Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/8/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bekämpfung des politischen Extremismus, ganz gleich, ob von rechts oder von links, ganz gleich, aus welchen ideologischen Quellen er gespeist wird, ({0}) die Bekämpfung von Gewalt und Extremismus in jeder Form hat für meine Fraktion höchste Priorität. ({1}) Die Erfahrungen der vergangenen Tage zeigen, dass wir neben dem Aufstand der Anständigen vor allen Dingen die Vernunft der Zuständigen brauchen. ({2}) Vorschnelle Festlegungen oder gar Vorverurteilungen können den Blick auf die Realität verstellen und die Suche nach den wahren Tätern erschweren und damit ungewollt jene Kräfte stärken, die nun fälschlicherweise behaupten könnten, dass von ihnen - entgegen anders lautenden Behauptungen - in Wahrheit keine Gefahr ausgehe. ({3}) Politischer Extremismus ist eine Kampfansage gegen unsere verfassungsmäßige Ordnung und eine zentrale Herausforderung für die wehrhafte Demokratie. Gerade aus den bitteren Erfahrungen der Weimarer Republik wissen wir, wie wichtig es ist, dass eine Demokratie ihren Feinden entschlossen entgegentritt, nicht nur mit Worten, Demonstrationen und Lichterketten, sondern auch mit Taten. Der demokratische Verfassungsstaat ist den potenziellen Opfern politisch motivierter Gewalt, aber auch sich selber ein Höchstmaß an Schutz schuldig. Die NPD des Jahres 2000 ist nicht mehr die Altherrenriege der 60er-Jahre. Sie hat zwar einen großen Teil ihrer Mitglieder seit jener Zeit verloren; gleichzeitig ist sie aber noch extremer, noch radikaler und noch gewaltbereiter geworden. Die Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus ist unübersehbar und umfänglich dokumentiert. So hat zum Beispiel die Jugendorganisation der NPD zum Teil wörtlich das 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920 übernommen. Dr. Michael Bürsch Schon seit Jahren wird systematisch eine Radikalisierung der NPD in Richtung Neonationalsozialismus betrieben. In dem einschlägigen „NS-Kampfruf“ heißt es unter anderem wörtlich: Eines Tages werden diese Politbonzen ihrer absolut notwendigen Beseitigung hinzugeführt werden! Für das System keinen Millimeter Boden, sondern 9 Millimeter. Wenn aus den Reihen der NPD gefordert wird, man müsse die „Kanaken abknallen“ und auch „mit Ausländern verheiratete Deutsche müssten dieses Schicksal erleiden“, oder wenn der Pressesprecher der Jungen Nationaldemokraten wörtlich sagt: Dieses verjudete Bonner System ..., manchmal denke ich mir, eines Tages stehe ich früh auf, ziehe meine schwarze Uniform an, und dann ist es so, als ob nichts gewesen ist, und gehe nach Dachau ... dann kann eine wehrhafte Demokratie nicht alleine mit dem Hinweis reagieren, man müsse die NPD nicht mit einem Verbot, sondern mit dem Stimmzettel bekämpfen. ({4}) Angesichts der Umstände, dass die politischen Ziele der NPD mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik in keiner Weise vereinbar sind, dass sie antisemitisch, rassistisch und fremdenfeindlich ist, dass sie den Parlamentarismus als Grundvoraussetzung unserer Demokratie in Frage stellt, dass sie in einem hohen Maße für ein geistiges Klima verantwortlich ist, das den Boden für gewaltsame Übergriffe von Rechtsextremisten auf Ausländer und andere Minderheiten in Deutschland schafft, und dass sie darüber hinaus zur Durchsetzung ihrer politischen Ideologie nicht nur Gewalt propagiert, sondern auch Gewalttätern eine politische Heimat bietet und sie logistisch unterstützt, ist ein Antrag auf Verbot dieser Partei nicht nur rechtlich möglich, sondern auch politisch geboten. ({5}) - Jetzt hoffe ich, dass Sie ebenfalls kräftig applaudieren. - Dies alles wissen wir aufgrund des umfangreichen Tatsachenmaterials, das uns in erster Linie die Verfassungsschutzbehörden der Länder übermittelt haben. Nicht wenige von denen, die sich in ihrer Argumentation heute auf die Informationen der Verfassungsschutzämter berufen, haben in den vergangenen Jahren wenig dazu beigetragen, die Arbeitsfähigkeit dieser wichtigen Behörden zu verbessern. ({6}) Im Gegenteil: So hat es beispielsweise in einem großen norddeutschen Flächenstaat unter einem Ministerpräsidenten, der heute Bundeskanzler ist, eine Stellenreduzierung des Landesamtes für Verfassungsschutz um 40 Prozent gegeben. Andere Mitglieder der Regierungskoalition haben sogar die Abschaffung des Verfassungsschutzes gefordert. Wer unsere Demokratie stärken will, die freiheitlichste, die es auf deutschem Boden je gab, darf die Verfassungsschutzbehörden nicht ausdünnen, sondern muss sie personell und organisatorisch stärken und ihre Arbeit auch politisch wollen und unterstützen. ({7}) Nach sorgfältiger Auswertung aller zur Verfügung stehenden Tatsachen und nach verfassungsrechtlicher Prüfung sind sowohl die Bundesregierung als auch der Bundesrat zu der Überzeugung gelangt, dass ein Antrag auf Verbot der NPD aufgrund der Verfassungsfeindlichkeit der Partei und wegen ihrer aggressiv-kämpferischen Haltung zur Abwehr von Gefahren für unser Land und zum Schutz potenzieller Opfer ideologisch motivierter Gewalt dringend geboten ist und vor dem Bundesverfassungsgericht auch Erfolg haben wird. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir es, dass die Bundesregierung nach zunächst flächendeckend verkündeter Ablehnung dann doch noch den Vorschlag des bayerischen Innenministers Günther Beckstein aufgegriffen hat, die NPD verbieten zu lassen, und dass sie neben dem Bundesrat ebenfalls einen Verbotsantrag stellen wird. Aber: Das Begehren der Koalitionsfraktionen, der Deutsche Bundestag solle neben der Bundesregierung und dem Bundesrat als dritte Prozesspartei vor dem Bundesverfassungsgericht einen eigenen Antrag auf Verbot der NPD stellen, ist weder rechtlich geboten noch politisch sinnvoll. ({8}) - Er hat vor dem Innenausschuss des Deutschen Bundestags dem ausdrücklich zugestimmt. ({9}) Für ein Parteiverbotsverfahren ist es ausreichend, wenn entweder die Bundesregierung oder der Bundesrat einen Antrag stellt. Im konkreten Fall haben sich bereits Bundesregierung und Bundesrat entschlossen, jeweils einen eigenen Antrag zu stellen, sodass schon seit geraumer Zeit feststeht, dass das Bundesverfassungsgericht demnächst mit der ihm eigenen Gründlichkeit sachlich und rechtlich die Verbotsanträge prüfen wird. Dafür bedarf es eines Antrages durch den Deutschen Bundestag nicht. Die Stellung eines Antrages auf Verbot einer verfassungswidrigen Partei ist eine klassische Aufgabe der Exekutive. ({10}) Dies dürfte auch der Grund dafür sein, warum es für den Antrag der Koalitionsfraktionen in der gesamten 55-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kein Vorbild gibt. ({11}) Beim Verbotsverfahren gegen die SRP und die KPD war die Bundesregierung alleinige Antragstellerin. Erst vor wenigen Jahren wurden der Antrag gegen die Nationale Liste nicht von der Hamburgischen Bürgerschaft, sondern vom Hamburger Senat und der Antrag gegen die FAP von der Bundesregierung und dem Bundesrat gestellt. Dies geschah aus gutem Grund: Alleine die Regierungen des Bundes und der Länder kennen das gesamte Tatsachenmaterial, mit dem die Verbotsanträge begründet werden sollen. Sie alleine kennen die Beweise und deren Beweiskraft. Nur derjenige, der alle Tatsachen und alle Beweismittel sowie deren Beweiswert kennt, ist in der Lage, unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten die entscheidenden Fragen zu beantworten, ob ein Parteiverbotsverfahren geboten ist und ob ein Antrag auf Verbot einer Partei hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Dieser Ansicht ist im Übrigen auch der Kollege Özdemir, der zutreffend darauf hingewiesen hat, der Bundestag solle keinen eigenen Antrag stellen, weil er kein Beweiserhebungsverfahren durchführen könne. Nun sind wir einmal gespannt, ob er dies auch nach seiner Einbindung in die Koalitionsdisziplin von diesem Pult aus wiederholt. ({12}) Außerdem sei der Hinweis erlaubt, dass sich das Bundesverfassungsgericht sicherlich nicht von der Zahl der Antragsteller, sondern ausschließlich von der Überzeugungskraft der Tatsachen und dem Beweiswert der angebotenen Beweismittel beeindrucken lassen wird. ({13}) Wir sollten vor dem Bundesverfassungsgericht schon den Eindruck vermeiden, als wollten wir durch eine ganze Phalanx von Antragstellern möglicherweise fehlendes Gewicht von Argumenten kompensieren oder gar das Gericht unter Druck setzen. ({14}) Gegen das Parteiverbotsverfahren wurde eingewandt, die NPD müsse nicht juristisch, sondern stattdessen politisch bekämpft werden. Diese Argumentation übersieht jedoch, dass auch eine als verfassungswidrig anerkannte Partei im öffentlichen Leben so lange als verfassungsgemäß behandelt werden muss, wie sie nicht verboten ist. Jede nicht verbotene politische Partei, ganz gleich, ob sie verfassungsfeindliche Ziele verfolgt oder nicht, hat grundsätzlich Anspruch auf staatliche Parteienfinanzierung. Sie hat darüber hinaus auch Anspruch auf staatliche oder öffentlich-rechtliche Leistungen, von der Zuteilung von Sendezeiten im öffentlichen Rundfunk bis hin zur Bereitstellung von öffentlichen Räumen für Wahlveranstaltungen. Die „Bekämpfung der NPD“ durch die Gewährung staatlicher Mittel oder durch die Zur-VerfügungStellung kostenloser Sendezeiten dürfte keine Aussicht auf Erfolg haben. Würden Bundesregierung und Bundesrat keinen Antrag stellen, hätte dies schließlich zur Folge, dass von Staats wegen ein verfassungswidriger Zustand nicht nur geduldet, sondern durch positives staatliches Handeln auch noch gefördert würde und nach geltender Rechtslage auch gefördert werden müsste - ein nicht nur in sich widersprüchliches, sondern ein von den Müttern und Vätern der Verfassung ganz sicher nicht gewolltes Ergebnis. Gelegentlich wird auch dahin gehend argumentiert, dass ein Parteiverbotsverfahren die politische Auseinandersetzung mit der NPD und ihrer Ideologie nicht ersetzen könne. Karlsruhe könne nur eine Partei, nicht aber eine rechtsextreme Ideologie verbieten oder deren Anhänger zur Untätigkeit verurteilen. Auch diese Argumentation ist ebenso selbstverständlich wie nicht überzeugend. Richtig ist, dass durch die Einleitung des Verbotsverfahrens die politische Auseinandersetzung mit der NPD und anderen links- und rechtsextremen Gruppierungen und Ideologien nicht in den Hintergrund treten darf. ({15}) Auch die NPD müssen wir nach wie vor - wie alle anderen Extremisten auch - politisch bekämpfen. Vor allen Dingen müssen wir uns mit den Gründen von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewaltbereitschaft beschäftigen. Für eine erfolgreiche Bekämpfung von politischem Extremismus und Gewalt brauchen wir eine vernünftige Kombination von sozialer Prävention einerseits und staatlicher Repression andererseits. Wir brauchen Hilfsangebote, vor allem für gefährdete Kinder und Jugendliche; viele - gerade aus der rechtsextremistischen Gewaltszene - sind noch sehr jung. Gleichzeitig brauchen wir aber auch eine schnelle und konsequente staatliche Reaktion auf Straftaten. Gut 75 Prozent der rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen Gewalttäter sind jünger als 21 Jahre. Schon diese Zahl verdeutlicht, welch wichtige Funktion neben der Erziehung auch dem Jugendstrafrecht bei der Bekämpfung des Extremismus zukommt. Wir alle wissen, dass eine schnelle Reaktion der Gerichte auf Jugendliche oftmals mehr Eindruck macht als eine harte Strafe. Wenn der Bundesinnenminister in diesen Tagen gesagt hat, wir bräuchten ein Aussteigerprogramm für jene Anhänger der rechten Szene, die sich aus dem Milieu lösen wollen, hat er Recht. Dann müssen wir im Parlament auch darüber nachdenken, ob es richtig war, die Möglichkeit zu beseitigen, Zeugen, die gleichzeitig Straftaten begangen haben, durch eine Kronzeugenregelung - wie immer man sie ausgestalten mag - aus der Szene herauszuholen. ({16}) Wir brauchen neben dem Aussteigerprogramm auch eine Kronzeugenregelung. Bitte verweigern Sie sich nicht dieser Diskussion. Natürlich gibt es im Milieu auch Fälle, bei denen Hopfen und Malz verloren ist. Das gilt aber nicht für alle, die sich in diesem Milieu bewegen, und das belegen jene Aussteiger, die es bereits geschafft haben, die schiefe Bahn zu verlassen. Für solche Menschen müssen wir Hilfsangebote haben. Vor allen Dingen brauchen wir eine Kultur der Toleranz, der Akzeptanz desjenigen, der anders ist. Wir brauchen eine Stärkung der Erziehungskraft sowohl der Familien als auch der Schulen, wohl wissend, dass Schule nicht die Reparaturwerkstatt für Versäumnisse in Familie, Gesellschaft und Politik sein kann. ({17}) Die NPD propagiert den Kampf um die Köpfe, die Parlamente und die Straße. Deshalb dürfen wir Neonazis und anderen Extremisten nicht auch noch öffentlichkeits- und medienwirksame Kulissen für ihre Aufzüge bieten. Ich erinnere an den Aufmarsch der NPD am 29. Januar vor dem Brandenburger Tor. Solche Aufzüge blamieren nicht nur die Hauptstadt Berlin; sie diskreditieren Deutschland insgesamt und schaden unserem Ansehen in der ganzen Welt. Wir dürfen sie deshalb nicht länger zulassen. ({18}) Demonstrationen, deren erkennbares Ziel es ist, unsere verfassungsmäßigen Werte zu verhöhnen, und die das Ansehen Deutschlands in der Welt nachdrücklich beschädigen, müssen unter erleichterten Bedingungen verboten werden können. Den Gegnern eines Verbotsantrages möchte ich noch Folgendes sagen: Gerade in den vergangenen Monaten haben wir auch an dieser Stelle eine Kultur des Wegsehens beklagt. Wir haben eine Kultur des Hinsehens und der Einmischung gefordert. Wir haben die Bürgerinnen und Bürger zu mehr Zivilcourage aufgefordert, was im Übrigen viel leichter gesagt als getan ist. Wenn jedoch der Staat selber die Möglichkeiten nicht nutzt, die er hat, um sich selber, seine verfassungsmäßige Ordnung und die Opfer zu schützen, wirkt er nicht besonders glaubwürdig. Wer Zivilcourage fordert, der muss Staatscourage zeigen. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hat sich die Entscheidung über den Verbotsantrag nicht leicht gemacht. Ich verhehle nicht, dass für uns die grundsätzlichen demokratischen Bedenken gegen das Verbot ein hohes Gewicht haben. Ein Verbotsverfahren kann in einer Demokratie immer nur die Ultima Ratio sein. Es zeichnet unser Grundgesetz gerade aus, dass die Entscheidung über ein Parteienverbot der Exekutive entzogen ist und an strenge rechtliche Auflagen gebunden ist. Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes ist die Konsequenz aus der ungehinderten Verbreitung des Nationalsozialismus am Ende der Weimarer Republik, als Hitler sogar noch sein Legalitätsversprechen abgab. Gerade die Wiederholung einer solchen Täuschung wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes verhindern. Ich füge hinzu: Wir werden dies verhindern! Wir hätten uns nicht für ein Verbotsverfahren gegen die NPD entschlossen, wäre es ausschließlich um die Frage des politischen Wettbewerbs zwischen den Parteien gegangen. Eine Demokratie muss - das wissen wir alle auch falsche Lehren und sogar grobe Dummheit aushalten können. Die rote Linie ist aber dann überschritten, wenn eine Partei unter dem Deckmantel ihrer verfassungsrechtlichen Stellung und mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Infrastruktur für Neonazis bereitstellt. Dies wollen wir nicht. Deshalb haben wir uns heute hier versammelt. ({0}) Es geht nicht etwa um den politischen Meinungskampf, sondern um den Schutz von Menschen vor ihren Feinden. Wir sind es den mindestens 93 Opfern rechtsextremer Gewalt schuldig, jenseits strafrechtlicher Verantwortung auch die organisatorische Infrastruktur rechter Gewalt zu zerschlagen. ({1}) Manche warnen vor der Beschränkung der Demokratie durch den Ausschluss einer Partei aus dem Wettbewerb. Wir warnen hingegen vor einer Demokratie, in der sich Farbige, Mitglieder religiöser Minderheiten und Schwule abends nicht mehr auf die Straße trauen können. ({2}) Wer eingeschüchtert und verängstigt zu Hause bleibt, der hat Angst, an der Demokratie teilzunehmen. Liegt nicht gerade in dem Rückzug die viel größere Gefährdung der Bürgerrechte als in dem entschlossenen Vorgehen gegen die Verantwortlichen für diesen Rückzug, nämlich die völkische NPD? ({3}) Ralph Giordano schrieb kürzlich: Allein weil sie Fremde sind, werden Menschen wie Hasen durch die Straßen deutscher Städte gejagt, krankenhausreif geschlagen, auf Gleise gestoßen, schwer verletzt und ermordet, wobei von dem Verbrechensmarathon überhaupt öffentlich nur noch Notiz genommen wird, wenn ein besonders scheußlicher Fall aus den übrigen hervorragt. Was heißt: Im Deutschland des Jahres 2000 ist rechte Gewalt zur Alltagsnorm geworden. Er sagt zum Schluss sinngemäß: Wir haben lange Zeit die NPD und die Rechtsextremen „wie ungezogene Verwandte behandelt“. Damit muss jetzt Schluss sein. ({4}) Für die Kolleginnen und Kollegen, die an der Anhörung des Innenausschusses zum Thema Rechtsextremismus nicht teilnehmen konnten, möchte ich Professor Hajo Funke von der Freien Universität Berlin zitieren, der bei dieser Anhörung Folgendes ausgeführt hat: Wir sind seit nun mehr als neun Jahren mit der Entwicklung und Verfestigung einer gegen Fremde gerichteten völkischen Gewaltkultur konfrontiert, die sich ungestraft und ohne angemessene Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit und Politik hat entfalten können und nun in internen Sozialisationsprozessen inzwischen die dritte Generation der heute Zwölfbis Vierzehnjährigen erfasst. Auch dem wird sich das Bundesverfassungsgericht im Falle eines Verbotsantrages stellen müssen. Auch dies wird mit in die Beratungen einbezogen werden müssen. Dass das notwendige öffentliche Interesse an der NPD und ihrem Charakter zugleich eine Aufwertung der Partei bedeute - dies wird ja häufig von den Kolleginnen und Kollegen der F.D.P. angeführt -, ist fast schon ein autoritäres Argument. Es muss uns doch gerade darum gehen, dass große Teile auch der liberalen Öffentlichkeit endlich das Ausmaß der Gefahr, in der sich potenzielle Opfer auch heute noch befinden, und damit auch die Aushöhlung des Rechtsstaates wahrnehmen. Es wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass dieser Staat die Einhaltung des Gewaltmonopols mit Blick auf den Bau von Startbahnen und Atomkraftwerken zu Recht eingefordert hat. Nur, dann müssen wir, wenn wir glaubwürdig sein wollen, die Einhaltung des Gewaltmonopols auch im Hinblick auf rechts einfordern. Dies muss einvernehmlich geschehen. ({5}) Wir machen allerdings auch deutlich: Wir würden der Öffentlichkeit etwas vorgaukeln - ich weiß, dass wir alle unter dem Druck der Öffentlichkeit stehen -, wenn wir jetzt so tun, als würden wir mit der Verkündung einer entschlossenen Maßnahme den Rechtsradikalismus wegbekommen. Es wäre falsch, den Eindruck im Raum stehen zu lassen, dass mit dem NPD-Verbot das Problem des Rechtsradikalismus beseitigt sein wird. Das wird nicht der Fall sein. ({6}) Wir werden uns während des Verfahrens und auch nach dem Verfahren mit dem Thema Rechtsextremismus beschäftigen müssen. Ich bin froh, dass diese Regierung als Zeichen der Entschlossenheit im Bundeshaushalt 50 Millionen DM für die Jugendarbeit und für die Stützung der Zivilgesellschaft bereitgestellt hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, man kann der Meinung sein - das wurde vorher zitiert -, dass es angemessen ist, eine Unterstützungserklärung abzugeben. Diese Position ist durchaus begründbar. Was ich nicht verstehe, ist, dass Sie Folgendes nicht begreifen: Sie wären glaubwürdiger, wenn Sie nicht gleichzeitig dafür Kritik an der Bundesregierung übten, dass sie die Zivilgesellschaft mit diesen 50 Millionen DM unterstützt. Wenn Sie einerseits keinen Verbotsantrag des Bundestages wollen und andererseits jede Maßnahme der Bundesregierung zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus kritisieren, dann machen Sie sich unglaubwürdig. ({7}) Sie sollten uns dabei unterstützen, dass wir eine professionelle Jugend- und Sozialarbeit aufbauen, dass wir die Sensibilisierung der Sicherheitsbehörden, die bereits eingesetzt hat, weiter stärken, dass wir den Abbau von Diskriminierung gegenüber Nichtdeutschen verstärken, dass wir eine Bildungsoffensive auch in den Ländern starten und dass wir uns mit dem Thema „Wie können wir heute, da es immer weniger Menschen gibt, die das Dritte Reich noch erlebt haben, die Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus künftigen Generationen in einer interkulturellen Gesellschaft vermitteln?“ beschäftigen. Das sind Fragen, über die Sie sich mit uns gemeinsam Gedanken machen sollten. Ich bin froh darüber, dass das EXIT-Programm, das Ausstiegsprogramm für Rechtsradikale, von der Bundesregierung unterstützt wird. Das ist ein wichtiges Signal an alle diejenigen, die aus dem Teufelskreislauf Rechtsradikalismus, wie er auch in der NPD vorhanden ist, aussteigen wollen. Niemandem von ihnen, der bereit ist, mit dem Teufelshandwerk Schluss zu machen, ist die Tür verschlossen, zurück in die Gesellschaft zu finden. Die Gesellschaft muss die Möglichkeit geben, dass Rechtsextreme in die demokratische Gesellschaft zurückkommen. ({8}) Ich komme zum Schluss. Die Union schreibt in ihrem Antrag, dass es eine klassische Aufgabe der Exekutive ist, einen Verbotsantrag zu stellen. Ich finde, dass es auch eine Frage der Demokratie ist. Daher sind die Volksvertreterinnen und Volksvertreter gefragt. ({9}) Es reicht eben nicht aus zu sagen: Die Bundesregierung und der Bundesrat sollen diesen Antrag stellen. Zu meinem Verständnis des Parlamentarismus gehört ein solcher Antrag. Wir alle hatten die Gelegenheit, das Material zu sichten. Wenn das stimmt, was wir alle hinsichtlich des Gefahrenpotenzials in der NPD festgestellt haben, dann ist die Maßnahme, in Karlsruhe einen Verbotsantrag zu stellen, richtig. Dafür setzen wir uns ein. Ich hoffe, dass Karlsruhe diese Entscheidung unterstützen wird. Lassen Sie uns aber auch mit der Verharmlosung rechtsextremer Gewalt aufhören. Auch von dieser Stelle aus wiederhole ich meinen Appell an Herrn Koch, den ich kürzlich in der Haushaltsberatung geäußert habe: Hören Sie auf, den Unsinn zu verbreiten, dass der Rechtsextremismus eine Erfindung der Medien sei! Wir wissen alle, dass dies nicht der Fall ist. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Guido Westerwelle, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Fraktion der Freien Demokraten wird einem Antrag auf Verbot der NPD nicht aus Verfahrensgründen, sondern aufgrund sehr grundsätzlicher Überlegungen nicht zustimmen. Wir glauben, dass das Verbotsverfahren die rechtsradikale Szene am Schluss eher stärken wird, als dass es sie schwächen könnte. ({0}) Wir halten die Erfolgsaussichten eines solchen Antrages für fraglich und seine Nebenwirkungen für gefährlich. Selbst ein positiver Ausgang des Verbotsverfahrens würde das eigentliche Problem nicht lösen. ({1}) Ein Verbot wäre im Falle einer tatsächlichen Gefährdung der Demokratie durch eine extremistische Partei das richtige Mittel. In einer solchen Ausnahmesituation muss die wehrhafte Demokratie auch vorbeugend zum Mittel der Auflösung einer Partei greifen. Die Wahlergebnisse der NPD zeigen aber, dass diese Gefahr nicht besteht und dass die NPD von allen rechtsextremen Parteien die erfolgloseste ist. Tatsächlich geht es - das haben alle bisherigen Redner aufgezeigt - um die Bedrohung von Menschen durch rechtsextremistische Gewalt. Diese Kriminalität muss mit allen Mitteln des Rechtsstaates, das heißt in erster Linie mit Polizei und Strafrecht, bekämpft werden. Niemand ist in Deutschland vor strafrechtlicher Verfolgung durch irgendein Parteibuch geschützt. ({2}) Kein Steinewerfer, kein Ausländerhetzer und kein Schläger wird durch das Verbotsverfahren bekämpft; schließlich sind solche Menschen von einem NPD-Parteiverbot nicht betroffen. Das Parteiverbot - das wissen wir - ist Staatsrecht und nicht Strafrecht, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({3}) Wir müssen die einschlägigen Jugendstrafverfahren durch eine bessere Ausstattung der Justiz beschleunigen. Da sind die Defizite. Wir müssen polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Sondereinheiten auf alle Bundesländer ausdehnen, in denen sich rechtsextremistische Jugendszenen gebildet haben. Vor allem müssen Strafen ausgesprochen werden, die den Taten angemessen sind. ({4}) Wenn in Deutschland - dieses Urteil ist keine zwei Wochen alt - ein junger Mann von einer Horde rechter Gewalttäter zu Tode gehetzt wird und die Täter überwiegend mit Bewährungsstrafen und Verwarnungen davonkommen, dann ist das die falsche Antwort des Rechtsstaates. Das ist der eigentliche Casus Belli in dieser Auseinandersetzung. ({5}) Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen zu den Verboten der SRP und der KPD zu Recht sehr hohe Maßstäbe angelegt. Damals, zu Beginn und Mitte der 50er-Jahre, stand unsere Demokratie weiß Gott nicht auf so sicherem Boden. Das hat sich in den letzten 50 Jahren geändert. Deutschland ist seit langem eine gefestigte Demokratie. Es ist nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht die hohen Anforderungen an ein Parteiverbot herunterschrauben wird. Nach den uns zur Verfügung stehenden Unterlagen hat das Verbotsverfahren ein hohes Prozessrisiko. Das Scheitern einer solchen Klage wäre ein Desaster, weil die NPD gewissermaßen mit einem TÜV-Siegel anschließend in die Wahlkämpfe ziehen wird. ({6}) Ein NPD-Verbotsverfahren wird sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, über Jahre! Das SRP-Verfahren hat ein Jahr gedauert, das KPD-Verfahren etwa fünf Jahre. In dieser Zeit hat die NPD die Möglichkeit einer erheblichen Propaganda gewissermaßen im öffentlichen Licht. Selbst im - unsicheren - Fall eines Verbotes verschwinden die Anhänger der NPD nicht plötzlich von der politischen Landschaft; sie werden zu den anderen rechtsradikalen Parteien gehen, zur DVU und zu den Republikanern. Deswegen glaube ich: Selbst ein erfolgreiches Verbotsverfahren wird eher zur Stärkung als zur Schwächung der rechtsradikalen Szene beitragen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie beklagen zu Recht die Sendezeit der NPD in öffentlich-rechtlichen Medien bei Wahlkämpfen.Wir sollten uns aber einen Augenblick Gedanken darüber machen, wie viel Sendezeit diese schlimme Partei NPD allein durch dieses Verfahren bekommen wird. ({8}) Als ein wesentliches Argument für das Verbot der NPD wird das Geld genannt. Es stimmt: Die NPD hat etwa 800 000 DM aus staatlichen Mitteln erhalten - die DVU doppelt so viel, die Republikaner fast das Sechsfache. Die relative Erfolglosigkeit der NPD gegenüber den anderen rechtsextremen Parteien wird dadurch noch einmal unterstrichen. ({9}) Das Entscheidende aber ist, dass ein Verbot der NPD rechtes Gedankengut nicht beseitigt. Die staatlichen Gelder, die jetzt die NPD bekommt, kämen dann ja nicht den demokratischen Parteien oder der Zivilgesellschaft zugute, sondern würden bei den anderen rechtsradikalen Parteien landen. Dies zöge wiederum eine Stärkung der Szene nach sich. ({10}) Ich möchte auf ein Argument hinweisen, das beispielsweise die Vorsitzende des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, Frau Vogt, die der SPD angehört, in die Debatte eingeführt hat; denn ich halte dies für richtig: Schon jetzt nutzen die Republikaner in Baden-Württemberg das Vorgehen gegen die NPD gewissermaßen als Gütesiegel in eigener Sache, nach dem Motto: Das sind die schlimmen Rechtsradikalen, gegen die geht man vor. Wir sind die anständigen Rechtsradikalen, uns könnt ihr ruhig wählen. - Das rechte Gedankengut in den Köpfen muss man bekämpfen. Ein Parteiverbotsverfahren hilft uns nicht weiter, meine Damen und Herren. ({11}) Die Konzentration auf ein Verbot der NPD lenkt schließlich von den eigentlichen Problemen des Rechtsextremismus ab. Es wird immer wieder gesagt, durch den Verbotsantrag müsse ein Zeichen gesetzt werden. Wenn sich ein Verfahren nicht für Symbolik eignet, dann ist es ein Parteiverbotsverfahren. Das Zeichen-Setzen muss an anderer Stelle geschehen: zum Beispiel dadurch, dass die Parteien gemeinsam eine Kundgebung organisieren, zum Beispiel dadurch, dass die Urteile entsprechende Härte und Konsequenz zeigen, zum Beispiel dadurch, dass die Mittel für politische Bildung aufgestockt und nicht abgebaut werden. Das sind die Zeichen, die gesetzt werden müssen. Ein Verbotsverfahren ist die Ultima Ratio in einer parlamentarischen Demokratie. Diese Situation ist heute nicht gegeben. Ein Zeichen muss man anders setzen. Der Bundestag muss politische Zeichen setzen, aber nicht ein solches Verfahren einleiten. ({12}) Rechtsextremismus muss politisch bekämpft werden. Das ist vor allem dort aussichtsreich, wo der Einfluss auf Menschen, vor allem auf junge Menschen, noch möglich ist. Die Ursachen für Rechtsextremismus sind - das wissen wir - vielfältig: Es sind die Defizite in Elternhaus, Ausbildung und Bildung, es ist die fehlende Infrastruktur für Jugendliche, es ist das soziale Umfeld, es ist die Perspektivlosigkeit durch Arbeitslosigkeit und es ist gelegentlich auch Mitläuferschaft. In allen diesen Bereichen müssen die Maßnahmen ansetzen. Entscheidend ist daher, dass junge Menschen zu mehr Mitmenschlichkeit, Toleranz und demokratischem Verhalten erzogen werden. Hier hat die Bundesregierung die falschen Signale gesetzt. Die Globalzuschüsse für die politischen Stiftungen sind im Vergleich zu 1998 um 20 Millionen DM auf 167 Millionen DM gekürzt worden und die Bundeszentrale für politische Bildung hat für ihre Bildungsarbeit jetzt mit 30 Millionen DM rund 25 Prozent weniger Gelder zur Verfügung als 1998. Die F.D.P. hatte zum Haushalt dieses Jahres beantragt, ein Sonderprogramm für „Erziehung zu Mitmenschlichkeit und Toleranz“ in Höhe von mindestens 300 Millionen DM aufzulegen. Diesen Antrag hat die Mehrheit des Hauses leider abgelehnt. Ein NPD-Verbot kann solche Maßnahmen aber nicht ersetzen. Wer die rechte Gesinnung rechtzeitig bekämpft, muss sich später nicht gegen rechte Gewalt wenden, meine Damen und Herren. ({13}) Ein Parteienverbot trägt hierzu nicht bei. Es geht nicht darum, was wir von der NPD halten und wie wir sie politisch einschätzen. Darüber, dass die NPD eine widerwärtige und auch verfassungsfeindliche Partei ist, die mit allen politischen Mitteln bekämpft werden muss, besteht in diesem Hause Einigkeit. Die Frage, ob sie damit eine verfassungswidrige Partei im Sinne der KPD-Verbotsentscheidung von 1956 ist, ist damit überhaupt nicht beantwortet. Das wissen die Juristen hier ganz genau. ({14}) Auch zum Verfahren möchte ich noch etwas sagen. Die Bundesregierung hatte ursprünglich angekündigt, zunächst sorgfältig die von den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder zusammengetragenen Informationen auszuwerten und anschließend eine rechtliche und politische Beurteilung abzugeben. ({15}) Das hat sie aber ohne Not frühzeitig gelassen, indem sie sich öffentlich auf ein Verbotsverfahren festgelegt hat. Da ich hier durch viele Zwischenrufe auch Kritik für meine Ausführungen erfahre, will ich Ihnen sagen: Noch im Sommer hatte Innenminister Schily ({16}) seine Skepsis gegenüber einem NPD-Verbot zum Ausdruck gebracht. Ich zitiere ihn wörtlich aus dem „Spiegel“: Ich neige - so sagte der Innenminister eher zur Skepsis. Zumal man sich die Frage stellen muss, wie führe ich dann die Auseinandersetzung mit einer solchen Partei, wenn sie in den Untergrund gedrängt wird? Die Gefahr ist groß, dass ich ihre Militanz noch weiter erhöhe. Das sagte der Verfassungsminister. Ich als Freier Demokrat bestreite niemandem das Recht, seine Meinung zu ändern, aber ich halte es für gänzlich unangebracht, denjenigen, die heute noch die Auffassung des Bundesinnenministers teilen, vorzuwerfen, sie würden sich einer gemeinsamen Initiative verweigern. ({17}) Es gibt eben kein neues Material. Wir erleben hier die Neubewertung - und zwar die politische Neubewertung alten Materials. ({18}) Bis heute haben wir entscheidungserhebliches Material nicht erhalten, wenn ich zum Beispiel an die Telefonüberwachungsmaßnahmen denke. Da alle diese Akten ohnehin vor Gericht öffentlich werden, kann ich nicht einsehen, warum nicht dem Deutschen Bundestag als Verfassungsorgan rechtzeitig alle diese Fakten vorgetragen worden sind. ({19}) Vor Gericht bleibt nichts geheim. Hier wird ein Popanz aufgebaut; das ist ein unangemessener Umgang mit dem Verfassungsorgan Deutscher Bundestag. Man erwartet von uns, dass wir eine eigene Entscheidung sui generis fällen, aber gleichzeitig sagen die Exekutiven: Das Material kriegt ihr nur zu einem Teil. So geht man unter Verfassungsorganen nicht miteinander um, meine Damen und Herren. ({20}) Ich will noch eine letzte Bemerkung an Sie, meine liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, richten, um das noch einmal klar zum Ausdruck zu bringen: Wenn man sagt, man kenne das Material nicht und könne deswegen einen eigenen Antrag nicht unterstützen, dann kann man auch nicht den Antrag anderer unterstützen. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Westerwelle, Ihre Redezeit ist überschritten.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank für den Hinweis, Herr Präsident; ich komme zum Schluss. Es gäbe noch viel mehr Argumente vorzutragen. Wir sind die einzige Partei, die aus grundsätzlichen Überlegungen den Antrag und die Initiative im Verbotsverfahren ablehnt. Nicht aus irgendeiner Sympathie mit der NPD sind wir gegen dieses Verbotsverfahren, sondern weil wir glauben: Das Gegenteil von „gut gemacht“ ist meistens „gut gemeint“. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das nationalsozialistische Herrschaftssystem von 1933 bis 1945 ist und bleibt das dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte. Nie vorher und nie nachher gab es eine Diktatur, die im Wege des Staatsterrorismus eine solche Vernichtungspolitik, einen solchen Massenmord organisierte. Diktaturen gab es vor dem NS-Regime, zeitgleich, nach dem NS-Regime und wird es leider auch in Zukunft noch geben. Sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Gleichschaltung in der Gesellschaft anstreben und Widerstand - in der Regel schon Widerspruch - nicht dulden. Ihren vermeintlichen oder wirklichen Gegnerinnen und Gegnern nehmen sie häufig die Freiheit, nicht selten das Leben. Die NS-Diktatur verfolgte nicht nur ihre vermeintlichen oder wirklichen Gegner. So begann sie zwar mit dem Verbot der KPD und der Verfolgung und Ermordung der Kommunistinnen und Kommunisten. Kurze Zeit später folgten Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, linke Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und auch Frauen und Männer des christlichen und des bürgerlichen Widerstandes. Sie hatte aber darüber hinaus das einmalige Ziel, die Juden in ganz Europa zu vernichten. Sie organisierte in Vernichtungslagern den millionenfachen Massenmord an ihnen. Ein gleiches Ziel verfolgte sie hinsichtlich der Sinti und Roma. Sie ermordete Menschen mit Behinderungen als so genanntes unwertes Leben, verfolgte Homosexuelle, Zeugen Jehovas und viele andere. Ihre Rassenideologie erklärte Menschen anderer Nationen, insbesondere Slawen, für minderwertig. So unterschied sich dann auch der Krieg des NS-Regimes von anderen Kriegen. Im Osten Europas wurde er als Vernichtungskrieg geführt. Vor allem sowjetische Kriegsgefangene, aber nicht nur sie, auch andere, wurden entgegen dem internationalen Recht in Konzentrationslager eingesperrt und zu Abertausenden ermordet. Die Verbrechensliste des NS-Regimes ist lang und einmalig. Deutschlands Eroberungskrieg endete in einer bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945. Deutschland war zerstört. 50 Millionen Tote waren das Ergebnis der NS-Verbrechen und des Aggressionskrieges. Es war verständlich, dass viele Menschen in Europa davon ausgingen, dass Deutschland von der Landkarte getilgt werden sollte. In Anbetracht der Größe der Verbrechen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg, aber auch ohne jeden Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg ist das Urteil der Geschichte über uns Deutsche - zumindest aus heutiger Sicht - relativ milde ausgefallen. Deutschland selbst war im Ergebnis des Krieges zerstört. Millionen deutscher Soldaten hatten ihr Leben auf den Schlachtfeldern gelassen. Millionen Zivilisten kamen während der Bombenangriffe auf Deutschland ums Leben. Die meisten verloren Hab und Gut. Im Ergebnis des Krieges wurde das Territorium Deutschlands verkleinert. Als Folge davon wurden die Deutschen aus den dann nicht mehr deutschen Territorien vertrieben. Sie haben stellvertretend für Millionen andere Deutsche besonders gelitten. Deutschland wurde letztlich geteilt - 40 Jahre lang. Aber ohne die bedingungslose Kapitulation, ohne die militärischen Siege der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Polens und anderer Länder hätte das Nazi-Regime nicht geendet. Deshalb - wie die Einzelne oder der Einzelne diesen Tag auch erlebt haben mag - war dieser Tag auch für das deutsche Volk ein Tag der Befreiung von der barbarischen Nazi-Herrschaft. ({0}) Erst recht war dies ein Tag der Befreiung für die anderen europäischen Völker und insbesondere für jene, die sich bis dahin verstecken mussten, die aus den Konzentrationslagern und Gefängnissen befreit werden konnten. Die deutschen Frauen und Männer, die aktiv Widerstand gegen das NS-Regime geleistet hatten, die die Verbrechen des NS-Regimes auf unterschiedliche Art und Weise bekämpften, die zum Beispiel Jüdinnen und Juden versteckten oder sich zumindest weigerten, sich an den Verbrechen zu beteiligen, haben den größten Anteil daran, dass es heute noch Deutschland auf der Landkarte gibt. Denn mit ihnen verband sich die Hoffnung auf ein anderes Deutschland. ({1}) Wie unterschiedlich man ihr Wirken vor 1933 und nach 1945 auch einschätzen mag: In der Zeit zwischen 1933 und 1945 ragten sie heraus und signalisierten sie, dass die NS-Ideologie nicht alle Deutschen erreicht hatte, machten sie Hoffnung durch ihren Mut, durch ihren Widerspruch. Deshalb, lieber Herr Westerwelle, wäre es vielleicht doch besser gewesen, die NSDAP wäre in den 20er-Jahren endgültig verboten worden und hätte nicht die Chance gehabt, über Wahlen und eine rassistische sowie antisemitische Ideologie bis zur Machtübernahme erfolgreich zu sein - und das auch noch auf legalem Wege. ({2}) Allein schon die Gründung der NPD 1964 war eine Provokation. Von Beginn an versuchte diese Partei, die Geschichte umzuschreiben, die Verbrechen des NS-Regimes, die ich kurz dargestellt habe, zu leugnen, zumindest zu bagatellisieren. Von Beginn an gab es aus dieser Partei heraus Rechtfertigungen für Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Nach anfänglichen Erfolgen wurde die Partei immer bedeutungsloser, bis sie in den letzten Jahren wieder an Gewicht gewann. Sie verfügt über zahlreiche Verbindungen in die militante Szene und trägt intellektuelle und zum Teil auch organisatorische Verantwortung bzw. Mitverantwortung für die Zunahme rechtsextremistischer Gewalt in Deutschland. Sie hat mit der im Grundgesetz verankerten freiheitlich-demokratischen Grundordnung nichts am Hut. Sie ist verfassungswidrig. Vor allem aber verletzt ihre gesamte Programmatik, ihr gesamtes Auftreten Art. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Für sie ist die Würde des Menschen antastbar - und sie tastet sie täglich an. ({3}) Das beginnt schon damit, dass Nichtdeutsche für sie Menschen zweiter Klasse sind, erst recht Menschen jüdischen Glaubens. In geradezu beispielloser Art und Weise hetzt sie gegen politische Gegnerinnen und Gegner, insbesondere gegen linke, aber auch gegen bürgerliche. Die NPD ist ein Feind des Art. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Gegen die zunehmende rechtsextremistische Gewalt hat der Bundeskanzler den Aufstand der Anständigen gefordert. Michel Friedman, Mitglied der CDU und stellvertretender Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, hat zu Recht gefordert, diesen Aufstand durch einen Aufstand der Zuständigen zu ergänzen. Jede Bürgermeisterin, jeder Bürgermeister, jede Landrätin, jeder Landrat, jeder Ministerpräsident verletzt seine Zuständigkeit, wenn er rechtsextremistische Gewalt im Interesse des vermeintlichen Ansehens seiner Region verharmlost. Die Zeit der Verharmlosung muss eindeutig vorüber sein. ({4}) Auch wir hier im Bundestag sind Zuständige. Mit einem Antrag auf Verbot der NPD verhalten wir uns als Zuständige. ({5}) Ein Parteienverbot muss natürlich die absolute Ausnahme sein. Es darf nicht zur Normalität werden. Daran sind höchste Anforderungen zu knüpfen; darin stimmen wir hier wohl alle überein. ({6}) Aber im Falle der NPD ist eine solche Ausnahme gegeben. ({7}) Herr Westerwelle, Sie sagen, gerade die Erfolglosigkeit der NPD bei Wahlen halte Sie von einem solchen Verbot ab. Meiner Meinung nach wäre es viel problematischer, ein solches Verfahren durchzuführen, wenn die NPD mit jeweils 20 Prozent in den Landtagen säße, und zwar nicht nur deshalb, weil es dann vielleicht zu spät wäre, sondern auch deshalb, weil uns dann unterstellt würde, wir würden uns auf diese Art und Weise einer unliebsamen Konkurrenz entledigen wollen. Das aber kann uns gegenwärtig glücklicherweise niemand unterstellen. ({8}) Dann möchte ich den Aspekt der Zweckmäßigkeit ansprechen; denn darüber kann man diskutieren. Dazu sage ich hier ganz offen und gleichzeitig so neblig, wie ich es nur formulieren kann: Über Zweckmäßigkeit kann man hinter verschlossenen Türen diskutieren, solange die Forderung nach einem Verbot nicht in breiter und öffentlicher Form erhoben worden ist. In dem Moment, wo dies geschehen ist, bedeutet eine Diskussion über den Grad der Zweckmäßigkeit eine Aufwertung dieser rassistischen und antisemitischen Partei. ({9}) Genau das können wir uns dann nicht mehr leisten. Das hätte man vorher tun müssen. Ich möchte auch an die schwierige Situation von Justiz und Polizei erinnern. Heute ist die NPD noch eine legale Partei. Immer wieder versuchen Innensenatoren und viele andere Verantwortliche, ihre Demonstrationen, in denen klares rechtsextremistisches Gedankengut ausgetragen wird, zu verbieten. Sie scheitern in der Justiz am Parteienprivileg. Aufgrund dessen ist die Polizei verpflichtet, auch solche Demonstrationen zu schützen, weil die dann Ausdruck der Wahrnehmung eines Grundrechts sind. Dann kommen nicht selten Linke und beschimpfen die Polizei. Dabei ist sie dafür überhaupt nicht verantwortlich. Wir sind zuständig, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht legal betrieben werden kann. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Gysi, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Es ist wahr: Das NPD-Verbot ist weiß Gott nicht alles. Aber es ist auch nicht nichts. Dass wir viel im Bereich Bildung und in manchen anderen Bereichen - dazu kann ich jetzt nicht mehr sprechen tun müssen, scheint mir klar. Darüber sind wir uns hier wohl auch einig. Zu Recht haben Sie auch die Bundesregierung hinsichtlich ihrer Geheimniskrämerei kritisiert. Ich sehe überhaupt nicht ein, weshalb wir hier nicht vollständig informiert worden sind. Herr Präsident, meine letzte Bemerkung: 40 Jahre lang war unser Land als Ergebnis der Verbrechen des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges geteilt. Trotz aller Leiden, die damit verbunden waren, war das - wie gesagt - ein eher mildes Urteil der Geschichte. Nach dieser Bewährungszeit entstand wieder ein Deutschland mit dem Recht auf Gleichberechtigung im Bund der Staaten und Völker, aber auch mit der Verantwortung, nichts, aber auch gar nichts zuzulassen, was uns je in solche Verhältnisse wie im Jahre 1933 zurückführen könnte. Deshalb, meine Damen und Herren, gehört die NPD verboten. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Erika Simm, SPD-Fraktion.

