Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/7/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einem Monat berichtete ich Ihnen hier, mit welchen Erwartungen und Vorstellungen wir nach Den Haag fahren. Es war offensichtlich, dass diese Konferenz in eine kritische Phase geraten werde. Denn es ging in Den Haag nicht mehr um Rhetorik; vielmehr waren von den Staaten weit reichende politische Entscheidungen gefordert. Wie Sie wissen, konnten wir, die wir da waren, gemeinsam die hohen Erwartungen nicht erfüllen. Die Konferenz ist - trotz Fortschritten im Einzelnen - insgesamt ergebnislos auf den kommenden Mai oder Juni vertagt worden. Ich will an der Stelle überhaupt nicht darum herumreden: Das ist ein Rückschlag gewesen für den Klimaschutz und er war ernüchternd. Lassen Sie mich einen Blick darauf werfen, wie es zu dieser Lage in Den Haag gekommen ist: Erstens spielte Zeit eine Rolle. Mein Kollege Jan Pronk aus den Niederlanden, der Vorsitzende, für dessen engaPräsident Wolfgang Thierse gierte und professionelle Arbeit ich mich ausdrücklich bedanken möchte, konnte sein lange angekündigtes Kompromisspapier erst 36 Stunden vor Schluss vorstellen. Damit verblieb schlicht sehr wenig Zeit für die wirklichen Verhandlungen. Selbst wenn sich EU und Amerikaner in der letzten Nacht noch hätten einigen können, wäre es mehr als fraglich gewesen, ob ein solches Ergebnis von anderen, insbesondere den Entwicklungsländern, akzeptiert worden wäre. Ein zweiter Punkt betrifft sehr große Interessenwidersprüche zwischen Ländern, die auf dieser Konferenz gleichzeitig auf einen Konsens angewiesen waren. So gab das Kompromisspapier die Interessenlage in unseren Augen teilweise nur unzureichend wieder. Zwei der großen Verhandlungsgruppen - die EU auf der einen und die Entwicklungsländer auf der anderen Seite - hatten sich beispielsweise gegen eine breite Anrechnung von Senkenaktivitäten und klar für eine qualifizierte Obergrenze beim Emissionshandel ausgesprochen. Damit kamen die Gegner dieser Linie, allen voran Amerikaner, Kanadier und Japaner, in eine deutliche Minderheit. Dennoch spiegelte sich in dem Kompromisspapier das erdrückende Übergewicht der Positionen der Entwicklungsländer und Europäer so nicht wider. Dennoch schien es so, als wenn in der letzten Nacht eine politische Einigung recht nahe gewesen ist. Uns lief dann in der Tat die Zeit davon. Gescheitert ist die Konferenz - und ich betone das - buchstäblich in letzter Minute an der Weigerung einiger Industrieländer, tatsächlichen Reduktionsmaßnahmen zu Hause einen echten Vorrang zu geben. Die so genannte Umbrella-Gruppe um Kanada, die USA, Japan und Australien bestand vor allem auf einer sehr weitgehenden und nicht quantifizierten Einbeziehung von Senken. An dieser in meinen Augen nicht hinreichenden und umweltpolitisch nicht tragfähigen Flexibilität ist ein Kompromiss gescheitert. Dies ist umso bedauerlicher, als die EU in letzter Minute noch sehr weitgehende Kompromisse angeboten hat. Was wir allerdings nicht machen konnten, war, natürliche Wälder und andere Senken mit ihren vorübergehenden Kohlenstoffspeicherfunktionen in einem unbestimmten Umfang auf die Reduktionsverpflichtung von Kioto anzurechnen. Das wäre in der Tat ein riesiges Schlupfloch gewesen. Man muss darauf hinweisen, die Kohlenstoffaufnahme findet ohne jegliches menschliches Einwirken statt. Schließlich konnten wir nicht akzeptieren, dass über die Frage der Einbeziehung von Senken in den CleanDevelopment-Mechanismus nicht entschieden, sondern diese Frage weiter vertagt werden sollte. Außerdem konnten wir auch nicht akzeptieren, wenn Regeln für die Kioto-Mechanismen nicht verbindlich festlegen sollten, dass Industrieländer ihre Reduktionsverpflichtungen zunächst im eigenen Lande zu erbringen haben. Das alles hätte dem Kioto-Protokoll seine ökologische Integrität genommen. Es ist zu betonen, dass die von der EU eingenommene Verhandlungsposition von den Entwicklungsländern nachdrücklich unterstützt wurde. Dies war ein positiver Aspekt der Konferenz. Die Umweltintegrität stand im Mittelpunkt und fand, wenn auch keine Einstimmigkeit, so doch eine sehr weitreichende Unterstützung aus Nord und Süd. Ich habe für die Bundesrepublik nach einer schwierigen und die ganze Nacht durchgehenden Verhandlung zwischen Franzosen, Briten, und Deutschen auf der einen und einer Reihe von Umbrella-Staaten auf der anderen Seite noch am Samstag früh einen Kompromissvorschlag vorgelegt. Dieser Kompromiss zielte, wenn man es so ausdrücken will, auf einen explizit politischen Deal, der es ermöglichen würde, das Protokoll zu ratifizieren und in Kraft treten zu lassen. Der Vorschlag, den wir vorgelegt haben, sah insbesondere vor, dass sich die USA, Kanada und Japan bestimmte Senken anrechnen lassen können, dass diese Anrechnung aber streng zu limitieren und auf die erste Verpflichtungsperiode zu beschränken ist. Er stellte klar, dass Senken aus dem CDM für die erste Verpflichtungsperiode ausgeschlossen werden sollten. Er beinhaltete außerdem eine - wie ich finde - für alle akzeptable Formulierung zur Vorrangigkeit von nationalen Reduktionsmaßnahmen, Regeln, die Überverkäufe beim Emissionshandel verhindern sollten, sowie einen Straffaktor für Industriestaaten, um die Wiedergutmachungsleistung für zu viel emittierte Treibhausgase zu erhöhen. Es ist bedauerlich, dass aufgrund der fortgeschrittenen Zeit über diesen deutschen Kompromissvorschlag nicht mehr abschließend verhandelt werden konnte. Es ist insbesondere deshalb bedauerlich, weil in Den Haag auf einigen Gebieten Fortschritte erzielt werden konnten. Es gibt einen breiten Konsens für ein Kontrollsystem, das einen verbindlichen Aktionsplan mit Strafaufschlag für jede Tonne Treibhausgas für den Fall vorsieht, dass ein Land seine Reduktionsziele verfehlt hat. Atomprojekte sollten unter dem Mechanismus der umweltverträglichen Entwicklung in den Entwicklungsländern nicht als Klimaschutzprojekte, die sich Industrieländer anrechnen lassen können, zulässig sein. Hier haben wir mit der EU gemeinsam erfolgreich verhandelt. Ich glaube, diese Entwicklung lässt sich nicht so einfach zurückdrehen. Die Bundesregierung will das Inkrafttreten des KiotoProtokolls im Jahre 2002. Wir sind bereit, hierfür Zugeständnisse zu machen. Wir wissen, dass hierzu auch ein gewisser Rabatt auf die in Kioto eingegangenen Verpflichtungen gehören kann. Über den Rabatt und seine Höhe kann man mit uns reden, aber nicht über Schlupflöcher, zumal nicht über Schlupflöcher auf Dauer. ({0}) Wir wollen einen Kompromiss, aber nicht um jeden Preis. Das war und ist die Haltung der Bundesregierung und die Haltung der EU, die wir in Den Haag durchgehalten haben. Dass einige Länder seit Rio ihre Treibhausgasemissionen kontinuierlich gesteigert und nicht, wie versprochen, stabilisiert oder, wie wir, gesenkt haben, kann kein Grund sein, das Protokoll von einem völkerrechtlich verbindlichen Abkommen zu einer unverbindlichen politischen Erklärung zu machen. Die Unterbrechung der Konferenz in Den Haag war ein Rückschlag. Jetzt kommt es für alle darauf an, wie wir damit umgehen. Ich will nachdrücklich unterstreichen: Wir dürfen uns von diesem Rückschlag nicht lähmen lassen. Wir müssen die Stagnation beim Klimaschutz überwinden. Dazu ist es notwendig, die Situation nüchtern zu analysieren und mit unseren Partnern vorwärts zu denken und zu handeln. Dann haben wir eine echte Chance. Nach vorne denken heißt aber auch, aufzuhören, sich mit sich selber zu beschäftigen. Ob die französische Kollegin Dominique Voynet müde war, ob der britische stellvertretende Premierminister John Prescott ein unverbesserlicher Macho ist, mag Zeitungen interessieren. Aber für uns muss gelten: Im Kampf für den Klimaschutz müssen die Europäer in erster Linie zusammenstehen. Dann und nur dann - das ist unsere Erfahrung - wird sich etwas bewegen. ({1}) Ich habe deshalb unmittelbar nach Den Haag damit begonnen - ich werde weiterhin alles dafür tun -, in den kommenden Wochen und Monaten die Verhandlungsbereitschaft meiner Kolleginnen und Kollegen aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. In den Gesprächen mit dem Präsidenten der Konferenz und niederländischen Umweltminister, Jan Pronk, mit dem amerikanischen Chefunterhändler Frank Loy, mit der französischen Umweltministerin, Dominique Voyet, mit John Prescott und mit der japanischen Umweltministerin Yoriko Kawaguchi verfolge ich das Ziel, noch mit der derzeitigen Administration der USA eine politische Einigung zwischen der Umbrella-Gruppe und Europa über die uns gemeinsam berührenden Fragen zu erreichen. Während wir jetzt im Bundestag diskutieren, loten meine Beamten zusammen mit deren Kolleginnen und Kollegen aus Europa und der Umbrella-Gruppe in Ottawa aus, ob eine solche Einigung noch vor Weihnachten gelingen kann. Wenn sich hier eine Einigung als möglich abzeichnet, wird es am dritten Advent voraussichtlich in Oslo ein Treffen auf Ministerebene zwischen der EU und den Umbrella-Staaten geben. Ich sage ausdrücklich: Eine solche politische Einigung kann ein Abkommen nicht ersetzen. Kein Dialog etwa von Industrieländern untereinander kann andere, Nichtindustrieländer binden. Gleichzeitig müssen die Entwicklungsländer in den konstruktiven Dialog für eine Einigung einbezogen werden, da die Wahrung der Umweltintegrität des Kioto-Protokolls nur mit den Entwicklungsländern möglich ist. Für ein solches Gespräch bietet sich in meinen Augen die nächste Verwaltungsratssitzung der UNUmweltorganisation im Februar an. Vor allem aber muss eine solche Einigung so fundiert sein, dass sie noch im Frühjahr bei der Fortsetzung der 6. Vertragsstaatenkonferenz Bestand hat. Für uns heißt das: Es ist sicherzustellen, dass tatsächlich Emissionsminderungen stattfinden, dass solche im eigenen Land stattfinden, dass Clean-Development-Mechanismen nur umweltverträgliche Projekte umfassen, dass es ein wirksames System der Erfüllungskontrolle gibt und dass die bewährten Strukturen der internationalen Zusammenarbeit, insbesondere des GEF, erhalten und gestärkt werden. Ich appelliere deswegen an alle Industriestaaten, ihre Positionen zu überprüfen und mit zukunftsfähigen Konzepten an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Ich appelliere ebenfalls, bereits jetzt auf nationaler Ebene verstärkt Maßnahmen umzusetzen, wie wir es hier mit dem nationalen Klimaschutzprogramm getan haben. Angesichts der Dramatik des Klimawandels gibt es keine Rechtfertigung, damit zu warten, bis die Vertragsstaatenkonferenz die Entscheidung zur weiteren Ausgestaltung des Protokolls trifft. ({2}) Ich würde mich freuen, wenn die Bundesregierung diese Grundlinien deutscher Politik für einen globalen Klimawandel weiterhin mit der Unterstützung des gesamten Bundestages verfolgen könnte, wie ich dies in Den Haag durch die anwesenden Abgeordneten unterschiedlicher Fraktionen erfahren habe. Ich würde mich freuen, wenn wir bei diesem Kurs auch weiterhin die kritische Unterstützung durch die Zivilgesellschaft, von Unternehmer- bis Umweltverbänden, hätten. Ihnen allen, die sich aktiv daran beteiligt haben, danke ich für Ihr Engagement und für Ihre Hilfe. Bei allen Rückschlägen muss ich sagen: Ohne diesen Konsens in der deutschen Gesellschaft wären wir nicht so weit gekommen, hier nicht und international nicht. Deshalb vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich meinen gestern im Umweltausschuss geäußerten Dank wiederholen. Danken möchte ich Ihnen, Herr Minister, für die Möglichkeit, dass wir Parlamentarier in Den Haag an der Klimaschutzkonferenz als Delegierte im Rahmen der deutschen Delegation teilnehmen konnten. Ich möchte Ihnen, Frau Ganseforth, für die engagierte Tätigkeit als Delegationsleiterin in Den Haag danken. ({0}) Herr Bundesumweltminister, wenn Sie um eine Unterstützung für den Kurs der Bundesregierung bei den internationalen Klimaschutzkonferenzen bitten, kann ich Ihnen sagen: Eine kritische Unterstützung für international sinnvolle Maßnahmen dieser Bundesregierung werden Sie von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion immer erhalten. ({1}) Gleichwohl kann ich es mir nicht versagen, zu Den Haag auch einige kritische Bemerkungen zu machen. Ich glaube nämlich nicht, dass es damit getan ist, allein den USA und den weiteren Mitgliedern der so genannten Umbrella-Gruppe, die am bisherigen Scheitern der Klimaschutzkonferenz sicherlich die Hauptschuld tragen, die Verantwortung dafür zuzuschieben. Im Besonderen ist zu fragen, ob nicht das Scheitern von Den Haag für die EUStaaten und damit auch für die deutsche Bundesregierung vorhersehbar war und somit mit einer anderen Verhandlungsstrategie vermeidbar gewesen wäre. Ich will das deshalb ansprechen, weil schon im Vorfeld der Konferenz in Den Haag in diesem Hause wie auch vonseiten der Regierung hinsichtlich des Verhandlungsziels immer wieder gesagt wurde, man wolle - so hieß es fast wörtlich - kein Ergebnis um jeden Preis. Wir hätten uns gewünscht, dass Sie das Verhandlungsziel positiver formuliert hätten, im Sinne: Wir alle wollen ein respektables Ergebnis. Jeder Staat, der in Den Haag dabei ist, muss sich damit seiner Verantwortung stellen. - Mit einer solchen Formulierung hätten wir von Anfang an ein positives Verhandlungsklima erzeugt. Aber der Satz „Wir Deutsche wollen kein Ergebnis um jeden Preis“ war ein falscher Ausgangspunkt für die Verhandlungen. ({2}) Sie müssen sich folgenden Vorwurf gefallen lassen: Im Vorfeld dieser 6. Weltklimakonferenz und in Kenntnis der differenzierten Standpunkte waren Ihre Kollegen Umweltminister der Europäischen Union zwar engagiert; das attestiere ich ihnen gerne. Sie sind hinsichtlich der Durchsetzbarkeit einer gemeinsamen Position aber zu wenig zielorientiert und letztlich zu wenig flexibel aufgetreten. Dieser Vorwurf muss weiter bestehen, auch wenn Sie gerade in Ihrer Regierungserklärung zum ersten Mal öffentlich ziemlich deutlich einen deutschen Kompromissvorschlag dargestellt haben. Schade, dass dieser erst jetzt vorgetragen worden ist. Es wäre besser gewesen, man hätte ihn zu Beginn der Verhandlungsrunde in Den Haag vorgelegt. Das wäre besser gewesen; denn dann wären wir in der Europäischen Union sicherlich mit einer geschlosseneren Haltung aufgetreten. Das ist ein Vorwurf, den wir Ihnen leider nicht ersparen können. Bereits im März dieses Jahres hatte die Kommission ein Programm für eine gemeinsame Politik der Mitgliedstaaten zur Verringerung der Treibhausgasemissionen vorgelegt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt war die differenzierte Interessenlage der Mitgliedstaaten bekannt. Hier hätten Sie, Herr Minister Trittin, im Vorfeld der Konferenz von Den Haag intensiv Einfluss nehmen müssen. Sie haben zu Recht beschrieben, wie schwierig im Übrigen die Ausgangssituation der Verhandlungen in Den Haag war. Es gibt neben den Staaten der EU zwei große Gruppen: die so genannte Umbrella-Gruppe mit den Vereinigten Staaten an der Spitze, mit Japan, Australien, Kanada und einigen anderen Staaten - diese Staaten wollen eine größtmögliche Anrechnung der Senken - und die G-77-Staaten; ihre Ziele sind Finanzierungsmechanismen und Technologietransfer. Interessant war, dass die deutsche Delegation unter Ihrer Federführung, Herr Minister, gerade hinsichtlich der Finanzierungsmechanismen und der Aufstockung der finanziellen Mittel im Bereich der Entwicklungspolitik die gleiche Haltung an den Tag gelegt hat wie die bisherigen Bundesregierungen, geführt von CDU/CSU und F.D.P., bei den früheren Konferenzen. Damals wurde gesagt, dass es uns enge finanzielle Spielräume zum Beispiel durch die Unterstützung der mittelosteuropäischen Staaten nicht ermöglichen, die Finanzmittel für die Entwicklungsstaaten einfach aufzustocken. Gegen diese Politik haben Sie aus dem rot-grünen Regierungslager vor Jahren in diesem Hause heftigst opponiert. Sie haben damals gesagt, wir seien weit weg von dem 0,7-Prozent-Ziel. Jetzt, wo Sie die Verantwortung haben, haben Sie fast mit der gleichen Sprache die Politik fortgesetzt, die Töpfer und Merkel bei den internationalen Verhandlungen an den Tag gelegt haben. Es wäre schön gewesen, Herr Minister Trittin, wenn Sie darauf hingewiesen hätten, dass die bisherige Vorarbeit der Bundesregierung, die bis 1998 regiert hat, richtig war und dass es in diesem Bereich viele Punkte gibt, die Sie fast nahtlos übernommen haben. Damit wird deutlich, dass das, was Sie in diesem Hause vielfach an Kritik geäußert haben, damals keine Berechtigung hatte. ({3}) Wir stimmen ausdrücklich mit Ihnen überein, wenn Sie erklären, dass die flexiblen Instrumente nicht dazu benutzt werden dürfen, sich aus einer effektiven internationalen Klimaschutzpolitik zu verabschieden. Wir brauchen keine Schlupflöcher, sondern eine konsequente Verhaltensänderung in den Industriestaaten, insbesondere in den USA. Die übertriebenen Vorstellungen der USA bei der so genannten Senkenproblematik sind eindeutig abzulehnen. Gleichwohl muss der Schutz von wichtigen und stabilen natürlichen Speichern, wie vor allem Primärwäldern und Feuchtgebieten, im internationalen Rahmen stärker als bisher gefördert und angerechnet werden. Als wir das als CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Vorfeld der Klimakonferenz in Den Haag auch mit einem Antrag hier im Hause gefordert haben, da haben wir aus dem Regierungslager skeptische Gegenfragen gehört. Heute aber muss ich feststellen, dass Sie, Herr Minister, in Ihrer Regierungserklärung gerade darauf hingewiesen haben, dass wir in dieser Frage flexibler sein müssen. Ich frage mich: Warum haben Sie das nicht schon am Anfang der Konferenz in Den Haag geäußert? Warum erst heute, nach dem Scheitern der Konferenz in Den Haag? ({4}) Wie sieht es nun mit den Grundzügen einer erfolgreichen internationalen und nationalen Klimaschutzpolitik aus? Wir nehmen zustimmend zur Kenntnis, dass die Bundesregierung auf der Grundlage des Klimaprotokolls von Kioto den Klimaschutz als eine große, internationale umweltpolitische Herausforderung ansieht. Doch es bleibt festzustellen, dass durch die Instrumentendiskussion in Deutschland seit 1998 auch auf der internationalen Ebene wichtige Jahre verloren gegangen sind. Der Bundesregierung ist hinsichtlich der vergangenen zwei Jahre der Vorwurf zu machen, dass sie die Schrittmacherrolle, die Deutschland auf den internationalen Konferenzen in Rio und Kioto wahrgenommen hat, heute leider nicht mehr umfassend erfüllen kann. Dass die jetzige Bundesregierung nach 1998 zunächst mit ihrer Forderung nach weiteren Reduktionszielen hinsichtlich des CO2-Ausstoßes gescheitert ist und stattdessen jetzt auf Instrumente zurückgreift, die maßgeblich von Professor Töpfer und Frau Merkel konzeptionell entwickelt worden sind, zeigt letztlich auch, wie richtig der bisherige Weg in der Klimaschutzpolitik war. Ich gebe ganz ehrlich zu: Vor dem Hintergrund des Erfordernisses einer gemeinsamen Politik in diesem Hause auf diesem Gebiet werden wir Ihre Politik - natürlich immer kritisch - begleiten, wenn die Ansätze, die ich gerade skizziert habe, auch tatsächlich von Ihnen aufgegriffen werden. Eines ist ganz wichtig: Klimaschutzpolitik auf internationaler Ebene - das haben wir jetzt anlässlich der Konferenz in Den Haag gemerkt - darf nicht nur eine Politik der Fachminister sein. Eine Klimaschutzpolitik ist letztlich nur erfolgreich - weil eine Klimaschutzpolitik die Wirtschaftspolitik und die Strukturpolitik umfasst, bringen die Staaten von vornherein ihre eigenen Interessen ein -, wenn sie auch von den Regierungschefs unterstützt wird. Angesichts dessen, dass sich Bundeskanzler Kohl im Vorfeld der Konferenz von Rio und im Vorfeld der nächsten Folgekonferenzen persönlich engagiert hat, und angesichts der Tatsache, dass wir in dieser Frage in den letzten Wochen und Monaten sehr wenig von Gerhard Schröder gehört haben, kann ich nur sagen: Es wäre gut gewesen, Herr Schröder hätte sich in diesen Fragen so engagiert wie Helmut Kohl. Dann wären die internationalen Voraussetzungen für einen Erfolg der Konferenz in Den Haag besser gewesen. ({5}) Ich habe noch in guter Erinnerung, was nach dem Scheitern der Klimakonferenz gerade aus den Reihen der sozialdemokratischen Fraktion geäußert worden ist. Da ist in Presseerklärungen gesagt worden, die Konferenz von Den Haag - das wurde völlig zu Recht festgestellt sei gescheitert; aber jetzt hätten die Deutschen die Aufgabe, voranzugehen, und man müsse zusehen - ich sage das jetzt einmal sehr salopp -, dass wir die Karre aus dem Dreck ziehen. ({6}) - Herr Müller, genau Sie meinte ich damit. Ich hatte schon auf Ihren Zuruf gewartet. Es wäre schön, wenn wir in Deutschland aufgrund unserer Größe und unserer Volkswirtschaft in der Lage wären, auch tatsächlich so vorzugehen, wie Sie es gesagt haben. Aber wenn wir im Jahre 2005 das vorgesehene Klimaschutzziel erreichen, nämlich eine Reduktion des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent, dann haben wir weltweit 1 Prozent des CO2-Ausstoßes eingespart. Wenn wir andere Staaten wie die USA und vor allen Dingen die Schwellenländer in Südostasien, zum Beispiel China und Indien, nicht für eine solche Klimaschutzpolitik gewinnen, dann werden unsere ganzen Erfolge in der Klimaschutzpolitik neutralisiert. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, dass Sie der Öffentlichkeit vorgemacht haben: Obwohl die Konferenz von Den Haag gescheitert ist, können wir von hier aus die Klimaschutzpolitik auf internationaler Ebene erfolgreich steuern. ({7}) - Das ist ein falscher Ansatz. Mit einer solchen Äußerung zeigen Sie, dass Sie die Gewichtungen auf den internationalen Konferenzen noch immer nicht richtig beurteilen. ({8}) Wenn Sie den anderen Staaten erklären: „Wenn ihr bei dieser Politik nicht mitmacht, dann handeln wir allein“, dann verschlechtern Sie die Verhandlungsbedingungen für die weiteren internationalen Klimakonferenzen. Das muss man Ihnen ganz deutlich vorwerfen. ({9}) Wir werden unsere nationale Vorreiterrolle nur dann wahrnehmen können, wenn wir auch in Deutschland ein überzeugendes Klimaschutzprogramm auflegen. In diesem Zusammenhang muss ich noch einmal betonen: Das Klimaschutzprogramm, das Sie nach der Sommerpause hier vorgelegt haben, ist ein vages Programm, das aus Ankündigungen besteht und letztlich an keiner Stelle wirklich konkret belegt, wie Sie bis zum Jahre 2005 das Reduktionsziel tatsächlich erreichen können. Sie schreiben an einer Stelle, allein im Rahmen der Ökosteuer wollten Sie 10 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Zur Verkehrspolitik sagen Sie, ab dem Jahre 2003 werde eine Abgabe für den Schwerlastverkehr eingeführt, und dann geben Sie Prozentzahlen und absolute Zahlen in Bezug auf die Reduktion des CO2-Ausstoßes an. An keiner Stelle wird deutlich, wie Sie mit dieser Schwerlastverkehrsabgabe den hohen Anteil des CO2-Ausstoßes im Verkehrsbereich tatsächlich reduzieren wollen. ({10}) Es ist eine vage Ankündigung: Es steht bei Ihnen auf dem Papier, aber Sie haben es leider versäumt, ganz konkret zu belegen, wie Sie mit dem, was Sie im Augenblick als Ankündigungen an den Tag gelegt haben, im Jahre 2005 das Ziel auch tatsächlich erreichen können. Mit anderen Worten: Ihr Klimaschutzprogramm ist nicht nachhaltig. Wir geben natürlich zu, dass innerhalb der Europäischen Union Reden und Handeln häufig auseinander fallen. Staaten im Norden und im Westen der EU, die bisher mit einem rigorosen Bekenntnis zum Klimaschutz aufgetreten sind, fallen heute zunehmend durch steigende CO2Emissionen auf. Deshalb kann ich nur ganz deutlich sagen: Es wird auch Ihre Aufgabe sein, Herr Minister Trittin, darauf hinzuweisen, dass die bisherigen Erfolge in der Klimaschutzpolitik auch für die anderen Staaten in der Europäischen Union Vorbild sein sollten, sodass wir in geschlossener Haltung auftreten können. Herr Minister, der Presse vom gestrigen Tage und einem Bericht Ihres Staatssekretärs im Umweltausschuss war zu entnehmen - auch Sie haben heute eine entsprechende Ankündigung gemacht -, dass in den nächsten Tagen weitere Gespräche stattfinden werden, um Den Haag nachträglich doch noch zu einem Erfolg zu bringen. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion kann ich deutlich sagen: Wir wünschen Ihnen bei diesen Verhandlungen Glück - auch wir wollen den Erfolg -; wir wünschen Ihnen aber vor allen Dingen, dass Sie jetzt nicht mit weiteren Vorfestlegungen, sondern flexibel in diese Verhandlungen gehen und dass Sie deutlich machen, dass wir zwar ein konsequentes Klimaschutzziel haben und von unseren Vertragspartnern verlangen, dass auch sie sich konsequent verhalten, dass es aber wohl Rabatte geben muss, um die anderen Staaten zu einem positiven Verhandlungsergebnis zu bringen. Wir wünschen, dass Sie das deutlich erklären und dass Sie bei den Verhandlungen glaubwürdig auftreten, damit unsere Vertragspartner das Gefühl haben, dass es sich nicht nur um Worte handelt, die Sie in einer Regierungserklärung abgegeben haben, sondern dass das Ihre prinzipielle Haltung darstellt. Nur wenn das so geschieht, werden wir Den Haag nachträglich zu einem Erfolg machen können. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Monika Ganseforth, SPD-Fraktion, das Wort.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag hat zu keinem positiven Ergebnis geführt. Das ist sehr bedauerlich und kann - ich betone: kann dem Klimaschutz auf lange Zeit Schwierigkeiten machen. Ich meine aber, es wäre schlimmer gewesen, wenn ein Ergebnis zustande gekommen wäre, welches das Kioto-Protokoll ausgehöhlt und ad absurdum geführt hätte. ({0}) Kein Ergebnis zu erzielen kann besser sein, als ein schlechtes Ergebnis zu erzielen. Ich hatte eher die Sorge, dass der Umweltminister - so sah es teilweise aus - in den letzten Verhandlungstagen dem Druck nachgibt und dass so im Endeffekt etwas herauskommt, was dazu führt, dass die Industriestaaten mehr Treibhausgase emittieren können, weil die Senken angerechnet werden. Wir wären in Deutschland von der Öffentlichkeit - von den Umweltverbänden, von den Bürgerinnen und Bürgern und auch von der Wirtschaft, die in Deutschland zum Teil schon große Anstrengungen unternommen hat - zu Recht scharf kritisiert worden, wenn so etwas herausgekommen wäre. Alle, die vom Klimaschutz profitieren, erwarten, dass etwas Nachhaltiges zustande kommt. Hauptstreitpunkt war das Problem der flexiblen Instrumente und vor allem der Anrechnung von Senken, also von Wäldern, Landwirtschaft und Feldern. Vielleicht ist dieses Schlupfloch das Problem des Kioto-Protokolls. Es kommt sehr darauf an, dass die weiteren Vereinbarungen sorgfältig getroffen werden, damit der Klimaschutzprozess dadurch nicht unterlaufen und zerstört wird. Es kommt also mehr auf Sorgfältigkeit als darauf an, etwas zu akzeptieren, was nicht nachhaltig ist - nur um überhaupt zu einer Einigung zu kommen. Der Minister hat die Schwerpunkte, die bei den weiteren Verhandlungen eine Rolle spielen müssen und spielen werden, genannt: Es muss in den Entwicklungsländern zu tatsächlichen Emissionsreduzierungen kommen. Ein Teil der Verringerung muss aber bei uns im Lande selber stattfinden. Wir haben der Regierung im Parlament empfohlen, eine Senkung von mindestens 50 Prozent im eigenen Land zu vereinbaren, obwohl wir der Meinung sind, dass auch das noch immer nicht genug ist und dass es mehr sein müsste. Man muss aber nun einmal flexibel sein. ({1}) Wichtig ist - das ist auch erreicht worden -, dass bei den flexiblen Instrumenten nur umweltverträgliche Projekte in den Entwicklungsländern einbezogen werden dürfen, also keine Atomkraftwerke, keine riesigen Wasserkraftwerke und Ähnliches. Das Kontrollsystem muss stimmen; in dieser Sache sind wir weitergekommen. Bei der Finanzierung geht es nicht nur darum - Herr Paziorek, Sie haben das Geld für die Entwicklungshilfe angesprochen -, mehr Geld zu geben, sondern es muss auch mit den bewährten Instrumenten gearbeitet werden. Es dürfen nicht immer wieder, wie es die Amerikaner und andere vorgeschlagen haben, neue Töpfe geöffnet werden, die neue Bürokratien erfordern. Dass es schwieriger ist, konkrete Maßnahmen zu verabreden als allgemeine, ist klar und war wohl in Den Haag auch die Schwierigkeit gegenüber Rio. In Rio ging es nur um die Klimarahmenkonvention, die zwar sehr deutlich, aber nicht sehr konkret ist. Diese zu unterzeichnen war leichter, als sich jetzt auf die konkreten Protokolle zu verpflichten, die ans Eingemachte gehen, weil sie vorschreiben, was in der Industriegesellschaft im Einzelnen gemacht werden muss. Deswegen tun sich die UmbrellaStaaten vermutlich so schwer. Unabhängig vom Erfolg der internationalen Bemühungen müssen wir in Deutschland und Europa unbeirrt und vielleicht mit noch mehr Engagement den Klimaschutz vorantreiben. Dabei geht es nicht darum, Herr Paziorek, wie viel das weltweit ausmacht; es geht vielmehr darum, dass wir zeigen müssen, dass so etwas möglich ist. ({2}) Mein Eindruck ist, dass die Mehrheit der Menschen in unserem Land - „Zivilgesellschaft“ hat sie der Minister genannt - und insbesondere die Akteure, also die Umweltverbände, die Kommunen, die Kirchen, die Schulen, die Wirtschaft, wissen, worum es beim Klimaschutz geht. Die meisten wissen, um welch große Herausforderung es geht. Sie sind bereit - jedenfalls im Wesentlichen -, ihren Beitrag zu leisten. Sie wissen aber auch, dass Klimaschutz nicht nur Geld kostet, sondern sich auch rechnen kann und eine Chance für Innovationen, Beschäftigung und neue Aktionsfelder bietet. Ich meine, das ist in Deutschland auch den Klima-Enquete-Kommissionen zu verdanken. Diese haben mit ihren Anhörungen, ihren Studien, Berichten, Empfehlungen und Debatten im Bundestag erreicht, dass es sich in der deutschen Gesellschaft herumgesprochen hat: Klimaschutz rechnet sich, Klimaschutz muss sein. Gerade in Den Haag war zu spüren, dass das in den anderen Ländern weitgehend nicht der Fall ist und dass das ein Problem ist, das Erfolge im Klimaschutz behindert. In Deutschland und andernorts in Europa wissen wir, um was es geht. Die Akteure haben allerdings auch erwartet - das wurde uns ebenso gesagt -, dass die Regierung richtige Rahmenbedingungen schafft. Die neue Regierung hat viel auf den Weg gebracht: das 100 000-Dächer-Programm; die Ökosteuer, die Energiesparen belohnt; das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das Solarenergie auskömmlich und investitionssicher behandelt; Haushaltsmittel - die haben wir in der vergangenen Woche verabschiedet zur Gebäudesanierung im Rahmen des Zukunftsinvestitionsprogramms, das über fünf Jahre jeweils 400 Millionen DM vorsieht; das Kraft-Wärme-Kopplungs-Vorschaltgesetz. Daneben haben wir für konkrete und anspruchsvolle Selbstverpflichtungen der Wirtschaft gesorgt, die ein ordentliches Monitoring und nicht nur allgemeine blumige Vereinbarungen beinhalten. Einiges steht noch aus: die Energiesparverordnung, die Schwerverkehrsabgabe und die Stützung der Kraft-WärmeKopplung, die aus Primärenergie, also aus Kohle, Öl und Gas, mehr herausholt und bessere Wirkungsgrade erzielt. Ich bin froh und sicher, dass unsere Regierung weitermacht und das im nationalen Rahmen verfolgt. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen: Das gute internationale Ansehen, das Deutschland im Zusammenhang mit dem Klimaschutz genießt, hängt auch damit zusammen, dass wir in der Vergangenheit mit einer Stimme gesprochen haben. Wir waren uns jedenfalls über Parteigrenzen hinweg einig, dass der Klimaschutz ein wichtiges Instrument und eine große Herausforderung ist. Als wir in der Opposition waren, so muss ich Ihnen sagen, ist uns das nicht immer leicht gefallen; denn das große Auseinanderklaffen Ihrer Worte und Ihrer Taten hat es schwer gemacht, das international zu verteidigen. Wir fanden viele Ihrer Instrumente halbherzig und es gab Instrumente, die völlig falsch waren. Herr Paziorek, Sie haben die Schwerverkehrsabgabe für Lastwagen angesprochen. Diese ist richtig. Sie dagegen haben damals den Bundesverkehrswegeplan als Klimaschutzmaßnahme eingebracht. Was, so haben wir uns immer gefragt, sollte dies im Bereich Verkehr an Klimaschutz bringen? ({3}) Trotzdem haben wir um der Sache willen gesagt: Nach außen hin vertreten wir eine gemeinsame Position. Dies galt nicht nur für die Parteien, sondern auch für die Wirtschaft, die Umweltverbände und große Bereiche der Zivilgesellschaft. Sie alle haben die Regierung auf diesem Feld unterstützt. Das muss auch so bleiben, denn es geht um eine große Sache und eine große Herausforderung. Kleinkarierter parteipolitischer Streit hilft da nicht weiter. Hier spreche ich ausdrücklich die F.D.P. an. Ich habe mir den Antrag der F.D.P. angesehen. ({4}) Ich will nur eine Passage vorlesen. Dort steht: Auf internationaler Ebene ist die Bundesregierung während der Verhandlungen in Den Haag der Herausforderung ausgewichen, die Reihen der EU-Umweltminister geschlossen zu halten und konstruktiv an einem dynamischen Verhandlungsprozess teilzunehmen. ({5}) Sie waren nicht mit dabei und haben hier nicht nur eine Fern-, sondern eine Fehldiagnose gestellt. ({6}) Ihr Handeln ist auch nicht verantwortlich. Ich glaube, Sie haben nicht begriffen, dass in diesem Zusammenhang auch die Opposition Verantwortung trägt. Was waren das noch für Zeiten, als Leute wie Herr Grüner die F.D.P.-Klimaschutzpolitik vertreten haben! Er verstand wenigstens etwas von der Sache und ihm ging es ums Ganze. Ich habe ihn gestern getroffen und soll Sie alle schön grüßen, was ich hiermit mache. ({7}) Wenn Sie sich diesen Antrag ansehen, fragen Sie sich, wo die F.D.P. hingekommen ist. So steht dort zum Beispiel, dass „die Rolle Deutschlands als Vorreiter ... und gestaltende Kraft der internationalen Umweltpolitik verspielt“ wurde. ({8}) Das ist nicht nur falsch, sondern es gehört sich auch nicht, solche Sachen, bezogen auf einen internationalen Bereich, zu sagen. ({9}) Da hätten wir während Ihrer Regierungszeit ganz anders vom Leder ziehen können. Sie handeln nicht verantwortlich. Auch wenn Sie in der Opposition sind, müssen Sie das Ganze sehen. ({10}) Die Klimapolitik der F.D.P. hat sich auf ein Instrument reduziert, nämlich auf den Zertifikathandel. Das ist das Einzige, was Sie unter Klimaschutzpolitik verstehen. Wenn man sich Ihren Antrag ansieht, merkt man, dass Sie beleidigt sind, dass Sie nicht mehr die Connections ins Ministerium und den direkten Zugriff haben. Sie haben sich mit der Oppositionsrolle noch nicht abgefunden. ({11}) Glücklicherweise haben wir in Den Haag - wie es immer war - zusammengehalten und ein gemeinsames Bild gegeben. Wie gesagt: Die F.D.P. war nicht dabei. Wir müssen dies meiner Meinung nach auch in Zukunft so machen, wenn wir Erfolg haben wollen. Parlamentarier aus anderen Delegationen wurden von ihren Regierungen nicht so hervorragend beteiligt. Ich möchte der Regierung dafür noch einmal ausdrücklich - Herr Paziorek hat es auch schon gemacht - danken. In Deutschland ist es Tradition, dass das Parlament beteiligt wird. Aber so dicht dabei und als Beratergremium derart ernst genommen worden sind wir noch nie. Ich war zum Beispiel unter Herrn Töpfer oder Frau Merkel in Rio und in Berlin dabei. Diesmal war es wirklich hervorragend. Dafür muss ich mich herzlich bedanken. Weiter so! ({12}) Die Parlamentarier aus anderen Delegationen haben angeregt, dass wir auf Parlamentsebene im Bereich Klimaschutz intensiver zusammenarbeiten. Hier sind die internationalen Parlamentariergruppen gefragt. Aber auch wir sollten auf Delegationsreisen das Thema Klimaschutz, welche Herausforderungen damit verbunden und welche Erfolge zu erzielen sind, vorantreiben. Denn ohne eine breite Bewegung der Bevölkerung in den Ländern werden wir keinen Erfolg haben. Ich habe gehört, es geht weiter. Ich hoffe und gehe davon aus, dass Den Haag ein heilsamer Schock war und dass wir das große Problem, vor dem wir stehen, gemeinsam meistern. Schönen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Birgit Homburger, F.D.P., das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der Rede von Frau Ganseforth möchte ich sofort zu Beginn ganz klar feststellen: Gemessen an Ihrer Reaktion habe ich offensichtlich die Punkte getroffen, die nicht funktioniert haben; sonst hätten Sie sich nicht so aufgeregt. ({0}) Die Unterbrechung der Verhandlungen in Den Haag ist ein schwerer Rückschlag für den globalen Klimaschutz. Die Chance, die Ratifizierung des Kioto-Protokolls endgültig vorzubereiten und damit auch Fortschritte für den internationalen Klimaschutz zu erzielen, wurde vertan. Jetzt gibt es seit zwei Tagen einen Silberstreif am Horizont, wahrscheinlich auch ausgelöst dadurch, dass eine Reihe von Ländern gemerkt hat, welche Blamage das Scheitern dieser Konferenz vor allem für die Industrieländer bedeutet. Das jüngste Angebot des US-Präsidenten ist auf große internationale Resonanz gestoßen und gut aufgenommen worden. Jetzt muss die Gunst der Stunde genutzt und entsprechend etwas getan werden. ({1}) Ihnen, Frau Kollegin Ganseforth, will ich ganz klar sagen, weil Sie uns hier angegriffen haben: Die F.D.P. hat den Klimaschutzprozess von Anfang an positiv begleitet und unterstützt. ({2}) Wir stehen zu den Reduktionszielen, national wie international. Wir haben immer wieder Vorschläge gemacht, wie dieses Ziel erreicht werden kann. ({3}) Gerade in den letzten Monaten haben wir immer wieder Vorschläge gemacht, mit welchem Instrument das Ziel effizient erreicht werden kann. ({4}) Auch die F.D.P. will, dass es zu einer tatsächlichen Emissionsminderung kommt. Wir sind da gar nicht weit voneinander weg - im Gegenteil, die Einigkeit ist nach wie vor da. Auch wir wissen, dass die Frage der Senken schwierig ist. Auch wir wollen, dass sich die Industrieländer national auf Emissionsminderungen verpflichten; alles andere wäre ja absurd. Sie kriegen die Entwicklungsländer ja überhaupt nicht ins Boot - das wissen auch wir-, wenn Sie das nicht machen. ({5}) Deswegen sind die Positionen an dieser Stelle überhaupt nicht unterschiedlich. ({6}) Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Angesichts des Scheiterns einer ganz wichtigen Klimakonferenz muss es erlaubt sein, auch zu analysieren, woran es gelegen hat. ({7}) Ich habe hier nicht die Zeit, Ihnen all die Zitate vorzuhalten, die Sie seinerzeit gebracht haben. Aber Sie können sich hier nicht hinstellen wie die heilige Madonna und erklären: „Wir haben das alles immer mitgetragen, bei uns wäre so etwas nie passiert, es hat nie Kritik gegeben.“ Das ist einfach unwahr, Frau Ganseforth. ({8}) Ich habe mir die Protokolle aller Debatten des Deutschen Bundestages nach jeder Klimakonferenz heraussuchen lassen, und ich habe sie alle noch einmal durchgelesen. Ich könnte zig Zitate bringen, mit denen ich Ihnen nachweisen kann, was Sie uns alles vorgeworfen haben und was alles falsch gelaufen ist. Betreiben Sie hier also keine Geschichtsfälschung! ({9}) Es gab eine gemeinsame Ausgangsposition der EU, aber gescheitert ist man an der Aufgabe, die EU-Länder während der Konferenz zusammenzuhalten. Sie, Herr Trittin, können sich nicht darauf zurückziehen, dass Sie sagen, das sei nicht Ihre Aufgabe gewesen. Als Minister eines Landes, das in der Vergangenheit eine führende Position im Klimaschutz hatte, wäre es auch Ihre Aufgabe gewesen, zwischen den Beteiligten zu vermitteln und im Laufe der Verhandlungen eine gemeinsame Position der EU-Länder zu gewährleisten. Daran sind Sie gescheitert. ({10}) Das ist besonders ärgerlich, weil die USA so ganz einfach sagen konnten: Die Europäer sind uneins. Fest steht: Sie waren unflexibel. Es hieß - Kollege Paziorek hat es gerade schon gesagt -: „Kein Konsens um jeden Preis“. Wer immer nur sagt, was er nicht will und was nicht geht, der gibt keine positiven Impulse. ({11}) Ich habe den Eindruck, Herr Minister, Sie hatten mehr Angst davor, sich zu bewegen und zu einem Kompromiss zu kommen - Frau Ganseforth hat es gerade noch einmal verdeutlicht: Sie hatten mehr Angst vor den eigenen Leuten ({12}) als vor diesem Scheitern der Klimakonferenz und den Konsequenzen für den Klimaschutz weltweit. ({13}) Sie müssen einfach wissen, dass wir allein gar nichts erreichen. Wenn der internationale Klimaschutzprozess scheitert, dann würde es auch nichts nützen, wenn Sie die gesamte industrielle Produktion Deutschlands einstellen würden. Alleine schaffen wir an der Stelle überhaupt nichts. Deswegen braucht es eine Vereinbarung und geht es um die Kunst des Kompromisses, die Sie nicht beherrschen. ({14}) Sie haben es heute „politischen Deal“ genannt. Dann machen Sie es endlich! ({15}) Der deutsche Kompromissvorschlag, den Sie heute hier zum ersten Mal öffentlich vorgestellt haben, kam also wirklich zu spät. Im Vorfeld haben Sie nichts ausgelotet. Sie haben kein Verhandlungskonzept gehabt; ich habe Sie mehrfach danach gefragt. Dieses Desinteresse, das Sie im Vorfeld gezeigt haben, hat sich jetzt gerächt. Ich will sagen, wie das auf mich wirkt, Herr Minister: Sie haben sich aus meiner Sicht verhalten wie ein grüner Frosch bei schlechtem Wetter. Sie gingen die Leiter herunter, um jetzt, da klimapolitisches Tauwetter herrscht, mit dicken Backen wieder aufzutauchen. ({16}) Die F.D.P. hat Ihnen in Sorge um das Scheitern des internationalen Klimaschutzprozesses mehrfach die Zusammenarbeit angeboten ({17}) und Sie aufgefordert, sich entsprechend zu engagieren. Es geht um die Vermittlung zwischen Deutschland und Frankreich und darum, jetzt Gespräche mit der so genannten Umbrella-Gruppe, aber auch mit der G 77 und China zu führen, und zwar gleichermaßen; denn beide Ländergruppen sind besonders wichtig bei der Frage, ob es einen Kompromiss geben wird oder nicht. Sie haben heute erstmals deutlich gemacht, dass Sie sich in diesem Sinne einsetzen wollen. Das freut mich. Vielleicht es ist auch nur die Tatsache, dass Sie persönlich eine wenig erquickliche Aussicht haben, die Sie zum Handeln treibt. Denn eines ist klar: Diese Klimakonferenz wird in der Bundesrepublik Deutschland fortgesetzt; es wird in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn verhandelt werden. Wenn der Klimaprozess dann scheitert, wäre nicht nur das Image Deutschlands beschädigt, sondern dann wären auch Sie als Minister gescheitert. Ich möchte abschließend noch zu einem zentralen Punkt kommen, dass nämlich die F.D.P. nur noch über Emissionszertifikate reden würde, wie mir gerade wieder von Frau Ganseforth vorgeworfen wurde. ({18}) Zertifikate sind kein Selbstzweck, aber sie sind das Instrument der Wahl, um ein gewolltes umweltpolitisches Ziel punktgenau, mit wenig Bürokratie und kostenminimal zu erreichen, Frau Ganseforth. Deswegen redet die F.D.P. darüber und deswegen unterscheiden wir uns auch von Ihnen: Wir wollen mehr Marktwirtschaft im Umweltschutz, ({19}) größere Effektivität durch neue Instrumente, hin zu mehr umweltpolitischer Zielorientierung und damit wieder hin zu mehr Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern, weg vom Abzockerimage, das Sie der Umweltpolitik gegeben haben. ({20}) Wenn man mir hier entgegnet, wir seien noch früh genug dran, dann muss ich sagen: In Dänemark und in Großbritannien wird der Emissionshandel demnächst national eingeführt. In Deutschland weiß man im Umweltministerium gerade einmal, wie man das Wort „Emissionshandel“ schreibt. Hören Sie, Minister Trittin, mit Ihren Geheimzirkeln hinter verschlossenen Türen auf, führen Sie hier im Parlament einen konstruktiven Dialog! Wir wollen gerne mitarbeiten. Wir wünschen Ihnen viel Glück, dass zukünftig bei dem Prozess ein Erfolg erzielt wird. Wir können es uns für den Klimaschutz und für die künftigen Generationen nur wünschen. