch, dass 230 000 Beitragszahler für die Sozialversicherungssysteme fehlen. Die Zahl der Arbeitslosen wird
selbstverständlich entsprechend sinken. Das ist eine
kleine Rechenoperation, die jeder nachvollziehen kann.
({1})
Bei den Krankenversicherungen steigen die Behandlungskosten naturgemäß mit dem Alter an. Eine DIWStudie prognostiziert allein aufgrund der Alterung der
deutschen Bevölkerung bei konstanter Medizintechnik im
Jahr 2040 einen Beitragssatz von etwa 15,5 Prozent. Bei
zunehmendem medizinischen Fortschritt könnte er leicht
über 23 Prozent liegen.
Von der Pflegeversicherung erhalten heute etwa
1,7 Millionen Menschen Leistungen. Durch die demographische Entwicklung rechnet man bis zum Jahr 2010, in
also nicht einmal mehr neun Jahren, mit weiteren 350 000
Pflegebedürftigen.
Diese einschneidende demographische Entwicklung,
die die Grundlagen unseres Zusammenlebens dramatisch
ändern wird, bedarf einer eingehenden Erläuterung im
Deutschen Bundestag. Es bedarf entsprechend klarer Entscheidungsgrundlagen. Deshalb haben wir diesen Antrag
eingebracht und wir hoffen, einen Bericht zu erhalten.
Die Zuwanderung, die gerne als Antwort auf die demographischen Probleme gesehen wird, wird diese
Schwierigkeiten weder in Deutschland noch in Europa
insgesamt lösen können.
({2})
Um die Balance zwischen den Generationen zu halten,
wäre nach einer Modellrechnung der Vereinten Nationen
eine jährliche Zuwanderung nach Deutschland von sage
und schreibe 3,5 Millionen Menschen nötig. Nur so würde
die Relation der 15- bis 64-Jährigen zu den über 64-Jährigen konstant bleiben. Es geht also um das Generationenverhältnis. Wenn wir tatsächlich 3,5 Millionen Menschen
einwandern lassen würden, was von niemandem in diesem Hause ernsthaft vertreten wird - ich kenne jedenfalls
keine Stimme in dieser Richtung -, entspräche das pro
Jahr einer Zuwanderungsrate in Höhe der Bevölkerungsdichte von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Das würde die Menschen in Deutschland überfordern.
Was wir in Deutschland brauchen - daran führt kein
Weg vorbei -, ist eine dauerhafte Änderung des demographischen Verhaltens. Das heißt, wir brauchen wieder mehr
Kinder in unserem Land.
({3})
Deshalb müssen wir eine zukunftsgerichtete Familienpolitik betreiben, die diesen Namen verdient: kein staatlicher Druck zu mehr Kindern, aber Hilfe und Unterstützung für die jungen Paare, die sich Kinder wünschen.
Ich nenne Ihnen drei Beispiele. Erstens. Es ist ein
Skandal, dass Kinder in Deutschland in vielen Fällen zum
Armutsrisiko werden, dass Familien mit Kindern im reichen Deutschland immer mehr auf der Schattenseite leben.
({4})
Wir können sicherlich nicht alle finanziellen Aufwendungen für Kinder ausgleichen, aber wir müssen einen großen
Schritt in Richtung mehr Gerechtigkeit gehen.
({5})
Wir haben deshalb vonseiten der CSU vorgeschlagen,
zunächst ein Familiengeld von 1 000 DM pro Kind und
Monat zu vereinbaren und dabei die bisherigen Leistungen wie Erziehungsgeld und Kindergeld zusammenzufassen.
({6})
- Sie brauchen hier nicht so laut zu schreien. Sie müssen
nur einfach diesen Vorschlag aufgreifen. Das wäre besser.
({7})
Zweitens brauchen wir eine bessere Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Das betrifft vor allem junge Frauen
mit einer langer Ausbildung, die ihren Beruf ausüben und
nicht vor die Entscheidung „Beruf und Karriere oder Kinder“ gestellt werden wollen.
({8})
Drittens brauchen wir auch wieder - das ist vielleicht
das Wichtigste - eine Aufwertung der Erziehungsleistungen in der Öffentlichkeit. Kinder zu erziehen, Kraft, Mühe
und auch Freude in die Sozialisation von Kindern einzubringen, ist eine Aufgabe, die bei uns zu gering geschätzt
wird. Auf der anderen Seite kann keine andere Institution
diese Aufgabe so gut wie die Familie lösen.
Meine Damen und Herren, ein Land ohne Kinder ist
ein Land ohne Zukunft. Wir wollen, dass unser Land eine
Zukunft hat. Deshalb sind wir für eine Familienpolitik,
die diesen Namen verdient. Ich fordere Sie auf, mitzumachen und unsere Vorschläge aufzugreifen; dann sind Sie
auf der richtigen Seite.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4645 und 14/4730 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur jährlichen
Vorlage einer Generationenbilanz und Aufnahme der
Daten in die Haushaltsstatistik des Bundes, Drucksache 14/4910. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1758 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/4910 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU ist die
Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunktpunkt 13 auf:
Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem
Gesetz zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze ({0})
- Drucksachen 14/3751, 14/4545, 14/4550,
14/4875, 14/4878 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit
einverstanden? - Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Margot von Renesse, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die CDU will eine Debatte zur
Anrufung des Vermittlungsausschusses. Sie können sie
haben. Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, dass
ein Parlament, das ein Gesetz verabschiedet hat, dem die
Zustimmung des Bundesrates verweigert wurde, auch
wenn es zustimmungspflichtig ist, an der Durchsetzung
des von ihm verabschiedeten Gesetzes automatisch interessiert ist. Eigentlich hätte es keiner Debatte zu dieser
Selbstverständlichkeit bedurft. Aber bitte sehr, Sie bekommen sie.
Was ist in diesem Gesetz enthalten? Ich bin sehr gespannt, wie die CDU sich verhalten wird, da sie nach
ihrem kleinen Parteitag vor gut einem Jahr erklärt hat, sie
sei zwar im Prinzip gegen das familienrechtliche Institut
- das ist Ihnen unbenommen-, aber für Lebenserleichterungen sei sie sehr. Nun geht es in diesem zustimmungspflichtigen Gesetz zentral um Lebenserleichterungen. Es
ist mir daher unklar, wie Sie sich argumentativ verhalten
wollen; aber wir werden es abwarten. Ich erwarte jedenfalls, dass sich in der Diskussion, die hoffentlich anders
als in der zweiten und dritten Lesung verlaufen wird, die
ich noch lebhaft in Erinnerung habe, Kompromisse sowohl mit der F.D.P. als auch mit der CDU/CSU finden lassen.
({0})
- Bitte jetzt keine Zwischenrufe! Ich bin es inzwischen
ein bisschen leid, wenn Sie erlauben.
({1})
- Danke schön.
Fangen wir einmal mit der F.D.P. an. Die F.D.P. hat in
ihrem Gesetzentwurf erbschaftsteuerrechtliche Regelungen, die wir auch haben. Ich denke daher, dass es relativ
einfach sein wird, sich mit Ihnen zumindest in diesem
Punkt zu einigen. Was Sie nicht haben, sind Regelungen
im Einkommensteuerrecht. Das ist insofern verblüffend,
als auch Sie gesetzliche Unterhaltspflichten - wenn
auch in geringerem Maße als wir - in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen. Wir werden sicherlich darüber zu reden
haben, dass unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 Grundgesetz, der die Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen
fordert, jedenfalls - wenn wir die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts zu diesem Themenkreis ernst
nehmen - unvermeidliche Abzüge von der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen sind.
Über dieses Problem wird auch mit der CDU/CSU aufgrund von durch die Verfassung gebotenen Regelungen,
die sie akzeptieren muss, weil sie den Grund dieser Regelung, nämlich das Bestehen einer Unterhaltspflicht, nun
einmal hinzunehmen hat, zu reden sein. Herr Geis, wir
werden uns sicherlich bei Philippi, das heißt in Karlsruhe,
wiedersehen. Ich mache nur darauf aufmerksam, dass von
den von Ihnen benannten Sachverständigen nicht ein Einziger das von Ihnen viel gebrauchte Argument wiederholt
hat, bereits die Existenz eines familienrechtlichen Instituts für gleichgeschlechtliche Paare sei ein Angriff auf
Art. 6 Grundgesetz, weil die Einzigartigkeit der Stellung
der Ehe dadurch gefährdet werde.
Die Argumente, die auf diesem Gebiet von zwei Sachverständigen geäußert wurden, waren eher etwas apokryph: Der eine beklagte das Fehlen der Eheschließungsfreiheit für den Fall, dass man in einer solchen
Lebenspartnerschaft lebe - daraufhin ergab sich ein gewisses Wogen in der Runde, weil dieses Argument wirklich etwas eigentümlich war - und der Zweite sagte, die
Existenz eines solchen Instituts könne möglicherweise
ambivalente Personen zur Homosexualität verführen.
Dieses Argument unterstellt, dass die Homosexualität von
Verfassung wegen gegenüber der Heterosexualität minderwertig sei. Ich denke, dass davon in der Verfassung
nichts zu lesen ist, wie im Übrigen in der Verfassung auch
nicht zu lesen ist, dass Ehelosigkeit etwas Schlechteres
sei als die Ehe. Das wäre nämlich die negative Kehrseite
der Eheschließungsfreiheit, die ich zumindest nicht hinnähme.
Ich denke, dass wir uns darüber unterhalten müssen,
und zwar ohne Schaum vor dem Mund und unter Akzeptanz dessen, dass wir den ersten Teil dieses Gesetzes bereits verabschiedet haben. Wir mussten gewisse Hürden
hinnehmen - das gebe ich zu -, die aber nicht in unserem
Verantwortungsbereich lagen. Sie müssen diese Tatsache
hinnehmen, bis Karlsruhe möglicherweise etwas anderes
sagt, was wir alle nicht wissen. Nach einem Spruch von
Karlsruhe können die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen werden.
Das gilt übrigens auch für das Beihilferecht, das keine
Konsequenz aus Art. 6 Grundgesetz ist, sondern das sich
auf die berühmten hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gründet, die den Dienstherrn zur Fürsorge
gegenüber seinen Beamten verpflichten. Der Beamte erhält Beihilfe nicht nur für seine unterhaltsberechtigten nahen Angehörigen, sondern zum Beispiel auch für Umzüge
oder - wie uns in einem sehr berühmten Fall klar gemacht
worden ist - sogar für Prozesskosten, die mit Art. 6
Grundgesetz nun wirklich nichts zu tun haben. Ich denke
also, dass die Unterhaltspflicht bzw. das Unterhaltsrecht
die Basis des Beihilferechts bildet. Wenn wir in der gesetzlichen Krankenkasse eine Familienmitversicherung
haben, erscheint es mir schwer vertretbar, wenn irgendwann ein beamtenrechtlicher Dienstherr sagen sollte, in
Bezug auf seine Beamten ginge ihn das nichts an.
Dass wir bei der Regelung des BSHG die Länder, wie
ich hoffe, auf unserer Seite haben, steht auf einem ganz
anderen Blatt. Es kann doch wohl nicht ernsthaft sein,
dass ein heterosexuelles Paar, das verheiratet oder unverheiratet zusammenlebt, im Rahmen der Sozialhilfe eine
vorhandene Unterhaltsleistung angerechnet bekommt,
während ein homosexuelles Paar, das in einer ebensolchen Beistandsgemeinschaft lebt, davon verschont bleibt.
Ich habe immer gesagt, die gleichgeschlechtlichen Paare
stehen meinem Herzen nicht so nahe, dass ich deswegen
heterosexuelle Paare schlechter behandelt sehen möchte.
Ich denke, das wird bei Ihnen nicht anders sein; das vermute ich zumindest. Ich hoffe daher, dass wir auch in diesem Punkt zu einem Ergebnis kommen werden.
Übrig bleibt die Frage der Eheschließung vor dem
Standesamt. Die sakramentale Funktion des Standesamts
verblüfft mich, weil ich aus dem Geschichtsunterricht
noch gut weiß, dass dies die Konsequenz aus dem Kulturkampf war. Ich wage mir kaum auszumalen, was der
selige Bismarck zu dem sagen würde, was heute daraus
gemacht wird. Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, in
Geschichte gelernt zu haben, dass eine Reihe katholischer
Bischöfe im Zusammenhang mit der Aussage, der Standesbeamte habe mit der Ehe nichts zu tun, ins Gefängnis
gingen. Wenn Sie aber doch der Auffassung sind, dass ein
gleichgeschlechtliches Paar es nicht wert sei, einem deutschen Standesbeamten ins Auge zu blicken, dann sei es
drum. Dann machen Sie es eben beim Einwohnermeldeamt oder von mir aus beim Handelsregister. Darüber werden wir uns einigen können.
Ich glaube, es gibt gute Gründe, von einer Einigung
auszugehen, gerade wegen des kleinen Parteitags der
CDU. Weil ich mich zusammen mit Herrn Beck schon seit
vielen Jahren mit diesem Thema beschäftige, mache ich
Sie jedenfalls auf eines aufmerksam: Ich wäre niemals bereit gewesen - das hätte niemand erwarten dürfen -, etwas
am Gewicht des Art. 6 des Grundgesetzes - kein Jota, kein
Gramm - zu ändern; denn ich gehöre zu den Leuten, deren Familienbiographie Kardinal Meisner nur Freude machen würde. Deswegen kann ich mit gutem Recht sagen:
Ich erwarte einen Kompromiss. Ich denke, dass wir alle
inzwischen gelassen genug sind, um ihn zu finden.
Danke sehr.
({2})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe hier dazu
Stellung zu nehmen, weshalb die CDU/CSU-Fraktion das
Vermittlungsbegehren der SPD und der Grünen ablehnen
wird.
Die Koalitionsparteien haben den Entwurf des Lebenspartnerschaftsgesetzes im Frühsommer in den Bundestag eingebracht. Darüber haben wir Anfang Juli in erster
Lesung beraten. Von Anfang an war sichtbar, dass sich die
Unionsparteien ganz entschieden gegen dieses Gesetz
wenden. Das galt nicht nur für die CDU/CSU-Fraktion im
Bundestag, sondern auch für die Bundesländer, in denen
die CDU oder die CSU an der Landesregierung beteiligt
ist. Damit war auch von Anfang an klar, dass dieses Gesetz den Bundesrat nicht als ein Gesetz passieren würde,
jedenfalls nicht in der damaligen Form, in der der gesamte
Sachverhalt geregelt wird; denn dieser Gesetzentwurf enthielt bekanntermaßen sowohl zustimmungspflichtige als
auch zustimmungsfreie Teile.
Deshalb war es für uns unverständlich, weshalb die
Koalitionsparteien die Aufspaltung dieses Gesetzes erst
auf den letzten Drücker vorgenommen haben. Ein Großteil der Ausschussmitglieder hat die beiden Gesetzentwürfe, die früher ein Gesetzentwurf gewesen waren,
äußerst kurzfristig erhalten. Eine vernünftige Beratung in
der Fraktion und ihren Gremien über die Frage, ob die
Aufspaltung gelungen sei, ob nicht doch zustimmungspflichtige Teile in dem einen oder anderen Gesetzentwurf
enthalten seien, war nicht mehr möglich. Deshalb haben
wir am Mittwoch, den 8. November, also an dem Tag, an
dem der Ausschuss getagt hat, darum gebeten, die Beratungen um acht Tage zu verschieben; denn wir wollten uns
erst einmal über die eben genannten Fragen klar werden.