Erika Simm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, ich kann es mir ersparen, hier noch rechtliche Ausführungen zu den Kriterien zu machen, die das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Frage, ob eine Partei verfassungswidrig ist oder nicht, anlegt. Herr Gysi hat zum Schluss manch Kluges dazu gesagt. Vor allem aber Herr Bosbach hat diese Aspekte schon breit und zutreffend dargelegt. Was mich etwas wundert, ist die Volte, die er dann bei der Frage geschlagen hat, welche Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass die NPD eine verfassungswidrige Partei ist, zu ziehen sind. ({0}) Die Begründung, die er uns geliefert hat, warum sich die CDU/CSU trotzdem nicht dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen anschließen möchte, erschöpfte sich ja eigentlich darin, dass es eine klassische Aufgabe der Exekutive sei, einen solchen Verbotsantrag zu stellen, weil Bund und Länder über ihre Verfassungsschutzbehörden originäre Erkenntnisse gewinnen könnten. Ich halte dieses Argument - verzeihen Sie - für ausgesprochen schwach. Ich meine, dass damit eigentlich nicht mehr gesagt wird als: Das haben wir noch nie gemacht; deswegen machen wir es auch jetzt nicht. ({1}) Substanziell steht nichts anderes dahinter. Ich bin der Meinung, dass der Deutsche Bundestag einen eigenen Antrag stellen sollte. Die einschlägige Vorschrift des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes besagt, dass antragsberechtigt der Deutsche Bundestag, der Bundesrat und die Bundesregierung sind. Sie sind dort in dieser Reihenfolge genannt. Einen Vorrang der Exekutive vermag ich in dieser Frage nirgendwo zu erkennen. Er scheint mir auch objektiv nicht gegeben. ({2}) Wir haben Materialien bekommen, und zwar in so ausreichendem Umfange, dass wir uns ein Urteil bilden können. Wir schauen fern, wir lesen Zeitungen und wir erleben die Auftritte dieser Partei. Ich denke, das, was wir wissen und was uns zugänglich ist, reicht dafür aus, dass wir uns ein eigenes Urteil bilden. ({3}) Ich hielte es für sehr gefährlich, wenn nicht auch der Deutsche Bundestag diesen Antrag stellte, weil eine solche Enthaltsamkeit Anlass zu Missdeutungen geben könnte. Wir erweckten den Eindruck, wir stünden nicht wirklich hinter diesem Antrag, wir seien uns unserer Sache nicht sicher und wir seien uns nicht sicher, dass wir ausreichende Argumente haben; mehr noch: wir würden uns möglicherweise von den Anträgen der Bundesregierung und des Bundesrates distanzieren. Einen solchen Eindruck hielte ich für äußerst schädlich. Ich bin der Meinung, die Sache gebietet es, dass alle drei Verfassungsorgane gleich lautend und geschlossen diesen Antrag stellen. Das halte ich für eine Notwendigkeit, um nach außen hin überzeugend auftreten zu können. ({4}) Nun ein Wort zu der Argumentation, die Herr Westerwelle für die F.D.P. vertreten hat und die wir aus dem Antrag der F.D.P. kennen. Die F.D.P. möchte aus angeblich grundsätzlichen Erwägungen keinen Antrag stellen. ({5}) Schaut man sich die grundsätzlichen Erwägungen an, so handelt es sich tatsächlich um Zweckmäßigkeitsüberlegungen. ({6}) Solche Überlegungen sind zulässig und durchaus legitim. ({7}) Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Auch wenn die Verfassungswidrigkeit einer Partei feststeht, muss weder Bundestag noch Bundesrat noch Bundesregierung einen Verbotsantrag stellen. Ob dies geschehe oder nicht, liege vielmehr in ihrem pflichtgemäßen politischen Ermessen. Dabei können auch Zweckmäßigkeitsüberlegungen angestellt werden. Aber, Herr Westerwelle, ich beantworte die von Ihnen aufgeworfenen Fragen anders: Wenn es sich um die Frage dreht, ob ein Parteiverbot das geeignete Mittel sei, dann stellen Sie diese Frage in einer Art und Weise, die unterstellt, wir wollten darüber hinaus nichts tun. Wenn Sie dies behaupten, behaupten Sie es wider besseres Wissen. Denn wir haben - das wissen Sie ganz genau; ich glaube sogar, noch vor Ihnen - einen umfassenden Antrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus eingebracht. ({8}) Inzwischen haben dies alle Parteien dieses Hauses getan. Wir haben uns vorgenommen, über diese Anträge zu diskutieren, sie zu beraten, zu versuchen, eine gemeinsame Entschließung zu finden und ein gemeinsames Maßnahmepaket zu schnüren. Ich halte es für erstrebenswert, dies zu tun, um deutlich zu machen, dass alle Parteien dieses Hauses den Rechtsextremismus an der Wurzel bekämpfen und nicht nur die NPD verbieten wollen. So viel dazu. ({9}) Dann befürchten Sie, dass im Falle eines Verbotes der NPD deren Mitglieder zu anderen rechtsextremen Gruppierungen abwandern würden und dies zu einer Vereinigung der rechten Gruppierungen und Parteien führen würde. - Herr Westerwelle, umgekehrt wird ein Schuh daraus! Es ist doch zurzeit die NPD, der es gelungen ist, eine Vielzahl von rechtsextremen Strömungen und Gruppierungen in sich zu vereinigen und ihnen ein ideologisches Dach und eine politische Heimat zu bieten. Deshalb denke ich, dass wir, wenn wir die NPD verbieten, wenn wir ihre Strukturen durch das Verbot und die nachfolgende Auflösung zerschlagen, das rechte Lager schwächen, statt es zu stärken. ({10}) Auch aus diesem Grunde halte ich das Verbot der NPD für geboten. Denn es macht - es ist schon gesagt worden - gerade den Unterschied zwischen der NPD und anderen rechtsextremen Parteien aus, dass sie eine relativ organisationsstarke Partei ist, die über eine stabile Mitgliederschaft und auch ausreichende Finanzen verfügt, um Aktionen tatsächlich durchziehen zu können. Dann argumentieren Sie, die Wahlergebnisse der NPD seien schlecht und zeigten ihre politische Bedeutungslosigkeit, sodass sie keine Gefahr für die Demokratie bedeute. - Dazu sage ich: Gott sei Dank ist es so! Gott sei Dank sind wir eine wehrhafte, stabile Demokratie und brauchen wegen der NPD keine unmittelbaren Befürchtungen zu haben. Aber die Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen 1998 in Mecklenburg-Vorpommern, 1999 in Sachsen und heuer in Schleswig-Holstein haben immerhin ausgereicht, die NPD wieder in den Genuss staatlicher Parteienfinanzierung kommen zu lassen, zuletzt - es ist schon gesagt worden - 1,16 Millionen DM für 1999. Was bedeutet das? Wir alimentieren aus staatlichen Mitteln eine als verfassungswidrig erkannte und von uns so eingeschätzte Partei. Wir finanzieren deren ekelhafte, widerliche, aggressive Auftritte aus Steuergeldern mit. Ich bin der Meinung, wir können der großen Mehrzahl unserer Bürger, die mit dieser Partei nichts am Hut haben, aber brav ihre Steuern zahlen, nicht zumuten, dass wir als demokratisch strukturierter Staat die Aktionen der NPD weiterhin mit finanzieren. ({11}) Was mir zudem große Sorge macht, ist die Tatsache, dass die NPD es versteht, zumindest in einem bestimmten Spektrum der Jugend - diese Jugendlichen sind Leute aus der Skinheadszene, junge Neonazis - für sich zu werben und diese Jugendlichen zu gewinnen. Sie rühmt sich, dass das durchschnittliche Beitrittsalter der Neumitglieder mittlerweile auf etwa 25 Jahre gesunken sei. Sie bietet diesen Jugendlichen, die in unserer Gesellschaft sonst eher eine Außenseiterrolle einnehmen, eine politische Heimat, Anerkennung und die ideologische Rechtfertigung ihres menschenverachtenden, gemeinschaftsfeindlichen Verhaltens. Das können wir doch nicht weiterhin zulassen! ({12}) Natürlich bedarf es, um diese Jugendlichen aus ihrer Szene herauszuholen und Verhaltensweisen zu ändern, einer Vielzahl von Maßnahmen im sozialen Bereich und im Bildungsbereich, internationaler Begegnungsmöglichkeiten und natürlich auch konsequenter Strafverfolgungsmaßnahmen. Das alles enthalten unsere Anträge, die wir bereits eingebracht haben, enthält auch Ihr Antrag. Aber daneben bedarf es in meinen Augen des Verbotes der NPD, die diese Jugendlichen gezielt für sich und ihre politischen Zwecke instrumentalisiert und in ihren Verhaltensweisen bestärkt. Ich bin der Meinung, wir müssen beides tun: die NPD verbieten bzw. einen Antrag auf ein Verbot stellen, auch als Deutscher Bundestag, und ein Paket vielfältiger Maßnahmen schnüren, um Rechtsextremismus und rechtsextremistisch motivierte Gewalt an der Wurzel zu bekämpfen. Ich danke Ihnen. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat der Kollege Wolfgang Zeitlmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch die Union hat sich die Frage eines Verbotsverfahrens und eines eigenen Antrags in dieser Richtung bzw. der Zustimmung zu einem solchen Antrag mit Sicherheit nicht leicht gemacht. In dieser Debatte ist, glaube ich, deutlich geworden: Niemand in diesem Saal hält die NPD in ihrer derzeitigen Verfassung für eine mit dem Grundgesetz übereinstimmende Partei. Jeder hier erklärt, die NPD wolle die Werteordnung des Grundgesetzes beseitigen, und zwar in aggressiv-kämpferischer Haltung. Es ist allerdings eine ganz andere Frage, ob man deshalb gleich einen Verbotsantrag stellen muss. Jeder der Vorredner hat klar zwischen der Prüfung der Situation dieser Partei und der Prüfung der Frage, ob ein Verbotsverfahren verhältnismäßig und im Sinne der politischen Auseinandersetzung sinnvoll wäre, unterschieden. Aber eines wird man nicht bestreiten können: Die Zahl der Antragsteller beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe macht die NPD mit Sicherheit nicht verfassungsfeindlicher. Ob zwei oder drei Verfassungsorgane einen Verbotsantrag stellen, hat - mit Sicherheit wird hier niemand das Gegenteil behaupten - keinen Einfluss auf den Ausgang des Verfahrens. Ein eigener Antrag des Bundestages ist in vorangegangenen Verfahren nie gestellt worden. Jetzt kann man natürlich sagen, das Grundgesetz teile allen dreien die Kompetenz zu, einen Verbotsantrag zu stellen. ({0}) Ihr Bundeskanzler hat im Sommer zunächst erklärt, er gehe nur nach Karlsruhe, wenn das alle Verfassungsorgane tun. Ich fühle mich aber vorbelastet, wenn mir gegenüber öffentlich Erwartungen geäußert werden, bevor wir diskutieren und Unterlagen einsehen können. ({1}) Ich finde, das ist kein guter Umgang mit einem Parlament; und es gab ja in den Parteien, die jetzt zur Koalition gehören, ähnliche Bedenken. Herr Westerwelle und Herr Bosbach haben mit deutlichen Zitaten darauf hingewiesen. Von Mallorca aus hat der Kanzler dann angerufen und gesagt, die NPD werde bekämpft. Damit hieß es für die Truppe: Kehrt, marsch, marsch! ({2}) Vier Wochen später gab es die Erklärung, man prüfe die Verbotsfrage durch einen Arbeitsstab. Weitere vier Wochen später war klar: Die, die Bedenken hatten, mussten widerrufen. So kam es zu diesem Verfahren. Ich wiederhole: Ich halte einen Verbotsantrag bei Gericht für richtig, und deswegen haben wir uns zu einer Zustimmung zu dem laufenden Verbotsverfahren durchgerungen. ({3}) Aber ich stelle oder unterstütze - da bitte ich wirklich um Verständnis - einen eigenen Verbotsantrag des Parlaments nur, wenn ich im Vollbesitz aller Unterlagen bin. Solange mir die Exekutive in zig Erklärungen sagt, es gebe fünfzig Seiten zusätzliches Material, und wenn ich das kennen würde, hätte ich eine klarere Sicht, ({4}) und zusätzlich gebe es Abhörprotokolle, die ich nicht kenne, deren Kenntnis zu einer noch deutlicheren Meinung führen würde, sage ich Ihnen: ({5}) So kann man mit dem Verfassungsorgan Parlament nicht umgehen. Dennoch halte ich in diesem Fall die Zustimmung zu einem Antrag durchaus für vertretbar. ({6}) Aber natürlich ist es eigentlich Sache der Exekutive, einen Antrag zu stellen und diesen bei Gericht zu vertreten, wenn sie mehr Unterlagen hat, als sie uns zur Verfügung stellt. ({7}) Ich muss an dieser Stelle aber ganz klar sagen: Wenn man einen Antrag bei Gericht stellt - auch wenn das Parlament das macht -, ist damit nicht automatisch als Ergebnis das Verbot der Partei verbunden. Sie tun manchmal so, als sei ein Verbot schon klar und deutlich abzusehen. Ich halte das für ein Stück Missachtung des Verfassungsgerichts. Wer die Prozesslage kennt, muss öffentlich darauf hinweisen, dass theoretisch durchaus die Gefahr oder die Chance - je nachdem, wie Sie es nehmen - besteht, dass diese Partei, die auch ich derzeit für verfassungswidrig halte, bis zur letzten Verhandlung durch Klärungsoder Reinigungsprozesse - etwa, indem sie die großen Idioten rausschmeißt oder sich von ihnen distanziert - einem Verbot „entkommt“. Es gibt also „Zwischentöne“ und ich warne davor, die Entscheidung vorzubelasten. Sonst heißt es eventuell hinterher - wenn es zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit, aber nicht zu einem Verbot der Partei käme -, dass alle, die einen Antrag gestellt haben, eine Niederlage erlitten hätten. Dazu sage ich ganz deutlich: Wir wollen eine Klärung der Frage. Gerichte sind aber souverän und unabhängig und werden alle Unterlagen prüfen. Wenn die Exekutive sagt, sie habe noch einiges in der Hinterhand, dann bitte schön! ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Zeitlmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich bitte um Entschuldigung. Wir haben diese Frage in den Ausschüssen schon so lange diskutiert. Ich bitte um Verständnis. Ich will eins noch ganz klar sagen: Herr Gysi, es geht nicht an, dass Sie sich hinstellen und nur einen Teil der deutschen Geschichte behandeln. Sie waren heute MorWolfgang Zeitlmann gen ein typisches Beispiel dafür, wie Blinde auftreten: Sie haben nur das „Rechtsaußen“ der deutschen Geschichte dargestellt und haben mit fast keinem Wort auf die zweite Diktatur in Deutschland verwiesen. ({0}) Damit haben Sie den Eindruck erweckt, als seien nur auf der rechten Seite Radikalität und Extremismus vorhanden gewesen. ({1}) Meine Damen und Herren, ich sage jetzt etwas, was ganz links sicher nicht auf Wohlgefallen stößt. Ich behaupte, diese Republik hat 1990 den großen Fehler gemacht, dass sie die SED und deren Nachfolgeorganisationen nicht auch verboten hat. Das sage ich ganz offen. ({2}) Dann wäre uns manches erspart geblieben. ({3}) Wir haben es uns in der Frage eines Verbotsantrages wirklich schwer gemacht, denn eins ist klar: In diesem Land gibt es seit diesem Sommer leider eine Form der Hysterie im Umgang mit Radikalität. Ich verweise nur auf die Stimmungslage in diesem Land nach den Vorkommnissen in Sebnitz. ({4}) Gestern liefen die Feststellungen der Sicherheitsbehörden zum Angriff auf die Synagoge in Düsseldorf über die Ticker. Ich bitte all diejenigen, die damals gleich Stimmung gemacht und „die Unanständigen in diesem Lande“ - Sie wissen, was ich meine - tituliert haben: Es muss unter Demokraten in diesem Hause bei solchen Themen wieder möglich sein, normal miteinander umzugehen und zu diskutieren. Solche Stimmungsmache kann nicht richtig sein. ({5}) In vielen Veröffentlichungen seit dem Sommer - ich könnte sie Ihnen vorlegen - habe ich festgestellt, dass in der Semantik in dem berechtigten Bemühen, gegen Rechtsextremismus zu kämpfen, versucht wird, die Grenze zu verschieben. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Karte der Bundeszentrale für politische Bildung, in der es heißt: „Kampf gegen Rechts“. Ganz klein gedruckt steht dahinter noch „Extremismus“. Ich kenne Unterlagen von SPD-Kollegen, die ganz eindeutig nur noch von „rechts“ sprechen. ({6}) Meine Damen und Herren, ich nehme für mich in Anspruch, ein Politiker zu sein, der in der Mitte und rechts steht. Dazu stehe ich. Es gibt eine demokratische Rechte. ({7}) Es wird Ihnen nicht gelingen, hier den Eindruck zu vermitteln, als ob man rechts generell - ({8}) - Das war nicht die Frage. Aber es gab in den letzten Monaten genügend Anlass, hierzu ein Wort zu sagen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Zeitlmann, ich muss Sie noch einmal fragen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe es schon gesagt: Ich werde heute keine Zwischenfragen zulassen. Ich möchte nun noch etwas zur Frage der Verhältnismäßigkeit sagen. Natürlich muss ein Staat mit einem Verbotsantrag nicht warten, bis eine immanente und übermäßig große Gefahr droht und konkrete Existenzgefahr besteht. Wir haben die Pflicht, vorher zu handeln. Vor Gericht wird das große Problem aber sein, nachzuweisen, dass 7 000 oder 8 000 Rechtsextreme bei etwa 30 000 BGS-Beamten und etwa 150 000 Länderpolizisten und Verfassungsschützern eine existenzielle Gefährdung für diese Republik darstellen. Ich bin für einen Antrag. Aber man wird doch wohl noch offen über die Risiken eines Gerichtsverfahrens diskutieren dürfen. Ich stelle fest: Diese Regierung hat in den Monaten vor dem Sommer keinerlei Anstalten gemacht, um auf eine Gefahr hinzuweisen. Es gibt weder ein „Braunbuch“ über die schweinischen Äußerungen von führenden NPD-Leuten noch eine politische Auseinandersetzung; ({0}) es gibt vielmehr nur einen Verbotsantrag, dem wir mit unserer Resolution zustimmen. Gleichzeitig möchten wir aber deutlich machen, dass der Kampf auch auf anderen Ebenen, unter anderem in der politischen Auseinandersetzung, stattfinden muss, und zwar mit klar definierten Zielen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Annelie Buntenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zunächst möchte ich feststellen, dass die Bekämpfung des Rechtsextremismus ein zentrales Anliegen der Koalitionsfraktionen ist und dieses ganzen Parlaments sein sollte. Herr Kollege Zeitlmann, ich sehe überhaupt keinen Grund für eine Entwarnung. ({0}) Seit der Debatte im Sommer haben wir dieses Thema endlich in den Blickpunkt gerückt. Es hätte uns alle hier und die Gesellschaft schon viel länger beschäftigen müssen. Wie gesagt: Es gibt überhaupt keinen Grund zur Entwarnung. Das Verbot der NPD ist in diesem Zusammenhang ein notwendiger Schritt zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. Es kann aber nur eine Maßnahme unter vielen sein; das muss klar sein. Ich fürchte, die Fokussierung der Debatte auf das Verbot in den letzten Monaten hat der Sache eher geschadet als genutzt. Sie hat von einer Auseinandersetzung mit den Ursachen des Rechtsextremismus abgelenkt. Das Hauptproblem liegt nicht außerhalb, sondern in der Mitte der Gesellschaft und ist nicht allein durch die markige Demonstration staatlicher Gewalt zu lösen. ({1}) Deshalb bin ich froh, dass wir in den Haushaltsberatungen auf der Grundlage eines Antrages der Koalitionsfraktionen, den wir übrigens schon vor dem Sommer eingebracht haben, Herr Zeitlmann, ein deutliches Zeichen zur Förderung der Zivilgesellschaft gesetzt haben. Für Opferschutz, Aufklärung, Beratung und Jugendarbeit sind 50 Millionen DM zusätzlich bereitgestellt worden. Dazu kommt das Xenos-Programm „Leben und Arbeiten in Vielfalt“, das bereits in diesem Jahr angelaufen ist, mit Maßnahmen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft. Hierfür stehen noch einmal je 25 Millionen DM in den nächsten drei Jahren aus EU-Mitteln zur Verfügung. Ich glaube, das ist ein Gesamtprogramm, das sich sehen lassen kann, ({2}) ein notwendiger und richtiger Schritt der Koalitionsfraktionen zur Bekämpfung von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Aber der Verbotsantrag gegen die NPD ist ein ebenso notwendiger Schritt, den wir heute auch als Parlament tun sollten. Ich kann die Kritik der F.D.P. daran überhaupt nicht nachvollziehen. Sicher lassen sich Meinungen nicht verbieten, das ist richtig. Über Meinungen und Einstellungen müssen wir uns auseinander setzen. Aber bei Aufstachelung zu Antisemitismus, zu Rassismus, zu Hass und Gewalt endet die Meinungsfreiheit und beginnt das Verbrechen. ({3}) Das geht doch aus dem über 500-seitigen Material, das uns allen vorliegt, deutlich hervor. Die NPD nutzt die Privilegien und den Schutz des Parteiengesetzes für eine intensive Förderung und die Zusammenarbeit mit der offen gewalttätigen Neonaziszene. Viele Neonazis aus verbotenen Organisationen haben in der Partei ein neues Betätigungsfeld gefunden und betrachten sie als Ersatzorganisation. Weder für mich noch für viele andere Bürgerinnen und Bürger, die wir ja zu Engagement und Zivilcourage aufgerufen haben, ist es nachvollziehbar, dass über die Parteienfinanzierung Millionenbeträge in rassistische, antisemitische und neonazistische Propaganda fließen. Natürlich, Herr Westerwelle, haben wir in der Bundesrepublik Gesetze gegen Mord und Totschlag, gegen Überfälle und rassistische Angriffe und Pöbeleien. Auch ich wünsche mir, dass sie von Polizei und Justiz flächendeckend entsprechend angewendet werden. Ich wünsche mir Prozesse, wie sie in Dessau geführt worden sind, und nicht entwürdigende, lange Verfahren wie zum Beispiel in Guben. Aber das Strafrecht allein hier als Mittel gegen rechtsextreme Gewalt ins Feld zu führen, das heißt, die fatale Wirkung einer offen auftretenden Organisation mit menschenverachtender Demagogie und rassistischer Praxis zu unterschätzen, die, wenn sie denn offen auftreten kann, anscheinend - das ist ja genau die Wirkung - auch von den anderen Parteien als Teil der Normalität akzeptiert wird. Die NPD ist ein Schutzschild für nationalsozialistische Gewalttäter und in diesem Bereich macht sie auch ihre Angebote. Sie tritt offen auf und spricht gerade Jugendliche an, die eben dadurch an Nazigewalt herangeführt werden. Das Argument, die NPD-Mitglieder könnten in den Untergrund abtauchen, das ja immer wieder vorgebracht wird, verkennt die Realität, dass die Partei schon immer eine Funktion als Durchlauferhitzer für die gewalttätige Neonaziszene hatte - bis hin zu Wehrsportgruppen und terroristischen Ansätzen. Rechtsextreme, die einst in die offen und öffentlich auftretende NPD eingetreten sind, haben sich offenbar dort radikalisiert und Kontakte zu entsprechenden Kreisen gefunden. Deshalb, Herr Westerwelle, ist es eine völlige Fehleinschätzung auf Ihrer Seite, dass mit einem Verbot der NPD die rechtsextreme Gewalt noch zunehmen würde. Das Gegenteil ist der Fall. ({4}) Die NPD zu verbieten ist ein Schritt, keineswegs der einzige, um den Aktionsradius von Rechtsextremisten einzuschränken. Die Gründe für ein Verbot der NPD sind in dem vorliegenden Material hinreichend dargelegt und untermauert. Daher verstehe ich überhaupt nicht, warum sich die CDU/CSU-Fraktion nicht in der Lage sieht - Herr Zeitlmann, verzeihen Sie mir, aber da finde ich Ihre Argumentation doch wirklich verworren -, das, was vorliegt, auch zu bewerten und daraus Konsequenzen zu ziehen. Ich verstehe Sie auch deshalb nicht, weil ein eigener Antrag des Bundestages schließlich auch da die Möglichkeit von Ergänzungen bietet, wo die spezifische Sicht der Verfassungsschutzämter Lücken gelassen hat. So ist in dem Material zwar das theoretische Konzept der „national befreiten Zonen“ zur Kenntnis genommen worden, nicht aber die praktische Umsetzung. Dafür müsste zugegeben werden, dass es solche Angsträume in der Realität unserer Republik auch wirklich gibt, in denen sich Menschen mit anderer Hautfarbe, Obdachlose, Homosexuelle, alternative Jugendliche oder Menschen jüdischen Glaubens nicht mehr frei bewegen können. Mit dieser Erkenntnis tun sich die zuständigen Behörden oft schwer. Ein eigenständiger Verbotsantrag des Bundestages bietet die Möglichkeit - und diese Chance sollten wir nutzen -, die vielfach weiter gehenden Kenntnisse von Wissenschaft, Initiativen und Fachleuten in das Verfahren mit einzubeziehen. Auch deshalb, weil Sie bzw. wir aus der eigenständigen Position des Parlaments heraus gestalten und Einfluss nehmen können, möchte ich für die Unterstützung unseres Antrags werben. Denn dass ein Verbot notwendig ist, dafür sind heute viele überzeugende Argumente auch aus den Reihen der Opposition vorgetragen worden. Deshalb sollten wir diesen Antrag gemeinsam unterstützen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Ludwig Stiegler, SPD-Fraktion.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz gibt dem Deutschen Bundestag das Wächteramt über unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Heute ist ein guter Tag, weil wir zum Handeln fähig sind. Es ist ein guter Tag für die, die uns besorgt aus dem Ausland zusehen und sich fragen, was bei den Deutschen los ist. Es ist ein guter Tag für die, die in Deutschland an vielen Stellen wieder Angst und echte Zukunftssorgen haben. Man muss nur einmal zu den jüdischen Gemeinden gehen, ihnen zuhören und mit ihnen reden, um zu erfahren, wie hier wieder die Angst umgeht. Es ist wirklich Zeit geworden zu handeln. ({0}) Heute ist für mich aber auch ein beschämender Tag, weil es in Deutschland wieder so weit gekommen ist, dass wir handeln müssen, ({1}) und weil das, was wir nach der Katastrophe des Nationalsozialismus überwunden glaubten, noch fruchtbar ist. Wir haben alle miteinander in der Vergangenheit einiges versäumt. Umso wichtiger ist es, dass wir uns jetzt damit auseinander setzen. In diesem Sommer ist der zweite Band von Heinrich August Winklers Werk: „Der lange Weg nach Westen“ erschienen. Ich kann jedem, der sich zu Weihnachten etwas Gutes tun will, diese beiden Bände von Heinrich August Winkler, die sich mit der deutschen Geschichte der letzten 200 Jahre befassen, nur empfehlen und darin insbesondere die Kapitel über die Entwicklung der Weimarer Republik. Wie der Titel schon sagt: Es geht um die traurige Erkenntnis - für mich ist das eine der schlimmsten Belastungen für das demokratische Selbstgefühl -, dass die Deutschen allein nicht in der Lage waren, zur Demokratie zu kommen. Vielmehr musste die ganze Welt helfen, um die Deutschen zur Demokratie zu befreien. Aus diesem Grund sind wir umso mehr gehalten, das, was wir auf dieser Grundlage aufgebaut haben, mit Leidenschaft zu verteidigen. ({2}) Ich kann zwei weitere Bände, nämlich die von Ian Kershaw, empfehlen. Es hilft nichts. Denn manches, was hier nur vordergründig gesehen wird, bekommt seine Bedeutung erst vor dem Hintergrund der historischen Folie. Wenn Sie sowohl Heinrich August Winkler als auch die Kershaw-Biografie über Hitler lesen und sich mit der Weimarer Zeit beschäftigen, dann können Sie etwas über die Entwicklung der NSDAP von ihrer anfänglichen Bedeutungslosigkeit bis zur explosionsartigen Überwindung der Demokratie erfahren. Sie werden etwas über die Verharmlosung der Nationalsozialisten durch das Bürgertum in Deutschland lesen. Diesen Hintergrund muss man sehen, denn daraus erwächst für uns eine besondere Verantwortung. ({3}) Vor allem diejenigen, deren Vorfahren Hitler 1933 mit ermächtigt haben, sind gehalten, diese Erfahrungen aus der Geschichte ernst zu nehmen und intensiv zu studieren. ({4}) Wer die NSDAP in der Weimarer Zeit und ihre Entwicklung mit der NPD und deren Aktivitäten vergleicht, sieht, dass wir es hier mit einer Kopie zu tun haben. Ich meine damit nicht nur die Übernahme des 20-Punkte-Programms durch die Jungen Nationaldemokraten. Vielmehr haben wir es in Stil, in Systemfeindschaft und in Sprache mit einer Neuauflage der NSDAP zu tun. Es beginnt mit der Systemfeindschaft. Der NPD geht es nicht um die Verbesserung des Systems, sondern sie sagt, das System sei das Problem. Wer Weimar kennt, weiß, was mit diesem Systembegriff angefangen worden ist. ({5}) Da sind wir als Parlament angesprochen. Auch bei der NPD geht es um einen Kampf gegen das liberale System, gegen den Liberalismus, weil die demokratische Tradition mit der Tradition des Liberalismus eine ganze Menge zu tun hat. Wer es angreift, greift den „langen Weg nach Westen“ an, will wieder in die reaktionäre oder gar völkische Ideologie zurück und wählt den Weg von der Demokratie zurück zur Diktatur. Das müssen wir ernst nehmen. Hier dürfen wir nicht wie bei Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ sagen, es sei schon nicht so schlimm, es werde schon wieder werden, sie hätten gar keine Zündhölzer dabei. Nein, wer so gebrannte Kinder wie wir in Deutschland hat, der muss besonders wachsam und aufmerksam sein. ({6}) Wenn die NPD mit ihren rechtsradikalen Kameradschaften durch das Brandenburger Tor marschiert, dann ahmt sie den Marsch der SA in die Diktatur nach. Das ist ein Symbol der Überwindung der Demokratie durch die Diktatur. Wenn ich die Hetz- und Hasslieder höre und mir anschaue, was dort in jungen Menschen vor sich geht, dann erinnert mich das immer an Annette von DrosteHülshoff: des Vorurteils geheimen Seelendieb, der in junge Brust die zähen Wurzeln trieb. ({7}) - Ja, sie hat es hervorragend ausgedrückt. Besser und sensibler kann man einen solchen Sozialisationsvorgang gar nicht beschreiben. ({8}) Wer ständig Hitler, Heß und andere verherrlicht, der steht in einer anderen Tradition. Wir haben in der Tat einen breiten Verfassungsbogen, Herr Zeitlmann. In ihn gehören Sie sicherlich ohne Probleme mit hinein. ({9}) - Er hat doch Angst geäußert und von uns die Bestätigung gewollt, dass er dort hinein gehört. Ich antworte ja nur auf ihn. Aber es gibt eben den Art. 79 Abs. 3, den Art. 1 und den Art. 20 des Grundgesetzes, wonach die Menschenwürde und die demokratische Ordnung unantastbar sind. Wer das nicht bejaht, ist nicht im Verfassungsbogen. ({10}) Meine Damen und Herren, wir müssen also lernen, „der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das alles kroch“, wie Bert Brecht einmal sagte, und diesen Kampf aufnehmen. Herr Westerwelle, Ihre Abwägung beruht darauf, dass Sie die Gefahr unterschätzen. Ich erinnere an die Stabilisierung der Weimarer Demokratie, als alle, auch Sozialdemokraten, die Nazis schon abgeschrieben und gedacht hatten, sie seien eine vorübergehende Erscheinung gewesen. Bei der nächsten Krise aber waren sie explosionsartig wieder da. Hier heißt es wirklich: Principiis obsta, sero medicina paratur, si mala per longas convaluere moras! ({11}) Aus dieser Debatte geht aber auch etwas Tröstliches hervor. Das habe ich kürzlich auch Leuten aus der amerikanischen Botschaft gesagt, die besorgt nachfragten: Der Unterschied zu Weimar besteht darin, dass sich in der Weimarer Zeit die wichtigsten und mächtigsten Menschen des Landes die Nazis wie flegelhafte Nutztiere halten wollten und am Ende selbst gehalten worden sind. Gott sei Dank ist in Wirtschaft und Gesellschaft des heutigen Deutschlands kein vernünftiger Mensch bereit, auf diese Karte zu setzen. Das ist der Unterschied zu Weimar. Das haben wir gemeinsam erreicht und das sollten wir der Welt auch gemeinsam sagen. ({12}) Meine Damen und Herren, warum das Parlament? Warum stellen wir den Antrag? Nicht nur, weil wir ein Wächteramt haben, sondern weil der zentrale Angriff derer, die auf Volksgemeinschaft, Führerprinzip und völkische Gedanken setzen, gegen das Parlament, gegen die Vertretung des Volkes und gegen den parlamentarischen Prozess geht. ({13}) Dagegen richtet sich der Angriff und unsere Antwort muss und wird sein: Wir sagen nicht nur, andere sollten handeln, sondern wir handeln selber und sind dazu in der Lage. ({14}) Wir schauen nicht nur zu, ob die anderen möglicherweise ein Risiko eingehen, um dann hinterher vielleicht ätzende Kommentierungen abzugeben. Es ist eine manchmal zu beobachtende bürgerliche Verhaltensweise, erst einmal zu schauen, ob sich andere den Hals brechen. ({15}) Nein, wir sind davon überzeugt: Die NPD hat in unserer Ordnung nichts zu suchen, wir kämpfen miteinander und werden miteinander Erfolg haben, damit diese Gedanken und dieses Handeln aus unserem Land dauerhaft verschwinden. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Zunächst zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern zur Verfassungswidrigkeit der ‚Nationaldemokratischen Partei Deutschlands‘“, Drucksachen 14/4500 und 14/4923. Der Ausschuss empfiehlt dem Bundestag, beim Bundesverfassungsgericht die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD sowie die Folgeentscheidungen dazu zu beantragen. Weiter wird empfohlen, den Präsidenten des Bundestages zu beauftragen, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen und die Entscheidungen der Bundesregierung und des Bundesrates, Anträge auf ein Verbot der NPD zu stellen, zu begrüßen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 14/4923? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, PDS und einer Stimme der F.D.P. gegen die Stimmen von CDU/CSU und der restlichen F.D.P. und bei einigen Enthaltungen bei Bündnis 90/Die Grünen angenommen. ({0}) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4883 mit dem Titel „Verfassungswidrigkeit der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der SPD, von Bündnis 90/Die Grünen, der F.D.P. und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/4888 mit dem Titel „Für eine wirksame und nachhaltige Bekämpfung des Rechtsextremismus - deshalb gegen ein NPD-Verbot“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und bei einigen Enthaltungen der CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im Übrigen abgelehnt worden. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4897 mit dem Titel „Bestrebungen zur Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankenguts sind verfassungswidrig“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDSFraktion und gegen einige Stimmen der SPD-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im Übrigen abgelehnt. Es sind einige Erklärungen zur Abstimmung zu Protokoll genommen worden, und zwar von den Kollegen und Kolleginnen Volker Beck ({1})1), Angelika Beer, Grietje Bettin2), Wolfgang Börnsen ({2})3), Antje Vollmer4), Axel Berg und Konrad Gilges5). Damit sind wir am Ende dieses Tagesordnungspunkts angelangt. Ich möchte mitteilen, dass es heute keine namentlichen Abstimmungen gibt. Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf: Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und bitte diejenigen, die an der Debatte nicht teilnehmen wollen, den Plenarsaal möglichst geräuschlos zu verlassen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Wilhelm Schmidt.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin- nen und Kollegen! Man hat immer das Gefühl, dass der Vermittlungsausschuss ein eher trockenes Gremium ist, ein Gremium, das hinter den Kulissen versucht, die eine oder andere Position zusammenzubringen, damit Ergeb- nisse erzielt werden können, die sowohl dem Verfas- sungsorgan Bundestag als auch dem Verfassungsorgan Bundesrat am Ende die Zustimmung ermöglichen. Die gestrige Vermittlungsausschusssitzung hat nicht nur sehr lange gedauert, sondern ist auch genau diesem Anspruch gerecht geworden. Man hat sich über die unterschiedli- chen Positionen ausgetauscht und hat sich sehr stark da- rum bemüht, einen Kompromiss zu finden. Dass das an- gesichts der vorliegenden Vermittlungsaufträge nicht ganz leicht sein würde, war klar. Wir haben deswegen - ohne die Zeit für die Vorbesprechungen einzurechnen - siebeneinhalb Stunden gebraucht und sind zu Ergebnissen gekommen, die heute, so hoffe ich, die Zustimmung des Hauses, aber auch am 21. Dezember dieses Jahres die Zu- stimmung des Bundesrates finden werden. Sie sehen mich als Vertreter der Koalition, insbeson- dere der SPD, sehr zufrieden, weil wir bei den Entschei- dungen, die der Vermittlungsausschuss gestern getroffen hat, weitestgehend unsere Positionen durchgesetzt haben, ohne dabei, wie ich finde, die andere Seite übermäßig ver- letzt bzw. die anderen Positionen nicht ausreichend berücksichtigt zu haben. Ich hoffe deswegen auch darauf, dass die Opposition dieses Hauses, aber auch die B-Län- der im Bundesrat die erzielten Ergebnisse entsprechend würdigen und entsprechend abstimmen werden. Wir haben zwei der vier Vermittlungsaufträge zunächst nicht behandelt. Das Verkehrswegeänderungsgesetz wur- de nicht behandelt, weil es hier noch Abstimmungsbedarf gibt, und zwar sowohl aufseiten der Bundesregierung als auch aufseiten der Bundesländer. Das haben wir entspre- chend gewürdigt und haben deswegen das Gesetzespaket von der Tagesordnung abgesetzt. Wir haben auch das Bundeswahlgesetz nicht behan- delt, obwohl die Dinge dadurch - das gebe ich zu - ein wenig schwieriger werden; denn die Vorbereitungen für die nächste Bundestagswahl müssen im administrativen Bereich nun wirklich langsam in Gang kommen. Aber da wir auch noch die Wahlkreisreform vor uns haben, schien es uns gerechtfertigt zu sein, dass wir dem Wunsch der Bundesländer nachkommen, keine Entscheidung am ges- trigen Abend herbeizuführen. Das ist insbesondere auch deswegen wichtig, weil die Frage der Entschädigung für die Wahlorganisationskosten eine besondere Rolle für die Gemeinden und Städte spielt. Hier gibt es noch Verhand- lungsbedarf. Dem wollten wir Rechnung tragen. Ich komme nun auf den Punkt zu sprechen, den wir ab- schließend behandelt haben, nämlich die Gefangenenent- lohnung. Sie wissen, dass es dazu ein Verfassungsge- richtsurteil gibt, das uns zwingt, jetzt zügig zu handeln. Das haben wir auch getan: Der Deutsche Bundestag hat vor ei- niger Zeit mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen die Änderung des betreffenden Gesetzes beschlossen, die die Anhebung der Gefangenenentlohnung zum Ziel hatte. Dies ist nicht auf Zustimmung der Länder gestoßen. Wir wollen das im Grundsatz durchaus respektieren, weil die Länder Präsident Wolfgang Thierse 1) Anlage 14 2) Anlage 15 3) Anlage 16 4) Anlage 17 5) Anlage 18 diejenigen sind, die das ganz allein zahlen müssen. Von daher ist das Interesse auf der Länderseite naturgemäß größer. Aber es besteht auch ein prinzipielles Interesse daran, dass die Gefangenenentlohnung, die bisher 5 Prozent vom Ecklohn betragen hat, also bei voller Beschäftigung etwa 220 DM im Monat ausmachte, nicht mehr auf diesem niedrigen Niveau verharrt. Insofern haben wir das Verfassungsgerichtsurteil begrüßt. Wir haben begonnen, die notwendigen Veränderungen herbeizuführen. In den Verhandlungen von gestern Abend ist aber nicht mehr herausgekommen, als den Ecklohn auf 9 Prozent anzuheben. Das ist eine Anhebung um immerhin fast das Doppelte. Es ist wichtig, das als Ausgangspunkt zu bewerten; jedenfalls sehen wir es so. Der Bundestagsbeschluss von 15 Prozent ist damit nicht im Entferntesten erreicht worden; aber unter diesen Umständen war nicht mehr möglich. Ich sage noch einmal: Wir betrachten das als Ausgangspunkt. Der zweite Beschluss in diesem Paket besteht darin, die Entlassungsmöglichkeit vorzuziehen oder Arbeitsurlaub, festgesetzt auf sechs Tage, zu gewähren. Auch das ist ein Faktum, das, auch wenn es keine direkten finanziellen Auswirkungen hat, den arbeitenden Gefangenen entgegenkommt. Schließlich haben wir den Ausgleichsfaktor für die Zahlungen, die mit diesem Arbeitsbefreiungstatbestand zusammenhängen, auf 15 Prozent festgesetzt. Ich glaube, dass dies insgesamt zwar nicht unbedingt das Gelbe vom Ei ist, aber ein Ergebnis, das wir tragen können und tragen wollen. Deswegen empfehlen wir Ihnen hier die Zustimmung. Im weitesten Sinne hat es diese Zustimmung gestern im Vermittlungsausschuss gegeben: Es gab immerhin 23 Stimmen für dieses Paket. Ich will noch einen kurzen Hinweis auf die Diskussion über die Entfernungspauschale geben. Wir fühlen uns in der Koalition darin bestärkt, mit der Entfernungspauschale, die gestern als unechter Beschluss zustande gekommen ist, unsere Politiklinie aufrechterhalten zu haben. ({0}) Diese Linie lässt sich mit folgenden Worten skizzieren: Wir wollen ökologisch vorgehen und der Bevölkerung klarmachen, dass sie dadurch, dass wir den ÖPNV dem PKW-Verkehr, was die steuerliche Entlastung angeht, gleichstellen, eine neue Chance hat, die sie nutzen sollte. Ich bin sehr zufrieden. Ich empfehle Ihnen, beide Ergebnisse des Vermittlungsausschusses anzunehmen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Schmidt, um es von vornherein klarzustellen: Das Ergebnis der Verhandlungen zur Entfernungspauschale, das gestern Abend im Vermittlungsausschuss erzielt worden ist - Sie haben es gewollt -, werden wir im Bundestag eindeutig ablehnen. ({0}) Die ganze Diskussion über eine Entfernungspauschale und einen Heizkostenzuschuss ist letztlich nur ein plumpes Ablenkungsmanöver von der völlig verfehlten Ökosteuer. ({1}) Wir haben von Anfang an gesagt - die Menschen haben das spätestens im letzten Jahr gemerkt -, dass mit dieser Steuer allen Bürgern das Geld aus der Tasche gezogen wird. Mit der Entfernungspauschale geben Sie davon einem Bruchteil der Bevölkerung etwas zurück. Als die Verärgerung über die Ökosteuer für die Regierung gefährlich wurde, hat Schröder reagiert. Aber die nächstliegende Konsequenz, die Abschaffung der Ökosteuer oder zumindest der Verzicht auf die nächste Erhöhung ab dem 1. Januar, konnte und wollte der Kanzler - offenbar aus politisch-taktischen Gründen - nicht ziehen. Dem stand die Rücksichtnahme auf die Grünen entgegen, denen er nicht die letzte Trophäe ihrer Regierungsverantwortung nehmen wollte. Dem stand auch die gebetsmühlenhaft wiederholte Behauptung entgegen, dass die Ökosteuer zur Senkung der Rentenbeiträge verwendet werde. Also musste der Kanzler ein anderes Kaninchen aus dem Zylinder ziehen. Das waren dann die Entfernungspauschale und der Heizkostenzuschuss. Sie sollen den Volkszorn beschwichtigen, ohne die Grünen zu demütigen und ohne dass die Regierung eingestehen muss, dass die Ökosteuer im Kern gescheitert ist. Aber wie das „Handelsblatt“ treffend schrieb: Wer es allen recht machen will, macht alles falsch. ({2}) Genau das ist bei der Entfernungspauschale der Fall. Sie ist der Ausdruck einer Politik, die sich nicht an sachlichen Notwendigkeiten orientiert, ({3}) sondern den einzigen Zweck der Machtausübung im Machterhalt sieht. Das Gesetzgebungsverfahren zur Entfernungspauschale ist ein Modellfall dafür, wie der Bundeskanzler reagiert. Erst geht er großspurig mit dem Versprechen an die Öffentlichkeit: 80 Pfennig Entfernungspauschale für alle, unabhängig von den Verkehrsmitteln. - Dann bekommt er Druck von den Ländern, weil die nicht mit finanzieren wollen, und so werden aus den 80 Pfennig für die Bahn-, Bus- und Radfahrer 60 Pfennig und oben wird noch ein Deckel eingezogen. Dann laufen die Grünen Wilhelm Schmidt ({4}) Sturm und von den groß angekündigten 80 Pfennig bleiben noch 70 Pfennig für alle. Erst ab 11 Kilometer bleiben die ursprünglich von Schröder versprochenen 80 Pfennig, unabhängig vom Verkehrsmittel. Der eingezogene Deckel bewirkt, dass das Ganze schön bürokratisch die Probleme erschwert und die Finanzämter noch mehr Arbeit haben. ({5}) Meine Damen und Herren, dieses Gesetz erfreut nicht einmal mehr die Steuerberater, denn sie haben schon mit der Steuerreform genug zusätzliche Arbeit bekommen. Das ist ein Regierungsstil nach dem Motto: Mal sehen, was dabei herauskommt, Hauptsache, es ist falsch. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Rauen, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schwalbe?