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Homburger, Sie haben von der hohen Kunst des Kompromisses gesprochen. Wenn man sich aber den Bericht der Münchner Rückversicherungsgesellschaft, der vor wenigen Tagen erschienen ist, zu Gemüte führt, der die Prognosen über den Klimawandel beschreibt, dann weiß man, dass es nicht primär um die Kunst des Kompromisses geht - das ist in der Tat eine hohe Kunst -, sondern vor allem um die Kunst des Klimaschutzes. ({0}) Noch eines vorweg: Sie sprachen vom Bundesumweltminister als einem Frosch. Das finde ich nicht gerecht. Ich finde es aber sehr wohl angemessen, von der F.D.P. als einem Chamäleon zu sprechen. ({1}) Wenn ich mir beispielsweise den Antrag der F.D.P. anschaue - das muss ich doch einmal sagen -, also diesen Antrag, der das Hohelied des Klimaschutzes singt, und ich als Unterzeichner den Kollegen Brüderle vorfinde, den Ritter gegen die ökologische Steuerreform, oder auch den Kollegen Solms, den Tankwart, der Benzin für 50 Pfennig verkaufen will, dann frage ich mich wirklich, ob das glaubwürdig ist. Ich glaube, das ist nicht glaubwürdig. ({2}) Zur Konferenz selber. Zunächst einmal möchte ich mich dem Dank anschließen, den hier alle Kolleginnen und Kollegen ausgesprochen haben: Die Zusammenarbeit mit der Regierung war vonseiten des Parlaments sehr gut. Die Türen standen immer offen; es gab vollständige Transparenz. Dafür auch von meiner Seite herzlichen Dank! ({3}) Ich möchte dieses Lob nicht nur an die Art der Zusammenarbeit zwischen Parlament und Regierung knüpfen, sondern ich möchte dem Minister auch ausdrücklich für seine Verhandlungsführung danken. Denn sie hat sich in der Tat auf der einen Seite durch Standfestigkeit und auf der anderen Seite durch Flexibilität ausgezeichnet. Frau Homburger, es ist ja nicht nur so, dass Sie nicht da waren; aber dass Sie obendrein auch die Zeitungen nicht gelesen haben, finde ich ziemlich schlimm. ({4}) Sonst hätten Sie nämlich festgestellt, dass die gesamte bürgerliche Presse, vom „Handelsblatt“ bis zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die Verhandlungsführung von Bundesumweltminister Trittin - übrigens gemeinsam mit dem BDI - ausdrücklich gelobt hat. Ich finde, Sie sollten sich dem anschließen. ({5}) Zu einem weiteren Punkt, den ich ansprechen möchte: Neben der ganzen Konferenz, zu der ich gleich inhaltlich komme, fand ich das ganze Umfeld wirklich beeindruckend. Es gab viele „side events“, viele Veranstaltungen nebenbei, bei denen die Industrie, bei denen die Umweltverbände - teilweise gemeinsam mit der Regierung eine Art Leistungsbilanz aufgemacht haben. Man konnte dort sehen, dass Deutschland in Sachen Klimaschutz eine führende Nation ist, und das ist gut so. Das ist übrigens auch parteiübergreifend anerkannt worden. Sie sollten jetzt hier keine Schaukämpfe führen, die es dort vor Ort gar nicht gegeben hat. Das geht wirklich an der Sache vorbei, Frau Homburger. Zum letzten Punkt meiner Vorbemerkungen: Es wurde, wenn ich mich recht erinnere, vom Kollegen Paziorek, moniert, dass sich die hohe politische Ebene nicht genügend um dieses Thema kümmere. Ich habe immer gesagt, es war gut, dass sich Helmut Kohl 1995 in Berlin als Bundeskanzler so ins Zeug gelegt hat. Das war prima; das Berliner Mandat hätte es nicht gegeben, wenn sich ExBundeskanzler Kohl nicht so hineingehängt hätte. Das ist vollkommen richtig - jederzeit Zustimmung! ({6}) Richtig ist aber auch, dass Bundeskanzler Schröder auf der letzten Vertragsstaatenkonferenz in Bonn eine wegweisende Rede zum Klimaschutz gehalten hat. Er hat dort angekündigt, dass wir unsere Hausaufgaben in Sachen Klimaschutz erledigen - und wir haben Wort gehalten. ({7}) Wir haben einen Bericht vorgelegt; Wort und Tat klaffen bei uns eben nicht mehr auseinander. Das ist ein wichtiger Unterschied. ({8}) Jetzt zu den Dingen, die in Den Haag erreicht worden sind. Es ist ja einiges erreicht worden - auch auf Initiative von Bundesumweltminister Trittin -, das in unserem Sinne ist. Zum ersten ist die Atomenergie aus dem Mechanismus betreffend die Entwicklungsländer, aus dem Clean Development Mechanism, herausgenommen worden. Das ist gut so. ({9}) Zum zweiten sind die Finanzmittel für die Entwicklungsländer aufgestockt worden, wenn auch maßvoll, was ich vernünftig finde. Wichtig ist für uns aber, dass die G 77, also die Entwicklungsländer, ein wichtiger Verbündeter war und ist. Wir haben in fast allen Fragen gemeinsam mit den Entwicklungsländern agiert. Auch das ist ein wichtiges Ergebnis unserer Verhandlungsführung. Auch dafür geht ein ausdrückliches Lob an die Europäische Union insgesamt. Was nun die Substanz betrifft, möchte ich Folgendes sagen. Ich möchte Sie ausdrücklich ermutigen, Herr Minister, bei Ihrer Linie zu bleiben, wenn es in den nächsten Tagen und Wochen darum geht, doch noch zu Potte zu kommen. Ich glaube, die Mischung zwischen Standfestigkeit und Flexibilität, die Sie angedeutet haben, ist genau die richtige. Ich will nur noch einmal für meine Fraktion sagen, welche Punkte uns besonders wichtig sind. Wir wollen, dass es zu tatsächlichen Emissionsminderungen kommt. ({10}) Man muss ganz klar sagen: Die Vorschläge, die Herr Pronk dort gemacht hat, hätten faktisch bedeutet, dass viele Länder ihre Emissionen nicht reduziert hätten, sondern dass sie sie hätten ausweiten können. Das ist für uns - ich glaube, da spreche ich für das gesamte Haus - nicht akzeptabel. Da muss man wirklich aufpassen. ({11}) Wir wollen nach wie vor - da kann man auch über das „wording“ reden -, dass der Löwenanteil der Reduktionsverpflichtungen zu Hause erfüllt wird, dass die Aktivitäten außerhalb der eigenen Landesgrenze zusätzliche Aktivitäten sein sollen - das ist ganz wichtig - und kein Ersatz für Aktivitäten im Inland. Das ist übrigens auch aus einer Perspektive der Innovationsdynamik heraus sehr wichtig; Wenn wir uns hier keine anspruchvollen Ziele mehr stellen, dann nehmen wir auch Druck aus dem Innovationskessel, und das ist nicht vernünftig. Wir wollen ja die Technologien von morgen und übermorgen produzieren und nicht nur unseren Status quo auf den Rest der Welt übertragen. Ich glaube, wir sollten weiterhin darauf drängen, dass mindestens der Löwenanteil der Reduktionen zu Hause erfolgt. Wir wollen auch, dass die Senken aus dem Clean Development Mechanism ausgeschlossen werden. Denn es kann ja wohl nicht wahr sein, dass die Entwicklungsländer auf der einen Seite keine Reduktionsverpflichtung haben, das heißt also, wenn sie ihre Tropenwälder abholzen, dann wird das nicht bilanziert, auf der Gegenseite, wenn die dort abgeholzten Flächen wieder aufgeforstet werden, dann aber sehr wohl die so vermiedenen Emissionen von unserer nationalen Minderungsschuld abgezogen werden können. Das ist klimapolitisch vollkommen unverantwortlich und wäre im Übrigen ein Schlupfloch, das die Integrität des Protokolls vollkommen aushöhlen würde. Das ist nicht tragfähig. ({12}) Wir wissen auch, dass bei den so genannten Artikel3.4-Senken, also Äcker, Wiesen und gemanagte Wälder, die Amerikaner, die Japaner und die Kanadier Konzessionen erwarten. Über so etwas spricht man nicht öffentlich. Gewisse Konzessionen sind, so würde ich sagen, vorstellbar, aber sie dürfen erstens die Integrität des Protokolls nicht aushöhlen und sie dürfen zweitens vor allem nicht systematisch ein Schlupfloch öffnen, das dann in den nächsten Verpflichtungsperioden ab 2012 zu so vielen Unwägbarkeiten im System führt, Frau Homburger, dass dann auch kein Emissionshandel mehr möglich ist. Wenn Sie nämlich ein System haben, in das von außen ständig sozusagen heiße Luft hineingeblasen werden kann, dann gibt es keine definierte Menge mehr, es können sich keine Preise bilden; also kann es auch keinen Emissionshandel geben. Deswegen müssen wir alle gemeinsam ein Interesse daran haben, dass dieses System klar definiert wird. Dann kann man sicher auch über Emissionshandel reden. Das ist überhaupt keine Frage. ({13}) Ich muss zum Schluss kommen, will aber für meine Fraktion noch so viel sagen: Wir haben ganz klar das Ziel, dass zehn Jahre nach Rio im Jahre 2002 das Rio-Protokoll in Kraft treten kann. Deswegen finde ich es sehr wichtig, in diesem Prozess ein Momentum zu erhalten, um das Protokoll ratifizierungsfähig zu machen. Dann wäre sozusagen ein großes Kind der Rio-Konferenz, nämlich die Klimarahmenkonvention und das entsprechende Protokoll dazu, in die Tat umgesetzt. Das würde den Prozess am Leben erhalten und würde vor allem auch international ein klares Signal geben. Die Initiative von Präsident Clinton, die ich nur begrüßen kann, deutet daraufhin, dass unsere Freunde aus den Vereinigten Staaten erkannt haben, dass sie auf der Konferenz in Den Haag schlicht und ergreifend überzogen haben. Niemand kann ein Interesse daran haben, dass der gesamte Prozess kollabiert. Summa summarum, Herr Minister: Flexibilität ja, aber - wie Sie gesagt haben - kein Abschluss um jeden Preis. Wenn man sich diese Dinge vor Augen führt, darf man Ihre Ausführungen ruhig wiederholen; es geht also nicht um Voluntarismus. Ich möchte die Regierung ausdrücklich ermutigen, darauf hinzuarbeiten, dass wir zu einem Ergebnis kommen. Wir wollen eine Doppelstrategie: Wir wollen auf der einen Seite das Kioto-Protokoll am Leben erhalten - sind dafür auch zu gewissen Abstrichen bereit - und auf der anderen Seite wollen wir uns auf die Schnellspur begeben, weil wir Klimaschutz nicht nur als Last, sondern auch als Chance für Innovation sehen und auf diese Weise unsere Verantwortung wahrnehmen wollen. Danke schön. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun die Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wem gehört die Atmosphäre? Kann man verkaufen, was man nicht besitzt? Unsere Urenkel werden sicherlich kopfschüttelnd zur Kenntnis nehDr. Reinhard Loske men, mit wie viel Ignoranz gegenüber ihren Lebensbedingungen die Staatsbürokratien Anfang dieses Jahrtausends den drohenden Klimakollaps verhandelten. Den Haag ist gescheitert, gescheitert wie so viele zaghafte Versuche, sich mit den reichen Industriestaaten anzulegen. Die Automobil-, Luftfahrt- und Erdölkonzerne sowie die Energieriesen mobilisieren mehr Lobbyisten als Umweltverbände oder pazifische Inselstaaten. Dies gilt nicht nur für die USA, Japan, Kanada oder Australien. Dies ist auch in Europa Realität. Ohne Zweifel gehörte die Verhandlungsposition der Europäischen Union zu den fortschrittlicheren. Deutschland ist mit seinem 25-Prozent-Kohlendioxid-Einsparziel vergleichsweise Vorreiter. Doch selbst dieser Reduktionspfad - wenn er denn tatsächlich beschritten wird - liegt deutlich unter den Erfordernissen nachhaltiger Klimapolitik. Wenn in BMU-Papieren oder UBA-Berichten auf den hinteren Seiten bisweilen erläutert wird, warum die Industriestaaten bis Mitte dieses Jahrhunderts 80 bis 90 Prozent CO2 einsparen müssen, reibt man sich verwundert die Augen. Wer ein wenig rechnen kann, wird schnell feststellen, dass auch Deutschland dieses Ziel um 20 Prozent verfehlen wird, und zwar um mindestens 20 Prozent. Denn um das Ziel zu erreichen, wäre Voraussetzung, dass die Einsparquoten von knapp 2 Prozent jährlich noch 50 Jahre eingehalten werden. Dass dies bei der gegenwärtigen Verkehrs-, Energie- und Infrastrukturpolitik der Bundesrepublik eine reine Illusion ist, liegt auf der Hand: Der Ostbonus ist aufgebraucht, schon jetzt erreicht deshalb die Reduktion kaum mehr als 1 Prozent pro Jahr. Der Verkehr auf der Straße wächst schier unaufhaltsam, der Luftraum wird gleichermaßen zum Stauraum, die Bahn dagegen zur Schrumpfbahn. Gleichzeitig werden klimarelevante Produktionen ins Ausland verlagert, die Liberalisierung des Strommarktes lässt den Umfang der Stromimporte ansteigen, Emissionen und andere Umweltprobleme werden nicht nur statistisch ins Ausland verschoben. So sieht es für den selbst ernannten Vorreiter im Klimaschutz aus. Die CO2-Minderungsziele von Kioto sind völlig fern jeder Sorge um diesen Planeten. Eine Einsparung um global 5,2 Prozent - geht es in diesem Tempo weiter, wird gerade einmal ein Viertel dessen eingespart, was bis zum Jahre 2050 nötig wäre. Doch nicht einmal die Vereinbarungen von Kioto sind durchsetzbar. Insbesondere die Vorturner in Sachen Menschenrechte, die Vereinigten Staaten, und das schillernde Vorbild für Innovationen und Flexibilität, Japan, blockieren. Sie versuchen sogar mit der Brechstange, die Schlupflöcher, die auch hierzulande von Teilen der Industrie wohlwollend begrüßt werden, weiter aufzureißen. Anscheinend sind Menschenrechte nur dann universal, wenn sie größtmöglichen Profit für eine privilegierte Minderheit auf dieser Erde garantieren, ({0}) COP 1 bis 35 sozusagen als Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln. Denn wer unter den globalen Umweltkatastrophen am meisten zu leiden hätte, ist schon heute Gewissheit: die ärmsten Regionen der Erde; die Menschen, die nicht ausweichen können; die Staaten des Südens, die sich bis heute noch nicht aus der neokolonialen Schuldenfalle herausstrampeln konnten. Das können Sie nicht bestreiten. Die Schuld am Scheitern von Den Haag wird nun hinund hergeschoben. Die Opposition rechts von mir prügelt auf Herrn Trittin ein. Das ist bequem und medial wirksam. ({1}) Doch wer Globalisierung, Flexibilisierung und Wachstum als Selbstzweck begreift und aus Eigennutz vorantreibt, benutzt engagierte Umweltminister lediglich als Klempner im Blaumann gegen Brüche an Dämmen, die man selbst unterhöhlt hat. Während seit Jahren Legionen von hoch bezahlten Beamten in Sachen Klimaschutz gehetzt durch die Welt jetten, trifft sich eine Hand voll Eliten gemütlich in Davos und regelt in drei Tagen das für sie Nötige. Die Wirtschaft ist tatsächlich effizienter - kein Wunder, denn sie sitzt bei uns am Hebel. Doch ich bin mir sicher: Die Proteste vor den Türen der Kongresscenter in Seattle, Prag und Den Haag waren erst der Beginn einer neuen Bewegung, einer Bewegung, die sich über die etablierten Institutionen und müden Helden nicht mehr Sorgen macht als nötig, einer Bewegung, die nachhaltige Entwicklung als das begreift, was sie sein muss, wenn sie funktionieren soll - sozial gerecht, dem umfassenden Schutz der natürlichen Umwelt und den Menschenrechten verpflichtet, einer Bewegung, die diese Werte nicht nur für Königswinter oder München, sondern auch für Kalkutta oder Mogadischu einfordert. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren! Es ist richtig, dass das Thema Klimaschutz wie kein anderes ein globales Thema ist und uns in aller Deutlichkeit die Einheit, aber auch die Zerbrechlichkeit der Erde zeigt. Insofern ist es traurig, dass der Geist von Rio, der vor zehn Jahren geherrscht hat, heute nicht mehr durch die Welt weht. Das muss man einfach feststellen. ({0}) Dahinter steckt, dass die Ökologie überall in der Welt nicht mehr als ein so zentrales Thema angesehen wird wie noch am Ende der zweigeteilten Welt und am Beginn des doch so hoffnungsvollen Erdgipfels von Rio. Es hat sich viel geändert. Frau Homburger, auch ich möchte ein Beispiel nennen, das deutlich machen wird - wenn Sie ehrlich sind, werden Sie das auch zugeben -, dass Sie sehr schief liegen. ({1}) - Doch, Sie gebärden sich angesichts der großen Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht, wie eine miese, rechthaberische Provinzpartei. ({2}) Ich nenne das Beispiel. Ich möchte nicht verhehlen, dass ich im Vorfeld von Rio sehr skeptisch war und manche Zugeständnisse von Herrn Töpfer kritisiert habe. Heute muss ich zugeben: Rio war eine große Leistung, obwohl vieles unkonkret geblieben ist. Trotzdem war Rio ein großer Sprung nach vorne. ({3}) Ich gebe auch zu: Klaus Töpfer hat einen großen Anteil am Erfolg von Rio gehabt, keine Frage. ({4}) Aber es muss Ihnen doch ein bisschen zu denken geben, dass gerade Klaus Töpfer - das stellt man fest, wenn man seine heutigen Interviews liest - der Politik der heutigen Bundesregierung sehr viel näher steht und sich mit ihren Ideen eher identifiziert - er vertritt und unterstützt beispielsweise die ökologische Steuerreform dieser Bundesregierung - als mit der Politik der Opposition. Das ist eine Tatsache. Wenn Sie seine Interviews lesen, dann können Sie das gar nicht anders interpretieren und werden auch feststellen, dass er beispielsweise - ich wiederhole es der ökologischen Steuerreform, aber auch vielen anderen Punkten unserer Politik zustimmt. ({5}) Entscheidend ist letztlich einzig und allein, was man tut. Was Sie überall ankündigen, ist uns allen, ehrlich gesagt, egal. In dieser Menschheitsfrage Klimaschutz kommt es darauf an, was man tut. Dabei ist einfach festzustellen: Die einen - wir - machen die Ökosteuer, die anderen - Sie - bekämpfen sie. ({6}) Sie suchen nur nach Scheinargumenten, um sich aus der Affäre zu ziehen. Das ist die Wahrheit. ({7}) - Nein, es ist so. Wenn ich mir beispielsweise Ihre früheren Modelle anschaue - ich erinnere an die von Herrn Rexrodt und an die von vielen anderen der heutigen Opposition -, dann stelle ich fest: Ihre damaligen Vorstellungen liegen näher bei unserem heutigen Modell als bei dem, was Sie jetzt fordern. Es ist leider so. ({8}) - Ich kann das an vielen Beispielen belegen. Aber vielleicht gehört es zur Logik der Oppositionsarbeit - möglicherweise war das auch bei uns manchmal so -, dass man die eigenen Positionen von früher schnell vergisst. Zwei Punkte bestimmen die Diskussion zum Klimaschutz heute. Erstens. Im Vorfeld von Den Haag - das ist noch nicht erwähnt worden - hat uns das IPCC noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt, wie alarmierend die Klimaänderungen sind. Sie wissen, dass es eine Zeit lang eine Diskussion mit dem Tenor gegeben hat, das alles sei nicht so schlimm. Die Berichte des IPCC sind eher gravierender ausgefallen, als wir im Vorfeld geglaubt haben. ({9}) Die zentrale These des IPCC lautet, dass wir mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von einem dramatischen, durch Menschen verursachten Klimawandel in diesem Jahrhundert ausgehen müssen. Das kann nur die eine Konsequenz haben: jetzt Motoren für die Ökologisierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu finden. An der Lösung dieser Aufgabe werden wir gemessen. Damit eng verbunden ist die Frage, ob die Bundesrepublik ein Motor in dieser Entwicklung ist. Herr Paziorek, Sie haben zu Recht gesagt: Wir haben nur einen Anteil von 4 Prozent am globalen CO2-Ausstoß. Abgesehen davon, dass das in Bezug auf unsere Bevölkerungszahl sehr viel ist, glaube ich, dass eine quantitative Betrachtung zwar wichtig, aber nicht entscheidend ist. Entscheidend ist vielmehr, dass einzelne wirtschaftlich starke Industriestaaten zeigen, dass Klimaschutz praktisch möglich ist, indem sie Schritte vorwärts machen, Klimaschutz umsetzen und nicht nur darüber reden. Das und nichts anderes ist es, was andere Länder unter Legitimationszwang stellt. ({10}) Mittlerweile haben sich die Daten sehr stark verdichtet. Die Simulationsberechnungen der Computer werden immer eindeutiger. Dabei geht man von einer um 2,5 Grad durch Menschen verursachte Erwärmung plus eine mögliche weitere Toleranz von bis zu 3 Grad - die Erderwärmung kann also auch deutlich höher ausfallen - in diesem Jahrhundert aus. Wir wissen über bestimmte Mechanismen - beispielsweise über die Reaktionen des Klimasystems auf die verstärkte Verdunstung - viel zu wenig. In vielen Bereichen gibt es bereits sehr gravierende Veränderungen an zentralen Systemen. Das fängt beim globalen Wasserhaushalt an, führt über den Anstieg des Kohlenstoffkreislaufs und geht bis hin zur Veränderung der Eiszonen. Dazu kommen längerfristige Trends der Wetterbeobachtung. Dies alles signalisiert uns: Die Ampel steht bereits auf Gelb; wir müssen endlich handeln, damit sie nicht auf Rot springt. ({11}) Das muss heute geschehen, weil es sonst zu spät sein wird. Der zweite wichtige Punkt ist das Scheitern der Konferenz von Den Haag. Wir kommen an der Erkenntnis nicht vorbei, dass einerseits ein Großteil der Welt mit der Einstellung „Gewinner und Verlierer“ an die Klimafrage herangeht und dass andererseits in vielen Bereichen der politische Gestaltungswille bzw. der Gestaltungsmut, sich mit starken wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräften anzulegen, fehlt, um für ein paar unbequeme Wahrheiten zu kämpfen. Michael Müller ({12}) Wer in der jetzigen Situation glaubt, dass nach einer zehnjährigen Debatte - die Diskussion begann in Genf 1990 mit der Festlegung der Reduktionsziele -, während der wir eine ständige Verringerung der Zielsetzungen erlebt haben, nun spontan ein großer Geist des Handelns durch die Welt fährt und bewirkt, dass alle das Notwendige tun, der erliegt einer Illusion. Der Schlüssel zum Erfolg ist die Beantwortung folgender Fragen: Erstens. Was tut die Bundesrepublik? Zweitens. Wie können wir mehr Gemeinsamkeit in der Europäischen Union herstellen? Wie können wir Europa zum Vorreiter ökologischer Politik, zum Vorreiter für mehr Klimaschutz machen? Drittens. Wie können wir diese beiden Ziele mit mehr Verantwortung für die Welt verbinden? ({13}) Das sind die drei Aspekte, die sich in der jetzigen Situation ergeben. Ich warne davor, auf immer neue Verhandlungen zu setzen und in der Zwischenzeit diese Schritte nicht zu machen. Wir wollen mehr Verhandlungen. Wir hoffen auch, dass die Clinton-Initiative etwas bringt. Aber sie wird nur dann etwas bringen, wenn wir unmissverständlich an unseren Minderungszielen in der Bundesrepublik, in Europa festhalten und wir jetzt Strategien entwickeln, die auch den Entwicklungsländern helfen. Ich bin sehr dafür, dass zum Beispiel die europäischen Banken Kreditprogramme für Klimaschutzmaßnahmen in den Entwicklungsstaaten auflegen. Wir müssen hier durch Zinsprogramme einen ersten Schritt machen; denn sonst passiert nichts. ({14}) Das wäre aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt nach vorn. Wir unterstützen die Haltung von Bundesumweltminister Trittin in Den Haag. Es ist wahr: Man muss auf solchen Konferenzen Flexibilität zeigen. Aber es ist ebenso wahr: Man muss auf solchen Konferenzen auch Standhaftigkeit zeigen. Beides gehört zusammen. Es nützt uns überhaupt nichts, wenn am Ende ein Beschluss herauskommt, von dem jeder weiß, dass er ein Rückschritt ist. Das darf nicht sein! Insofern wünschen wir dem Minister viel Glück, dass er vielleicht durch die Initiative von Clinton bei der Fortsetzung der Konferenz in Bonn mehr herausholen kann. Aber die Schlüsselfrage wird sein: Sind wir in der Bundesrepublik konsequent auf unserem Weg einer Neuordnung der Mobilität, einer Neuordnung der Energieversorgung und auch einer Neuordnung der Landwirtschaft? Auch das ist ein Thema des Klimaschutzes. Es sind nicht abstrakte internationale Fragen, es sind vor allem Fragen des Wirtschafts- und Lebensstils in den Industrieländern, um die es geht, und insofern sind es unsere Fragen, die wir zu beantworten haben, meine Damen und Herren. ({15}) Wir sind bereit, einen solchen Weg weiter zu vertiefen. Es passt nämlich nicht zusammen - um auch das zu sagen -, dass Sie auf der einen Seite mehr Klimaschutz fordern, auf der anderen Seite aber Kraft-Wärme-Kopplung und das Erneuerbare-Energien-Gesetz bekämpfen. Das passt nicht zusammen. ({16}) Wer Kritik an unserer Politik übt, der kann nicht auf der einen Seite sagen: Ihr macht zu wenig, und auf der anderen Seite das, was wir tun, ablehnen. Das passt nicht zusammen. Wir haben - Herr Paziorek, Herr Lippold und andere im Zusammenhang mit der Enquete-Kommission Klimaschutz, wie ich finde, ein gutes Beispiel für die Politikfähigkeit des Parlaments geliefert, wir haben damals sehr ehrgeizige Ziele entwickelt. Heute haben wir eine Reduzierung der Klimagase von etwa 18 Prozent und der CO2-Gase von etwa 15 Prozent erreicht. Das heißt, es fehlen noch etwa 100 Millionen Tonnen bei CO2 um unser Ziel zu erreichen. Das werden wir nicht auf internationalen Konferenzen erreichen, das werden wir nur national erreichen, indem wir unsere Politik auch gegen starken Widerstand fortsetzen. Es war ein positives Zeichen in Den Haag, dass große Teile der Industrie gesagt haben: Wir gehen auf diesem Wege mit. Natürlich sagen sie das auch aus eigenem Interesse, weil mit dieser Entwicklung neue Märkte und interessante Zukunftstechnologien verbunden sind. Aber das ist ein sinnvolles Motiv und auch ein guter Antrieb. Meine Damen und Herren, der entscheidende Punkt beim Klimaschutz wird also heißen: Was machen wir hier in der Bundesrepublik und in Europa? Nur wenn wir national glaubwürdig sind, können wir erreichen, dass auch international und global der Klimaschutz vorankommt. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte ausnahmsweise ein Wort des Kollegen Müller - mit dem ich sonst meist nicht einer Meinung bin - aufgreifen, weil er hier, glaube ich, Recht hat, wenn er von der Zerbrechlichkeit der Erde spricht und von unserem Auftrag, den Geist von Rio wiederzubeleben. Ich bin mir auch mit meinen Vorrednern einig: Das Debakel in Den Haag darf nicht das Ende der Klimaverhandlungen sein. Wir müssen rasch einen neuen Anlauf Michael Müller ({0}) nehmen. Wir dürfen uns nicht entmutigen lassen. Dafür steht auch für kommende Generationen einfach zu viel auf dem Spiel. Ich teile mit vielen die Enttäuschung über die USA. Sie waren zwar beileibe nicht die einzigen Bremser, aber der energiepolitische Wandel der USA vom Saulus zum Paulus war und ist entscheidend. Die USA sind die Nation mit dem mit Abstand größten Energieverbrauch - absolut und pro Kopf; es gibt Prognosen für ein gewaltiges Anwachsen des CO2-Ausstoßes. Sie sind aber auch die Nation mit einem gewaltigen Energieeinsparpotenzial. Nur mit den USA wird es gelingen, ein funktionierendes globales System einschließlich möglicher Handelssanktionen im Klimabereich aufzubauen. Dieser natürlichen Verantwortung auch für die Zukunft sind die USA zumindest in Den Haag nicht gerecht geworden. Sie haben mit zum Teil skurrilen Forderungen versucht, von ihren ursprünglichen Zusagen abzurücken. Ohne Zweifel hätte die Glaubwürdigkeit in Bezug auf den globalen Klimaschutz gelitten, wenn man sich in Den Haag darauf eingelassen hätte. ({1}) Es wäre aber falsch, den Amerikanern allein die Schuld zuzuschieben. Die Analysten der Konferenz weisen zu Recht darauf hin, dass es noch tiefer liegende Gründe für das einstweilige Scheitern gab. Es ist letztendlich nicht gelungen, alle offenen Enden des Kioto-Knäuels zusammenzufügen und eine Paketlösung zu schaffen. Es gab und gibt in diesem Zusammenhang zu viele Schwarzfahrer; zu viele haben seit Jahren um Sonderpositionen und Sonderrechte gekämpft. Das hat den Kioto-Prozess immer komplizierter gemacht. Die EU hat zwar erfreulicherweise einvernehmlich mit einer gemeinsamen Haltung geglänzt. Aber man muss sagen, dass auch der europäische Einigungsprozess immer wieder ungeheuer aufwendig ist und wahnsinnig viel Energie verbraucht, die dann am Schluss auf internationalen Konferenzen fehlt. ({2}) Ich glaube, dass die EU insgesamt kein besonders attraktives Energiekonzept der Zukunft hat, das Ökologie und Ökonomie verbindet und dadurch international überzeugt. Ich glaube auch, dass die Einbeziehung der Entwicklungs- und Schwellenländer noch immer nicht zufrieden stellend gelöst ist, obwohl in nicht einmal einer Generation Länder wie beispielsweise Indien, China und Indonesien das Weltklima durch ihre Emissionen stärker prägen werden als Deutschland und Europa. In diesen Punkten müssen wir in den nächsten Monaten substanziell weiterkommen, um den internationalen Klimaschutzprozess zu retten. Wir dürfen dabei keine Zeit verlieren, sondern wir müssen sofort mit diesen Vorbereitungen beginnen. Für mich gibt es drei Erfolgsbedingungen: Erstens. Wir müssen die Entwicklungs- und Schwellenländer stärker mit in die Verantwortung nehmen, sonst bleibt Klimaschutz eine Utopie. In diesem Punkt haben die Amerikaner Recht; denn die Entwicklungs- und Schwellenländer sind nicht nur rasch wachsende CO2Schleudern, sondern auch diejenigen Länder, die beim Klimaschutz die größten Fortschritte machen könnten, wenn wir ihnen helfen würden. Der spezifische Energieverbrauch der Entwicklungsländer ist nämlich im Vergleich mit dem mit moderner Technik erzielbaren Verbrauch sehr hoch. Auf der anderen Seite bestehen ein hoher Reinvestitionsbedarf bei hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten und auch die Chance auf beachtliche Mengeneffekte aufgrund der hohen Bevölkerungs- und Beschäftigungszahlen. ({3}) - Ja. Aber der Erfolg wird sich nur einstellen, wenn es auf breiter Front zum Einsatz von neuer Technologie kommt. Das heißt, es muss einen gewaltigen Technologietransfer geben, der wiederum voraussetzt, dass die bestehenden Handlungsansätze schneller zu einem ordentlichen Deal verquickt werden, bei dem der Süden rascher als bisher in die Verantwortung genommen wird und dafür vom Norden stärker als bisher unterstützt wird. In einem Punkt sind wir offensichtlich nicht einer Meinung: Ich würde nicht an der starren 50-Prozent-Grenze für CO2-Reduktionsmaßnahmen festhalten, wenn es um die Unterstützung der Entwicklungsländer geht. In Den Haag sind auch die Adaptionsfonds angesprochen worden. Ich halte eine vorsichtige Ausweitung für richtig ({4}) - einen Moment, Frau Ganseforth -, aber unter dem Dach der Global Environmental Facilities, der GEF, die sich bewährt hat. Ich glaube, wir sollten keine neuen Organisationen gründen, sondern an denen festhalten, die wir haben. ({5}) Frau Ganseforth, ich sage auch an Ihre Adresse: Es ist unerlässlich, dass wir auch national ein stärkeres Gewicht auf die Entwicklungspolitik legen. Der Engländer Prescott hat eine 50-prozentige Erhöhung des englischen GEF-Beitrags angeboten. Dies sollte auch für uns Ansporn sein, den freien Fall der deutschen Entwicklungshilfe sofort zu stoppen und sie wieder nach oben zu fahren. ({6}) Auch dazu muss man dann stehen. Denn Qualität allein bringt nichts, wenn kein Geld mehr da ist. Die Bundesregierung ist als drittgrößter Beitragszahler auch aufgefordert, der Weltbank auf die Finger zu klopfen, die noch immer 80 Prozent der Mittel für Energieprojekte in fossile Energien steckt. ({7}) Die zweite Voraussetzung ist für mich genauso wichtig. Man muss viel stärker als bisher an einem insgesamt attraktiveren Energiekonzept der EU, und zwar ökonomisch wie ökologisch, arbeiten. ({8}) Derzeit existiert eine europäische Energiepolitik der Widersprüche. Das sieht man zum Beispiel an den regenerativen Energien, die wie ein gemischter Salat sind, aber auch an der Atompolitik. Für die einen ist Atompolitik vollkommen normal, für die anderen ist sie des Teufels; die einen steigen ein, die anderen steigen aus. Das Ganze ist mit vielen volkswirtschaftlichen Unsinnigkeiten gespickt, die sich die Entwicklungsländer nicht leisten können und die Amerikaner nicht leisten wollen. Dazu muss ich eines sagen: Da spielt die rot-grüne Bundesregierung eine EU-Vorreiterrolle in der falschen Richtung, nach dem Motto: Wie mache ich Klimaschutz möglichst teuer, möglichst unbeliebt ({9}) und möglichst ineffizient? Gerade hinsichtlich der Ökosteuer, Herr Müller, können wir uns lange darüber unterhalten. Bei einem Output von 10 Millionen Tonnen ist die Ökosteuer ({10}) - das hat Trittin gesagt - mit ihrem riesigen Aufwand wirklich für die Katz. ({11}) - Nein, Herr Müller, das stimmt doch nicht. Ich bitte Sie um eines: Reden wir ehrlich über das, was jeder beschlossen hat. ({12}) Die Beschlüsse, an denen ich mitgewirkt habe, kenne ich ganz genau. Wir haben nicht so etwas wie Ihre Ökosteuer, sondern etwas Intelligenteres, Effizienteres und Kostengünstigeres beschlossen. ({13}) Jetzt komme ich zu den Amerikanern und damit zu der dritten Voraussetzung. Die Amerikaner müssen mit ins Boot. Man kann vielleicht sagen, die Amerikaner seien ökologisch nicht so sensibel. Aber ökonomisch sind sie sensibel. Wenn wir sie ins Boot bekommen wollen, müssen wir ihnen eine Konzeption anbieten, die Ökologie und Ökonomie einigermaßen ins Lot bringt. ({14}) Auch über die CO2-Senken müssen wir nachdenken. Ich möchte das Thema nicht länger ausführen. Aber bei uns geht es doch nicht nur um Primitivaufforstung, Feuerschneisen oder diese widersinnige Pfluggeschichte, sondern es geht tatsächlich um die Erhaltung der wichtigen Speicher in den bestehenden Wäldern. Alle Wissenschaftler sagen uns, dass diese Speicherfunktion gerade jetzt wichtig ist, bis man das Problem im Griff hat. ({15}) Ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass man keine faulen Kompromisse eingehen und sich nicht aus der Verantwortung stehlen darf. Was auch immer angerechnet wird: Es muss dabei eine ehrliche und nachprüfbare Verhinderung oder Reduktion des Treibhausgasausstoßes erzielt werden. In diesem Sinne unterstützen wir eine möglicherweise härtere Gangart Europas gegenüber großen Verhindererstaaten. Klimaschutzverpflichtungen in dem nötigen und geplanten Umfang sind auch ein gewaltiges Wettbewerbselement. Eine Verweigerungshaltung ist daher nicht nur umweltpolitisch verantwortungslos, sondern verzerrt ebenso in gravierender Weise die ökonomische Chancengleichheit. Auch aus diesem Grunde ist Kämpfen angesagt, allerdings nicht nur vonseiten des Umweltministers. Dafür steht zu viel auf dem Spiel. Wir fordern, dass sich endlich unser Autokanzler Schröder - trotz der Rede, die er angeblich gehalten hat ({16}) um die entscheidenden Fragen der Zukunft stärker kümmert und sich auch hier ein Beispiel an seinem Vorgänger Helmut Kohl nimmt, dem wir in der Klima- und Umweltpolitik international viel zu verdanken haben. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Ruck, Ihre Redezeit ist deutlich überschritten. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mein letzter Satz ist: Wir werden die rot-grüne Bundesregierung kritisch, aber konstruktiv beim internationalen Klima- und Umweltschutz begleiten. Wir wünschen der rot-grünen Bundesregierung viel Erfolg. Aber diese Regierung muss erst noch beweisen, dass sie nicht nur internationale Einbrüche, sondern auch internationale Durchbrüche erzielen kann. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine Weltklimakonferenz scheitert nicht alle Tage. Ein solches Scheitern hat Gründe; Herr Minister Trittin hat diese vorhin umfassend dargestellt. Wir wollen keine faulen Kompromisse bei der Umsetzung des Kioto-Protokolls, sondern Lösungen, die für alle Beteiligten tragfähig sind, also für die Länder des Nordens wie auch für die Entwicklungsländer im Süden. Das gilt auch für die entwicklungspolitischen Aspekte des Klimaschutzes. Die Konferenz in Den Haag ist zwar an den zentralen Umweltverpflichtungen gescheitert, es gab aber auch bei den Entwicklungsthemen im engeren Sinn, vor allem bei Fragen des Finanz- und des Technologietransfers, zwischen den Entwicklungsländern und den Industrieländern Differenzen; das sollten wir nicht unter den Tisch fallen lassen. Diese Differenzen liegen vor allem in der Frage, wie die internationale Umweltfinanzarchitektur weiterentwickelt werden soll, um den berechtigten Forderungen der Entwicklungsländer nach breiteren Maßnahmen des Klimaschutzes und der Anpassung an den Klimawandel auch im Süden gerecht zu werden. Wir meinen, wir müssen bei der internationalen Zusammenarbeit im Umweltbereich auf die bewährten Institutionen setzen. Man kann meiner Meinung nach Forderungen aus den Reihen der Gruppe der 77 und aus China, neue Institutionen zu schaffen, nicht nachgeben. ({0}) Die Instrumente für finanzielle und technische Unterstützung sind vorhanden. Sie müssen zwar in dem einen oder anderen Punkt an neue Herausforderungen angepasst werden - dafür setzt sich auch die Bundesrepublik Deutschland international sichtbar und erfolgreich ein -, die Effektivität dieser Instrumente kann aber nicht grundsätzlich bezweifelt werden. Vor allem möchte ich die globale Umweltfazilität nennen. Sie ist das zentrale Finanzinstrument für globale umweltpolitische Maßnahmen und ist der Finanzmechanismus der Klimarahmenkonvention. Die globale Umweltfazilität, die GEF, muss gestärkt aus den Klimaverhandlungen hervorgehen. Wenn wir das nicht erreichen, dann schlagen wir jahrelange Projekt- und Programmerfahrungen im Klimabereich in den Wind und setzen die konstruktive Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern im multilateralen Bereich langfristig aufs Spiel. ({1}) Dafür müssen wir unter unseren europäischen Freunden und bei den Partnerländern im Süden verstärkt werben. Herr Repnik, ich hoffe dabei auf Ihre Unterstützung, denn dies war schon 1992 in Rio auch Ihr Anliegen. Ich danke, dass Herr Ruck in seinem Beitrag diese Position der Regierung mitgetragen hat. Welche Rolle spielen nun die Entwicklungsländer im Verhandlungsprozess? Der Bundesumweltminister hat gesagt, bei den zentralen Fragen der umweltpolitischen Integrität des Kioto-Protokolls stünden sie auf der Seite der EU - das ist gut so -; denn sie haben ein ureigenes Interesse am Klimaschutz. Die Entwicklungsländer sind nämlich die Hauptbetroffenen von zukünftigen Klimaveränderungen. Häufigere Dürren, Stürme oder Überschwemmungen treffen Entwicklungsländer viel härter: zum einen wegen ihrer anfälligeren Ökosysteme, zum anderen wegen ihrer derzeit sehr geringen Kapazität, sich auf Wetterextreme einzustellen. Es ist aufgrund der Ergebnisse von Rio unsere Verpflichtung, aber auch ein Gebot der Vernunft, die Entwicklungsländer bei Klimaschutzmaßnahmen und bei Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel zu unterstützen. Das sollten wir vor allem für die ärmsten unter ihnen, aber auch für die kleinen Inselstaaten tun. Die Bundesregierung hilft hier im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit bereits engagiert und erfolgreich mit ganz differenzierten Instrumenten. Die Zahlen belegen dies - Herr Ruck, ich möchte Ihnen da widersprechen -: Im bilateralen Geschäft stellen wir für den Klimaschutz im Jahr 2001 500 Millionen DM zur Verfügung. Davon entfallen allein 200 Millionen DM auf den Bereich der erneuerbaren Energien. Im multilateralen Bereich leistet Deutschland einen Beitrag von 12 Prozent zu den Einlagen der globalen Umweltfazilität. Die anstehende dritte Wiederauffüllung muss unserer Meinung nach wesentlich höher ausfallen, um die anspruchsvolle Umweltagenda zu erfüllen. Wir freuen uns, dass es uns der für das Jahr 2001 vorgesehene etwas höhere Haushaltsansatz für die Entwicklungszusammenarbeit erlaubt, gezielter im Klimaschutz - und damit auch für den Schutz der Wälder - aktiv zu werden. ({2}) Sie sehen also: Entwicklungspolitik spielt eine ganz prominente Rolle im internationalen Klimaschutz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die schwierigen Verhandlungen in Den Haag - auch die zu den Finanzierungsfragen - müssen in den Kontext des Rio-Folgeprozesses eingeordnet werden. Wollen wir langfristig die Entwicklungsländer zu dauerhaften Verbündeten unserer klima- und umweltpolitischen Agenda machen, müssen wir ihren berechtigten Interessen auch in anderen internationalen Foren Gehör und Beachtung verschaffen. ({3}) Die nächste Gelegenheit dazu - Herr Präsident, ich komme gleich zum Schluss - ist die am Montag in Bonn beginnende Wüstenkonferenz, bei der wir mit anderen Vertragspartnern über die Umsetzung der VN-Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung verhandeln werden. Der Zusammenhang zum Thema der heutigen Debatte liegt auf der Hand: Die Desertifikation hat gravierende Auswirkungen auf das Weltklima.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kollegin, jetzt müssen Sie wirklich zum Ende kommen. ({0})