Aber sowohl unsere Anregung, dazu erst einmal Experten
anzuhören, als auch unsere Bitte, die Beratungen um acht
Tage zu verschieben, wurde einfach abgebügelt. Dieses
Verhalten der Koalition ist für mich nach wie vor unverständlich, zumal es dafür überhaupt keinen Grund gab.
Hier hat man einfach mit den Muskeln gespielt. Es hat
sich jetzt erwiesen, dass das falsch war; denn die Aufspaltung ist nach unserer Meinung nicht gelungen.
Die Aufspaltung ist nach unserer Auffassung nicht gelungen, weil es Ihnen aufgrund der Hast und der Schnelligkeit, mit der dieses Gesetz durch den Ausschuss und
das Parlament geboxt werden musste, nicht möglich war,
wichtige Elemente aus dem angeblich zustimmungsfreien
Teil herauszunehmen, zum Beispiel den Standesbeamten. Diesen wollten Sie ursprünglich herausnehmen. Das
sei Ihnen zugestanden und dazu liegt auch ein entsprechender Antrag mit Datum vom 3. November vor. Aber
zum Schluss tauchte der Standesbeamte in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses wieder auf. Dies ging
auch so durch den Bundestag und den Bundesrat und ist
nun im Gesetz enthalten. Damit ist dieses Gesetz vom
äußeren Anschein her zunächst einmal zustimmungspflichtig. Insoweit ist die Aufspaltung nicht gelungen.
Das Bundesjustizministerium hat zwar inzwischen ein
Berichtigungsverfahren nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung von Bundestag und Bundesrat eingeleitet.
Ich weiß nicht, ob der Bundestagspräsident und der
Bundesratspräsident der Berichtigung zustimmen werden. Peinlich ist die Sache allemal, und zwar in höchstem
Maße. Die interessante Frage ist - zumindest für das Bundesverfassungsgericht -, ob eine solche nachträgliche Berichtigung überhaupt zulässig ist. Angesichts der Tatsache, dass in diesem angeblich zustimmungsfreien Gesetz
noch immer Bezug auf das Namensrecht genommen wird,
wodurch der Standesbeamte wieder ins Spiel gebracht
wird und unter Umständen im Gesetz bleibt, sind die
Zweifel berechtigt, ob die Aufspaltung wirklich gelungen
ist.
Zudem enthält dieses angeblich zustimmungsfreie Gesetz, so sagt jedenfalls der Innenausschuss des Bundesrates, nach wie vor ausländerrechtliche Regelungen und
damit auch Ausführungsregelungen. Deshalb ist der Innenausschuss des Bundesrates der Auffassung, das Gesetz
sei nach wie vor zustimmungspflichtig. - Über die Frage,
ob die Aufspaltung gelungen ist, besteht also Streit.
Die Aufspaltung ist nach unserer Meinung auch unzulässig, weil beide Gesetzesteile - Frau von Renesse, Sie
benutzten dieses Wort vorhin zu Recht; es handelt sich um
Teile einer Gesamtregelung - zusammengehören. Auch
ich weiß, dass der Bundestag aufgrund seiner gesetzgeberischen Freiheit Gesetzentwürfe so gestalten kann, dass
ein Teil zustimmungsfrei und der andere zustimmungspflichtig ist. Aber diese Freiheit hat immer dort ihre
Grenze, wo Willkür im Spiel ist. Willkür ist immer dann
im Spiel, wenn beide Gesetzesteile unabdingbar aufeinander angewiesen sind.
Dass genau das in diesem Fall zutrifft, haben Sie sehr
plausibel vorgetragen: Das so genannte Ergänzungsgesetz kann ohne das Lebenspartnerschaftsgesetz gar nicht
existieren; dies macht keinen Sinn. Das so genannte Ergänzungsgesetz kann schlecht im Bundesgesetzblatt stehen, wenn das angeblich zustimmungsfreie Lebenspartnerschaftsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht
keinen Bestand hat. Schon aufgrund dieser Überlegung
sind beide Gesetze zweifellos aufeinander angewiesen.
({0})
- Vielleicht machen auch Sie jetzt keine Zwischenrufe.
Wie sehr die beiden Gesetze aufeinander angewiesen
sind, zeigt sich noch in vielen anderen Punkten, zum Beispiel in der Unterhaltsregelung, einer Kernregelung des
Gesetzesvorhabens als Ganzem. Wir wissen, dass, wie
bei Eheleuten, die Unterhaltsregelung gleichgeschlechtlicher Partner im Lebenspartnerschaftsgesetz verankert
ist. Dagegen sind Fragen des Steuerrechts oder des Beamtenrechts - ich erinnere an das Beihilferecht -, die
Partnerschaften dieser Art betreffen, im Ergänzungsgesetz geregelt. Da Unterhaltsregelung und steuerrechtliche
Fragen aber unmittelbar zusammenhängen, können sie eigentlich nicht in unterschiedlichen Gesetzen behandelt
werden.
Dasselbe gilt für das Erbrecht. Das so genannte
Stammgesetz enthält die erbrechtliche Regelung. Die
steuerlichen Folgen der erbrechtlichen Regelung befinden
sich allerdings im Ergänzungsgesetz. Wiederum hängt
beides eng zusammen. Ich meine, dass verfassungsrechtliche Zweifel an der Zulässigkeit der Aufspaltung dieses
Gesetzes sehr wohl berechtigt sind.
Wir sind aus einem weiteren Grund - dieser Punkt ist
schon vorhin genannt worden - der Auffassung, dass dieses Gesetz abgelehnt werden sollte. Wir teilen die Ansicht
des Innenministers, dass sowohl der zustimmungsfreie
Hauptteil als auch der zustimmungspflichtige Teil Art. 3
unserer Verfassung, des Grundgesetzes, nicht entspricht.
Wir glauben, dass es nicht richtig ist, gleichgeschlechtliche Gemeinschaften gegenüber anderen Verantwortungsgemeinschaften bevorzugt zu behandeln. Frau von
Renesse, hier handelt es sich um ein verfassungsrechtliches Problem. Das sagt auch der Innenminister.
Über Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes kommt die Frage ins Spiel, ob nicht das Erbrecht stärker zu schützen ist.
Das ist die Auffassung des Innenministers, der ich mich
anschließe.
({1}): Das Erbrecht von jeman-
dem, der noch nicht gestorben ist?)
- Sie missverstehen das, was ich gesagt habe, ganz eindeutig. Sie sollten ein bisschen länger darüber nachdenken, was durch Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes geschützt werden soll. Vielleicht fragen Sie einmal bei
Ihrem Parteifreund Schily nach; er wird es Ihnen möglicherweise privatissime et gratis sagen. Die Zeit ist heute
zu kurz, um darauf weiter einzugehen.
Ich bin natürlich der Auffassung, dass Art. 6 des
Grundgesetzes verletzt ist. Es bestehen in höchstem
Maße verfassungsrechtliche Bedenken. Daher macht das
Gesetz insgesamt keinen Sinn. Man muss beide Teile vor
das Bundesverfassungsgericht bringen. Das Vermittlungsverfahren selbst macht keinerlei Sinn; denn der eine
Teil kann nicht ohne den anderen bestehen. Es hat keinen
Sinn, jetzt bei einem Teil nach einem Kompromiss zu suchen, den anderen Teil aber so stehen zu lassen. Sie hätten beide Teile zusammenlassen sollen. Dann hätten wir
vielleicht zu beiden Teilen im Vermittlungsausschuss, mit
den Kollegen aus Bundestag und Bundesrat eine Regelung finden können. Aber Sie haben den ursprünglichen
Gesetzentwurf aufgespalten. Der eine Teil steht jetzt im
Raum, hilflos ohne den anderen, ein Ungeheuer gewissermaßen, ein Unikum, eine Luftblase, wenn Sie so wollen.
({2})
Aber lassen wir diese Qualifizierungen heute und bleiben wir bei rein juristischen Erwägungen. Ich meine, dass
erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen.
Deshalb sind wir der Auffassung, dass das Vermittlungsbegehren nichts bringen wird. Wir wenden uns daher dagegen.
({3})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Ende
dieser langen Sitzungswoche scheinen auch die Metaphern langsam auszugehen, zumindest humpeln die Bilder jetzt durch das Parlament.
Herr Geis, was Sie hier zum Verfahren gesagt haben,
bedarf einer Richtigstellung. Wir haben Sie zweieinhalb
Wochen vor der entscheidenden Rechtsausschusssitzung
in Berichterstattergesprächen informiert, wie wir verfahren werden. Wir haben Ihnen auch gesagt, an welchem
Tag Sie die redaktionell überarbeiteten Entwürfe bekommen werden, die nur technisch auseinander genommen
wurden wie ein Reißverschluss. In der Sache war Ihnen
bekannt, was in ihnen steht. Fünf Tage vor der Rechtsausschusssitzung - und ich meine, das muss zum Lesen
reichen - haben Sie die Entwürfe per E-Mail in Ihren
Büros gehabt.
({0})
Wenn Sie nicht in Ihren Büros arbeiten und diese Dinge
nicht abrufen, ist das Ihr Problem. Ihnen sind die Entwürfe sogar vom Bundesjustizministerium in den Wahlkreis geschickt worden, Herr Geis.
({1})
Da kann man sich wirklich nicht beschweren.
Das Lebenspartnerschaftsgesetz ist am 10. November
vom Bundestag verabschiedet worden und hat den Bundesrat am 1. Dezember passiert. Dabei war eine so genannte offensichtliche Unrichtigkeit in der Vorlage, die
Sie gerade aufgegriffen haben. Die hat aber weder die Koalition noch die Bundesregierung zu verantworten. Wir
haben einen korrekten Änderungsantrag in den Ausschuss
eingebracht. Wir wissen nicht, wie es passierte, aber im
Ausschusssekretariat wurde der Beschluss falsch protokolliert und dem Plenum und damit auch dem Bundesrat
in zwei Punkten redaktionell falsch übermittelt. Die Verantwortung für diesen Ausschuss trägt Herr Scholz von
der CDU, der heute nicht da ist und das nicht erklären
kann.
Wir sollten hier nicht mit Vorwürfen arbeiten. Ihr Obmann, Herr Geis, hat ja auch zugestimmt, dass diese offensichtliche Unrichtigkeit berichtigt wird. Deshalb sollten wir das, nachdem wir so etwas vereinbart haben, hier
nicht noch einmal im Plenum scheinbar vor der Öffentlichkeit strittig stellen.
({2})
Nun zur Sache. Das Lebenspartnerschaftsgesetz ist
verabschiedet. Es werden damit viele Probleme gelöst
und es findet ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel in
unserem Land statt. Erstmals erkennt unsere Rechtsordnung homosexuelle Partnerschaften rechtlich an und
respektiert sie. Das ist ein entscheidender Schritt. Wir haben über 60 Gesetze geändert und deshalb auch die ganz
große Zahl von Problemen - auch in dem zustimmungsfreien Teil - gelöst. Daher steht das Gesetz für sich auch
nicht hilflos in der Landschaft, sondern es ist ein gutes
Fundament für weitere rechtliche Entwicklungen.
Meine Damen und Herren, es ist nun entschieden: Das
Lebenspartnerschaftsgesetz, das familienrechtliche Institut, kommt ins Bundesgesetzblatt. Jetzt stellen sich nur einige Fragen, die sich darauf beziehen, ob allgemein geltende Rechtsgrundsätze unserer Rechtsordnung auch für
die eingetragene Lebenspartnerschaft gelten. Die Frage
des Ob haben wir entschieden. Jetzt geht es nur noch in einigen Details um das Wie. Hier geht es darum, ob es zu einer parteipolitischen Blockade oder zu einer fachlichen,
sachgerechten Diskussion kommt. Ich hoffe, dass sich alle
Oppositionsparteien, die im Vermittlungsausschuss vertreten sind, für die offene Diskussion entscheiden und mit
uns in der Sache reden, vielleicht auch streiten, sodass wir
zu einem guten Kompromiss kommen.
Um welche Fragen geht es, Herr Geis? Beim Steuerrecht geht es um die Grundsatzfragen: Gilt weiterhin, dass
man nur nach seiner steuerlichen Leistungsfähigkeit besteuert werden darf? Und kann der Steuergesetzgeber davon absehen, dass der Familienrechtgesetzgeber gesetzliche Unterhaltsverpflichtungen geschaffen hat?
Das kann er nicht. Wenn wir es als Bundestag und als
Bundesrat nicht tun, dann werden das die Gerichte korrigieren. Wir können nicht aus rein parteipolitischer Taktik
bestimmte Rechtsgrundsätze aushebeln.
Das Gleiche gilt für das Sozialrecht. Bei der Bedürftigkeitsprüfung können wir doch nicht davon absehen,
dass der Familienrechtsgesetzgeber gesetzliche Unterhaltspflichten und -rechte geschaffen hat. Deshalb müssen selbstverständlich - genau wie in der Ehe - das Vermögen und das Einkommen des eingetragenen Lebenspartners herangezogen werden,
({3})
bevor der Staat Sozialhilfe oder Wohngeld zahlen muss.
Das Gleiche gilt für das Beamtenrecht und das Alimentationsprinzip. Selbstverständlich muss dabei auch
berücksichtigt werden, welche gesetzliche Unterhaltsverpflichtungen der zu alimentierende Beamte hat. Damit ist
auch die entsprechende Beihilfeberechtigung verfassungsrechtlich zwingend einzuschließen.
Ein anderer, eher verwaltungsrechtlicher Grundsatz
gilt ebenfalls in diesem Land: Für Personenstandsfragen
ist nun einmal das Standesamt zuständig, nicht die KfzStelle oder das Grünflächenamt;
({4})
deshalb ist es vernünftig, dies auch in das Gesetz zu
schreiben.
Meine Damen und Herren, öffnen Sie sich, führen Sie
keinen Kulturkampf gegen die Rechte von Lesben und
Schwulen, sondern helfen Sie, mit uns eine sachgerechte
Lösung zu finden. Wir wollen uns gern gemeinsam mit Ihnen im Vermittlungsausschuss die dafür notwendige Beratungszeit nehmen. Ich glaube, wenn der Rauch der
Schlacht der letzten Wochen verzogen und der Theaterdonner verhallt ist, können wir alle miteinander vielleicht
auch in der Sache vernünftig und ruhig ins Gespräch
kommen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Herr Beck, wir werden keinen Kulturkampf miteinander auszutragen haben. Die F.D.P.Bundestagsfraktion begrüßt die Anrufung des Vermittlungsausschusses zum Lebenspartnerschaftsgesetz. Es
besteht damit noch Hoffnung, insgesamt zu einer tragfähigen und praktikablen Lösung zu kommen.
Nach der Abstimmung im Bundesrat blieb von dem ursprünglichen Reformwerk nur noch ein Torso übrig. Es
gibt einen Überhang an Pflichten, aber keinen Ausgleich
an Rechten. Dies ist zweifellos ein untragbarer Zustand,
der den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen in
keiner Weise gerecht wird. Mit der dilettantischen Taktik,
mit der Rot-Grün das Gesetz durch die Gremien des Bundestages und auch den Rechtsausschuss gepaukt hat - ({0})
- Ich bringe überhaupt keine Schärfe hinein. Es war
wirklich dilettantisch - Sie waren ja nicht dabei, Herr
Schmidt -, wie das im Bundestag und vor allem im
Rechtssausschuss durchgepaukt worden ist. Das hätten
Sie einmal erleben sollen.