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Clemens Schwalbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002121, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rauen, Sie haben gerade davon gesprochen, dass ein oberer Deckel eingezogen wird. Können Sie vielleicht einmal erklären, wie eine Verkäuferin entlastet wird, die in Merseburg oder in Weißenfels im Saalepark - um ein Beispiel aus meinem Wahlkreis zu nehmen - mit einem Geringverdienervertrag, einem 630-Mark-Vertrag, arbeitet und jeden Tag 15 bis 20 Kilometer zur Arbeit fahren muss?

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist eine sehr interessante Frage. ({0}) - Ich will das in aller Ruhe beantworten, denn das ist eine sehr solide Frage. Genau die, die am meisten leiden, nämlich die Autofahrer, die ihr Auto dringend brauchen, um überhaupt zur Arbeit zu kommen, werden überhaupt nicht entlastet. Bei dieser Verkäuferin ist der Fall gegeben - da sie den Grundfreibetrag ohnehin nicht erreicht -, dass 8 Kilometer wirksam werden. Davon hat sie einen Groschen mehr - 80 Pfennig täglich - und sie fährt zwanzigmal im Monat hin und her. Das heißt, 20 mal 80 Pfennig kann sie steuerlich geltend machen. ({1}) - Ich weiß ja, Sie wollen das Beispiel nicht hören. Ich habe es ja gestern auch gemerkt. Sie wissen genau, dass es wahr ist. Sie wollen nicht hören, ({2}) dass die deutsche Öffentlichkeit erfährt, wie gering die Entlastung für diejenigen ist, die wirklich belastet werden. Ich bleibe bei der Antwort: Sie kann also 80 Pfennig pro Tag steuerlich absetzen. Das sind bei 20 Fahrten im Monat 16 DM. Ich unterstelle einmal, sie hat eine Steuerprogression von 35 Prozent, dann sind das 5,60 DM. ({3}) Sie muss aber im Monat 20 mal 40 Kilometer fahren, das sind 800 Kilometer. ({4}) Wenn sie 10 Liter pro 100 Kilometer braucht, sind das 80 Liter im Monat. Das macht genau 5,60 DM im Monat, die sie aufgrund der 7 Pfennig Erhöhung durch die nächste Stufe der Ökosteuerreform mehr zahlen muss. Das heißt, es ist ein völliges Nullsummenspiel. Sie hat keine Entlastung, sie bekommt lediglich das zurück, was sie aufgrund der Erhöhung im nächsten Jahr mehr zahlen muss.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Rauen, der Kollege Schwalbe will noch einmal nachfragen, und dann möchte Ihnen die Kollegin Hendricks noch eine Zwischenfrage stellen.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Erst Kollege Schwalbe, weil er noch nachfragen möchte.

Clemens Schwalbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002121, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rauen, ich wollte eigentlich nicht hören, was sie eventuell absetzen könnte. Vielmehr geht es mir darum: Wenn eine Arbeitskraft nur einen 630-Mark-Job hat, zahlt sie meines Wissens überhaupt keine Steuern. Wie soll sie steuerlich etwas geltend machen, wenn sie überhaupt keine Steuern zahlt? ({0})

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bei einem 630-Mark-Job kann sie in der Tat nichts absetzen. ({0}) Sie hat aber die Chance, dass ihr Arbeitgeber ihr die 80 Pfennig pro Kilometer Entfernung steuerfrei zahlt, wenn er eine pauschale Lohnsteuer von 15 Prozent dazubezahlt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage der Kollegin Hendricks?

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Dr. Barbara Hendricks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002672, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rauen, der Kollege Schwalbe ist mir mit seiner Zusatzfrage in gewisser Weise zuvorgekommen. Ich wollte Sie nämlich fragen, ob Sie bereit sind, zu bestätigen, dass jemand, der ohnehin steuerfrei ist, auch nicht steuerlich entlastet werden kann. ({0}) Und sind Sie auch bereit, mir zu bestätigen, dass jemand, der einen Geringverdienerarbeitsvertrag mit 630 DM im Monat hat, jedenfalls ziemlich ausgebeutet sein muss, wenn er dafür zwanzigmal zur Arbeit fahren muss, also jeden Arbeitstag im Monat? Sind Sie schließlich auch bereit, mir zu bestätigen, dass dann, wenn jemand schon auf diese Weise so ausgebeutet wird, der Arbeitgeber eben diesem Arbeitnehmer höchstwahrscheinlich auch keine pauschal versteuerte Fahrkarte zur Verfügung stellen wird - leider Gottes? Den Menschen geht es nicht wegen der steuerlichen Bedingungen schlecht, sondern wegen der Arbeitsmarktbedingungen, die in manchen Gegenden dieses Landes leider herrschen. ({1})

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Hendricks, das ist ja eine wunderschöne klassenkämpferische Frage, die Sie da stellen. Aber vielleicht können Sie sich vorstellen, dass diese Verkäuferin, von der gesprochen wurde, froh ist, die 630-Mark-Arbeitsstelle überhaupt zu haben, und deshalb auch gerne zu der Arbeitsstelle fährt. Sie wollen ja nur von der Tatsache ablenken, dass mit dem, was Sie zur Entfernungspauschale vorschlagen, mit dieser Erhöhung um 10 Pfennig für die Menschen auf dem flachen Land, die keine Alternative zu ihrem Auto haben, um zur Arbeit zu kommen, in der Tat gerade nur die Mehrkosten abgedeckt werden, die durch die Ökosteuererhöhung ab nächstem Januar auf sie zukommen. ({0}) Meine Damen und Herren, wir haben ja mitbekommen, wie sich die Ergebnisse durch die Diskussionen in der Koalition täglich geändert haben. Dass dieses Verfahren Methode hat, zeigt ein anderes Beispiel aus den letzten Tagen; ich meine die Auseinandersetzung um die Neufassung der AfA-Tabellen. Die Bundesregierung hat immer wieder beteuert, dass die Verlängerung der Abschreibungsfristen für die Wirtschaft zu Mehrbelastungen von nicht mehr als 3,4 Milliarden DM führen soll. Das stand nicht nur im Finanztableau des Steuersenkungsgesetzes, das hat nicht nur der Bundesfinanzminister gesagt, sondern das hat auch Bundeskanzler Schröder in den jüngsten Tagen der Wirtschaft mehrmals sehr deutlich versprochen. Weil auch der zweite Entwurf des Bundesfinanzministeriums weit über das gesetzte Ziel hinausschießt, beschließen die Finanzminister des Bundesfinanzministeriums und der Länder eine öffentliche Anhörung. In dieser Anhörung am 30. November 2000 führt sich der Steuerabteilungsleiter des Bundes dann so arrogant oder provozierend auf, dass die Veranstaltung in einem allgemeinen Tumult endet und sich die Vertreter der Wirtschaft fragen, warum sie überhaupt dort hingekommen sind. Obwohl danach selbst Frau Scheel von den Grünen anmahnt, die Sorgen und Einwände der Wirtschaft ernst zu nehmen, ({1}) obwohl die Finanzminister der von der Union regierten Länder ebenso wie der Wirtschaftsausschuss des Bundesrates mit guten Gründen eine förmliche Beteiligung des Bundesrates fordern und der Einführung der neuen Tabellen ausdrücklich widersprechen - so wie gestern im Bundesrat geschehen -, will das Bundesfinanzministerium diese Tabellen jetzt einfach durchsetzen und ab 1. Januar in Kraft treten lassen. Das ist wiederum ein schwerer Anschlag gegen die Wirtschaft, der insbesondere zur Benachteiligung des Mittelstandes führt. ({2}) Ich frage Sie, Herr Bundeskanzler: War die Anhörung vom 30. November 2000 nur eine Alibiveranstaltung? Waren Ihre Zusagen an die Wirtschaft nur leere Versprechungen oder entscheidet jetzt gar der Steuerabteilungsleiter des Bundesfinanzministeriums, wo es mit den Steuertabellen langgeht? Wenn die Ökosteuer gegen alle Vernunft dennoch nicht abgeschafft wird, sind auch wir der Meinung, dass die Pendler entlastet werden müssen. Aber wir wollen vor allen Dingen diejenigen entlasten, die keine Alternative zum Auto haben, um zur Arbeit zu kommen. Bei denen reicht, um es zu wiederholen, die Entlastung gerade aus, um die Erhöhung der Ökosteuer in der nächsten Stufe zu finanzieren. Die einzige Möglichkeit, die Folgen des massiven Energiepreisanstiegs abzufedern, ist der Verzicht auf die Ökosteuer. Das sagen nicht nur wir, das hat auch die öffentliche Anhörung des Finanzausschusses zu unseren Gesetzentwürfen ergeben. ({3}) Der Verzicht auf die Ökosteuer ist aber nicht nur ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft. Er wird sich wahrscheinlich auch aus Rechtsgründen gar nicht vermeiden lassen. Wir alle haben gehört, dass der Bundesfinanzhof in einer Stellungnahme gegenüber dem Bundesverfassungsgericht wesentliche Teile des Ökosteuergesetzes als verfassungswidrig bezeichnet hat. Die Kritik des Bundesfinanzhofes gilt den Vergünstigungen, die für energieintensive Betriebe des produzierenden Gewerbes vorgesehen sind. Diese sollen Nachteile für Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, vermeiden. Das führt zu solchen Blüten, dass zum Beispiel die Brotfabrik bei der Ökosteuer entlastet wird, der Bäckermeister aber die volle Ökosteuer bezahlen muss. Natürlich stehen nicht nur die Betriebe des produzierenden Gewerbes im internationalen Wettbewerb. Auch dienstleistende Unternehmen müssen sich gegenüber ausländischen Konkurrenten behaupten. Die Logik, die den Ermäßigungen für das produzierende Gewerbe zugrunde liegt, würde doch fordern, auch die deutschen Transportunternehmen von der Ökosteuer auszunehmen. Oder braucht man diese nur deshalb nicht zu berücksichtigen, weil es sich bei ihnen zum großen Teil um kleine oder kleinste Betriebe handelt? Auch Ihre Behauptung, dass die Bürger das, was Sie ihnen durch die Ökosteuer abnehmen, über niedrigere Rentenversicherungsbeiträge zurückbekämen, wird durch die gebetsmühlenhafte Wiederholung nicht richtiger. Bei der Einführung der Ökosteuer Anfang 1999 haben Sie sich noch bemüht, den Schein zu wahren. Die Senkung der Rentenversicherungsbeiträge entsprach damals genau dem Betrag, den Sie mit der ersten Stufe der Steuerreform eingenommen haben. Dieses Junktim war im Gesetz damals, Anfang 1999, auch exakt formuliert. In der Begründung des Gesetzes zur Fortführung der ökologischen Steuerreform Ende 1999 war von einer solchen Entsprechung schon nicht mehr die Rede. Da heißt es nur noch unverbindlich: Das Aufkommen ermöglicht, die Beiträge zur Rentenversicherung in den weiteren Stufen zu senken. Tatsache ist: Mit der Ökosteuer werden Sie bis zum Jahr 2003, wenn alle fünf Stufen gegriffen haben, einschließlich Mehrwertsteuer 37 Milliarden DM einnehmen. Im Rentenbericht der Regierung steht, dass der Beitrag von 1998 bis 2003 um ganze 1,2 Prozent fallen wird. Das sind aber bei 16 Milliarden DM pro Prozentpunkt Rentenversicherungsbeitrag ganze 19 Milliarden DM. Wo bleiben die restlichen circa 19 Milliarden DM, die Sie in Form von Beitragssenkungen den Bürgern wieder zurückgeben wollen? So haben Sie es versprochen. ({4}) Herr Bundeskanzler, ziehen Sie den Schlussstrich unter diese verfehlte Politik! ({5}) Verzichten Sie auf die Flickschusterei mit der Entfernungspauschale und dem Heizkostenzuschuss. Sie erreichen damit 2 Millionen Haushalte. Wir haben 39 Millionen Haushalte in Deutschland, die durch die Erhöhung der Energiekosten genauso belastet sind und die durch die Mehrkosten oft an die Grenze kommen, bis zu der sie sich noch selbst helfen können. An all diese Haushalte wird nicht gedacht. Es wird ein kleiner Teil ausgenommen; der Rest hat letztlich nur die Kosten zu tragen. ({6}) Machen Sie Nägel mit Köpfen! Schaffen Sie die Ökosteuer ab! Alles andere ist weiße Salbe und Flickschusterei. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Kerstin Müller.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsausschuss hat gestern unter anderem die Erhöhung der Entfernungspauschale beschlossen. Ich kann für meine Fraktion sagen: Wir finden dieses Ergebnis sehr gut; denn damit wird nach jahrelangen Diskussionen endlich mit der einseitigen steuerlichen Bevorzugung des Autos, auch durch die Kilometerpauschale, Schluss gemacht. ({0}) Diese einheitliche Entfernungspauschale stellt erstmals Fußgänger, Radfahrer und eben auch die Nutzer von Bus und Bahn den Autopendlern gleich. Das ist ein großer Erfolg der Koalition und ein riesiger Fortschritt im Vergleich zur bisherigen Situation. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, eigentlich würden Sie ja gerne zustimmen. Deshalb haben Sie hier einen solch quälenden Redebeitrag abgeliefert. Auch Sie haben nämlich dies alles in Ihrem Programm stehen. ({1}) Ich will die Gründe nennen, warum es vernünftig ist, eine einheitliche Entfernungspauschale einzuführen: Erstens ist es gerecht. Denn es wird endlich kein Verkehrsmittel mehr einseitig steuerlich privilegiert. Wir schaffen damit endlich die jahrzehntelange Autovorrangpolitik, die wir im Steuerrecht hatten, ab und stellen Wettbewerbsgerechtigkeit für Busse und Bahnen her. ({2}) Zweitens. Die Entfernungspauschale, die wir jetzt beschlossen haben, ist unbürokratisch und transparent. Bis zum zehnten Kilometer sind 70 Pfennig und ab dem elften Kilometer sind 80 Pfennig anzusetzen. Damit machen wir endlich Schluss mit der bisherigen Verführung zur Steuerhinterziehung. ({3}) Seien wir doch einmal ehrlich: Bisher war es so - das haben auch Sie von der Opposition in den Debatten bemängelt -, dass diejenigen, die mit dem öffentlichen Nahverkehr gefahren sind, in der Regel dennoch steuerlich den PKW abgerechnet haben. Damit machen wir jetzt Schluss; denn wir sehen eine einheitliche Behandlung aller Verkehrsmittel vor. Das ist ein großer Erfolg. Es gibt keine Bevorzugung mehr. ({4}) An dieser unbürokratischen Regelung ändert auch die von uns vorgesehene Nachweisgrenze von 10 000 DM nichts. Das bedeutet nämlich, dass 97 Prozent aller Pendler ihre Kosten pauschal angeben können und dass nur 3 Prozent ihre Fahrten individuell nachweisen müssen. Denn 97 Prozent der Pendler fahren weniger als 58 Kilometer. Das heißt, mit dieser Nachweisgrenze verhindern wir Missbrauch. Dies ist auch vernünftig. Wir haben also auch an diesem Punkt im Vermittlungsausschuss eine gute Regelung gefunden. ({5}) Drittens. Die Entfernungspauschale ist ökologisch. Weil mit ihr endlich alle Verkehrsmittel gleich behandelt werden, schafft sie nicht nur den Anreiz, genau abzurechnen, wie man fährt, sondern auch den Anreiz, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Damit ist sie ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz. Außerdem kommen zwei Drittel dieser zusätzlich von uns beschlossenen Förderung in Höhe von 1 Milliarde DM - so hoch ist nur noch das Finanzrisiko von Bund und Ländern - den Nutzern des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs zugute und ein Drittel den PKW-Pendlern. Das heißt, gerade für die Nutzer des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs ist diese Vereinbarung ein echter Fortschritt. Ich will deshalb gerade mit Blick auf den Bundesrat, zum Beispiel auf Hamburg und Berlin, deutlich sagen: Wir unterstützen mit diesem Vorschlag nicht nur die Pendler in der Fläche, sondern gerade auch die Menschen, die tagtäglich millionenfach den öffentlichen Nahverkehr in den Metropolen nutzen. ({6}) Ich kann deshalb an die Länder Berlin und Hamburg nur appellieren, diesem Vorschlag zuzustimmen. Denn dies ist eine echte Entlastung für die Menschen in den Städten und nicht nur für die Menschen auf dem Land. ({7}) Das Ganze zeigt, dass die Entfernungspauschale alles andere als ein Widerspruch zum Konzept der Ökosteuer ist. Im Gegenteil: Sie ist eine absolut sinnvolle Ergänzung. Die Vorteile der Entfernungspauschale im Vergleich zur bisherigen Kilometerpauschale liegen auf der Hand. Deshalb haben Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, und zwar sowohl Sie von der F.D.P. als auch Sie von der CDU/CSU, inzwischen längst das Konzept einer verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale der Grünen und der SPD übernommen. In den Petersberger Beschlüssen von 1998 forderten Sie von der Union zum Beispiel eine Pauschale von 40 Pfennig. ({8}) Ich habe mir heute das aktuelle steuerpolitische Konzept der CDU, das im Internet zu finden ist, genauer angesehen. Noch kann man es im Internet nachlesen; vielleicht kommt Frau Merkel jetzt auf die Idee, es zu löschen. Dieses Konzept ist überschrieben mit: „Die bessere Alternative“. Was ist nun gerade in diesem Punkt Ihre „bessere Alternative“? Die sollte man einmal vortragen; denn ich finde, die Menschen sollten sie kennen. Sie fordern in diesem Konzept - Herr Rauen, hören Sie einmal zu - „eine Pauschale von 50 Pfennig“, ({9}) und zwar erst dann - das ist wichtig -, wenn „die Arbeitsstätte weiter als 15 Kilometer von der Wohnung entfernt ist.“ ({10}) Außerdem wollen Sie einen „auf 1 500 DM verminderten Arbeitnehmerpauschbetrag“ einführen. ({11}) - Ich habe also richtig verstanden. Erstens wollen Sie für alle, die einen Arbeitsweg von weniger als 15 Kilometern haben, die Pauschale komplett streichen, ({12}) während wir bis zum zehnten Kilometer eine Pauschale von 70 Pfennig vorsehen. Diese Tatsache sollten alle Bürger kennen. Immerhin ist davon die Hälfte aller Pendler betroffen, weil sie einen Arbeitsweg unter 15 Kilometern haben. ({13}) Zweitens wollen Sie für alle anderen Pendler eine Kilometerpauschale einführen, die 30 Pfennig unter unserer Pauschale liegt. ({14}) Außerdem wollen sie für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so ganz nebenbei noch die Werbungskostenpauschale um 500 DM kürzen. Das soll Ihre so genannte bessere Alternative sein? Mit Ihren Vorschlägen hätten Sie alle Pendler um ein Vielfaches zusätzlich belastet. Ich kann nur sagen: Unser Vorschlag ist besser. ({15}) Unsere Maßnahme ist eine gute Ergänzung zum Konzept der ökologischen Steuerreform. Diesen Punkt will ich noch näher ausführen. Vor zwei Jahren, im Wahlkampf 1998, hat die gesamte Republik - also nicht nur wir und die SPD - die Senkung der Lohnnebenkosten gefordert. Wir haben das umgesetzt. Das Aufkommen aus der ökologischen Steuerreform wird in vollem Umfang für die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages genutzt. Kerstin Müller ({16}) ({17}) Damit konnten wir die versicherungsfremden Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung sozusagen auslagern. Das haben nicht nur wir, sondern auch Sie gefordert. Wir entlasten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Unternehmen im kommenden Jahr um insgesamt 22 Milliarden DM. Sie sollten angesichts dieser Entlastung aufhören, falsche Behauptungen aufzustellen. Die Forderung nach Aussetzung der Ökosteuer macht überhaupt keinen Sinn. Wer das fordert, muss auch gleichzeitig zugeben - da sollte er ehrlich sein -, dass er damit eigentlich auch die Erhöhung des Rentenbeitrags fordert. Der Beitrag würde nämlich steigen, wenn das Aufkommen aus der Ökosteuer nicht mehr in die Rentenversicherung fließen würde. Ich will Ihnen ein Beispiel geben, weil mich Ihre Vorwürfe wirklich nerven. ({18}) Ein Ehepaar mit einem durchschnittlichen Einkommen von 5 000 DM im Monat fährt mit einem Achtliterauto 15 000 Kilometer im Jahr. Was würde diese Familie sparen, wenn wir die Ökosteuer aussetzen? Wenn wir die Entlastung einbeziehen, die die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages mit sich bringt, dann kommt man auf einen Betrag von sage und schreibe 20 Pfennig, die diese Familie im Monat spart. ({19}) Da wir uns in einer steuerpolitischen Debatte befinden, muss ich noch Folgendes hinzufügen: Die gleiche Familie entlasten wir mit unserer Steuerreform im nächsten Jahr um 163 DM im Monat. Was soll also die Debatte um 20 Pfennig im Monat, wenn wir mit unserer Steuerreform eine Entlastung um 163 DM für diese Familie schaffen? ({20}) Das ist Steuerpolitik à la Rot-Grün: Wir entlasten die Familien. ({21}) Wir steuern außerdem ökologisch um. ({22}) Das war absolut überfällig, nachdem Sie 16 Jahre lang nichts für den Klimaschutz und fast gar nichts für die Familien getan haben. ({23}) Ich komme jetzt zu der Frage der Finanzierung. Wir haben das Finanzvolumen auf 1 Milliarde DM reduziert. Nach meiner Meinung kann es keinen Hinderungsgrund für die Länder mehr geben, diesem Vermittlungsergebnis zuzustimmen. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass es gerade die Ministerpräsidenten der Länder waren - auch die Ministerpräsidenten der von Ihnen regierten Länder -, ({24}) die nach einem sozialen Ausgleich für die gestiegenen Energiekosten - nicht aufgrund der Ökosteuer, sondern aufgrund der höheren Energiepreise - gerufen haben. Ich meine: Wer die Musik bestellt, der sollte sich wenigstens an der Finanzierung beteiligen. ({25}) Ich möchte für den Bund deutlich sagen: Man kann nun wirklich nicht behaupten - das haben die Länder gestern eindeutig zugegeben -, der Bund sei den Ländern nicht entgegengekommen. 75 Prozent der Kosten des gesamten Entlastungspaketes trägt der Bund. Die restlichen 25 Prozent sollen sich Länder und Gemeinden teilen. Ich meine, dass wir ein sehr faires Angebot bezüglich der Finanzierung vorgelegt haben. Ich kann von dieser Stelle aus nur noch einmal an alle Länder appellieren, diesem ökologisch und sozial vernünftigen Ergebnis, dessen Lasten finanziell gerecht verteilt werden, im Bundesrat am 21. Dezember zuzustimmen. ({26}) Für meine Fraktion handelt es sich um ein in jeder Hinsicht gutes Ergebnis: die Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer, die Unterstützung für Pendler, die nur einen kurzen Arbeitsweg haben, und die Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir werden dem Ergebnis deshalb gerne zustimmen. Ich möchte noch einmal an Sie appellieren. Auch Ihr Programm beinhaltet eine Entfernungspauschale. Sie ist sogar niedriger als die, die wir vorsehen. Ich hielte es für ein gutes Zeichen, wenn wir diese Entlastung für die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam beschließen würden. ({27}) Vielleicht können Sie heute - was Sie gestern Nacht nach zweieinhalb Stunden nicht geschafft haben - Ihrem Herzen folgen und über die Hürde springen und dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses zustimmen. Ich - und ich glaube, auch die Menschen in unserem Land hielte das für vernünftig. Danke schön. ({28}) Kerstin Müller ({29})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt folgt eine Kurzintervention des Kollegen Rauen.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Müller, Sie haben mich eben auf die Entfernungspauschale angesprochen, die im Steueränderungsgesetz von 1997 enthalten war. ({0}) Sie haben richtig gesagt, dass dies eine Fernpendlerpauschale in Höhe von 50 Pfennig pro Kilometer für alle, unabhängig vom Verkehrsmittel, war, die eine tägliche Strecke von mindestens 15 Kilometern zum Arbeitsplatz zurücklegen mussten. Dieser Betrag sollte unabhängig von dem Arbeitnehmerpauschbetrag gezahlt werden, der zurzeit immer noch verrechnet wird. ({1}) Erst muss jemand den Pauschbetrag erreichen, bevor er die Entfernungspauschale überhaupt angerechnet wird. Ist Ihnen bekannt, dass dieser damalige Vorschlag ({2}) im Gesamtkontext mit einem Reformkonzept mit einem Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einem Ausgangssteuersatz von 39 Prozent, einem flachen Tarif, stand, nach dem die Arbeitnehmer bereits ab 1998 massiv entlastet worden wären? Dieser Tarif kommt erst im Jahre 2005. Jetzt werden die Arbeitnehmer zunächst nicht entlastet und haben zusätzlich diese Belastung. ({3}) Ist Ihnen bekannt, dass wir damals keine Probleme mit dem Energiepreis hatten und dieses Gesetz damals erst recht nicht mit einem solchen Irrsinn von Ökosteuergesetz gekoppelt war, wie wir ihn zurzeit in Deutschland haben? ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Müller, Sie können erwidern, müssen es aber nicht.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da ich eher selten dazu Gelegenheit habe, möchte ich etwas erwidern. Ich spreche nicht von Ihrem Konzept von 1997, sondern von dem, das ich mir heute aus dem Internet gezogen habe. Das ist Ihr aktuelles Konzept. ({0}) In diesem aktuellen Konzept schlagen Sie die Regelungen vor, die ich eben genannt habe, das heißt, eine Pauschale, die erst bei einer Strecke von 15 Kilometern greift und sich auf 50 Pfennig und eben nicht auf 70 oder 80 Pfennig beläuft. Ich finde, das sollten die Menschen wissen. ({1}) - Das ist keine gefälschte Wiedergabe. - Wenn Sie etwas anderes wollen, müssen Sie Ihr Konzept ändern. Entweder Sie stehen zu Ihrem Steuerkonzept oder nicht. Ich habe Ihr aktuelles Steuerkonzept vorgelesen, mehr nicht. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat Herr Kollege Hermann Otto Solms das Wort.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die F.D.P. hat seit vielen Jahren die Umwandlung der Kilometerpauschale in eine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale gefordert. ({0}) So war es auch im Koalitionsbeschluss zu den Petersberger Beschlüssen vereinbart, allerdings im Rahmen eines völlig anders gestalteten Gesamtkonzeptes. Deswegen ist der Vergleich so nicht zulässig. ({1}) Wir haben noch vor wenigen Monaten dieses Konzept im Bundestag zur Abstimmung gestellt. SPD und Grüne haben es mit ihrer Mehrheit abgelehnt. ({2}) Noch im Juni hat Frau Staatssekretärin Dr. Hendricks im Rahmen der Beantwortung einer Frage gesagt: „Die Bundesregierung ist gegen kurzfristige aktionistische steuerliche Maßnahmen; vielmehr wird sie die Entwicklung der Benzinpreise sorgfältig beobachten.“ ({3}) Interessant ist - mit den gestiegenen Energiepreisen begründen Sie auch Ihren Gesetzentwurf -, dass Sie in dem Moment, in dem die Energiepreise wieder drastisch sinken und der Euro steigt, doch zu kurzfristig wirkenden Maßnahmen bereit sind. Es scheint also mit der Begründung nicht weit her zu sein. ({4}) Es scheint doch darum zu gehen, die fehlerhafte Entwicklung und insbesondere die schädlichen Auswirkungen der Ökosteuer auf die Wählerschaft ausgleichen und tarnen zu wollen, weil Sie Angst vor der nächsten Erhöhung und deren Folgen, insbesondere im Zusammenhang mit den bevorstehenden Wahlen, haben. ({5}) Wir sind für die Entfernungspauschale. Aber weil Sie diese auch jetzt wieder falsch machen - dazu werde ich gleich etwas sagen -, werden wir ihr nicht zustimmen. Wir werden uns enthalten. Ich will auch erklären, warum. Das Interessante ist, dass es einen heftigen - wie in der Presse berichtet wurde - Streit zwischen Grünen und SPD darüber gegeben hat, wie diese ausgestaltet werden soll. Wie immer ist ein fauler Kompromiss herausgekommen. Die SPD wollte - so interpretiere ich das - vorwiegend eine Entlastung der Pendler erreichen. Nur, mit dieser Entlastung von 80 Pfennig bei mehr als 10 Kilometern Entfernung entlasten Sie die Pendler nicht ausreichend. Die Entlastung eines durchschnittlichen Pendlers mit 20 Kilometern Entfernung und 9 Litern Benzinverbrauch auf 100 Kilometern liegt bei etwa 55 DM, die Belastung aber bei 277 DM. ({6}) Das ist also nur eine teilweise Entlastung. Was mir wichtiger ist: Ökologisch ist dies das völlig falsche Instrument. Deswegen verstehe ich die Begründung von Frau Müller überhaupt nicht. ({7}) Wenn sich die Grünen für eine ökologische Steuerreform eingesetzt hätten, hätten sie natürlich eine Erhöhung der Pauschale verhindern müssen; denn die Erhöhung der Pauschale führt dazu, dass die so genannte Lenkungswirkung der Ökosteuer - die ja ohnehin nicht vorhanden ist - noch einmal geschwächt wird. ({8}) Aus diesem Grunde war unser Konzept, das wir auf dem Petersberg beschlossen haben, ökologisch stimmig. Wir haben gesagt, wir müssen die ökologische Wirkung erhöhen und deshalb die Entfernungspauschale etwas niedriger ansetzen. Deswegen hatten wir 50 Pfennig beschlossen. Es wird doch ökologisch erst ein Schuh daraus, wenn damit eine Lenkungswirkung erzielt wird, wenn man versucht, die Leute dazu zu bewegen, von den privaten Verkehrsmitteln etwas weniger Gebrauch zu machen. Deswegen ist diese Maßnahme in sich widersprüchlich, wie überhaupt die ganze ökologische Steuerreform in sich widersprüchlich ist. Das ist auch mehrfach bestätigt worden, jüngst vom Sachverständigenrat, der gesagt hat, dass diese Unstimmigkeit Anlass geben sollte, den bisher verfolgten Ansatz aufzugeben. Das ist die alte Diskussion. Bei der Ökosteuer haben Sie die Betriebe, die besonders energieintensiv arbeiten, geschont, indem Sie sie ausgenommen oder deren Belastung niedrig gehalten haben. Sie haben das Aufkommen aus der Ökosteuer genutzt, um die Rente zu finanzieren, damit eine Rentensteuer verhindert und so dazu beigetragen, dass eine völlige Verwirrung eingetreten ist und kein Mensch mehr den Eindruck hat, dass etwas ökologisch Vernünftiges geschieht. Das ist in meinen Augen das große Dilemma bei dieser Diskussion: dass hier das gute Argument, eine vernünftige ökologische Politik zu machen - das wir alle unterstützen -, mit einer völlig verfehlten Maßnahme ad absurdum geführt wird ({9}) und dass die Menschen draußen im Lande den Eindruck gewinnen, die ökologische Argumentation sei nur eine vorgeschobene, eine Scheinargumentation zur Durchsetzung ganz anderer Ziele. ({10}) Das haben Sie mit dieser Diskussion bewirkt und das ist schädlich. Es ist nun einmal so: Wenn man eine Sache falsch anfängt, schafft man es nie mehr, sie wieder stimmig zu machen. ({11}) Das hat schon Johann Wolfgang von Goethe festgestellt, indem er sagte: „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zurande.“ ({12}) So ist es geschehen. Sie haben mit Ihrer Ökosteuer ein falsches, nicht stimmiges Konzept auf den Tisch gelegt, ({13}) was daran liegt, dass es unterschiedliche Vorstellungen zwischen der SPD und den Grünen gibt. Das Ergebnis ist eine totale Verwirrung und Enttäuschung bei den Betroffenen. Mit der fehlangelegten Maßnahme, die Sie jetzt durchsetzen wollen, wird die Situation nicht bereinigt, sondern noch schlimmer. Deswegen können Sie von uns keine Zustimmung erwarten. Vielen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Die heutige Debatte zeigt, dass es im Deutschen Bundestag gute Literaturkenntnisse gibt. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Barbara Höll.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS wird dem Vermittlungsergebnis bezüglich der Änderung des Strafvollzugsgesetzes zustimmen. Obwohl wir die Lösung nicht für optimal halten, finden wir, dass das zumindest ein Schritt in die richtige Richtung ist. Nun zur Frage der Entfernungspauschale, der verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale. Ich denke, sowohl das unechte Vermittlungsergebnis als auch das Gezerre auf dem Weg dahin zeigt noch einmal die Verkorkstheit der rot-grünen Ökosteuer ({0}) - Herr Schmidt, halten Sie sich noch etwas zurück und warten Sie auf die Begründung -, einer Steuer, die weder eine ausreichende ökologische Lenkungswirkung entfaltet noch sozial gerecht ist. Wir meinen, dass das Vermittlungsergebnis, das jetzt erzielt wurde, zumindest einen gewissen sozialen Ausgleich schafft. Aber es zeigt im Nachhinein auch das Eingeständnis, dass es notwendig war, bei Ihrer Ökosteuer einen sozialen Ausgleich herzustellen. Wir alle in diesem Haus wissen sicherlich, dass die Ursache für die gestiegenen Mineralölpreise nicht in erster Linie bei der OPEC liegt und nicht in erster Linie auf die Ökosteuer zurückzuführen ist. Vielmehr haben insbesondere die Mineralölkonzerne einen riesigen Reibach gemacht. ({1}) Trotzdem sind wir als Politikerinnen und Politiker für den Teil der Verteuerung, den wir geschaffen haben, verantwortlich. Das ist nun einmal die Ökosteuer. Frau Müller hat versucht, zu beweisen, wie gut jetzt der soziale Ausgleich sei. Sie haben als Beispiel eine berufstätige Familie herausgegriffen - natürlich, weil nur dann Einkommensteuer gezahlt wird, wenn jemand berufstätig ist. Es ist und bleibt aber so, dass weder die Rentnerin und der Rentner noch die Studentin und der Student, noch die von der Sozialhilfe abhängigen Familien einen sozialen Ausgleich bekommen - auch nicht durch die Entfernungspauschale. Diese Menschen sind aber die durch die Ökosteuer wirklich Gekniffenen. ({2}) Denn sie haben mehr Belastungen, aber keinerlei sozialen Ausgleich. Vor diesem Hintergrund müssen Sie verstehen, dass unsere Begeisterung sich etwas in Grenzen hält. Zumindest ist das nun gefundene Ergebnis aber ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings kann ich mir nicht verkneifen, Sie noch einmal daran zu erinnern, dass wir es waren - in diesem Jahr in der ersten Lesung zum Haushalt waren es mindestens drei Rednerinnen und Redner von der PDS -, die gefordert haben, die verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale als eine mögliche Nachbesserung zur Ökosteuer einzuführen. Das wurde damals von Rot-Grün noch abgelehnt. Wir freuen uns, das der PDSVorschlag jetzt eine solche Mehrheit findet. ({3}) - Natürlich hat das mit der Ökosteuer zu tun; das wissen wir auch alle. Wir freuen uns, dass es endlich gelungen ist, Fußgänger, Radfahrer, Benutzer und Benutzerinnen des ÖPNV den Autopendlern gleichzustellen. Unzulänglichkeiten sind aber geblieben. Es ist klar, dass sich bei einem Betrag von 70 Pfennig pro Entfernungskilometer für die große Masse der Autopendler - die durchschnittliche Entfernung zwischen Arbeits- und Wohnort beträgt 10,7 Kilometer - nichts ändern wird. Im Zusammenhang mit der Einführung und Erhöhung der Entfernungspauschale wird häufig über die Gefahr der Zersiedlung gesprochen. Ich finde, man sollte nicht aus dem Auge verlieren - das möchte ich noch einmal hervorheben -, dass sehr viele Menschen aus den Stadtkernen heraus in Gewerbegebiete, die außerhalb der Wohngebiete liegen, fahren müssen. Lange Pendelwege entstehen eben nicht ausschließlich, weil die Menschen ins Grüne ziehen wollen, sondern weil die Gewerbegebiete auf der grünen Wiese entstanden sind und weil - das ist die Hauptursache - eine Vielzahl von Menschen überhaupt keine Chance hat, vom Auto auf andere Verkehrsmittel umzusteigen. Damit sind wir wieder bei der Ökosteuer. Es bleibt nun einmal ein Grundfehler der Ökosteuer, dass man die Mehreinnahmen in die Rentenkassen gibt, anstatt sie für den ökologischen Umbau der Gesellschaft zu verwenden. ({4}) Wir können einen ökologischen Umbau der Gesellschaft mit den Menschen gemeinsam nur erreichen, wenn sie vernünftige Chancen haben, ihr persönliches Verhalten zu ändern, zum Beispiel indem sie die Möglichkeit bekommen, vom Auto auf andere Verkehrsmittel umzusteigen. Bislang ist es aber nicht zu einer Verkehrswende gekommen. Wir brauchen den Ausbau der Bahn; wir brauchen eine Senkung der Tarife im Personennahverkehr; wir brauchen die Verbesserung des Angebotes des ÖPNV. Die Diskussionen der letzten Wochen zeigen aber, dass genau der gegenteilige Prozess einsetzt. Die Bahn zieht sich massiv aus der Fläche zurück und ganze Regionen - zum Beispiel im Schwarzwald, in Ostfriesland oder im Umland von Berlin - werden vom Schienenverkehr abgekoppelt. Das kann nicht sein. Wir müssen das Geld aus der Ökosteuer gezielt für den ökologischen Umbau einsetzen. Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft einen weiteren Fehler der Ökosteuer - übrigens ist dieser Fehler der Grund dafür, dass Sie heute Nacht so lange diskutieren mussten -: Der Bund nimmt die Mehreinnahmen aus der mit Ihrer Mehrheit verabschiedeten Ökosteuer zur Gänze. Jetzt aber, wenn es einen ersten sozialen Ausgleich gibt, sollen sich die Länder und die Kommunen an der Finanzierung des sozialen Ausgleiches beteiligen. Das ist ganz einfach ein Grundfehler in der Konstruktion. ({5}) Ich denke, es ist mehr als verständlich, dass die Länder an diesem Punkt erst einmal protestiert haben. Frau Müller hat angemahnt, die Länder sollten sich beteiligen. Ich finde, wir müssen die Ermahnung erweitern: Die Länder dürfen ihre Belastungen nicht ihrerseits auf die Kommunen abwälzen, denn die Kommunen sind durch die Ökosteuer schon genug belastet. Wenn die Länder und Kommunen diesen sozialen Ausgleich im Ergebnis zu über 50 Prozent gegenfinanzieren sollen, dann ist das für sie schon ein Problem. Abschließend möchte ich feststellen: Die PDS wird dem Vermittlungsergebnis zustimmen, obwohl die Verkorkstheit der Ökosteuer dadurch nicht aufgehoben wird. Die Verkehrsmittelunabhängigkeit ist aber ein Schritt in die richtige Richtung. Und es erfolgt ein gewisser sozialer Ausgleich. Den unterstützen wir mit ganzer Kraft. Ich bedanke mich. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Joachim Poß.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So sehr man Literaturkenntnisse in diesem Hohen Hause begrüßen sollte, wie die Präsidentin das gemacht hat, so sehr muss man doch bemängeln, wenn die Kenntnis der eigenen Parteiprogramme nicht in gleicher Weise ausgeprägt ist. ({0}) Ich hatte den Eindruck, dass sich Herr Rauen schon des eigenen Konzeptes schämt. Wir reden nicht von den Petersberger Beschlüssen, sondern - erinnern Sie sich an den Anfang dieses Jahres - von der „besseren Alternative der CDU/CSU“, erarbeitet in einem sehr mühsamen Prozess von den Herren Faltlhauser und Merz. ({1}) In diesem Vorschlag steht - das müssen die Pendlerinnen und Pendler wissen -: Bis zum 15. Kilometer soll jede Pauschale wegfallen. Ab dem 16. Kilometer gibt es dann nur noch eine einheitliche, verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale auf der Basis von 50 Pfennig. Damit errechnete die CDU/CSU sich ein Volumen von 5,1 Milliarden DM, mit dem sie im Wesentlichen die Absenkung des Spitzensteuersatzes auf 35 Prozent gegenfinanzieren wollte. Für die Spitzenverdiener sollten die Pendler also abkassiert werden! Das ist Ihr Konzept. ({2}) Das werden wir den Bürgerinnen und Bürgern in den nächsten Wochen bis zum 21. Dezember noch einmal deutlich vor Augen führen. Heute ist der letzte Sitzungstag des Deutschen Bundestages in diesem Jahr. Wir stehen kurz vor Weihnachten. Wir können feststellen: Es war für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland steuerpolitisch ein gutes Jahr. ({3}) Die Koalition hat für sie Steuerentlastungen in einer Höhe beschlossen, die es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben hat. ({4}) - Das ist nicht falsch. Ich kenne die Steuergeschichte der 80er-Jahre etwas besser als Sie. Ich will mich hier aber nicht in Details verlieren. ({5}) Ob ein großer Teil der Steuerzahler, nämlich Pendlerinnen und Pendler sowie die Benutzer der öffentlichen Verkehrsmittel, eine zusätzliche steuerpolitische Gabe auf ihrem Tisch wiederfinden, hängt vom Verhalten der CDU/CSU und der von ihr geführten Länder am 21. Dezember dieses Jahres ab. Denn mit dem Ergebnis, das wir gestern mit diesem so genannten unechten Vermittlungsergebnis erzielt haben, werden die Bürgerinnen und Bürger zusätzlich zu den 45 Milliarden DM, die wir schon an Entlastung beschlossen haben, im nächsten Jahr um eine weitere Milliarde DM entlastet. ({6}) - Wir haben doch gemerkt, wie „leicht“ es Ihnen fiel, zu einem Ergebnis zu kommen. Weshalb haben Sie denn dann bei den Beratungen eine Auszeit von zwei Stunden genommen? Sie haben sie gebraucht, weil Sie die Probleme sehen, vor denen Sie stehen. Ihre Länder müssen doch begründen, warum die Pendler und die Benutzer des öffentlichen Nahverkehrs nicht entlastet werden sollen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Poß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Rössel?