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Herr Präsident, Sie waren bei den Rednern der CDU/CSU sehr großzügig. Das haben Sie Herrn Ruck auch gesagt. Ich weiß aber, es steht mir nicht an, mit Ihnen zu verhandeln.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Genau. Kommen Sie bitte zum Ende.

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Ich möchte also betonen, dass wir unseren Beitrag zum Klimaschutz in den nächsten 14 Tagen in Bonn leisten werden, wenn dort die internationale Staatengemeinschaft zur Bekämpfung der Wüstenbildung zusammenkommt. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Entschlie- ßungsantrag auf Drucksache 14/4887 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zu über- weisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4890 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwie- sen werden. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie Zusatzpunkt 3 auf: 4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Lohmann ({0}), Horst Seehofer, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Abschaffung der sektoralen Budgets in der ge- setzlichen Krankenversicherung - Drucksache 14/4604 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Dieter Thomae, Detlef Parr, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung einer angemessenen Vergütung psychotherapeutischer Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung - Drucksache 14/3086 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({2}) - Drucksache 14/4889 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ruth Fuchs, Dr. Ilja Seifert, Monika Balt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Existenzsichernde Vergütung der psychotherapeutischen Versorgung gewährleisten - Drucksachen 14/2929, 14/4889 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Größere Verteilungsgerechtigkeit bei kassenärztlichen Honoraren - Drucksache 14/4891 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({4}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Sabine Bergmann-Pohl, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor vier Tagen hatte ich mit einer Gruppe jüngerer Frauen, die an einem fortgeschrittenen Rheuma erkrankt sind, ein ausführliches Gespräch. Besonders berührt hat mich die Schilderung einer jungen Frau, die aufgrund ihrer Erkrankung ihre Arbeit verloren und keine Chance auf eine Neueinstellung hat. Sie wurde berentet. Während ihrer Beschäftigung hatte sie regelmäßig an Rehabilitationsmaßnahmen teilgenommen mit dem Ergebnis, dass es ihr subjektiv besser ging und dass auch der Medikamentenverbrauch mit den entsprechenden Nebenwirkungen zurückging. Seit ihrer Berentung verweigert ihr die Krankenkasse nun Rehabilitationsmaßnahmen. Physiotherapie wird nicht mehr verordnet und bei der Verschreibung von bestimmten Medikamenten gibt es erhebliche Probleme. ({0}) - Sie können doch nicht das infrage stellen, was die Patientin erzählt hat. ({1}) Typisch für Ihre Politik ist doch, dass Sie völlig an den Patienten vorbeiregieren. ({2}) Meine Damen und Herren, was ist das eigentlich für eine Politik, wenn den Bedürftigen ({3}) - hören Sie doch einmal zu, Frau Schmidt-Zadel -, also den chronisch Schwerkranken, die notwendige, angemessene medizinische Hilfe verweigert wird? Das ist die Folge der rot-grünen Gesundheitspolitik, die von Budgets und Staatsmedizin geprägt ist. ({4}) Frau Fischer, wenn Sie die Zahlen der GKV-Finanzentwicklung für das erste bis dritte Quartal 2000 dahin gehend kommentieren, dass Sie auch im nächsten Jahr konsequent auf Ausgabenbegrenzung setzen müssen, aber eine gute medizinische Versorgung sichern und weiterentwickeln wollen, dann frage ich mich ernsthaft, ob Sie überhaupt noch merken, was Sie den kranken Menschen in unserem Lande antun. ({5}) Sie sind völlig auf eine Ausgabenbegrenzung fixiert, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, welche Auswirkungen Ihre einfallslose Politik hat. Übrigens: Wenn Sie sagen, Sie wollen die Ausgaben begrenzen, aber trotzdem den medizinischen Fortschritt fördern, dann frage ich Sie, wie das eigentlich gehen soll. Denn die Diabetesbehandlung kostet insgesamt 8 Milliarden DM mehr, wenn sie nach den neuesten medizinischen Erkenntnissen durchgeführt wird. Wie Sie das zusammenbringen wollen, müssen Sie mir wirklich einmal erklären. ({6}) Wenn Sie Ihr Sparziel dadurch erreicht sehen, dass bei steigenden Kosten den Menschen das medizinisch Notwendige verweigert wird - na dann: herzlichen Glückwunsch! Die von Ihnen beschworene gute medizinische Versorgung in Deutschland ist ein Opfer rot-grüner Realität geworden, nämlich Opfer einer unsozialen Gesundheitspolitik. ({7}) Das wird vor allem im vierten Quartal eines Jahres deutlich, denn dann sind die Budgets ausgeschöpft. ({8}) - Die Aufregung auf Ihrer Seite macht doch deutlich, dass ich Recht habe. ({9}) Eine Studie der Gmünder Ersatzkasse hat ergeben, dass im vierten Quartal des letzten Jahres bei 27,4 Prozent der behandelten Patienten Arzneimittel, die sie bisher erhalten haben, von ihrem Arzt verweigert wurden. Nach einer „Emnid“-Umfrage bekamen 59 Prozent der Patienten, bei denen in den letzten zwölf Monaten ein Arzneimittel abgelehnt wurde, als Grund die Budgetierung zu hören. ({10}) Teure und aufwendige, aber notwendige Behandlungen werden zum Privileg derer, Frau Schmidt-Zadel, die es sich leisten können. ({11}) Oder ist es zum Beispiel Ihr Ziel, dass Medikamente zu Weihnachten auf dem Gabentisch landen? Nachdem Sie 1998 zu den Wahlen unsere angeblich so unsoziale Gesundheitspolitik gebrandmarkt haben, fiel Ihnen zur Kostenbegrenzung nichts Besseres als Budgets ein, obwohl bereits 1995/96 deutlich wurde, dass Budgets kaum geeignet sind, nicht berechtigte Ausgabensteigerungen zu steuern. Die Menschen haben das übrigens längst durchschaut, denn sie müssen jetzt nicht nur zuzahlen, sondern eine Vielzahl der Leistungen selbst bezahlen. ({12}) Was soll denn zum Beispiel eine Patientin nach einer Krebsoperation machen, wenn sie aus Budgetgründen die notwendige Lymphdränagenbehandlung nicht mehr erhält oder wenn - wie mir ein Patient am Dienstag erzählte - die Finanzierung einer lebensnotwendigen Plasmapheresebehandlung infrage gestellt wird? Frau Fischer, warum geben Sie es eigentlich nicht zu? Budgets sind eben nicht die Lösung. Das ist etwas von gestern und nicht die Innovation von morgen. ({13}) Sie verlagern das Erkrankungsrisiko auf den Patienten bzw. auf den Arzt oder schaffen Verschiebebahnhöfe zum Beispiel zu unnötigen, teuren Krankenhausbehandlungen. ({14}) Wir hatten übrigens sinnvollere Lösungsansätze, und zwar, Herr Schuster, mit dem Neuordnungsgesetz 1997 die Einführung budgetablösender Richtgrößen. ({15}) Damit Sie es verstehen, noch einmal: Dabei werden individuell zielgerichtet medizinische Indikationen und nicht rein ökonomische Faktoren zum Maßstab des Handelns gemacht. ({16}) Das Prinzip arztindividueller Richtgrößen steigert die Eigenverantwortlichkeit des Arztes. Es liegt doch auf der Hand: Individuelle Verantwortung des einzelnen Arztes ist etwas Besseres als das sozialistische Instrument der Kollektivhaftung. ({17}) - Herr Kirschner, Sie hören eben nicht zu. Ich habe gesagt: 1995/96 haben wir festgestellt, dass das überhaupt nicht funktioniert. ({18}) - Im Übrigen waren Sie 1993 einer von denen, die uns das aufgedrückt haben. Das wollte ich Ihnen einmal sagen. ({19}) Bei der eben angesprochenen Kollektivhaftung haftet der Arzt, der wirtschaftlich handelt, für einen anderen Arzt, der unwirtschaftlich handelt. Das kann überhaupt nicht funktionieren. Auch eine Budgetierung der vertragsärztlichen Gesamtvergütung ist eben nicht der richtige Weg. Regelleistungsvolumina mit einem vorab vereinbarten Punktwert würden den so genannten Hamsterradeffekt verhindern. Nur zielgerichtetes und nicht budgetiertes Handeln zwingt zu ökonomischem Verhalten. ({20}) Oder wie es ein Sachverständiger in der Anhörung zur Abschaffung der Arzneimittelbudgets formulierte: „Alles das, was für Budgets spricht, geht auch mit Richtgrößen nur besser.“ Das war übrigens jemand, der, glaube ich, Ihrer Partei nahe steht. ({21}) Entlarvend ist übrigens auch die Aussage der Ministerin in der Haushaltsdebatte von letzter Woche. Ich zitiere wörtlich: Wenn sich Ärzte in ihren Praxen darüber beklagen, sie hätten unzureichende Budgets, dann meinen sie die Richtgrößen ... Nach dieser Äußerung wird mir klar, dass Sie die Steuerungsinstrumente in der gesetzlichen Krankenversicherung offensichtlich immer noch nicht begriffen haben. ({22}) Ein vermeintlich anderes Thema birgt die gleiche Problematik: die Vergütung psychotherapeutischer Leistungen. Auch hier hat die Politik der rot-grünen Bundesregierung das Versorgungsniveau erheblich beeinträchtigt. Zugegeben: Wir haben uns alle hinsichtlich der Zahl der zuzulassenden Psychotherapeuten verschätzt. Aber die Vergütung psychotherapeutischer Leistungen ist durch die Abschaffung von Zuzahlungen pro Therapiesitzung und einer fortlaufenden Budgetierung in den Keller gesunken ({23}) - ich komme gleich darauf, Herr Kirschner; Sie sollten sich die aktuellen Zahlen ansehen -, und zwar mit der Folge, dass die Psychotherapeuten kaum noch ihre Betriebskosten bezahlen können. Sie müssen sich dabei vor Augen halten, ({24}) dass für die Erbringung psychotherapeutischer Leistungen die Zeit ein wesentlicher Faktor ist. Also hat das Bundessozialgericht einen Punktwert von 10 Pfennig als Richtschnur für eine adäquate Vergütung angelegt. Ihr Staatssekretär, Herr Jordan - Herr Kirschner, hören Sie zu -, hat am 25. Oktober 2000 ({25}) im Ausschuss behauptet, dass man zwar Anfang des Jahres eine sehr schwierige Lage bei den Psychotherapeuten gehabt habe, sich jetzt aber die Lage stabilisiert habe, weil im Laufe des Jahres 1999 der Punktwert erheblich angestiegen sei, und zwar auf 8 bis 9 Pfennig. Ich frage Sie allen Ernstes: Wohnen Sie im Wolkenkuckucksheim? ({26}) Aus den Unterlagen der KBV geht hervor, dass der durchschnittliche Punktwert im vierten Quartal 1999 in den alten Bundesländern bei 6,59 Pfennig und in den neuen Bundesländern bei 5,52 Pfennig lag. Im Jahresdurchschnitt lag er bei 6,83 und 4,73 Pfennig. Ich verstehe nicht, wie der Staatssekretär auf solche Zahlen kommen kann. ({27}) Auch im Jahre 2000 hat sich die Situation nicht verbessert. Für nicht genehmigungspflichtige Leistungen, das heißt probatorische Sitzungen, wird in Berlin eine Therapiestunde sogar nur mit 1,74 DM vergütet. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen! ({28}) Die Folge ist der Qualitätsverlust; denn Psychotherapeuten müssen aus wirtschaftlichen Gründen eine schnelle Entscheidung über die Notwendigkeit einer Behandlung fällen. Übrigens: Die von Ihnen so viel gepriesene und neu eingeführte Soziotherapie findet praktisch nicht statt, weil sie den Budgets geopfert wurde. Sie verlagern das Morbiditätsrisiko von den Krankenkassen in die Honorarverteilung der Ärzteschaft und schaden damit den Patienten, die eine psychotherapeutische Behandlung dringend benötigen. Die Stützung der genehmigungspflichtigen Leistungen nützt den Therapeuten nicht viel. Ein Vorwegabzug der Vergütung der psychotherapeutischen Leistungen aus der Facharztvergütung löst das Problem ebenfalls nicht; denn dadurch kommt es zu Verteilungskämpfen zwischen den Fachärzten und den Psychotherapeuten. Wir setzen uns auch hier für Regelleistungsvolumina mit einem vorab fest vereinbarten Punktwert ein. ({29}) Denn auf Dauer kann es nicht angehen, dass man einzelne Fachrichtungen durch Sondermaßnahmen stützt. Frau Fischer, wir fordern Sie auf: Heben Sie die Budgetierung auf! Stärken Sie die Eigenverantwortung der Patienten und machen Sie die Leistungen transparent! ({30}) Führen Sie im Bereich der Psychotherapie wieder eine angemessene sozial abgefederte Selbstbeteiligung der Patienten ein! Verlegen Sie das Morbiditätsrisiko dorthin, wo es hingehört, zu den Krankenkassen! Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung müssen sich am medizinischen Bedarf der Patienten orientieren. Ökonomische Interessen dürfen nicht zum alleinigen Handlungsmaßstab in der Gesundheitspolitik gemacht werden. ({31}) Wir brauchen also für die Herausforderungen der Zukunft wesentlich intelligentere Lösungen als Ihre einfallslosen Budgets. Meine Damen und Herren, aufgrund der großen Aufregung bei der SPD-Fraktion, als ich die praktischen Beispiele vorgestellt habe, stelle ich fest, dass Sie offensichtlich den Bezug zur Realität und zu den Bürgern völlig verloren haben. ({32}) Wenn Sie mit den Bürgern reden und fragen würden, wie das in der Praxis läuft, dann kämen Sie zu den gleichen Erkenntnissen wie ich. ({33}) Aus diesem Grund, Herr Kirschner, erwarte ich einfach von Ihrer Partei - die Grünen scheinen es nicht begriffen zu haben -: Kehren Sie zurück zu den Maßstäben, ({34}) die wir einmal mit unserer gemeinsamen Reform 1993 und mit unserem Neuordnungsgesetz 1997 gesetzt haben! ({35}) Vielen Dank. ({36})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Kirschner, SPD-Fraktion.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Dr. Bergmann-Pohl, wenn Sie hier das Beispiel einer Patientin anführen, dann nennen Sie doch Ross und Reiter. Wenn es so ist, wie Sie sagen - der MD der zuständigen Kasse und die Kassenärztliche Vereinigung sollen sich einmal die Versorgung dieser Patientin ansehen -, wird hier offensichtlich der Versorgungsauftrag nicht erfüllt. ({0}) - Ja. Zu Ihren Klagen über die Reha: Frau Dr. BergmannPohl, wer hat denn die Reha-Leistungen heruntergefahren? ({1}) Ich will noch etwas sagen, wozu ich schon einen Zwischenruf gemacht habe. Sie selbst haben zu besseren Zeiten die Budgets eingeführt, weil Sie wussten, dass dies ein wichtiges Steuerungsinstrument ist. Wenn Sie hier IGEL anbieten, heißt das im Klartext: Die Patienten zahlen und medizinisch notwendige Leistungen werden ihnen vorenthalten. Nach Ihrem Programm, das Sie mit „Der faire Sozialstaat - Eine neue Politik für eine neue Zeit“ betiteln, wollen Sie auf zwölf Beitragssatzpunkte herunter. Sie müssen den Menschen aber einmal sagen, wo Sie die dafür notwendigen 25 Milliarden DM einsparen wollen. ({2}) Dann werden die Leute nämlich genau die Heilmittel nicht mehr bekommen, die sie jetzt angeblich nicht mehr bekommen, wobei ich sagen muss: Das Budget reicht dafür aus. ({3}) Sie werden den Menschen keine häusliche Krankenpflege mehr gewähren können. Sie werden Leistungen streichen müssen. Hier müssen Sie einmal Farbe bekennen. Aber davor drücken Sie sich und machen ein schönes Papier, dessen Inhalt sich gut anhört. Aber bei genauem Hinschauen wird deutlich, wie sehr die darin enthaltenen Maßnahmen die Patienten treffen. Jetzt spreche ich die CDU/CSU zu ihrem Antrag zur Abschaffung der sektoralen Budgets an: Wenn Sie wirklich der Meinung sind, dass die sektoralen Budgets abgelöst werden sollen, muss ich Sie fragen: Warum haben Sie unseren Vorschlag im Rahmen der Gesundheitsreform 2000, zur Steuerung der Gesamtversorgung Globalbudgets einzuführen, abgelehnt? ({4}) Damit würde genau die von Ihnen geforderte Flexibilität zwischen ambulanter und stationärer Behandlung erreicht werden. Warum haben Sie es abgelehnt, eine sinnvolle Datentransparenz herzustellen, die es uns ermöglicht, der Selbstverwaltung bessere Steuerungsinstrumente an die Hand zu geben? Damit haben Sie das verhindert, was Sie nun in Ihrem Antrag als Durchreichen vom Hausarzt zum Facharzt und zum Krankenhaus beklagen. Sie werfen den Ärzten vor, Patienten ungerechtfertigt ins Krankenhaus abzuschieben. ({5}) - Das steht so in Ihrem Antrag. - Dazu nenne ich Ihnen einmal die Zahlen der AOK Baden-Württemberg. Bei den Krankenhäusern haben wir einen Drehtüreffekt erreicht, bei dem sich bei einer steigenden Patientenzahl um 0,53 Prozent im Vergleich 1998 zu 1999 die Fallzahlen auf 0,84 Prozent vermehrt haben. Dies ist also eine Fallzahlsteigerung um mehr als die Hälfte. Sie müssen sich die Zahlen ansehen. Weiterhin behaupten Sie, die Patienten würden nicht mehr ausreichend mit Arzneimitteln versorgt. Sie berufen sich dabei auf eine vom VFA in Auftrag gegebene Studie. Dazu muss ich zuerst einmal eine grundsätzliche Bemerkung machen: Allein der regionale Vergleich von KV zu KV zeigt ein höchst unterschiedliches Verordnungsverhalten. ({6}) Wo und wie bestimmen Sie denn eigentlich anhand dieser Daten, welche KV die Patienten richtig versorgt? Stattdessen übernehmen Sie interessengeleitete Aussagen des VFA, um die Patienten zu verunsichern. Der Erkenntniswert dieser Studie ist etwa so aufschlussreich, als wenn Sie die Zigarettenindustrie fragen, ob die Bevölkerung auch ausreichend mit Zigaretten versorgt ist.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Kirschner, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin BergmannPohl?