({1})
Da hätten Sie als Demokrat schon Ihre Zweifel bekommen.
Die Entscheidung des Bundesrates war von vornherein
absehbar. Wenn Sie, meine Damen und Herren von den
Regierungsfraktionen, frühzeitig das Gespräch auch mit
der F.D.P. und der Opposition insgesamt gesucht und die
Bereitschaft und den Willen zum Kompromiss gezeigt
hätten,
({2})
wäre uns dieses Schauspiel erspart geblieben.
({3})
Volker Beck ({4})
Die gestrige Erklärung des Bundestages zur Rehabilitierung von homosexuellen NS-Unrechtsopfern zeigt
doch, dass eine parteiübergreifende Einigung möglich ist,
wenn nur der Wille dazu vorhanden ist.
({5})
Bei diesem Gesetz war er leider nicht vorhanden.
Die F.D.P. wird in dem anstehenden Vermittlungsverfahren ihre Ideen erneut einbringen. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. An diesem F.D.P.-Gesetzentwurf
werden wir uns zu orientieren haben. Wir werden erneut
für ein neues und modernes Rechtsinstitut für gleichgeschlechtliche Paare werben. Wir wollen eine eingetragene
Lebenspartnerschaft, die nicht nur auf starren Verordnungen und Reglementierungen beruht, sondern wir wollen
ein Institut, das offen ist für neue Wege. Wir werben für
mehr Freiheit und für mehr Flexibilität.
({6})
Gemeinsam und in Absprache mit den Landesregierungen, an denen die F.D.P. beteiligt ist, wird sich die F.D.P.
in die Beratungen einbringen. Wir werden sehr genau darauf achten, ob die Koalitionsparteien wirklich an einer
Zusammenarbeit interessiert sind oder ob es nur um die
Inszenierung eines Medienspektakels geht. Letzteres
wäre der Sache in keiner Weise angemessen.
({7})
An der F.D.P. wird eine vernünftige, verfassungsfeste
und von der breiten Gesellschaft getragene Lösung nicht
scheitern.
({8})
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Christina Schenk, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Selbstverständlich wird die PDSFraktion dem Antrag auf Anrufung des Vermittlungsausschusses zustimmen; denn wie sollte etwas besser werden
als dadurch, dass man miteinander redet.
Aus meiner Sicht wird immer deutlicher: Die Regierungsfraktionen, namentlich die Grünen, haben sich verkämpft. Sie haben sich in einem Projekt verkämpft, das
zum einen rechtssystematisch eine Fehlkonstruktion ist
und zum anderen an den Regelungsbedürfnissen derjenigen, für die es vorgeblich gedacht ist, vorbeigeht.
SPD und Grüne haben den Gesetzentwurf in einen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Teil
aufgesplittet. Dieses durchaus nicht unübliche Verfahren
ist im Fall der eingetragenen Lebenspartnerschaft handwerklich ein Unding. Nach der nun wahrlich nicht überraschenden Ablehnung durch den Bundesrat bleibt ein
Rechtsinstitut übrig, das grundlegende rechtliche Zusammenhänge in unüberbrückbare Widersprüche verwandelt.
Das führt zu Absurditäten, von denen ich hier nur einige
nennen möchte:
Die Lebenspartner sind während und nach der Partnerschaft einander unterhaltsverpflichtet, ohne dass sie dies
wie Eheleute steuerlich geltend machen können; das haben andere hier auch schon angeführt. Ein zweites Beispiel: Die Unterhaltsverpflichtung findet laut Gesetz zwar
bei der Gewährung von Arbeitslosenhilfe, nicht aber bei
der Sozialhilfe Berücksichtigung. Ein weiteres Beispiel:
Eingetragene Lebenspartner können nach dem Tod des
Partners zwar dessen Milchladen, nicht aber die Gaststätte
oder den Handwerksbetrieb weiterführen. Viertes und
letztes Beispiel: Während infolge einer Eheschließung der
Anspruch auf Unterhaltsvorschuss für die Kinder entfällt,
ist dies bei der eingetragenen Lebenspartnerschaft nicht
der Fall, obwohl auch hier der Lebenspartner für die Kinder seiner Partnerin bzw. seines Partners unterhaltspflichtig wird.
({0})
Diese Reihe von Beispielen könnte noch eine Weile fortgeführt werden. Ich will in Anbetracht der Zeit darauf verzichten.
Ich möchte hier noch einmal mit Nachdruck sagen:
Selbst wenn das Ergänzungsgesetz in Kraft treten würde,
blieben lesbischen und schwulen Paaren wesentliche
Eherechte versagt. Das hier von der Koalition postulierte
Abstandsgebot ist aus Sicht der PDS in keiner Weise sachgerecht und widerspricht zudem dem Gleichheitsgebot
des Art. 3 des Grundgesetzes.
({1})
Eine Regelung mit deutlichem Abstand zur Ehe wird
im Übrigen von der überwiegenden Mehrheit der Lesben
und Schwulen abgelehnt. Das ist zumindest das Ergebnis
der vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenen
Studie des SOFOS-Instituts der Universität Bamberg.
Leider kennt kaum jemand diese Studie, obwohl sie bereits im Januar an das BMJ übergeben wurde. Ich meine,
das ist kein Zufall; denn das Konzept der eingetragenen
Lebenspartnerschaft passt nicht zu den Ergebnissen dieser Erhebung. In der Studie - das ist eine repräsentative
Studie, darauf möchte ich hinweisen - heißt es: Etwa zwei
Drittel der Befragten befürworten eine Regelung, die ihnen die Möglichkeit der flexiblen Ausgestaltung ihrer Beziehungen gibt. Insofern finde ich den Ansatz der F.D.P.
in Teilen tatsächlich sehr modern; es lohnt sich also, hier
weiter über ihn zu diskutieren.
({2})
Die zwei Drittel der Befragten, von denen ich sprach, fordern eine Reform des Familienrechts,
({3})
die die Vielfalt an familiären Lebensformen endlich zur
Kenntnis nimmt und diese nicht in das Korsett von antiquiertem Eheballast und ungerechtfertigten Privilegien
presst.
Abschließend möchte ich sagen: Es freut mich sehr,
dass auch im Bundesrat über Alternativen zur eingetragenen Lebenspartnerschaft nachgedacht und auf den französischen Zivilpakt verwiesen wurde. Eine solche Regelung nämlich wäre zukunftsfähig, weil sie für Homo- und
Heterosexuelle offen wäre und somit nicht eine diskriminierende Sondergesetzgebung für Lesben und Schwule
zur Folge hätte.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Anrufung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer
Gesetze. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache
14/4878? - Gegenprobe! - Der Antrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 c auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes, insbesondere zur Durchführung der EGRichtlinie 98/78/EG vom 27. Oktober 1998 über
die zusätzliche Beaufsichtigung der einer Versicherungsgruppe angehörenden Versicherungsunternehmen sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro
- Drucksache 14/4453 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1}) - Drucksache 14/4921 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Lennartz
Hansgeorg Hauser ({2})
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen daher gleich zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des
Versicherungsaufsichtsgesetzes, Drucksachen 14/4453
und 14/4921. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
({3})
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit wenigen Enthaltungen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2001 ({4})
- Drucksache 14/4299 ({5})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6})
- Drucksache 14/4930 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Ursula
Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
ERP-Sondervermögen für Mittelstandsförderung erhöhen
-Drucksachen 14/4556, 14/4931 Berichterstattung:
Abgeordnete Margareta Wolf ({8})
Es ist zwar eine Aussprache vorgesehen; aber alle Re-
den, nämlich die der Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
und der Kollegen Otto Bernhardt, Hans-Josef Fell, Rainer
Funke und Rolf Kutzmutz, sind zu Protokoll gegeben
worden.1) Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines ERP-Wirtschaftsplangesetzes 2001, Drucksachen 14/4299 und
14/4930. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft
und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit
dem Titel „ERP-Sondervermögen für Mittelstandsförderung erhöhen“, Drucksache 14/4931. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4556 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({9})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Doris
Barnett, Silvia Schmidt ({10}), Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Frak-
1) Anlage 19
tion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Volker Beck ({11}), Grietje
Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an
der Informationsgesellschaft - Gleichberechtigten Zugang zum Fernsehen sichern
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate
Diemers, Karl-Josef Laumann, Bernd
Neumann ({12}), weiterer Abgeordneter
und der Fraktion CDU/CSU/
Verbesserung des Programmangebots für
Schwerhörige, Gehörlose, Sehbehinderte
und Blinde im Fernsehen und den neuen
Medien
- Drucksachen 14/3382, 14/4385,14/4917 Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Nolte
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst bekommt die
Kollegin Doris Barnett für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag, den wir heute behandeln, hat seine Geschichte: Nicht der Weltbehindertentag war Auslöser, nein, es war ein Betroffener, der sich
bei mir beschwerte, dass es im Fernsehen viel zu wenig
Sendungen für Hörgeschädigte und Ertaubte gebe. Diesen
Menschen ist ebenso wie den Sehbehinderten und Blinden die Teilhabe an der Informationsgesellschaft, so wie
wir sie kennen, weitgehend verwehrt - und das, obwohl
wir im Grundgesetz festgelegt haben, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Unser
aller Ziel - da sind sich die Fraktionen ja einig - ist nicht
die Ausgrenzung von Minderheiten, sondern deren selbstverständliche Teilhabe an der Informationsgesellschaft.
Also muss sich dies auch beim gleichberechtigten Zugang
zu den Medien abbilden.
({0})
Der heutige Stand der Technik bietet dafür gute Möglichkeiten. Das Internet ist gerade für Gehörlose und Ertaubte das ideale Medium zur Teilhabe an der Informationsvielfalt, die über diesen Verbreitungsweg angeboten
wird. Das gilt dank der vorhandenen Softwareprogramme
auch für die Sehbehinderten und die Blinden, wobei ich
nicht verschweigen will, dass die Kosten für die Sonderausstattung der PCs vorerst noch erheblich sind.
Ich meine hier das klassische elektronische Medium,
das Fernsehen. Der Zugang für den betroffenen Personenkreis ist mangelhaft. Das liegt vielleicht auch daran,
dass wir viel zu lange taub und blind für die Bedürfnisse
unserer Mitbürger waren, die beim Hören und Sehen Defizite haben.
({1})
Vielen Menschen, sicherlich auch Kolleginnen und
Kollegen hier im Hause, kommt es gar nicht in den Sinn,
dass Fernseher ein wichtiges Teilhabeinstrument auch für
die Menschen sind, die nicht oder nur schlecht hören oder
sehen können. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass
kaum einer von den inzwischen 14 Millionen Hörbehinderten und circa 700 000 Sehbehinderten einen Fernseher
besitzt. Der Bayerische Blinden- und Sehbehindertenbund hat 1996 eine Umfrage bei seinen Mitgliedern
durchgeführt und festgestellt, dass rund 97 Prozent der
Befragten ein Fernsehgerät besitzen und davon wieder
über 81 Prozent regelmäßig fernsehen.
Natürlich stehen Nachrichtensendungen auf der Beliebtheitsskala ganz oben, aber auch nur deshalb, weil
- bislang nur wenige - Sendungen mit Audiodeskription - das ist eine besonders ausführliche Bildbeschreibung auf der zweiten Tonspur - unterlegt sind. Zwar hat
sich die Zahl der Filme mit Audiodeskription von 1999 bis
2000 von 80 auf 140 Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, also bei ARD und ZDF, fast verdoppelt.
Auch Arte, 3sat und die dritten Programme der ARD
strahlen diese Audiodeskriptionsprogramme in Wiederholung aus. Aber von der Erfüllung des Wunsches der Betroffenen, nämlich einen Film pro Tag, sind wir noch weit
entfernt.
Das Kostenargument ist für mich an dieser Stelle nicht
überzeugend. Ein 90-Minuten-Film mit dieser besonderen Bildbeschreibung verursacht lediglich Zusatzkosten
in Höhe von 8 000 bis 10 000 DM. Diese fallen aber, betrachtet man die Gesamtproduktionskosten, kaum ins Gewicht.
({2})
Für hörgeschädigte und gehörlose Zuschauer sind die
öffentlich-rechtlichen Sender bereits aktiver. Seit 1997
untertitelt der WDR jährlich 12 000 Sendeminuten neu.
Das sind 200 Stunden. Der Bayerische Rundfunk untertitelt 150 Stunden pro Jahr und andere Sender, auch das
ZDF, leisten einen Beitrag entsprechend ihrer Größe. Die
Kosten für die Untertitelung sind wirklich gering. Einen
„Tatort“ zu produzieren kostet 30 000 DM pro Sendeminute, die Untertitelung aber nur 40 DM pro Minute. Es
kostet also gerade einmal 3 600 DM, einen 90-MinutenFilm zu untertiteln.
Auf die Gebärdensprache sind in Deutschland etwa
80 000 bis maximal 180 000 Menschen angewiesen. Nach
Meinung des rheinland-pfälzischen Landesverbandes der
Gehörlosen ist sie eine wichtige Verständigungshilfe bei
aktuellen Sendungen wie Live-Berichten, politischen Gesprächsrunden und Talkshows, weil hier ganz schnell
übersetzt werden muss. Bei Filmen wird Untertitelung bevorzugt. Phoenix bietet Gebärdendolmetscher bei Nachrichtensendungen an. Diese Dienstleistung, also das
Übersetzen durch Gebärdendolmetscher, ist zwar deutlich
teurer als die Untertitelung. Aber sollte uns die Teilhabe
von Seh- und Hörbehinderten das nicht wert sein?
({3})
Wenn es darum geht, neue Technologien einzuführen,
gönnen wir uns oft einen Blick über den großen Teich.
Wenn es darum geht, Menschen mit Behinderungen den
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Zugang zum Medium Fernsehen zu gewährleisten, lohnt
es sich erst recht, in die USA zu blicken. Obwohl in den
USA öffentlich-rechtlicher Rundfunk so gut wie unbekannt ist, gibt es dort hervorragende gesetzliche Regelungen, um Gehörlose und Ertaubte, Sehbehinderte und
Blinde am alltäglichen Leben und somit auch am Fernsehen teilnehmen zu lassen. So wenig es dort denkbar ist, für
Rollstuhlfahrer keine Rampe zur öffentlichen Bibliothek
zu haben, so wenig ist es dort denkbar, keine Untertitelung
bzw. Audiodeskription zu haben.
Hören Sie bitte gut zu: 1990 wurde mit einer Übergangsfrist von drei Jahren gesetzlich geregelt, dass jedes
Fernsehgerät, das eine Bildschirmdiagonale von mehr als
33 cm hat, einen eingebauten Decoder für die Untertitelung haben muss, um den Millionen von Hörgeschädigten
die Teilhabe am aktuellen Leben zu ermöglichen. Ab 2002
müssen alle großen Fernsehanstalten - und die sind
privat - und die fünf größten Kabelbetreiber sicherstellen,
dass pro Quartal mindestens 50 Sendestunden neu mit Audiodeskription unterlegt sind, damit auch Sehbehinderte
nicht ausgeschlossen bleiben.
Auch in England wird für seh- und hörbehinderte
Menschen sehr viel getan. Mindestens 15 Programmstunden pro Woche müssen pro Sender mit Audiodeskription
für Sehbehinderte unterlegt sein. Was die Gehörlosen
anbelangt: Bei BBC 1 sind zurzeit 70 Prozent aller Programme untertitelt. Bis 2008 soll das gesamte Programmangebot untertitelt sein. Dann ist dort das Fernsehprogramm für Gehörlose diskriminierungsfrei.