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kollege Poß, ich nehme Bezug auf Ihre Bemerkung zu dem „erfolgreichen Jahr in der Steuerpolitik“. Nehmen Sie diese Bewertung auch angesichts der Entwicklung der Aktienkurse der Versicherungsunternehmen vor? Ich frage vor dem Hintergrund der Tatsache, dass nach Bekanntwerden der Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne an Beteiligungen die Aktienkurse der Allianz und der Münchner Rückversicherung von einem Tag auf den anderen um 20 Prozent gestiegen sind. Können Sie bestätigen, dass ein Ergebnis der Steuerpolitik der Bundesregierung darin besteht, diese Entwicklung maßgeblich befördert zu haben? ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will ja nicht persönlich werden, sondern bleibe ganz sachlich. Ich kann Ihnen bestätigen, Herr Kollege Rössel, dass wenige Tage nach Bekanntwerden dieser Konzeption an den Börsen die von Ihnen beschriebene Reaktion eingetreten ist. Im Übrigen hatten wir kurz darauf, eine Woche später, schon wieder eine andere Entwicklung. Ich wäre also vorsichtig mit solchen Belegen. Aber richtig ist, das haben wir gesagt: Wir wollen Verkrustungen aufbrechen. Und das scheint uns eine geeignete Maßnahme zu sein, diese Verkrustungen aufzubrechen, Herr Rössel. Deswegen stehe ich auch zu dem, was wir beschlossen haben. ({0}) Ich bin gespannt darauf, wie Ihre Länder sich am 21. dieses Monats verhalten werden. Es gibt nämlich keinen vernünftigen Grund, den von unserer Seite vorgelegten Kompromiss im Bundesrat endgültig scheitern zu lassen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht die Zustimmung der unionsgeführten Länder zu der von uns vorgeschlagenen Entlastung für alle Pendler. Frau Kollegin Müller hat schon die Vorteile dieser Entfernungspauschale dargestellt: dass damit erstmals alle Verkehrsmittel gleich behandelt werden. Der öffentliche Verkehr wird dem Individualverkehr gleichgestellt. Das ist ein Durchbruch für die Bundesrepublik Deutschland, meine Damen und Herren. ({1}) Künftig können alle Pendler ohne Nachweis einen Betrag von bis zu 10 000 DM jährlich von der Steuer absetzen. Das entspricht einer Entfernung von der Wohnung zur Arbeitsstätte von circa 56 Kilometern. Einen längeren Weg haben nur drei Prozent aller Pendler. Diese Langpendler können einen höheren steuerlichen Abzug geltend machen, wenn sie nachweisen, dass sie mit ihrem eigenen PKW oder mit einem zur Nutzung überlassenen PKW eine größere Wegstrecke zur Arbeit zurückgelegt haben. Wenn Sie jetzt kritisieren, das sei bürokratisch, müssen Sie doch ehrlicherweise den Menschen auch sagen, dass Sie gestern Abend eine Grenze von 6 500 DM vorgeschlagen haben. Damit würden Sie Bürokratie produzieren, Herr Rauen, nicht mit unserem Vorschlag. Jeder Fachkundige weiß, dass wir keine Bürokratie produzieren. ({2}) Das müssen sie im Übrigen einmal weitergeben an Ihren CDU-Generalsekretär Meyer. Der kennt nicht einmal das eigene Programm, wie seine heutige Stellungnahme bewiesen hat. Er hat nämlich gesagt, das sei ein Programm für Steuerberater. Das ist kein Programm für Steuerberater. Offenbar weiß Herr Meyer nicht einmal, dass auch in Ihrem Programm die Entfernungspauschale als Instrument vorgeschlagen wird. Es wird Zeit, dass der Mann dazulernt; diese Inkompetenz fällt doch langsam auf. ({3}) Die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel werden durch die vorgeschlagene Regelung gegenüber dem geltenden Recht sämtlich begünstigt. Wir haben als Nachweisgrenze einen Betrag von rund 10 000 DM gewählt. Dieser Betrag entspricht dem Preis einer Jahresnetzkarte der Deutschen Bahn in der ersten Klasse. Das Ergebnis ist ein deutliches Signal und ein großer Anreiz für die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel und damit eine wichtige umwelt- und verkehrspolitische Weichenstellung. Sie haben diesen Kompromiss mit fadenscheinigen Gründen abgelehnt, zum Beispiel mit dem Grund, dass wir darauf bestehen, dass die Finanzverfassung eingehalten wird. Ja, wollen wir denn, dass wir bei der Gelegenheit Verfassungsbruch begehen? Was haben Sie denn überhaupt für Vorstellungen? ({4}) - Herr Fromme, Sie haben ja sogar eine gewisse formale Ausbildung. Sie sollten mit solchen Behauptungen vorsichtig sein. ({5}) Das muss man Ihnen, glaube ich, sagen, weil Sie nicht Unkenntnis für sich in Anspruch nehmen können. ({6}) Die Wählerinnen und Wähler werden sehr schnell erkennen, welch eine obstruktive Haltung Sie hier eingenommen haben. Ich bin mir deshalb ganz sicher: Wir werden uns am 21. Dezember so durchsetzen, wie wir uns am 14. Juli durchgesetzt haben. ({7}) Das gilt auch für eine weitere Entlastung der Landwirte mit einem noch einmal ermäßigten Steuersatz fürAgrardiesel. Wir haben uns bereit erklärt, bei einer Zustimmung der Unionsseite zur Entfernungspauschale auch hier eine entsprechende Initiative zu ergreifen. Im Sommer wurde eine Steuerreform - mit Stimmen auch aus dem Lager der von der Union geführten oder mitregierten Bundesländer - beschlossen, wie es sie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nicht gegeben hat. ({8}) Das Steuersenkungsgesetz allein hat ein Entlastungsvolumen von 63 Milliarden DM. Das Bundesfinanzministerium hat am Mittwoch damit begonnen, die Bürger in den letzten Wochen vor dem Jahreswechsel über die Reformschritte zu informieren. Das ist wichtig, denn jeder soll wissen, was Bundestag und Bundesrat beschlossen haben. Jeder soll mitbekommen, dass CDU/CSU und F.D.P. jahrelang von Entlastung immer nur geredet, aber nie finanzierbare Konzepte vorgelegt haben. ({9}) Wir machen die Entlastung praktisch. Großer Gewinner dieser Steuerpolitik ist neben den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den Familien mit Kindern der Mittelstand. ({10}) Ich hebe das hervor, weil Sie wahrheitswidrig immer noch anderes behaupten. Der Vorwurf, dass wir Politik für die Großkonzerne machten, ist schlichtweg falsch. Die Zahlen belegen das Gegenteil. Die Informationskampagne des Finanzministeriums wird dazu beitragen, diese Behauptung der Opposition ad absurdum zu führen. ({11}) - Ich kann ja verstehen, Herr Fromme, dass Parteien, die es 16 Jahre lang nicht geschafft haben, den Mittelstand zu entlasten, jetzt nicht begeistert „Hurra!“ schreien. ({12}) Ein bisschen mehr Wahrheitsliebe wäre allerdings geboten. ({13}) Um in diesem Zusammenhang nur einen einzigen Punkt herauszugreifen: Wir haben es geschafft, die Personenunternehmen, von denen ein Großteil dem Mittelstand zuzurechnen ist, faktisch von der Gewerbesteuer zu befreien. Das ist eine Forderung, die jahrzehntelang von den Verbänden erhoben worden ist. Wir haben das geschafft und nicht Sie! ({14}) Wir haben es so gemacht, dass die Gewerbesteuer als Hauptfinanzierungsquelle der Kommunen erhalten bleibt. Das war übrigens im Konzept der Union anders: Sie wollten den Kommunen ans Leder. Aber das ist mit uns nicht zu machen. Unsere steuerpolitische Bilanz ist eindrucksvoll. Gleichzeitig gefährden wir damit nicht unser Konsolidierungsziel. Also: Ohne Gefährdung des Konsolidierungsziels realisieren wir die größte Steuerentlastung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und leisten damit sichtbare Beiträge zu mehr Gerechtigkeit und mehr sozialer Ausgewogenheit, zur Förderung eines nachhaltigen Aufschwungs, zur Entlastung des Mittelstands, des Motors der deutschen Wirtschaft, zu international wettbewerbsfähigen Steuersätzen und zu strukturellen Verbesserungen bei der Besteuerung der Unternehmen sowie zum konsequenten Abbau fragwürdiger Sonderregelungen und ungerechtfertigter Steuervergünstigungen - und das alles, nachdem CDU/CSU und F.D.P. das deutsche Steuerrecht verwüstet hatten und Millionäre in vielen Fällen überhaupt keine Steuern gezahlt haben. ({15}) Wir setzen den Verfassungsgrundsatz der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch. Wir haben mit unserer Politik zu einer verbesserten Umwelteffizienz des Steuersystems und zur Entlastung des Faktors Arbeit beigetragen - nicht mehr und nicht weniger. Das ist die Bilanz, mit der wir vor Weihnachten in diesem Jahr den Bürgern gegenübertreten. Ein wichtiges Standbein unserer Steuerpolitik ist die sozialökologische Steuerreform; landläufig wird sie als Ökosteuer bezeichnet. Sie nennen sie Abzockersteuer und wollen sich damit beliebt machen. Ruprecht Polenz wollte dieses perfide Spiel offensichtlich nicht mehr mitspielen. ({16}) Er wollte sich bei der nächsten Ökosteuerkampagne nicht mehr auf ein Kickboard stellen lassen ({17}) und die Leute glauben machen, bald müssten sie alle Roller fahren, weil die Sozis das Benzin verteuern. ({18}) Ruprecht Polenz hat die Reißleine gezogen und damit einer Oppositionspolitik, die nur diskreditiert, verleumdet und auf Stimmungen setzt, eine klare Absage erteilt. Das gilt übrigens auch für die Sozialdemagogie der PDS, um das noch einmal hinzuzufügen. ({19}) Ich will deshalb auf diesen Punkt der Ökosteuer nicht eingehen. Ich will nur noch einmal an Folgendes erinnern: Sie werfen uns vor, wir „tanken für die Rente“. Sie haben aber in der Vergangenheit dann nach dem Motto gehandelt: Wir tanken, um Löcher zu stopfen. Das kommt für uns nicht in Frage. ({20}) - Ich bin überhaupt nicht verbittert. Ich bin voller Freude, dass wir kurz vor Weihnachten eine solch eindrucksvolle steuerpolitische Bilanz hier im Bundestag diskutieren können. ({21}) Wir haben bereits jetzt - durch das Steuerentlastungsgesetz und das Familienförderungsgesetz - dafür gesorgt, dass die Familien mit Kindern jetzt zu Weihnachten wieder stärker zu ihrem Recht kommen. Etwas pathetisch gesprochen: Sie können wieder etwas mehr auf den Gabentisch legen. Das gilt auch für die Durchschnittsverdiener, die bei Ihnen jahrelang die Lastesel der Nation waren. Das haben wir geändert. ({22}) Diese Politik setzen wir überzeugend fort. Deswegen: Es war ein gutes Jahr, nicht nur für diese Koalition, sondern für die Bürgerinnen und Bürger, für Arbeitnehmer, für Familien und für den Mittelstand. ({23})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Gerda Hasselfeldt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Poß, Sie tun ja gerade so, als würden Sie heute über die größte Wohltat aller Zeiten ({0}) - das schönste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten - entscheiden. Aber nun wollen wir einmal das Ganze wieder auf die Realität zurückführen. Was tun Sie denn? Sie zocken die Bürger durch fünfmalige Steuererhöhungen auf brutale Weise ab. ({1}) Sie haben sie geprügelt und Sie prügeln sie auch in Zukunft durch weitere drei Steuererhöhungen. ({2}) Anschließend versuchen Sie, die Verwundungen, die Sie damit angerichtet haben, mit einem kleinen Heftpflaster zu heilen. Meine Damen und Herren, so geht es nicht. Wir sind der Meinung, wenn man die Leute erst gar nicht prügelt, braucht man auch kein Heftpflaster. ({3}) Das Ganze wird jetzt aber noch etwas pikant gewürzt; hier zeigt sich - das will ich nicht verschweigen - eine gewisse Raffinesse des Finanzministers. Der Bundesfinanzminister kassiert die Ökosteuer ganz allein, sorgt aber dafür, dass für das Heftpflaster, also den Ausgleich der Ökosteuer, den größten Teil die Länder zahlen müssen. Meine Damen und Herren, so geht es natürlich auch nicht. ({4}) Ich habe sehr wohl Verständnis für die Kritik der Länder, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Berechnungen von Bayern und Nordrhein-Westfalen - auch dies ist gestern deutlich zum Ausdruck gekommen und heute noch einmal bestätigt worden - andere als die vom Bund vorgelegten sind. ({5}) Von vornherein besser wäre es gewesen und wäre es immer noch, wenn Sie das Grundübel beseitigten, wenn Sie also die Ökosteuer abschafften oder zumindest die weiteren Stufen ab dem 1. Januar 2001 aussetzten. ({6}) Vorhin ist behauptet worden, dass dann die Beiträge zur Rentenversicherung steigen müssten. Ich will Ihnen dazu einmal etwas sagen: Zum 1. Januar erhöhen Sie erneut die Ökosteuer; die Erhöhung macht in einem Jahr fast 6 Milliarden DM aus. Der Rentenversicherungsbeitrag sinkt jedoch nicht im gleichen Maße. Die zukünftige Beitragssenkung bei der Rentenversicherung macht gerade einmal 3,2 Milliarden DM aus. Angesichts dessen können Sie doch nicht ständig behaupten, die Ökosteuer werde zur Senkung der Beitragssätze in der Rentenversicherung verwendet. Dem ist nicht so und das muss man auch deutlich zum Ausdruck bringen. ({7}) Nun möchte ich aber auch ein paar Sätze darauf verwenden, was nun tatsächlich an konkreten Auswirkungen für die Bürger im Beschluss des Vermittlungsausschusses enthalten ist. Ist die Entfernungspauschale wirklich ein Ausgleich für die gestiegenen Benzinkosten und für das, was Sie mit Ihrer Ökosteuer angerichtet haben? Ich verdeutliche Ihnen das an einem Beispiel: Bei einer Fahrtstrecke von 20 Kilometern und einem Durchschnittsverbrauch von 10 Litern pro 100 Kilometer ({8}) beträgt der Mehraufwand bei einer Benzinpreiserhöhung von 35 Pfennigen - das ist genau der Preisanstieg, den Sie allein durch die Ökosteuererhöhungen verursachen 280 DM im Jahr. Nun betonen Sie, ab 10 Kilometern werde die Pauschale für Autofahrer um 10 Pfennige erhöht. Das bringt bei einem Grenzsteuersatz von 35 Prozent nicht etwa eine Steuerersparnis von 280 DM - dies entspräche den Mehrkosten -, sondern nur von ganzen 70 DM. Hier kann man nicht von Entlastung der Autofahrer sprechen, sondern das ist, wie ich vorhin sagte, ein kleines Heftpflaster auf die große Wunde, die Sie den Menschen zunächst einmal zugefügt haben. ({9}) Ich füge ein Zweites hinzu - Frau Müller hat es vorhin selbst gesagt -: Der Großteil der Entlastungen in diesem Paket landet eben nicht bei den Autofahrern, die durch die Ökosteuer zusätzlich belastet sind, sondern bei denen, die zum Beispiel die Bahn benutzen. Genau hier wird in einem wesentlich höheren Maße entlastet - letztlich subventioniert -, obwohl keine entsprechende Belastung vorhanden ist. Frau Müller hat gesagt, 75 Prozent des gesamten Volumens lande bei den Bahnbenutzern und nur 25 Prozent bei den Autofahrern. ({10}) - Natürlich hat sie das gesagt, sie hat von drei Viertel und ein Viertel gesprochen, das sind nach Adam Riese 75 bzw. 25 Prozent. Angesichts dessen wird deutlich: Nicht der Personenkreis, von dem Sie ständig reden, wird entlastet; entlastet wird vielmehr ein ganz anderer Personenkreis, der aber durch die Belastungen nicht so stark in Anspruch genommen wird. ({11}) Ein Weiteres zu den konkreten Auswirkungen: Die Geringverdiener - Peter Rauen hat in seinem Beitrag das Beispiel einer Verkäuferin gebracht -, diejenigen, die steuerlich kaum etwas oder gar nichts geltend machen können, aber doch auf das Auto angewiesen sind, werden durch die Ökosteuer zwar belastet, aber durch keine Ihrer Maßnahmen entlastet. ({12}) Ich will jetzt noch auf das eingehen, was in der Debatte eben eine Rolle gespielt hat, nämlich auf den Vorschlag seinerzeit in unserem Steuerkonzept, die Entfernungspauschale zu reduzieren. Ich finde, es ist schon fast ein bisschen unverschämt, dass dies immer wieder erwähnt wird, ohne den Gesamtzusammenhang zu sehen. ({13}) Deshalb will ich die zwei Punkte, die für eine Gesamtbetrachtung wesentlich sind - wesentlich auch für die Beurteilung dessen, was Sie im Unterschied dazu vorsehen -, herausstellen: Erstens. Im Zusammenhang mit der Senkung der Pauschale war bei uns ein Steuersatz von 15 bis 35 Prozent vorgesehen, und zwar nicht erst im Jahr 2005, sondern schon wesentlich früher. Zweitens. Wir hatten all dies ohne Mehreinnahmen durch eine Ökosteuer geplant. Sie dagegen veranstalten den ganzen Zirkus nur deshalb, weil Sie die Ökosteuer eingeführt und erhöht haben. ({14}) Ansonsten würden Sie ja weder die Entfernungspauschale einführen noch die Kilometersätze erhöhen. Den Zusammenhang mit der Ökosteuer können Sie nicht auflösen; er ist vorhanden und der entscheidende Punkt. Was Sie jetzt machen, ist eine massive Steuererhöhung in fünf Schritten. Sie sind nicht bereit, trotz unserer ständigen Anträge und trotz der Argumentation von Fachleuten, wenigstens auf die weiteren Stufen der Ökosteuer zu verzichten. Sie sehen nicht einmal eine vollständige Entlastung der Pendler vor, ({15}) sondern belasten stattdessen einseitig die Geringverdiener und bevorzugen letztlich diejenigen, die durch die Ökosteuer nicht so sehr belastet sind, nämlich die Bahnfahrer. All dies macht deutlich: Sie betreiben eine riesengroße Flickschusterei, weil Sie nicht in der Lage sind, Ihre ideologischen Scheuklappen endlich abzustreifen und etwas Vernünftiges zu machen. ({16}) Wir haben unsere Bereitschaft zum Kompromiss heute Nacht gezeigt. Wir haben sehr lange verhandelt, weil wir der Meinung sind, wir sollten uns nicht verschließen, wenn es irgendwo eine Möglichkeit gibt, zu Verbesserungen für die Betroffenen zu kommen. Aber nachdem Sie keine Bereitschaft gezeigt haben, auf die berechtigten Finanzierungsprobleme der Länder einzugehen, nachdem Sie keine Bereitschaft gezeigt haben, die einseitige Bevorzugung derjenigen, die durch die Ökosteuer nicht belastet werden, zu beseitigen und auch nicht bereit waren, andere Probleme im Zusammenhang mit der Ökosteuer zu lösen, ist eine Zustimmung unsererseits nicht möglich gewesen und wird auch heute nicht möglich sein. ({17}) Die richtige Entscheidung kann nur sein, das Übel an der Wurzel zu packen und die Ökosteuer wieder abzuschaffen. Ich will in diesem Zusammenhang noch einmal auf das hinweisen, was Sie in Ihrer Koalitionsvereinbarung geschrieben haben. Dort hieß es noch, Entscheidungen über die Ökosteuer seien immer im Lichte der Preisentwicklung auf dem Energiemarkt und der konjunkturellen Entwicklung zu sehen. Wenn Sie wenigstens das ernst nehmen würden, was Sie selbst in Ihrer Koalitionsvereinbarung geschrieben haben, wären wir schon ein Stück weiter. Sie müssten dann die Konsequenz ziehen und wenigstens die weiteren Stufen der Ökosteuer aussetzen. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Ulrike Mehl.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe einmal gehört, dass man einen Lerninhalt, den man vermitteln muss, etwa 40 Mal wiederholen muss, damit er haften bleibt. Ich glaube, das haben wir in den letzten Wochen gemacht. Aber bei Ihnen bleibt nichts haften. Ich verstehe das nicht. ({0}) Vor allen Dingen sollten Sie einmal über Ihre eigene Argumentation nachdenken, die vorne und hinten nicht stimmt. Ich halte es für einen richtig guten Erfolg, dass es jetzt eine Entfernungspauschale gibt. Das passt auch zum Konzept der Ökosteuer. ({1}) Zum ersten Mal wird der öffentliche Personennahverkehr mit begünstigt, und zwar nicht aus Gründen des Selbstzwecks, sondern aus Klimaschutzgründen. Wer Klimaschutz will, der darf nicht heiße Luft produzieren, so wie Sie das tun, sondern muss Entscheidungen treffen. Wir haben sie getroffen, und zwar die richtigen. ({2}) Der Sachverständigenrat, Herr Solms, hat eine ganze Reihe von Gutachten vorgelegt. Ich kann mich an viele Debatten erinnern, die wir über diese Gutachten geführt haben. Ich weiß inzwischen, dass man vorsichtig sein muss, wenn man bestimmte Teile aus solchen Gutachten zur Unterstützung der eigenen Argumentation heranzieht. Aber zur Ökosteuer hat sich der Sachverständigenrat ganz klar geäußert: Sie ist notwendig und richtig; man hätte zwar auch einen anderen Ansatz wählen können; aber die Einführung der Ökosteuer ist gut. Der Sachverständigenrat hat auch schon in früheren Gutachten einen Benzinpreis von 4,50 DM pro Liter empfohlen. Wenn Sie sich diese Position zu Eigen machten, dann könnten Sie etwas erleben. Ich empfehle Ihnen das nicht. Deswegen lassen wir die Energiepreise in maßvollen, planbaren und überschaubaren Stufen ansteigen. Dies ist auch in weiten Teilen der Wirtschaft auf positive Resonanz gestoßen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Mehl, der Kollege Seifert und der Kollege Solms haben den Wunsch, Zwischenfragen zu stellen.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich lasse jetzt keine zu, sorry. Es wird immer behauptet, dass die Ökosteuer schuld an den vergleichsweise hohen Benzinpreisen in Deutschland sei. Das ist nicht wahr. Die Ökosteuer hat an den Benzinpreiserhöhungen, die es jetzt gegeben hat, nur einen verschwindend geringen Anteil. ({0}) Entscheidend war, dass der Erdölpreis weltweit gestiegen ist und dass der Dollarkurs eine entsprechende Wirkung hatte. Darauf und nicht auf die Ökosteuer haben wir mit der Einführung der Entfernungspauschale reagiert. Die Ökosteuer wird komplett zurückgegeben, nicht aber die Kosten des Benzinpreisanstiegs. Sie haben in den Debatten über die Ökosteuer immer behauptet, Deutschland mache mit der Einführung einer solchen Steuer einen Alleingang. Dem ist nicht so. Eine ganze Reihe anderer europäischer Staaten hat längst die Ökosteuer eingeführt, allen voran Dänemark. In einer Studie der Forschungsstelle der Universität Berlin - man kann zwar nicht alles miteinander vergleichen; Dänemark ist anders strukturiert als Deutschland und hat eine andere Form der Ökosteuer gewählt; aber vom Prinzip her ist es ähnlich - wurde Dänemark bescheinigt, dass es mit seiner Klimaschutzpolitik beispielgebend ist, insbesondere wegen seiner Konstruktion der Ökosteuer. Bei dieser Gelegenheit möchte ich - ich möchte das noch einmal sagen, obwohl wir schon viele Male darauf hingewiesen haben - klar machen, wie Sie argumentieren. Die CDU hat in ihrem Zukunftsprogramm 1998 Folgendes formuliert: Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade das teuer, was wir am dringendsten brauchen: Arbeitsplätze. Dagegen ist das, woran wir sparen müssen, eher zu billig zu haben: Energie und Rohstoffeinsatz. Dieses Ungleichgewicht müssen wir wieder stärker ins Lot bringen, wenn wir unseren beiden Hauptzielen, mehr Beschäftigung und weniger Umweltbelastung, näher kommen wollen. Dem kann man nur zustimmen. ({1}) Die ehemalige Bundesumweltministerin Angela Merkel hat 1995 gesagt: Als Umweltministerin halte ich es für erforderlich, die Energiepreise schrittweise anzuheben und so ein deutliches Signal zum Energiesparen zu geben. Ich frage mich, wie Ihre Sinneswandlung zustande gekommen ist; denn an den Fakten selbst hat sich nichts geändert, sieht man einmal davon ab, dass Sie auf den Oppositionsbänken sitzen. ({2}) - Ich habe noch mehr Zitate. Zum Schluss möchte ich noch auf etwas anderes zu sprechen kommen. Es gibt eine von Ihnen eingerichtete Internetseite, deren Adresse „www.weg-mit-der-oekosteuer.de“ lautet. Auf dieser Seite kann man sich, indem man die entsprechenden Zahlen eingibt, ausrechnen, wie hoch die Steuerbelastung am Ende ist. Bei einem Benzinpreis von 2,07 DM, 15 000 gefahrenen Kilometern und einem Verbrauch von 6,7 Liter auf 100 Kilometern kommt man auf folgendes Ergebnis: 1 289,38 DM Ökosteuer, Mineralölsteuer und Mehrwertsteuer. Sie verschweigen dabei, dass mindestens 50 Pfennig der Mineralölsteuer entstanden sind, als Sie noch an der Regierung waren. ({3}) Das wird natürlich schön verheimlicht. Im Übrigen kann man auf dieser Internetseite noch nicht einmal den eigentlichen Ökosteueranteil dieses Betrags ausrechnen. Legt man eine Erhöhung der Ökosteuer um drei mal 6 Pfennig zugrunde, dann beträgt die Belastung durch die Ökosteuer 180 DM im Jahr; pro Tag sind das 50 Pfennig. Dennoch sprechen Sie von Abzockerei und vom Untergang der Republik. Das nenne ich Heuchelei. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Seifert das Wort.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hätte die Kollegin Mehl eine Zwischenfrage zugelassen, dann hätten wir diesen Tagesordnungspunkt schneller abschließen können. Das sage ich auch an die Adresse derjenigen, die soeben ein bisschen herumgenölt haben. Ich möchte darauf hinweisen, dass der von Ihnen soeben beschriebene große Erfolg nur für einen Teil der Bevölkerung zutrifft. Bestimmte Teile der Bevölkerung, zum Beispiel Behinderte, die auf ihr Auto angewiesen sind, haben von der Entfernungspauschale nichts, da ihr ausschließlich berufliche Zwecke zugrunde gelegt werden. ({0}) Es gibt aber Personen, die müssen das Auto benutzen, wenn sie einmal ins Theater, zum Arzt oder woandershin wollen bzw. wenn sie einfach nur am Leben teilhaben möchten. Es ist in Ihrer Regierungszeit nicht das erste, nicht das zweite und nicht das fünfte Mal, dass Menschen mit Behinderungen von bestimmten sozialen Maßnahmen ausgeschlossen werden. Das muss zumindest gesagt werden dürfen. Beim nächsten Mal sollte man berücksichtigen, dass es so nicht weitergehen kann. Danke schön. ({1})

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass man natürlich auch solche Dinge berücksichtigen soll. Ich sage dazu nur einen Satz: Man darf das eine gegen das andere nicht ausspielen; vielmehr muss man schauen, an welcher Stelle ein solches Anliegen zu regeln ist. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Zusatzpunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Einführung einer Entfernungspauschale - Drucksachen 14/4242, 14/4435, 14/4631, 14/4899, 14/4942 Berichterstattung: Abgeordneter Joachim Poß Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung gewünscht? - Auch das ist nicht der Fall. Wir kommen also zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 14/4942? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen. ({1}) Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes ({2}) zu dem Fünften Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes - Drucksachen 14/3763, 14/4452, 14/4622, 14/4943 Berichterstattung: Abgeordneter Ludwig Stiegler Der Berichterstatter, Ludwig Stiegler, wünscht kurz das Wort zur Berichterstattung. ({3}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie müssen jetzt einen Moment aufpassen, weil es um eine Korrektur geht. Das müssen Sie schon zur Kenntnis nehmen. Bitte schön, Herr Stiegler.