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kirschner, können Sie mir erklären, warum Sie arztindividuelle Richtgrößen ablehnen, aufgrund derer ein Arzt sein Budget bekanntermaßen viel besser überblicken kann, und dafür sektorale Budgets einführen, wodurch die Ärzte in eine Kollektivhaftung geraten? Können Sie mir sagen, ob das eine Qualitätsverbesserung bei der medizinischen Versorgung der Patienten bedeutet?

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Kollegin Dr. Bergmann-Pohl, geben Sie zu, dass arztbezogene Richtgrößen, die Sie fordern, wodurch der Arzt in die Haftung genommen wird, ({0}) - ja, sehr gut, Herr Kollege Dr. Thomae -, eigentlich Budgets sind? ({1}) Sie können doch nicht auf der einen Seite ständig die Budgets anprangern und dann arztbezogene Richtgrößen als alleiniges Steuerungsinstrument einsetzen wollen. ({2}) Damit führen Sie nämlich Einzelbudgets ein. ({3}) Das trifft vor allen Dingen die Hausärzte, die nach wie vor die Hauptlast tragen. Entweder haben Sie das nicht begriffen oder Sie machen den Leuten etwas vor: Wenn Richtgrößen das alleinige Steuerungsinstrument sein sollen, dann sind sie nichts anderes als arztbezogene Budgets. ({4}) - Ja. Es ist ja schön, wenn Sie plötzlich sagen, Sie brauchen Budgets. ({5}) Auf der anderen Seite aber lehnen Sie Budgets ab. Sie wollen die KVen aus der Verantwortung herausnehmen, damit sie sich nicht mehr um die wirtschaftliche Steuerung kümmern müssen. Sie verlagern dies ausschließlich auf die Ärzte, insbesondere auf die Hausärzte, und lassen sie damit im Stich. Wenn Sie dies wollen, werden die Hausärzte der Pharmastrategie ganz besonders ausgesetzt; das wissen Sie genau. ({6}) Meine Damen und Herren, Sie behaupten in Ihrem Antrag, es würden nicht ausreichend Lipidsenker eingesetzt. Das ist eine Diskriminierung der niedergelassenen Ärzte. Sie verschweigen nämlich - ich habe mir die Zahlen angesehen -, dass sich das Volumen dieser Arzneimittelgruppe von 1994 bis 1999 mehr als vervierfacht hat mit Ausgaben von 1,5 Milliarden DM. Das müssen Sie sich einmal anschauen. Was die neuen Depressionsmittel angeht, so zitiere ich aus der neuesten Ausgabe einer Fachzeitschrift vom September/Oktober: Die Einkäufer von Gesundheitsleistungen sollten ihre Ausgaben für die Behandlung von Depressionen noch einmal überdenken. Die Einführung der modernen Antidepressiva hat zu einem enormen Ausgabenanstieg geführt, der angesichts der verfügbaren Forschungsergebnisse über Wirksamkeit und Nebenwirkungen nicht zu rechtfertigen ist. Ich will Ihnen an dieser Stelle noch einmal die Arzneimittelausgaben der GKV darlegen, weil Sie behaupten, das reiche nicht. 1998 betrugen diese Ausgaben der GKV 34,66 Milliarden DM. 1999 waren es 37,57 Milliarden DM. Das ist eine Steigerung um 2,9 Milliarden DM. In diesem Jahr beträgt die Steigerung in den ersten drei Quartalen 3,5 Prozent. Internationale Vergleiche zeigen - das können Sie doch nicht negieren -, dass wir bei den Arzneimittelausgaben pro Kopf im europäischen Vergleich einen Spitzenplatz belegen, ohne dass entsprechende Effekte auf den Gesundheitszustand der Bevölkerung erkennbar sind. ({7}) Bei der Lebenserwartung liegen wir lediglich im Mittelfeld der Industrienationen, haben aber international den zweithöchsten und in Europa den höchsten Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt. Alles in allem steht genügend Geld zur Verfügung. Deshalb ist die Forderung nach mehr Geld falsch. Die zentrale Fragestellung lautet doch: Kommen die 225 Milliarden DM - bei 260 Milliarden DM Gesamtausgaben -, die die GKV in diesem Jahr ausschließlich für medizinische Leistungen ausgibt, behandlungs- und zielgenau bei den Patienten an oder werden Gelder für nicht qualitätsgesicherte oder pseudoinnovative Therapien vergeudet? ({8}) Im Übrigen - auch diese Zahlen will ich Ihnen nicht vorenthalten - wurden 1998 in Deutschland durchschnittlich 11,3 Arzneimittelpackungen mit 378 definierten Tagesdosen in Höhe von 501 DM je Versicherten in der GKV verordnet. Auf die Bevölkerung übertragen heißt dies, dass im Durchschnitt jeder Versicherte - ich betone: jeder Versicherte - von der Geburt bis zum Tod dauertherapiert wird, wenn man von der einzig zulässigen Annahme ausgeht, dass jede Arzneimittelbehandlung auch therapeutisch notwendig ist. ({9}) Das heißt, dass jeder GKV-Versicherte - die Betonung liegt auf „jeder“- eigentlich krank und deshalb medikamentös behandlungsbedürftig ist. Ich möchte es noch einmal betonen, Frau Kollegin Dr. Bergmann-Pohl: Der von Ihnen eingeschlagene Weg der Richtgröße als alleiniges Instrument würde den Druck auf die niedergelassenen Ärzte unerträglich steigern. ({10}) - Sie wollen doch ausschließlich die Richtgrößen als Budgets. Davon rede ich doch. Sie lehnen auf der einen Seite die Budgets ab und sagen, die Budgets seien Teufelszeug, aber Sie wollen gleichzeitig alleinige Budgets einführen. Ich sage Ihnen: Damit entlassen Sie die Kassenärztlichen Vereinigungen aus ihrer Verantwortung für eine rationelle Pharmakotherapie. Das sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und sie sind damit mittelbare Staatsverwaltung. Sie sind im Auftrag des Gesetzgebers tätig. Übrigens ist das keine parteipolitische Angelegenheit. Ich denke, das stellen auch Sie nicht in Frage. Das haben Sie auch immer gewollt. Es gibt dann zu den interessengesteuerten Informationen der Pharmaindustrie kein institutionell verankertes Gegengewicht mehr. Das ist das Problem. ({11}) - Lieber Kollege Dr. Thomae, jetzt muss ich Ihnen einmal etwas vorlesen. ({12}) Passen Sie einmal auf: Gemeinsam mit Ihren Verbänden beziehen Sie seit Monaten deutlich Position gegen die rot-grüne Bundesregierung. Ich hoffe, Sie wissen, wovon Sie schreiben, Herr Dr. Gerhardt. Ihr Interesse vorausgesetzt, würden wir Sie gerne in den kommenden Wochen in unsere Kampagne gegen die rot-grüne Gesundheitspolitik einbinden. Sie erhalten dann auch Einladungen von uns zu aktuellen gesundheitspolitischen Veranstaltungen der F.D.P. Sollten Sie mit uns gemeinsam versuchen wollen, die rot-grünen Budgets aufzuheben, so wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie uns beiliegende Faxantwort zukommen ließen. Da eine breit angelegte Kampagne gegen diese Gesundheitsreform nur mit entsprechendem Mitteleinsatz - also Geld ({13}) zu führen ist, bitten wir Sie um eine zweckgebundene Spende. ({14}) Wir versichern Ihnen, dass dieses Geld einzig für die Kampagne gegen die Gesundheitsreform genutzt wird. Jetzt kommt es: Ihre Spende ist im Rahmen der üblichen parteiengesetzlichen Regelungen steuerlich absetzbar. Meine Damen und Herren, Sie fordern dazu auf: Die sollen spenden. - Eine solche Kampagne soll auch noch steuerlich absetzbar sein! ({15}) Ich finde, das ist wirklich eine tolle Nummer, ({16}) die Sie hier abziehen. Das muss man wirklich sagen. ({17}) - Ja, das ist unglaublich; da haben Sie völlig Recht, Herr Kollege Merz. Es ist unglaublich, was die F.D.P. treibt. Sie fordert zu Spenden auf, die für eine Kampagne genutzt werden sollen, und dies soll auch noch steuerlich absetzbar sein. Sie haben völlig Recht: Das ist ungeheuerlich. Ich teile völlig Ihre Meinung. ({18}) Meine Damen und Herren, statt immer neue Rezepte zu erfinden, wie Sie die Patienten bei der Arzneimittelversorgung - auf nichts anderes läuft es doch bei Ihnen hinaus - ({19}) - Sie sind wahrscheinlich nicht einmal in der gesetzlichen Krankenversicherung, Herr Kollege Dr. Gerhardt. Sie predigen den Leuten Wasser und trinken den Wein. Das ist doch das A und O der Politik, die Sie betreiben; das müssen Sie doch zugeben. ({20}) Statt dass Sie immer darüber nachdenken, wie Sie die Patienten für Arzneimittel neu zur Kasse bitten können - darauf läuft es hinaus -, sollten Sie, wenn Sie so viel über Marktwirtschaft reden, einmal Antworten auf die Frage geben, wie Sie es mit der Verordnung über Preisspannen halten, wie Sie es damit halten, dass die Kassen Rabatte neu aushandeln oder Preisverhandlungen mit den Lieferanten selbst führen können. ({21}) Marktwirtschaft ist für Sie immer eine Einbahnstraße zulasten der Bürgerinnen und Bürger. ({22}) Zusammenfassend: Ihr Antrag verunsichert die Bürger. Sie treten eine Kampagne los, ebenso wie Herr Koch in Hessen. Sie verängstigen die Kranken ({23}) und es dient bestenfalls den Profiten der pharmazeutischen Industrie. ({24})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Dr. Dieter Thomae für die Fraktion der Freien Demokraten das Wort.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon erstaunlich, dass die Mitglieder der SPD, aber auch der Grünen keine Gespräche mehr mit Selbsthilfegruppen führen. ({0}) In der Vergangenheit waren Sie auf diesem Gebiet viel aktiver. Sie haben sehr häufig Argumente in die Debatte eingebracht, die von den Selbsthilfegruppen vorgetragen wurden. ({1}) Heute finden diese Gespräche anscheinend nicht mehr statt, ({2}) sonst wüssten Sie, wie es gerade bei den chronisch Kranken aussieht. Ein Professor, der im Gesundheitsbereich sehr aktiv ist, hat mir vor wenigen Tagen gesagt: Die Versorgung von chronisch Kranken in der Bundesrepublik Deutschland nimmt massiv ab. Sie werden immer schlechter versorgt. Das sind die Fakten. ({3}) - Das liegt an den Budgets, sehr geehrte Frau SchmidtZadel. Es ist erstaunlich, dass zu einer Anhörung von der SPD, auf Bitten von Herrn Schmidbauer, gewisse Patientenverbände nicht eingeladen werden. Sie verweigern also Patientenverbänden die Möglichkeit, eine kritische Stellungnahme abzugeben. ({4}) Von daher, Herr Schmidbauer, ist Ihre Politik schon sehr verwirrend und unehrlich. Lassen Sie mich etwas zu unserem Brief an die einzelnen Organisationen und Verbände sagen. In der Tat halten wir die rot-grüne Politik im Gesundheitsbereich für eine Katastrophe. ({5}) Die Budgetierung ist nichts anderes als eine Aufgabe - ich sage das einmal so brutal - für Geistlose. ({6}) Wir haben diesen Fehler auch gemacht, aber dass Sie den Fehler zum zweiten Mal machen, ist eine große Katastrophe. Sie geben sich selbst auf. ({7}) Hinzu kommt noch Folgendes: Schauen Sie doch einmal, was Sie in den zwei Jahren gemacht und welche Summen Sie dem System entzogen haben. Ich könnte Ihnen jetzt zehn Beispiele aufzählen. Sie haben dem System in zwei Jahren insgesamt rund 10 Milliarden DM entzogen. ({8}) Da behaupten Sie, Sie könnten die Qualität genauso sichern wie in der Vergangenheit? Das sind doch Ammenmärchen! ({9}) - Wissen Sie, Herr Schuster, Ihre Strukturreform und Ihre Hoffnungen in diese Reform sind bisher in keiner Weise aufgegangen. Ihre Netze funktionieren nicht. Diese Träume sind vorbei. Gehen Sie durch Deutschland und schauen Sie sich die Netze an. Dann werden Sie feststellen, dass die Netze in der Regel erheblich teuerer sind als die Normalversorgung. Lassen Sie mich jetzt auf die Thematik zurückkommen, die heute ansteht. Sie haben dem System 9 bis 10 Milliarden DM entzogen und Sie behaupten, Sie könnten dies alles über Rationalisierungsreserven kompensieren. Sie haben nur bisher nie belegt, wie Sie das machen wollen. Sie haben noch nicht einmal bei der Vertragsgestaltung Veränderungen herbeigeführt. Das Gravierende ist: Sie verlagern diese Problematik auf die Patienten, weil sie wegen des Budgets nichts mehr erhalten. Sie wollen eine hundertprozentige Selbstbeteiligung und wollen das Morbiditätsrisiko vollständig auf die Ärzteschaft verlagern. Das zeigt sich besonders beim Psychotherapeutengesetz. Schauen Sie sich in der Bundesrepublik Deutschland ganz emotionslos an, was Sie bisher in diesem Bereich organisiert haben. Die Honorierung und die Versorgung sind miserabel. Das Verrückte dabei ist: Es kann ja gar kein Geld verschleudert werden, weil die Krankenkassen vorweg genehmigen müssen, ob eine Behandlung erfolgt oder nicht. Die Krankenkassen sagen: Eine Behandlung ist notwendig. - Aber sie wird miserabel honoriert. So kann es nicht weitergehen. Dieser Berufsstand geht vor die Hunde! ({10}) Sie wollten etwas anderes. Sie haben gemeinsam mit uns ein Gesetz auf den Weg gebracht. Damals waren wir weitgehend einig; heute zerstören Sie diesen Berufsstand. Ich bitte Sie dringend: Überlegen Sie genau, wie Sie in diesem Bereich fortfahren wollen. Es gibt doch Vorschläge. Bei den Psychotherapeuten ist das nicht so schwierig: Erstens wird die Leistung des Psychotherapeuten genehmigt. Zweitens sind die Leistungen stundengebunden; sie sind nicht unendlich vermehrbar. Drittens muss ein fester Punktwert vereinbart werden. Das sind unsere Vorstellungen. Es gibt dazu keine Alternative. ({11}) Ich gebe Ihnen Recht, Frau Bergmann-Pohl: Auch in den anderen Bereichen müssen wir mit festen Punktwerten arbeiten. Natürlich werden in einer Übergangsphase auch Grenzen gezogen werden müssen. ({12}) Das wissen wir. Wir müssen aber auch den Ärzten und Psychotherapeuten eine Sicherheit für ihre berufliche Ausbildung geben. ({13}) - Pflegeleistungsvolumina sind der richtige Weg, wir haben sie damals auf den Weg gebracht und ich halte sie heute noch für richtig. ({14}) Sie müssen mit Ihrer Politik, alles über Budgets zu organisieren, ({15}) egal ob Globalbudgets oder sektorale Budgets, einsehen, dass Sie es gar nicht organisieren können. Sie haben Ihre Pläne doch aufgegeben, weil Sie gemerkt haben, dass die Krankenkassen nicht bereit waren, daran mitzuarbeiten, weil man es nicht organisieren kann. Man muss ehrlich sein und eingestehen, wie die Fakten sind: Die Krankenkassen waren doch dazu gar nicht in der Lage. Sie haben nur davon geträumt, dies auf den Weg zu bringen. Sie haben es nicht realisieren können. Sie haben sich in einem weiteren Antrag mit der Kopfpauschale beschäftigt. Ich halte das für ein ganz wichtiges Thema. Wir werden diese Thematik sicherlich im Ausschuss noch ausgiebig besprechen müssen. ({16}) Ihre Lösungsvorschläge gefallen mir nicht. Doch wir sind uns darüber einig, dass das Problem gelöst werden muss. Diese Thematik muss noch sehr gründlich besprochen werden; eine schwierige Frage in diesem Zusammenhang ist das West-Ost-Problem. ({17}) Wir sind bereit, über diese Themen mit Ihnen sehr sorgfältig zu diskutieren. Dennoch sage ich Ihnen eines: Überlegen Sie - ich weiß, dass es auch in Ihren Reihen viele Diskussionen gibt -, ob das Budget wirklich sinnvoll ist. ({18}) Es gibt Kollegen in Ihren Reihen - zum Beispiel Klaus Kirschner -, die offen sagen: Wir müssen in eine andere Richtung gehen. ({19}) Einige Ihrer Kollegen sagen das bei Veranstaltungen. Von daher bitte ich Sie wirklich umzudenken. Eigentlich erwarte ich von den Sozialdemokraten eine bessere Lösung als das Budget. Lassen Sie mich noch eines sagen: Budgets und DRGs passen nicht zusammen. Entweder räumen Sie den potenten Krankenhäusern Wettbewerbschancen ein - dann müssen Sie das Budget abschaffen - oder Sie lassen es. In diesem Zusammenhang möchte ich eine weitere Bitte äußern: Ich glaube, Ihre politische Entscheidung, die DRGs kurzfristig innerhalb von drei Jahren einzuführen, wird nicht erfolgreich sein. ({20}) Die Umstellung auf ein solch schwieriges System, für die andere Staaten zehn Jahre gebraucht haben, sollten Sie nicht überstürzen. Es wäre schade um die Fallpauschale; es wäre schade, wenn dieses Konzept scheitern würde. Wir haben damit angefangen und Sie setzen das jetzt fort. Ich bitte Sie wirklich, zu überlegen, wie man dieses System vernünftig etablieren kann, und zwar ohne Hektik und ohne Überstürzung. Denn davon hat unser Gesundheitssystem nichts. Schaffen Sie die Budgetierung ab, dann können wir miteinander reden. Ich denke, das wäre ein sinnvoller Weg für uns alle. ({21})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht für die Bundesregierung die Bundesministerin für Gesundheit, Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe schon letzte Woche gesagt: Auch mich erfüllt es mit Sorge, wenn ich höre, welche Kriege alltäglich in den Arztpraxen geführt werden, und mich erfüllt es mit Sorge, wenn Menschen gesagt wird, sie bekämen notwendige Medikamente nicht mehr. Ich bin selbstverständlich der Auffassung, dass wir solchen Missständen nachgehen müssen und dass wir sie nicht zulassen dürfen. ({0}) Wenn einen solche Probleme mit Sorge erfüllen, muss man gründlich und ehrlich darangehen, zu überlegen, was da passiert ist. ({1}) In diesem Zusammenhang stellt sich eine interessante Frage. In unserem System sind in den letzten Jahren - ich rede jetzt nur über Arzneimittel, weil das der Punkt ist, an dem sich alles kristallisiert - die Ausgaben deutlich gestiegen. Herr Kirschner hat bereits zu Recht darauf hingewiesen. Im internationalen Maßstab betrachtet, geschah der Anstieg nicht von einem niedrigen Niveau, sondern von einem hohen Niveau aus. Wenn die Ausgaben die ganze Zeit über gestiegen sind, muss man sich aber fragen: Wieso bricht in einem solchen System, das weltweit als eines der teuersten, aber leider nicht als eines der wirtschaftlichsten bzw. effektivsten gilt, plötzlich die kollektive Armut aus? Sie sagen: Das liegt alles an den Budgets. - Tut mir Leid: Das ist eine außerordentlich einfältige Erklärung für dieses Problem. ({2}) Wenn ich mir den Antrag der CDU/CSU anschaue, dann muss ich feststellen, dass Sie - das ist interessant nicht mehr Geld, sondern den Ausbau der Steuerungsinstrumente - in diesem Fall sind es die Richtgrößen; darauf komme ich gleich noch zu sprechen - und die Einführung von Regelleistungsvolumina fordern. Offensichtlich scheinen Sie nicht der Auffassung zu sein, dass insgesamt nicht genug Geld für Arzneimittel ausgegeben wird. Das entnehme ich jedenfalls Ihrem Antrag. Offensichtlich scheint das Problem nur der Steuerungsmechanismus zu sein. Reden wir also über den Steuerungsmechanismus. Was läuft bei der Steuerung falsch, sodass es zu Effekten kommt, die wir nicht wollen? Sie sagen - darauf ist gerade schon einmal hingewiesen worden -: Wir wollen, dass das auf den einzelnen Arzt heruntergebrochen wird und dass dieser individuell verantwortlich ist und nicht sozusagen das Kollektiv. ({3}) Ich nehme an - bislang habe ich das von Ihnen noch nicht gehört -, dass Sie die ärztliche Selbstverwaltung in Form der Kassenärztlichen Vereinigungen - diese sind sehr alt und historisch gewachsen und wurden damals auf Wunsch der Ärzte eingerichtet, weil diese aus den einzelnen Knebelverträgen mit den Kassen heraus wollten, die es gab, bevor es die jetzige Form der ärztlichen Selbstverwaltung gab - so belassen wollen. Wenn Sie sagen: „Die Kassenärztlichen Vereinigungen sollen in Zukunft keine Verantwortung mehr haben; vielmehr soll nur noch der einzelne Arzt Verantwortung übernehmen“, dann stellen sich zwei Fragen: Erstens: Fährt der einzelne Arzt damit besser? Zweitens: Wozu gibt es dann noch Kassenärztliche Vereinigungen? ({4}) - Entschuldigung, Herr Präsident, könnten Sie mir helfen, damit ich meine Rede fortsetzen kann? Alle Instrumente wie Richtgrößen und Regelleistungsvolumina, deren Einführung Sie fordern, gibt es bereits. Im Sozialgesetzbuch V sind die Regelleistungsvolumina weiterhin festgeschrieben, und zwar als eine Möglichkeit für die Kassenärztlichen Vereinigungen, die Honorare aufzuteilen. Ich zitiere § 85 Abs. 4 des Sozialgesetzbuches V: Insbesondere kann vorgesehen werden, dass die von einem Vertragsarzt erbrachten Leistungen bis zu einem bestimmten Umfang ({5}) nach festen Punktwerten vergütet werden. Ich erspare Ihnen weitere Zitate. ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt die Möglichkeit, Zwischenfragen zu stellen. Ich bitte Sie, davon Gebrauch zu machen.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Die Frage ist doch: Was bedeutet „Budget“? Bedeutet ein Budget einfach nur, dass das Geld begrenzt ist? Ich antworte: Ja, das wird so sein; das wird auch so sein, wenn Sie wieder an die Regierung kommen. Vielleicht würden Sie am Anfang mehr Geld in das Gesundheitssystem fließen lassen und würden die Beiträge oder die Zuzahlungen erhöhen. Das ist zwar alles möglich. Aber das Geld ist schon begrenzt. Wenn das unter dem Begriff „Budget“ zu verstehen ist, dann können Sie dem nicht widersprechen. ({0}) - Frau Bergmann-Pohl, nur weil Sie jetzt so aufgeregt sind, wird das, was Sie sagen, auch nicht besser. Wenn das Problem - diesen Unterschied habe ich gerade klarzumachen versucht - offensichtlich nicht darin besteht, dass die Geldsumme begrenzt ist - das wird es immer sein -, dann müssen wir über die Steuerungsinstrumente reden. Das Gesetz sieht vor, dass die ärztliche Selbstverwaltung zusammen mit den Krankenkassen die Arzneimittelausgaben festlegt, die jährlich angepasst werden sollen. Dafür stehen ihr - ich empfehle Ihnen, noch einmal einen Blick in das Gesetz zu werfen - viele Instrumente zur Verfügung. Es gelten folgende Kriterien: Veränderung der Zahl und der Altersstruktur der Versicherten; Einführung von innovativen, also von neuen und vielleicht auch teureren, Medikamenten; Veränderung der Preise; Veränderungen im Leistungskatalog und bestehender Wirtschaftlichkeitsreserven. Das alles muss sie berücksichtigen. Ich lasse gerne mit mir darüber reden, ob sie noch mehr berücksichtigen soll. Auf jeden Fall stehen alle diese Kriterien so im Gesetz. Übrigens, sie sollen sich zwar an dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität orientieren, aber sie sind nicht dazu verpflichtet. Es ist möglich, zusätzliche Gelder für ein neues, innovatives Mittel zu vereinbaren, wenn nachgewiesen werden kann, dass sehr viele Menschen das bekommen müssen. Es gibt übrigens Kassenärztliche Vereinigungen, die an diesem Punkt alle Instrumente, die im Gesetz enthalten sind, klug nutzen. Es geht zum Beispiel um die Spezialpräparate, auf die ich nun zu sprechen kommen will. Der Vorwurf, innovative Arzneimittel, die, was die Therapie angeht, für die Patienten einen großen Fortschritt bedeuten, würden aufgrund unserer Sparpolitik nicht mehr verschrieben, wiegt besonders schwer. Ich verweise darauf, dass im Jahr 1999 die Anzahl der Verschreibungen der Spezialpräparate - es geht um die kostspielige Behandlung von Aids, Krebs, Multipler Sklerose, um Dialysepatienten - um 15,2 Prozent gestiegen ist. ({1}) - Herr Thomae, bloß weil Ihnen die Zahl nicht gefällt, brauchen Sie jetzt nicht das Feld zu wechseln. Jetzt reden wir von den teuren Spezialpräparaten. Der Umsatz bei den Spezialpräparaten liegt inzwischen bei 4,7 Milliarden DM. Der Anteil der Spezialpräparate am gesamten Arzneimittelmarkt ist gestiegen. Interessanterweise muss man sagen, dass die Verwendung dieser Präparate in den KV-Regionen sehr stark variiert. Auch an den Zahlen für dieses Jahr lässt sich schon ablesen, dass dieser Trend anhält. Außerdem stellt sich die Frage, ob wir insgesamt etwas drauflegen müssen oder ob es im Bereich der Arzneimittel Medikamente gibt, die substituiert werden können, weil man sie nicht mehr braucht, da es inzwischen Besseres gibt, oder weil man bislang Unsinn verordnet hat. Zur VFA-Dokumentation - sie versucht zu belegen, dass die Verschreibung dieser Präparate nicht mehr erfolgt - sage ich nur eines: Am auffallendsten ist - ich habe das letzte Woche schon gesagt -, dass es sich bei einem beträchtlichen Teil der Medikamente, über deren Nichtverordnung Klage geführt wird, um solche handelt, die schon seit der Regelung 1992 über die Bagatellmedikamente von der Verordnung durch die gesetzliche Krankenversicherung rechtlich ausgeschlossen sind. Das haben Sie damals gemacht. Sie sind immer diejenigen, die fordern, nur Grundleistungen und das medizinisch unbedingt Notwendige zu gewähren. Deswegen ist es richtig, dass die Bagatellmedikamente ausgeschlossen sind. Hören Sie auf, mit dieser schlechten Studie zu argumentieren. ({2}) Natürlich hat uns auch die Frage beschäftigt, ob es zu einer richtigen Leistungsverweigerung kommt, die medizinisch problematisch ist. Wir können nur sagen: Die Aufsichtsbehörden der Länder, die nach meinem Kenntnisstand nicht alle rot-grün geführt sind, haben uns dies für das letzte Jahr, 1999, nicht systematisch bestätigt. Darauf verweise ich Sie. Sie müssten einmal dort nachfragen. Wir haben uns dort informiert, weil es uns selbstverständlich Sorge bereitet, wenn diese Art von Klage geführt wird. Nur der Vollständigkeit halber verweise ich darauf, dass die Anzahl der Verschreibungen von Nachahmerpräparaten in unserem Land zwar deutlich gestiegen ist, aber nicht den Grad erreicht hat, der nach allgemeiner Einschätzung der Wissenschaftler erreichbar ist. Trotz der eingetretenen Verbesserungen möchte ich zu den umstrittenen Arzneimitteln Folgendes sagen: Würde genauer hingeschaut werden, was eigentlich verschrieben wird, dann könnte man immer noch deutlich weniger ausgeben - die Rede ist von Zahlen in Milliardenhöhe - und man hätte Luft für die neuen und guten Medikamente, also für die Spezialpräparate. Ich komme auf die ärztliche Selbstverwaltung zu sprechen. Wir stellen fest: Es gibt ganz große Unterschiede, wie die Selbstverwaltungen die ihnen übertragene Aufgabe wahrnehmen, wie sie damit umgehen, dass sie das Arzneimittelbudget in der Hand halten. Die Kassenärztliche Vereinigung Südbaden macht seit Jahren gute Erfahrungen damit, dass sie Ärzte berät ({3}) und ihnen Hinweise über den Stand der Wissenschaft gibt. Wenn das nicht geschieht, dann ist die Alternative dazu, dass Ärzte ausschließlich von den Pharmavertretern beraten werden. Ob das im Sinne des Verbraucherschutzes wirklich richtig ist, will ich infrage stellen. Wollen Sie den Arzt in dieser Angelegenheit eigentlich ganz alleine lassen? Kann jemand, der schon zwölf Stunden am Tag gearbeitet hat, immer, was den neuesten Stand der Wissenschaft - neue Medikamente etc. - angeht, auf dem Laufenden bleiben? Ist die ärztliche Selbstverwaltung nicht auch dazu da, diese Beratungsaufgabe wahrzunehmen? ({4}) Man muss feststellen, dass die Kassenärztlichen Vereinigungen dieser Aufgabe in höchst unterschiedlicher Qualität nachkommen; deswegen wird eine bestimmte Kassenärztliche Vereinigung immer als positives Beispiel zitiert. Wir können aber auch sagen - das erspare ich jetzt den infrage kommenden KVen -, wo das überhaupt nicht der Fall ist. Es zeigt sich, dass es sich um genau diejenigen Bereiche handelt, in denen die Ärzte mit ihrem Budget nicht auskommen, wo es den ganzen Ärger und die Schwierigkeiten gibt. ({5}) Ich möchte noch auf Folgendes aufmerksam machen: Uns begegnet jedes Jahr der Hinweis, am 7. November des letzten oder dieses Jahres sei das Budget aufgebraucht. Das ist eine bemerkenswerte Aussage angesichts der Tatsache, dass in fast keiner der Kassenärztlichen Vereinigungen für das Jahr 2000 bislang überhaupt eine Budgetvereinbarung getroffen wurde. Darüber hinaus gibt es in den Kassenärztlichen Vereinigungen das Problem - das wird uns ja auch immer vorgehalten -, nämlich die Daten über das Verordnungsverhalten zeitnah zu bekommen. Das wollen wir übrigens ändern, unter anderem über die Erhöhung der Transparenz und andere Dinge. ({6}) Aber wenn es so schwierig ist, diese Daten rechtzeitig zu bekommen, wieso kann man dann eigentlich auf Tag und Stunde genau ausrechnen, wann das Budget erschöpft ist? Dann muss ich doch noch einmal - das kann ich Ihnen nicht ersparen - sagen -: wir sind ja immer noch bei den Ursachen dafür, dass es zu diesen Berichten kommt, die unbestritten sind -: Es gibt teilweise große Mängel bei dem, was die Selbstverwaltung macht. Das wird, glaube ich, auch gesteuert. Wir hatten schon ein Beispiel. Ich möchte jetzt, mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, aus der Zeitschrift „BDI-Rundschreiben“ - offizielles Mitgliederrundschreiben vom Berufsverband Deutscher Internisten - zitieren: Der Rationierungsdruck muss raus aus den Praxen und hinein in die Kassen. Dazu wiederholen wir eine Aktion, die bereits mit fühlbarem Erfolg durchgezogen wurde: Bei Verschreibungen von Medikamenten und Heilmitteln, die das medizinisch diskussionslos Erforderliche übersteigen, wird dem Patienten der Konflikt mit dem Budget erklärt. Als Lösungsmöglichkeit soll der Patient die Krankenkasse befragen, ob sie zahlt, und bejahendenfalls die Freistellung von Regresszahlungen bestätigen lassen. Jetzt folgt der Verweis auf ein Formular, das der Patient bekommt. Es heißt jetzt weiter: Der Kassenarzt ... muss wissen, dass es sich um eine berufspolitische Demonstration handelt. Kern der Sache ist, dass die einzelne Krankenkasse gar nicht in der Lage ist, eine Freistellung vom Regress zu bestätigen. Der Patient wird die Unterschrift der Kasse im Regelfall also nicht erhalten. Die Kasse selbst macht ihm aber klar, dass es sich bei dem Spruch „Wir zahlen alles, was der Arzt verschreibt“ um ein Lügengebäude handelt. Dieser Effekt soll erzielt werden. Aus Sicht der Kassen wird darauf verwiesen, dass man wahrscheinlich Ärger mit der Kassenärztlichen Vereinigung bekommen wird, und daraufhin wird dann gesagt: Aus Sicht der Kassenärzteschaft ist die Aktion aber legitim und erforderlich, um das unsinnige Polit-Gefasel einer ausreichenden Finanzgrundlage für die Medikamenten- und Heilmitteltherapie zu entlarven. ({7}) Ich möchte Sie darauf hinweisen, wenn Sie so schlichten Gemüts argumentieren, wie das heute und in früheren Debatten über das Budget geschehen ist: Sie machen sich mit dieser Art von ärztlicher Politik auf dem Rücken von Patienten gemein. ({8}) Ich will Ihnen raten, das zu lassen. Ich will darauf verweisen, dass es viele in der Ärzteschaft gibt, gerade auch in der ärztlichen Selbstverwaltung, die diese Verantwortung, die ihr damit übergeben worden ist, dass sie dieses Budget in der Hand haben, wirklich wahrnehmen wollen. Ich habe vorhin schon zitiert, wie viele flexible Teile in unserem Gesetz enthalten sind, die viel besser genutzt werden könnten. Wir sind natürlich bereit, zu prüfen, wie wir das noch verfeinern und verbessern können, damit diese Steuerung gelingt. Darüber sind wir im Gespräch mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen genauso wie mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Wir sind sehr optimistisch, dass wir da sehr gute Vorschläge machen können. Das ist konstruktive Arbeit daran, wie man mit den Mitteln sorgsam umgehen kann. ({9}) Ich will dazu noch einen letzten Punkt nennen, bevor ich abschließend auf die Frage der Mängel im System komme. Ich will darauf hinweisen: Zu sagen: „Wir geben es völlig frei und jeder verschreibt, was er für richtig hält“ ({10}) in einer Zeit, in der wir eine wachsende Zahl von Ärzten haben, ständig neue Medikamente auf den Markt kommen, deren Zusatznutzen nicht überprüft ist, würde bedeuten, mit dem Geld der Versicherten wirklich Verschwendung zu betreiben. Denn in diesem Bereich gilt nicht: Viel hilft viel. Es gilt auch nicht, dass es per se gut wäre, möglichst viel Geld dabei auszugeben. Alle Versuche, das anders zu steuern, verweigern Sie aber. ({11}) Das halte ich für unangemessen gegenüber den Patienten. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lohmann?