Mit Blick auf das, was für seh- und hörgeschädigte Menschen getan werden kann, müssen wir auch hier endlich
aufwachen und handeln.
Sicher, der Bundestag kann nicht in die Rundfunkhoheit der Länder eingreifen. Aber als der für das SGB IX
zuständige Gesetzgeber haben wir die Pflicht, auf Defizite
aufmerksam zu machen und deren Beseitigung anzumahnen, wenn dies vonseiten der Verantwortlichen nicht geschieht.
Wir meinen, der Grundversorgungsauftrag, den die
öffentlich-rechtlichen Sender zu erfüllen haben, hat auch
den Zugang zum Medium Fernsehen für Menschen mit
Seh- oder Hörbehinderungen zu beinhalten.
({4})
Er muss diskriminierungsfrei, vielfältig, ausgewogen und
flächendeckend auch für Behinderte und Minderheiten erfolgen. Dies ist schließlich auch der Grund, warum öffentlich-rechtliches Fernsehen gebührenfinanziert ist.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Frau Kollegin Barnett, warum
bestehen Sie auf den öffentlichen-rechtlichen Sendern?
Zu den privaten komme ich
noch.
Gut, denn das ist noch wichtiger. Sie haben gerade die positiven Beispiele genannt. Ich
finde, der Bundesgesetzgeber muss doch die Möglichkeit
haben, gesetzliche Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass auch die privaten Sender ihrer Verpflichtung,
Menschen mit Behinderungen nicht zu benachteiligen,
nachkommen, und zwar möglichst bald.
Herr Kollege Seifert, schön
wäre es. Ich bin mir auch sicher, dass der Kulturstaatsminister sehr gerne die Gesetzgebungshoheit für eine einheitliche Regelung hätte. Bei uns aber haben die 16 Länder die Gesetzgebungshoheit und können auch Regelungen für die Privaten treffen. Wir haben keine
Gesetzgebungskompetenz, appellieren aber an die Länder, auch etwas bei den Privaten zu tun.
({0})
- Wenn Sie mich jetzt bitte fortfahren lassen. Ich komme
gleich auf die Privaten.
Nur weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk gebührenfinanziert ist und sehr wenig Werbezeit hat, kann sich das
private Fernsehen nicht aus der Verantwortung stehlen,
Sendungen für hör- oder sehbehinderte Menschen anzubieten.
({1})
Von den Privaten wird zwar argumentiert, dass sie sich
über Werbeeinnahmen finanzieren müssten und dass der
betroffene Personenkreis eher älter sei und gar kein Privatfernsehen sehe, aber dies halte ich für Unsinn und der
Lebenswirklichkeit nicht entsprechend. Behinderte Menschen müssen wie wir den vollen Kaufpreis für Produkte
zahlen, für die im privaten Fernsehen geworben wird.
Also finanzieren sie dann, wenn sie die Produkte kaufen,
die privaten Sender mit.
Auch ist es dreist, zu unterstellen, seh- oder hörbehinderte Menschen seien grundsätzlich alt und an Sendungen
der Privaten nicht interessiert. Zwar haben RTL und Pro 7
erste Versuche gestartet, aber so wenig, wie sich die öffentlich-rechtlichen Sender zufrieden zurücklehnen dürfen, dürfen sich die Privaten mit Hinweis auf ihre Werbefinanzierung aus der Verantwortung für seh- oder
hörgeschädigte Menschen verabschieden.
Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes ist nicht beliebig
interpretierbar. Er gilt in allen Lebensbereichen. Auch private Fernsehsender müssen alles Notwendige unternehmen, um ihr Programm seh- oder hörgeschädigten Zuschauern zugänglich zu machen.
({2})
Deshalb haben wir auch den Prüfantrag in unseren Antrag geschrieben, dass im Falle der Verweigerung vonseiten der Privaten eine Quote zu überlegen ist. Ich verweise
hier nochmals ausdrücklich auf die Regulierungsdichte in
den USA, die allen größeren Fernsehanstalten vorschreiben, in ständig wachsendem Umfang Sendungen zu
untertiteln und mit Audiodeskription zu unterlegen. Niemand hier im Hause - das glaube ich wenigstens - würde
behaupten, die USA seien im Medienbereich überreguliert.
Das, was von Gesetzes wegen in den USA und in England möglich ist, muss doch auch bei uns möglich sein.
Denn - und da komme ich nochmals auf unser Grundgesetz zurück - niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Also muss der gleichberechtigte Zugang von Gehörlosen und Ertaubten, von Sehbehinderten
und Blinden zum Informationsmedium Fernsehen auch
tatsächlich möglich sein.
Es ist bedauerlich, dass sich die CDU/CSU weigerte,
bei einem so wichtigen Thema einen gemeinsamen Antrag mit uns zu formulieren. Deswegen werden wir unserem Antrag in der geänderten Fassung zustimmen und den
Antrag der CDU/CSU ablehnen.
({3})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Barnett, schon vor
Beginn der Debatte waren wir uns in der Tat fraktionsübergreifend über die prinzipielle Zielsetzung unserer Initiativen einig.
({0})
Bevor ich zu den Unterschieden zwischen unseren Anträgen komme, möchte ich aber grundsätzliche Ausführungen machen, da sich viele Menschen zu wenig mit diesem
Thema auseinander setzen bzw. ihnen die Problematik zu
wenig bewusst ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Internationale
Raumstation wurde vor wenigen Tagen um gigantische
Sonnensegel erweitert. Das ist eine technische Meisterleistung, der Inbegriff der technischen Entwicklung. Stellen
Sie sich einmal kurz vor, Sie sehen diese faszinierenden
Fernsehberichte über derartige technische Meisterleistungen: Raumstation, Bilder vom Mars oder Grenzen sprengende Forschungsergebnisse. Sie sind jedoch gehörlos
oder schwerhörig, und Sie sind sich bewusst, dass Sie in
einem der reichsten Länder der Welt bei einem der mächtigsten Fernsehsender Europas diese Meldungen sehen.
Einfache technische Hilfen wie zum Beispiel Untertitel
werden nicht eingesetzt. Auch das Geld für einen Gebärdendolmetscher wird gespart.
Andere, aber vergleichbare Probleme haben Blinde
und Sehbehinderte. Auch hier gibt es inzwischen technische Möglichkeiten, zum Beispiel akustische Untertitel
für die Bildbeschreibung. Aus diesem Grunde haben wir
in unserem Antrag von Anfang an auch die Blinden und
Sehbehinderten berücksichtigt.
Mit dem Beispiel der Raumstation möchte ich Ihnen
deutlich machen, dass technische Entwicklungen alte
Grenzen immer wieder überschreiten und permanent neue
Wege aufzeigen. Nur bei relativ einfach zu lösenden
Problemen stagnieren wir, obwohl diese Probleme durchaus technisch lösbar sind und dazu lediglich eine große
Portion guter Wille gehört.
Aber es handelt sich bei den Behinderten, um die es
heute geht, um eine Gruppe von Menschen ohne ausreichende Lobby. Sie haben aber berechtigte Ansprüche auf
Lebensqualität wie jeder von uns.
({1})
Gehörlose und Blinde möchten nicht nur einige wenige
spezielle Sendungen, sondern das ganze komplette Fernsehprogramm.
({2})
Wem nützen eigentlich Festreden zum Weltbehindertentag am 3. Dezember, und wem nützen Hochglanzbroschüren über eine vorbildliche Behindertenarbeit?
Gehen wir doch bitte nicht wieder zur Tagesordnung
über und verweisen wir nicht immer nur auf die allabendlichen Nachrichtensendungen mit Gebärdendolmetscher
zum Beispiel bei Phoenix. Dafür haben viele von uns allen, das heißt fraktionsübergreifend, lange gekämpft. Ich
selbst habe vor etlichen Jahren dieses Thema parteiintern
immer wieder aufgegriffen. Aber der Ausbau des Angebotes für Schwerhörige und Sehbehinderte in der deutschen Fernsehlandschaft lässt nach wie vor zu wünschen
übrig. Das Programmangebot ist im internationalen Vergleich peinlich gering.
Es reicht eben nicht aus, ein paar Sendungen oder auch
Sendereihen anzubieten, die sich speziell an diese Menschen wenden. Warum nicht auch Olympische Spiele, Unterhaltungshits am Samstagabend oder Sonderberichterstattungen? Auch Gehörlose sind daran interessiert, zu
erfahren, warum ein schreckliches Unglück passiert ist,
warum es immer noch keinen neuen US-Präsidenten gibt.
Sie wollen nicht immer nur auf die Zusammenfassung am
Abend warten.
({3})
Gehörlose und Blinde wollen und müssen sicher sein,
dass auch sie wichtige, eventuell sogar lebensrettende
Meldungen - ich nenne plakativ eine Naturkatastrophenwarnung oder Nachrichten über einen Chemieunfall - schlichtweg verstehen können.
In der Diskussion über das Programmangebot für
Gehörlose und Blinde sollten auch folgende Punkte angesprochen werden: erstens die Unterscheidung zwischen
den öffentlich-rechtlichen und den privaten Fernsehanstalten. Die öffentlich-rechtlichen werden über Gebühren finanziert, und sie sollten auch aus diesem Grunde
die Verbesserung des Programmangebotes als Aufgabe
der Grundversorgung ansehen.
({4})
Die privaten Fernsehanstalten sind seit jeher aufgerufen,
eine Selbstverpflichtung einzugehen. Es gibt inzwischen
auch einige wenige gute Beispiele der Umsetzung. Dennoch sollten wir darauf drängen, dass sich die privaten
Sender offiziell zu dieser freiwilligen Selbstverpflichtung
bekennen und dementsprechend eine gewisse Erfolgskontrolle durch die Öffentlichkeit ermöglichen.
({5})
Zweitens. Dazu gehört eine freiwillige Selbstverpflichtung, deren Umsetzung nicht an Kosten scheitern
sollte. Wir sehen einmal davon ab, dass es sich im Vergleich zu anderen Maßnahmen - zum Beispiel milliardenschweren Übertragungsrechten - um eine relativ geringe Summe handelt, die für Untertitel - sei es visueller,
sei es akustischer Art; darauf ist schon hingewiesen worden - oder für Gebärdendolmetscher aufgewendet werden
muss. Wir bewerten es an dieser Stelle auch nicht, dass
sich gerade die privaten Sender derartige Kosten über
Werbepartner sogar mit zusätzlichen Gewinnen zurückzahlen lassen. Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass es
durchaus legitim ist, beispielsweise behinderte Kinder als
Zielgruppe zu entdecken und Kindersendungen, die für
gehörlose und blinde Kinder verständlich sind, über Werbepartner zu finanzieren.
({6})
Werbung ist nichts Anstößiges - schon gar nicht, wenn
diese Kinder davon direkt profitieren können.
Drittens. Die Integration Behinderter in die Gesellschaft ist eine im Grundgesetz von uns allen geforderte
Aufgabe. Diese wird aber von punktuell wirksamen Maßnahmen nicht erbracht. Notwendig sind ein grundsätzliches Bekenntnis und möglichst grundsätzlich einzusetzende Hilfen. Die Integration kann nur verbessert werden,
wenn der Zugang zu Informationen prinzipiell gewährleistet ist. Dazu gehören - das betone ich noch einmal Informationen jeglicher Art für alle Altersgruppen: Nachrichten, Unterhaltung, Sport oder auch politische Sendungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vernachlässigen dürfen wir auf keinen Fall den Aspekt der Wissensgesellschaft und die Bedeutung dieser Frage für die Arbeitswelt. Auch die Berufswelt von Behinderten, ihre
Berufswahl und ihre Berufsausübung sind von ihrem
Wissensstand abhängig. Eine geringere Teilhabe an Informationen koppelt Behinderte derzeit von der Berufswelt
ab - zusätzlich zu ihrer Behinderung. Festzuhalten bleibt,
dass es bei der Informationsbeschaffung keine Barrieren
geben darf.
Ich freue mich, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihren ursprünglichen Antrag um einige
wesentliche Punkte ergänzt haben. Unserer Auffassung
nach geht er aber leider immer noch nicht weit genug.
Insofern kommt einer der Punkte unseres Antrags zum
Tragen, die entscheidend über Ihren Antrag hinausgehen.
Ich nenne die Rolle der neuen Medien. Sie klammern
diese komplett aus und begründen das damit, das Internet sei sowieso schon das klassische Medium der Gehörlosen. Aber die neuen Medien bedeuten doch viel mehr als
nur das Internet.
({7})
Ich nenne das Stichwort Konvergenz, das heißt die Vereinheitlichung der Medien. In diesem Zusammenhang bedeutet es, dass es in Zukunft durch die ständige Annäherung der verschiedenen Medienformen und die technische
Fortentwicklung eine Verknüpfung des Angebotes geben
könnte. Beispielhaft und verkürzt ausgedrückt: Fernsehempfang mit der grundsätzlichen Möglichkeit, sich per
Datennetz individuelle Zusatzinformationen akustischer
oder visueller Art auf das eigene Gerät zu laden. Daher haben wir in unserem Antrag explizit auf diesen Punkt hingewiesen und fordern zugleich die Unternehmen auf, an
der technischen Entwicklung und an der Software intensiv zu arbeiten.
({8})
- Herr Tauss, Sie wissen, dass dies ein wesentliches
Thema ist, das ich bearbeite. Dazu muss ich nichts vorlesen, das habe ich mir selbst erarbeitet.
({9})
Ein anderer bedeutender Unterschied zwischen unseren Anträgen betrifft die Androhung einer Quote. Die
Androhung einer solchen Maßnahme fordert nahezu heraus, dass freiwillige Selbstverpflichtungen nicht eingegangen werden.
({10})
Sie zerstört eine Atmosphäre des Aufbruchs zu neuen
Möglichkeiten. Daher lehnen wir die Androhung einer
Quote ab.
({11})
Selbstverständlich bleibt eine gesetzliche Regelung immer eine Option. Zunächst aber muss einmal die Chance
gegeben werden, zu reagieren - freiwillig und unter Beobachtung der Öffentlichkeit, die wir heute verstärkt herstellen wollen.
Aus diesen Gründen werden wir uns bei Ihrem Antrag
enthalten und bitten um Zustimmung zu unserer Initiative.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte
ich Sie daran erinnern, dass auch unsere Parlamentsdebatten nicht durch Gebärdendolmetscher übersetzt werden. Vielleicht können wir gemeinsam dazu heute hier die
Anregung geben.
({12})
Nun wünsche ich Ihnen eine besinnliche Advents- und
Weihnachtszeit. Wir sollten einmal darüber nachdenken,
ob wir in der Vergangenheit immer fair miteinander umgegangen sind und ob wir das für die Zukunft nicht etwas
besser bewerkstelligen können. Ich wünsche Ihnen ein
frohes Weihnachtsfest.
Danke.
({13})
Für Bündnis 90/Die
Grünen sollte jetzt eigentlich die Kollegin Grietje Bettin
sprechen. Sie ist plötzlich erkrankt und hat deswegen ihre
Rede zu Protokoll gegeben1). Wir wünschen ihr von dieser Stelle gute Besserung.