Ludwig Stiegler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002248, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Da- men und Herren! Dem Sekretariat ist in langer Nachtar- beit ein kleiner Fehler unterlaufen. In der Drucksa- che 14/4943 habe ich zwei Änderungen anzubringen. In Art. 1 Nr. 8 ist in § 47 Abs. 1 des Strafvollzugsgeset- zes der zweite Satz zu streichen. Dieser Satz ist überflüs- sig, weil bei Untersuchungsgefangenen keine Aufteilung zwischen Hausgeld, Eigengeld und Überbrückungsgeld stattfindet. Außerdem müssen in Art. 1 Nr. 9 in § 200 die Wörter „Die Bemessungen“ durch die Wörter „Der Bemessung“ ersetzt werden. Ich bitte Sie, über die Beschlussempfehlung nach Maß- gabe dieser Korrekturen abzustimmen. Vielen Dank.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich danke auch. - Wird noch das Wort zur Erklärung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann können wir jetzt abstimmen. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschus- ses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bis auf die F.D.P., die sich enthalten hat, angenommen wor- den. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a bis 18 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Johannes Singhammer, Karl-Josef Laumann, Mario Eichhorn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU Die Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die sozialen Sicherungssysteme öffentlich machen - Drucksache 14/4645 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung b) Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß 154 SGB VI ({1}) und Gutachten des Sozialbeirats zum Rentenversicherungsbericht 2000 - Drucksache 14/4730 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Ernst Burgbacher, Hildebrecht Braun ({4}), weitere Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Jährliche Vorlage einer Generationenbilanz und Aufnahme der Daten in die Haushaltsstatistik des Bundes - Drucksachen 14/1758, 14/4910 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Lotz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Erika Lotz.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die CDU legt heute einen Antrag vor, in dem es sinngemäß heißt, dass die Reformen der sozialen Sicherungssysteme, also auch der Rentenversicherung, nur mit einer zukunftsgerichteten Familienpolitik sinnvoll sind. Da kann ich Ihnen nur voll zustimmen - zum einen aus meiner innersten Überzeugung heraus, zum anderen aber vor allem deshalb, weil das genau unsere Politik ist. Wenn Sie auf die vergangenen beiden Jahre zurückblicken, in denen wir regieren, dann werden Sie sicher feststellen, dass wir gerade in der Familienpolitik viel getan haben, um die finanzielle Situation der Familien zu verbessern. In diesem Zusammenhang kann ich nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass viele der Maßnahmen überfällig waren, weil CDU/CSU-F.D.P.-Regierungen in dieser Hinsicht jahrelang untätig waren. ({0}) Das kann ich Ihnen gern an einigen Beispielen erläutern. Familienpolitik kann ja nicht losgelöst von den allgemeinen politischen Rahmenbedingungen gestaltet werden. Gerade die Zukunft unserer Kinder setzt konsolidierte Haushalte in Bund, Ländern und Kommunen voraus. Bei Regierungsantritt haben wir eine Situation vorgefunden, in der fast jede vierte Steuermark für Zinsen an die Banken ausgegeben werden musste und nicht für Bürgerinnen und Bürger sowie für Familien ausgegeben werden konnte. Eine solche Situation ist nicht tragbar und in hohem Maße zukunftsgefährdend. Deshalb haben wir als Erstes ein Zukunftsprogramm aufgelegt - wie wir inzwischen feststellen können, mit gutem Erfolg. Dies war die Voraussetzung, um die Handlungsfähigkeit der Regierung wieder herzustellen. Ich muss auch an das Familienurteil erinnern - das kann ich Ihnen nicht ersparen -: Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 10. November 1998 sind gefasst worden, weil es bei der Familienförderung eklatante Versäumnisse gab, Versäumnisse von Ihnen und nicht von Rot-Grün. ({1}) Das Bundesverfassungsgericht hat damals unter anderem entschieden, dass in den Jahren 1985, 1987 und 1988 Kindergeld und Kinderfreibeträge nicht in allen Fällen ausreichten, ein Mindestmaß an Sachbedarf von Kindern steuerfrei zu stellen. Wer hat denn in diesen Jahren regiert? Infolge der verfehlten Familienpolitik der CDU beschäftigen sich jetzt die Finanzämter mit offenen Altfällen. Alle noch nicht bestandskräftigen Einkommensteuerfestsetzungen der zwischen 1983 und 1995 liegenden Jahre müssen überprüft werden. Sofern entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ein Nachbesserungsbedarf besteht, kann mit einer Steuererstattung gerechnet werden. Das erfolgt zurzeit. Auch möchte ich noch daran erinnern, dass wirkliche familienpolitische Maßnahmen, wie beispielsweise die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Erhöhung des Kinderfreibetrages und des Kindergeldes im Jahre 1996, nur auf Drängen der SPD in Kraft traten. Bereits ein Jahr später, als die zweite Anhebung in Kraft treten sollte, bekam die Union kalte Füße und wollte die ein Jahr zuvor geplante weitere Erhöhung zur Förderung der Familien um ein Jahr verschieben. Allein dem damals drohenden Widerstand der SPD im Bundesrat gegen dieses Ansinnen war es zu verdanken, dass dieses Vorhaben noch vor der Beratung im Bundesrat zurückgezogen wurde. Auch in dem Petersberger Steuerkonzept von 1998/1999 war weder eine Erhöhung des Kindergeldes noch des -freibetrages vorgesehen. Mittelfristig war dies schon aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar. Die Quittung hat uns das Bundesverfassungsgericht prompt präsentiert. Wir mussten darauf natürlich reagieren und wir haben darauf reagiert. Aber wir haben - das möchte ich ausdrücklich betonen - nicht nur die Forderungen des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt, sondern wir sind auf der Grundlage unseres Verständnisses von einer sozial gerechten Familienpolitik entsprechend weit über die Vorgaben hinausgegangen. Das Familienurteil zielte lediglich auf die Herstellung der horizontalen Steuergerechtigkeit ab. Das führte jedoch dazu, dass Familien mit hohem Einkommen erhebliche Verbesserungen ihrer Einkommenssituation erfuhren, bei Familien mit geringerem Einkommen aber keine oder nur geringfügige Verbesserungen spürbar wurden. Da unser Ziel die bedarfsgerechte Förderung der Familien war, haben wir nicht nur die Kinderfreibeträge, sondern auch das Kindergeld erhöht, um zu einer möglichst gleichmäßigen Verbesserung der Einkommenssituation der Familien zu kommen. Im Rahmen des Gesetzes zur Familienförderung hat die Bundesregierung in der ersten Stufe ab 2000 zusätzlich zum Kinderfreibetrag in Höhe von gegenwärtig 6 912 DM einen einheitlichen Freibetrag für Kinderbetreuung in Höhe von 3 024 DM für alle Kinder bis zu 16 Jahren eingeführt. Nachdem das Kindergeld bereits zum 1. Januar 1999 von 220 DM auf 250 DM erhöht wurde, ist es zum Jahresbeginn 2000 noch einmal um weitere 20 DM auf 270 DM im Monat erhöht worden. Die ab 1. Januar 2000 verbesserte Familienförderung erreicht auch Familien, die Sozialhilfe beziehen. Das war bisher nicht der Fall. Bislang bewirkten Kindergeldzahlungen bei Sozialhilfeempfängern eine entsprechend verminderte Sozialhilfe. Das erhöhte Kindergeld kommt damit den einkommensschwachen Familien in voller Höhe zugute. Das zweistufig angelegte Paket zur Familienförderung wird die jahrzehntelange, von der früheren Koalition zu verantwortende verfassungswidrige Benachteiligung von Familien mit Kindern im Steuerrecht beenden. Bereits mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 hat die Bundesregierung deutlich gemacht, dass sie in der Entlastung von Familien insbesondere mit geringen oder mittleren Einkommen einen wichtigen steuerpolitischen Schwerpunkt sieht. Diese Politik wird nun konsequent fortgeführt. ({2}) Einher geht damit ein Beitrag zur Steuervereinfachung, weil mehrere bisher gesonderte steuerliche Regelungen zur Berücksichtigung kindbedingter Aufwendungen in den neuen Tatbeständen aufgehen und damit entbehrlich werden. Insgesamt führt die jetzt geltende erste Stufe der Neuregelung einschließlich der Erhöhung des Kindergeldes für erste und zweite Kinder von monatlich 250 DM auf 270 DM im Entstehungsjahr zu Mindereinnahmen von rund 5,5 Milliarden DM. Im Umkehrschluss will ich damit betonen, dass 5,5 Milliarden DM an zusätzlicher Förderung für die Familien jetzt bereitstehen. ({3}) Im Jahr 2001 wird die Bundesregierung entscheiden, wie ab dem Jahr 2002 auch die steuerliche Berücksichtigung des Erziehungsbedarfs neu zu regeln ist. Diese Entscheidung wird im Einklang mit den dann gegebenen familien- und finanzpolitischen Rahmenbedingungen getroffen. Die Maßnahme soll mit einer Reform der Ausbildungsförderung verzahnt werden. In dem in der letzten Woche vom Bundestag verabschiedeten Haushalt für das kommende Jahr stehen für die BAföG-Reform rund 400 Millionen DM zusätzlich zur Verfügung. Wir werden mit dieser Strukturreform erreichen, dass circa 80 000 Jugendliche BAföG-berechtigt sind. Auch diese Maßnahme entlastet die Familien und ermöglicht auch Kindern von Eltern mit geringem Einkommen, ein Studium zu absolvieren. Wir haben aber nicht nur mit finanziellen Mitteln versucht, die Lage der Familien zu verbessern, sondern haben bei der Gesetzesnovelle zum Erziehungsgeld vor allem Wert darauf gelegt, dass Eltern bei der Gestaltung der Aufgabenverteilung in der Familie mehr Wahlfreiheit erhalten. Beide Eltern können jetzt gleichzeitig Erziehungsurlaub - Elternzeit - in Anspruch nehmen und während des Erziehungsurlaubs bis zu 30 Stunden in der Woche einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Vätern wird durch den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit erstmals eine realistische Chance eröffnet, sich an den Erziehungsaufgaben zu beteiligen. ({4}) Gleichzeitig erhalten Frauen damit bessere Möglichkeiten, durch eine Teilzeitbeschäftigung den Kontakt zum Beruf aufrechtzuerhalten. Das ist zukunftsfähige Familienpolitik. ({5}) Insgesamt können wir schon jetzt eine Bilanz vorweisen, die sich sehen lassen kann. Wir wollen aber natürlich nicht auf der Stelle stehen bleiben. Wenn Sie den Entwurf des Altersvermögensgesetzes aufmerksam gelesen haben, dann ist Ihnen sicherlich aufgefallen, dass dort viele Elemente enthalten sind, die die Situation der Familien weiter verbessern und Paare ermutigen sollen, sich für Kinder zu entscheiden. Nicht unwesentlich ist für Frauen bei der Entscheidung für Kinder die Tatsache, dass durch Kindererziehung Lücken im Erwerbsleben entstehen bzw. durch Teilzeitbeschäftigung unterdurchschnittliche Löhne in diesen Zeiten zu niedrigen Renten führen. Deshalb wollen wir kindbezogene Lücken durch Höherbewertung der entsprechenden Versicherungszeiten schließen. Niedrige Entgelte in den so genannten Kinderberücksichtigungszeiten werden nach den Grundsätzen der Rente nach Mindesteinkommen aufgewertet. Dabei werden die individuellen Entgeltpunkte um bis zu 50 Prozent auf maximal 100 Prozent des Durchschnittseinkommens erhöht. Diese Regelung kommt auch Alleinerziehenden zugute, die von den bisherigen Regelungen der Rente nach Mindesteinkommen vielfach nicht begünstigt wurden, weil sie gezwungen waren, einer Vollzeitbeschäftigung nachzugehen. Für die Frauen, die wegen gleichzeitiger Erziehung von zwei oder mehr Kindern nicht erwerbstätig sein können, werden zusätzlich zu den Kindererziehungszeiten - dies sind drei Jahre je Kind - die verbleibenden Jahre der Kinderberücksichtigungszeit mit 33 Prozent des Durchschnittseinkommens bewertet. Auch der Rentenversicherungsbericht 2000 ist Gegenstand der Tagesordnung. ({6}) Ich möchte auch dazu noch ein paar Worte sagen: Der Rentenversicherungsbericht legt noch einmal detailliert die Notwendigkeit unserer angestrebten Rentenreform dar. Die Berechnungen über die künftige Entwicklung aller relevanten Daten geben uns Recht. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Sozialbeirat in seinem Gutachten. Er stellt fest, dass das von der Bundesregierung angestrebte Beitragsniveau von etwa 22 Prozent im Jahre 2030 erreicht werden kann. Dies ist ein Ziel, das uns im Interesse der Arbeitnehmer sowie möglichst geringer Lohnnebenkosten besonders am Herzen liegt. Denn hohe Lohnnebenkosten - das wissen Sie - wirken sich negativ auf die Konkurrenzfähigkeit unserer Produkte aus. Darunter leiden auch die Arbeitnehmer, weil dies zum Abbau von Arbeitsplätzen führt. Ich bin stolz darauf, dass es uns gelungen ist, schon zweimal den Rentenversicherungsbeitrag zu senken. Eine dritte Absenkung steht vor der Tür. Das erleben die Menschen seit 16 Jahren zum ersten Mal. ({7}) Weiterhin stellt der Sozialbeirat fest, dass die aktuellen Rentenwerte - dies sind bessere Indikatoren für das Leistungsniveau als das Rentenniveau - in den kommenden vier Jahren um 8,5 Prozent steigen werden: um 8,2 Prozent in den neuen Ländern, um 9,8 Prozent in den alten Ländern. Das hängt damit zusammen, dass im Vergleich zu früheren Prognosen die Beschäftigungsentwicklung der Zukunft wesentlich günstiger eingeschätzt wird. Dies ist sicher nicht zuletzt auf die positive Steuerpolitik der Regierung und auf die Begrenzung der Lohnnebenkosten zurückzuführen, die erst mit diesem Rentenkonzept möglich wird. Darüber hinaus bewertet der Sozialbeirat das vorgesehene Rentenanpassungsverfahren positiv, da diskretionäre Eingriffe zur Eliminierung unerwünschter Effekte von vornherein vermieden werden und dem Gesetzgeber insbesondere durch die Entkopplung von steuerpolitischen Entscheidungen einerseits und Entscheidungen zur Gestaltung der Leistungen der Rentenversicherung andererseits größere Handlungsfreiheit in den verschiedenen Bereichen verschafft und gleichzeitig die Zielgenauigkeit der Maßnahmen erhöht wird. Lassen Sie mich zusammenfassen: Der vorgelegte Rentenversicherungsbericht bestätigt, dass mit der im November dieses Jahres verabschiedeten Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und mit dem Altersvermögensgesetz die Grundlage für eine zukunftsfähige Altersversicherung gelegt wurde, eine Altersversicherung, die den demographischen und gesellschaftlichen Veränderungen entspricht. Nun noch ein paar Worte zu dem Antrag der F.D.P., jährlich eine Generationenbilanz vorzulegen. Natürlich möchten alle wissen, wie die Zukunft aussieht, welche Belastungen den kommenden Generationen entstehen. Aber, diese Bilanz muss seriös sein. Mit den Modellen, die jetzt vorliegen, ist dies nicht möglich. Der Manipulation können Tür und Tor geöffnet werden. Kritisch ist schon die Wahl des Basisjahres. Dabei muss berücksichtigt werden, wie gut oder wie schlecht die Konjunktur ist. Trotz dieser Unsicherheiten werden Berechnungen hinsichtlich der zukünftigen Situation angestellt. Man muss daher sagen, dass es einfach zu viele Möglichkeiten der Manipulation gibt. ({8}) Ich schließe nicht aus, dass dieses Instrument weiterentwickelt werden kann. Zurzeit ist dies aber nicht der Fall. Deswegen ist der Vorschlag, der im Haushaltsausschuss gemacht und der im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung beraten wurde, richtig, nämlich den Wissenschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums zu bitten, ({9}) die Anwendbarkeit des Konzeptes im Hinblick auf die Haushaltsbilanz zu prüfen. Wir sorgen dafür, dass weder die heutigen noch die zukünftigen Beitragszahler überfordert werden. Gleichzeitig sorgen wir dafür, dass das Leistungsniveau einen angemessenen Standard behält. ({10}) Wir geben mit unserer Reform insbesondere den jüngeren Generationen eine Perspektive für die Alterssicherung. ({11}) Die Opposition ist nach wie vor eingeladen, daran mitzuwirken. Danke schön. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Andreas Storm.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der demographische Wandel stellt in der Tat eine große Herausforderung für unsere gesamte Gesellschaft dar. Kein Geringerer als unser Kollege und frühere Bundestagsvizepräsident, Hans-Ulrich Klose, hat ihn sogar als eine „Revolution auf leisen Sohlen“ bezeichnet. Die nackten Tatsachen sind, dass heute etwa drei Erwerbstätige auf einen Rentner kommen. In 30 Jahren werden auf drei Erwerbstätige zwei Rentner kommen. Das heißt, wir müssen in den nächsten drei Jahrzehnten mit einer Verdoppelung des Anteils älterer Menschen, bezogen auf die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, rechnen. Hinter diesen statistischen Zahlen verbirgt sich eine Veränderung unserer Gesellschaft, die ihresgleichen sucht. Nicht nur die sozialen Sicherungssysteme, aber eben auch diese, werden vor dramatischen Herausforderungen stehen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute haben schon seit einigen Jahren die Konsequenzen untersucht. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin kam in diesem Sommer zu dem Ergebnis, dass ohne weitere Reformen der Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung bis zum Jahr 2030 von heute 13,6 Prozent über die 20-Prozent-Marke steigen würde. Bis zum Jahr 2040 würde er sogar auf über 23 Prozent steigen. Für die Pflegeversicherung wird bis zum Jahr 2030 eine Verdoppelung des Beitragssatzes erwartet. Welche Konsequenzen zieht die Koalition aus diesen Prognosen? Diese Frage ist gerade in Bezug auf das Thema Rentenreform sehr spannend; denn steigende Beiträge in der Kranken- und der Pflegeversicherung haben gravierende Auswirkungen auf die Rentenfinanzen. Die Rentenkassen haben nämlich die Hälfte des Anstiegs der Beitragsbelastung zu tragen; die andere Hälfte schmälert das Alterseinkommen der Rentner. Wenn man sich nun anschaut, mit welchen Annahmen Sie bei der Vorlage Ihrer Rentenreform gerechnet haben, stellt man fest, dass Sie davon ausgehen, dass bis zum Jahr 2029, also fast drei Jahrzehnte lang, der Krankenversicherungsbeitrag unverändert auf dem heutigen Niveau bleibt. Das ist aber eine Annahme, die möglicherweise schon nächstes Jahr zu Ostern überholt ist. Die Wissenschaftler sagen uns - ich wiederhole dies -: Ohne Reformen steigt der Krankenversicherungsbeitrag über die 20-Prozent-Marke. Sie unterstellen aber, er bliebe konstant bei 13,6 Prozent. Allein der Anstieg des Krankenversicherungsbeitrags hätte zur Folge, dass der Beitragssatz für die Rentenversicherung um weit über einen halben Prozentpunkt höher liegen würde, als dies nach Ihren Berechnungen der Fall wäre. ({0}) Die Sachverständigen, die ihr Jahresgutachten Mitte November abgegeben haben, haben außerdem kritisiert, dass bei der Annahme in Bezug auf den Anstieg der Lebenserwartung mit viel zu günstigen Prognosen gerechnet worden ist. Im Jahresgutachten des Sachverständigenrates wurde darauf hingewiesen, dass der gegenüber den bisherigen Annahmen in den nächsten drei Jahrzehnten zu erwartende um ein Jahr höhere Anstieg der Lebenserwartung, wie ihn führende Bevölkerungsforscher in Deutschland annehmen, auch einen nachhaltigen Einfluss auf den Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung hat, ({1}) nämlich einen Anstieg um weitere 0,4 Prozent. Diese beiden Beispiele zeigen zunächst einmal, dass bisher mit Annahmen, die massiv schönrechnen, operiert worden ist ({2}) und dass die Zielsetzung, lieber Kollege Dreßen, den Beitragsatz in der gesetzlichen Rentenversicherung bei 22 Prozent zu stabilisieren, nicht zu erreichen ist. ({3}) Diese Beispiele zeigen aber ein Zweites, nämlich dass alle sozialen Sicherungssysteme massiv vom demographischen Wandel betroffen sein werden, dass es erhebliche Rückwirkungen auf die einzelnen sozialen Sicherungssysteme geben wird. Aus diesem Grunde ist es höchste Zeit, der Öffentlichkeit diese Dramatik bewusst zu machen. Es ist unumgänglich, unverzüglich ausreichende Reformmaßnahmen durchzuführen, für die die Regierung Vorschläge vorlegen muss. ({4}) Genau darauf zielt unser Antrag ab. ({5}) Die Bundesregierung hätte eigentlich schon längst Berechnungen und einen umfangreichen Bericht vorlegen müssen, welche Auswirkungen der demographische Wandel auf die sozialen Sicherungssysteme hat. ({6}) Deshalb fordern wir von Ihnen, dass Sie spätestens im kommenden Jahr - früher geht es natürlich nicht; denn das Jahr ist zu Ende - einen Bericht über die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung sowie die anderen öffentlichen Alterssicherungssysteme vorlegen. Dann müssen Konsequenzen daraus gezogen werden. Dabei muss es darum gehen, die durch die Veränderung der Alterspyramide entstehenden Belastungen gerecht zwischen den Generationen zu verteilen. Hierzu sind Sie nicht in der Lage. ({7}) Herzstück Ihrer Rentenreform ist ein so genannter Ausgleichsfaktor, ({8}) der in Wirklichkeit nichts anderes als ein willkürlicher Kürzungsfaktor ist, durch den einseitig die jüngere Generation belastet wird. ({9}) Ich darf Ihnen kurz das Fazit vortragen, das der Sachverständigenrat zu Ihrem Ausgleichsfaktor zieht: Unstrittig ist dennoch, dass die Vermittelbarkeit und damit die Akzeptanz der Reform unter den asymmetrischen Verteilungswirkungen des Ausgleichsfaktors leidet, zumal es für diesen Faktor, anders als für einen demographischen Faktor, keine systematischanalytische Begründung gibt, sondern nur eine fiskalische. Soweit der Sachverständigenrat. ({10}) Ein vernichtenderes Urteil über eine Rentenreform als das, dass Ihnen jede systematische und analytische Grundlage für die von Ihnen vorgeschlagene Rentenformel fehlt, hat bisher kaum ein Expertengremium gefällt. ({11}) Deshalb rufe ich Sie an dieser Stelle noch einmal auf: Lassen Sie die Finger von dieser willkürlichen Kürzung der Renten für die junge Generation! ({12}) - Kollege Dreßen, wie Sie eben gehört haben, ist die Einführung eines Demographiefaktors nach Einschätzung der Sachverständigen ein Vorschlag, der systematisch und analytisch begründet und eben nicht willkürlich ist. Durch ihn werden die Lasten zwischen den Generationen gerecht verteilt. ({13}) Aber es gibt ja noch einen weiteren Vorschlag, nämlich den der Rentenversicherungsträger. Dieser Vorschlag wäre eine Lösung. Er würde alle Nachteile Ihrer Rentenformel ausschließen und zu einer gerechten Lastenverteilung zwischen den Generationen führen. Er würde dazu führen, dass das Rentenniveau auch noch nach drei Jahrzehnten für alle akzeptable ist. Laufen Sie nicht wie mit Scheuklappen durch die Gegend! Geben Sie sich endlich einen Ruck und machen Sie den Weg frei für eine Rentenreform, die auch auf lange Sicht Bestand haben kann! ({14}) Ihre bisherigen Vorschläge sind nicht geeignet, das Vertrauen der älteren Generation, aber auch der jüngeren Generation in die Handlungsfähigkeit der Sozialpolitik wieder herzustellen. Es ist wirklich Zeit für einen Neubeginn - nicht nur in der Rentenpolitik, sondern in der gesamten Sozialpolitik. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Thea Dückert. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir stehen heute ein paar Tage vor dem Einstieg in eine sehr anstrengende, differenzierte, tief gehende Debatte um eine notwendige grundsätzliche Rentenreform. ({0}) Wir befinden uns an der Schwelle einer sehr großen Reform und werden am Montag mit den Anhörungen dazu beginnen. Deswegen ist es gut, bereits heute den Rentenbericht und insbesondere die Anmerkungen des Sozialbeirates dazu sowie die Würdigung durch den Sachverständigenrat zu diskutieren, Herr Storm. ({1}) Denn sowohl der Rentenbericht als auch der Sachverständigenrat, der sich mit vielen Punkten der Reform auseinander setzt, und der Sozialbeirat kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass eine große Rentenreform absolut notwendig ist, unter anderem wegen der veränderten demographischen Entwicklung, des veränderten Altersaufbaus in der Bundesrepublik Deutschland. Sie kommen ebenso übereinstimmend zu der Einschätzung, dass die Konsequenzen, die wir daraus ziehen, nämlich die private und die betriebliche Vorsorge als zusätzliche Säulen neben die gesetzliche Rentenversicherung zu stellen, ({2}) der richtige Schritt sind, um ein zukunftssicherndes Rentensystem aufzubauen, das auch für die jungen Generationen eine sichere Altersversorgung schaffen wird. Genau dies ist der Unterschied zu dem, was wir hier vorgefunden haben. Wir haben in der Tat den Versuch einer Rentenreform vorgefunden. Aber die blümsche Reform hat an dieser Stelle versagt, ({3}) da sie sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht hat, wie den Schwierigkeiten in der gesetzlichen Altersvorsorge durch zusätzliche Konzepte, durch eine zusätzliche Stütze in Form der privaten Altersvorsorge entgegengetreten werden kann. Der Sachverständigenrat bestätigt uns, dass wir hier große Schritte in die richtige Richtung machen, dass wir mit dieser Rentenreform sozusagen einen doppelten Paradigmenwechsel eingeleitet haben, den der Sachverständigenrat positiv bewertet. Da muss ich schon sagen, Herr Storm: Sie haben den Bericht des Sachverständigenrates offenbar mit einer völlig falschen Brille gelesen. ({4}) - Wirklich, Herr Storm, im Ernst! Der Sachverständigenrat ist ja nun wirklich kein Gremium, das man in irgendeiner Weise grüner oder roter Positionen verdächtigen könnte. Neben den Einschätzungen des Sozialbeirates bewertet gerade dieser Bericht die Eckpfeiler der Rentenreform, über die wir ab der nächsten Woche, auch in den Anhörungen, diskutieren werden, in hohem Maße positiv. Es wird ausdrücklich gelobt, dass die private Vorsorge, und zwar in der von uns vorgesehenen Struktur, aufgebaut wird. Es wird ausdrücklich auch die Kinderkomponente bei dieser privaten Vorsorge gelobt. ({5}) Darüber hinaus wird vom Sozialbeirat - selbstverständlich, weil er sie selber vorgeschlagen hat -, aber ebenso vom Sachverständigenrat die modifizierte Nettolohnanpassung gelobt. Der Rentenbericht und diese beiden Gutachten zeigen deutlich, dass wir ohne die Ökosteuer und ohne die modifizierte Nettolohnanpassung in der Zukunft eine Beitragsentwicklung haben würden, die volkswirtschaftlich und unter den Aspekten der Generationengerechtigkeit nicht hinzunehmen sein würde. Beide Gremien und der Rentenbericht machen absolut deutlich, dass sowohl die Ökosteuer wie auch die modifizierte Nettolohnanpassung wichtige Elemente sind, um für die Zukunft eine vernünftige Rentenentwicklung zu sichern. Sie zeigen uns, dass es auf diese Weise mit großer Wahrscheinlichkeit gelingt, die 22-Prozent-Marke bei den Beiträgen bis 2030 nicht zu überschreiten. Ebenso zeigen sie uns, dass die Beiträge in den nächsten 20 Jahren mit Sicherheit unter 20 Prozent bleiben werden, große Strecken sogar unter 19 Prozent. Man sollte die Beiträge als einen wichtigen Faktor zur Herstellung eines gerechten Ausgleiches zwischen den Generationen betrachten. Insofern haben wir noch einmal gutachterlich bescheinigt bekommen, dass wir bei der Rentenreform auf dem richtigen Weg sind. Meine Damen und Herren, auch die anderen Aspekte der Rentenreform wie beispielsweise die Hinterbliebenenversorgung oder auch die

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Storm?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- Ja, wenn ich meinen Satz zu Ende gebracht habe; dann gerne, Herr Storm. - Unterstützung von Frauen, die allein erziehend sind, sind wesentlich und zukunftsweisend. Herr Storm, bitte schön.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Dückert, Sie haben gesagt, Sie fühlen sich in Ihrer Auffassung bestätigt, dass die 22-Prozent-Marke erreicht werde. Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass die Sachverständigen - wie ich schon ausgeführt habe - in ihrem Gutachten diese Berechnungen infrage gestellt haben und zu dem Ergebnis gekommen sind, dass durch Anpassungsformel, Ausgleichsfaktor usw. diese Beitragsentwicklung wohl nicht erreicht werden könne und dass deshalb die Verpflichtung bestehe, zu anderen geeigneten Maßnahmen zu greifen, dass also aus Sicht des Sachverständigenrates die Reform - unabhängig von der Bewertung der Einzelmaßnahmen - nicht ausreicht, um das Beitragsziel zu erreichen?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Storm, ich weiß ja, dass Sie nächtens sehr gerne rechnen. ({0}) Deshalb ist Ihnen bestimmt nicht entgangen, dass den Berechnungen neun verschiedene Modelle sowie drei unterschiedliche Entwicklungspfade bezüglich Beschäftigungs- und Beitragssatzentwicklung zugrunde gelegt sind und dass bei verschiedenen Kombinationen in der Tat unterschiedliche Ergebnisse herauskommen. Alle Wissenschaftler, auch der Sachverständigenrat und der Sozialbeirat, sagen, dass man das nicht über einen Zeitraum von 15 Jahren - auf den der Bericht angelegt ist - und schon gar nicht über einen Zeitraum von 30 Jahren hundertprozentig berechnen kann. Diese Bundesregierung ist aber - auch das sagen Sachverständigenrat und Sozialbeirat bereit - und das ist bislang einmalig; Sie haben das zum Beispiel nicht gemacht -, in diesen Gesetzentwurf zur Rentenreform die Selbstverpflichtung aufzunehmen, die 22-Prozent-Marke mit gesetzlichen Maßnahmen zu sichern, wenn sie anders nicht gehalten werden kann. Abseits von allen Modellrechnungen, an denen man sich erfreuen kann oder auch nicht, haben wir die Verantwortung dafür übernommen, dass diese Marke eingehalten wird, weil wir sie im Sinne der Generationengerechtigkeit für wichtig halten. ({1}) Meine Damen und Herren, insgesamt sind die uns vorliegenden Gutachten eine gute Ausgangsbasis. Es gibt kritische Anmerkungen und das finde ich auch richtig. Darüber werden wir diskutieren müssen. Der zentrale Aspekt sind die Fragen, die sich um den Ausgleichsfaktor ranken: Was ist gerecht? Was ist generationengerecht? Gibt es gerechtere Formen? Diese Debatte dreht sich allein um die Fragen: Ist es richtig, diejenigen, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters nicht mehr ausreichend privat vorsorgen können, in der Phase der Rentenauszahlung mittels eines Abschlagsfaktors nicht zu sehr zu belasten? Ist es richtig, diejenigen stärker zu belasten, die heute jung sind und mit staatlicher Förderung die private Vorsorge aufbauen können? Die Argumente zu diesen Fragen muss man ernsthaft gegeneinander abwägen. Wir halten unseren Vorschlag für gerecht. Weil die Rentenreform in der Bevölkerung Unterstützung finden muss, muss man - das weiß ich wohl - über Gerechtigkeitsvorstellungen auch streiten. Das werden wir in der Zukunft tun. Ich freue mich darauf, mit Ihnen diese Debatte im Ausschuss führen zu können. Danke schön. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dirk Niebel.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist bezeichnend, dass die Kollegin Dückert den Antrag zur Generationenbilanz mit keinem Wort erwähnt hat. Aber auf die Grünen komme ich gleich noch zu sprechen. In der 58. Sitzung des 14. Deutschen Bundestages am 30. September 1999 hat der Arbeitsminister Walter Riester gesagt - ich zitiere -: Zunächst komme ich zu der ... Forderung ... eine Generationenbilanz vorzulegen. Diese Grundlinie halte ich für spannend und wichtig. Riester sagte weiter, er wolle diese Überlegung aufnehmen. Wörtlich: Ich wäre sehr daran interessiert, wenn wir an dieser Frage einer Generationenbilanz arbeiten könnten. Der Bundesarbeitsminister ist hier heute leider nicht anwesend. Seit der Antrag, eine Generationenbilanz in die Haushaltsgesetzgebung aufzunehmen, an den Ausschuss überwiesen wurde, sind 36 Wochen vergangen, ohne dass irgendetwas geschehen ist. Wir waren geduldig und wollten auf die Zusammenarbeit warten. Wir hatten gedacht, dass wenigstens mit der Vorlage des Rentenreformgesetzes die Frage der Generationengerechtigkeit aufgegriffen würde. Aber nichts ist passiert. Es ist Aufgabe des Ausschussvorsitzes, wichtige Dinge zu bearbeiten. Wenn man signalisiert, dass man bereit ist, etwas gemeinsam auf den Weg zu bringen, dann hätten wir vonseiten der Regierungskoalition mehr Engagement erwartet. ({0}) Nicht einmal in der Rentendebatte haben Sie dieses Thema aufgenommen. Hätten wir nicht gemeckert, wäre es auch heute nicht zur Sprache gekommen. Das ist also Generationengerechtigkeit, wie Sie sie verstehen. ({1}) Seit Sie regieren, meine Damen und Herren, wird in diesem Land weniger erwirtschaftet. Dennoch wird der Umfang der Leistungen ausgeweitet; es wird immer mehr verteilt. Das haben wir beim Gesetz zur Neuregelung der Einmalzahlungen gerade wieder gesehen. Sie verfrühstücken die Zukunft unserer Kinder, wenn Sie diesen für die Handlungsfähigkeit und die finanziellen Spielräume der Republik wichtigen Indikator nicht aufnehmen und in Zukunft bei politischen Entscheidungen nicht berücksichtigen wollen. ({2}) Gerade die Grünen, die hier vor Selbstgerechtigkeit triefen und sich immer wieder als Rächer der Enterbten aufführen, machen überhaupt nichts für die kommenden Generationen, sondern wollen den Rentenversicherungsbeitrag auf insgesamt 26 Prozent nur für die Altersvorsorge erhöhen. Das ist absolut nicht das, was wir uns als Liberale unter Generationengerechtigkeit vorstellen. ({3}) Eine Generationenbilanz ist eine Entscheidungshilfe für die Politik. Sie soll Brücken bauen zwischen den Generationen; denn nur Fairness bei der Belastung jeder einzelnen Generation kann dazu führen, dass die jungen Menschen in diesem Land den Generationenvertrag nicht von sich aus kündigen werden. ({4}) Die demographische Entwicklung zeigt, dass wir politisch handeln müssen. Die F.D.P. versteht sich als die Partei der sozialen Verantwortung. ({5}) Wir fordern Sie deshalb auf, diese Gefälligkeitspolitik endlich zu beenden! Wir fordern Sie auf, die Bilanzergebnisse bei Ihren politischen Handlungen zu berücksichtigen! An dem Umfang der Umsetzung der Ergebnisse der Generationenbilanz wird man Erfolg und Misserfolg Ihrer Regierungsarbeit messen können. ({6}) Der Haushaltsausschuss hat im ersten Satz eines Entschließungsantrages, der Ihnen vorliegt, gesagt - ich zitiere -: Eine Zuordnung der Abgaben an den Staat und der Leistungen des Staates zu einzelnen Altersgruppen der Bevölkerung kann wichtige Hinweise für die Ausrichtung der Finanzpolitik liefern und Reformbedarf verdeutlichen. ({7}) Genauso ist das. Es gibt überhaupt keine Veranlassung, dieses wichtige Thema wieder einmal in einen Arbeitskreis abzuschieben. Ihre Tatenlosigkeit geht den Menschen in diesem Land auf die Nerven! Es ist in der Öffentlichkeit einfach nicht mehr erklärbar, wieso, weshalb und warum Sie versuchen, eine Generation gegen die andere Generation auszuspielen. ({8}) Es geht nicht nur darum, dass die Jungen keine Rente mehr bekommen werden, wenn Sie so weitermachen. Es geht auch darum, dass sich die Älteren Gedanken und Sorgen über die Zukunft ihrer Kinder machen. Ich sage Ihnen offen und ehrlich: Das ist keine Fairness und keine gleichmäßige Belastung unterschiedlicher Generationen. ({9}) Wenn ich mir den Antrag der Union ansehe, dann muss ich feststellen: Es ist selbstverständlich richtig, dieses Thema zu bearbeiten. Er ist aber auch der Beweis dafür, dass es dringend notwendig ist, in naher Zukunft, noch in dieser Legislaturperiode und deutlich vor der Bundestagswahl, die Zuwanderung in diesem Land gesetzlich zu regeln. ({10}) Die F.D.P. hat hierzu mittlerweile zwei Vorschläge in die Beratungen des Deutschen Bundestages eingebracht. Wir werden uns auf der Basis dieser Vorschläge bestimmt mit Ihnen verständigen können. Sie sind die Grundlage dafür, dass sich die Liberalen wie bei so vielen Gesetzesvorhaben durchsetzen werden. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss: Generationenbilanz, Transparenz, F.D.P. - mehr davon. Vielen Dank. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Pia Maier.