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Ja.

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerin, Sie haben es gerade für richtig gehalten, durch ein Zitat aus dem Gesetz, die Behauptung zu unterstützen, dass es ja Richtgrößen und Regelleistungsvolumina im Gesetz bereits gäbe bzw. das umgesetzt werden könne. Können Sie mir bitte auch die Stelle zitieren, wo steht, dass dann, wenn eine Richtgröße vereinbart wird, auch das Budget wegfällt? Das ist ja unter dem Begriff „budgetablösende Richtgrößen“ gemeint. ({0}) Ich stelle die Fragen nur, um von der schlichten Diskussion wegzukommen, wie Sie das eben verlangt haben.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Noch einmal: Ich habe gerade gesagt: Wir streiten uns hier - da ich in Ihrem Antrag keine Forderung finde, ein paar Milliarden ins Arzneimittelbudget hineinzutun - um das angemessene Steuerungsinstrument. Ich habe darauf verwiesen, dass das Instrument der Regelleistungsvolumina dafür vorgesehen ist, die Verteilung dieser Gelder besser zu organisieren. ({0}) In der Tat gibt es nicht mehr - wie unter Ihrer Regierung das Schlupfloch, mit dessen Hilfe man sozusagen ausbüchsen konnte, wenn man keine finanziellen Reserven mehr hatte. ({1}) Wenn Sie mir auf den Hinweis, dass wir dieses Instrument als Steuerungsinstrument beibehalten, sagen, es sei unter dem Budget, muss ich Sie fragen: Sind Sie also doch der Meinung, dass mehr Geld in das System muss? ({2}) - Also doch, es muss mehr Geld herein. Ich habe Ihren Antrag sehr aufmerksam gelesen, Herr Lohmann. Aber ich habe darin keine Forderung gefunden, dass mehr Geld in das System gesteckt werden soll. ({3}) Ich möchte Sie also um die Auskunft bitten, wer - bitte schön - dieses Geld in das System hineinstecken soll. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Lohmann, Sie dürfen zwar nicht antworten, aber Sie können, wenn die Frau Bundesministerin es zulässt, eine weitere Frage stellen.

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass all diejenigen, die heute immer noch behaupten, dass die Zukunftsprobleme der Gesundheitspolitik angesichts der demographischen Entwicklung, der medizinisch-technischen Entwicklung und der Multimorbidität allein mit den vorhandenen Ressourcen gelöst werden können, den Menschen die Unwahrheit sagen? Sind Sie ferner bereit, anzuerkennen, dass deshalb auch über die Frage, ob mehr Geld ins System fließen soll, ({0}) diskutiert werden muss?

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Ich habe in diesem Zusammenhang - nicht nur in diesem Hause, sondern auch an anderer Stelle - immer gesagt, dass der demographische Wandel eine Herausforderung sowohl in qualitativer als auch in finanzieller Hinsicht an uns darstellt. Ich habe auch immer deutlich gemacht, dass ich bereit bin, über die Einnahmeseite zu sprechen. Gleichwohl debattieren wir jetzt über einen Antrag von Ihnen, in dem dieser Aspekt nicht enthalten ist. Wenn ich richtig informiert bin, muss ich feststellen, dass sich der demographische Wandel nicht erst in den letzten zwei Jahren, also seit es eine rot-grüne Regierung gibt, explosionsartig vollzieht. Wir diskutieren aber heute darüber, ob in den letzten zwei Jahren das Geld nicht ausreichend war. ({0}) Weil wir schon wieder über das Geld reden und - das ist mein Vorwurf an Sie - die Probleme im Gesundheitswesen auf die Probleme im Zusammenhang mit dem Budget verkürzt werden, muss ich Ihnen sagen: Es ist unbestritten, dass in unserem System die Versorgung teilweise zu umfangreich, teilweise nicht ausreichend und teilweise nicht zielführend ist. Das ist für mich das eigentliche Problem. ({1}) Das ist übrigens der Grund, warum wir den Sachverständigenrat gebeten haben, für uns ein Gutachten zu erstellen, das uns Anhaltspunkte für die Lösung dieser Probleme liefert. Ich will an dieser Stelle nur darauf verweisen, dass sehr viele Maßnahmen, die wir eingeleitet haben, ({2}) genau in diese Richtung zielen. Deswegen wollen wir über Leitlinien reden und darüber sprechen, was bei der Versorgung im Falle bestimmter Krankheiten schief läuft. Warum gibt es eine Unterversorgung? ({3}) Bei der Schmerztherapie geht es doch gar nicht ums Geld. Die Opioide sind lang bekannte Medikamente, für die der Patentschutz schon längst nicht mehr gilt und die deshalb billig sind. Das ist also nicht der entscheidende Punkt. Der entscheidende Punkt ist, dass es eine mangelhafte Ausbildung, ein mangelndes Bewusstsein und Vorbehalte gegen die Verwendung der Opioide gibt. ({4}) Wie bitte schön, wenn nicht mit Leitlinien, soll man dieser Entwicklung beikommen? Man muss noch viele andere Maßnahmen auf den Weg bringen. Aber man muss gerade über die Qualität der Versorgung in diesem Bereich reden. Ich lasse es nicht zu, dass sich mit dem schlichten Argument, hier fehle es an Geld, alle Verantwortlichen, Sie als Politiker und diejenigen, die dort professionell tätig sind, aus der Verantwortung stehlen, indem sie nicht darüber reden wollen, was in diesem Bereich falsch läuft. Warum fühlen sich die Patienten schlecht versorgt? Warum redet keiner mit den Patienten? Über diese Fragen müssen wir diskutieren. ({5}) Aber Sie verkürzen all diese wichtigen Debatten auf den Gesichtspunkt Geld. ({6}) - Davon reden wir doch die ganze Zeit; Sie hören nur nicht zu. Angesichts der Mengenfrage müssen wir auch darüber sprechen, wie schwer es ist, entsprechende Änderungen durchzuführen. Ich kann Ihnen die Feststellung nicht ersparen, dass schon Sie daran gescheitert sind. Aber auch wir haben bislang kein wirksames Instrument gefunden, mit dem wir diese Probleme angehen können. In Berlin werden wir mit dem Konflikt über die Vergütung der Radiologen konfrontiert. Ich will in diesem Zusammenhang auf folgende Zahlen verweisen: Bei der AOK Berlin ist von 1996 bis 1999 die Zahl der abgerechneten Untersuchungen mit Magnetresonanztomographen um 517 Prozent gestiegen. ({7}) Die Zahl der Untersuchungen mit Computertomographen ist von 1 897 auf 54 162, also um 2 755 Prozent, gestiegen. Es gibt in Berlin genauso viele Tomographen wie in ganz Belgien. Das könnte vielleicht doch ein Zeichen dafür sein, dass wir bei bestimmten Punkten des Guten zu viel und dafür bei anderen erheblich zu wenig tun. Interessant ist, dass es dabei offensichtlich weiterhin zu gravierenden Missverständnissen zwischen Ärzten und ihren Patienten kommt. Untersuchungen zeigen, dass Ärzte weitaus häufiger denken, ihre Patienten würden von ihnen eine Verschreibung eines Medikamentes erwarten, als das in der Tat der Fall ist. Offenbar gibt es hier Verständigungsprobleme. Wenn man mit den Menschen darüber spricht, erfährt man, dass sie am meisten vermissen, dass man ihnen Zeit widmet, dass man ihnen zuhört, dass man ihnen alles erklärt, dass man sich wirklich auf ihr Problem einlässt. Über all diese Probleme und über notwendige Veränderungen sollten wir sprechen. Das hängt mit vielem zusammen: mit Strukturen, mit Bewusstsein, mit der Wahrnehmung von Menschen, mit einem Menschenbild, natürlich auch mit Ausbildung; das ist richtig. Über all das möchte ich reden. Wir haben das an vielen Stellen bereits getan. Ich wundere mich manchmal, dass Sie von dem Gesetz, das im letzten Jahr verabschiedet wurde, offensichtlich nur die Stelle mit der Begrenzung der Einnahmen der Krankenkassen zur Kenntnis genommen haben. Sonst hätten Sie gemerkt, an wie vielen anderen Stellen wir versucht haben, diese Debatte anzustoßen, die Debatte über Qualität endlich oben auf die Tagesordnung zu setzen. Ich erlebe immer nur, dass Sie über das Geld sprechen, aber nicht über all die Fragen, die die Menschen berühren. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht nun die Kollegin Dr. Ruth Fuchs.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie die Frau Ministerin richtig gesagt hat: In der heutigen Debatte geht es im Kern um die Budgetierungspolitik der Bundesregierung im Gesundheitswesen. Sie ist inzwischen bei den Leistungserbringern ebenso wie bei der Bevölkerung so etwas wie ein negatives Markenzeichen der Gesundheitsreform 2000. ({0}) Aus unserer Sicht ist das eher eine bedauerliche Entwicklung; denn - jetzt hören auch Sie, meine Damen und Herren von der rechten Seite, bitte einmal zu - die Grundgedanken der Gesundheitsreform, die bestehenden Fehlanreize und strukturellen Defizite des Gesundheitswesens durch Reformen schrittweise abzubauen, eine höhere Qualität und Wirtschaftlichkeit zu ermöglichen sowie das Solidarsystem zu erhalten und vor allen Dingen zukunftsfähig zu machen, waren und sind unserer Meinung nach völlig richtig. ({1}) Auch die Absicht der Koalition, den Weg der finanziellen Belastungen der Patienten nicht weiter zu beschreiten, unterscheidet die jetzige Gesundheitsreform schon wohltuend von der unverschämten Selbstbeteiligungspolitik der Vorgängerregierung zulasten der Versicherten. ({2}) Ich sage das, obwohl wir immer deutlichere Rückführungen der Zuzahlungen für notwendig und möglich halten. Doch zurück zur Budgetierung. Egal, wer es sagt, es bleibt trotzdem richtig: Gesetzlich verordnete Ausgabenbegrenzungen sind im Grundsatz keine geeigneten Steuerungsinstrumente. Denn will man ein sozial gerechtes, allen Menschen gleichermaßen zugängliches Gesundheitswesen, dann richtet sich der medizinische Bedarf nun einmal nicht nach vorgegebenen finanztechnischen Begrenzungen, schon gar nicht, wenn deren Höhe ausschließlich von wirtschaftspolitischen Gründen bestimmt ist. Es muss Aufgabe der gemeinsamen Selbstverwaltung sein, die gesundheitliche Versorgung am jeweiligen wissenschaftlich begründeten Erkenntnisstand der Medizin auszurichten und eine rationelle Ausgabenstruktur zu gestalten. Allerdings - das scheint mir der entscheidende Punkt zu sein - muss bezweifelt werden, dass unser Gesundheitswesen und seine Selbstverwaltung überhaupt in der Lage sind, diese Aufgabe zu erfüllen. Zeigt uns nicht die Praxis, dass die vielfältige Zersplitterung der Leistungserbringer, die Trennung von ambulantem Sektor und Krankenhaus und die mangelnde Kooperation innerhalb der ambulanten Versorgung nach wie vor zahlreiche unnötige Doppel- und Mehrfachuntersuchungen hervorbringen? ({3}) Haben wir nicht Vergütungssysteme, die das Handeln der Ärzte und der anderen Leistungserbringer in eine medizinisch unbegründete Mengenausweitung drängen? Budgets sind deshalb für eine Übergangszeit, zum Beispiel um notwendige Strukturreformen durchzusetzen, durchaus ein berechtigtes Instrument. Das entscheidende Manko ist für uns nicht, dass die Bundesregierung zum Mittel der Budgetierung gegriffen hat. Nach unserer Auffassung besteht ihr grundlegender Fehler in der völlig unrealistischen Bemessung des Budgets. Denn, meine Damen und Herren von der Koalition, Ausgabenbegrenzungen, die sich lediglich an der Entwicklung der Grundlohnsumme orientieren, überziehen den Wachstumssektor Gesundheitswesen quasi über Nacht mit einem Sparkurs, den er in dieser Härte nicht verkraften kann. Es ist nun einmal so: Der Druck des knappen Geldes führt nicht nur zu mehr Rationalität in der Versorgung, sondern auch zu neuen Fehlentwicklungen und Verschwendungen. Meine Damen und Herren, natürlich dürfen die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht unkontrolliert in die Höhe schießen; auch diese Ansicht teilen wir. Wer aber sinkende Lohnnebenkosten zum Dogma macht und Beitragssatzstabilität um jeden Preis will, der hat nur wenige Möglichkeiten: Entweder muss er zusätzliche Mittel aus den Taschen der Patienten und Versicherten holen, was bis heute der Kurs von CDU/CSU und F.D.P. ist, oder er bringt die Leistungserbringer im Gesundheitswesen gegenüber ihren Patienten in eine unzumutbare Situation. Wenn er das tut, dann muss er in Kauf nehmen, dass sich in der Bevölkerung das Gefühl verbreitet - das erleben Sie bereits -, dass die gesundheitliche Versorgung immer schlechter wird. Auf Letzteres bezogen: Genau an dem Punkt ist die Koalition angekommen. Das Arznei- und Heilmittelbudget ist dafür das deutlichste Beispiel. Ein weiteres Lehrstück dafür, wie man mit Budgets nicht umgehen darf, ist die gesetzliche Begrenzung der Ausgaben für die Psychotherapie seit 1999. ({4}) Nach In-Kraft-Treten des Psychotherapeutengesetzes war die zu erwartende Versorgungsentwicklung für niemanden von uns ohne weiteres vorauszusehen. Darum wurden in das Gesetz sowohl Obergrenzen als auch eine Auffangregelung eingebaut. ({5}) Obwohl durch das GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz die Mittel richtigerweise aufgestockt wurden, zeigte sich spätestens im dritten Quartal 1999, dass das Budget in vielen Regionen dennoch zu knapp bemessen war. Besonders in den ostdeutschen Ländern kam es zu rapidem Punktwertverfall und zu massiver Existenzgefährdung der ohnehin nicht ausreichenden Zahl von Praxen. ({6}) In dieser Situation hätte das Bundesministerium für Gesundheit offensiv eingreifen müssen. ({7}) Das Gegenteil war aber der Fall: Erst nach langer Ungewissheit und langer unzumutbarer Verunsicherung der Psychotherapeuten und ihrer Patienten kam es durch Schiedsamtentscheidung zur Aufstockung der Mittel. Nichts anderes wollten wir mit unserem Antrag erreichen. Dem Gesetzentwurf der F.D.P. können wir in seinen Grundintentionen durchaus folgen. Aber angesichts der massiven Selbstbeteiligung, die er psychisch Kranken auferlegen will, können wir ihm nicht zustimmen. Ab diesem Jahr ist die Honorierung der Psychotherapeuten Teil der vertragsärztlichen Gesamtvergütung. Sie ist dem Facharzttopf zugeordnet, der nach der Trennung der Fachärzte von den Hausärzten ohnehin knapper bemessen ist. Der Bedarf an Mitteln für psychotherapeutische Leistungen wird objektiv aber weiter zunehmen. Damit ist für die Zukunft nach wie vor keine tragfähige Lösung gefunden. Neu ist nur, dass jetzt auch die Fachärzte auf die Barrikaden gehen. So verprellt man ganze Berufsstände. In der Bevölkerung steigt der Unmut über die Gesundheitspolitik weiter. ({8}) Meine Damen und Herren von der Koalition, das Beispiel der Psychotherapie bestätigt: Nicht die Budgetierung an sich, sondern die Art und Weise ihrer Umsetzung erweist sich als das schwächste Glied Ihrer Gesundheitspolitik. So kann es nicht verwundern, wenn die Kollegen von der rechten Seite des Hauses geradezu unermüdlich bestrebt sind, in dieser Wunde zu rühren. Den Stoff dafür liefern Sie mit Ihrer Politik immer wieder selbst. Der Antrag, den die CDU/CSU heute zur Debatte stellt, zeigt allerdings keinerlei ernsthafte Alternativen; auch das muss deutlich gesagt werden. Eine Abschaffung der Budgets und ihr Ersatz durch Regelungen, die für sich allein genommen weder zu Qualitätsverbesserungen noch zu wirksamer Eindämmung der Mengendynamik führen, sind kein zweckdienlicher Vorschlag. Ohne echte Strukturveränderungen führt dies lediglich zur Fortsetzung unrationeller oder gar verschwenderischer Ausgaben. Wie man weiß - das kann man nicht nur in den Medien lesen -, wollen CDU und CSU darauf mit Regelund Wahlleistungen antworten. ({9}) Liebe Kollegin Bergmann-Pohl, Ihre Kritik an der Politik dieser Regierung habe ich vernommen. Ich sage Ihnen aber klar und deutlich: In Sachen Gesundheitspolitik sind Ihre Vorschläge nicht mit neuen Ideen bestückt, ({10}) vor allem nicht mit neuen Ideen für ein soziales Gesundheitssystem der Zukunft. Wir werden also Ihrem Antrag nicht zustimmen. ({11}) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPDFraktion spricht nun der Kollege Horst Schmidbauer, Nürnberg.

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte drei Vorbemerkungen machen. Erste Vorbemerkung. Ich verspreche dem Parlament ein interessantes Frühjahr 2001. Dann wird das Gutachten des Sachverständigenrates vorgelegt. Im nächsten Jahr werden wir nicht mehr über Annahmen und Baucheindrücke reden, sondern über Fakten: Wo gibt es in Deutschland Überversorgung? Wo gibt es in Deutschland Fehlversorgung? Aber auch: Wo gibt es in Deutschland Unterversorgung? ({0}) Dann werden wir endlich belegen können, was Professor Wille vom Sachverständigenrat sagt: Wir in Deutschland zahlen einen Fünfhunderter und bekommen nur einen Zweihunderter als Gegenleistung. Das heißt, wir geben auf der einen Seite so viel Geld für Gesundheit aus wie kein anderes Land in Europa und bekommen dafür auf der anderen Seite nur mittelmäßige Leistungen. Ich denke, das wird ein spannendes Frühjahr 2001 werden. Das Zweite: Ich frage mich immer wieder, ob man auf Konflikt oder auf Lösungen aus ist. Ich habe mit der Kassenärztlichen Vereinigung in meinem Wahlkreis ein Agreement getroffen: Wenn eine Bürgerin oder ein Bürger sich schriftlich an mich wendet oder zu mir ins Bürgerbüro kommt, dann gebe ich diesen Vorgang mit Ross und Reiter an die Kassenärztliche Vereinigung weiter. Und siehe da: Innerhalb weniger Tage ist das Problem bereinigt. Ich habe umgekehrt der Kassenärztlichen Vereinigung versprochen, mit keinem dieser Fälle in die Öffentlichkeit zu gehen. Ich habe bisher dieses Abkommen einhalten können, sodass wir in meinem Wahlkreis konfliktfrei leben können und es dort keine Bürgerinnen und Bürger gibt, die ein Problem haben, das nicht postwendend beseitigt wird. ({1}) Wenn man will, kann man das sehr wohl machen. Wenn man natürlich auf Konflikt aus ist, kann man das auch anders betreiben und den Konflikt letztendlich auf dem Rücken des Patienten austragen. ({2}) Die dritte Vorbemerkung bezieht sich auf die Selbsthilfegruppen. Ich muss deutlich sagen: Uns kommt es auf die Legitimation der Selbsthilfegruppen an. Es ist natürlich ein Unterschied, ob eine Gruppe gesponsert wird und 300 Mitglieder hat oder ob in ihr wie im Deutschen Diabetiker-Bund 15 000 Betroffene organisiert sind. Gruppen wie den Deutschen Diabetiker-Bund wollen wir einladen und anhören; ihre Meinung muss zum Durchbruch kommen. Sie haben eine Legitimation, und das ist der entscheidende Punkt, auf den wir achten müssen. ({3}) Ich will nun zu meinem Hauptanliegen kommen. Was die Psychotherapie angeht, haben wir in Deutschland eine schwierige Geburt hinter uns. Es steht außer Zweifel, dass die Psychotherapie auch nach dieser schwierigen Geburt noch unsere Hilfe braucht. Aber die Freude über die Geburt der Psychotherapie als Regelleistung überwiegt eindeutig. Diese Freude lässt sich auch begründen. Was wir nacharbeiten müssen, hängt mit den Nachwehen dieses wirklich großen Geburtsvorgangs zusammen. Wir wollen uns einmal erinnern: Keine Patientin, kein Patient muss mehr sieben Jahre durch das System irren, bis sie oder er an die richtige psychotherapeutische Versorgung gelangt. Das war der Ausgangspunkt. Das Gutachten hat dazu geführt, dass wir im Parlament gemeinsam gesagt haben, dass wir Psychotherapie als Regelversorgung brauchen. Ich denke, wir haben ein hohes Leistungsniveau erreicht. Dieses hohe Leistungsniveau verdanken wir engagierten Menschen, die diese Leistungen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung als Regelleistungen anbieten. Man muss sich einmal die Zahlen anschauen. Wir sind mit Zahlen in Deutschland nicht gut ausgestattet. Ich habe lange telefonieren müssen, bis ich von wenigen Kassenärztlichen Vereinigungen konkrete Zahlen bekommen habe. Ich will einmal das Beispiel der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein nehmen. Da ist im ersten Quartal 2000 verglichen mit dem ersten Quartal des Jahres 1999 der anerkannte Leistungsbedarf je nicht ärztlichem Therapeuten um gut 20 Prozent gestiegen. Das Honorarvolumen dieser Gruppe ist in dieser KV im Vergleich zum Vorjahr um 20 Millionen DM gestiegen. An diesem Ergebnis kann man erkennen, dass wir einen Durchbruch erreicht haben, und zwar deshalb, weil wir in unserem Gesundheitsreformgesetz in § 85 Abs. 4 Satz 4 Folgendes verankert haben: Im Verteilungsmaßstab sind Regelungen zur Vergütung der Leistungen der Psychotherapeuten und der ausschließlich psychotherapeutisch tätigen Ärzte zu treffen, die eine angemessene Höhe der Vergütung je Zeiteinheit gewährleisten. Das hat zu einer Veränderung geführt, und zwar in diesem KV-Bereich dazu, dass jetzt der Mindestpunktwert bei 7,7 Pfennig liegt, sich also gegenüber dem Vorjahr verdoppelt hat. Das heißt, unser Ansatz im Reformgesetz 2000 hat Wirkung gezeigt und zu dem Ergebnis geführt, das wir den Menschen versprochen haben. ({4}) Trotz der gestiegenen Zahl an psychotherapeutischen Leistungen, die im Bezirk dieser Kassenärztlichen Vereinigung angeboten werden - im zweiten Quartal 1999 waren dort 1 093 nicht ärztliche Psychotherapeuten niedergelassen, im zweiten Quartal des Jahres 2000 sind es 1 776; dies ist also eine Steigerung um 62,5 Prozent in einem Bezirk -, kam es zu einer Verdoppelung des garantierten Punktwertes. Ich denke, das ist eine Leistung, die sich sehen lassen kann und auf die wir stolz sein können. ({5}) Dem entspricht eine Steigerung im Leistungsniveau: Es wurden im ersten Quartal 2000 durch die nicht ärztlichen Psychotherapeuten 95,9 Prozent mehr psychotherapeutische Leistungen abgerechnet als im gleichen Vorjahresquartal. Das Entscheidende dabei ist: Es ist nicht zulasten der Psychotherapeuten gegangen - das behaupten Sie ja immer -, dass wir auf diesem Gebiet eine vollwertige, erstklassige Versorgung gewährleistet haben. Auch der ProKopf-Umsatz - denn es werden ja auch immer Fragen nach dem Einkommen gestellt - ist bei den Psychotherapeuten um 30 Prozent gestiegen. Dieser Trend bestätigt unsere Annahmen, dass wir auf dem richtigen Weg sind und dass der Lösungsansatz der F.D.P. ins Leere gehen muss. Man hat den Eindruck, als ob er nur darauf angelegt wäre, Stimmenfang bei den Psychotherapeuten zu machen. Aber der Patient, um den es eigentlich geht, kommt in Ihrem Antrag, Herr Kollege Thomae, nicht vor. Er müsste doch eigentlich im Mittelpunkt des Ganzen stehen. ({6}) - Ich habe ihn sehr ausführlich gelesen, nicht nur einmal, sondern mehrmals. Das Wort „Patient“ habe ich nicht gefunden. ({7}) Das Schlimmste aber ist, dass Sie mit Ihrem Aktionismus darüber hinwegtäuschen, dass Sie die Psychotherapeuten in Zukunft anders behandeln wollen, nämlich zweitklassig. Es ist klar, wie Ihre Perspektive aussieht - daran erkennt man Ihre Doppelbödigkeit -: Psychotherapie soll nur noch von denjenigen Menschen in Anspruch genommen werden können, die das für das Bezahlen einer Wahlleistung erforderliche Geld haben oder die sich neben ihrem Krankenkassenbeitrag eine Privatversicherung für Wahlleistungen leisten können. ({8}) - In Ihrer Programmatik, die Sie vor zwei Monaten veröffentlicht haben, steht eindeutig, dass Sie für Grund- und Wahlleistungen eintreten. ({9}) - Sie müssten dann sagen, was eine Wahlleistung ist. Sie müssten also sagen, dass die Psychotherapie keine Wahlleistung sein wird. Zudem müssten Sie zu erkennen geben, woher Sie die dafür notwendigen Milliardenbeträge nehmen wollen, und der Öffentlichkeit endlich einmal sagen, was Sie machen wollen. ({10}) Solange Sie das nicht tun, bleibe ich bei meiner Behauptung. Auch haben Sie Professor Schwartz nicht widersprochen, der den Umfang der Wahlleistung einmal ausführlich aufgezeigt hat, den Sie letztlich ausgrenzen wollen. Nicht ich muss belegen, sondern Sie müssen belegen, wie Sie vorgehen wollen, wenn Sie die Psychotherapie in Zukunft nicht aus dem Bereich der Grundleistungen herausnehmen wollen. ({11}) Denn es ist völlig klar: Wer die GKV in Grund- und Wahlleistungen spaltet, spaltet auch die ganzheitliche Versorgung. ({12}) Horst Schmidbauer ({13}) Wir haben nicht umsonst die ganzen Jahre für eine ganzheitliche Versorgung gekämpft, dafür, dass Psyche und Körper, psychisch und somatisch, zu einer Einheit gehören und nicht auseinander dividiert werden können. ({14}) Wer die Psychotherapie in ein Zweiklassensystem zwingt, der treibt ein doppelbödiges Spiel auf dem Rücken der Patienten. ({15}) Ich denke, das ist Ihre Absicht. Ihr Antrag zielt auf Abzockerei, in Ihren Zielvorstellungen steht „Spaltung“. Sie müssen sagen, wo Sie hinwollen. ({16}) Es kann nicht angehen, dass das ausgerechnet auf dem Rücken der Menschen, die sich nicht wehren können, die nicht auf die Straße gehen können, ausgetragen wird. Das haben diese Menschen nicht verdient. ({17}) Ich darf Ihnen sagen: Mit uns wird es weder in der Gegenwart noch in der Zukunft eine solche Lösung geben. ({18}) Im Gegenteil: Wir werden vor der Bundestagswahl so deutlich machen, was Sie mit Ihrem Zwiebelmodell vorhaben, dass es den Menschen die Tränen in die Augen treibt. ({19}) Lassen Sie mich zu dem Geburtsvorgang zurückkommen. Ich glaube, wir müssen der Psychotherapie helfen. Dabei steht die Frage der Integration im Vordergrund. Integration bedeutet - wenn die Begriffsdefinition im „Duden“ stimmt - gleichberechtigte Teilhabe und gleichberechtigte Mitbestimmung. Allerdings muss man bei diesem Begriffsverständnis sagen, dass wir von der Integration in der Psychotherapie noch weit entfernt sind. Deswegen kann man verstehen, dass viele im Bereich der Psychotherapie heute unserem Sektionsmodell nachtrauern, ({20}) weil sie nach diesem Sektionsmodell die Chancen bekommen hätten, im Bereich der Versorgung von vornherein gleichberechtigt beteiligt zu sein: eigenes Verhandlungsmandat, eigener Sitz im Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung, eigener Budgetrahmen. Das hätte vieles bei dieser schwierigen Geburt erleichtert. Für uns ist es heute und morgen eine Verpflichtung, in dieser Frage weiterzuarbeiten. Es ist wichtig, Eingliederung und nicht Unterordnung als Ziel zu haben. Deswegen müssen wir an die Kassenärztliche Vereinigung appellieren, diesen Integrationsansatz, den sie selbst gewollt hat, den sie selbst gefördert hat und den sie selbst herbeigeführt hat, aktiv zu unterstützen, sodass er entsprechend gestaltet wird. ({21}) Leider ist das im Moment nicht so. Man hört zum Beispiel, dass die Kassenärztliche Vereinigung einen neuen EBM vorlegt, bei dem Psychologen von Leistungen aus-, Ärzte aber eingeschlossen sind. Das trägt, denke ich, nicht dazu bei, Vertrauen in eine Integrationslösung zu setzen, sondern schürt Misstrauen. ({22}) Wir müssen dafür sorgen, dass auf diesem Gebiet nachgebessert wird. Wir sind auf dem richtigen Weg.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Schmidbauer, gestatten Sie, auch wenn Ihre Redezeit bereits abgelaufen ist, eine Zwischenfrage?