({0})
Ich erteile nun dem Kollegen Dirk Niebel für die
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Dirk Niebel ({1}) ({2}): Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Marquardt,
vielen herzlichen Dank, über Ihren Applaus freue ich
mich besonders. Auch Staatssekretär Pick hat gesagt, dass
er nur wegen meiner Rede gekommen ist. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass auch ein Vertreter des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, das ja immerhin federführend ist, bei der Debatte zu diesem Thema
anwesend gewesen wäre.
({3})
- Er kommt spät, aber er kommt.
({4})
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat in der letzten Sitzungswoche eine Gruppe von Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen aus dem gesamten Bundesgebiet hier nach Berlin eingeladen, um die
spezifischen Probleme dieser Bevölkerungsgruppe zu besprechen. Es ist immer wieder klar geworden, dass das
zentrale Thema die Barrierefreiheit ist. Barrierefreiheit
muss man in einem umfassenden Sinn verstehen, und
zwar nicht nur im Sinne einer Absenkung von Bordsteinen, sondern insbesondere im Sinne einer Teilhabe an der
Gesellschaft. Für einige Menschen ist das Betrachten einer Nachrichtensendung oder einer komplexeren Internetseite nämlich mit enormen Zugangshürden versehen.
Diese Menschen sind deshalb bei der politischen Willensbildung ausgegrenzt.
Wir wollen diese Hürden überwinden. Aus diesem
Grund habe ich mich im Juni 1999 an Bundestagspräsident Thierse mit der Frage gewandt, ob es nicht möglich
wäre, die Debatten des Deutschen Bundestages durch
Gebärdendolmetscher zu begleiten. Er fand die Idee
sehr gut, hat leider allerdings viele technische Probleme
gesehen. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten verweisen in der Regel auf den Sender Phoenix. Ich habe vorhin geklärt, dass die Debatten dort zwar übertragen werden, aber dass selbst diese Debatte nicht mit
Gebärdendolmetschern begleitet wird. Das finde ich
natürlich fatal.
({5})
Wir begrüßen grundsätzlich diese Anträge, weil sie der
informationellen Integration behinderter Menschen in
diesem Land dienen. Wir sind allerdings der Ansicht, dass
es schade ist, dass Rot-Grün mit der Quote eine Zustimmung fast unmöglich macht. Dazu kommt: Allein die
Union berücksichtigt die neuen Medien. Allerdings gehen
beide Anträge von altbekannten oder herkömmlichen
Mitteln aus, also von Untertiteln, Übersetzungen durch
Gebärdendolmetscher und Ähnlichem.
Wir denken, dass wir einen weiter gehenden Ansatz
brauchen. Wir müssen behindertengerechte Programme
und Sendungen über Behinderte in das normale Programm integrieren, auch in die dritten Programme, bei denen wir oftmals mit Sendungen aus der Konserve leben
müssen. Es wäre natürlich wünschenswert, eine behindertengerechte Spiegelung des laufenden Programms
über Satellit auf einem anderen Kanal empfangen zu können. Wir wollen auf gar keinen Fall einen reinen Spartenkanal mit Sendungen für Behinderte. Das würde dazu
führen, dass sich Nichtbehinderte diese in aller Regel
nicht ansehen würden. Dadurch würden Behinderte noch
weiter aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Das ist
mit Sicherheit nicht zielführend.
({6})
Guido Westerwelle hat am 4. Juli Bundestagspräsident
Thierse mit der Bitte angeschrieben, zu prüfen, ob wir,
wenn wir Private auffordern, mehr für Behinderte zu tun,
nicht mit gutem Beispiel vorangehen sollten. Wir sollten
zumindest dafür sorgen, unsere eigene Internetseite
„www.bundestag.de“ behindertengerecht zu gestalten.
Herr Thierse hat das positiv und mit großem Wohlwollen
aufgenommen. Passiert ist leider nichts. Dabei ist es gar
nicht so schwierig, eine Internetseite behindertengerecht
zu gestalten. Ich denke, wir sollten als Allererstes vor der
eigenen Haustür kehren und zusehen, dass wir dort vorankommen.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich Sie
zum Schluss meiner Rede mit freundlichen Weihnachtsgrüßen nach Hause schicke, möchte ich Sie darauf hinweisen, was wir in Zukunft in diesem Bereich brauchen:
Wir brauchen Barrierefreiheit, Teilhabemöglichkeiten
und wir brauchen mehr F.D.P.
Vielen Dank.
({8})
Nun hat die Kollegin
Angela Marquardt für die PDS-Fraktion das Wort.
Angela Marquardt ({0}) ({1}): Vielen Dank, Herr Niebel.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
denke, wir sind uns alle einig, dass Gehörlose, Sehbehin-
derte und Menschen mit eingeschränkter Mobilität nicht
irgendeine Zielgruppe der elektronischen Medien sind
wie jede andere. Sie sind eine besonders wichtige Ziel-
gruppe, gerade weil für sie die elektronischen Informati-
ons- und Kommunikationsmittel eine Möglichkeit bieten,
an der Gesellschaft teilzuhaben, eine Möglichkeit, die sie
sonst nicht haben - egal, ob es das Telefon ist, das Inter-
net oder auch das Fernsehen.
1) Anlage 20
Wer will, dass Menschen mit Behinderungen dem
Grundgesetz entsprechend nicht benachteiligt werden,
der sollte gerade auf die Medien achten, die für diese Personengruppe wichtig sind, und sollte sie überprüfen.
({2})
Die PDS unterstützt beide hier vorliegenden Anträge,
auch wenn Unterschiede deutlich geworden sind. Eigentlich sind sie unwesentlich und es ist bedauerlich, dass gerade zu diesem Thema kein gemeinsamer Antrag vorgelegt worden ist.
Wir unterstützen den Appell, dass die öffentlich-rechtlichen sowie die privaten Rundfunkanstalten den Anteil
der Sendeminuten mit Untertiteln und Audiodeskription
erhöhen sollen. Doch leider bleibt es bei Ihnen beim Appell. Rechtliche Regelungen werden nicht eingefordert.
Wir wissen, dass damit die praktische Wirkung dieser Anträge gleich null ist. Es entsteht der Eindruck, dass rechtliche Konsequenzen nicht erwünscht sind, dass sie nicht
eingefordert werden sollen.
Seit Jahren fordern Behindertenverbände, insbesondere die Gehörlosen, die gesetzliche Anerkennung der
deutschen Gebärdensprache. Wir alle in diesem Hause
sollten das unterstützen, nicht nur die PDS.
({3})
Darüber hinaus fordern wir auch aus diesen Gründen ein
bundesweites Gleichstellungsgesetz.
Ich möchte kurz die Gelegenheit nutzen, um auf die
Bedeutung der neuen Medien einzugehen. Eine Kleine
Anfrage der PDS hat ergeben, dass die gesamte Förderung
von Behinderten und Senioren fast vollständig auf Wirtschaftssponsoring baut, das also in Abhängigkeit von der
Industrie geschieht. Gleichzeitig gibt es keine Programme, die Menschen mit Behinderungen und Senioren
- neben den großen Chancen, die ihnen das Netz bietet - auf die Gefahren hinsichtlich der Sicherheit ihrer Daten aufmerksam machen. Es liegt auf der Hand, dass hier
ein Zusammenhang besteht. Natürlich, Kollegin Diemers,
ist Sponsoring gut, auch Werbung; aber Behinderte dürfen
genauso wenig wie andere Menschen in dieser Gesellschaft zum Spielball der IuK-Branche gemacht werden.
Wichtig ist: Aufklärung, Bildung und Zugangssicherung
müssen auch Aufgaben des Staates sein.
({4})
Der Zugang zu den Medien, zu den neuen wie zu den
konventionellen, ist ein Recht aller Bürgerinnen und Bürger. Der Zugang muss für alle finanzierbar sein. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, Kompetenz im Umgang mit diesen Medien zu erlangen.
({5})
Der Zugang muss für alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen gesichert werden.
({6})
Dazu gehören natürlich auch die technischen Voraussetzungen, behindertengerechte Hard- und Software beispielsweise, an deren Entwicklung die Wirtschaft nur
geringes Interesse hat, weil ihre Hauptzielgruppe nun einmal der junge, dynamische, entwicklungsstarke Mensch
ohne körperliches Handicap ist. Dieser Entwicklung müssen wir etwas entgegensetzen.
({7})
Deswegen möchte ich kurz auf die Videotheken eingehen. Es sollte Standard sein, dass in den Videotheken Decoder zum Ausleihen bereitgehalten werden, damit für
Hörgeschädigte die Untertitel bei Spielfilmen sichtbar gemacht werden können. Das zum Beispiel wird in den vorliegenden Anträgen ausgespart. Da steht einfach nur: Die
Videotheken sollen angehalten werden. Ich frage mich:
Warum können wir es nicht fordern, warum können wir
sie nicht dazu verpflichten, diese Decoder zum Ausleihen
zur Verfügung zu stellen?
({8})
Das ist nur ein kleines Beispiel dafür, dass es bei Appellen bleibt und man sich um wirklich praktische Konsequenzen herumdrücken will. Deswegen lassen Sie mich
an Sie appellieren: Belassen Sie es nicht bei diesen schönen Vorweihnachtsreden.
In diesem Sinne wünsche ich allen hier noch Anwesenden ein schönes Weihnachtsfest.
({9})
Ich erfahre, dass
Phoenix diese Debatte mit Gebärdendolmetscher überträgt. Das finden wir alle sehr gut, meine Damen und Herren.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache
14/4917. Zunächst stimmen wir ab über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen,
Drucksache 14/3382, mit dem Titel „Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an der Informationsgesellschaft Gleichberechtigten Zugang zum Fernsehen sichern“. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 die Annahme des Antrages in der Ausschussfassung. Wer stimmt dem zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung von
CDU/CSU und F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/4385 zur Verbesserung des
Programmangebots für Schwerhörige, Gehörlose, Sehbehinderte und Blinde im Fernsehen und in den neuen Medien. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung
Angela Marquardt
- Drucksache 14/4363 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
- Drucksache 14/4918 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Enders
Meinrad Belle
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll gegeben
werden. Ich lese die Namen der Redner vor: Peter Enders,
Meinrad Belle, Helmut Wilhelm, Dr. Max Stadler, Ulla
Jelpke1) und Fritz Rudolf Körper2).
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Alters-
versorgung, Drucksachen 14/4363 und 14/4918. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen-
probe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig
in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge-
genprobe! - Enthaltungen? - Ich danke Ihnen, dass Sie
den Gesetzentwurf einstimmig angenommen haben.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis c auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Bekämpfung gefährlicher Hunde
- Drucksache 14/4451 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4})
- Drucksache 14/4920 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst Bahr
Günter Baumann
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle,
Ulrich Heinrich, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Bevölkerung wirksam vor „Kampfhunden“
schützen
- Drucksachen 14/3785, 14/4919 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ernst Bahr
Günter Baumann
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({6}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Alfred Hartenbach,
Margot von Renesse, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Volker Beck ({7}),
Hans-Christian Ströbele, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Obligatorische Haftpflichtversicherung für
Hunde
- Drucksache 14/3825, 14/4916 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann ({8})
Dr. Jürgen Gehb
Jörg van Essen
Sabine Jünger
Interfraktionell ist vereinbart worden, auch hier die Re-
debeiträge zu Protokoll zu geben. Es sind dies: Ernst Bahr,
Günter Baumann, Ulrike Höfken, Hildebrecht Braun, Eva
Bulling-Schröter und Fritz Rudolf Körper3). Wir kommen
also gleich zur Abstimmung.
Abstimmung über den von der Bundesregierung ein-
gebrachten Gesetzentwurf zur Bekämpfung gefährlicher
Hunde, Drucksachen 14/4451 und 14/4920. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen der
F.D.P. und bei einigen Enthaltungen der PDS ist der Ge-
setzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge-
genprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen
die Stimmen der F.D.P. und bei Enthaltung der PDS an-
genommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussem-
pfehlung des Innenausschusses zum Antrag der Fraktion
der F.D.P. mit dem Titel „Bevölkerung wirksam vor
Kampfhunden schützen“, Drucksache 14/4919. Der Aus-
schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3785
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung?
- Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfeh-
lung ist gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen.
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des
Rechtsausschusses zu dem Antrag der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen zu einer obligatorischen Haft-
pflichtversicherung für Hunde, Drucksache 14/4916. Der
Ausschuss empfiehlt die Annahme des Antrages auf
Drucksache 14/3825 in der Ausschussfassung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da-
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor.
2) Anlage 21 3) Anlage 22
gegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({9}) zu dem Entschließungsantrag der Abge-
ordneten Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss,
Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS zu der vereinbarten Debatte
zur aktuellen Situation in Nahost
- Drucksachen 14/4398, 14/4847 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Moosbauer
Dr. Helmut Lippelt
Wolfgang Gehrcke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({10})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Günther Friedrich Nolting, Ulrich
Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten ({11})
- Drucksachen 14/4392, 14/4848 Berichterstattung:
Abgeordnete Christoph Moosbauer
Dr. Helmut Lippelt
Wolfgang Gehrcke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich bitte Sie
um Aufmerksamkeit, weil wir die Rednerfolge ein bisschen geändert haben, da auch die F.D.P. Antragstellerin
ist. Das Präsidium schlägt Ihnen daher vor, dass zuerst der
Kollege Gehrcke redet, dann der Kollege Irmer, der Kollege Moosbauer, der Kollege Hörster und schließlich für
die Bundesregierung Dr. Volmer. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der
Kollege Wolfgang Gehrcke für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Friedensprozess im Nahen Osten liegt in Trümmern. Das Leid der Opfer ist
furchtbar. Die soziale Not nimmt vor allem unter den
Palästinensern dramatisch zu. Ich frage mich, ob sich der
Nahe Osten bereits in einem neuen Krieg befindet. Wenigstens ist jener schmale Grat erreicht, jene zerbrechliche Grenze, die zwischen Nichtkrieg und Krieg liegt,
wenn sie nicht schon überschritten ist.
Wer Frieden will, muss für Frieden Einfluss nehmen.
Das fordere ich vom Deutschen Bundestag, von der Bundesregierung und von der Europäischen Union. Sich für
den Frieden im Nahen Osten einzusetzen, dazu ermuntere
ich die Zivilgesellschaft, die Öffentlichkeit, alle Initiativen und Gruppen und auch die Kirchen.
({0})
Israel hat das Recht auf sichere Grenzen und gute
Nachbarschaft zu den arabischen Staaten. Damit das
Wirklichkeit wird, muss es Frieden und Sicherheit in der
ganzen Region geben. Auch für den Nahen Osten gilt:
gleiche Sicherheit. Ohne gleiche Sicherheit hat keine
Seite Sicherheit. Anders gesagt: Es wird keinen Frieden
für Israel geben, wenn die Palästinenser nicht in Frieden
leben können. Das Recht der Palästinenser auf ihren eigenen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt ist derzeit der
wichtigste Baustein für den Frieden Israels.
In dieser Frage muss sich vor allem Israel bewegen.
Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen. Israel muss
sich bewegen, weil es alles besitzt: Boden, Wasser, wirtschaftliche und militärische Stärke. Israel besitzt auch,
was den Palästinensern und der ganzen arabischen Welt
heilig ist: den Tempelberg und Ostjerusalem.
Diese Beschreibung wird von vielen im Deutschen
Bundestag - so ist mein Eindruck aus den Debatten geteilt. Strittig ist jedoch, ob wir offen darüber reden und
auch gegenüber Israel eine solche Position einnehmen
sollen. Das wichtigste Gegenargument ist das besondere deutsch-israelische Verhältnis, wonach Deutschland
keine Forderungen an den Staat Israel stellen darf oder
stellen soll. Die deutsche Schuld an der Schoah bleibt.