Pia Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003449, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was wir hier gerade von der CDU und von der F.D.P. gehört haben, klang schon dramatisch: Herr Storm hat die Zukunft furchtbar schwarz gemalt; Herr Niebel sieht die Zukunft seiner Kinder „verfrühstückt“. Was Sie mit Ihren Anträgen erzeugen wollen, ist Panik vor jeder Rentenreform, vor dieser wie vor einer alternativen, die durchaus möglich wäre. Das ist wirklich nicht die richtige Zeit dafür. ({0}) Herr Storm hat freundlicherweise schon ein paar Zahlen zum Verhältnis Beitragszahler-Rentner zitiert. Ich möchte noch eine Zahl hinzufügen und fange der Vollständigkeit halber von vorne an: 1965 haben 4,6 Beitragszahler einen Rentner finanziert. Heute sind es 2,4. 2030 werden es 1,7 sein. Eine Halbierung des Verhältnisses von Beitragszahlern zu Rentnern haben wir in den letzten 35 Jahren schon erlebt. Ich sehe nicht ein, warum eine geringere Verschiebung des Verhältnisses in den nächsten 30 Jahren eine Rentenreform, wie sie die derzeitige Regierungskoalition plant, wirklich rechtfertigen soll. ({1}) Eine Rentenreform geht auch anders. Es geht nämlich nicht nur um das Verhältnis von Alten zu Jungen, sondern auch um das Verhältnis von Einnahmen zu Ausgaben, die für die Rente verwandt werden. Es geht um eine Ausweitung der Beitragspflicht, mit der man auch die Beiträge zur Rentenversicherung erhöhen könnte, mit der man dafür sorgen könnte, dass es eine Rente von allen für alle bleibt. ({2}) Es geht auch nicht nur um die Frage der Belastung mit Steuern und Abgaben, wie sie die F.D.P. bis auf Heller und Pfennig genau ausgerechnet haben möchte, sondern es geht um die Frage der Bemessungsgrundlage für die Beiträge, nicht nur für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, sondern auch für die Unternehmen. Der technische Fortschritt, den sich vor der Einführung der sozialen Sicherungssysteme ja auch keiner vorstellen konnte, wird weitergehen und die Sozialversicherungen haben sich angepasst. Heute ist mit immer weniger Arbeitskräften immer mehr Wertschöpfung möglich. Die Produktivität ist enorm gestiegen. Deswegen ging auch die Veränderung der sozialen Sicherungssysteme bis heute gut. Auf diese Belastungen und Veränderungen müssen wir reagieren. Eine Wertschöpfungsabgabe, bei der die Beiträge zur sozialen Sicherung nicht mehr nach Arbeitskräften, sondern nach der Wertschöpfung des Betriebes festgelegt werden, wäre wirklich eine Alternative, um die Beitragslast der Unternehmer zeitnah und modern zu gestalten. ({3}) Der Panikmache kann also weder mit dem Konzept der CDU/CSU wirksam begegenet werden noch mit der Generationenbilanz der F.D.P., noch mit der aktuellen Reform, wie die Regierungskoalition sie vorschlägt. ({4}) Ein Systembruch hin zu einer zwangsweisen privaten Vorsorge ist, wenn man nicht nur die Zahlen zur Entwicklung der Rente und der sozialen Sicherung von heute bis 2030, sondern auch die Entwicklung in den letzten 30 Jahren berücksichtigt, nicht nötig. Eine Alternative ist wirklich möglich. Es gibt eine andere Rentenreform, die sowohl den jetzigen Rentnern und Rentnerinnen als auch meiner Generation und zukünftigen Generationen ihre Rente sichert. Meine Damen und Herren, es ist der letzte Plenarsitzungstag vor Weihnachten. Es ist bereits gestern Abend hier etwas lockerer zugegangen. Ich möchte meine letzte Rede vor Weihnachten auch dazu nutzen, noch ein kleines Geschenk zu überreichen. Mein Geschenk soll an Herrn Bundeskanzler Schröder gehen. Ich hoffe, Frau Mascher übergibt es ihm im Kabinett. ({5}) Ich hoffe, dass Herr Schröder an dem „Basta“, das er geäußert hat, noch lange zu knabbern haben wird und dass er dieses Lebkuchenherz solidarisch mit dem ganzen Kabinett teilt. ({6}) Es ist Weihnachten. Ich wünsche noch einen schönen Tag. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Johannes Singhammer.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nichts wird die sozialen Grundlagen in den kommenden Jahren in Deutschland so sehr beeinflussen wie der Verlust des Gleichgewichts zwischen den Generationen. Wenn sich der freie Fall der Geburtenzahlen in Deutschland so fortsetzt, dann werden weder die Rentenversicherung noch die Krankenversicherung noch die Pflegeversicherung dauerhaft auf einem sicheren und festen Fundament weiterentwickelt werden können. Um gleich zu Beginn jedes Missverständnis auszuschließen, sage ich: Wenn wir diese Thematik hier ernsthaft und seriös diskutieren, geht es nicht darum, die Zahl der Deutschen zu erhöhen. Die Berechenbarkeit der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland hängt nicht davon ab, ob 70, 80 oder 85 Millionen Einwohner in der Bundesrepublik leben. Die Sicherheit der Rente und die Finanzierbarkeit der Kranken- und Pflegeversicherung hängen aber sehr wohl davon ab, dass das Gleichgewicht zwischen den Generationen nicht weiter aus der Balance gerät. ({0}) Derzeit stehen zehn Personen im erwerbsfähigen Alter ungefähr vier Personen gegenüber, die über 60 Jahre alt sind. In den kommenden Jahren, bis 2030, wird sich das Verhältnis dramatisch ändern: Dann werden zehn erwerbsfähigen Personen rund acht Rentner gegenüberstehen. Der bisherige Generationenvertrag wird damit faktisch aufgekündigt. Eine gleiche Entwicklung sehen wir in unseren europäischen Nachbarländern, gerade in Italien, Griechenland oder Spanien. Diese Länder galten in der Vergangenheit immer als besonders familien- und kinderfreundlich. Dort ist jetzt eine ähnliche Entwicklung und eine gleiche Problematik feststellbar; für Deutschland ist sie allerdings besonders gravierend. Schauen wir uns nur den Arbeitsmarkt an! Jahr für Jahr scheiden 230 000 Menschen mehr aus dem Erwerbsleben aus, als neu hinzukommen. Das bedeutet natürlich auch, dass 230 000 Beitragszahler für die Sozialversicherungssysteme fehlen. Die Zahl der Arbeitslosen wird selbstverständlich entsprechend sinken. Das ist eine kleine Rechenoperation, die jeder nachvollziehen kann. ({1}) Bei den Krankenversicherungen steigen die Behandlungskosten naturgemäß mit dem Alter an. Eine DIWStudie prognostiziert allein aufgrund der Alterung der deutschen Bevölkerung bei konstanter Medizintechnik im Jahr 2040 einen Beitragssatz von etwa 15,5 Prozent. Bei zunehmendem medizinischen Fortschritt könnte er leicht über 23 Prozent liegen. Von der Pflegeversicherung erhalten heute etwa 1,7 Millionen Menschen Leistungen. Durch die demographische Entwicklung rechnet man bis zum Jahr 2010, in also nicht einmal mehr neun Jahren, mit weiteren 350 000 Pflegebedürftigen. Diese einschneidende demographische Entwicklung, die die Grundlagen unseres Zusammenlebens dramatisch ändern wird, bedarf einer eingehenden Erläuterung im Deutschen Bundestag. Es bedarf entsprechend klarer Entscheidungsgrundlagen. Deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht und wir hoffen, einen Bericht zu erhalten. Die Zuwanderung, die gerne als Antwort auf die demographischen Probleme gesehen wird, wird diese Schwierigkeiten weder in Deutschland noch in Europa insgesamt lösen können. ({2}) Um die Balance zwischen den Generationen zu halten, wäre nach einer Modellrechnung der Vereinten Nationen eine jährliche Zuwanderung nach Deutschland von sage und schreibe 3,5 Millionen Menschen nötig. Nur so würde die Relation der 15- bis 64-Jährigen zu den über 64-Jährigen konstant bleiben. Es geht also um das Generationenverhältnis. Wenn wir tatsächlich 3,5 Millionen Menschen einwandern lassen würden, was von niemandem in diesem Hause ernsthaft vertreten wird - ich kenne jedenfalls keine Stimme in dieser Richtung -, entspräche das pro Jahr einer Zuwanderungsrate in Höhe der Bevölkerungsdichte von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Das würde die Menschen in Deutschland überfordern. Was wir in Deutschland brauchen - daran führt kein Weg vorbei -, ist eine dauerhafte Änderung des demographischen Verhaltens. Das heißt, wir brauchen wieder mehr Kinder in unserem Land. ({3}) Deshalb müssen wir eine zukunftsgerichtete Familienpolitik betreiben, die diesen Namen verdient: kein staatlicher Druck zu mehr Kindern, aber Hilfe und Unterstützung für die jungen Paare, die sich Kinder wünschen. Ich nenne Ihnen drei Beispiele. Erstens. Es ist ein Skandal, dass Kinder in Deutschland in vielen Fällen zum Armutsrisiko werden, dass Familien mit Kindern im reichen Deutschland immer mehr auf der Schattenseite leben. ({4}) Wir können sicherlich nicht alle finanziellen Aufwendungen für Kinder ausgleichen, aber wir müssen einen großen Schritt in Richtung mehr Gerechtigkeit gehen. ({5}) Wir haben deshalb vonseiten der CSU vorgeschlagen, zunächst ein Familiengeld von 1 000 DM pro Kind und Monat zu vereinbaren und dabei die bisherigen Leistungen wie Erziehungsgeld und Kindergeld zusammenzufassen. ({6}) - Sie brauchen hier nicht so laut zu schreien. Sie müssen nur einfach diesen Vorschlag aufgreifen. Das wäre besser. ({7}) Zweitens brauchen wir eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das betrifft vor allem junge Frauen mit einer langer Ausbildung, die ihren Beruf ausüben und nicht vor die Entscheidung „Beruf und Karriere oder Kinder“ gestellt werden wollen. ({8}) Drittens brauchen wir auch wieder - das ist vielleicht das Wichtigste - eine Aufwertung der Erziehungsleistungen in der Öffentlichkeit. Kinder zu erziehen, Kraft, Mühe und auch Freude in die Sozialisation von Kindern einzubringen, ist eine Aufgabe, die bei uns zu gering geschätzt wird. Auf der anderen Seite kann keine andere Institution diese Aufgabe so gut wie die Familie lösen. Meine Damen und Herren, ein Land ohne Kinder ist ein Land ohne Zukunft. Wir wollen, dass unser Land eine Zukunft hat. Deshalb sind wir für eine Familienpolitik, die diesen Namen verdient. Ich fordere Sie auf, mitzumachen und unsere Vorschläge aufzugreifen; dann sind Sie auf der richtigen Seite. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4645 und 14/4730 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. zur jährlichen Vorlage einer Generationenbilanz und Aufnahme der Daten in die Haushaltsstatistik des Bundes, Drucksache 14/4910. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1758 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/4910 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe den Zusatzpunktpunkt 13 auf: Antrag der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Anrufung des Vermittlungsausschusses zu dem Gesetz zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze ({0}) - Drucksachen 14/3751, 14/4545, 14/4550, 14/4875, 14/4878 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU will eine Debatte zur Anrufung des Vermittlungsausschusses. Sie können sie haben. Ich halte es für eine Selbstverständlichkeit, dass ein Parlament, das ein Gesetz verabschiedet hat, dem die Zustimmung des Bundesrates verweigert wurde, auch wenn es zustimmungspflichtig ist, an der Durchsetzung des von ihm verabschiedeten Gesetzes automatisch interessiert ist. Eigentlich hätte es keiner Debatte zu dieser Selbstverständlichkeit bedurft. Aber bitte sehr, Sie bekommen sie. Was ist in diesem Gesetz enthalten? Ich bin sehr gespannt, wie die CDU sich verhalten wird, da sie nach ihrem kleinen Parteitag vor gut einem Jahr erklärt hat, sie sei zwar im Prinzip gegen das familienrechtliche Institut - das ist Ihnen unbenommen-, aber für Lebenserleichterungen sei sie sehr. Nun geht es in diesem zustimmungspflichtigen Gesetz zentral um Lebenserleichterungen. Es ist mir daher unklar, wie Sie sich argumentativ verhalten wollen; aber wir werden es abwarten. Ich erwarte jedenfalls, dass sich in der Diskussion, die hoffentlich anders als in der zweiten und dritten Lesung verlaufen wird, die ich noch lebhaft in Erinnerung habe, Kompromisse sowohl mit der F.D.P. als auch mit der CDU/CSU finden lassen. ({0}) - Bitte jetzt keine Zwischenrufe! Ich bin es inzwischen ein bisschen leid, wenn Sie erlauben. ({1}) - Danke schön. Fangen wir einmal mit der F.D.P. an. Die F.D.P. hat in ihrem Gesetzentwurf erbschaftsteuerrechtliche Regelungen, die wir auch haben. Ich denke daher, dass es relativ einfach sein wird, sich mit Ihnen zumindest in diesem Punkt zu einigen. Was Sie nicht haben, sind Regelungen im Einkommensteuerrecht. Das ist insofern verblüffend, als auch Sie gesetzliche Unterhaltspflichten - wenn auch in geringerem Maße als wir - in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen. Wir werden sicherlich darüber zu reden haben, dass unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 Grundgesetz, der die Gleichbehandlung aller Steuerpflichtigen fordert, jedenfalls - wenn wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Themenkreis ernst nehmen - unvermeidliche Abzüge von der Bemessungsgrundlage zu berücksichtigen sind. Über dieses Problem wird auch mit der CDU/CSU aufgrund von durch die Verfassung gebotenen Regelungen, die sie akzeptieren muss, weil sie den Grund dieser Regelung, nämlich das Bestehen einer Unterhaltspflicht, nun einmal hinzunehmen hat, zu reden sein. Herr Geis, wir werden uns sicherlich bei Philippi, das heißt in Karlsruhe, wiedersehen. Ich mache nur darauf aufmerksam, dass von den von Ihnen benannten Sachverständigen nicht ein Einziger das von Ihnen viel gebrauchte Argument wiederholt hat, bereits die Existenz eines familienrechtlichen Instituts für gleichgeschlechtliche Paare sei ein Angriff auf Art. 6 Grundgesetz, weil die Einzigartigkeit der Stellung der Ehe dadurch gefährdet werde. Die Argumente, die auf diesem Gebiet von zwei Sachverständigen geäußert wurden, waren eher etwas apokryph: Der eine beklagte das Fehlen der Eheschließungsfreiheit für den Fall, dass man in einer solchen Lebenspartnerschaft lebe - daraufhin ergab sich ein gewisses Wogen in der Runde, weil dieses Argument wirklich etwas eigentümlich war - und der Zweite sagte, die Existenz eines solchen Instituts könne möglicherweise ambivalente Personen zur Homosexualität verführen. Dieses Argument unterstellt, dass die Homosexualität von Verfassung wegen gegenüber der Heterosexualität minderwertig sei. Ich denke, dass davon in der Verfassung nichts zu lesen ist, wie im Übrigen in der Verfassung auch nicht zu lesen ist, dass Ehelosigkeit etwas Schlechteres sei als die Ehe. Das wäre nämlich die negative Kehrseite der Eheschließungsfreiheit, die ich zumindest nicht hinnähme. Ich denke, dass wir uns darüber unterhalten müssen, und zwar ohne Schaum vor dem Mund und unter Akzeptanz dessen, dass wir den ersten Teil dieses Gesetzes bereits verabschiedet haben. Wir mussten gewisse Hürden hinnehmen - das gebe ich zu -, die aber nicht in unserem Verantwortungsbereich lagen. Sie müssen diese Tatsache hinnehmen, bis Karlsruhe möglicherweise etwas anderes sagt, was wir alle nicht wissen. Nach einem Spruch von Karlsruhe können die entsprechenden Schlussfolgerungen gezogen werden. Das gilt übrigens auch für das Beihilferecht, das keine Konsequenz aus Art. 6 Grundgesetz ist, sondern das sich auf die berühmten hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gründet, die den Dienstherrn zur Fürsorge gegenüber seinen Beamten verpflichten. Der Beamte erhält Beihilfe nicht nur für seine unterhaltsberechtigten nahen Angehörigen, sondern zum Beispiel auch für Umzüge oder - wie uns in einem sehr berühmten Fall klar gemacht worden ist - sogar für Prozesskosten, die mit Art. 6 Grundgesetz nun wirklich nichts zu tun haben. Ich denke also, dass die Unterhaltspflicht bzw. das Unterhaltsrecht die Basis des Beihilferechts bildet. Wenn wir in der gesetzlichen Krankenkasse eine Familienmitversicherung haben, erscheint es mir schwer vertretbar, wenn irgendwann ein beamtenrechtlicher Dienstherr sagen sollte, in Bezug auf seine Beamten ginge ihn das nichts an. Dass wir bei der Regelung des BSHG die Länder, wie ich hoffe, auf unserer Seite haben, steht auf einem ganz anderen Blatt. Es kann doch wohl nicht ernsthaft sein, dass ein heterosexuelles Paar, das verheiratet oder unverheiratet zusammenlebt, im Rahmen der Sozialhilfe eine vorhandene Unterhaltsleistung angerechnet bekommt, während ein homosexuelles Paar, das in einer ebensolchen Beistandsgemeinschaft lebt, davon verschont bleibt. Ich habe immer gesagt, die gleichgeschlechtlichen Paare stehen meinem Herzen nicht so nahe, dass ich deswegen heterosexuelle Paare schlechter behandelt sehen möchte. Ich denke, das wird bei Ihnen nicht anders sein; das vermute ich zumindest. Ich hoffe daher, dass wir auch in diesem Punkt zu einem Ergebnis kommen werden. Übrig bleibt die Frage der Eheschließung vor dem Standesamt. Die sakramentale Funktion des Standesamts verblüfft mich, weil ich aus dem Geschichtsunterricht noch gut weiß, dass dies die Konsequenz aus dem Kulturkampf war. Ich wage mir kaum auszumalen, was der selige Bismarck zu dem sagen würde, was heute daraus gemacht wird. Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, in Geschichte gelernt zu haben, dass eine Reihe katholischer Bischöfe im Zusammenhang mit der Aussage, der Standesbeamte habe mit der Ehe nichts zu tun, ins Gefängnis gingen. Wenn Sie aber doch der Auffassung sind, dass ein gleichgeschlechtliches Paar es nicht wert sei, einem deutschen Standesbeamten ins Auge zu blicken, dann sei es drum. Dann machen Sie es eben beim Einwohnermeldeamt oder von mir aus beim Handelsregister. Darüber werden wir uns einigen können. Ich glaube, es gibt gute Gründe, von einer Einigung auszugehen, gerade wegen des kleinen Parteitags der CDU. Weil ich mich zusammen mit Herrn Beck schon seit vielen Jahren mit diesem Thema beschäftige, mache ich Sie jedenfalls auf eines aufmerksam: Ich wäre niemals bereit gewesen - das hätte niemand erwarten dürfen -, etwas am Gewicht des Art. 6 des Grundgesetzes - kein Jota, kein Gramm - zu ändern; denn ich gehöre zu den Leuten, deren Familienbiographie Kardinal Meisner nur Freude machen würde. Deswegen kann ich mit gutem Recht sagen: Ich erwarte einen Kompromiss. Ich denke, dass wir alle inzwischen gelassen genug sind, um ihn zu finden. Danke sehr. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe hier dazu Stellung zu nehmen, weshalb die CDU/CSU-Fraktion das Vermittlungsbegehren der SPD und der Grünen ablehnen wird. Die Koalitionsparteien haben den Entwurf des Lebenspartnerschaftsgesetzes im Frühsommer in den Bundestag eingebracht. Darüber haben wir Anfang Juli in erster Lesung beraten. Von Anfang an war sichtbar, dass sich die Unionsparteien ganz entschieden gegen dieses Gesetz wenden. Das galt nicht nur für die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, sondern auch für die Bundesländer, in denen die CDU oder die CSU an der Landesregierung beteiligt ist. Damit war auch von Anfang an klar, dass dieses Gesetz den Bundesrat nicht als ein Gesetz passieren würde, jedenfalls nicht in der damaligen Form, in der der gesamte Sachverhalt geregelt wird; denn dieser Gesetzentwurf enthielt bekanntermaßen sowohl zustimmungspflichtige als auch zustimmungsfreie Teile. Deshalb war es für uns unverständlich, weshalb die Koalitionsparteien die Aufspaltung dieses Gesetzes erst auf den letzten Drücker vorgenommen haben. Ein Großteil der Ausschussmitglieder hat die beiden Gesetzentwürfe, die früher ein Gesetzentwurf gewesen waren, äußerst kurzfristig erhalten. Eine vernünftige Beratung in der Fraktion und ihren Gremien über die Frage, ob die Aufspaltung gelungen sei, ob nicht doch zustimmungspflichtige Teile in dem einen oder anderen Gesetzentwurf enthalten seien, war nicht mehr möglich. Deshalb haben wir am Mittwoch, den 8. November, also an dem Tag, an dem der Ausschuss getagt hat, darum gebeten, die Beratungen um acht Tage zu verschieben; denn wir wollten uns erst einmal über die eben genannten Fragen klar werden. Aber sowohl unsere Anregung, dazu erst einmal Experten anzuhören, als auch unsere Bitte, die Beratungen um acht Tage zu verschieben, wurde einfach abgebügelt. Dieses Verhalten der Koalition ist für mich nach wie vor unverständlich, zumal es dafür überhaupt keinen Grund gab. Hier hat man einfach mit den Muskeln gespielt. Es hat sich jetzt erwiesen, dass das falsch war; denn die Aufspaltung ist nach unserer Meinung nicht gelungen. Die Aufspaltung ist nach unserer Auffassung nicht gelungen, weil es Ihnen aufgrund der Hast und der Schnelligkeit, mit der dieses Gesetz durch den Ausschuss und das Parlament geboxt werden musste, nicht möglich war, wichtige Elemente aus dem angeblich zustimmungsfreien Teil herauszunehmen, zum Beispiel den Standesbeamten. Diesen wollten Sie ursprünglich herausnehmen. Das sei Ihnen zugestanden und dazu liegt auch ein entsprechender Antrag mit Datum vom 3. November vor. Aber zum Schluss tauchte der Standesbeamte in der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses wieder auf. Dies ging auch so durch den Bundestag und den Bundesrat und ist nun im Gesetz enthalten. Damit ist dieses Gesetz vom äußeren Anschein her zunächst einmal zustimmungspflichtig. Insoweit ist die Aufspaltung nicht gelungen. Das Bundesjustizministerium hat zwar inzwischen ein Berichtigungsverfahren nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung von Bundestag und Bundesrat eingeleitet. Ich weiß nicht, ob der Bundestagspräsident und der Bundesratspräsident der Berichtigung zustimmen werden. Peinlich ist die Sache allemal, und zwar in höchstem Maße. Die interessante Frage ist - zumindest für das Bundesverfassungsgericht -, ob eine solche nachträgliche Berichtigung überhaupt zulässig ist. Angesichts der Tatsache, dass in diesem angeblich zustimmungsfreien Gesetz noch immer Bezug auf das Namensrecht genommen wird, wodurch der Standesbeamte wieder ins Spiel gebracht wird und unter Umständen im Gesetz bleibt, sind die Zweifel berechtigt, ob die Aufspaltung wirklich gelungen ist. Zudem enthält dieses angeblich zustimmungsfreie Gesetz, so sagt jedenfalls der Innenausschuss des Bundesrates, nach wie vor ausländerrechtliche Regelungen und damit auch Ausführungsregelungen. Deshalb ist der Innenausschuss des Bundesrates der Auffassung, das Gesetz sei nach wie vor zustimmungspflichtig. - Über die Frage, ob die Aufspaltung gelungen ist, besteht also Streit. Die Aufspaltung ist nach unserer Meinung auch unzulässig, weil beide Gesetzesteile - Frau von Renesse, Sie benutzten dieses Wort vorhin zu Recht; es handelt sich um Teile einer Gesamtregelung - zusammengehören. Auch ich weiß, dass der Bundestag aufgrund seiner gesetzgeberischen Freiheit Gesetzentwürfe so gestalten kann, dass ein Teil zustimmungsfrei und der andere zustimmungspflichtig ist. Aber diese Freiheit hat immer dort ihre Grenze, wo Willkür im Spiel ist. Willkür ist immer dann im Spiel, wenn beide Gesetzesteile unabdingbar aufeinander angewiesen sind. Dass genau das in diesem Fall zutrifft, haben Sie sehr plausibel vorgetragen: Das so genannte Ergänzungsgesetz kann ohne das Lebenspartnerschaftsgesetz gar nicht existieren; dies macht keinen Sinn. Das so genannte Ergänzungsgesetz kann schlecht im Bundesgesetzblatt stehen, wenn das angeblich zustimmungsfreie Lebenspartnerschaftsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand hat. Schon aufgrund dieser Überlegung sind beide Gesetze zweifellos aufeinander angewiesen. ({0}) - Vielleicht machen auch Sie jetzt keine Zwischenrufe. Wie sehr die beiden Gesetze aufeinander angewiesen sind, zeigt sich noch in vielen anderen Punkten, zum Beispiel in der Unterhaltsregelung, einer Kernregelung des Gesetzesvorhabens als Ganzem. Wir wissen, dass, wie bei Eheleuten, die Unterhaltsregelung gleichgeschlechtlicher Partner im Lebenspartnerschaftsgesetz verankert ist. Dagegen sind Fragen des Steuerrechts oder des Beamtenrechts - ich erinnere an das Beihilferecht -, die Partnerschaften dieser Art betreffen, im Ergänzungsgesetz geregelt. Da Unterhaltsregelung und steuerrechtliche Fragen aber unmittelbar zusammenhängen, können sie eigentlich nicht in unterschiedlichen Gesetzen behandelt werden. Dasselbe gilt für das Erbrecht. Das so genannte Stammgesetz enthält die erbrechtliche Regelung. Die steuerlichen Folgen der erbrechtlichen Regelung befinden sich allerdings im Ergänzungsgesetz. Wiederum hängt beides eng zusammen. Ich meine, dass verfassungsrechtliche Zweifel an der Zulässigkeit der Aufspaltung dieses Gesetzes sehr wohl berechtigt sind. Wir sind aus einem weiteren Grund - dieser Punkt ist schon vorhin genannt worden - der Auffassung, dass dieses Gesetz abgelehnt werden sollte. Wir teilen die Ansicht des Innenministers, dass sowohl der zustimmungsfreie Hauptteil als auch der zustimmungspflichtige Teil Art. 3 unserer Verfassung, des Grundgesetzes, nicht entspricht. Wir glauben, dass es nicht richtig ist, gleichgeschlechtliche Gemeinschaften gegenüber anderen Verantwortungsgemeinschaften bevorzugt zu behandeln. Frau von Renesse, hier handelt es sich um ein verfassungsrechtliches Problem. Das sagt auch der Innenminister. Über Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes kommt die Frage ins Spiel, ob nicht das Erbrecht stärker zu schützen ist. Das ist die Auffassung des Innenministers, der ich mich anschließe. ({1}): Das Erbrecht von jeman- dem, der noch nicht gestorben ist?) - Sie missverstehen das, was ich gesagt habe, ganz eindeutig. Sie sollten ein bisschen länger darüber nachdenken, was durch Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes geschützt werden soll. Vielleicht fragen Sie einmal bei Ihrem Parteifreund Schily nach; er wird es Ihnen möglicherweise privatissime et gratis sagen. Die Zeit ist heute zu kurz, um darauf weiter einzugehen. Ich bin natürlich der Auffassung, dass Art. 6 des Grundgesetzes verletzt ist. Es bestehen in höchstem Maße verfassungsrechtliche Bedenken. Daher macht das Gesetz insgesamt keinen Sinn. Man muss beide Teile vor das Bundesverfassungsgericht bringen. Das Vermittlungsverfahren selbst macht keinerlei Sinn; denn der eine Teil kann nicht ohne den anderen bestehen. Es hat keinen Sinn, jetzt bei einem Teil nach einem Kompromiss zu suchen, den anderen Teil aber so stehen zu lassen. Sie hätten beide Teile zusammenlassen sollen. Dann hätten wir vielleicht zu beiden Teilen im Vermittlungsausschuss, mit den Kollegen aus Bundestag und Bundesrat eine Regelung finden können. Aber Sie haben den ursprünglichen Gesetzentwurf aufgespalten. Der eine Teil steht jetzt im Raum, hilflos ohne den anderen, ein Ungeheuer gewissermaßen, ein Unikum, eine Luftblase, wenn Sie so wollen. ({2}) Aber lassen wir diese Qualifizierungen heute und bleiben wir bei rein juristischen Erwägungen. Ich meine, dass erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen. Deshalb sind wir der Auffassung, dass das Vermittlungsbegehren nichts bringen wird. Wir wenden uns daher dagegen. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Ende dieser langen Sitzungswoche scheinen auch die Metaphern langsam auszugehen, zumindest humpeln die Bilder jetzt durch das Parlament. Herr Geis, was Sie hier zum Verfahren gesagt haben, bedarf einer Richtigstellung. Wir haben Sie zweieinhalb Wochen vor der entscheidenden Rechtsausschusssitzung in Berichterstattergesprächen informiert, wie wir verfahren werden. Wir haben Ihnen auch gesagt, an welchem Tag Sie die redaktionell überarbeiteten Entwürfe bekommen werden, die nur technisch auseinander genommen wurden wie ein Reißverschluss. In der Sache war Ihnen bekannt, was in ihnen steht. Fünf Tage vor der Rechtsausschusssitzung - und ich meine, das muss zum Lesen reichen - haben Sie die Entwürfe per E-Mail in Ihren Büros gehabt. ({0}) Wenn Sie nicht in Ihren Büros arbeiten und diese Dinge nicht abrufen, ist das Ihr Problem. Ihnen sind die Entwürfe sogar vom Bundesjustizministerium in den Wahlkreis geschickt worden, Herr Geis. ({1}) Da kann man sich wirklich nicht beschweren. Das Lebenspartnerschaftsgesetz ist am 10. November vom Bundestag verabschiedet worden und hat den Bundesrat am 1. Dezember passiert. Dabei war eine so genannte offensichtliche Unrichtigkeit in der Vorlage, die Sie gerade aufgegriffen haben. Die hat aber weder die Koalition noch die Bundesregierung zu verantworten. Wir haben einen korrekten Änderungsantrag in den Ausschuss eingebracht. Wir wissen nicht, wie es passierte, aber im Ausschusssekretariat wurde der Beschluss falsch protokolliert und dem Plenum und damit auch dem Bundesrat in zwei Punkten redaktionell falsch übermittelt. Die Verantwortung für diesen Ausschuss trägt Herr Scholz von der CDU, der heute nicht da ist und das nicht erklären kann. Wir sollten hier nicht mit Vorwürfen arbeiten. Ihr Obmann, Herr Geis, hat ja auch zugestimmt, dass diese offensichtliche Unrichtigkeit berichtigt wird. Deshalb sollten wir das, nachdem wir so etwas vereinbart haben, hier nicht noch einmal im Plenum scheinbar vor der Öffentlichkeit strittig stellen. ({2}) Nun zur Sache. Das Lebenspartnerschaftsgesetz ist verabschiedet. Es werden damit viele Probleme gelöst und es findet ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel in unserem Land statt. Erstmals erkennt unsere Rechtsordnung homosexuelle Partnerschaften rechtlich an und respektiert sie. Das ist ein entscheidender Schritt. Wir haben über 60 Gesetze geändert und deshalb auch die ganz große Zahl von Problemen - auch in dem zustimmungsfreien Teil - gelöst. Daher steht das Gesetz für sich auch nicht hilflos in der Landschaft, sondern es ist ein gutes Fundament für weitere rechtliche Entwicklungen. Meine Damen und Herren, es ist nun entschieden: Das Lebenspartnerschaftsgesetz, das familienrechtliche Institut, kommt ins Bundesgesetzblatt. Jetzt stellen sich nur einige Fragen, die sich darauf beziehen, ob allgemein geltende Rechtsgrundsätze unserer Rechtsordnung auch für die eingetragene Lebenspartnerschaft gelten. Die Frage des Ob haben wir entschieden. Jetzt geht es nur noch in einigen Details um das Wie. Hier geht es darum, ob es zu einer parteipolitischen Blockade oder zu einer fachlichen, sachgerechten Diskussion kommt. Ich hoffe, dass sich alle Oppositionsparteien, die im Vermittlungsausschuss vertreten sind, für die offene Diskussion entscheiden und mit uns in der Sache reden, vielleicht auch streiten, sodass wir zu einem guten Kompromiss kommen. Um welche Fragen geht es, Herr Geis? Beim Steuerrecht geht es um die Grundsatzfragen: Gilt weiterhin, dass man nur nach seiner steuerlichen Leistungsfähigkeit besteuert werden darf? Und kann der Steuergesetzgeber davon absehen, dass der Familienrechtgesetzgeber gesetzliche Unterhaltsverpflichtungen geschaffen hat? Das kann er nicht. Wenn wir es als Bundestag und als Bundesrat nicht tun, dann werden das die Gerichte korrigieren. Wir können nicht aus rein parteipolitischer Taktik bestimmte Rechtsgrundsätze aushebeln. Das Gleiche gilt für das Sozialrecht. Bei der Bedürftigkeitsprüfung können wir doch nicht davon absehen, dass der Familienrechtsgesetzgeber gesetzliche Unterhaltspflichten und -rechte geschaffen hat. Deshalb müssen selbstverständlich - genau wie in der Ehe - das Vermögen und das Einkommen des eingetragenen Lebenspartners herangezogen werden, ({3}) bevor der Staat Sozialhilfe oder Wohngeld zahlen muss. Das Gleiche gilt für das Beamtenrecht und das Alimentationsprinzip. Selbstverständlich muss dabei auch berücksichtigt werden, welche gesetzliche Unterhaltsverpflichtungen der zu alimentierende Beamte hat. Damit ist auch die entsprechende Beihilfeberechtigung verfassungsrechtlich zwingend einzuschließen. Ein anderer, eher verwaltungsrechtlicher Grundsatz gilt ebenfalls in diesem Land: Für Personenstandsfragen ist nun einmal das Standesamt zuständig, nicht die KfzStelle oder das Grünflächenamt; ({4}) deshalb ist es vernünftig, dies auch in das Gesetz zu schreiben. Meine Damen und Herren, öffnen Sie sich, führen Sie keinen Kulturkampf gegen die Rechte von Lesben und Schwulen, sondern helfen Sie, mit uns eine sachgerechte Lösung zu finden. Wir wollen uns gern gemeinsam mit Ihnen im Vermittlungsausschuss die dafür notwendige Beratungszeit nehmen. Ich glaube, wenn der Rauch der Schlacht der letzten Wochen verzogen und der Theaterdonner verhallt ist, können wir alle miteinander vielleicht auch in der Sache vernünftig und ruhig ins Gespräch kommen. Vielen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Beck, wir werden keinen Kulturkampf miteinander auszutragen haben. Die F.D.P.Bundestagsfraktion begrüßt die Anrufung des Vermittlungsausschusses zum Lebenspartnerschaftsgesetz. Es besteht damit noch Hoffnung, insgesamt zu einer tragfähigen und praktikablen Lösung zu kommen. Nach der Abstimmung im Bundesrat blieb von dem ursprünglichen Reformwerk nur noch ein Torso übrig. Es gibt einen Überhang an Pflichten, aber keinen Ausgleich an Rechten. Dies ist zweifellos ein untragbarer Zustand, der den Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen in keiner Weise gerecht wird. Mit der dilettantischen Taktik, mit der Rot-Grün das Gesetz durch die Gremien des Bundestages und auch den Rechtsausschuss gepaukt hat - ({0}) - Ich bringe überhaupt keine Schärfe hinein. Es war wirklich dilettantisch - Sie waren ja nicht dabei, Herr Schmidt -, wie das im Bundestag und vor allem im Rechtssausschuss durchgepaukt worden ist. Das hätten Sie einmal erleben sollen. ({1}) Da hätten Sie als Demokrat schon Ihre Zweifel bekommen. Die Entscheidung des Bundesrates war von vornherein absehbar. Wenn Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, frühzeitig das Gespräch auch mit der F.D.P. und der Opposition insgesamt gesucht und die Bereitschaft und den Willen zum Kompromiss gezeigt hätten, ({2}) wäre uns dieses Schauspiel erspart geblieben. ({3}) Volker Beck ({4}) Die gestrige Erklärung des Bundestages zur Rehabilitierung von homosexuellen NS-Unrechtsopfern zeigt doch, dass eine parteiübergreifende Einigung möglich ist, wenn nur der Wille dazu vorhanden ist. ({5}) Bei diesem Gesetz war er leider nicht vorhanden. Die F.D.P. wird in dem anstehenden Vermittlungsverfahren ihre Ideen erneut einbringen. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. An diesem F.D.P.-Gesetzentwurf werden wir uns zu orientieren haben. Wir werden erneut für ein neues und modernes Rechtsinstitut für gleichgeschlechtliche Paare werben. Wir wollen eine eingetragene Lebenspartnerschaft, die nicht nur auf starren Verordnungen und Reglementierungen beruht, sondern wir wollen ein Institut, das offen ist für neue Wege. Wir werben für mehr Freiheit und für mehr Flexibilität. ({6}) Gemeinsam und in Absprache mit den Landesregierungen, an denen die F.D.P. beteiligt ist, wird sich die F.D.P. in die Beratungen einbringen. Wir werden sehr genau darauf achten, ob die Koalitionsparteien wirklich an einer Zusammenarbeit interessiert sind oder ob es nur um die Inszenierung eines Medienspektakels geht. Letzteres wäre der Sache in keiner Weise angemessen. ({7}) An der F.D.P. wird eine vernünftige, verfassungsfeste und von der breiten Gesellschaft getragene Lösung nicht scheitern. ({8}) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort die Kollegin Christina Schenk, PDS-Fraktion.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Selbstverständlich wird die PDSFraktion dem Antrag auf Anrufung des Vermittlungsausschusses zustimmen; denn wie sollte etwas besser werden als dadurch, dass man miteinander redet. Aus meiner Sicht wird immer deutlicher: Die Regierungsfraktionen, namentlich die Grünen, haben sich verkämpft. Sie haben sich in einem Projekt verkämpft, das zum einen rechtssystematisch eine Fehlkonstruktion ist und zum anderen an den Regelungsbedürfnissen derjenigen, für die es vorgeblich gedacht ist, vorbeigeht. SPD und Grüne haben den Gesetzentwurf in einen zustimmungsfreien und einen zustimmungspflichtigen Teil aufgesplittet. Dieses durchaus nicht unübliche Verfahren ist im Fall der eingetragenen Lebenspartnerschaft handwerklich ein Unding. Nach der nun wahrlich nicht überraschenden Ablehnung durch den Bundesrat bleibt ein Rechtsinstitut übrig, das grundlegende rechtliche Zusammenhänge in unüberbrückbare Widersprüche verwandelt. Das führt zu Absurditäten, von denen ich hier nur einige nennen möchte: Die Lebenspartner sind während und nach der Partnerschaft einander unterhaltsverpflichtet, ohne dass sie dies wie Eheleute steuerlich geltend machen können; das haben andere hier auch schon angeführt. Ein zweites Beispiel: Die Unterhaltsverpflichtung findet laut Gesetz zwar bei der Gewährung von Arbeitslosenhilfe, nicht aber bei der Sozialhilfe Berücksichtigung. Ein weiteres Beispiel: Eingetragene Lebenspartner können nach dem Tod des Partners zwar dessen Milchladen, nicht aber die Gaststätte oder den Handwerksbetrieb weiterführen. Viertes und letztes Beispiel: Während infolge einer Eheschließung der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss für die Kinder entfällt, ist dies bei der eingetragenen Lebenspartnerschaft nicht der Fall, obwohl auch hier der Lebenspartner für die Kinder seiner Partnerin bzw. seines Partners unterhaltspflichtig wird. ({0}) Diese Reihe von Beispielen könnte noch eine Weile fortgeführt werden. Ich will in Anbetracht der Zeit darauf verzichten. Ich möchte hier noch einmal mit Nachdruck sagen: Selbst wenn das Ergänzungsgesetz in Kraft treten würde, blieben lesbischen und schwulen Paaren wesentliche Eherechte versagt. Das hier von der Koalition postulierte Abstandsgebot ist aus Sicht der PDS in keiner Weise sachgerecht und widerspricht zudem dem Gleichheitsgebot des Art. 3 des Grundgesetzes. ({1}) Eine Regelung mit deutlichem Abstand zur Ehe wird im Übrigen von der überwiegenden Mehrheit der Lesben und Schwulen abgelehnt. Das ist zumindest das Ergebnis der vom Bundesjustizministerium in Auftrag gegebenen Studie des SOFOS-Instituts der Universität Bamberg. Leider kennt kaum jemand diese Studie, obwohl sie bereits im Januar an das BMJ übergeben wurde. Ich meine, das ist kein Zufall; denn das Konzept der eingetragenen Lebenspartnerschaft passt nicht zu den Ergebnissen dieser Erhebung. In der Studie - das ist eine repräsentative Studie, darauf möchte ich hinweisen - heißt es: Etwa zwei Drittel der Befragten befürworten eine Regelung, die ihnen die Möglichkeit der flexiblen Ausgestaltung ihrer Beziehungen gibt. Insofern finde ich den Ansatz der F.D.P. in Teilen tatsächlich sehr modern; es lohnt sich also, hier weiter über ihn zu diskutieren. ({2}) Die zwei Drittel der Befragten, von denen ich sprach, fordern eine Reform des Familienrechts, ({3}) die die Vielfalt an familiären Lebensformen endlich zur Kenntnis nimmt und diese nicht in das Korsett von antiquiertem Eheballast und ungerechtfertigten Privilegien presst. Abschließend möchte ich sagen: Es freut mich sehr, dass auch im Bundesrat über Alternativen zur eingetragenen Lebenspartnerschaft nachgedacht und auf den französischen Zivilpakt verwiesen wurde. Eine solche Regelung nämlich wäre zukunftsfähig, weil sie für Homo- und Heterosexuelle offen wäre und somit nicht eine diskriminierende Sondergesetzgebung für Lesben und Schwule zur Folge hätte. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Anrufung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Gesetze. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/4878? - Gegenprobe! - Der Antrag ist gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 c auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes, insbesondere zur Durchführung der EGRichtlinie 98/78/EG vom 27. Oktober 1998 über die zusätzliche Beaufsichtigung der einer Versicherungsgruppe angehörenden Versicherungsunternehmen sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro - Drucksache 14/4453 ({0}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1}) - Drucksache 14/4921 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Lennartz Hansgeorg Hauser ({2}) Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen daher gleich zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes, Drucksachen 14/4453 und 14/4921. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. ({3}) Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit wenigen Enthaltungen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2001 ({4}) - Drucksache 14/4299 ({5}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({6}) - Drucksache 14/4930 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Ursula Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS ERP-Sondervermögen für Mittelstandsförderung erhöhen -Drucksachen 14/4556, 14/4931 Berichterstattung: Abgeordnete Margareta Wolf ({8}) Es ist zwar eine Aussprache vorgesehen; aber alle Re- den, nämlich die der Kollegin Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk und der Kollegen Otto Bernhardt, Hans-Josef Fell, Rainer Funke und Rolf Kutzmutz, sind zu Protokoll gegeben worden.1) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines ERP-Wirtschaftsplangesetzes 2001, Drucksachen 14/4299 und 14/4930. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „ERP-Sondervermögen für Mittelstandsförderung erhöhen“, Drucksache 14/4931. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/4556 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({9}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Doris Barnett, Silvia Schmidt ({10}), Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Frak- 1) Anlage 19 tion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin Göring-Eckardt, Volker Beck ({11}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an der Informationsgesellschaft - Gleichberechtigten Zugang zum Fernsehen sichern - zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Diemers, Karl-Josef Laumann, Bernd Neumann ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU/ Verbesserung des Programmangebots für Schwerhörige, Gehörlose, Sehbehinderte und Blinde im Fernsehen und den neuen Medien - Drucksachen 14/3382, 14/4385,14/4917 Berichterstattung: Abgeordnete Claudia Nolte Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. - Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Zunächst bekommt die Kollegin Doris Barnett für die SPD-Fraktion das Wort.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Antrag, den wir heute behandeln, hat seine Geschichte: Nicht der Weltbehindertentag war Auslöser, nein, es war ein Betroffener, der sich bei mir beschwerte, dass es im Fernsehen viel zu wenig Sendungen für Hörgeschädigte und Ertaubte gebe. Diesen Menschen ist ebenso wie den Sehbehinderten und Blinden die Teilhabe an der Informationsgesellschaft, so wie wir sie kennen, weitgehend verwehrt - und das, obwohl wir im Grundgesetz festgelegt haben, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Unser aller Ziel - da sind sich die Fraktionen ja einig - ist nicht die Ausgrenzung von Minderheiten, sondern deren selbstverständliche Teilhabe an der Informationsgesellschaft. Also muss sich dies auch beim gleichberechtigten Zugang zu den Medien abbilden. ({0}) Der heutige Stand der Technik bietet dafür gute Möglichkeiten. Das Internet ist gerade für Gehörlose und Ertaubte das ideale Medium zur Teilhabe an der Informationsvielfalt, die über diesen Verbreitungsweg angeboten wird. Das gilt dank der vorhandenen Softwareprogramme auch für die Sehbehinderten und die Blinden, wobei ich nicht verschweigen will, dass die Kosten für die Sonderausstattung der PCs vorerst noch erheblich sind. Ich meine hier das klassische elektronische Medium, das Fernsehen. Der Zugang für den betroffenen Personenkreis ist mangelhaft. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir viel zu lange taub und blind für die Bedürfnisse unserer Mitbürger waren, die beim Hören und Sehen Defizite haben. ({1}) Vielen Menschen, sicherlich auch Kolleginnen und Kollegen hier im Hause, kommt es gar nicht in den Sinn, dass Fernseher ein wichtiges Teilhabeinstrument auch für die Menschen sind, die nicht oder nur schlecht hören oder sehen können. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass kaum einer von den inzwischen 14 Millionen Hörbehinderten und circa 700 000 Sehbehinderten einen Fernseher besitzt. Der Bayerische Blinden- und Sehbehindertenbund hat 1996 eine Umfrage bei seinen Mitgliedern durchgeführt und festgestellt, dass rund 97 Prozent der Befragten ein Fernsehgerät besitzen und davon wieder über 81 Prozent regelmäßig fernsehen. Natürlich stehen Nachrichtensendungen auf der Beliebtheitsskala ganz oben, aber auch nur deshalb, weil - bislang nur wenige - Sendungen mit Audiodeskription - das ist eine besonders ausführliche Bildbeschreibung auf der zweiten Tonspur - unterlegt sind. Zwar hat sich die Zahl der Filme mit Audiodeskription von 1999 bis 2000 von 80 auf 140 Sendungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, also bei ARD und ZDF, fast verdoppelt. Auch Arte, 3sat und die dritten Programme der ARD strahlen diese Audiodeskriptionsprogramme in Wiederholung aus. Aber von der Erfüllung des Wunsches der Betroffenen, nämlich einen Film pro Tag, sind wir noch weit entfernt. Das Kostenargument ist für mich an dieser Stelle nicht überzeugend. Ein 90-Minuten-Film mit dieser besonderen Bildbeschreibung verursacht lediglich Zusatzkosten in Höhe von 8 000 bis 10 000 DM. Diese fallen aber, betrachtet man die Gesamtproduktionskosten, kaum ins Gewicht. ({2}) Für hörgeschädigte und gehörlose Zuschauer sind die öffentlich-rechtlichen Sender bereits aktiver. Seit 1997 untertitelt der WDR jährlich 12 000 Sendeminuten neu. Das sind 200 Stunden. Der Bayerische Rundfunk untertitelt 150 Stunden pro Jahr und andere Sender, auch das ZDF, leisten einen Beitrag entsprechend ihrer Größe. Die Kosten für die Untertitelung sind wirklich gering. Einen „Tatort“ zu produzieren kostet 30 000 DM pro Sendeminute, die Untertitelung aber nur 40 DM pro Minute. Es kostet also gerade einmal 3 600 DM, einen 90-MinutenFilm zu untertiteln. Auf die Gebärdensprache sind in Deutschland etwa 80 000 bis maximal 180 000 Menschen angewiesen. Nach Meinung des rheinland-pfälzischen Landesverbandes der Gehörlosen ist sie eine wichtige Verständigungshilfe bei aktuellen Sendungen wie Live-Berichten, politischen Gesprächsrunden und Talkshows, weil hier ganz schnell übersetzt werden muss. Bei Filmen wird Untertitelung bevorzugt. Phoenix bietet Gebärdendolmetscher bei Nachrichtensendungen an. Diese Dienstleistung, also das Übersetzen durch Gebärdendolmetscher, ist zwar deutlich teurer als die Untertitelung. Aber sollte uns die Teilhabe von Seh- und Hörbehinderten das nicht wert sein? ({3}) Wenn es darum geht, neue Technologien einzuführen, gönnen wir uns oft einen Blick über den großen Teich. Wenn es darum geht, Menschen mit Behinderungen den Vizepräsidentin Anke Fuchs Zugang zum Medium Fernsehen zu gewährleisten, lohnt es sich erst recht, in die USA zu blicken. Obwohl in den USA öffentlich-rechtlicher Rundfunk so gut wie unbekannt ist, gibt es dort hervorragende gesetzliche Regelungen, um Gehörlose und Ertaubte, Sehbehinderte und Blinde am alltäglichen Leben und somit auch am Fernsehen teilnehmen zu lassen. So wenig es dort denkbar ist, für Rollstuhlfahrer keine Rampe zur öffentlichen Bibliothek zu haben, so wenig ist es dort denkbar, keine Untertitelung bzw. Audiodeskription zu haben. Hören Sie bitte gut zu: 1990 wurde mit einer Übergangsfrist von drei Jahren gesetzlich geregelt, dass jedes Fernsehgerät, das eine Bildschirmdiagonale von mehr als 33 cm hat, einen eingebauten Decoder für die Untertitelung haben muss, um den Millionen von Hörgeschädigten die Teilhabe am aktuellen Leben zu ermöglichen. Ab 2002 müssen alle großen Fernsehanstalten - und die sind privat - und die fünf größten Kabelbetreiber sicherstellen, dass pro Quartal mindestens 50 Sendestunden neu mit Audiodeskription unterlegt sind, damit auch Sehbehinderte nicht ausgeschlossen bleiben. Auch in England wird für seh- und hörbehinderte Menschen sehr viel getan. Mindestens 15 Programmstunden pro Woche müssen pro Sender mit Audiodeskription für Sehbehinderte unterlegt sein. Was die Gehörlosen anbelangt: Bei BBC 1 sind zurzeit 70 Prozent aller Programme untertitelt. Bis 2008 soll das gesamte Programmangebot untertitelt sein. Dann ist dort das Fernsehprogramm für Gehörlose diskriminierungsfrei. Mit Blick auf das, was für seh- und hörgeschädigte Menschen getan werden kann, müssen wir auch hier endlich aufwachen und handeln. Sicher, der Bundestag kann nicht in die Rundfunkhoheit der Länder eingreifen. Aber als der für das SGB IX zuständige Gesetzgeber haben wir die Pflicht, auf Defizite aufmerksam zu machen und deren Beseitigung anzumahnen, wenn dies vonseiten der Verantwortlichen nicht geschieht. Wir meinen, der Grundversorgungsauftrag, den die öffentlich-rechtlichen Sender zu erfüllen haben, hat auch den Zugang zum Medium Fernsehen für Menschen mit Seh- oder Hörbehinderungen zu beinhalten. ({4}) Er muss diskriminierungsfrei, vielfältig, ausgewogen und flächendeckend auch für Behinderte und Minderheiten erfolgen. Dies ist schließlich auch der Grund, warum öffentlich-rechtliches Fernsehen gebührenfinanziert ist.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Kollege.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Barnett, warum bestehen Sie auf den öffentlichen-rechtlichen Sendern?