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Dann haben Sie die Chance, weitere Ausführungen zu machen.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schmidbauer, Sie haben vorhin gesagt, dass es Auffassung Ihrer Partei sei, dass es bei dem bisherigen Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben müsse. Ich darf Sie fragen, was Sie dazu sagen, dass die für diesen Bereich bei Ihnen zuständige stellvertretende Fraktionsvorsitzende, Frau

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das habe ich mir gedacht.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- in Bad Nauheim gesagt hat, nach ihrer Auffassung muss ein Paradigmenwechsel in der SPD stattfinden. ({0}) Sie hat gesagt, man müsse weg von einem „Rundum-Versorgungspaket“ in der GKV und es müsse zunächst eine Grundversorgung durch die gesetzliche Krankenversicherung definiert werden. ({1}) Alles andere sei privat zu finanzieren. Was sagen Sie zur Meinung Ihrer stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden? ({2})

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann es Ihnen schlecht sagen. Ich habe nicht die Möglichkeit Horst Schmidbauer ({0}) gehabt, mit ihr darüber zu sprechen, weil sie zurzeit krank ist. ({1}) - Langsam, ganz in Ruhe! Ich habe aber die Möglichkeit gehabt, ihre Rede nachzulesen. Ich kann aus dieser Rede nicht die Zuspitzung herauslesen, die in der Öffentlichkeit verbreitet wurde. Herr Kollege Fink, ich werde meine Kollegin bitten, dass Sie diese Rede ebenfalls bekommen, damit wir im Parlament nicht über Interpretationsprobleme streiten müssen. ({2}) - Es ist doch ganz einfach: Sie lesen es nach und schauen es sich an. Grundsätzlich darf ich sagen: Bei uns gibt es in dieser Richtung weder Beschlüsse in der Fachgruppe oder in der Fraktion noch Überlegungen in der Gesamtpartei. Wir haben unsere Position und haben dafür gute Gründe. Ich habe immer noch den Eindruck, dass Sie - unter Abzocken der Patienten und der Versicherten - nach mehr Geld im System rufen, weil Sie nicht bereit sind, die Hausaufgaben zu machen. Hausaufgabe ist, ({3}) dicke Bretter zu bohren. Wenn wir in Deutschland Geld nicht richtig eingesetzt haben, müssen wir in erster Linie dafür sorgen, ({4}) dass das Geld der Versicherten zielorientiert, erfolgsorientiert und qualitätsgesichert bei den Patientinnen und Patienten landet. Um diese Aufgabe kann sich in Deutschland meines Erachtens niemand drücken. Vielen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Wolfgang Zöller.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, auf das Thema zurückzukommen. Zuerst einmal muss die Feststellung getroffen werden: Die Abschaffung von sektoralen Budgets ist ein Gebot der Vernunft. ({0}) Wie widersinnig Ihre sektoralen Budgets sind, kann man an der Trennung der Budgets für den Zahnerhalt und den Zahnersatz sehr deutlich machen. Wenn gegen Ende des letzten Jahres ein Zahnarzt sein Budget für den Zahnerhalt erschöpft, für den Zahnersatz aber noch Luft hatte, gab es folgende Situation. Der Patient kam und der Zahnarzt musste ihm sagen: Ich könnte Ihren Zahn zwar erhalten, wenn Sie entweder selber zahlen oder wenn ich es als Zahnarzt bezahle. Wenn ich Ihnen den Zahn aber ziehe, bezahlt das wieder die Kasse. ({1}) Das ist die Logik einer sektoralen Budgetierung laut RotGrün. ({2}) - Sie haben Recht: Ihr Gesetz ist Unsinn. ({3}) Sie haben gerade wieder vom Abzocken gesprochen und damit unsere sozialverträgliche Zuzahlung gemeint. Ich darf Ihnen folgende Zahlen nennen: Bei uns war im Gesetz vorgesehen, dass eine Rentnerin mit einer Rente bis zu 1 792 DM von der Zuzahlung befreit war. Ein Rentnerehepaar war von der Zuzahlung befreit, wenn sein Einkommen 2 664 DM nicht überschritt. Eine Familie mit zwei Kindern war bis zu einem Einkommen in Höhe von 3 360 DM befreit. Das war unsere Sozialklausel. ({4}) Die Menschen, die mehr verdient haben, mussten zuzahlen. Was haben Sie gemacht? Sie haben die Zuzahlungen für die Besserverdienenden um 1 DM reduziert und die Menschen, die ein niedriges Einkommen beziehen, müssen jetzt viele Medikamente voll bezahlen. Das nennen Sie sozial gerecht. Sie haben die Besserverdienenden bevorzugt und die Menschen mit geringeren Einkommen müssen die Rechnung jetzt bezahlen. ({5}) Ich komme zum nächsten Thema: Aufhebung der Kollektivhaftung der Ärzte bei Überschreitung des Arzneiund Heilmittelbudgets.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Zöller, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidbauer?

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Zöller, wie erklären Sie sich, dass im Rahmen der Zuzahlung 2,2 Milliarden DM seit dem Zeitpunkt der Übernahme der Verantwortung durch diese Koalition an die Bürgerinnen und Bürger zurückgeflossen sind, wenn Ihr Modell stimmen würde? Sie haben dabei übersehen, dass wir eine Chronikerregelung eingeführt haben. Diese Chronikerregelung hat zu diesem Ergebnis geführt. Wie erklären Sie sich das? Horst Schmidbauer ({0})

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zunächst zu Ihrer Chronikerregelung, bei der Sie Folgendes gemacht haben: Sie haben die Familien schlechter gestellt als wir. ({0}) Wir hatten in unserer Chronikerregelung Folgendes vorgesehen: Wenn in einer Familie einer chronisch krank war, war die Zuzahlung für die ganze Familie auf 1 Prozent begrenzt. Sie haben in Ihrer Chronikerregelung eingeführt, dass der chronisch kranke Versicherte befreit wird, die Familie dafür aber 2 Prozent zahlen muss. Ob das ein Vorteil für chronisch Kranke in einer Familie ist, muss mir jemand erklären, der mit Adam Riese etwas weniger zu tun hat als ich. ({1}) Ich möchte jetzt auf die Aufhebung der Kollektivhaftung bei Überschreitung des Arzneimittelbudgets zu sprechen kommen. Im Protokoll des Petitionsausschusses steht Folgendes: Bei der Festlegung wird darauf geachtet, dass die notwendige Versorgung aller Versicherten mit Arznei- und Heilmitteln gewährleistet ist. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn Sie immer noch der gleichen Auffassung sind, befürchte ich ganz ernsthaft, dass Sie Wahrnehmungsstörungen haben. Oder Sie ignorieren einfach die vielen Eingaben von Patienten und ganz besonders die von chronisch kranken. Ich schließe mich der Einschätzung der Pflegeverbände an, die sagen: Die Richtlinien haben deutlich gezeigt, wohin es führt, wenn allein die Budgets der Ärzte und die Etats der Krankenkasse die Richtschnur für die häusliche Krankenpflege sind; so darf es in Zukunft nicht weitergehen. Die Deutsche Rheuma-Liga berichtet, dass die Budgets zu erheblichen Problemen führen und das Arzt-Patienten-Verhältnis unter den ständigen Budgetdiskussionen leidet. Was an Medikamenten gespart werde, führe in der Regel zu stärkerer Unbeweglichkeit der Patienten und größeren Schmerzen und durch Krankenhauseinweisungen zu höheren Folgekosten. Diese Aussagen sprechen für sich.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege, es wird eine weitere Zwischenfrage vom Kollegen Kirschner gewünscht.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Zöller, wenn ich mir die Arzneimittelausgaben pro Versicherten der einzelnen KVen für 1999 anschaue, stelle ich fest: SüdWürttemberg 432 DM, Nord-Württemberg 433 DM ({0}) - Sie müssen schon zuhören -,

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Bitte fahren Sie fort.

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- Süd-Baden 437 DM, Bayern 475 DM. An der Spitze - ich nehme bewusst Flächenländer - steht das Saarland. Sind Sie der Auffassung, dass die Versicherten und damit die Patientinnen und Patienten beispielsweise in drei von vier KVen in Baden-Württemberg, die ich genannt habe, nicht ordentlich im Sinne einer strengen medizinischen Qualitätssicherung versorgt werden? Hängt das nicht vielmehr damit zusammen, dass dort vor allen Dingen eine rationelle Arzneimitteltherapie durchgeführt wird, was bei anderen KVen teilweise nicht der Fall ist?

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kirschner, ich bin Ihnen für diese Frage sehr dankbar, ({0}) damit man mit diesem Märchen endlich einmal aufräumen kann. ({1}) Lesen Sie einmal das Protokoll unserer Anhörung. Ich empfehle Seite 11. Dort steht zum Beispiel, dass die Arzneimittelausgaben in Baden-Württemberg - dies passt ja zu dem von Ihnen gerade genannten Beispiel - 340 DM, im Stadtstaat Hamburg im Vergleich dazu 570 DM betrugen. Jetzt muss man diese Zahlen nur richtig werten. Diese unterschiedlichen Ausgaben im Kassenbereich liegen darin begründet, dass viele Versicherte von außerhalb zur Behandlung nach Hamburg kommen. Sie vergleichen die Ausgaben pro Versicherten. ({2}) Sie dürfen aber nicht die Ausgaben pro Versicherten, sondern müssen die pro Behandlungsfall vergleichen. ({3}) - Entschuldigung. Wenn Sie es auf den Behandlungsfall umrechnen, kommen Sie zu dem Ergebnis, dass die Ausgabenschwankungsbreite nicht bei 36 Prozent, sondern bei 1,9 Prozent liegt. Sie wollen mit Ihren Beispielen immer wieder suggerieren, es gäbe im Arzneimittelbereich Einsparmöglichkeiten von mehr als 30 Prozent. ({4}) Diese Zahlen belegen genau das Gegenteil. Sie sagen, Sie wollen beim Vergleich der KVen nur Flächenstaaten und keine Stadtstaaten nehmen. Es ist doch interessant zu wissen, ob eine KV zum Beispiel Krebspatienten in einer Klinik behandeln lässt, wodurch die Arzneimittelkosten in der Klinik anfallen und das Budget nicht belasten, oder ob sie - wie dies viele KVen machen - Krebspatienten ambulant behandeln lässt. Dann fallen sofort die Kosten für die Medizin für die Krebspatienten unter das Budget. Man muss die Zahlen daher seriöser hinterfragen und nicht einfach eine Zahl nehmen, ohne dass man die Ursachen dieser Unterschiede erklären kann. Die Ursachen sind nicht medizinisch, sondern statistisch begründet. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage? - Bitte. ({0})

Klaus Kirschner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001102, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Zöller, ist Ihnen klar, dass ich bewusst nur Flächenstaaten genannt habe, damit Vergleiche möglich sind? Ich habe keine Stadtstaaten genannt. Unter diesen vier KVen, die ich genannt habe, war auch Süd-Württemberg. Ist Ihnen klar, dass in diesen Zuständigkeitsbereich die Universitätsklinik Tübingen, die eine Spezialklinik für Krebspatienten ist, fällt? Das Gleiche gilt für Nord-Württemberg mit dem Raum Stuttgart oder für Süd-Baden mit Freiburg. Auch im Saarland gibt es zwei Universitätskliniken. Ich habe bewusst Äpfel mit Äpfeln und nicht - was Sie mir zu unterstellen versucht haben - Äpfel mit Birnen verglichen. Darauf lege ich Wert. Ist Ihnen das klar, Herr Kollege Zöller?

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dazu kann ich nur auf das Protokoll der Anhörung verweisen. Darin ist genau Ihr Fall geschildert. Sie haben unterschiedliche Zahlen verglichen. Sie sprechen immer von Ausgaben pro Versicherten und nicht von Ausgaben pro Behandlungsfall. Man kann nur Gleiches mit Gleichem vergleichen. Sie müssen die Kosten pro Behandlungsfall nehmen. Dann werden Sie zu den gleichen Ergebnissen kommen wie ich und wie ich es Ihnen am Beispiel von Hamburg aufgezeigt habe. ({0}) Lassen Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen, der auch im Protokoll festgehalten ist. Da heißt es, das Überschreiten des Budgets sei ursächlich im unwirtschaftlichen Verordnungsverhalten der Ärzte zu suchen; laut Bundesministerium für Gesundheit vom 30. September sei das Arzneimittelbudget um 3,5 Prozent gestiegen. Bei dieser Zahl muss man ehrlicherweise fragen: Was ist darin enthalten? Zum einen ist darin die um 1 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer enthalten, zum anderen die verminderte Arzneimittelzuzahlung sowie die erweiterte Beitragsbefreiung bzw. Zuzahlungsbefreiung. Außerdem dürfen die Versäumnisse nicht vergessen werden, die Sie bei der Umsetzung des Festbetragsneuregelungsgesetzes und der Arzneimittelrichtlinien - Stichwort: Kompetenz des Bundesausschusses - hatten. Wenn ich dies alles berücksichtige, komme ich auf genau 5 Prozent. Diese Komponenten sind aber nicht von Ärzten zu vertreten, das ist ureigenstes Verschulden dieser Regierung. ({1}) Wenn die Regierung schon für 5 Prozent Ausgabensteigerung sorgt, kann sie doch nicht die Ärzte in Haftung nehmen, wenn sie 3,5 Prozent mehr ausgegeben haben. Die haben gegenüber dem Vorjahr sogar noch eingespart. ({2}) Die Innovationskomponente von 3,5 bis 4 Prozent ist darin noch nicht einmal enthalten. Sie müssen sich also schon etwas seriöser mit Ihren Zahlen beschäftigen. Jetzt kommt der Hammer. Ich finde es mehr als seltsam, wenn in der letzten Woche in der Zeitung zu lesen war, diese Regelung sei ungerecht und trage nicht zu einer verantwortlichen Verschreibungspraxis bei. Deshalb unterstütze die SPD den Kampf gegen den Kollektivregress. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der SPD, Sie brauchen den Kampf gegen den Kollektivregress nicht zu unterstützen, Sie müssen Ihr widersinniges Gesetz nur rückgängig machen. Dann ist das Problem schon gelöst. Es ist schon seltsam, dass man draußen vor Ort sagt, die SPD unterstützt den Kampf gegen den Kollektivregress, ({3}) und hier das entsprechende Gesetz beschließt. Sie müssen schon wissen, was Sie wollen. ({4}) Sie haben natürlich auch ein Recht zu fragen, welche Alternativen wir anbieten. Für uns gilt - das sage ich Ihnen klipp und klar - folgende Grundaussage: Wir wollen keine Patientenversorgung nach Kassenlage. Wir wollen eine bedarfsorientierte Versorgung. Wie kann man dies steuern? Frau Kollegin Bundesministerin, ich versuche zu erklären, wie man das zum Beispiel mit Richtgrößen und Regelvolumina machen kann. Ich setze mich auch gern einmal privat eine Stunde mit Ihnen zusammen, um über dieses Thema zu reden. Das mache ich wirklich gerne. ({5}) Die Kassenärztliche Vereinigung Nord-Württemberg - Herr Kirschner, das ist gar nicht so weit von Ihnen entfernt - führt in einem Schreiben Folgendes aus: Die Gesundheitspolitiker der Regierungskoalition und viele Vertreter der Krankenkassen werden nicht müde zu erklären, dass die Ablösung der Budgetierung der Arzneimittel durch Richtgrößen ein politisches Scheingeschäft sei und es keine Alternative zur Budgetierung gebe. Dies ist aus unserer Sicht eindeutig falsch; denn jetzt kommt es: Die Kassenärztliche Vereinigung Nord-Württemberg hat mit der AOK Baden-Württemberg bereits 1997 und 1998 bundesweit richtungsweisende strukturierte Verträge zu Regelleistungsvolumina, Richtgrößen für Arzneimittel, für Heilmittel und Sonderbedarf für chronisch Kranke verhandelt. - Ich hoffe, dass Dieter Thomae jetzt ruft: Können Sie das wiederholen? Dieses Konzept intelligenter Richtgrößen im Bereich der Arzneimittel und Heilmittel ist nach Meinung der AOK Baden-Württemberg ({6}) und der Kassenärztlichen Vereinigung Nord-Württemberg die zukunftsweisende Lösungsmöglichkeit. Deshalb sind 1998 entsprechende Verträge ausgehandelt worden. ({7}) Diese konnten allerdings wegen des Vorschaltgesetzes von Rot-Grün nicht realisiert werden. ({8}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, hören Sie auf Fachleute, stimmen Sie unserem Antrag zu! ({9}) Lassen Sie mich noch ein paar Sätze zu Ihrem Antrag sagen, den Sie jetzt eingebracht haben, und zwar zur größeren Verteilungsgerechtigkeit bei kassenärztlichen Honoraren. Dass hier Handlungsbedarf besteht, ist zunächst, glaube ich, unumstritten. Wir sind auch der Auffassung, dass dieses Thema okay ist. Aber nicht okay ist, dass man hier jetzt wieder eine Flickschusterei betreibt. Dabei stehen doch eine RSA-Reform und eine Organisationsreform der Krankenkasse an. Das Thema muss man einbinden, aber Sie greifen wieder einen Punkt heraus. Es ist übrigens auch sehr verdächtig, Frau Ministerin: Die Fraktion fordert Sie auf, etwas zu tun. ({10}) Normalerweise könnten ja Regierung und Regierungskoalition ein bisschen besser zusammenarbeiten. ({11}) - Außer Ihnen ist wohl niemand davon überzeugt, Herr Kollege Kirschner. Lassen Sie mich noch eins zu Ihrem Hauptargument im Zusammenhang mit der Budgetierung sagen. Sie haben gesagt, dass wir Budgetierung bräuchten, damit die Beiträge stabil bleiben. Wenn ich richtig informiert bin - das bin ich öfter -, wird die AOK Bayern, eine der größten Kassen in Deutschland, im kommenden Jahr ihren Beitragssatz von 13,7 Prozent auf 14,2 Prozent erhöhen. Gute Nacht, Budgetierung! ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der SPD spricht nunmehr die Kollegin Helga Kühn-Mengel.

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich kann es mir nicht ganz verkneifen, Herr Kollege Zöller, Ihre Ausführungen in Richtung der Bundesgesundheitsministerin als recht überheblich und machomäßig zu bezeichnen. ({0}) Die Ministerin muss nicht verteidigt werden, aber mir ist es ein Bedürfnis, das hier loszuwerden. ({1}) Es ist doch ganz einfach, zu sehen, welche Politik Sie umsetzen. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt doch konkret: Zuzahlungen und Belastungen chronisch Kranker. Wir bleiben dabei: von 1998 auf 1999 mehr als 1 Milliarde DM Entlastung im Arzneimittelbereich. ({2}) Sie haben doch die Reha kaputtgemacht, Frau Dr. Bergmann-Pohl. ({3}) Sie haben die Verschwendung nicht eingegrenzt. Sie haben den Zahnersatz bei Jugendlichen gestrichen. Ist das denn alles vergessen? ({4}) Die nach dem 1. Januar 1979 Geborenen sollten keinen Zahnersatz mehr erhalten und diejenigen, die zuerst noch fragten, was brauchen Jugendliche Zahnersatz, haben dann hinterher gemerkt, dass die Regelung ein Leben lang gelten sollte. Sie haben doch die Präventionen kaputtgemacht. ({5}) - Sie haben den § 20 aus dem Sozialgesetzbuch V gestrichen. ({6}) - Aber natürlich. Wir haben ihn wieder aufgenommen. So ist das. ({7}) Das Wort Selbsthilfe, Frau Dr. Bergmann-Pohl, kam doch bei Ihnen überhaupt nicht vor. ({8}) Wir haben dieses Element eingeführt und pro Person 5 DM für die Prävention und 1 DM für die Stärkung der Selbsthilfe in das Sozialgesetzbuch geschrieben. Das sind die Fakten. ({9}) Wir haben ein gutes Gesundheitssystem, weil es ein solidarisches ist. Es gilt, die guten Seiten unseres Systems auch zu bewahren. Fahren Sie nach Amerika und Sie sehen, wie es hier nicht sein sollte: 40 Millionen, die aus dem System ständig ausgegrenzt sind, und noch viel mehr, die es vorübergehend sind. Gleichzeitig haben wir auch strukturelle Defizite - auch das müssen wir ehrlicherweise immer sagen -, und zwar im Bereich der Verordnung umstrittener Arzneimittel. Wir haben eine zu hohe Arztdichte. Wir haben eine mangelhafte Vernetzung zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Wir haben im internationalen Vergleich eine zu lange Verweildauer im Krankenhaus. ({10}) Wir hatten auch eine auf zu wenig Qualität, Effizienz und Evidenz basierende Medizin. Wir haben viele dieser Bereiche gestärkt und entsprechende Weichen gestellt. Wir haben den Hausarzt gestärkt, die Vernetzung des stationären und des ambulanten Bereichs verbessert und den Präventionsparagraphen wieder in das Sozialgesetzbuch aufgenommen. Wir haben den Koordinierungsausschuss gegründet, der pro Jahr chronische Krankheiten in der Behandlung und Therapie definieren soll. ({11}) Was war Ihre Alternative zu unserem Gesundheitsreformentwurf? Ein schlappes Papier, auf dem ein Eintrittsgeld sowie Zuzahlungen und Tagegeld im Krankenhaus verzeichnet waren und nichts, was die strukturellen Schwierigkeiten wirklich hätte beheben können. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Kühn-Mengel, Sie sind jetzt schon ein Stück weitergegangen. Ich möchte auf § 20 SGB V zurückkommen, den Sie so hervorgehoben haben und der theoretisch eigentlich sehr positiv ist. Was tut Ihre Koalition, damit die Kassen die 1 DM für die Selbsthilfe in Zukunft auch wirklich auszahlen? Wir bekommen doch von vielen Selbsthilfeorganisationen, Betroffeneninitiativen und Initiativen chronisch Kranker Klagen darüber, dass die Kassen mauern ({0}) und das Geld nicht auszahlen, das für die Selbsthilfe dringend gebraucht wird.

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde nicht sagen, dass die Kassen mauern. ({0}) Richtig ist, dass Kataloge der zu fördernden Maßnahmen und Gruppen erstellt werden und dass es da auch Schwierigkeiten bei der Definition von Prioriäten gibt. All das sei zugestanden. Richtig ist daher auch, dass wir energisch die Umsetzung dessen fordern müssen, was an guten Dingen von uns auf den Weg gebracht wurde. ({1}) Jetzt komme ich zu den Psychotherapeuten. Es ist richtig: Im Jahr 1999 gab es einen bundesweiten Punkte-, also Honorarverfall bei der Vergütung psychotherapeutischer Leistungen, der Teile des Berufsstandes existenziell bedroht hat und durch den Therapeuten in eine schwierige wirtschaftliche Situation gekommen sind. Auch ist in manchen Regionen die psychotherapeutische Versorgung gefährdet gewesen. Es wurden nun von der PDS ein Antrag und von der F.D.P. ein Gesetzentwurf vorgelegt. Beide Vorlagen befassen sich mit der Situation der Vergütung. Ihr Beitrag, sehr geehrte Damen und Herren von F.D.P. und PDS, ist, wie ich meine, wenig originell. Der ewige Budgetierungsvorwurf an die rot-grüne Regierung hilft den Psychotherapeuten ebenso wenig wie der F.D.P.Vorschlag. ({2}) Die Situation hat sich doch deutlich entspannt; das werden auch Sie zugeben. ({3}) Den F.D.P.-Vorschlag zur Gegenfinanzierung einer angemessenen Vergütung, der darin besteht, die Patienten und Patientinnen pro Therapiestunde mit einer Selbstbeteiligung zu belasten, können wir natürlich überhaupt nicht billigen, haben wir doch die Zuzahlung abgeschafft und wollen wir hier auch nicht wieder einen Graben zwischen den somatisch und den psychisch Kranken aufreißen. ({4}) Gerechtigkeit ist offensichtlich ein Fremdwort für Sie.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Fuchs?

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Bitte schön.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Liebe Kollegin, Ihre Kritik an der Argumentation der F.D.P. zur Budgetierung halte ich für richtig. Aber haben Sie bei meinem Vortrag zugehört? Ich habe nämlich die Art und Weise kritisiert, wie Sie das Budget umsetzen, aber nicht prinzipiell gegen das Budget gesprochen. Ich möchte nicht mit der F.D.P. in einen Topf geworfen werden.