Deutschland wird mit Rassenwahn und millionenfachem
Mord an Juden verbunden bleiben.
Was bedeutet das aber für unser politisches Verhalten?
Aus meiner Sicht leisten wir Israel einen schlechten
Dienst, wenn wir der Regierung und den Menschen in dieser gefährlichen Situation das verweigern, was wir ihnen
gerade geben müssen: Solidarität durch Wahrhaftigkeit.
Aus deutscher Schuld darf keine Sprachlosigkeit entstehen. Bescheidenheit ja, aber keine Sprachlosigkeit! Wir
müssen vielmehr Mitverantwortung übernehmen. Das besondere deutsch-israelische Verhältnis verlangt von uns
politische Initiativen, die dem Ernst der Lage gerecht werden. Unsere geschichtliche Schuld und unsere Mitverantwortung für die Sicherheit Israels können wir nicht auf
dem Rücken der Palästinenser abladen, indem wir zu
ihren Rechten, zu ihren Nöten und zu ihren Ansprüchen
schweigen.
({1})
Auch aus eigenem Interesse ist Israel aufgefordert, zu
den Osloer Vereinbarungen zurückzukehren. Das heißt,
Israel muss den gefährlichen und provokativen Siedlungsbau im Herzen des arabischen Lebens stoppen.
Israel muss die Bereitschaft entwickeln, über die dramatische Flüchtlingsfrage zu sprechen.
Die deutsche Politik muss die Courage aufbringen, in
diese Richtung Druck auf Israel auszuüben. Auch das sind
wir unserem besonderen Verhältnis zum Staat Israel
schuldig. Vor der Konsequenz des Druckausübens mag
man zurückschrecken. Aber Politik ist auch immer Druck
und Druck in Richtung Frieden ist vernünftig. Gerade die
Vizepräsidentin Anke Fuchs
israelische Friedensbewegung, etwa der Friedenspreisträger Uri Avnery, hat uns gebeten, zu diesem Druck auf
Israel beizutragen.
Nicht der Konflikt, sondern seine Lösung verlangt
nach Internationalisierung. Eine internationale Untersuchungskommission ist ein erster wichtiger Schritt. Hilfreich könnten darüber hinaus UN-Beobachter sein, die in
den von Israel besetzten Gebieten tätig werden. Die USA
dürfen nicht weiter UN-Initiativen zum Nahen Osten
blockieren.
Neben den USA und Russland sollte die Europäische
Union zu einem Faktor werden, der sich im Nahen Osten
aktiv um Vermittlung bemüht. Viele europäische Staaten
sind bereit, deutlicher Position zu beziehen, die Bundesregierung aber blockiert eine noch aktivere Nahostpolitik
der Europäischen Union.
Was ich hier vorgetragen habe, wird sowohl in der israelischen Friedensbewegung als auch in der palästinensischen Freiheitsbewegung akzeptiert. Es ist sowohl im
Interesse Israels als auch Palästinas, aber auch im Interesse der deutschen Politik, alles zu tun, damit sich kein
neuer Nahostkrieg ausbreitet.
Vor Weihnachten hat jeder meiner Vorredner seine
Weihnachtsbotschaft verkündet. Gestatten Sie auch einem
praktizierenden Atheisten, an die Weihnachtsverkündigung zu erinnern: Frieden auf Erden und den Menschen
ein Wohlgefallen.
({2})
Weder herrscht Friede noch können die Menschen Wohlgefallen an dem Zustand der Erde finden. Lassen Sie uns
ein Stück weit dazu beitragen, dass etwas mehr Friede
herrscht und sich etwas mehr Wohlgefallen ausbreiten
kann.
({3})
Herzlichen Dank.
({4})
Nun hat das Wort der
Kollege Ulrich Irmer, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sie waren gerade so freundlich, den Text der Rede einer Kollegin zu
Protokoll zu nehmen, die erkrankt ist. Ich muss leider bekennen, dass auch ich von einer Grippe gebeutelt werde.
Man sollte mich heute vorsichtshalber nicht einmal mit
der Zange anfassen; sonst bin ich ja recht appetitlich, aber
heute empfehle ich das niemandem.
({0})
Sollte meine Stimme versagen, mache ich das wie ein echter Liberaler, der immer seine Zweitstimme fertig in der
Tasche hat und diese dann zum Einsatz bringt.
Meine Damen und Herren! Die Situation im Nahen
Osten ist vom Kollegen Gehrcke eindrucksvoll und richtig geschildert worden. Es ist beklagenswert, dass es dort
den Scharfmachern auf beiden Seiten immer wieder gelingt, den Friedensprozess ins Stocken zu bringen und der
Gefahr des Scheiterns auszusetzen. Wir von der F.D.P.Fraktion haben vorgeschlagen, die deutsche Bundesregierung solle die Initiative zu einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten ergreifen.
Beispiel dafür ist die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die ja bekanntlich vor einem
Vierteljahrhundert dazu geführt hat, dass die Teilung Europas überwunden werden konnte, die Blöcke aufgelöst
wurden, sich nicht mehr feindlich gegenüber standen und
konstruktive Friedenslösungen gefunden werden konnten.
Als wir dies vorgeschlagen haben, ist uns der Bundesaußenminister mit zwei Einwänden entgegengetreten: Er
hat zum einen gesagt, wir hätten bereits den Prozess von
Barcelona. Allerdings ist der Prozess von Barcelona weit
davon entfernt - dies hat sich Mitte November bei der gescheiterten Außenministerkonferenz gezeigt -, irgendetwas ausrichten zu können. Er ist nicht einmal in der Lage,
sein eigentliches Ziel zu erreichen,
({1})
nämlich die Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, geschweige denn auf eine Friedenslösung
für die ganze Region zwischen Israel und Palästina hinzuwirken. Zum Zweiten hat uns der Bundesaußenminister
entgegengehalten, die Situation im Nahen Osten sei mit
der in Europa nicht zu vergleichen und deshalb solle eine
solche Konferenz nicht stattfinden.
Es ist schon dramatisch zu beobachten, wie Joseph
Fischer vom strahlenden Friedensapostel zum drögen Aktenschieber abgestürzt ist.
({2})
Er hat nichts als bürokratische Einwände und lässt jede
Vision vermissen. Leider haben mir auch die Kollegen
von der CDU/CSU im Auswärtigen Ausschuss entgegengehalten, unsere Vorschläge seien eher ein Traum und zu
visionär. Aber: wenn wir in der Politik keinen Träumen
mehr nachhängen und keine Visionen mehr entwickeln
dürften - gerade und auch in der Außenpolitik -, können
wir die Politik gleich bleiben lassen!
({3})
Alle großen Entwicklungen sind durch Vorstellungen
eingeleitet worden, die zu dem Zeitpunkt, an dem sie entwickelt wurden, eher unrealistisch wirkten. Ich fordere
die Bundesregierung auf, auf dem europäischen Gipfel in
Nizza die Gelegenheit zu nutzen, den Europäern vorzuschlagen, diese Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten einzuberufen. Es ist mit Recht gesagt worden, dass die Deutschen gegenüber Israel eine
ganz besondere Verantwortung tragen. Einer solchen Verantwortung müssen wir uns stellen und der können wir
uns am besten dadurch stellen, dass wir aktiv zu einer
Friedenslösung beitragen.
({4})
Ich habe in der Vorweihnachtszeit - Weihnachten ist ja
das Fest der Kinder - einen kleinen Traum: Die Kinder in
Israel und Palästina sollen nächstes Jahr den Frieden erleben.
({5})
Ich möchte, dass Sarah und Schimon genauso wie Amal
und Achmed den Frieden so erleben und genießen können, wie das glücklicherweise Christoph, Maria, René,
Anna und Thomas - und wie sie sonst noch alle heißen
mögen - in Europa können. In diesem Sinne: Fröhliche
Weihnachten!
({6})
Der Kollege
Christoph Moosbauer ist unerwartet verhindert und gibt
seine Rede zu Protokoll.1)
Jetzt hat das Wort der Kollege Joachim Hörster für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wenn man sich den PDS-Antrag und seine Begründung anschaut, dann muss man feststellen, dass uns dies als Vermittlungspartner im Nahostkonflikt absolut untauglich machen würde; denn dieser
Antrag ist so einseitig, dass es sich Israel von vornherein
verbeten würde, uns als Vermittler zu akzeptieren.
({0})
Darüber hinaus möchte ich festhalten, dass die Verhältnisse ein bisschen komplizierter sind, als sie in dem
Antrag dargestellt werden. Das Kernproblem für uns
Deutsche ist, eine Leitlinie zu finden, mit deren Hilfe wir
im Nahostkonflikt überhaupt vermittelnd tätig werden
können. Es gibt im Grunde genommen nur eine Leitlinie:
Erstens. Wir wollen Frieden. Zweitens. Wir wollen, dass
die Menschenrechte eingehalten werden. Die Einhaltung
der Menschenrechte gilt für beide Seiten.
({1})
Hinzu kommt, dass Israel der einzige Staat ist, der den
Maßstäben, die wir an eine Zivilgesellschaft stellen, am
nächsten kommt.
({2})
Auch dieser Gesichtspunkt ist in der Debatte zu berücksichtigen.
Ich finde, dass die Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Europäischen Union bisher eine sehr kluge und
gute Rolle im Nahostkonflikt gespielt hat. Das sage ich
ausdrücklich als Oppositionspolitiker, zumal es im Vergleich zur Nahostpolitik früherer Bundesregierungen,
wenn man genau hinschaut, keinen Bruch gibt.
({3})
Die Deutschen sind nur innerhalb des europäischen
Kontextes fähig, mäßigend auf die Verhältnisse im Nahen
Osten einzuwirken. Es finden dort Ausbrüche statt, die
mit unserem Verständnis von politischer Auseinandersetzung nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Die
Mahnung, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu befolgen, findet weder auf der einen noch auf der anderen
Seite Gehör. Dass immer gleich geschossen werden muss,
wenn sich die Gemüter erhitzen, gehört in unserer Region
- Gott sei Dank - der Vergangenheit an. Aber die dort beteiligten Parteien machen regelmäßig und rücksichtslos
von der Waffe Gebrauch, und zwar beide Seiten.
Ich sage auch als Vorsitzender der Deutsch-Arabischen
Parlamentariergruppe Folgendes ganz bewusst: Auch auf
der Seite der Steine werfenden palästinensischen Kinder
gibt es ausgesprochene Experten. Von solchen Geschossen möchte ich nicht getroffen werden.
({4})
Ich muss auch zugeben, dass die Art und Weise, wie die
Israelis gegen die Palästinenser vorgehen, durch nichts
gerechtfertigt ist und dass dadurch Menschenrechte in erheblichem Maße verletzt werden. Wer einmal neben dem
Zelt einer palästinensischen Familie gestanden hat, deren
Haus von den israelischen Militärs einfach abgerissen
worden ist, nur weil ein Mitglied dieser palästinensischen
Familie als ein der Hamas-Bewegung Angehörender
verdächtigt wird, der weiß, mit welcher Brutalität man
dort miteinander umgeht.
Lieber Herr Irmer, bei aller Sympathie für den Antrag
der Freien Demokraten: Es gibt gegenwärtig überhaupt
keinen realistischen Anknüpfungspunkt dafür, dass es zu
einer solchen Konferenz kommen könnte. Dagegen
spricht die archaische Art und Weise, wie die beiden Konfliktparteien aufeinander losgehen. Wir erleben heute,
dass der Konflikt ein Teil der israelischen Innenpolitik
hinsichtlich der Regierungsbildung, möglicher Neuwahlen und was auch immer geworden ist. Dieser Zustand
lässt kaum Spielraum, einen Ausgleich zwischen den Parteien herzustellen.
Es handelt sich dabei im Übrigen nicht um eine Frage
des Geldes. Ich möchte daran erinnern, dass allein die Europäische Union zwischen 1993 und 1998 mit 1,8 Milliarden Euro der größte Geldgeber Palästinas gewesen ist.
Wenn wir hinsichtlich der israelischen Seite feststellen,
dass sich die Parteien des Landes nicht in der Lage sehen,
auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten und sich auf eine
gemeinsame Linie im Hinblick auf mögliche Ergebnisse
des Friedensprozesses zu verständigen, dann müssen wir
genauso sehen, dass ein großer Teil der 1,8 Milliarden Euro, an denen die Bundesrepublik nicht unmaßgeblich beteiligt ist, nicht unbedingt dort ankommt, wo er
hinkommen soll.
({5})
1) Anlage 23
Um das zu belegen, brauche ich gar keine europäische
Quelle, sondern nur den Rechnungshof der Palästinensischen Autonomiebehörde zu zitieren, der der eigenen Regierung einen schlampigen Umgang mit Geld vorwirft.
Der Rechnungshof beklagt Korruption, Unterschlagung
und vieles andere mehr.
Schon Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde, die unmittelbar nebeneinander leben, haben so
viele innenpolitische Probleme, dass sie noch nicht einmal in der Lage sind, zu definieren, worüber sie miteinander letztendlich verhandeln wollen, und zwar so, dass
sich der Verhandlungspartner auf die Verhandlungslinie
des anderen verlassen kann.
Schaut man sich das arabische Umfeld an, stellt man
fest, dass die Interessen Syriens und Iraks nicht die gleichen sind. Auch die Interessen der Golfstaaten und der bevölkerungsreichen Länder der Region, zum Beispiel Jemen oder Ägypten, sind nicht identisch. Das heißt, die
arabische Welt müsste ebenfalls einmal zu einer Definition gemeinsamer Interessen kommen, damit eine solche
Konferenz überhaupt einen Gegenstand hat, über den sie
verhandeln kann.
({6})
- Herr Kollege Irmer, ich respektiere, dass Sie gesundheitlich nicht voll auf der Höhe sind. Ich verbuche diese
Bemerkung unter „lässliche Sünde“ und erteile sofort Absolution.
Wenn wir die Sache realistisch betrachten, dann erkennen wir, dass in der arabischen Welt überhaupt keine
Chance besteht, eine Grundlage zu finden, auf der man
eine solche Konferenz einberufen und solche Verhandlungen führen könnte. In der gegenwärtigen Situation
bleibt uns in der Europäischen Union daher nichts anderes übrig, als mit den vorhandenen diplomatischen Möglichkeiten durch Unterstützung der Vereinigten Staaten
und durch bilaterale, möglichst nicht auf offenem Markt
ausgetragene Gespräche auf die Parteien einzuwirken,
zunächst einmal den Ausbruch von Gewalt zurückzudrängen und wieder zu einigermaßen normalen Verhältnissen zu kommen. Wenn das geschehen ist, kann man
hoffen, dass die Beteiligten an den Verhandlungstisch
zurückkehren, weil es in der Tat keine Alternative dazu
gibt.
In diesem Zusammenhang richte ich den Appell an den
Staat Israel, der etwas Großzügigere zu sein; denn er ist in
der Region der Stärkste. Israel hat die Europäische Union
und die Vereinigten Staaten von Amerika im Rücken.
Niemand bestreitet das Existenzrecht dieses Staates und
niemand will es gefährden. Israel ist die größte Militärmacht in der Region und hat den besten Überblick. Deswegen müsste man von Israel eher ein vernünftiges
Entgegenkommen erwarten können, als dies von der zersplitterten arabischen Landschaft zu erwarten ist. Darauf
setzen wir unsere Hoffnung. Wir hoffen, dass die Bundesregierung in diesem Sinne ihre Kontakte zu den Parteien nutzt und das fortsetzt, was beim Nahostbesuch des
Bundeskanzlers praktiziert worden ist, nämlich befriedend auf die Menschen einzuwirken.