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zu den privaten komme ich noch.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Gut, denn das ist noch wichtiger. Sie haben gerade die positiven Beispiele genannt. Ich finde, der Bundesgesetzgeber muss doch die Möglichkeit haben, gesetzliche Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass auch die privaten Sender ihrer Verpflichtung, Menschen mit Behinderungen nicht zu benachteiligen, nachkommen, und zwar möglichst bald.

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Seifert, schön wäre es. Ich bin mir auch sicher, dass der Kulturstaatsminister sehr gerne die Gesetzgebungshoheit für eine einheitliche Regelung hätte. Bei uns aber haben die 16 Länder die Gesetzgebungshoheit und können auch Regelungen für die Privaten treffen. Wir haben keine Gesetzgebungskompetenz, appellieren aber an die Länder, auch etwas bei den Privaten zu tun. ({0}) - Wenn Sie mich jetzt bitte fortfahren lassen. Ich komme gleich auf die Privaten. Nur weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk gebührenfinanziert ist und sehr wenig Werbezeit hat, kann sich das private Fernsehen nicht aus der Verantwortung stehlen, Sendungen für hör- oder sehbehinderte Menschen anzubieten. ({1}) Von den Privaten wird zwar argumentiert, dass sie sich über Werbeeinnahmen finanzieren müssten und dass der betroffene Personenkreis eher älter sei und gar kein Privatfernsehen sehe, aber dies halte ich für Unsinn und der Lebenswirklichkeit nicht entsprechend. Behinderte Menschen müssen wie wir den vollen Kaufpreis für Produkte zahlen, für die im privaten Fernsehen geworben wird. Also finanzieren sie dann, wenn sie die Produkte kaufen, die privaten Sender mit. Auch ist es dreist, zu unterstellen, seh- oder hörbehinderte Menschen seien grundsätzlich alt und an Sendungen der Privaten nicht interessiert. Zwar haben RTL und Pro 7 erste Versuche gestartet, aber so wenig, wie sich die öffentlich-rechtlichen Sender zufrieden zurücklehnen dürfen, dürfen sich die Privaten mit Hinweis auf ihre Werbefinanzierung aus der Verantwortung für seh- oder hörgeschädigte Menschen verabschieden. Artikel 3 Abs. 3 des Grundgesetzes ist nicht beliebig interpretierbar. Er gilt in allen Lebensbereichen. Auch private Fernsehsender müssen alles Notwendige unternehmen, um ihr Programm seh- oder hörgeschädigten Zuschauern zugänglich zu machen. ({2}) Deshalb haben wir auch den Prüfantrag in unseren Antrag geschrieben, dass im Falle der Verweigerung vonseiten der Privaten eine Quote zu überlegen ist. Ich verweise hier nochmals ausdrücklich auf die Regulierungsdichte in den USA, die allen größeren Fernsehanstalten vorschreiben, in ständig wachsendem Umfang Sendungen zu untertiteln und mit Audiodeskription zu unterlegen. Niemand hier im Hause - das glaube ich wenigstens - würde behaupten, die USA seien im Medienbereich überreguliert. Das, was von Gesetzes wegen in den USA und in England möglich ist, muss doch auch bei uns möglich sein. Denn - und da komme ich nochmals auf unser Grundgesetz zurück - niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Also muss der gleichberechtigte Zugang von Gehörlosen und Ertaubten, von Sehbehinderten und Blinden zum Informationsmedium Fernsehen auch tatsächlich möglich sein. Es ist bedauerlich, dass sich die CDU/CSU weigerte, bei einem so wichtigen Thema einen gemeinsamen Antrag mit uns zu formulieren. Deswegen werden wir unserem Antrag in der geänderten Fassung zustimmen und den Antrag der CDU/CSU ablehnen. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion.

Renate Diemers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000388, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Barnett, schon vor Beginn der Debatte waren wir uns in der Tat fraktionsübergreifend über die prinzipielle Zielsetzung unserer Initiativen einig. ({0}) Bevor ich zu den Unterschieden zwischen unseren Anträgen komme, möchte ich aber grundsätzliche Ausführungen machen, da sich viele Menschen zu wenig mit diesem Thema auseinander setzen bzw. ihnen die Problematik zu wenig bewusst ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Internationale Raumstation wurde vor wenigen Tagen um gigantische Sonnensegel erweitert. Das ist eine technische Meisterleistung, der Inbegriff der technischen Entwicklung. Stellen Sie sich einmal kurz vor, Sie sehen diese faszinierenden Fernsehberichte über derartige technische Meisterleistungen: Raumstation, Bilder vom Mars oder Grenzen sprengende Forschungsergebnisse. Sie sind jedoch gehörlos oder schwerhörig, und Sie sind sich bewusst, dass Sie in einem der reichsten Länder der Welt bei einem der mächtigsten Fernsehsender Europas diese Meldungen sehen. Einfache technische Hilfen wie zum Beispiel Untertitel werden nicht eingesetzt. Auch das Geld für einen Gebärdendolmetscher wird gespart. Andere, aber vergleichbare Probleme haben Blinde und Sehbehinderte. Auch hier gibt es inzwischen technische Möglichkeiten, zum Beispiel akustische Untertitel für die Bildbeschreibung. Aus diesem Grunde haben wir in unserem Antrag von Anfang an auch die Blinden und Sehbehinderten berücksichtigt. Mit dem Beispiel der Raumstation möchte ich Ihnen deutlich machen, dass technische Entwicklungen alte Grenzen immer wieder überschreiten und permanent neue Wege aufzeigen. Nur bei relativ einfach zu lösenden Problemen stagnieren wir, obwohl diese Probleme durchaus technisch lösbar sind und dazu lediglich eine große Portion guter Wille gehört. Aber es handelt sich bei den Behinderten, um die es heute geht, um eine Gruppe von Menschen ohne ausreichende Lobby. Sie haben aber berechtigte Ansprüche auf Lebensqualität wie jeder von uns. ({1}) Gehörlose und Blinde möchten nicht nur einige wenige spezielle Sendungen, sondern das ganze komplette Fernsehprogramm. ({2}) Wem nützen eigentlich Festreden zum Weltbehindertentag am 3. Dezember, und wem nützen Hochglanzbroschüren über eine vorbildliche Behindertenarbeit? Gehen wir doch bitte nicht wieder zur Tagesordnung über und verweisen wir nicht immer nur auf die allabendlichen Nachrichtensendungen mit Gebärdendolmetscher zum Beispiel bei Phoenix. Dafür haben viele von uns allen, das heißt fraktionsübergreifend, lange gekämpft. Ich selbst habe vor etlichen Jahren dieses Thema parteiintern immer wieder aufgegriffen. Aber der Ausbau des Angebotes für Schwerhörige und Sehbehinderte in der deutschen Fernsehlandschaft lässt nach wie vor zu wünschen übrig. Das Programmangebot ist im internationalen Vergleich peinlich gering. Es reicht eben nicht aus, ein paar Sendungen oder auch Sendereihen anzubieten, die sich speziell an diese Menschen wenden. Warum nicht auch Olympische Spiele, Unterhaltungshits am Samstagabend oder Sonderberichterstattungen? Auch Gehörlose sind daran interessiert, zu erfahren, warum ein schreckliches Unglück passiert ist, warum es immer noch keinen neuen US-Präsidenten gibt. Sie wollen nicht immer nur auf die Zusammenfassung am Abend warten. ({3}) Gehörlose und Blinde wollen und müssen sicher sein, dass auch sie wichtige, eventuell sogar lebensrettende Meldungen - ich nenne plakativ eine Naturkatastrophenwarnung oder Nachrichten über einen Chemieunfall - schlichtweg verstehen können. In der Diskussion über das Programmangebot für Gehörlose und Blinde sollten auch folgende Punkte angesprochen werden: erstens die Unterscheidung zwischen den öffentlich-rechtlichen und den privaten Fernsehanstalten. Die öffentlich-rechtlichen werden über Gebühren finanziert, und sie sollten auch aus diesem Grunde die Verbesserung des Programmangebotes als Aufgabe der Grundversorgung ansehen. ({4}) Die privaten Fernsehanstalten sind seit jeher aufgerufen, eine Selbstverpflichtung einzugehen. Es gibt inzwischen auch einige wenige gute Beispiele der Umsetzung. Dennoch sollten wir darauf drängen, dass sich die privaten Sender offiziell zu dieser freiwilligen Selbstverpflichtung bekennen und dementsprechend eine gewisse Erfolgskontrolle durch die Öffentlichkeit ermöglichen. ({5}) Zweitens. Dazu gehört eine freiwillige Selbstverpflichtung, deren Umsetzung nicht an Kosten scheitern sollte. Wir sehen einmal davon ab, dass es sich im Vergleich zu anderen Maßnahmen - zum Beispiel milliardenschweren Übertragungsrechten - um eine relativ geringe Summe handelt, die für Untertitel - sei es visueller, sei es akustischer Art; darauf ist schon hingewiesen worden - oder für Gebärdendolmetscher aufgewendet werden muss. Wir bewerten es an dieser Stelle auch nicht, dass sich gerade die privaten Sender derartige Kosten über Werbepartner sogar mit zusätzlichen Gewinnen zurückzahlen lassen. Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass es durchaus legitim ist, beispielsweise behinderte Kinder als Zielgruppe zu entdecken und Kindersendungen, die für gehörlose und blinde Kinder verständlich sind, über Werbepartner zu finanzieren. ({6}) Werbung ist nichts Anstößiges - schon gar nicht, wenn diese Kinder davon direkt profitieren können. Drittens. Die Integration Behinderter in die Gesellschaft ist eine im Grundgesetz von uns allen geforderte Aufgabe. Diese wird aber von punktuell wirksamen Maßnahmen nicht erbracht. Notwendig sind ein grundsätzliches Bekenntnis und möglichst grundsätzlich einzusetzende Hilfen. Die Integration kann nur verbessert werden, wenn der Zugang zu Informationen prinzipiell gewährleistet ist. Dazu gehören - das betone ich noch einmal Informationen jeglicher Art für alle Altersgruppen: Nachrichten, Unterhaltung, Sport oder auch politische Sendungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, vernachlässigen dürfen wir auf keinen Fall den Aspekt der Wissensgesellschaft und die Bedeutung dieser Frage für die Arbeitswelt. Auch die Berufswelt von Behinderten, ihre Berufswahl und ihre Berufsausübung sind von ihrem Wissensstand abhängig. Eine geringere Teilhabe an Informationen koppelt Behinderte derzeit von der Berufswelt ab - zusätzlich zu ihrer Behinderung. Festzuhalten bleibt, dass es bei der Informationsbeschaffung keine Barrieren geben darf. Ich freue mich, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Ihren ursprünglichen Antrag um einige wesentliche Punkte ergänzt haben. Unserer Auffassung nach geht er aber leider immer noch nicht weit genug. Insofern kommt einer der Punkte unseres Antrags zum Tragen, die entscheidend über Ihren Antrag hinausgehen. Ich nenne die Rolle der neuen Medien. Sie klammern diese komplett aus und begründen das damit, das Internet sei sowieso schon das klassische Medium der Gehörlosen. Aber die neuen Medien bedeuten doch viel mehr als nur das Internet. ({7}) Ich nenne das Stichwort Konvergenz, das heißt die Vereinheitlichung der Medien. In diesem Zusammenhang bedeutet es, dass es in Zukunft durch die ständige Annäherung der verschiedenen Medienformen und die technische Fortentwicklung eine Verknüpfung des Angebotes geben könnte. Beispielhaft und verkürzt ausgedrückt: Fernsehempfang mit der grundsätzlichen Möglichkeit, sich per Datennetz individuelle Zusatzinformationen akustischer oder visueller Art auf das eigene Gerät zu laden. Daher haben wir in unserem Antrag explizit auf diesen Punkt hingewiesen und fordern zugleich die Unternehmen auf, an der technischen Entwicklung und an der Software intensiv zu arbeiten. ({8}) - Herr Tauss, Sie wissen, dass dies ein wesentliches Thema ist, das ich bearbeite. Dazu muss ich nichts vorlesen, das habe ich mir selbst erarbeitet. ({9}) Ein anderer bedeutender Unterschied zwischen unseren Anträgen betrifft die Androhung einer Quote. Die Androhung einer solchen Maßnahme fordert nahezu heraus, dass freiwillige Selbstverpflichtungen nicht eingegangen werden. ({10}) Sie zerstört eine Atmosphäre des Aufbruchs zu neuen Möglichkeiten. Daher lehnen wir die Androhung einer Quote ab. ({11}) Selbstverständlich bleibt eine gesetzliche Regelung immer eine Option. Zunächst aber muss einmal die Chance gegeben werden, zu reagieren - freiwillig und unter Beobachtung der Öffentlichkeit, die wir heute verstärkt herstellen wollen. Aus diesen Gründen werden wir uns bei Ihrem Antrag enthalten und bitten um Zustimmung zu unserer Initiative. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Schluss möchte ich Sie daran erinnern, dass auch unsere Parlamentsdebatten nicht durch Gebärdendolmetscher übersetzt werden. Vielleicht können wir gemeinsam dazu heute hier die Anregung geben. ({12}) Nun wünsche ich Ihnen eine besinnliche Advents- und Weihnachtszeit. Wir sollten einmal darüber nachdenken, ob wir in der Vergangenheit immer fair miteinander umgegangen sind und ob wir das für die Zukunft nicht etwas besser bewerkstelligen können. Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest. Danke. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für Bündnis 90/Die Grünen sollte jetzt eigentlich die Kollegin Grietje Bettin sprechen. Sie ist plötzlich erkrankt und hat deswegen ihre Rede zu Protokoll gegeben1). Wir wünschen ihr von dieser Stelle gute Besserung. ({0}) Ich erteile nun dem Kollegen Dirk Niebel für die F.D.P.-Fraktion das Wort. Dirk Niebel ({1}) ({2}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegin Marquardt, vielen herzlichen Dank, über Ihren Applaus freue ich mich besonders. Auch Staatssekretär Pick hat gesagt, dass er nur wegen meiner Rede gekommen ist. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass auch ein Vertreter des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, das ja immerhin federführend ist, bei der Debatte zu diesem Thema anwesend gewesen wäre. ({3}) - Er kommt spät, aber er kommt. ({4}) Die F.D.P.-Bundestagsfraktion hat in der letzten Sitzungswoche eine Gruppe von Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen aus dem gesamten Bundesgebiet hier nach Berlin eingeladen, um die spezifischen Probleme dieser Bevölkerungsgruppe zu besprechen. Es ist immer wieder klar geworden, dass das zentrale Thema die Barrierefreiheit ist. Barrierefreiheit muss man in einem umfassenden Sinn verstehen, und zwar nicht nur im Sinne einer Absenkung von Bordsteinen, sondern insbesondere im Sinne einer Teilhabe an der Gesellschaft. Für einige Menschen ist das Betrachten einer Nachrichtensendung oder einer komplexeren Internetseite nämlich mit enormen Zugangshürden versehen. Diese Menschen sind deshalb bei der politischen Willensbildung ausgegrenzt. Wir wollen diese Hürden überwinden. Aus diesem Grund habe ich mich im Juni 1999 an Bundestagspräsident Thierse mit der Frage gewandt, ob es nicht möglich wäre, die Debatten des Deutschen Bundestages durch Gebärdendolmetscher zu begleiten. Er fand die Idee sehr gut, hat leider allerdings viele technische Probleme gesehen. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten verweisen in der Regel auf den Sender Phoenix. Ich habe vorhin geklärt, dass die Debatten dort zwar übertragen werden, aber dass selbst diese Debatte nicht mit Gebärdendolmetschern begleitet wird. Das finde ich natürlich fatal. ({5}) Wir begrüßen grundsätzlich diese Anträge, weil sie der informationellen Integration behinderter Menschen in diesem Land dienen. Wir sind allerdings der Ansicht, dass es schade ist, dass Rot-Grün mit der Quote eine Zustimmung fast unmöglich macht. Dazu kommt: Allein die Union berücksichtigt die neuen Medien. Allerdings gehen beide Anträge von altbekannten oder herkömmlichen Mitteln aus, also von Untertiteln, Übersetzungen durch Gebärdendolmetscher und Ähnlichem. Wir denken, dass wir einen weiter gehenden Ansatz brauchen. Wir müssen behindertengerechte Programme und Sendungen über Behinderte in das normale Programm integrieren, auch in die dritten Programme, bei denen wir oftmals mit Sendungen aus der Konserve leben müssen. Es wäre natürlich wünschenswert, eine behindertengerechte Spiegelung des laufenden Programms über Satellit auf einem anderen Kanal empfangen zu können. Wir wollen auf gar keinen Fall einen reinen Spartenkanal mit Sendungen für Behinderte. Das würde dazu führen, dass sich Nichtbehinderte diese in aller Regel nicht ansehen würden. Dadurch würden Behinderte noch weiter aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Das ist mit Sicherheit nicht zielführend. ({6}) Guido Westerwelle hat am 4. Juli Bundestagspräsident Thierse mit der Bitte angeschrieben, zu prüfen, ob wir, wenn wir Private auffordern, mehr für Behinderte zu tun, nicht mit gutem Beispiel vorangehen sollten. Wir sollten zumindest dafür sorgen, unsere eigene Internetseite „www.bundestag.de“ behindertengerecht zu gestalten. Herr Thierse hat das positiv und mit großem Wohlwollen aufgenommen. Passiert ist leider nichts. Dabei ist es gar nicht so schwierig, eine Internetseite behindertengerecht zu gestalten. Ich denke, wir sollten als Allererstes vor der eigenen Haustür kehren und zusehen, dass wir dort vorankommen. ({7}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich Sie zum Schluss meiner Rede mit freundlichen Weihnachtsgrüßen nach Hause schicke, möchte ich Sie darauf hinweisen, was wir in Zukunft in diesem Bereich brauchen: Wir brauchen Barrierefreiheit, Teilhabemöglichkeiten und wir brauchen mehr F.D.P. Vielen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat die Kollegin Angela Marquardt für die PDS-Fraktion das Wort. Angela Marquardt ({0}) ({1}): Vielen Dank, Herr Niebel. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, wir sind uns alle einig, dass Gehörlose, Sehbehin- derte und Menschen mit eingeschränkter Mobilität nicht irgendeine Zielgruppe der elektronischen Medien sind wie jede andere. Sie sind eine besonders wichtige Ziel- gruppe, gerade weil für sie die elektronischen Informati- ons- und Kommunikationsmittel eine Möglichkeit bieten, an der Gesellschaft teilzuhaben, eine Möglichkeit, die sie sonst nicht haben - egal, ob es das Telefon ist, das Inter- net oder auch das Fernsehen. 1) Anlage 20 Wer will, dass Menschen mit Behinderungen dem Grundgesetz entsprechend nicht benachteiligt werden, der sollte gerade auf die Medien achten, die für diese Personengruppe wichtig sind, und sollte sie überprüfen. ({2}) Die PDS unterstützt beide hier vorliegenden Anträge, auch wenn Unterschiede deutlich geworden sind. Eigentlich sind sie unwesentlich und es ist bedauerlich, dass gerade zu diesem Thema kein gemeinsamer Antrag vorgelegt worden ist. Wir unterstützen den Appell, dass die öffentlich-rechtlichen sowie die privaten Rundfunkanstalten den Anteil der Sendeminuten mit Untertiteln und Audiodeskription erhöhen sollen. Doch leider bleibt es bei Ihnen beim Appell. Rechtliche Regelungen werden nicht eingefordert. Wir wissen, dass damit die praktische Wirkung dieser Anträge gleich null ist. Es entsteht der Eindruck, dass rechtliche Konsequenzen nicht erwünscht sind, dass sie nicht eingefordert werden sollen. Seit Jahren fordern Behindertenverbände, insbesondere die Gehörlosen, die gesetzliche Anerkennung der deutschen Gebärdensprache. Wir alle in diesem Hause sollten das unterstützen, nicht nur die PDS. ({3}) Darüber hinaus fordern wir auch aus diesen Gründen ein bundesweites Gleichstellungsgesetz. Ich möchte kurz die Gelegenheit nutzen, um auf die Bedeutung der neuen Medien einzugehen. Eine Kleine Anfrage der PDS hat ergeben, dass die gesamte Förderung von Behinderten und Senioren fast vollständig auf Wirtschaftssponsoring baut, das also in Abhängigkeit von der Industrie geschieht. Gleichzeitig gibt es keine Programme, die Menschen mit Behinderungen und Senioren - neben den großen Chancen, die ihnen das Netz bietet - auf die Gefahren hinsichtlich der Sicherheit ihrer Daten aufmerksam machen. Es liegt auf der Hand, dass hier ein Zusammenhang besteht. Natürlich, Kollegin Diemers, ist Sponsoring gut, auch Werbung; aber Behinderte dürfen genauso wenig wie andere Menschen in dieser Gesellschaft zum Spielball der IuK-Branche gemacht werden. Wichtig ist: Aufklärung, Bildung und Zugangssicherung müssen auch Aufgaben des Staates sein. ({4}) Der Zugang zu den Medien, zu den neuen wie zu den konventionellen, ist ein Recht aller Bürgerinnen und Bürger. Der Zugang muss für alle finanzierbar sein. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, Kompetenz im Umgang mit diesen Medien zu erlangen. ({5}) Der Zugang muss für alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen gesichert werden. ({6}) Dazu gehören natürlich auch die technischen Voraussetzungen, behindertengerechte Hard- und Software beispielsweise, an deren Entwicklung die Wirtschaft nur geringes Interesse hat, weil ihre Hauptzielgruppe nun einmal der junge, dynamische, entwicklungsstarke Mensch ohne körperliches Handicap ist. Dieser Entwicklung müssen wir etwas entgegensetzen. ({7}) Deswegen möchte ich kurz auf die Videotheken eingehen. Es sollte Standard sein, dass in den Videotheken Decoder zum Ausleihen bereitgehalten werden, damit für Hörgeschädigte die Untertitel bei Spielfilmen sichtbar gemacht werden können. Das zum Beispiel wird in den vorliegenden Anträgen ausgespart. Da steht einfach nur: Die Videotheken sollen angehalten werden. Ich frage mich: Warum können wir es nicht fordern, warum können wir sie nicht dazu verpflichten, diese Decoder zum Ausleihen zur Verfügung zu stellen? ({8}) Das ist nur ein kleines Beispiel dafür, dass es bei Appellen bleibt und man sich um wirklich praktische Konsequenzen herumdrücken will. Deswegen lassen Sie mich an Sie appellieren: Belassen Sie es nicht bei diesen schönen Vorweihnachtsreden. In diesem Sinne wünsche ich allen hier noch Anwesenden ein schönes Weihnachtsfest. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erfahre, dass Phoenix diese Debatte mit Gebärdendolmetscher überträgt. Das finden wir alle sehr gut, meine Damen und Herren. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 14/4917. Zunächst stimmen wir ab über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen, Drucksache 14/3382, mit dem Titel „Teilhabe von Gehörlosen und Ertaubten an der Informationsgesellschaft Gleichberechtigten Zugang zum Fernsehen sichern“. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 die Annahme des Antrages in der Ausschussfassung. Wer stimmt dem zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltung von CDU/CSU und F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4385 zur Verbesserung des Programmangebots für Schwerhörige, Gehörlose, Sehbehinderte und Blinde im Fernsehen und in den neuen Medien. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung Angela Marquardt - Drucksache 14/4363 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2}) - Drucksache 14/4918 - Berichterstattung: Abgeordnete Peter Enders Meinrad Belle Dr. Max Stadler Ulla Jelpke Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll gegeben werden. Ich lese die Namen der Redner vor: Peter Enders, Meinrad Belle, Helmut Wilhelm, Dr. Max Stadler, Ulla Jelpke1) und Fritz Rudolf Körper2). Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Alters- versorgung, Drucksachen 14/4363 und 14/4918. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen- probe! - Stimmenthaltungen? - Der Antrag ist einstimmig in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge- genprobe! - Enthaltungen? - Ich danke Ihnen, dass Sie den Gesetzentwurf einstimmig angenommen haben. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis c auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung gefährlicher Hunde - Drucksache 14/4451 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({4}) - Drucksache 14/4920 - Berichterstattung: Abgeordnete Ernst Bahr Günter Baumann Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Ulla Jelpke b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Ulrich Heinrich, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Bevölkerung wirksam vor „Kampfhunden“ schützen - Drucksachen 14/3785, 14/4919 - Berichterstattung: Abgeordnete Ernst Bahr Günter Baumann Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Ulla Jelpke c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse, Hans-Joachim Hacker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({7}), Hans-Christian Ströbele, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Obligatorische Haftpflichtversicherung für Hunde - Drucksache 14/3825, 14/4916 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Brinkmann ({8}) Dr. Jürgen Gehb Jörg van Essen Sabine Jünger Interfraktionell ist vereinbart worden, auch hier die Re- debeiträge zu Protokoll zu geben. Es sind dies: Ernst Bahr, Günter Baumann, Ulrike Höfken, Hildebrecht Braun, Eva Bulling-Schröter und Fritz Rudolf Körper3). Wir kommen also gleich zur Abstimmung. Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- gebrachten Gesetzentwurf zur Bekämpfung gefährlicher Hunde, Drucksachen 14/4451 und 14/4920. Ich bitte die- jenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen der F.D.P. und bei einigen Enthaltungen der PDS ist der Ge- setzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge- genprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der F.D.P. und bei Enthaltung der PDS an- genommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussem- pfehlung des Innenausschusses zum Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Bevölkerung wirksam vor Kampfhunden schützen“, Drucksache 14/4919. Der Aus- schuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3785 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfeh- lung ist gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen. Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zu einer obligatorischen Haft- pflichtversicherung für Hunde, Drucksache 14/4916. Der Ausschuss empfiehlt die Annahme des Antrages auf Drucksache 14/3825 in der Ausschussfassung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da- Vizepräsidentin Anke Fuchs 1) Redebeitrag lag bei Redaktionsschluss nicht vor. 2) Anlage 21 3) Anlage 22 gegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a und b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({9}) zu dem Entschließungsantrag der Abge- ordneten Dr. Dietmar Bartsch, Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS zu der vereinbarten Debatte zur aktuellen Situation in Nahost - Drucksachen 14/4398, 14/4847 - Berichterstattung: Abgeordnete Christoph Moosbauer Dr. Helmut Lippelt Wolfgang Gehrcke b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Günther Friedrich Nolting, Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten ({11}) - Drucksachen 14/4392, 14/4848 Berichterstattung: Abgeordnete Christoph Moosbauer Dr. Helmut Lippelt Wolfgang Gehrcke Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich bitte Sie um Aufmerksamkeit, weil wir die Rednerfolge ein bisschen geändert haben, da auch die F.D.P. Antragstellerin ist. Das Präsidium schlägt Ihnen daher vor, dass zuerst der Kollege Gehrcke redet, dann der Kollege Irmer, der Kollege Moosbauer, der Kollege Hörster und schließlich für die Bundesregierung Dr. Volmer. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die PDS-Fraktion.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Friedensprozess im Nahen Osten liegt in Trümmern. Das Leid der Opfer ist furchtbar. Die soziale Not nimmt vor allem unter den Palästinensern dramatisch zu. Ich frage mich, ob sich der Nahe Osten bereits in einem neuen Krieg befindet. Wenigstens ist jener schmale Grat erreicht, jene zerbrechliche Grenze, die zwischen Nichtkrieg und Krieg liegt, wenn sie nicht schon überschritten ist. Wer Frieden will, muss für Frieden Einfluss nehmen. Das fordere ich vom Deutschen Bundestag, von der Bundesregierung und von der Europäischen Union. Sich für den Frieden im Nahen Osten einzusetzen, dazu ermuntere ich die Zivilgesellschaft, die Öffentlichkeit, alle Initiativen und Gruppen und auch die Kirchen. ({0}) Israel hat das Recht auf sichere Grenzen und gute Nachbarschaft zu den arabischen Staaten. Damit das Wirklichkeit wird, muss es Frieden und Sicherheit in der ganzen Region geben. Auch für den Nahen Osten gilt: gleiche Sicherheit. Ohne gleiche Sicherheit hat keine Seite Sicherheit. Anders gesagt: Es wird keinen Frieden für Israel geben, wenn die Palästinenser nicht in Frieden leben können. Das Recht der Palästinenser auf ihren eigenen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt ist derzeit der wichtigste Baustein für den Frieden Israels. In dieser Frage muss sich vor allem Israel bewegen. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisungen. Israel muss sich bewegen, weil es alles besitzt: Boden, Wasser, wirtschaftliche und militärische Stärke. Israel besitzt auch, was den Palästinensern und der ganzen arabischen Welt heilig ist: den Tempelberg und Ostjerusalem. Diese Beschreibung wird von vielen im Deutschen Bundestag - so ist mein Eindruck aus den Debatten geteilt. Strittig ist jedoch, ob wir offen darüber reden und auch gegenüber Israel eine solche Position einnehmen sollen. Das wichtigste Gegenargument ist das besondere deutsch-israelische Verhältnis, wonach Deutschland keine Forderungen an den Staat Israel stellen darf oder stellen soll. Die deutsche Schuld an der Schoah bleibt. Deutschland wird mit Rassenwahn und millionenfachem Mord an Juden verbunden bleiben. Was bedeutet das aber für unser politisches Verhalten? Aus meiner Sicht leisten wir Israel einen schlechten Dienst, wenn wir der Regierung und den Menschen in dieser gefährlichen Situation das verweigern, was wir ihnen gerade geben müssen: Solidarität durch Wahrhaftigkeit. Aus deutscher Schuld darf keine Sprachlosigkeit entstehen. Bescheidenheit ja, aber keine Sprachlosigkeit! Wir müssen vielmehr Mitverantwortung übernehmen. Das besondere deutsch-israelische Verhältnis verlangt von uns politische Initiativen, die dem Ernst der Lage gerecht werden. Unsere geschichtliche Schuld und unsere Mitverantwortung für die Sicherheit Israels können wir nicht auf dem Rücken der Palästinenser abladen, indem wir zu ihren Rechten, zu ihren Nöten und zu ihren Ansprüchen schweigen. ({1}) Auch aus eigenem Interesse ist Israel aufgefordert, zu den Osloer Vereinbarungen zurückzukehren. Das heißt, Israel muss den gefährlichen und provokativen Siedlungsbau im Herzen des arabischen Lebens stoppen. Israel muss die Bereitschaft entwickeln, über die dramatische Flüchtlingsfrage zu sprechen. Die deutsche Politik muss die Courage aufbringen, in diese Richtung Druck auf Israel auszuüben. Auch das sind wir unserem besonderen Verhältnis zum Staat Israel schuldig. Vor der Konsequenz des Druckausübens mag man zurückschrecken. Aber Politik ist auch immer Druck und Druck in Richtung Frieden ist vernünftig. Gerade die Vizepräsidentin Anke Fuchs israelische Friedensbewegung, etwa der Friedenspreisträger Uri Avnery, hat uns gebeten, zu diesem Druck auf Israel beizutragen. Nicht der Konflikt, sondern seine Lösung verlangt nach Internationalisierung. Eine internationale Untersuchungskommission ist ein erster wichtiger Schritt. Hilfreich könnten darüber hinaus UN-Beobachter sein, die in den von Israel besetzten Gebieten tätig werden. Die USA dürfen nicht weiter UN-Initiativen zum Nahen Osten blockieren. Neben den USA und Russland sollte die Europäische Union zu einem Faktor werden, der sich im Nahen Osten aktiv um Vermittlung bemüht. Viele europäische Staaten sind bereit, deutlicher Position zu beziehen, die Bundesregierung aber blockiert eine noch aktivere Nahostpolitik der Europäischen Union. Was ich hier vorgetragen habe, wird sowohl in der israelischen Friedensbewegung als auch in der palästinensischen Freiheitsbewegung akzeptiert. Es ist sowohl im Interesse Israels als auch Palästinas, aber auch im Interesse der deutschen Politik, alles zu tun, damit sich kein neuer Nahostkrieg ausbreitet. Vor Weihnachten hat jeder meiner Vorredner seine Weihnachtsbotschaft verkündet. Gestatten Sie auch einem praktizierenden Atheisten, an die Weihnachtsverkündigung zu erinnern: Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. ({2}) Weder herrscht Friede noch können die Menschen Wohlgefallen an dem Zustand der Erde finden. Lassen Sie uns ein Stück weit dazu beitragen, dass etwas mehr Friede herrscht und sich etwas mehr Wohlgefallen ausbreiten kann. ({3}) Herzlichen Dank. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort der Kollege Ulrich Irmer, F.D.P.-Fraktion.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sie waren gerade so freundlich, den Text der Rede einer Kollegin zu Protokoll zu nehmen, die erkrankt ist. Ich muss leider bekennen, dass auch ich von einer Grippe gebeutelt werde. Man sollte mich heute vorsichtshalber nicht einmal mit der Zange anfassen; sonst bin ich ja recht appetitlich, aber heute empfehle ich das niemandem. ({0}) Sollte meine Stimme versagen, mache ich das wie ein echter Liberaler, der immer seine Zweitstimme fertig in der Tasche hat und diese dann zum Einsatz bringt. Meine Damen und Herren! Die Situation im Nahen Osten ist vom Kollegen Gehrcke eindrucksvoll und richtig geschildert worden. Es ist beklagenswert, dass es dort den Scharfmachern auf beiden Seiten immer wieder gelingt, den Friedensprozess ins Stocken zu bringen und der Gefahr des Scheiterns auszusetzen. Wir von der F.D.P.Fraktion haben vorgeschlagen, die deutsche Bundesregierung solle die Initiative zu einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten ergreifen. Beispiel dafür ist die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die ja bekanntlich vor einem Vierteljahrhundert dazu geführt hat, dass die Teilung Europas überwunden werden konnte, die Blöcke aufgelöst wurden, sich nicht mehr feindlich gegenüber standen und konstruktive Friedenslösungen gefunden werden konnten. Als wir dies vorgeschlagen haben, ist uns der Bundesaußenminister mit zwei Einwänden entgegengetreten: Er hat zum einen gesagt, wir hätten bereits den Prozess von Barcelona. Allerdings ist der Prozess von Barcelona weit davon entfernt - dies hat sich Mitte November bei der gescheiterten Außenministerkonferenz gezeigt -, irgendetwas ausrichten zu können. Er ist nicht einmal in der Lage, sein eigentliches Ziel zu erreichen, ({1}) nämlich die Stabilisierung der wirtschaftlichen und sozialen Strukturen, geschweige denn auf eine Friedenslösung für die ganze Region zwischen Israel und Palästina hinzuwirken. Zum Zweiten hat uns der Bundesaußenminister entgegengehalten, die Situation im Nahen Osten sei mit der in Europa nicht zu vergleichen und deshalb solle eine solche Konferenz nicht stattfinden. Es ist schon dramatisch zu beobachten, wie Joseph Fischer vom strahlenden Friedensapostel zum drögen Aktenschieber abgestürzt ist. ({2}) Er hat nichts als bürokratische Einwände und lässt jede Vision vermissen. Leider haben mir auch die Kollegen von der CDU/CSU im Auswärtigen Ausschuss entgegengehalten, unsere Vorschläge seien eher ein Traum und zu visionär. Aber: wenn wir in der Politik keinen Träumen mehr nachhängen und keine Visionen mehr entwickeln dürften - gerade und auch in der Außenpolitik -, können wir die Politik gleich bleiben lassen! ({3}) Alle großen Entwicklungen sind durch Vorstellungen eingeleitet worden, die zu dem Zeitpunkt, an dem sie entwickelt wurden, eher unrealistisch wirkten. Ich fordere die Bundesregierung auf, auf dem europäischen Gipfel in Nizza die Gelegenheit zu nutzen, den Europäern vorzuschlagen, diese Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten einzuberufen. Es ist mit Recht gesagt worden, dass die Deutschen gegenüber Israel eine ganz besondere Verantwortung tragen. Einer solchen Verantwortung müssen wir uns stellen und der können wir uns am besten dadurch stellen, dass wir aktiv zu einer Friedenslösung beitragen. ({4}) Ich habe in der Vorweihnachtszeit - Weihnachten ist ja das Fest der Kinder - einen kleinen Traum: Die Kinder in Israel und Palästina sollen nächstes Jahr den Frieden erleben. ({5}) Ich möchte, dass Sarah und Schimon genauso wie Amal und Achmed den Frieden so erleben und genießen können, wie das glücklicherweise Christoph, Maria, René, Anna und Thomas - und wie sie sonst noch alle heißen mögen - in Europa können. In diesem Sinne: Fröhliche Weihnachten! ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Der Kollege Christoph Moosbauer ist unerwartet verhindert und gibt seine Rede zu Protokoll.1) Jetzt hat das Wort der Kollege Joachim Hörster für die CDU/CSU-Fraktion.