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ihr Vorschlag ist sicherlich differenzierter als der der F.D.P. Richtig ist aber auch, dass sich durch unsere Maßnahmen - ich verweise auf § 85 des Solidaritätsstärkungsgesetzes, auf die Anhörung zu diesem Thema, auf unsere Initiativen bei den Ländern im Zusammenhang mit den Schiedsämtern usw. - und nicht zuletzt durch neues Geld im System die Situation deutlich entspannt hat. ({0}) Die Einführung einer Selbstbeteiligungspauschale ist also deshalb keine Lösung, weil sie die psychisch Kranken schlechter stellt als die somatisch Kranken und weil es darüber hinaus nur der Anfang von Zuzahlung und Eintrittsgeldern bei allen Arztgruppen wäre. Beides, vor allem die Benachteiligung psychisch Kranker, wollen wir nicht. ({1}) Im Übrigen könnte die Selbstbeteiligung auch dazu führen, dass es durch Fehlbehandlung oder Nichtbehandlung zu einer Chronifizierung der psychischen Störung kommt. Dies ist schon wegen der gesellschaftlich zu tragenden Folgelasten abzulehnen. Ich möchte noch einmal betonen, dass Psychotherapie eine Krankheitsbehandlung ist, also eine Methode, die zur Behandlung einer ganz bestimmten Krankheit gewählt werden muss und nicht durch andere Behandlungsmethoden ersetzt werden kann. Auch das zweite Standbein der F.D.P.-Gegenfinanzierung bietet nicht viel Halt. Sie wollen die finanzielle Unterstützung von Patienten und Verbraucherorganisationen durch die gesetzliche Krankenkasse rückgängig machen, um mit den frei werdenden Mitteln die Psychotherapie zu stärken. Glauben Sie ernsthaft, dass wir ein Gesetz, das wir gerade auf den Weg gebracht haben und das ein richtiges Instrument darstellt, jetzt wieder zurücknehmen wollen? Patientenrechte zu stärken, den Patienten informierter und selbstbewusster zu machen ist doch ein ganz wichtiger Baustein der erfolgreichen Gesundheitspolitik von Rot-Grün. ({2}) Im Übrigen: Einführung von Selbstbeteiligungspauschalen, einseitige Belastung der Krankenkassen und Abbau der Patientenrechte verdeutlichen, wie sich Liberale ein Gesundheitssystem vorstellen. ({3}) Deswegen sind wir gegen Ihren Gesetzentwurf und wollen ihn verhindern. Richtig ist, dass es bei der Umsetzung der Integration der Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen in die Kassenärztlichen Vereinigungen Schwierigkeiten gab. Es zeichnet sich aber ab, dass diese Startschwierigkeiten bald überwunden sein werden. Es ist eben so, dass dahinter Verteilungskämpfe stecken. Wir müssen immer wieder darauf hinweisen. Bei der Auseinandersetzung mit den Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen geht es um die Verteilung von Geldern. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Mit ihrem Entwurf möchte die F.D.P. die Punktwertedifferenz für das Jahr 1999 so erhöhen, dass die Psychotherapeuten eine angemessene Vergütung erhalten. Das sieht auf den ersten Blick verführerisch aus, bedeutet aber nichts anderes, als dass das die Kassenärztlichen Vereinigungen auf Kosten der Krankenkassen, die dann die Rechnungen begleichen müssten, aus ihren Verpflichtungen entlassen würde. Deswegen lehnen wir auch das ab. Wir verweisen darauf, dass der Honorartopf auf der Grundlage von Art. 11 des Psychotherapeutengesetzes im Jahr 2000 bereits mit rund 250 Millionen DM aufgefüllt wurde. Das Nachschießen von Geld ist ohnehin nicht immer das Mittel der Wahl, solange die Datenlage der Kassenärztlichen Vereinigungen gerade in diesem Bereich nicht klar ist. Solange noch nicht feststeht, wo eigentlich die für die Psychotherapeuten gedachten Mittel hingeflossen sind - auch diese Frage war Bestandteil der Anhörung -, so lange müssen wir uns mit diesem System befassen, eine bessere Transparenz der Daten einfordern und werden uns davor hüten, in dieses System Geld nachzuschießen. Bisher ist nicht klar, in welche Kanäle das Geld versickert. ({4}) - Das haben Leute aus dem Kassenbereich gesagt. Es geht dabei um eine Größenordnung von 300 Millionen DM. Der Vergütungswert für das zweite Halbjahr 1999 ist vor allem deshalb so dramatisch gesunken, weil das Honorarvolumen von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zum Teil gesenkt worden ist. Auch das muss Erwähnung finden und muss auch in den Gesprächen mit den Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen immer wieder Erwähnung finden. Es haben Verteilungskämpfe zulasten der Psychotherapeuten stattgefunden. Eine wahllose Nachbesserung des Budgets ist unsinnig, solange nicht gesichert ist, dass das Geld bei denen ankommt, die es verdienen. Wir haben es auch mit einem Problem der Selbstverwaltung zu tun und nicht unbedingt mit einer unzureichenden Gesetzeslage. Mir ist wichtig das zu sagen. Die Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen haben es mit einem sehr interessenorientierten System zu tun, in das sie nun hineinwachsen. In diesem Zusammenhang bedarf es einer politischen Begleitung, um sie bei diesem Hineinwachsen zu unterstützen. Wir werden es jedenfalls nicht zulassen, dass die Lasten allein von den gesetzlichen Krankenkassen getragen werden. Das ist mit einer SPDMehrheit im Parlament nicht zu machen. Wir von der rot-grünen Koalition - ich habe es bereits erwähnt - haben gehandelt: Gesundheitsreform 2000 und § 85 Abs. 4 SGB V, durch den wir die Kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet haben, im Verteilungsmaßstab Regelungen zur Vergütung der Leistungen der Psychotherapeuten zu finden. Das war ein ganz wichtiger Schritt, denn damit wollten wir zum Ausdruck bringen, dass die Psychotherapeuten bei einem drohenden Punktwertverfall ihre Leistungen - im Gegensatz zu anderen Arztgruppen - nicht beliebig ausweiten können. Deswegen haben wir hier eine Auffangregelung geschaffen, die sich als Schutznorm bewährt hat. Wir müssen gerade in diesem Bereich alle Beteiligten, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen, in die Pflicht nehmen. Wir wollen eine solidarische Krankenversicherung, eine Gleichstellung der seelisch Kranken mit den körperlich Kranken und wollen nicht nach dem F.D.P.-Motto verfahren: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letztem Redner in dieser Debatte gebe ich nunmehr dem Kollegen Hans Georg Faust das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Hans Georg Faust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz vom Januar 1999 hatte uns Frau Fischer versprochen, dass die sektoralen Budgets nur noch ein Jahr gelten sollen. Alle, die darauf vertraut hatten, wurden bitter enttäuscht; denn der Entwurf des Gesundheitsreformgesetzes 2000 enthielt neben dem Globalbudget weiterhin die sektoralen Budgets als Sicherheitskonstruktion. Das atemberaubende Globalbudget wurde heute schon angesprochen. Am Ende haben alle kalte Füße bekommen, ({0}) unter anderem auch die Krankenkassen; denn sie haben erkannt, dass sie das System nicht steuern können. Wenn die meisten Dinge vertraglich und gesetzlich festgelegt sind, dann verbleiben den Krankenkassen keine Steuerungsmöglichkeiten mehr. Da auch noch 15 Prozent für eigene Kosten anfallen, können sie ein derartiges atemberaubendes Budget nicht steuern. Deswegen haben sich die Krankenkassen sehr schnell von dieser Konstruktion zurückgezogen. Da das Globalbudget nicht durchgesetzt werden konnte, haben Sie Ihr Versprechen nicht eingelöst bzw. Sie konnten es nicht einlösen. Die sektoralen Budgets als Ausgabebudgets für die vertragsärztliche Gesamtvergütung, für die Arznei- und Heilmittelversorgung und für die Krankenhäuser sind uneingeschränkt bestehen geblieben. Frau Ministerin, Sie haben gesagt, wir müssten uns Gedanken machen, wie das System zu steuern sei. Ich denke, auch mit dem Gesundheitsreformgesetz 2000 wurde wieder suggeriert, dass ein Gesundheitswesen ohne Leistungsbegrenzung finanzierbar ist. Aber im Mittelpunkt eines verantwortlichen Gesundheitswesens steht nicht die Finanzierbarkeit aller Leistungen, sondern die therapeutische Beziehung zwischen Arzt und Patient. ({1}) So wie der Arzt - das steht in der ärztlichen Berufsordnung - sowohl die Gesundheit des einzelnen Menschen als auch die der Bevölkerung im Blick haben muss, so ist im Umkehrschluss auch die Politik verpflichtet, sich nicht nur auf die strukturellen politischen Ebenen zurückzuziehen, sondern auch den schutzbedürftigen therapeutischen Kernbereich in der Arzt-Patienten-Beziehung zu berücksichtigen. Während in der Vergangenheit die ärztliche Standesethik stabile Wertegerüste in das Gesundheitswesen hineingebracht hat, gibt es nun eine moderne Entwicklung, die die Akzente in Richtung Ökonomie und - ich möchte das nicht grundsätzlich kritisieren; aber man muss es sehen - hin zu anderen Therapeutengruppen, hin zu Patienteninteressenvertretern und hin zu den Krankenkassen verschiebt. Dadurch ergibt sich ein vollkommen neues Bild. Der Bedarf an medizinischen Leistungen ist nicht definiert. Möglicherweise ist der konkrete Bedarf an medizinischen Leistungen gar nicht sauber definierbar. Aber die Sehnsucht nach einer Definition des Bedarfs an medizinischen Leistungen wird immer größer. Solange wir uns nicht darüber einig sind, welche Werte Grundlage für die Steuerungsentscheidungen im Gesundheitswesen sein sollen und wer innerhalb des Gesundheitssystems entscheiden soll - der Arzt, die Politik oder die Krankenkassen -, so lange dürfen wir uns nicht wundern, dass Kostenstoppmechanismen wie Budgets kalt regeln, welcher Patient welches Medikament bekommt oder nicht bekommt, welche Behandlung er erhält oder nicht erhält und welches Schicksal er letztendlich dadurch erdulden muss. Mit Blick auf das Wertegerüst der Ärzteschaft in der Vergangenheit, das ich eben angesprochen habe, muss ich feststellen, dass jetzt in dem neuen pluralen System nicht einmal mehr die Rolle des Arztes eindeutig definiert ist, jedenfalls seitdem der Gesetzgeber die Rollenzuweisung vornimmt und zum Beispiel den Hausarzt als Lotsen definiert und unterschiedliche Hausarzt- und Facharzttöpfe schafft. Die alte Devise „Wir müssen rationalisieren, damit wir nicht rationieren müssen“ ist ein hohles Versprechen. Wir müssen umbauen, damit wir möglichst wenig abbauen müssen. Wir müssen festlegen, was uns wichtig und was weniger wichtig ist. Wir müssen die Regeln für diesen Umbau festlegen. ({2}) Frau Ministerin Fischer, das haben Sie nicht getan und Sie wollen es in dieser Legislaturperiode auch nicht mehr tun. Sie wollen keine weitere Reform auf den Weg bringen. Damit liefert die rot-grüne Regierung das Gesundheitswesen, die Patienten und ihre Therapeuten der kühlen Mathematik der Budgets aus. Was ist das für ein System, in dem Ärzte aus Angst vor Budgetüberschreitungen Alzheimerpatienten keine Cholinesterasehemmer, Schizophrenen keine innovativen atypischen Neuroleptika, Asthmapatienten nicht ausreichend inhalative Steroide und Multiple-Sklerose-Patienten zu selten Beta-Interferon verordnen? Das alles geschieht aus Angst vor dem doppelten Damoklesschwert des Individual- und des Kollektivregresses. In dieser Fachdiskussion ist über Richtgrößen - das Ablösen bzw. Begleiten des Budgets - gesprochen worden. Es muss doch klar sein, dass ein Arzt, der in einer Richtgrößenprüfung - Richtgrößen sind zur Begrenzung der Arzneimittelausgaben der Ärzte eingeführt worden keine Beanstandungen hat, aus dem System raus ist. Wie will man einem Arzt, der diese Prüfung bestanden hat, im Rahmen eines Kollektivregresses noch Geld wegnehmen? Das ist verfassungswidrig und wird in keinem Fall gelingen. Das wissen Sie. ({3}) Was ist das für ein System, das auf integrierte Versorgung und Beseitigung der Probleme im Bereich der Verzahnung von ambulanter und stationärer Behandlung setzt, aber Hausärzte von Patienten, die nach einer Knochen -oder Weichteiloperation früh aus dem Krankenhaus entlassen werden - das wollen wir doch alle - dadurch bestraft, dass es die notwendigen blutverdünnenden Spritzen zur Verhinderung von Thrombosen - immerhin relativ teuer - zulasten des Budgets des Hausarztes gehen lässt? Dabei sollte doch Geld der Leistung folgen und die Verweildauer in den Krankenhäusern verkürzt werden. Wir haben es mit Systemfehlern Ihrer auf die Schaffung von Budgets ausgerichteten Gesundheitspolitik zu tun. ({4}) Was ist das für ein System, das es zulässt, dass im Arztbrief der entlassenen Krankenhauspatienten die Verordnung teurer Medikamente angeraten wird - das passiert tagtäglich; ich weiß das aus meinem eigenen Bereich -, wenn sich der Hausarzt dann in langen Gesprächen mit den Patienten dahin gehend auseinander setzen muss, warum stattdessen auf ein preiswerteres Medikament - das wollen Sie, das wollen wir alle - umgestellt werden soll? Wenn man versucht, dieses Ziel mit Budgetmaßnahmen zu erzwingen, dann kommt es zu der katastrophalen Situation, dass die viel beschworene „sprechende“ Medizin den Patienten die Fehler rot-grüner Politik erklären muss und sich nicht der Erkrankung des Patienten widmen kann. ({5}) Was ist das für ein System, in dem die ärztliche Vergütung inzwischen so weit abgesenkt wurde, dass viele Leistungen nicht mehr kostendeckend erbracht werden können? Die Punktwerte in den Arztpraxen sind dramatisch gesunken. Wenn man mit Punktwerten von 10 Pfennig kalkuliert hat, dann sind Punktwerte - wie in Niedersachsen jetzt erwartet - von 5 bis 6 Pfennig für ambulante Operateure - das ambulante Operieren wollten wir besonders fördern; entsprechende OP-Einrichtungen sind geschaffen worden - eine Katastrophe. Die Krankenhäuser mit ihren bis zum Jahre 2003 fortgeschriebenen Budgets trifft die Umstellung auf das neue durchgängige, leistungsorientierte und pauschalierende Vergütungssystem. Die eine Hälfte der Krankenhäuser wird zu den Verlierern gehören; die andere Hälfte wird möglicherweise zu den Gewinnern gehören, und zwar dann, wenn sie die Einnahmen aus denjenigen Bereichen, wo sie sich besser stellen, behalten können. Das ist aber noch nicht vollkommen klar. Wir wissen überhaupt noch nicht, wie dieses System funktionieren soll. Wir wissen nicht, ob wir Festpreise haben werden. Wir wissen nicht, ob wir Höchstpreise haben werden. Wir wissen nicht, ob wir Richtpreise haben werden. Wir wissen nicht, wie die Krankenhäuser mit dem Budget zurechtkommen sollen. Wir wissen nicht, welche Anpassungszeiten es für die Krankenhäuser gibt. Der Handlungsbedarf ist enorm. Diese Fragen müssen in der nächsten Zeit auf den Tisch. Aber wir hören nichts davon, wie es mit den Krankenhäusern weitergeht. Auf jeden Fall liegt die Vermutung nahe, dass, nachdem die Veränderungen in der Krankenhausplanung bzw. in der Krankenhausfinanzierung, angedacht mit dem Reformentwurf 2000, nicht zum Tragen gekommen sind, über die DRGs - das neue Vergütungssystem - eine stromlinienförmige Bereinigung der deutschen Krankenhauslandschaft erfolgen soll. Fachleute sagen, dass die Budgetverschiebung Mindereinnahmen von 15 Prozent nach sich ziehen wird. Das verkraftet kein Krankenhaus. Das wird zulasten der kleinen kommunalen Krankenhäuser in den Flächenländern gehen. ({6}) Ich sehe einen enormen Handlungsbedarf. Es muss etwas passieren; Reformschritte müssen eingeleitet werden. Budgets sind keine Lösung für die Zukunft. Sie verschärfen die Rationierung. Budgets müssen abgeschafft werden. Wir müssen in einem ersten Schritt budgetablösende arztgruppenspezifische Richtgrößen schaffen. Das muss mit medizinisch begründeten Leitlinien kombiniert werden. Natürlich sind die Fachgesellschaften aufgerufen, Leitlinien zu schaffen, und diese Leitlinien müssen auch mit einer ökonomischen Bewertung versehen werden. Das ist ja gar keine Frage. Es gibt doch intelligente Steuerungsmechanismen; also führen wir sie gemeinsam ein. Wir müssen Regelleistungsvolumina haben, um den Ärzten am Ende eine vernünftige Vergütung zukommen zu lassen. In einer grundlegenden Diskussion muss dann die Frage geklärt werden, was im Rahmen des bisherigen Systems weiterhin von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert werden muss und was nicht und wie die Einnahmeseite aussehen soll. In der Diskussion heute geht es um die Frage, wer nun für Kern- und Wahlleistungen ist. Die Grünen haben in ihrem Parteiratsbeschluss gesagt, es muss eine Überprüfung geben, da in Zukunft nur das medizinisch Notwendige von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden kann. Dem stimme ich zu. Lassen Sie uns daran gehen, den Kernbereich des medizinisch Notwendigen zu definieren und alles andere herauszunehmen. Dann ist die Diskussion um Kern- und Wahlleistungen erledigt. Meine Damen und Herren, eine Reform ist dringend nötig; aber Rot-Grün will eine neue Reform in dieser Legislaturperiode nicht mehr anpacken. Viele Patienten können aber nicht mehr warten. Schaffen Sie wenigstens die Budgets ab! Stellen Sie die Arzt-Patienten-Beziehung auf die bestmögliche Basis, die unter den jetzigen Bedingungen möglich ist! Vielen Dank. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache zu Tagesordnungspunkt 4 a. Interfraktio- nell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksa- che 14/4604 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. - Das Haus ist damit einver- standen. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zu Tagesordnungspunkt 4 b. Wir kommen zur Abstim- mung über den Entwurf der Fraktion der F.D.P. über ein Gesetz zur Sicherung einer angemessenen Vergütung psy- chotherapeutischer Leistungen im Rahmen der gesetzli- chen Krankenversicherung auf Drucksache 14/3086. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Drucksa- che 14/4849 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf abzu- lehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der F.D.P. auf Druck- sache 14/3086 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung eine weitere Beratung. Zu Tagesordnungspunkt 4 c zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Existenzsichernde Vergütung der psychotherapeutischen Versorgung gewährleisten“ auf Drucksache 14/4849. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksa- che 14/2929 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. Zu Zusatzpunkt 3. Interfraktionell wird die Überwei- sung der Vorlage auf Drucksache 14/4891 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen jetzt zu Überweisungen im vereinfachten Verfahren. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis g auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Bundesdisziplinarrechts ({0}) - Drucksache 14/4659 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts und zur Änderung anderer Vorschriften ({2}) - Drucksache 14/4660 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({3}) Innenausschuss Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 12. April 1999 zum Schutz des Rheins - Drucksache 14/4674 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Tourismus d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 15. Februar 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Kö- nigreich Kambodscha über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksache 14/4706 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver- trag vom 3. Juni 1999 zwischen der Bundesre- publik Deutschland und der Tschechischen Republik über das Grenzurkundenwerk der gemeinsamen Staatsgrenze - Drucksache 14/4707 - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 15. September 1998 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Gabuni- schen Republik über die gegenseitige Förde- rung und den gegenseitigen Schutz von Kapi- talanlagen - Drucksache 14/4708 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Satellitengestütztes Umwelt-Monitoring als Instrument einer nachhaltigen Politik - Drucksache 14/3696 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Das Haus ist einverstanden. Dann ist so beschlossen. Wir kommen jetzt zu abschließenden Beratungen ohne Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 a auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen ({6}) - Drucksachen 14/4063, 14/4815 ({7}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie - Drucksache 14/4892 Berichterstattung: Abgeordneter Elmar Müller ({8}) Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen auf den Drucksachen 14/4063, 14/4815 und 14/4892. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Einstimmig. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 29 b: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Anpassungsprotokollen zu den Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits, der Republik Ungarn, der Tschechischen Republik, der Slowakischen Republik, der Republik Polen, der Republik Bulgarien und Rumänien andererseits - Drucksache 14/3464 ({9}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({10}) - Drucksache 14/4837 Berichterstattung: Abgeordnete Winfried Mante Markus Meckel Peter Hintze Michael Stübgen Christian Sterzing Dr. Helmut Haussmann Manfred Müller ({11}) Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union empfiehlt auf Drucksache 14/4837, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen möchten, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 d: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung eines Fonds „Deutsche Einheit“ und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern - Drucksache 14/4436 ({12}) Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({13}) - Drucksache 14/4922 Berichterstattung: Abgeordnete Hans Jochen Henke Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Uwe-Jens Rössel Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 29 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 218 zu Petitionen - Drucksache 14/4839 Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 218 ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 29 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 219 zu Petitionen - Drucksache 14/4840 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 219 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 220 zu Petitionen - Drucksache 14/4841 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 220 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen. Tagesordnungspunkt 29 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 221 zu Petitionen - Drucksache 14/4842 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 221 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Tagesordnungspunkt 29 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 222 zu Petitionen - Drucksache 14/4843 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 222 ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen. Tagesordnungspunkt 29 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 223 zu Petitionen - Drucksache 14/4844 Wir stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 223 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 224 zu Petitionen - Drucksache 14/4845 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 224 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 29 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 225 zu Petitionen - Drucksache 14/4846 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 225 ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 29 m: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({22}) zu den Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/00 und 2 BvE 2/00 - Drucksache 14/4866 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Rupert Scholz Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in dem Organstreitverfahren der Fraktion der CDU/CSU gegen die Bundesregierung wegen Nichteinleitung eines Bund-Länder-Streits keine Stellungnahme abzugeben. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, in dem Organstreitverfahren des Abgeordneten Pofalla gegen den Deutschen Bundestag eine Stellungnahme abzugeben. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Präsidenten zu bitten, in diesem Verfahren Herrn Professor Dr. Morlok mit der Prozessvertretung zu betrauen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen. Zusatzpunkt 4 a: Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. Wiederherstellung und archivarische Ordnung vorvernichteter Stasi-Unterlagen - Drucksache 14/4885 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Zusatzpunkt 4 b: Beratung des Antrags der Bundesregierung Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung - Drucksache 14/4912 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Zusatzpunkt 4 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 226 zu Petitionen - Drucksache 14/4900 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Enthaltung der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen. Zusatzpunkt 4 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 227 zu Petitionen - Drucksache 14/4901 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit dem gleichen Stimmergebnis angenommen. Zusatzpunkt 4 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 228 zu Petitionen - Drucksache 14/4902 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Enthaltung der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen. Zusatzpunkt 4 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 229 zu Petitionen - Drucksache 14/4903 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Sammelübersicht ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Zusatzpunkt 4 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 230 zu Petitionen - Drucksache 14/4904 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. mit den Stimmen des Hauses angenommen. Zusatzpunkt 4 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 231 zu Petitionen - Drucksache 14/4905 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Zusatzpunkt 4 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 232 zu Petitionen - Drucksache 14/4906 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen. Zusatzpunkt 4 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 233 zu Petitionen - Drucksache 14/4907 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen der PDS mit den Stimmen des Hauses angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Heidemarie Ehlert, Dr. Christa Luft und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umsatzsteuergesetzes - Drucksache 14/2386 ({31}) ({32}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({33}) - Drucksache 14/4046 Berichterstattung: Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme Dr. Barbara Höll Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4046, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2386 ({34}) abstimmen. Wer diesem Gesetzentwurf zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Ich rufe nunmehr den Zusatzpunkt 5 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Umgang der Bundesregierung mit der BSEKrise Ich eröffne die Aussprache und gebe für den Antragsteller zunächst dem Kollegen Heinrich-Wilhelm Ronsöhr das Wort. ({35})

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal ist man schon sehr überrascht, ({0}) wie bestimmte Behörden oder Institutionen in diesem Lande mit BSE umgehen. Gestern ist aufgrund der Einlassung von Wissenschaftlern im Ernährungs- und im Gesundheitsausschuss und vielleicht auch in anderen Ausschüssen bekannt geworden, dass der Kopf des Tieres aus Schleswig-Holstein, dem man Testmaterial entnommen hat, um das Tier auf BSE zu überprüfen, und bei dem der Test positiv ausging, verschwunden ist, ({1}) sodass das Probematerial noch einmal getestet werden musste. Ich finde das mehr als eigentümlich. Ich finde es auch eigentümlich, dass die schleswig-holsteinische Landesregierung niemanden darüber informiert, dass sie die Identität des Tieres jetzt noch einmal durch einen DNA-Test kontrollieren lässt. Die Öffentlichkeit sollte darüber informiert werden. Es ist mehr als eigentümlich, dass ein solcher Kopf einfach verschwindet und niemand weiß, wo er sich befindet. ({2}) Gott sei Dank ist der Kadaver des Tieres noch vorhanden, sodass man einen DNA-Test durchführen kann. Nein, das zeigt ein Stück weit den Umgang mit BSE. ({3}) Ein solches Vorgehen entspricht weder dem Seuchenrecht in Deutschland noch einem Verfahren, das der Bedeutung dieses Falles gerecht wird. Das muss man hier ansprechen. ({4}) Es darf doch in diesem Lande nicht bananenrepublikanisch zugehen. ({5}) Meine Damen und Herren, ich möchte auch einen anderen Punkt ansprechen: die Widersprüche, die sich aus dem Verhalten der Bundesregierung dauernd ergeben. In der letzten Woche haben wir hier in diesem Hause fast geschlossen ein Gesetz verabschiedet. Vorher, im Ausschuss, hat die Bundesregierung Erklärungen abgegeben, welche Vorstellungen sich europaweit durchsetzen ließen. Davon ist mehr oder weniger nichts umgesetzt worden. ({6}) Nun gibt es folgende Situation: Ein Fischmehlproduzent aus Cuxhaven darf sein Fischmehl nicht nach Holland liefern. Aber mit Fischmehl gefütterte Schweine aus Holland dürfen nach Deutschland importiert werden. Entspricht dies dem Verbraucherschutz Rechnung tragenden Märkten? Ich sage: nein. ({7}) Jetzt sagt Herr Funke, ein besseres Verhandlungsergebnis sei nicht möglich gewesen. Aber im Ausschuss hat er etwas anderes erklärt. Heute Morgen habe ich in der „Welt“ gelesen, dass Frau Fischer mit Herrn Funke nachverhandeln will. ({8}) Am Montag haben sie - so wurde es mir gesagt - im Ernährungsministerium gesessen und mit Juristen darüber gesprochen, welche Konsequenzen aus der Beschlussfassung der Europäischen Union zu ziehen seien. Jetzt sagt Frau Fischer, sie werde all die Ergebnisse, die Herr Funke ausgehandelt bzw. nicht ausgehandelt hat, wieder wegverhandeln. Das sind doch Widersprüche in Punkten, in denen es im Grunde genommen keine Widersprüche geben dürfte. ({9}) Gestern Morgen erklärte uns die Gesundheitsministerin, ({10}) dass es BSE-Schnelltests erst bei Rindern, die älter als 30 Monate sind, geben wird. Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben das in der letzten und auch in dieser Woche kritisiert. Heute lese ich, dass sich Frau Fischer - wahrscheinlich aufgrund einer Pressemitteilung, die uns gestern im Ausschuss vorlag - in diesem Punkt korrigiert hat. Bespricht sich denn Frau Fischer nicht mit den Wissenschaftlern in ihrem Hause? Zieht sie nicht aus ihren Gesprächen mit diesen Wissenschaftlern die entsprechenden Konsequenzen für ihre Politik? Oder entnimmt sie die Ergebnisse ihrer eigenen Politik aus der Presse? Das ist doch ein Verfahren, das so nicht fortgeführt werden kann, wenn man das Vertrauen des deutschen Verbrauchers und Landwirts in die Politik wieder stärken möchte. ({11}) Es geht ja noch weiter.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Aber bei Ihnen nicht mehr lange, Herr Kollege Ronsöhr. ({0}) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, Herr Präsident. - Am Wochenende wurde eine Verordnung in Bezug auf die Fütterung von Kälbern angekündigt. Diese Verordnung ist nie erschienen, obwohl die Pressemitteilung des Landwirtschaftsministeriums aussagt, dass das dem Tierschutzgedanken und dem Verbraucherschutzgedanken entspricht. Ja, wem entspricht sie denn nun? Wenn sie dem Tierschutz- und dem Verbraucherschutzgedanken entsprochen hätte, dann hätte die Bundesregierung diese Verordnung durchsetzen müssen. Sie hat sie aber nicht durchgesetzt. Gestern hat Herr Minister Funke festgestellt, dass die Kälberhalter, wenn sie dieses Futter noch übergangsweise verfüttern, jetzt in die Illegalität getrieben werden. Aber Frau Fischer hilft ihm nicht dabei, diese Illegalität in der deutschen Kälbermast zu beenden. Wir fordern eine Beendigung der Illegalität, entweder von Herrn Funke alleine oder von beiden Ministern gemeinsam durchgesetzt. Es kann doch nicht bei diesen Widersprüchen bleiben.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Ronsöhr!

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Damit es jetzt nicht zu einem Widerspruch zwischen dem Herrn Präsidenten und mir kommt, höre ich jetzt auch auf, zu reden. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich danke Ihnen für Ihre Großzügigkeit. Ich gebe nunmehr das Wort für die SPD-Fraktion der Kollegin Regina Schmidt-Zadel.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will nicht auf die Versäumnisse der Politik eingehen, auch nicht auf die Versäumnisse Ihrer Politik. Ich gehe davon aus, dass manche Ver-haltensweisen der Vergangenheit - auch der Vorgängerregierung - auf die in ganz Europa vorherrschende Unkenntnis über diese Erkrankung zurückzuführen waren. Ich habe eine Liste von Zitaten dabei, die ich Ihnen gerne anschließend überreichen kann. Ich will aber jetzt nicht auf dieser Basis argumentieren. Uns geht es um die Sicherheit der Verbraucherinnen und Verbraucher. ({0}) Darüber wollen wir in dieser Aktuellen Stunde diskutieren. ({1}) Die Erkrankung, über die wir heute reden, ist seit mittlerweile 15 Jahren in Europa bekannt. Trotz dieser langen Zeit wissen wir über den Erreger und seine Eigenarten noch immer viel zu wenig. Dieser Umstand ist es, der die Angst und die Verunsicherung bei den Bürgerinnen und Bürgern schürt. ({2}) Die Verbraucher werden seit Jahren mit unzähligen, oft widersprüchlichen Informationen über BSE konfrontiert. Die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Wissenschaft und die Politik müssen sich mit der Tatsache vertraut machen, dass sich der wissenschaftliche Verdacht erhärtet hat, dass der für BSE verantwortliche Erreger, das Prion-Protein, auch für die für Menschen tödliche Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung verantwortlich ist. Allein aus diesen Erkenntnissen heraus kann die Konsequenz für die Politik doch nur sein: Keine Lobbyinteressen, keine Kostenfragen und vor allen Dingen kein parteipolitisches Geplänkel dürfen vor dem Gesundheitsschutz der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land stehen. ({3}) Alle Konsequenzen und Lehren, die wir aus dieser Erkrankung ziehen, müssen ein Ziel haben, nämlich den maximalen gesundheitlichen Verbraucherschutz in diesem Land. Ich denke, das wollen und sollen wir gemeinsam machen. ({4}) Die Verbraucherinnen und Verbraucher müssen darauf vertrauen können, dass alles getan wurde und auch getan wird, um sie vor den Gefahren einer BSE-Erkrankung zu schützen. Die Menschheit hat in ihrem Werdegang viele unterschiedliche Erkrankungen mit solchem Charakter erlebt. Damals wie heute führen epidemiologische Maßnahmen dazu, dass diese Erkrankungen in ihrer Ausbreitung eingedämmt, gestoppt und zurückgedrängt werden konnten, ohne dass man den Erreger damals im Detail gekannt hat. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe nicht vor, die Zeit der Aussätzigen des Mittelalters aufleben zu lassen. Aber die epidemiologischen Regeln von damals gelten auch heute noch. ({5}) Diese alten Regeln besagen, dass es unabdingbar ist, den Kreislauf, welcher den Erreger am Leben erhält, zu durchbrechen. Wir sind dabei, diesem Ziel näher zu kommen. Eine weitere epidemiologische Grundregel ist, gesunde von kranken Lebewesen zu trennen, um ein Übergreifen der Erkrankung zu verhindern. Sie alle wissen, dass wir derzeit keine zuverlässige Möglichkeit haben, infizierte, aber klinisch gesunde Tiere von gesunden Tieren zu unterscheiden. Wir haben in den vergangenen Tagen Eilverordnungen und Gesetze erlassen, welche ein umfassendes BSE-Testprogramm an Rindern vorsehen. So sollen vor allem aus epidemiologischen Gründen alle verendeten oder notgeschlachteten Rinder unabhängig vom Alter einem BSESchnelltest unterzogen werden. Das ist fürwahr eine gute Maßnahme. ({6}) Ich will noch auf einige Dinge eingehen, die wir für wichtig halten: Die baldige Einführung einer durchgehenden, grundsätzlichen Fleischetikettierung auf Europaebene ist unumgänglich. Wegen der Verbindung von BSE mit der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung müssen in Zukunft die Gesundheitsminister der einzelnen EU-Staaten an der Bekämpfung der Erkrankung federführend beteiligt sein. Das, finde ich, ist ein ganz wichtiger Punkt. ({7}) Ebenso wie das Fleisch müssen auch Folgeprodukte in die Überlegungen hinsichtlich der Erkrankungsbekämpfung einbezogen werden. Dazu zählen natürlich auch Gelatine, Arzneimittel, Impfstoffe und Kosmetika, welche aus Rinderbestandteilen hergestellt werden, sowie die auf dem Markt befindlichen humanen Blutprodukte. Meine Damen und Herren, lassen Sie uns die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Ein optimaler Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher erfordert in dieser Zeit ein gemeinsames und abgestimmtes Vorgehen. In diesem Sinne bitte ich Sie, dies mit uns gemeinsam zu tun. Vielen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Ulrich Heinrich, F.D.P.-Fraktion.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Durch den ersten BSEFall in der Bundesrepublik Deutschland ist die Regierung auf eine ganz besondere Probe gestellt worden und hat ein Krisenmanagement an den Tag gelegt, das nicht dem gerecht wird, was eigentlich hätte stattfinden müssen. ({0}) Dies ist nicht nur deshalb der Fall, weil das diesbezügliche Gesetz in sich widersprüchlich und in weiten Teilen nicht ausreichend ist, sondern auch deshalb, weil diese Widersprüchlichkeit direkt am Kabinettstisch zu finden ist. Es lässt sich kaum mehr überbieten: Von Anbeginn an bis heute bekommen wir widersprüchliche Meldungen auf den Tisch ({1}) und gleichzeitig spricht die Kollegin von der Regierungskoalition davon, dass man mehr Verbraucherschutz brauche. Was tun Sie denn? Sie betreiben mit Ihrer Politik statt Verbraucherschutz ausschließlich Verbraucherverunsicherung ({2}) und haben sich dort nicht durchgesetzt, wo Sie sich hätten durchsetzen müssen, nämlich in den entsprechenden Verhandlungen auf europäischer Ebene und auch hier in Deutschland; lassen Sie sich das gesagt sein. ({3}) Dass wir heute noch keine ordentliche europaweite Kennzeichnung haben, ist mit die Verantwortung der jetzigen Regierung. Denn sie musste dafür sorgen. Während der Zeit des Vorsitzes in der Europäischen Union hätte sie den Finger stärker auf die Wunde legen müssen, ({4}) spätestens aber, als die europäischen Beschlüsse, die gefasst wurden, um die Tiermehlherstellung nach einwandfreien hygienischen Standards durchzuführen, nicht umgesetzt worden sind. Dies wurde in Europa insgesamt nicht umgesetzt; wohl aber in Deutschland, wo die Bundesländer dies längst getan haben. Angesichts der Tatsache, dass Frankreich in diesem Zusammenhang erst im Jahre 1998 Vollzug melden konnte, wissen wir, dass die Verbreitung der Seuche auf Schlamperei bei der TierMehlherstellung ({5}) und auf nicht ausreichende Kontrollen in den Kraftfutterwerken zurückzuführen ist. Das ist der Punkt. ({6}) Wenn wir mit einer solch widersprüchlichen und chaotischen Politik konfrontiert werden und Sie dann noch von Verbraucherschutz sprechen, ({7}) dann ist das ein Widerspruch in sich selber. Die F.D.P. hat seit mehreren Monaten immer wieder gefordert, den BSE-Schnelltest früher und verbindlich einzuführen. ({8}) Die Regierung hat nichts getan. Sie hat keine Vorbereitungen getroffen, keine vorbeugenden Planungen gemacht und kein vorbeugendes Krisenmanagement entwickelt, sondern sich tagtäglich widersprochen, wann und weshalb etwas getan werde. Jedes Mal, wenn einer der in diesem Zusammenhang zuständigen Minister dieser Regierung - ich zähle die drei auf: die Gesundheitsministerin, der Landwirtschaftsminister und der UmweltminisRegina Schmidt-Zadel ter - eine neue Nachricht zu vermelden hatten, wenn eine neue Botschaft von irgendeinem Wissenschaftler vorlag, dann wurde diese Meldung sofort hinausgeblasen, ohne geprüft zu haben, was tatsächlich substanziell dahinter steckt. Man kann doch keine Politik machen, wenn Meldungen ungeprüft übernommen werden; ich erinnere daran, was Trittin zu den verseuchten Weiden gesagt hat. - Überhaupt nichts wissen wir darüber, aber es wird so getan, als sei das eine neue, gesicherte Erkenntnis. ({9}) Mich rufen die Leute an und fragen: Können wir überhaupt noch Kartoffeln essen oder sind die auch infiziert? ({10}) So weit hat es diese Regierung getrieben. Das ist doch die Höhe! Es geht darum, den Verbraucherschutz auch tatsächlich ernsthaft umzusetzen, wenn es einmal wirklich darauf ankommt. ({11}) In dieser Krise hätte das Land eine bessere Regierung verdient, ({12}) damit unsere Verbraucherinnen und Verbraucher sicher sein können. Leider Gottes muss man aber von einem Durcheinander sprechen. Als wir vor fünf oder sechs Tagen schon einmal im Rahmen der Haushaltsberatungen darüber gesprochen haben, habe ich gesagt: Das Gesetz ist widersprüchlich; genauso widersprüchlich sind die Mitglieder des Kabinetts Schröder. Herzlichen Dank. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, man sollte die Worte des Kollegen Uli Heinrich variieren: Das Land hätte in der letzten Legislaturperiode und in den Hochzeiten von BSE eine bessere Regierung verdient. ({0}) Dann wäre es nämlich nicht zu dieser Krise gekommen. Man muss einmal sagen - denn es charakterisiert Ihre Politik sehr gut und hat sich auch in der Rede von Heinrich-Wilhelm Ronsöhr gezeigt -: ({1}) Es geht Ihnen nur darum, zu sagen, es gebe überhaupt keine Krise. Jetzt wird der Kopf der schleswig-holsteinischen Kuh thematisiert! Das hatten wir doch schon einmal irgendwo: Neulich waren es Daum und Kokain. Ergebnisse sollen gezweifelt werden. Da heißt es, es gebe in diesem gesamten Futtermittelbereich mafiöse Strukturen: Dioxine, Klärschlämme, Antibiotika in Futtermitteln usw. ({2}) Das ist alles illegal. Das alles haben Sie aber bisher gerechtfertigt und verharmlost. Jetzt haben wir das Ergebnis. ({3}) - Nein, danke.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Wir sind in der Aktuellen Stunde, Herr Kollege, da gibt es keine Zwischenfragen. ({0})

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das sollte er eigentlich wissen. Der nächste Punkt ist, dass wir die Maßnahmen nicht diskutiert haben, weil es den ersten BSE-Fall in Deutschland gegeben hat. ({0}) - Gefordert? Das kann ich nachlesen. Vor allem kann man aber sehen, wie Sie gehandelt haben. Gar nicht! ({1}) Wir haben vor allem aufgrund der BSE-Ausbreitung in Frankreich und Spanien gehandelt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat man gesehen, dass die Ausbreitung der Epidemie nicht verhindert werden konnte - unabhängig vom Auftreten eines ersten Falles in Deutschland. Wie meine Kollegin gesagt hat, ist es die einzige Chance, die weitere Ausbreitung der Epidemie zu verhindern, ({2}) jetzt zu handeln. Entweder wir machen jetzt einen Schnitt oder wir haben diesen Kampf verloren. Wenn ich es irgendwie verhindern kann, werde ich auf keinen Fall zulassen, dass Menschen irgendwie erkranken. Was im Moment Schreckliches geschieht, reicht wirklich. ({3}) Herr Groschup, der Leiter des Referenzzentrums für BSE in der Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere, hat gestern noch einmal ganz klar betont - ({4}) - Sei mal still! ({5}) Dann kriege ich mehr Redezeit. ({6}) Herr Groschup hat gestern ganz klar und eindeutig gesagt, Fette seien hinsichtlich des Gefährdungspotenzials ({7}) - hör genau zu! - genauso zu bewerten wie Tiermehl. Dennoch erklären die CDU/CSU und Herr Sonnleitner heute in der Presse, dass sie genau diese Fette - die Erreger sind im fetten Milieu übrigens besser resistent - zulassen wollen. ({8}) Wenn es so ist, dass die Bauern und ihre Lobby den Ernst der Lage nicht erkannt haben, dann sind sie nicht mehr ernst zu nehmen. ({9}) Wenn die deutschen Bauern den Verbrauchern nur gesundheitsgefährdende Produkte anbieten könnten, dann bräuchten wir sie auch nicht mehr. Dann können wir nämlich Produkte aus Argentinien und aus holländischem Substratanbau kaufen, dann können wir Milliarden sparen. Denn es wäre ja eine Geld- und Wertevernichtung, würde man das durchgehen lassen. Gott sei Dank ist es anders, die deutschen Bauern wollen unschädliche Produkte anbieten und darin werden wir sie in jeder Hinsicht unterstützen, auch gegen den Handel. ({10}) Beim Aufbau einer zukunftsfähigen Landwirtschaft, die verbraucherorientiert, umweltfreundlich und tiergerecht ist, sind die wichtigen Säulen ({11}) Transparenz, Kennzeichnung, Stärkung des Ökolandbaus und technische Standards für eine neue und klar definierte Qualitätsproduktion. Wir setzen uns für die artgerechte Tierhaltung ein und möchten neue Perspektiven im Bereich des Tourismus und der neuen Energien unterstützen, ({12}) um vielleicht in eine Situation zu kommen, in der die Betriebe nicht mehr an der Wand stehen, sondern wirklich von der gesamten Gesellschaft unterstützt werden. Danke. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun das Wort der Kollegin Kersten Naumann, PDS-Fraktion. Vorher gratuliere ich Ihnen, Frau Naumann, im Namen des ganzen Hauses zu Ihrem heutigen Geburtstag. ({0})