In diesem Sinne sehen wir uns nicht in der Lage, die
Anträge von PDS und F.D.P. zu unterstützen. Wir lehnen
sie beide ab.
({7})
Ich erteile das Wort
dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Ludger
Volmer.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Bundestag hat im Oktober über die Lage im Nahen
Osten debattiert, damals im Hinblick auf die Reise des
Bundeskanzlers in die Region. Die Reise ist von allen Gesprächspartnern in der Region in schwierigen Zeiten als
ein Zeichen besonderer Solidarität verstanden und begrüßt worden. Insoweit war die Reise erfolgreich. Dennoch sind die Kernforderungen des Kanzlers, nämlich ein
Ende der Gewalt und die Rückkehr an den Verhandlungstisch, bis heute nicht umgesetzt worden.
Die Situation ist nach wie vor besorgniserregend. Tage
mit relativer Ruhe wechseln sich ab mit verschärften Auseinandersetzungen. Zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung sowie die Zerstörung eines großen Teils der Infrastruktur in besetzten Gebieten lassen Beobachtern das
Ausbleiben einer Friedenslösung unerträglich erscheinen,
auch wenn sich die Sicherheitslage in jüngster Zeit und in
den letzten Tagen leicht verbessert hat und es kleine ermutigende Zeichen gibt. Es gibt zwischen Israel und Palästina erstmals wieder Gesprächskanäle und Kontakte,
beide Seiten signalisieren grundsätzlich Verhandlungsbereitschaft. Wir hoffen, dass sie in Dialog und Verhandlungen münden werden.
({0})
Israel hat in den letzten Tagen mit einer Reihe von
Maßnahmen zu einer Entspannung der Situation beigetragen und auch die palästinensische Seite hat angesichts der
großen Leiden der Bevölkerung große Geduld bewiesen.
Insgesamt wird die gegenwärtige Lage geprägt von der
innenpolitischen Unsicherheit in Israel, der zu Ende gehenden Clinton-Administration sowie internationalen
Friedensbemühungen. Wir unterstützen die engagierten
Bemühungen des US-Präsidenten, zu einer Friedenslösung beizutragen.
({1})
Elemente für eine Lösung liegen auf dem Tisch. Es ist
über alles gesprochen worden. Offen ist jedoch, wie weit
die Positionen voneinander entfernt sind. Das größte Problem ist zurzeit das mangelnde Vertrauen; denn ohne den
Willen beider Seiten des Konfliktes können weder amerikanische noch russische noch europäische Vermittler einen wesentlichen Fortschritt erreichen.
Meine Damen und Herren, zeitgleich zu unserer Debatte tagt in Nizza der Rat der Staats- und RegierungsJoachim Hörster
chefs der EU. Neben den allgemeinen Schlussfolgerungen werden die Staats- und Regierungschefs eine gesonderte Erklärung zum Nahen Osten verabschieden, in
der die Parteien angesichts des Leidens der Bevölkerungen, der Gewalt und des Hasses genau dazu, zur Rückkehr
zu Friedensverhandlungen, aufgefordert werden. Die
Staats- und Regierungschefs bieten darin die Unterstützung der EU für den Verhandlungsprozess an. Sie appellieren an die beiden politischen Führer, Premierminister
Barak und Präsident Arafat, sich persönlich stärker zu engagieren, die Abkommen von Scharm el-Scheich und
Gaza umzusetzen und konkrete Schritte einzuleiten.
({2})
Schon in der so genannten Berliner Erklärung vom
25. März 1999 haben die Staats- und Regierungschefs, damals unter der deutschen EU-Präsidentschaft, in klarer
Sprache an die Konfliktparteien formuliert, - ich zitiere -:
Die Europäische Union ruft beide Parteien nachdrücklich dazu auf, alle Handlungen zu unterlassen,
die dem Ergebnis der Verhandlungen über deren endgültigen Status vorgreifen, und jede Handlung zu unterlassen, die gegen das Völkerrecht verstößt,
einschließlich jeder Siedlungstätigkeit, sowie gegen
Aufwiegelung und Gewalt vorzugehen.
Als Schlüsselproblem taucht immer wieder die Siedlungspolitik auf. Diesen Faktor haben die EU-Außenminister auch in der Erklärung des Allgemeinen Rates vom
20. November 2000 als Ursache unter anderem für - ich
zitiere - „die Frustration ... der palästinensischen Bevölkerung“ unterstrichen. Die Bundesregierung ist besorgt,
dass mehrere VN-Sicherheitsratsresolutionen, die sich
mit dieser Frage beschäftigt haben, bis heute nicht umgesetzt sind.
Unser Appell, meine Damen und Herren, ist deshalb
ein doppelter: Die Bundesregierung fordert die israelische
Regierung auf: Stoppen Sie den Siedlungsbau! Überdenken Sie die Siedlungspolitik insgesamt!
({3})
Dies ist in Israels unmittelbarem eigenen Interesse. Ohne
einen Frieden Israels mit der palästinensischen Seite gibt
es keine friedvolle Zukunft für die junge Generation in Israel und der Region. Einseitige Maßnahmen schaffen
vollendete Tatsachen, die die Friedensverhandlungen wesentlich erschweren.
Die Bundesregierung fordert aber genauso nachdrücklich die palästinensische Führung auf: Geben Sie nicht nur
den Sicherheitskräften strikte Anweisung, für die Einstellung der Schüsse auf Israel zu sorgen - wie dies Präsident
Arafat angekündigt hat -, sondern sorgen Sie mit allen
Ihren Mitteln dafür, dass von Einzelnen keine Gewalt gegen israelische Bürger ausgeht und ausgeübt wird!
({4})
Nur eine Sicherheitsgarantie für den Staat Israel und seine
Menschen wird auch dem palästinensischen Volk ein Leben in Frieden in einem eigenen Staat sichern. Nur so besteht eine Chance, im Interesse der nächsten Generationen
den Teufelskreis von Hass und Gewalt zu durchbrechen.
Unser Ziel muss ein gerechter, umfassender und dauerhafter Frieden in der gesamten Region sein. Dazu gehört
auch ein Frieden mit Syrien und Libanon. Wir appellieren
deshalb auch an die Regierungen dieser Länder, alles zu
tun, damit der Rückzug Israels aus dem Südlibanon und
die Erfüllung der Sicherheitsratsresolution 425 als
Chance zu weiterer Deeskalation genutzt wird. Deeskalation und Gewaltverzicht sind das Gebot der Stunde. Dafür
plädieren wir.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst über die
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Entschließungsantrag der Fraktion der PDS zu der
vereinbarten Debatte zur aktuellen Situation in Nahost,
Drucksache 14/4847. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/4398 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist
die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich stelle jetzt die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P.
mit dem Titel „Für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten ({0})“, Drucksa-
che 14/4848, zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt
auf Drucksache 14/4392, den Antrag abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von PDS und F.D.P.
ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf:
25 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts - GvKostRNeuOG - Drucksache 14/3432 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 14/4913 Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Wolfgang Freiherr v. Stetten
Volker Beck ({3})
Dr. Evelyn Kenzler
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Umstellung des Kostenrechts und der Steuerberatungsgebührenverordnung auf Euro KostREuroUG - Drucksache 14/4222 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des
Rechtsausschusses ({5})
- ({6})
Berichterstattung:
Abgeordnete Alfred Hartenbach
Wolfgang Freiherr v. Stetten
Volker Beck ({7})
Dr. Evelyn Kenzler
Es ist vereinbart worden, die Reden zu Protokoll zu ge-
ben; das betrifft die Kollegen Alfred Hartenbach,
Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Helmut Wilhelm,
Rainer Funke, Dr. Evelyn Kenzler und Prof. Dr. Eckhart
Pick.1) Wir kommen damit zu den Abstimmungen. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts, Drucksachen 14/3432 und 14/4913. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS ist der Gesetzentwurf damit in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Gegen die Fraktionen
von F.D.P. und PDS ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen.
Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umstellung des Kostenrechts und der Steuerberatergebührenverordnung auf
Euro, Drucksachen 14/4222 und 14/4908. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
dritter Beratung einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg von
Essen, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der
F.D.P.
Ende der doppelten Benachteiligung für die
Rechtsanwälte in den neuen Ländern
- Drucksache 14/3485 Überweisungsvorschlag:
Rechtsaussschuss ({8})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre kei-
nen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Ihre Reden zu Protokoll
gegeben haben die Kollegen Alfred Hartenbach, Staatsse-
kretär Dr. Eckhart Pick und Dr. Evelyn Kenzler, sodass
noch drei Redner übrig bleiben.2) Als Erstem übergebe ich
dem Kollegen Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung
fehlt mir ein wenig der Glaube daran, dass die Bundesregierung bereit ist, die Wiedervereinigung auch im beruflichen Alltag der Justiz durchzusetzen.
({0})
Wie kann es denn sonst sein, dass der Rechtsanwalt oder
Notar, der im Ostteil Berlins oder in den neuen Bundesländern ein Mandat annimmt, noch einen Abschlag der
Gebühren in Höhe von 10 Prozent hinnehmen muss, obwohl er doch regelmäßig weit niedrigere Gegenstandswerte als seine Kollegen im Westen hat?
({1})
Seit Mai 1999 gelten bei der Deutschen Bahn in Ost
und West die gleichen Preise. Die Kosten für Telefon,
Porto und Kfz sind in Ost und West ebenfalls gleich hoch.
Die Kosten für Versicherung, Bewirtschaftung und Büromiete liegen zum Teil über dem Westniveau.
({2})
Ist da eigentlich die Rechtspflege eine Ausnahme?
1996 hat das Justizministerium den Abschlag von
20 Prozent auf 10 Prozent gesenkt. Es ist jetzt an der Zeit,
ihn gänzlich verschwinden zu lassen.
({3})
Dabei liegt es letztlich allein in der Hand der Justizministerin, ob sie dieser Bestrafung für die Anwälte der neuen
Bundesländer und teilweise auch Berlins ein Ende setzen
will.
({4})
Herr Staatssekretär, geben Sie sich einen Ruck und beenden Sie diese doppelte Benachteiligung für Rechtsanwälte, Notare und letztlich die gesamte Justiz. Die Kollegen im Osten arbeiten nämlich genauso gut wie ihre
Kollegen in den alten Bundesländern.
({5})
Bei den Architekten und Ingenieuren hat man bereits 1993
die notwendigen Konsequenzen gezogen und ihnen die
gleichen Gebühren nach der HOAI zugebilligt. Warum
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 24 2) Anlage 25
soll das nicht auch für die Rechtsanwälte und Notare gelten?
({6})
Lassen Sie mich abschließend auf einen Sonderfall zu
sprechen kommen, nämlich auf den Sonderfall Berlin.
Wie der Regierende Bürgermeister Berlins - bei dem ich
immer noch die Hoffnung habe, dass er wieder ein eigenständiges Justizressort einführt ({7})
bereits auf dem Anwaltstag 2000 ausgeführt hat, ist der
Abschlag in Berlin nicht nur unsinnig, sondern offensichtlich auch widersprüchlich.
({8})
Im Ostteil der Stadt ist die Arbeitslosigkeit geringer als im
Westen. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist
in manchen Stadtteilen im Osten höher als in denen des
Westens. Wie kann man da noch guten Gewissens an dem
Abschlag festhalten? Auch die Justizministerkonferenz
hat daher vollkommen zu Recht auf ihrer jüngsten Tagung
Berlin darin unterstützt, den Abschlag abzuschaffen, und
zwar mit einem Abstimmungsergebnis von 16 : 0; es bedeutet schon etwas, wenn sich die Länder so einheitlich
verhalten.
Die Behauptung, dass man den Abschlag nur im Einklang mit den neuen Bundesländern abschaffen könne, ist
falsch. So bedarf es doch weder einer Zustimmung des
Bundesrates noch eines sonstigen Votums der neuen Länder, geschweige denn eines Gesetzes. Thüringen zum Beispiel aber hält, wie mir vom Bundesjustizministerium
mitgeteilt wurde, eine rasche Aufhebung des Gebührenabschlags für unumgänglich. Schließlich besteht dieses
Votum für Berlin nunmehr aufgrund der Beschlüsse des
Bundesrates einstimmig.
Es liegt also allein an der Bundesjustizministerin, mit
der heutigen Debatte, die die letzte des Bundestages vor
dem Weihnachtsfest ist, die Bereitschaft zu zeigen, die
Anwälte und Notare in Ost und West gleich zu behandeln.
({9})
- Nein, ich habe nur darauf hingewiesen, dass wir die
Letzten aus dem Rechtsausschuss sind, die in dieser Debatte noch reden, und dass es jetzt bei der Justizministerin liegt, die Arbeit der Notare in Ost und West gleich zu
behandeln.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat nun der
Kollege Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Debatte dieses Jahrtausends - denn
nach richtiger Rechnung geht das zweite Jahrtausend erst
in diesem Monat zu Ende - geht es wieder einmal um
Geld und letztendlich um die Beseitigung der Folgen der
deutschen Vereinigung.
({0})
- Gut, der Teilung und dann der Vereinigung.
Ich verheimliche nicht meine klammheimliche Freude
darüber, dass ein solcher Antrag gestellt wird. Denn dies
gibt mir Gelegenheit, meine grundsätzliche Sympathie
dafür zum Ausdruck zu bringen. Ich selber bin ja Rechtsanwalt. Sie wollen die Gebühren für Rechtsanwälte in der
Bundesrepublik Deutschland, vor allen Dingen in Berlin,
erhöhen. Dagegen kann ein Rechtsanwalt eigentlich
nichts haben.
Auch die Gründe, die Sie genannt haben und die auf
der Hand liegen, sind richtig:
({1})
Die Kosten sind ganz erheblich gestiegen. Die durchschnittlichen Einnahmen von Rechtsanwälten in der Bundesrepublik, vor allen Dingen in Ostdeutschland, sind gefallen. Sie haben ja die Zahlen von 1996 und 1997
miteinander verglichen. 1998 war die Tendenz ähnlich.
Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sehr viel
mehr Anwälte tätig sind, wie das auch bei den Ärzten der
Fall ist. Die Anwälte bekommen zudem ihr Honorar nach
sehr viel geringeren Streitwerten. Denn die Streitwerte in
Ostdeutschland sind geringer, weil die Löhne und Mieten
meist niedriger sind als in Westdeutschland. Also bekommen wiederum die Anwälte weniger.
Das alles ist sehr zu Herzen gehend und sehr ernst zu
nehmen. Wenn ich mit den Kolleginnen und Kollegen
spreche, dann sagen sie natürlich: Jetzt tu doch endlich
einmal etwas im Deutschen Bundestag, damit die gesetzlichen Gebühren den Lebensverhältnissen angepasst werden. Alles d’accord! Ich habe dafür große Sympathie.
Nur, der Partei der angeblichen Gerechtigkeit sage ich:
Sie müssen berücksichtigen - das kommt in Ihrem Antrag
nicht vor -, dass Sie das Geld anderer Leute ausgeben
wollen.
({2})
Sie wollen letztlich das Geld der Mandanten ausgeben.