Joachim Hörster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000932, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man sich den PDS-Antrag und seine Begründung anschaut, dann muss man feststellen, dass uns dies als Vermittlungspartner im Nahostkonflikt absolut untauglich machen würde; denn dieser Antrag ist so einseitig, dass es sich Israel von vornherein verbeten würde, uns als Vermittler zu akzeptieren. ({0}) Darüber hinaus möchte ich festhalten, dass die Verhältnisse ein bisschen komplizierter sind, als sie in dem Antrag dargestellt werden. Das Kernproblem für uns Deutsche ist, eine Leitlinie zu finden, mit deren Hilfe wir im Nahostkonflikt überhaupt vermittelnd tätig werden können. Es gibt im Grunde genommen nur eine Leitlinie: Erstens. Wir wollen Frieden. Zweitens. Wir wollen, dass die Menschenrechte eingehalten werden. Die Einhaltung der Menschenrechte gilt für beide Seiten. ({1}) Hinzu kommt, dass Israel der einzige Staat ist, der den Maßstäben, die wir an eine Zivilgesellschaft stellen, am nächsten kommt. ({2}) Auch dieser Gesichtspunkt ist in der Debatte zu berücksichtigen. Ich finde, dass die Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Europäischen Union bisher eine sehr kluge und gute Rolle im Nahostkonflikt gespielt hat. Das sage ich ausdrücklich als Oppositionspolitiker, zumal es im Vergleich zur Nahostpolitik früherer Bundesregierungen, wenn man genau hinschaut, keinen Bruch gibt. ({3}) Die Deutschen sind nur innerhalb des europäischen Kontextes fähig, mäßigend auf die Verhältnisse im Nahen Osten einzuwirken. Es finden dort Ausbrüche statt, die mit unserem Verständnis von politischer Auseinandersetzung nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Die Mahnung, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu befolgen, findet weder auf der einen noch auf der anderen Seite Gehör. Dass immer gleich geschossen werden muss, wenn sich die Gemüter erhitzen, gehört in unserer Region - Gott sei Dank - der Vergangenheit an. Aber die dort beteiligten Parteien machen regelmäßig und rücksichtslos von der Waffe Gebrauch, und zwar beide Seiten. Ich sage auch als Vorsitzender der Deutsch-Arabischen Parlamentariergruppe Folgendes ganz bewusst: Auch auf der Seite der Steine werfenden palästinensischen Kinder gibt es ausgesprochene Experten. Von solchen Geschossen möchte ich nicht getroffen werden. ({4}) Ich muss auch zugeben, dass die Art und Weise, wie die Israelis gegen die Palästinenser vorgehen, durch nichts gerechtfertigt ist und dass dadurch Menschenrechte in erheblichem Maße verletzt werden. Wer einmal neben dem Zelt einer palästinensischen Familie gestanden hat, deren Haus von den israelischen Militärs einfach abgerissen worden ist, nur weil ein Mitglied dieser palästinensischen Familie als ein der Hamas-Bewegung Angehörender verdächtigt wird, der weiß, mit welcher Brutalität man dort miteinander umgeht. Lieber Herr Irmer, bei aller Sympathie für den Antrag der Freien Demokraten: Es gibt gegenwärtig überhaupt keinen realistischen Anknüpfungspunkt dafür, dass es zu einer solchen Konferenz kommen könnte. Dagegen spricht die archaische Art und Weise, wie die beiden Konfliktparteien aufeinander losgehen. Wir erleben heute, dass der Konflikt ein Teil der israelischen Innenpolitik hinsichtlich der Regierungsbildung, möglicher Neuwahlen und was auch immer geworden ist. Dieser Zustand lässt kaum Spielraum, einen Ausgleich zwischen den Parteien herzustellen. Es handelt sich dabei im Übrigen nicht um eine Frage des Geldes. Ich möchte daran erinnern, dass allein die Europäische Union zwischen 1993 und 1998 mit 1,8 Milliarden Euro der größte Geldgeber Palästinas gewesen ist. Wenn wir hinsichtlich der israelischen Seite feststellen, dass sich die Parteien des Landes nicht in der Lage sehen, auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten und sich auf eine gemeinsame Linie im Hinblick auf mögliche Ergebnisse des Friedensprozesses zu verständigen, dann müssen wir genauso sehen, dass ein großer Teil der 1,8 Milliarden Euro, an denen die Bundesrepublik nicht unmaßgeblich beteiligt ist, nicht unbedingt dort ankommt, wo er hinkommen soll. ({5}) 1) Anlage 23 Um das zu belegen, brauche ich gar keine europäische Quelle, sondern nur den Rechnungshof der Palästinensischen Autonomiebehörde zu zitieren, der der eigenen Regierung einen schlampigen Umgang mit Geld vorwirft. Der Rechnungshof beklagt Korruption, Unterschlagung und vieles andere mehr. Schon Israel und die Palästinensische Autonomiebehörde, die unmittelbar nebeneinander leben, haben so viele innenpolitische Probleme, dass sie noch nicht einmal in der Lage sind, zu definieren, worüber sie miteinander letztendlich verhandeln wollen, und zwar so, dass sich der Verhandlungspartner auf die Verhandlungslinie des anderen verlassen kann. Schaut man sich das arabische Umfeld an, stellt man fest, dass die Interessen Syriens und Iraks nicht die gleichen sind. Auch die Interessen der Golfstaaten und der bevölkerungsreichen Länder der Region, zum Beispiel Jemen oder Ägypten, sind nicht identisch. Das heißt, die arabische Welt müsste ebenfalls einmal zu einer Definition gemeinsamer Interessen kommen, damit eine solche Konferenz überhaupt einen Gegenstand hat, über den sie verhandeln kann. ({6}) - Herr Kollege Irmer, ich respektiere, dass Sie gesundheitlich nicht voll auf der Höhe sind. Ich verbuche diese Bemerkung unter „lässliche Sünde“ und erteile sofort Absolution. Wenn wir die Sache realistisch betrachten, dann erkennen wir, dass in der arabischen Welt überhaupt keine Chance besteht, eine Grundlage zu finden, auf der man eine solche Konferenz einberufen und solche Verhandlungen führen könnte. In der gegenwärtigen Situation bleibt uns in der Europäischen Union daher nichts anderes übrig, als mit den vorhandenen diplomatischen Möglichkeiten durch Unterstützung der Vereinigten Staaten und durch bilaterale, möglichst nicht auf offenem Markt ausgetragene Gespräche auf die Parteien einzuwirken, zunächst einmal den Ausbruch von Gewalt zurückzudrängen und wieder zu einigermaßen normalen Verhältnissen zu kommen. Wenn das geschehen ist, kann man hoffen, dass die Beteiligten an den Verhandlungstisch zurückkehren, weil es in der Tat keine Alternative dazu gibt. In diesem Zusammenhang richte ich den Appell an den Staat Israel, der etwas Großzügigere zu sein; denn er ist in der Region der Stärkste. Israel hat die Europäische Union und die Vereinigten Staaten von Amerika im Rücken. Niemand bestreitet das Existenzrecht dieses Staates und niemand will es gefährden. Israel ist die größte Militärmacht in der Region und hat den besten Überblick. Deswegen müsste man von Israel eher ein vernünftiges Entgegenkommen erwarten können, als dies von der zersplitterten arabischen Landschaft zu erwarten ist. Darauf setzen wir unsere Hoffnung. Wir hoffen, dass die Bundesregierung in diesem Sinne ihre Kontakte zu den Parteien nutzt und das fortsetzt, was beim Nahostbesuch des Bundeskanzlers praktiziert worden ist, nämlich befriedend auf die Menschen einzuwirken. In diesem Sinne sehen wir uns nicht in der Lage, die Anträge von PDS und F.D.P. zu unterstützen. Wir lehnen sie beide ab. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Ludger Volmer.

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Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Bundestag hat im Oktober über die Lage im Nahen Osten debattiert, damals im Hinblick auf die Reise des Bundeskanzlers in die Region. Die Reise ist von allen Gesprächspartnern in der Region in schwierigen Zeiten als ein Zeichen besonderer Solidarität verstanden und begrüßt worden. Insoweit war die Reise erfolgreich. Dennoch sind die Kernforderungen des Kanzlers, nämlich ein Ende der Gewalt und die Rückkehr an den Verhandlungstisch, bis heute nicht umgesetzt worden. Die Situation ist nach wie vor besorgniserregend. Tage mit relativer Ruhe wechseln sich ab mit verschärften Auseinandersetzungen. Zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung sowie die Zerstörung eines großen Teils der Infrastruktur in besetzten Gebieten lassen Beobachtern das Ausbleiben einer Friedenslösung unerträglich erscheinen, auch wenn sich die Sicherheitslage in jüngster Zeit und in den letzten Tagen leicht verbessert hat und es kleine ermutigende Zeichen gibt. Es gibt zwischen Israel und Palästina erstmals wieder Gesprächskanäle und Kontakte, beide Seiten signalisieren grundsätzlich Verhandlungsbereitschaft. Wir hoffen, dass sie in Dialog und Verhandlungen münden werden. ({0}) Israel hat in den letzten Tagen mit einer Reihe von Maßnahmen zu einer Entspannung der Situation beigetragen und auch die palästinensische Seite hat angesichts der großen Leiden der Bevölkerung große Geduld bewiesen. Insgesamt wird die gegenwärtige Lage geprägt von der innenpolitischen Unsicherheit in Israel, der zu Ende gehenden Clinton-Administration sowie internationalen Friedensbemühungen. Wir unterstützen die engagierten Bemühungen des US-Präsidenten, zu einer Friedenslösung beizutragen. ({1}) Elemente für eine Lösung liegen auf dem Tisch. Es ist über alles gesprochen worden. Offen ist jedoch, wie weit die Positionen voneinander entfernt sind. Das größte Problem ist zurzeit das mangelnde Vertrauen; denn ohne den Willen beider Seiten des Konfliktes können weder amerikanische noch russische noch europäische Vermittler einen wesentlichen Fortschritt erreichen. Meine Damen und Herren, zeitgleich zu unserer Debatte tagt in Nizza der Rat der Staats- und RegierungsJoachim Hörster chefs der EU. Neben den allgemeinen Schlussfolgerungen werden die Staats- und Regierungschefs eine gesonderte Erklärung zum Nahen Osten verabschieden, in der die Parteien angesichts des Leidens der Bevölkerungen, der Gewalt und des Hasses genau dazu, zur Rückkehr zu Friedensverhandlungen, aufgefordert werden. Die Staats- und Regierungschefs bieten darin die Unterstützung der EU für den Verhandlungsprozess an. Sie appellieren an die beiden politischen Führer, Premierminister Barak und Präsident Arafat, sich persönlich stärker zu engagieren, die Abkommen von Scharm el-Scheich und Gaza umzusetzen und konkrete Schritte einzuleiten. ({2}) Schon in der so genannten Berliner Erklärung vom 25. März 1999 haben die Staats- und Regierungschefs, damals unter der deutschen EU-Präsidentschaft, in klarer Sprache an die Konfliktparteien formuliert, - ich zitiere -: Die Europäische Union ruft beide Parteien nachdrücklich dazu auf, alle Handlungen zu unterlassen, die dem Ergebnis der Verhandlungen über deren endgültigen Status vorgreifen, und jede Handlung zu unterlassen, die gegen das Völkerrecht verstößt, einschließlich jeder Siedlungstätigkeit, sowie gegen Aufwiegelung und Gewalt vorzugehen. Als Schlüsselproblem taucht immer wieder die Siedlungspolitik auf. Diesen Faktor haben die EU-Außenminister auch in der Erklärung des Allgemeinen Rates vom 20. November 2000 als Ursache unter anderem für - ich zitiere - „die Frustration ... der palästinensischen Bevölkerung“ unterstrichen. Die Bundesregierung ist besorgt, dass mehrere VN-Sicherheitsratsresolutionen, die sich mit dieser Frage beschäftigt haben, bis heute nicht umgesetzt sind. Unser Appell, meine Damen und Herren, ist deshalb ein doppelter: Die Bundesregierung fordert die israelische Regierung auf: Stoppen Sie den Siedlungsbau! Überdenken Sie die Siedlungspolitik insgesamt! ({3}) Dies ist in Israels unmittelbarem eigenen Interesse. Ohne einen Frieden Israels mit der palästinensischen Seite gibt es keine friedvolle Zukunft für die junge Generation in Israel und der Region. Einseitige Maßnahmen schaffen vollendete Tatsachen, die die Friedensverhandlungen wesentlich erschweren. Die Bundesregierung fordert aber genauso nachdrücklich die palästinensische Führung auf: Geben Sie nicht nur den Sicherheitskräften strikte Anweisung, für die Einstellung der Schüsse auf Israel zu sorgen - wie dies Präsident Arafat angekündigt hat -, sondern sorgen Sie mit allen Ihren Mitteln dafür, dass von Einzelnen keine Gewalt gegen israelische Bürger ausgeht und ausgeübt wird! ({4}) Nur eine Sicherheitsgarantie für den Staat Israel und seine Menschen wird auch dem palästinensischen Volk ein Leben in Frieden in einem eigenen Staat sichern. Nur so besteht eine Chance, im Interesse der nächsten Generationen den Teufelskreis von Hass und Gewalt zu durchbrechen. Unser Ziel muss ein gerechter, umfassender und dauerhafter Frieden in der gesamten Region sein. Dazu gehört auch ein Frieden mit Syrien und Libanon. Wir appellieren deshalb auch an die Regierungen dieser Länder, alles zu tun, damit der Rückzug Israels aus dem Südlibanon und die Erfüllung der Sicherheitsratsresolution 425 als Chance zu weiterer Deeskalation genutzt wird. Deeskalation und Gewaltverzicht sind das Gebot der Stunde. Dafür plädieren wir. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der PDS zu der vereinbarten Debatte zur aktuellen Situation in Nahost, Drucksache 14/4847. Der Ausschuss empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/4398 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich stelle jetzt die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten ({0})“, Drucksa- che 14/4848, zur Abstimmung. Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4392, den Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von PDS und F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a und 25 b auf: 25 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts - GvKostRNeuOG - Drucksache 14/3432 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 14/4913 Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Wolfgang Freiherr v. Stetten Volker Beck ({3}) Dr. Evelyn Kenzler b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umstellung des Kostenrechts und der Steuerberatungsgebührenverordnung auf Euro KostREuroUG - Drucksache 14/4222 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5}) - ({6}) Berichterstattung: Abgeordnete Alfred Hartenbach Wolfgang Freiherr v. Stetten Volker Beck ({7}) Dr. Evelyn Kenzler Es ist vereinbart worden, die Reden zu Protokoll zu ge- ben; das betrifft die Kollegen Alfred Hartenbach, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Helmut Wilhelm, Rainer Funke, Dr. Evelyn Kenzler und Prof. Dr. Eckhart Pick.1) Wir kommen damit zu den Abstimmungen. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung des Gerichtsvollzieherkostenrechts, Drucksachen 14/3432 und 14/4913. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Gegen die Fraktionen von F.D.P. und PDS ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Umstellung des Kostenrechts und der Steuerberatergebührenverordnung auf Euro, Drucksachen 14/4222 und 14/4908. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer Funke, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg von Essen, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der F.D.P. Ende der doppelten Benachteiligung für die Rechtsanwälte in den neuen Ländern - Drucksache 14/3485 Überweisungsvorschlag: Rechtsaussschuss ({8}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre kei- nen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben die Kollegen Alfred Hartenbach, Staatsse- kretär Dr. Eckhart Pick und Dr. Evelyn Kenzler, sodass noch drei Redner übrig bleiben.2) Als Erstem übergebe ich dem Kollegen Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion das Wort.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung fehlt mir ein wenig der Glaube daran, dass die Bundesregierung bereit ist, die Wiedervereinigung auch im beruflichen Alltag der Justiz durchzusetzen. ({0}) Wie kann es denn sonst sein, dass der Rechtsanwalt oder Notar, der im Ostteil Berlins oder in den neuen Bundesländern ein Mandat annimmt, noch einen Abschlag der Gebühren in Höhe von 10 Prozent hinnehmen muss, obwohl er doch regelmäßig weit niedrigere Gegenstandswerte als seine Kollegen im Westen hat? ({1}) Seit Mai 1999 gelten bei der Deutschen Bahn in Ost und West die gleichen Preise. Die Kosten für Telefon, Porto und Kfz sind in Ost und West ebenfalls gleich hoch. Die Kosten für Versicherung, Bewirtschaftung und Büromiete liegen zum Teil über dem Westniveau. ({2}) Ist da eigentlich die Rechtspflege eine Ausnahme? 1996 hat das Justizministerium den Abschlag von 20 Prozent auf 10 Prozent gesenkt. Es ist jetzt an der Zeit, ihn gänzlich verschwinden zu lassen. ({3}) Dabei liegt es letztlich allein in der Hand der Justizministerin, ob sie dieser Bestrafung für die Anwälte der neuen Bundesländer und teilweise auch Berlins ein Ende setzen will. ({4}) Herr Staatssekretär, geben Sie sich einen Ruck und beenden Sie diese doppelte Benachteiligung für Rechtsanwälte, Notare und letztlich die gesamte Justiz. Die Kollegen im Osten arbeiten nämlich genauso gut wie ihre Kollegen in den alten Bundesländern. ({5}) Bei den Architekten und Ingenieuren hat man bereits 1993 die notwendigen Konsequenzen gezogen und ihnen die gleichen Gebühren nach der HOAI zugebilligt. Warum Vizepräsidentin Anke Fuchs 1) Anlage 24 2) Anlage 25 soll das nicht auch für die Rechtsanwälte und Notare gelten? ({6}) Lassen Sie mich abschließend auf einen Sonderfall zu sprechen kommen, nämlich auf den Sonderfall Berlin. Wie der Regierende Bürgermeister Berlins - bei dem ich immer noch die Hoffnung habe, dass er wieder ein eigenständiges Justizressort einführt ({7}) bereits auf dem Anwaltstag 2000 ausgeführt hat, ist der Abschlag in Berlin nicht nur unsinnig, sondern offensichtlich auch widersprüchlich. ({8}) Im Ostteil der Stadt ist die Arbeitslosigkeit geringer als im Westen. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen ist in manchen Stadtteilen im Osten höher als in denen des Westens. Wie kann man da noch guten Gewissens an dem Abschlag festhalten? Auch die Justizministerkonferenz hat daher vollkommen zu Recht auf ihrer jüngsten Tagung Berlin darin unterstützt, den Abschlag abzuschaffen, und zwar mit einem Abstimmungsergebnis von 16 : 0; es bedeutet schon etwas, wenn sich die Länder so einheitlich verhalten. Die Behauptung, dass man den Abschlag nur im Einklang mit den neuen Bundesländern abschaffen könne, ist falsch. So bedarf es doch weder einer Zustimmung des Bundesrates noch eines sonstigen Votums der neuen Länder, geschweige denn eines Gesetzes. Thüringen zum Beispiel aber hält, wie mir vom Bundesjustizministerium mitgeteilt wurde, eine rasche Aufhebung des Gebührenabschlags für unumgänglich. Schließlich besteht dieses Votum für Berlin nunmehr aufgrund der Beschlüsse des Bundesrates einstimmig. Es liegt also allein an der Bundesjustizministerin, mit der heutigen Debatte, die die letzte des Bundestages vor dem Weihnachtsfest ist, die Bereitschaft zu zeigen, die Anwälte und Notare in Ost und West gleich zu behandeln. ({9}) - Nein, ich habe nur darauf hingewiesen, dass wir die Letzten aus dem Rechtsausschuss sind, die in dieser Debatte noch reden, und dass es jetzt bei der Justizministerin liegt, die Arbeit der Notare in Ost und West gleich zu behandeln. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Debatte dieses Jahrtausends - denn nach richtiger Rechnung geht das zweite Jahrtausend erst in diesem Monat zu Ende - geht es wieder einmal um Geld und letztendlich um die Beseitigung der Folgen der deutschen Vereinigung. ({0}) - Gut, der Teilung und dann der Vereinigung. Ich verheimliche nicht meine klammheimliche Freude darüber, dass ein solcher Antrag gestellt wird. Denn dies gibt mir Gelegenheit, meine grundsätzliche Sympathie dafür zum Ausdruck zu bringen. Ich selber bin ja Rechtsanwalt. Sie wollen die Gebühren für Rechtsanwälte in der Bundesrepublik Deutschland, vor allen Dingen in Berlin, erhöhen. Dagegen kann ein Rechtsanwalt eigentlich nichts haben. Auch die Gründe, die Sie genannt haben und die auf der Hand liegen, sind richtig: ({1}) Die Kosten sind ganz erheblich gestiegen. Die durchschnittlichen Einnahmen von Rechtsanwälten in der Bundesrepublik, vor allen Dingen in Ostdeutschland, sind gefallen. Sie haben ja die Zahlen von 1996 und 1997 miteinander verglichen. 1998 war die Tendenz ähnlich. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass sehr viel mehr Anwälte tätig sind, wie das auch bei den Ärzten der Fall ist. Die Anwälte bekommen zudem ihr Honorar nach sehr viel geringeren Streitwerten. Denn die Streitwerte in Ostdeutschland sind geringer, weil die Löhne und Mieten meist niedriger sind als in Westdeutschland. Also bekommen wiederum die Anwälte weniger. Das alles ist sehr zu Herzen gehend und sehr ernst zu nehmen. Wenn ich mit den Kolleginnen und Kollegen spreche, dann sagen sie natürlich: Jetzt tu doch endlich einmal etwas im Deutschen Bundestag, damit die gesetzlichen Gebühren den Lebensverhältnissen angepasst werden. Alles d’accord! Ich habe dafür große Sympathie. Nur, der Partei der angeblichen Gerechtigkeit sage ich: Sie müssen berücksichtigen - das kommt in Ihrem Antrag nicht vor -, dass Sie das Geld anderer Leute ausgeben wollen. ({2}) Sie wollen letztlich das Geld der Mandanten ausgeben. Denn die müssen das nachher bezahlen. Solange die Menschen in den östlichen Bundesländern weniger verdienen und solange der Lohn vieler - auch der im öffentlichen Dienst tätigen Menschen - mit einem Abschlag versehen ist, so lange ist überhaupt nicht zu vermitteln, dass ausgerechnet bei den Rechtsanwälten eine Ausnahme gemacht wird. ({3}) Nur deshalb - alle übrigen Gründe der Kolleginnen und Kollegen sind richtig - ist es ungerecht, wenn wir die Gebühren erhöhen. Solange wir es nicht schaffen, das Niveau der Einkommen, vor allen Dingen das im öffentlichen Dienst, anzugleichen - es ist natürlich zu fragen, warum wir das nicht schaffen; Sie haben dazu gestern Anträge eingebracht; wir haben versucht, da etwas zu ändern -, so lange gäbe es eine Gerechtigkeitslücke und so lange können wir die Anwälte nicht bevorzugen. Das sage ich, obwohl ich selber davon betroffen bin. Dazu noch eine Ausnahme: das Land Berlin. Den Beschluss der Justizministerkonferenz, den Sie hier genannt haben, haben Sie zutreffend wiedergegeben. Er ist einstimmig gefasst worden. Nur, in Berlin - Sie haben vergessen, das zu erwähnen - ist die Angleichung der Löhne, vor allen Dingen die der Einkommen im öffentlichen Dienst, weitgehend umgesetzt. Deshalb besteht in Berlin eine Sondersituation. Wenn die Justizminister nun gesagt haben, in Berlin sei es gerechtfertigt, dass die Gebühren verändert werden und in Ost und West gesetzlich gleich sein sollten, dann hat das diesen Grund und spricht eher dagegen, das im Rest der östlichen Bundesländer genauso zu machen. Denn genau diese Voraussetzung ist dort nicht gegeben.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Kollege. Das ist die letzte Zwischenfrage in diesem Jahrtausend.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das weiß man noch nicht, da vermutlich noch ein Vertreter des Ministeriums sprechen wird. Vermutlich kommen noch viele Zwischenfragen.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nein, diese Rede wurde zu Protokoll gegeben.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, da Sie die unterschiedlichen Einkommen in Ost und West beklagen - in diesem Punkt stimme ich Ihnen zu -, möchte ich Sie fragen, warum Sie persönlich gegen den Antrag der F.D.P. gestimmt haben, zum Beispiel die Bundeswehrangehörigen in Ost und West gleich zu besolden. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Antwort ist ganz einfach. Natürlich würde ich einem solchen Antrag - so wie jeder andere Abgeordnete - gerne zustimmen, erst recht jetzt vor Weihnachten, aber auch schon vor einem halben Jahr. Die Frage ist aber: Woher nehmen wir das Geld dafür? Solange wir einen strapazierten Bundeshaushalt haben, weil alte Schulden beglichen werden müssen, kann meinem Herzenswunsch und dem aller ({0}) Kolleginnen und Kollegen nicht nachgekommen werden, die Gehälter der Beamten anzugleichen. ({1}) Ihr Antrag ist im Prinzip richtig. Aber er wurde zur Unzeit gestellt, weil die Finanzierung im Augenblick nicht sichergestellt ist. ({2}) - Sie haben jetzt das Geld nötig. Aber man muss sich fragen, woher das Geld kommen soll. Darüber können wir uns - wir haben das bereits gestern getan - weiterhin unterhalten. Ich plädiere dafür, gegen Ihren Antrag zu stimmen, weil ich der Meinung bin, dass Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen nicht wollen können, dass eine solche Gerechtigkeitslücke geschaffen wird. Nun verabschiede auch ich mich und wünsche Ihnen allen - wiederum entgegen meinen Berufsinteressen - ein möglichst streitarmes Weihnachten, ein möglichst rechtsstreitarmes Weihnachten, ein möglichst streitarmes nächstes Jahr, ein möglichst rechtsstreitarmes nächstes Jahr, nämlich ein friedliches Weihnachten und ein friedliches neues Jahr. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Andrea Voßhoff von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag der F.D.P. behandeln wir wieder einmal das Thema „Aufhebung der zehnprozentigen Gebührenermäßigung für Anwaltsgebühren, aber auch anderer Kostengesetze in den neuen Ländern“. Worum geht es konkret? Gemäß Anlage I des Einigungsvertrages ist bei den Gebühren nach der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung, aber auch nach anderen Kostengesetzen für das Gebiet der neuen Länder ein Abschlag vorzunehmen. Dieser belief sich zunächst auf 20 Prozent. Der Kollege Funke hat bereits darauf hingewiesen, dass dieser im Jahre 1996 auf 10 Prozent reduziert wurde. Das Ergebnis ist: Für anwaltliche und notarielle, aber auch für andere justizielle Leistungen wird im Gebiet der neuen Länder gegenwärtig eine Gebühr von 90 Prozent der Gebühr nach der westdeutschen Regelung erhoben. Diese Gebühr will die F.D.P. nun auf 100 Prozent angleichen. Bereits im vergangenen Jahr - übrigens auch im Dezember - stand die Frage schon einmal auf der Tagesordnung dieses Hohen Hauses, im Zusammenhang mit der Novellierung des § 78 ZPO. ({0}) Soweit ich den Protokollen entnehmen konnte, waren sich bereits im vergangenen Jahr fast alle Redner - nicht alle, Herr Ströbele hat dies gerade erwähnt - zu diesem Thema einig, dass eine Angleichung der Gebühren in Ostdeutschland an das in Westdeutschland geltende Niveau wünschens- und erstrebenswert ist. Ich darf aus der damaligen Debatte den Staatssekretär Pick zitieren, der für das Anliegen großes Verständnis signalisierte und für die Bundesregierung erklärte, alle Bestrebungen zu unterstützen, die zur Herstellung gleicher Lebensbedingungen führen. ({1}) Mit dem Hinweis auf die noch nicht vorhandenen gleichen Lebens- und Einkommensverhältnisse in den neuen Ländern konnte die Bundesregierung im vergangenen Jahr dem Vorhaben nicht zustimmen. Ein halbes Jahr später, am 2. Juni 2000, hat die Bundesjustizministerin in ihrer Begrüßungsrede beim 51. Deutschen Anwaltstag in Berlin die Forderung nach Aufhebung des zehnprozentigen Ostabschlags dem Grunde nach immer noch für richtig gehalten. Sie verwies aber nach wie vor ebenfalls darauf, dass die für die Abschaffung des bestehenden Abschlags erforderliche Angleichung der Lebensverhältnisse noch nicht vorliege. Wieder ist ein halbes Jahr vergangen. Mit nahezu vorweihnachtlicher Spannung harren wir schon jetzt der Position, die die Bundesregierung in dieser Frage heute vertreten wird. Zumindest werden wir sie im Protokoll nachlesen können. Wir können ahnen, dass sich diese Position wahrscheinlich wieder an der Kernfrage orientiert, die mit diesem Antrag verbunden ist, nämlich die Frage nach dem Stand der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West. Unabhängig von der konkreten Detailforderung der F.D.P. gilt: Diese Kernforderung, nämlich die Angleichung der Einkommensverhältnisse in Ost und West, ist von grundsätzlicher Bedeutung; denn sie ist der Dreh- und Angelpunkt des Aufbaus Ost. ({2}) Umso bedauerlicher ist es, dass dieser Tagesordnungspunkt Schlusspunkt der heutigen Debatte und damit wohl auch Schlusspunkt der Debatte im Jahr 2000 ist. Das zeigt wieder einmal - wenn auch in kleinen Nuancen -, welchen Stellenwert die rot-grüne Regierungsmehrheit der Entwicklung in den neuen Länder zubilligt. ({3}) Etwas zur Chefsache zu erklären heißt für diese Regierung eben noch lange nicht, es auch als solche zu behandeln. ({4}) Zur konkreten Forderung des F.D.P.-Antrages möchte ich eines unmissverständlich zum Ausdruck bringen: Ich halte die perspektivische Angleichung der Gebühren dem Grunde nach für richtig und geboten. ({5}) Angesichts der Tatsache, dass im Jahre 1996 der Gebührenabschlag von 20 auf 10 Prozent reduziert wurde, liegt die Diskussion um die Streichung auch dieses letzten Abschlags heute, vier Jahre später, natürlich nahe. Ich kann die Argumente der betroffenen Standesvertretungen für die Abschaffung des Abschlags nachvollziehen. Es ist auch nicht von der Hand zu weisen, dass bereits geringere Streitwerte, wie wir sie auch in den neuen Ländern vorfinden, die Höhe der Gebühren nach unten regulieren. Betriebliche Kostenquoten in den Kanzleien von bis zu 70 Prozent belasten zusätzlich. ({6}) Der im vergangenen Jahr bei der Postulationsfähigkeit in Richtung Rechtsangleichung beschrittene Weg ist konsequent fortzusetzen. ({7}) - Hören Sie doch bitte bis zum Ende zu, bevor Sie kritisieren. - Die Frage ist allerdings, ob die Streichung auch des letzten Abschlags, wie von der F.D.P. gewünscht, zum jetzigen Zeitpunkt realisierbar ist. ({8}) Deshalb müssen wir uns auch mit folgender Frage auseinander setzen: Gestalten Sich die Einkommensverhältnisse der Menschen in den neuen Ländern mittlerweile so, dass die Abschaffung des Gebührenabschlags Ost vertretbar ist? Nach einer Recherche der brandenburgischen Landesregierung liegt das allgemeine Einkommensniveau unter Einbeziehung der hohen Erwerbslosenquote in den neuen Ländern im Vergleich zum alten Bundesgebiet bei etwa 70 Prozent. Wie dem Jahresbericht 2000 der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit zu entnehmen ist, hat sich die Angleichung der Löhne und Gehälter in letzter Zeit deutlich verlangsamt. Mittlerweile wurde ein durchschnittliches Tarifniveau von 91 Prozent der Westentgelte erreicht. Während in der Druckindustrie und bei den Banken die Tarife teilweise bei 100 Prozent der Westtarife liegen, sind zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe nur rund drei Viertel des Westtarifs erreicht. Auch nach Erhebungen des Statistischen Bundesamtes liegen die Einkommensverhältnisse der Menschen im Osten regelmäßig und teilweise deutlich unter den Einkommensverhältnissen der Menschen in den alten Bundesländern. Am besten schneidet danach das Versicherungsgewerbe ab. Der Bruttomonatsverdienst eines ostdeutschen Angestellten liegt hier bei 86,35 Prozent des Verdienstes seines westdeutschen Kollegen. Es folgt der Einzelhandel mit einem Verhältnis von Ost zu West von circa 80 Prozent, sodann das Kreditgewerbe mit circa 77 Prozent, das produzierende Gewerbe mit circa 74 Prozent und der Großhandel mit circa 72 Prozent. Schlusslicht bildet nach den aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes das Handwerk. Hier liegen die Vergleichswerte durchgängig unter 70 Prozent. Angesichts dieser Zahlen wird man nicht guten Gewissens von einer Angleichung der Einkommensverhältnisse dieser Berufsgruppen sprechen können. ({9}) Es bestehen noch weitere Unterschiede: Die Besoldung für Richter und Beamte im Osten beträgt gegenwärtig 86,5 Prozent des Westniveaus. Sie wird allerdings rückwirkend ab August dieses Jahres auf 87 Prozent, ab Januar 2001 auf 88,5 und ab Januar 2002 auf 90 Prozent angehoben. Schließlich noch zu dem in den neuen Ländern niedergelassenen Arzt: Die von den ostdeutschen kassenärztlichen Vereinigungen ausgehandelten Gesamtvergütungen für die Behandlung von Kassenpatienten fallen regelmäßig geringer aus als diejenigen im Westen. Im Ergebnis verdient der ostdeutsche Arzt durchschnittlich 80 Prozent dessen, was der westdeutsche Kollege verdient. Angesichts der Tatsache, dass sich die Einkommensverhältnisse im Osten denjenigen im Westen bisher nicht wirklich angeglichen haben, sehe ich zwar dem Grunde nach Konsens hinsichtlich der Forderung nach einer Gebührenangleichung, bei der zeitlichen Umsetzung jedoch noch erheblichen Diskussionsbedarf, und zwar in beide Richtungen. Natürlich beeinflusst das geringe Einkommen in bestimmten Verfahren auch die Streitwerte und damit die Gebühren der Anwälte. Es reduziert auch die Bereitschaft in der Bevölkerung, juristische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Voßhoff, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Funke?

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Kollege.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, sind Sie der Auffassung, dass wir beispielsweise für das Emsland die Gebührenordnung für Anwälte nach unten hin angleichen müssen, weil dort das Durchschnittseinkommen geringer ist als zum Beispiel in Hamburg?

Andrea Astrid Voßhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003253, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Funke, dies ist nicht vergleichbar. Sie können die strukturschwachen und strukturstarken Regionen innerhalb der alten Länder nicht zum Maßstab nehmen. Wir machen auch innerhalb der neuen Bundesländer keine Unterschiede. ({0}) Mit welchen Belastungen haben aber Privathaushalte zu rechnen, wenn Gebührenanpassungen - zumindest im anwaltlichen Bereich - zu 90 Prozent den privatrechtlichen Bereich betreffen? Die Konferenz der Justizminister der ostdeutschen Länder vom Oktober dieses Jahres sowie die Konferenz der Justizminister aller deutschen Bundesländer vom November halten die Erhöhung der anwaltlichen Gebühren für das Gebiet aller neuen Länder - bis auf Berlin; Sie haben es erwähnt - gegenwärtig mehrheitlich nicht für realisierbar. ({1}) Über diese Bedenken können wir uns nicht ohne weiteres hinwegsetzen. Ich sehe deshalb in den Argumentationen und den Diskussionen in den Ausschüssen eine Möglichkeit und eine entsprechende Notwendigkeit, dass wir uns intensiver mit diesem Thema beschäftigen, bedingt auch durch die Zahlen, die ich gerade genannt habe -, auch hinsichtlich der Auswirkungen einer Erhöhung. Eines dürfte klar sein: Wir bewegen uns mit dem Antrag der F.D.P. in einem Spannungsfeld zwischen dem Wünschbaren und - da stimme ich Ihnen, Herr Funke, hundertprozentig zu - Notwendigen auf der einen Seite und dem Machbaren auf der anderen Seite. Klar ist aber auch, dass eine Angleichung nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden darf und für die Betroffenen mit einer klaren, vielleicht zeitlich strukturierten Perspektive versehen werden muss. Ich darf mich den Wünschen meiner Vorredner anschließen und Ihnen angenehme Feiertage wünschen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3485 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um in Ihrer aller Namen den Saaldienerinnen und Saaldienern am Ende des Jahres für ihre Arbeit für uns alle sehr herzlich zu danken. ({0}) Ihnen allen wünsche ich ein friedvolles und fröhliches Weihnachtsfest und einen gelungenen Start in das Jahr 2001. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 17. Januar 2001, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.