Denn die müssen das nachher bezahlen. Solange die Menschen in den östlichen Bundesländern weniger verdienen
und solange der Lohn vieler - auch der im öffentlichen
Dienst tätigen Menschen - mit einem Abschlag versehen
ist, so lange ist überhaupt nicht zu vermitteln, dass ausgerechnet bei den Rechtsanwälten eine Ausnahme gemacht
wird.
({3})
Nur deshalb - alle übrigen Gründe der Kolleginnen und
Kollegen sind richtig - ist es ungerecht, wenn wir die
Gebühren erhöhen. Solange wir es nicht schaffen, das Niveau der Einkommen, vor allen Dingen das im öffentlichen Dienst, anzugleichen - es ist natürlich zu fragen,
warum wir das nicht schaffen; Sie haben dazu gestern
Anträge eingebracht; wir haben versucht, da etwas zu ändern -, so lange gäbe es eine Gerechtigkeitslücke und so
lange können wir die Anwälte nicht bevorzugen. Das sage
ich, obwohl ich selber davon betroffen bin.
Dazu noch eine Ausnahme: das Land Berlin. Den Beschluss der Justizministerkonferenz, den Sie hier genannt
haben, haben Sie zutreffend wiedergegeben. Er ist einstimmig gefasst worden. Nur, in Berlin - Sie haben vergessen, das zu erwähnen - ist die Angleichung der Löhne,
vor allen Dingen die der Einkommen im öffentlichen
Dienst, weitgehend umgesetzt. Deshalb besteht in Berlin
eine Sondersituation. Wenn die Justizminister nun gesagt
haben, in Berlin sei es gerechtfertigt, dass die Gebühren
verändert werden und in Ost und West gesetzlich gleich
sein sollten, dann hat das diesen Grund und spricht eher
dagegen, das im Rest der östlichen Bundesländer genauso
zu machen. Denn genau diese Voraussetzung ist dort nicht
gegeben.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kollege. Das ist die letzte Zwischenfrage in diesem Jahrtausend.
Das weiß man noch nicht,
da vermutlich noch ein Vertreter des Ministeriums sprechen wird. Vermutlich kommen noch viele Zwischenfragen.
Nein, diese Rede
wurde zu Protokoll gegeben.
Herr Kollege, da Sie die
unterschiedlichen Einkommen in Ost und West beklagen
- in diesem Punkt stimme ich Ihnen zu -, möchte ich Sie
fragen, warum Sie persönlich gegen den Antrag der F.D.P.
gestimmt haben, zum Beispiel die Bundeswehrangehörigen in Ost und West gleich zu besolden.
({0})
Die Antwort ist ganz einfach. Natürlich würde ich
einem solchen Antrag - so wie jeder andere Abgeordnete - gerne zustimmen, erst recht jetzt vor Weihnachten,
aber auch schon vor einem halben Jahr. Die Frage ist aber:
Woher nehmen wir das Geld dafür? Solange wir einen
strapazierten Bundeshaushalt haben, weil alte Schulden
beglichen werden müssen, kann meinem Herzenswunsch
und dem aller
({0})
Kolleginnen und Kollegen nicht nachgekommen werden,
die Gehälter der Beamten anzugleichen.
({1})
Ihr Antrag ist im Prinzip richtig. Aber er wurde zur Unzeit
gestellt, weil die Finanzierung im Augenblick nicht sichergestellt ist.
({2})
- Sie haben jetzt das Geld nötig. Aber man muss sich fragen, woher das Geld kommen soll. Darüber können wir
uns - wir haben das bereits gestern getan - weiterhin unterhalten.
Ich plädiere dafür, gegen Ihren Antrag zu stimmen,
weil ich der Meinung bin, dass Rechtsanwälte und
Rechtsanwältinnen nicht wollen können, dass eine solche
Gerechtigkeitslücke geschaffen wird.
Nun verabschiede auch ich mich und wünsche Ihnen
allen - wiederum entgegen meinen Berufsinteressen - ein
möglichst streitarmes Weihnachten, ein möglichst rechtsstreitarmes Weihnachten, ein möglichst streitarmes nächstes Jahr, ein möglichst rechtsstreitarmes nächstes Jahr,
nämlich ein friedliches Weihnachten und ein friedliches
neues Jahr.
({3})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Andrea Voßhoff von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag der
F.D.P. behandeln wir wieder einmal das Thema „Aufhebung der zehnprozentigen Gebührenermäßigung für
Anwaltsgebühren, aber auch anderer Kostengesetze in
den neuen Ländern“.
Worum geht es konkret? Gemäß Anlage I des Einigungsvertrages ist bei den Gebühren nach der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung, aber auch nach anderen
Kostengesetzen für das Gebiet der neuen Länder ein Abschlag vorzunehmen. Dieser belief sich zunächst auf
20 Prozent. Der Kollege Funke hat bereits darauf hingewiesen, dass dieser im Jahre 1996 auf 10 Prozent reduziert
wurde.
Das Ergebnis ist: Für anwaltliche und notarielle, aber
auch für andere justizielle Leistungen wird im Gebiet der
neuen Länder gegenwärtig eine Gebühr von 90 Prozent
der Gebühr nach der westdeutschen Regelung erhoben.
Diese Gebühr will die F.D.P. nun auf 100 Prozent angleichen.
Bereits im vergangenen Jahr - übrigens auch im Dezember - stand die Frage schon einmal auf der Tagesordnung dieses Hohen Hauses, im Zusammenhang mit der
Novellierung des § 78 ZPO.
({0})
Soweit ich den Protokollen entnehmen konnte, waren sich
bereits im vergangenen Jahr fast alle Redner - nicht alle,
Herr Ströbele hat dies gerade erwähnt - zu diesem Thema
einig, dass eine Angleichung der Gebühren in Ostdeutschland an das in Westdeutschland geltende Niveau wünschens- und erstrebenswert ist. Ich darf aus der damaligen
Debatte den Staatssekretär Pick zitieren, der für das Anliegen großes Verständnis signalisierte und für die
Bundesregierung erklärte, alle Bestrebungen zu unterstützen, die zur Herstellung gleicher Lebensbedingungen
führen.
({1})
Mit dem Hinweis auf die noch nicht vorhandenen gleichen Lebens- und Einkommensverhältnisse in den neuen
Ländern konnte die Bundesregierung im vergangenen
Jahr dem Vorhaben nicht zustimmen. Ein halbes Jahr später, am 2. Juni 2000, hat die Bundesjustizministerin in ihrer Begrüßungsrede beim 51. Deutschen Anwaltstag in
Berlin die Forderung nach Aufhebung des zehnprozentigen Ostabschlags dem Grunde nach immer noch für richtig gehalten. Sie verwies aber nach wie vor ebenfalls darauf, dass die für die Abschaffung des bestehenden
Abschlags erforderliche Angleichung der Lebensverhältnisse noch nicht vorliege.
Wieder ist ein halbes Jahr vergangen. Mit nahezu vorweihnachtlicher Spannung harren wir schon jetzt der Position, die die Bundesregierung in dieser Frage heute vertreten wird. Zumindest werden wir sie im Protokoll
nachlesen können. Wir können ahnen, dass sich diese Position wahrscheinlich wieder an der Kernfrage orientiert,
die mit diesem Antrag verbunden ist, nämlich die Frage
nach dem Stand der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West.
Unabhängig von der konkreten Detailforderung der
F.D.P. gilt: Diese Kernforderung, nämlich die Angleichung der Einkommensverhältnisse in Ost und West, ist
von grundsätzlicher Bedeutung; denn sie ist der Dreh- und
Angelpunkt des Aufbaus Ost.
({2})
Umso bedauerlicher ist es, dass dieser Tagesordnungspunkt Schlusspunkt der heutigen Debatte und damit wohl
auch Schlusspunkt der Debatte im Jahr 2000 ist. Das zeigt
wieder einmal - wenn auch in kleinen Nuancen -, welchen Stellenwert die rot-grüne Regierungsmehrheit der
Entwicklung in den neuen Länder zubilligt.
({3})
Etwas zur Chefsache zu erklären heißt für diese Regierung eben noch lange nicht, es auch als solche zu behandeln.
({4})
Zur konkreten Forderung des F.D.P.-Antrages möchte
ich eines unmissverständlich zum Ausdruck bringen: Ich
halte die perspektivische Angleichung der Gebühren dem
Grunde nach für richtig und geboten.
({5})
Angesichts der Tatsache, dass im Jahre 1996 der Gebührenabschlag von 20 auf 10 Prozent reduziert wurde,
liegt die Diskussion um die Streichung auch dieses letzten
Abschlags heute, vier Jahre später, natürlich nahe.
Ich kann die Argumente der betroffenen Standesvertretungen für die Abschaffung des Abschlags nachvollziehen. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass bereits geringere Streitwerte, wie wir sie auch in den neuen
Ländern vorfinden, die Höhe der Gebühren nach unten regulieren. Betriebliche Kostenquoten in den Kanzleien von
bis zu 70 Prozent belasten zusätzlich.
({6})
Der im vergangenen Jahr bei der Postulationsfähigkeit
in Richtung Rechtsangleichung beschrittene Weg ist konsequent fortzusetzen.
({7})
- Hören Sie doch bitte bis zum Ende zu, bevor Sie kritisieren. - Die Frage ist allerdings, ob die Streichung auch
des letzten Abschlags, wie von der F.D.P. gewünscht, zum
jetzigen Zeitpunkt realisierbar ist.
({8})
Deshalb müssen wir uns auch mit folgender Frage auseinander setzen: Gestalten Sich die Einkommensverhältnisse der Menschen in den neuen Ländern mittlerweile so,
dass die Abschaffung des Gebührenabschlags Ost vertretbar ist?
Nach einer Recherche der brandenburgischen Landesregierung liegt das allgemeine Einkommensniveau unter
Einbeziehung der hohen Erwerbslosenquote in den neuen
Ländern im Vergleich zum alten Bundesgebiet bei etwa
70 Prozent.
Wie dem Jahresbericht 2000 der Bundesregierung
zum Stand der deutschen Einheit zu entnehmen ist, hat
sich die Angleichung der Löhne und Gehälter in letzter
Zeit deutlich verlangsamt. Mittlerweile wurde ein durchschnittliches Tarifniveau von 91 Prozent der Westentgelte
erreicht. Während in der Druckindustrie und bei den Banken die Tarife teilweise bei 100 Prozent der Westtarife liegen, sind zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe
nur rund drei Viertel des Westtarifs erreicht.
Auch nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes
liegen die Einkommensverhältnisse der Menschen im
Osten regelmäßig und teilweise deutlich unter den Einkommensverhältnissen der Menschen in den alten Bundesländern. Am besten schneidet danach das Versicherungsgewerbe ab. Der Bruttomonatsverdienst eines ostdeutschen Angestellten liegt hier bei 86,35 Prozent des
Verdienstes seines westdeutschen Kollegen. Es folgt der
Einzelhandel mit einem Verhältnis von Ost zu West von
circa 80 Prozent, sodann das Kreditgewerbe mit circa
77 Prozent, das produzierende Gewerbe mit circa 74 Prozent und der Großhandel mit circa 72 Prozent. Schlusslicht bildet nach den aktuellen Zahlen des Statistischen
Bundesamtes das Handwerk. Hier liegen die Vergleichswerte durchgängig unter 70 Prozent. Angesichts dieser
Zahlen wird man nicht guten Gewissens von einer
Angleichung der Einkommensverhältnisse dieser Berufsgruppen sprechen können.
({9})
Es bestehen noch weitere Unterschiede: Die Besoldung für Richter und Beamte im Osten beträgt gegenwärtig 86,5 Prozent des Westniveaus. Sie wird allerdings
rückwirkend ab August dieses Jahres auf 87 Prozent, ab
Januar 2001 auf 88,5 und ab Januar 2002 auf 90 Prozent
angehoben.
Schließlich noch zu dem in den neuen Ländern niedergelassenen Arzt: Die von den ostdeutschen kassenärztlichen Vereinigungen ausgehandelten Gesamtvergütungen
für die Behandlung von Kassenpatienten fallen regelmäßig geringer aus als diejenigen im Westen. Im Ergebnis verdient der ostdeutsche Arzt durchschnittlich 80 Prozent dessen, was der westdeutsche Kollege verdient.
Angesichts der Tatsache, dass sich die Einkommensverhältnisse im Osten denjenigen im Westen bisher nicht
wirklich angeglichen haben, sehe ich zwar dem Grunde
nach Konsens hinsichtlich der Forderung nach einer Gebührenangleichung, bei der zeitlichen Umsetzung jedoch
noch erheblichen Diskussionsbedarf, und zwar in beide
Richtungen.
Natürlich beeinflusst das geringe Einkommen in bestimmten Verfahren auch die Streitwerte und damit die
Gebühren der Anwälte. Es reduziert auch die Bereitschaft
in der Bevölkerung, juristische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Frau Kollegin Voßhoff, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Funke?
Bitte schön, Herr Kollege.
Frau Kollegin, sind Sie der
Auffassung, dass wir beispielsweise für das Emsland die
Gebührenordnung für Anwälte nach unten hin angleichen
müssen, weil dort das Durchschnittseinkommen geringer
ist als zum Beispiel in Hamburg?
Herr Funke, dies ist
nicht vergleichbar. Sie können die strukturschwachen und
strukturstarken Regionen innerhalb der alten Länder nicht
zum Maßstab nehmen. Wir machen auch innerhalb der
neuen Bundesländer keine Unterschiede.
({0})
Mit welchen Belastungen haben aber Privathaushalte
zu rechnen, wenn Gebührenanpassungen - zumindest im
anwaltlichen Bereich - zu 90 Prozent den privatrechtlichen Bereich betreffen?
Die Konferenz der Justizminister der ostdeutschen
Länder vom Oktober dieses Jahres sowie die Konferenz
der Justizminister aller deutschen Bundesländer vom November halten die Erhöhung der anwaltlichen Gebühren
für das Gebiet aller neuen Länder - bis auf Berlin; Sie haben es erwähnt - gegenwärtig mehrheitlich nicht für realisierbar.
({1})
Über diese Bedenken können wir uns nicht ohne weiteres hinwegsetzen. Ich sehe deshalb in den Argumentationen und den Diskussionen in den Ausschüssen eine
Möglichkeit und eine entsprechende Notwendigkeit, dass
wir uns intensiver mit diesem Thema beschäftigen,
bedingt auch durch die Zahlen, die ich gerade genannt
habe -, auch hinsichtlich der Auswirkungen einer Erhöhung.
Eines dürfte klar sein: Wir bewegen uns mit dem Antrag der F.D.P. in einem Spannungsfeld zwischen dem
Wünschbaren und - da stimme ich Ihnen, Herr Funke,
hundertprozentig zu - Notwendigen auf der einen Seite
und dem Machbaren auf der anderen Seite.
Klar ist aber auch, dass eine Angleichung nicht auf den
Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden darf und für
die Betroffenen mit einer klaren, vielleicht zeitlich strukturierten Perspektive versehen werden muss.
Ich darf mich den Wünschen meiner Vorredner anschließen und Ihnen angenehme Feiertage wünschen.
Vielen Dank.
({2})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3485 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um in Ihrer aller
Namen den Saaldienerinnen und Saaldienern am Ende
des Jahres für ihre Arbeit für uns alle sehr herzlich zu danken.
({0})
Ihnen allen wünsche ich ein friedvolles und fröhliches Weihnachtsfest und einen gelungenen Start in das
Jahr 2001.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 17. Januar 2001, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.