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Dankeschön! Herr Vorsitzender, Sie waren der Zeit wie immer voraus und haben gestern schon gratuliert. Ich nehme trotzdem die Glückwünsche an. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eine Schreckensmeldung jagt die andere, die Verunsicherung nimmt immer mehr zu - und das, obwohl die Europäische Kommission ein Krisenprogramm beschlossen hat. Trotzdem haben sich Deutschland, Finnland und Belgien dem Totalverbot der Tiermehlverfütterung nicht angeschlossen, da das Verbot in wesentlichen Punkten hinter den nationalen Vorgaben zurückbleibt. Das zeigt wieder einmal, wie schwierig es ist, die unterschiedlichen nationalen Bedingungen und Interessen unter ein Dach zu bekommen. Das hat natürlich auch seine Gründe. Herr Minister Funke, in den meisten Fällen stimmen wir nicht mit Ihnen überein, aber in puncto Kämpfen um die nationalen Ansprüche des Tiermehlverbots in Europa teilen wir Ihre Ansicht. ({0}) Dennoch bleibt die Frage der Aufteilung der Kosten der voraussichtlich 2 Millionen Notschlachtungen. Da besinnt sich Deutschland als größter Nettozahler wieder einmal auf seine Grenzen und beklagt die eben noch angestrebte gemeinschaftliche Konformität und Solidarität. Wenn der Kunde an der Ladentheke steht und nicht mehr kaufen will, was ihm Landwirte und Lebensmittelindustrie national und international auftischen, hat dieses empfindliche Auswirkungen auf die Handelsketten, auf die Verarbeiter und auf die Landwirtschaft. Wir Politiker müssen dringend auf allen Ebenen überlegen, wessen Interessen wir letztendlich vertreten und welche Verantwortung wir dabei tragen. Wer das Vorsorgeprinzip verletzt, um den Anschein zu wahren, bekommt vom Verbraucher eines Tages die Quittung für Arroganz, Verschleierung und trügerische Sicherheit. ({1}) Der Verbraucher hat einen Anspruch darauf, dass sein Vertrauen gerechtfertigt wird. ({2}) Schon im Jahre 1984 wurde BSE erstmals festgestellt, im Jahre 1990 die Übertragung von Rind zu Rind, bald darauf die von Rind zu Mensch. Im Juli 1994 wurde von der Europäischen Kommission die Verfütterung von Tiermehl in der Rinderproduktion verboten, im Juni 2000 wurde der Erlass für Schnelltestverfahren erhoben und im September 2000 die Rindfleischetikettierung auf den Weg gebracht. Viele Politiker in allen Mitgliedsländern haben sich damit befasst, wie sich nun herausstellt, aber nicht gründlich genug. Die Europäische Gemeinschaft ist der größte Importeur und Exporteur von Lebensmitteln. Diese Branche hat einen Jahresumsatz von 600 Milliarden Euro und beschäftigt 1 Millionen Menschen. Innerhalb dieser riesigen Marktströme ist die Forderung nach einer Nullsicherung der Lebensmittelproduktion schon ein Risiko an sich. Nun stellt sich auch in Deutschland heraus, dass in mindestens drei Mischfuttermittelwerken gepfuscht und vorsätzlich bestehende Regelungen unterlaufen wurden. Wo waren hier die Kontrolleure? Wer sind die Verantwortlichen? Nicht zuletzt beschleicht uns ein unheimliches Gefühl, wohl wissend, dass der BSE-Erreger auch schon längst in der Nahrungskette und verantwortlich für die CreutzfeldtJakob-Krankheit ist. Da die BSE-Seuche als sehr gefährlich für die Bürger in Europa und die natürlichen Kreisläufe - die Wissenschaftler meinen, auch für den Boden eingestuft werden soll, dürfen die dringend notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung von BSE keine Frage des Geldes oder der Kosten sein. ({3}) Denn die Gesundheit der Bürger und die Sicherheit der Tiere gehen vor. Wenn sich die Wissenschaft nicht einig ist, woher die Krankheit ursächlich kommt, gebietet es das Vorsorgeprinzip, besonders vorsichtig zu sein. Das unbefristete Verbot des Tiermehls in Deutschland inklusive des Fischmehls, mit allen Konsequenzen, ist der richtige Weg, - aber eben nur einer. Das Tiermehlverbot aus Brüssel lässt Lücken zu. Ein sechsmonatiges Tiermehlverbot reicht bei weitem nicht aus; denn in sechs Monaten sind wir das Problem noch nicht los: weder vollständig das alte Tiermehl noch das aus den neuen Kadavern produzierte. Die Übertragungskette wird somit nicht wirklich gebrochen. Der Zeitrahmen für den Aufbau von Alternativen aus der heimischen Pflanzenproduktion ist viel zu kurz. Es besteht auch die Gefahr, dass die findigen global agierenden Futtermittelkonzerne nun verstärkt Fischmehl produzieren und anbieten. Die Konsequenz ist ein nicht zu überschauendes Ausbeuten und Überfischen der Weltmeere. Die These, dass durch die Düngung mit infizierten Materialien - ob Tiermehl oder Dung - auch Erreger im Boden sind und über das Weidegras aufgenommen werden können, lässt noch weitreichendere Auswirkungen auf die Tier- und Lebensmittelproduktion nur erahnen. In der öffentlichen Debatte um BSE wird ein weiteres Risiko bisher weitgehend ausgeschlossen: Für die Beseitigung der Tierkadaver und des Tiermehls müssten auch die höchsten Sicherheitsstandards für die betroffenen Arbeitnehmer gelten, die den Mehlstaub einatmen oder mit potenziell infektiösem Material hantieren. Infrage gestellt ist auch die klassische deutsche Sterilisationsmethode zur Abtötung von Krankheitserregern. Materialien von BSEinfizierten und BSE-verdächtigen Tieren sind als besonders überwachungsbedürftige Abfälle im Sinne des Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes einzustufen. Hierfür kann nach dem derzeitigen Wissensstand nur eine Beseitigung in Sonderabfallverbrennungsanlagen infrage kommen. Was wir jetzt wieder nur halbherzig machen und aus deutscher und europäischer Geldgier vernachlässigen, wird sich in Zukunft rächen. Wichtig sind jetzt konsequente vertrauensbildende Maßnahmen, zuverlässige Aussagen, sachliche Auseinandersetzungen - statt Aktuelle Stunden mit pauschalen Schuldzuweisungen. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Zum Schluss möchte ich Ihnen allen trotzdem ein schönes Weihnachtsfest mit einem leckeren Gänsebraten sowie einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Wir danken für die guten Wünsche und wünschen Ihnen erst einmal einen schönen Geburtstag. Das Wort hat nun der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Karl-Heinz Funke.

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005303

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst - das halte ich für wichtig - einige Anmerkungen zu dem machen, was hier schon gesagt worden ist. Man hat nicht viel Zeit, dies ausgiebig zu diskutieren, aber eines möchte ich vorwegschicken: Den Eindruck zu erwecken - wie es, ohne zu differenzieren, hier und da und auch in der Presse geschehen ist -, als sei es gleichsam so, dass ausschließlich die Landwirtschaft gegenwärtig für das verantwortlich sei, was als BSE-Fall diskutiert wird, halte ich für nicht gerechtfertigt und auch nicht für gerecht. ({0}) Hier wird vieles sehr undifferenziert in einen Topf geworfen, was mich beträchtlich ärgert. Es trifft auch die Landwirtinnen und Landwirte - das merkt man an deren Reaktion -, wenn hier alles über einen Leisten geschlagen wird; ({1}) gleichsam so, als sei die ganze Landwirtschaft so strukturiert und organisiert, dass dieser Vorfall zwangsläufig das Ergebnis dieser Art von Landwirtschaft, wie wir sie heute haben, ist. ({2}) Ich finde, dass kann man nicht stehen lassen. Man kann dies in der zur Verfügung stehenden Redezeit nicht ausgiebig darlegen, aber dies hat mit der Realität überhaupt nichts zu tun. ({3}) - Gerade weil Sie, Herr Heinrich, einen Zwischenruf machen, möchte ich auf einen weiteren Punkt eingehen: Es ist bemerkenswert, dass sich manche hier und da hinstellen und so tun, als habe die Bundesregierung das, was längst europäische Beschlusslage sei, nicht umgesetzt, sei dabei zögerlich gewesen oder was auch immer. ({4}) - Ah ja. In der Frage der Kennzeichnung haben wir sogar mehr und schneller umgesetzt, als es europäisches Recht vorsieht. Vielen Dank dafür, dass Sie das ausdrücklich anerkennen. ({5}) Ich will auch das nicht vertiefen, weil es mir irgendwo langt, wenn wir immer wieder gegenseitig versuchen, aufzurechnen, was denn hätte getan werden müssen. ({6}) Aber ich könnte schon - Herr Heinrich, das muss ich auch noch einmal sagen - die eine oder andere Pressemitteilung herausziehen, in der der Bundesregierung der Vorwurf gemacht wird, sie setze nun europäisches Recht um, obwohl es gar nicht nötig sei, in der die Bundesregierung sogar aufgefordert wird zu klagen. Sie hat es nicht getan. Hinterher ist es dann niemand gewesen. Ich habe mich insoweit auch über den einen oder anderen Beitrag in der Debatte des Bundesrates in der letzten Woche gewundert. Ich bewerte das aber nicht einmal negativ, sondern sage mir: Da geht es Ihnen ganz genauso wie uns auch. ({7}) - Natürlich. Deswegen sage ich: Ich bin sehr objektiv und versuche, da auch fair zu sein. Uns bringt es im Grunde nicht weiter, wenn wir fragen, was frühere Minister dazu gesagt haben, ob unsere Landwirtschaft BSE-frei sei oder nicht. Wenn man mir vorwirft, dass ich es gesagt hätte, wäre man unfair. Auf den Kodex des Internationalen Tierseuchenamtes haben sich auch früher schon Kollegen berufen. Das werfe ich ihnen auch nicht vor -, damit das ganz klar ist. ({8}) Man wäre unfair, man würde der Sache mit solch einem Vorwurf nicht gerecht, meine Damen und Herren. Ich will Ihnen noch etwas sagen zu dem, was hier diskutiert worden ist. Es war in der Tat so, Herr Heinrich, dass wir am 4. Dezember im Sonderagrarrat nicht zum ersten Mal darüber gesprochen haben. Unabhängig von dem BSE-Fall in Deutschland hatten wir uns in der Sitzung des Agrarrates am 22. November darauf verabredet, am 4. Dezember zusammenzukommen, weil es noch sehr unterschiedliche Meinungen gab, auch was das Verfütterungsverbot von Tiermehl anbelangte. Wir haben gleichwohl - die Kommission hat einen entsprechenden Vorschlag gemacht - gesagt, wir wollen das diskutieren. Für mich war es schon ein Erfolg, überhaupt zu dieser Beschlusslage zu kommen, wenn auch leider Gottes mit einer sechsmonatigen Befristung. Ich bin aber durchaus optimistisch, dass wir auch diese sechsmonatige Befristung wegbekommen. Sonst machte eines, was der Agrarrat auch beschlossen hat, keinen Sinn, nämlich die Kommission aufzufordern, eine Konzeption vorzulegen, wie wir die Lücke bei tierischem Eiweiß durch pflanzliches Eiweiß schließen können. Ich habe auch im Agrarrat gesagt, dass das natürlich im Sinne verlässlicher Rahmenbedingungen keine Logik hat. ({9}) - Völlig richtig. - Die Kommission hat ja zu Recht gesagt: Wir werden dieses halbe Jahr auch nutzen für Inspektionsreisen dorthin, wo die verantwortlichen Kontrollen durchzuführen sind, und im Lichte der Beobachtungen und der Entscheidungen werden wir dann einen weitergehenden Vorschlag machen. Ich bin mir sicher, dass es dazu kommen wird, zumal ich die Meinung der beiden zuständigen Kommissare dazu kenne. Eingedenk dessen bin ich der Auffassung, dass wir zwei Dinge - ich weiß, da stimmen wir weitestgehend überein - vorantreiben sollten. Wir brauchen dringend das ist schon bisher Deutschlands Meinung gewesen; wir werden in Europa darauf dringen, dass das schneller vorangeht als ursprünglich geplant - eine Positivliste für die Verarbeitung von Futtermitteln, ({10}) damit hier Klarheit besteht, sowohl für die Verbraucher als auch für die Landwirte. Die sitzen in einem Boot. Das kann man überhaupt nicht trennen und den einen gegen den anderen ausspielen. Auch die Landwirte wollen Klarheit haben. Dazu gehört auch die offene Deklaration, die in der letzten Debatte eingefordert worden ist. Herr Heinrich, es ist völlig klar, auch das gehört dazu. ({11}) Ich sage das ausdrücklich, weil da gar keine unterschiedlichen Meinungen bestehen. Ich bin auch dankbar, dass wir die Herauskaufaktion für Rinder beschlossen haben, sowohl aus vorbeugendem Gesundheitsschutz wie auch aus Marktgründen. Beides gehört zusammen. Wenn man nämlich die Herauskaufaktion, wie ursprünglich von der Kommission vorgeschlagen, auf nicht getestete Rinder begrenzt hätte, hätten die Länder, die mit den Testungen nicht so weit sind wie wir, von der Herauskaufaktion profitiert und wären die Länder, in denen unfangreich getestet wird, benachteiligt worden. Das hätte geradezu den Ansporn geliefert, dort, wo man nicht so weit ist und wo man vielleicht auch andere Einschätzungen hat, die Testate zögerlich anzuwenden, mit der Folge, dass man dort umfangreiche Herauskaufaktionen hätte laufen lassen können, während das bei uns nicht der Fall gewesen wäre. Deswegen musste beides geschehen; beides gehört zusammen. Anders kann man es nicht bewerten. Was die Umstellung betrifft, um die Eiweißlücke zu schließen: Dazu haben wir mittlerweile ein vorläufiges Konzept in unserem Hause erarbeitet. Wir können die Lücke kurzfristig über Importe schließen. Nach den uns vorliegenden Zahlen und Daten ist das möglich. Wir müssen aber mittelfristig dafür sorgen, dass wir eine eigene Versorgung über pflanzliche Eiweiße und über den Ersatz von tierischen Fetten sicherstellen können. Das müssen wir selber leisten. Wir sind darum der Auffassung, dass man - zumindest vorübergehend - auch auf stillgelegten Flächen einen entsprechenden Anbau organisieren muss, um diese Eiweißlücke zu schließen. Ansonsten bin ich der Auffassung, dass es der Markt selbst richten wird durch die Nachfrage, die auf uns zukommt, und durch die Anbaumöglichkeiten, die bei uns herrschen. Ich bin durchaus optimistisch, dass es uns gelingen wird, so zu verfahren. Alles in allem will ich eines betonen: Wir müssen das, was in einigen Bundesländern in den letzten Jahren erfolgt ist, und das, was man vertraglich gebundene Landwirtschaft nennt, entscheidend vorantreiben: die Selbstverpflichtung von Futtermittelherstellern, von Landwirten, von Verarbeitungs- und Zerlegungsbetrieben, der gesamten Verarbeitungsschiene im Ernährungsgewerbe bis zum Handel. Hier müssen wir Schwerpunkte bei der Förderung setzen. Eine solche gläserne Kette der Wertschöpfung ist, gerade was Fleisch angeht - das gilt auch für andere Nahrungsmittel -, im Grund die größte Sicherheit, die wir gewährleisten können. Sie ist dann gegeben, wenn Selbstverpflichtungen eingegangen werden und wenn jemand, der sich nicht an sie hält, aus dieser gläsernen Kette herausfällt und gleichzeitig mit Sanktionen belegt wird. ({12}) Das gewährleistet eine größere Sicherheit als alles das, was wir letztlich durch den Staat organisieren können. Ich wäre sehr dankbar, wenn da alle Länder - sie sind dazu aufgerufen - mitmachten. Ich könnte jetzt diejenigen Bundesländer erwähnen, die hier in früherer Zeit mehr gemacht haben als andere. Ich sage ausdrücklich: Das kann man überhaupt nicht parteipolitisch zuordnen. Einige Länder haben mehr gemacht, andere Länder weniger. Ich meine, unser Weg ist richtig, wenn wir wollen, dass Vertrauen existiert und Sicherheit gewährleistet ist. Denn das ist dringend notwendig: im Interesse aller Beteiligten, vom Produzenten über die Wertschöpfungskette bis hin zur Verbraucherschaft. Vielen Dank. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Albert Deß für die CDU/CSU-Fraktion.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeslandwirtschaftsminister, ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie sagen, dass die Landwirtschaft in den Medien zum Teil überzogen angeprangert worden ist. Aber wer hier im Haus hat denn dazu einen Beitrag geleistet? ({0}) Es war Ihr Bundeskanzler, der hier Schlagworte geprägt hat. Er hat eine andere Agrarpolitik gefordert. Wenn ich aber eine andere Agrarpolitik fordere, dann klage ich doch die bisherige Agrarpolitik in Deutschland an. Er kann ja Recht haben, dass die SPD und die Grünen in den vergangenen zwei Jahren eine falsche Agrarpolitik betrieben haben. Ich unterstütze ihn gerne, wenn er eine andere Agrarpolitik will. ({1}) Der Kanzler hat gesagt, dass er die Agrarfabriken abschaffen will. Ich warte seit dieser Rede darauf, dass er einmal erklärt, was und wo Agrarfabriken in Deutschland sind. Besitzen Bauern mit 20, 50, 100 oder 200 Kühen Agrarfabriken? Oder ist ein Betrieb in Mecklenburg-Vorpommern, der 23 000 Rinder mästet, eine Agrarfabrik? Ich möchte von diesem Bundeskanzler endlich eine genaue Definition von Agrarfabriken erhalten. Denn ich möchte den jungen Bauern aus meiner Region sagen können, welche Art von Landwirtschaft in Deutschland in Zukunft gewünscht wird. Deshalb müssen wir den Bundeskanzler ganz massiv dazu auffordern, nicht nur Sprüche zu klopfen, sondern auch zu erklären, was er mit seinen der Presse gegenüber gemachten Äußerungen gemeint hat. ({2}) Ich finde es ein starkes Stück - ich habe das auch schon das letzte Mal angesprochen -, dass hier so getan wird, als wären nicht ganz schnell Hilfen für unsere Bauern notwendig, und dass es eine Aussage des Bundeslandwirtschaftsministers gibt, dass die Bauern um ihre Existenz keine Angst haben müssen. Ich erlebe in den letzten Tagen aber etwas ganz anderes: Es rufen Landwirte und mittelständische Schlachtbetriebe an, die Angst um ihre Existenz haben. ({3}) Auch Arbeitnehmer haben Angst davor, dass ihre Arbeitsplätze verloren gehen. Der Herr Bundeslandwirtschaftsminister, meine sehr verehrten Damen und Herren, hat hier kein Wort dazu gesagt, wie die Hilfen ausschauen sollen, ({4}) damit auch in Zukunft in unserem Land eine bäuerliche Landwirtschaft überleben kann. Hier muss schnell gehandelt und ein anderer Weg beschritten werden. ({5}) Was die Ankündigungen des Bundeskanzlers angeht, so würde ich ihm ja gern Vorschläge unterbreiten, wie eine andere Agrarpolitik ausschauen kann. Aber der Bundeskanzler muss dann diese andere Agrarpolitik ({6}) in Brüssel, bei der WTO und im Zusammenhang mit der Osterweiterung durchsetzen. Ich bin gespannt, ob er in Nizza eine neue Agrarpolitik für Europa einfordert. Da werden wir wohl nichts mehr davon hören. Aber der Bundeskanzler steht im Wort, dass jetzt gehandelt werden muss. Wir wollen in Deutschland nicht die amerikanischen Agrarfabriken haben. Dort gibt es tatsächlich Agrarfabriken und wir können sie nicht verhindern, wenn bei der WTO nicht eine andere Richtung eingeschlagen wird. Wo eine andere Agrarpolitik gemacht wird, kann ich hier auch erklären. Ich lade den Bundeskanzler ein, einmal nach Bayern oder Baden-Württemberg zu kommen. Dort haben wir diese andere Agrarpolitik. ({7}) Dort haben wir unter CSU- bzw. CDU-Verantwortung die bäuerlich strukturierte Landwirtschaft. Wenn ich den Kanzler richtig verstanden habe, möchte er eine solche Agrarpolitik. Aber der Bundeslandwirtschaftsminister weist immer wieder darauf hin, dass der Strukturwandel beschleunigt fortgeführt werden muss, und aus der SPDFraktion waren Aussagen zu hören, dass der Strukturwandel unter unserer Regierungsverantwortung zu langsam war. Durch diesen Strukturwandel werden jedoch genau die Betriebe kaputtgemacht, die wir brauchen, damit eine bäuerlich gebundene Landwirtschaft möglich ist. Wir geben in Bayern und auch in Baden-Württemberg wesentlich mehr Geld für unsere Bauern aus als die rotgrün regierten Länder. Bayern gibt allein für umweltbezogene Auflagen im Bereich der Landwirtschaft im Durchschnitt, auf die gesamte Landesfläche gerechnet, 151 DM pro Hektar aus. Es gibt kein rot-grün regiertes Bundesland, das einen solchen Betrag vorweisen kann. Dort wird nur von verbraucherfreundlicher Landwirtschaft geredet. Umgesetzt wird sie weit gehend in den Ländern, in denen die CDU bzw. die CSU die Regierungsverantwortung hat. Das muss man hier auch deutlich sagen. ({8}) Herr Bundeslandwirtschaftsminister, Sie haben richtigerweise angesprochen, dass wir Vertragslandwirtschaft brauchen. Ich bin Kreisobmann im Landkreis Neumarkt in der Oberpfalz. Schon lange vor der jetzigen BSE-Krise haben fast 100 Prozent meiner Bauern freiwillig am bayerischen Qualitäts- und Herkunftszeichen teilgenommen. Es gibt in ganz Deutschland keinen zweiten Landkreis, in dem fast alle Bauern freiwillig dieses Herkunftszeichen mit allen damit verbundenen Auflagen akzeptieren.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme sofort zum Schluss, Frau Präsidentin. Es gibt kein Bundesland - außer Baden-Württemberg; da ist es ähnlich -, in dem dieses Qualitäts- und Herkunftszeichen eine solche Bedeutung hat; das ist nur bei uns im Süden so. Das ist der richtige Weg für die Zukunft der Landwirtschaft. Ich fordere Sie auf, Herr Minister, diese Agrarpolitik und nicht eine Agrarpolitik, die in die Irre führt, zu unterstützen. Schönen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Steffi Lemke, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU hat heute eine Aktuelle Stunde mit dem Titel „Umgang der Bundesregierung mit der BSEKrise“ beantragt. Mit Sicherheit ist es das vornehme Recht der Opposition, die Bundesregierung, wann immer sie es für erforderlich hält, anzugreifen und zu kritisieren, wenn auch vielleicht nicht so kopflos, wie es Herr Ronsöhr heute getan hat. ({0}) Spannend wäre es aber gewesen, wenn Sie heute eine Aktuelle Stunde mit dem Titel „Konzept der CDU/CSUBundestagsfraktion zur Bekämpfung des BSE-Problems“ beantragt hätten. ({1}) Stattdessen konnten wir gestern der Presse entnehmen, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion einen Arbeitskreis gegründet hat, um Konzepte für die Zukunft der Landwirtschaft zu entwickeln. ({2}) Bei uns heißt es: Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis. ({3}) Ich hätte mir gewünscht, dass Sie sich an dieser Debatte etwas ernsthafter beteiligt hätten; Sie haben es letzte Woche immerhin versucht. Wir haben natürlich Probleme, wenn man in so kurzer Zeit einen wichtigen Industriezweig aus dem Produktionsprozess herausnimmt. ({4}) Ich will an dieser Stelle klar sagen: Dieser Schritt ist längst überfällig gewesen und Bündnis 90/Die Grünen haben diese Produktion schon längst beenden wollen. ({5}) Sie aber haben sich davon verabschiedet, darüber zu diskutieren, wie umfangreich das Tiermehlverfütterungsverbot sein muss und in welchen Fristen welche Maßnahmen umgesetzt werden müssen. Sie haben sich auf die Formel zurückgezogen: Haut die rot-grüne Bundesregierung, irgendwie wird sich daraus schon politisches Kapital schlagen lassen! Ich glaube im Übrigen nicht, dass die Verbraucher interessiert, was hier an gegenseitigen Schuldzuweisungen und Kritik an Versäumnissen von F.D.P. und CDU/CSU in deren Regierungszeit erhoben wird. ({6}) Die Verbraucher interessieren sich auch nicht für die kontroversen Diskussionen darüber, wie das Tiermehlverfütterungsverbot im Detail ausgestaltet werden muss. Die Verbraucher interessiert mehr, wie die Bundesregierung angemessen, zügig und konsequent die Auswirkungen von BSE bekämpft und dabei durch eine umfassende Kennzeichnung - die wir schon lange vorbereitet haben und die zeitiger als in den anderen EU-Ländern umgesetzt wird - die höchstmögliche Sicherheit für die Verbraucher zu schaffen versucht. ({7}) Das hat die rot-grüne Bundesregierung jetzt getan und daran hätten Sie sich konstruktiv beteiligen können, wenn Sie es gewollt hätten. ({8}) Zu der Frage, wie wir die Zukunft der Landwirtschaft sehen. Wenigstens über die Frage, dass es in Deutschland Agrarfabriken gibt, müsste Einigkeit bestehen. Es gibt Legebatterien - Käfighaltung von Legehennen -; das ist eine nicht tierartgerechte Haltung, eine tierquälerische Haltungsform, die wir verbieten werden - und das so schnell und umfassend wie möglich. Ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie behaupten, dass die Landwirtschaft BSE nicht alleine aus bösem Willen verursacht hat. Wenn ich aber andererseits sehe, wie in Teilen des Bauernverbandes mit dem Problem umgegangen wird, muss ich sagen: Das ist keine konstruktive Zusammenarbeit! Wir haben einen Disput darüber gehabt, ob es sinnvoll ist, die Milchaustauscher aus der Futtermittelkette zu nehmen, weil dort tierisches Fett an Wiederkäuer - auch wenn sie noch Kälber sind und deren Magen anders entwickelt ist, sind sie doch Wiederkäuer - verfüttert wird. Stellen Sie sich hier hin und sagen Sie, ob Sie das wollen oder nicht! ({9}) In der momentanen Situation gibt es überhaupt keinen Anlass dazu, dieses Fett zu verfüttern. Wenn bei Ihnen der Schutz der Verbraucher im Mittelpunkt steht, dann zeigen Sie das nicht nur in den Ausschusssitzungen, sondern sagen Sie im Plenum des Deutschen Bundestages, ob Sie ein Fischmehlverfütterungsverbot oder ein Fettverfütterungsverbot haben wollen. ({10}) Es ist nicht richtig, dass Kälber deshalb artfremd ernährt werden, weil sie mit Milch ernährt werden. Die Debatte, die darüber momentan geführt wird, ist absurd. ({11}) Ich biete Ihnen nochmals an, über die Detailprobleme der zu treffenden Maßnahmen konstruktiv mit Ihnen zu diskutieren. Voraussetzung dafür ist aber, dass Sie sich von solchen Debatten, wie Sie sie heute versuchen zu führen, verabschieden und sich an einer sachlichen Diskussion beteiligen. ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Annette Widmann-Mauz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Lemke, es ist sehr schön, dass Sie sich mit der Arbeit der Opposition konstruktiv auseinander setzen wollen. Ich muss Sie aber fragen, ob Sie den Antrag der Unionsfraktion auf Drucksache 14/4778, in dem konstruktive Vorschläge gemacht werden, überhaupt zur Kenntnis genommen haben und ({0}) ob Sie es als konstruktiv bezeichnen, dass Sie diese Vorschläge im Ausschuss für Gesundheitspolitik rigoros abgelehnt haben. Das hat mit Verbraucherschutzpolitik nichts zu tun. Im Gegenteil: Wenn Sie hier von kopfloser Politik sprechen, kann man fast sagen, dass der verschwundene Kopf in Schleswig-Holstein symptomatisch für das Agieren dieser Bundesregierung ist; denn die Verbraucherinnen und Verbraucher interessiert es sehr wohl, wo dieser Kopf geblieben ist. ({1}) Sind zum Beispiel Teile der Backen oder der Zungen in die Nahrungskette gelangt? Warum bekommen wir hierüber keine Informationen? Wie konnte das geschehen? Das ist doch Schlamperei. Uns interessiert schon, warum die Öffentlichkeit von der schleswig-holsteinischen Landesregierung hierüber überhaupt nicht informiert wurde. Ich gehe einmal davon aus, dass auch Sie das interessiert, Frau Schmidt-Zadel. ({2}) Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen wissen, ob es überhaupt zu dieser Krise hätte kommen müssen. ({3}) - Beruhigen Sie sich jetzt wieder. Ich komme jetzt auf die Chronologie der Krise zu sprechen. Spätestens seit diesem Jahr hat sich die Situation dramatisch verändert. Ich weise nur auf das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats „Bodenschutz“ beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit vom Februar dieses Jahres hin. Spätestens seit dem 1. August 2000 weiß die Bundesregierung über die Situation Bescheid. In dem Bericht des Wissenschaftlichen Lenkungsausschusses der EU wurde klar zum Ausdruck gebracht, dass Deutschland ein BSE-Risikoland ist. Das war der erste Ausschuss, der dies festgestellt hat, der eine Bewertung abgegeben hat und - hören Sie zu, Frau Wright - der Bundesregierung auch Handlungsempfehlungen gegeben hat, nämlich zum Beispiel Risikomaterialien nicht in das Tiermehl und in die menschliche Nahrungskette gelangen zu lassen oder die Verfütterung des Tiermehls an Nutztiere, auch an Schweine, zu verbieten. Was hat denn diese Bundesregierung seit letztem August - seitdem sind mehr als drei Monate vergangen - und dem Auftreten der BSE-Fälle in Frankreich getan? Es gab überhaupt keine konkreten Aktionen der Bundesregierung zu vermelden, keine Änderung der Haltung zum Importstopp, keine Schnelltests und kein Tiermehlverfütterungsverbot. ({4}) Im Gegenteil: Sie haben im Ausschuss die Warnungen und die Anträge der Unionsfraktion abgelehnt und uns Panikmache vorgeworfen. Sie haben nicht agiert, sondern absolut unkoordiniert reagiert. Die Berichte über die gestrige Kabinettssitzung sind ja der beste Beweis dafür. Sie haben widersprüchlich gehandelt. Sie haben in den Ausschüssen immer gesagt: Nationale Alleingänge bringen nichts; es müsste immer ein EU-konformes Verhalten an den Tag gelegt werden. Sie haben damit Marktinteressen vor den Verbraucherschutz gestellt, ganz im Gegensatz zu unserem Nachbarn Frankreich: ({5}) Dort ist das nationale Importverbot aufrechterhalten worden. Der Bundesrat hat Ihre Regierung, liebe Frau Höfken, am Freitag einstimmig dazu aufgefordert, das Importverbot wieder einzuführen. ({6}) Frau Fischer droht auf europäischer Ebene sogar mit einem Importstopp. Nur, man muss sich fragen, wie das auf der europäischen Ebene wahrgenommen wird, ob dies überhaupt glaubwürdig ist, wenn man auf der nationalen Ebene solche Maßnahmen als Blödsinn bezeichnet. Frau Fischer, ich muss Sie fragen: Wenn eine durchgängige Kennzeichnung nicht in allen europäischen Mitgliedstaaten zum 1. Januar 2001 eingeführt ist - zurzeit kommt nur die Hälfte aller Mitgliedstaaten der Pflicht zur Kennzeichnung nach -, wird dann zum 1. Januar 2001 ein nationales Importverbot für britisches Rindfleisch verhängt oder nicht, wird es in Ihrem Haus vorbereitet oder nicht oder werden Sie im Januar dann genauso hilflos reagieren wie in den letzten drei Monaten? Weitere Widersprüchlichkeiten sind vollkommen offensichtlich. Auf europäischer Ebene gilt jetzt eine Verordnung, nach der die Fette nicht in das Verfütterungsverbot eingeschlossen sind. Aber in der Bundesrepublik ist die Verfütterung von Fetten verboten. ({7}) Es gibt also bereits einen nationalen Alleingang. Ich frage Sie: Wenn Sie Ihre Grundsätze aufrechterhalten, wollen wir dann in der Bundesrepublik zurückrudern oder wie sieht es aus, Herr Funke? Wir stehen zum Verbraucherschutz und sagen: Hier ist der nationale Alleingang richtig. Wir wollen nicht, dass die Fette verfüttert werden. ({8}) Wenn Sie dem zustimmen, dann müssen Sie konsequent sein und müssen auch auf europäischer Ebene den Verbraucherschutz sicherstellen und gewährleisten, dass kein Fleisch - hier wird es interessant - zum Beispiel aus Drittstaaten, in denen Fette verfüttert werden, importiert wird. Wie wollen Sie hier, bitte schön, den Verbraucherschutz sicherstellen? ({9}) Sie gehen das Thema überhaupt nicht an. Eine Diskussion darüber findet bei Ihnen überhaupt nicht statt. So kann es nicht weitergehen. Diese Bundesregierung hat an dieser Stelle vollkommen versagt. Wir brauchen Verbraucherschutz. Verbraucherschutz braucht im Zweifel auch nationale Alleingänge. Werden Sie Ihrer Verantwortung endlich gerecht! ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich der Kollegin Heidi Wright für die SPD-Fraktion das Wort.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über Nacht war alles anders. Was eigentlich nicht sein konnte, wurde doch Gewissheit: Deutschland hat einen oder zwei, morgen vielleicht drei oder vier - Herr Deß, ich hoffe, nicht in Bayern, aber vielleicht doch - BSE-Fälle. Am 24. November schlug die Nachricht aus Schleswig-Holstein wie ein Blitz ein. Sie hat alle Überlegungen zu Maßnahmen gegen mögliche BSE-Gefahren aufgrund von Tiermehlverfütterung - ich denke an ein geordnetes Verfahren - eingeholt. Zum Schutz der Verbraucher, aber auch zum Schutz der Landwirtschaft musste sofort gehandelt werden, was auch geschah. Der Verbraucher hat sofort gehandelt und kein Rindfleisch mehr gekauft. Die Politik hat sofort gehandelt und auf nationaler sowie europäischer Ebene ein Tiermehlverfütterungsverbot erlassen. Was ist die Intention der Opposition, jetzt via Plenum nach dem Umgang der Bundesregierung mit der BSEKrise zu fragen? ({0}) Alle meine wohlmeinenden Hoffnungen sind dahin; denn die Intention sollte doch ausschließlich darin bestehen, dass wir unser konsequentes Handeln, das wir gemeinsam beschlossen haben, auch nach außen vertreten. Alles andere ist fatal. Das Thema BSE eignet sich weiß Gott nicht zu einem politischen Schlagabtausch, sondern erfordert eine offene, transparente und gemeinsame Politik des Neubeginns. ({1}) Schlägst du meinen Funke, schlag ich deinen Seehofer also das will der Verbraucher wirklich nicht hören. ({2}) Verweise von Europa nach Deutschland und vom Bund zu den Ländern interessieren keinen. Jeder muss da handeln, wo er Verantwortung trägt. Somit ist zuvorderst allen Kolleginnen und Kollegen aus den Fachausschüssen zu danken, die das Gesetz in der letzten Woche mit uns gemeinsam getragen haben. Dieses Gesetz, aber auch die weiteren notwendigen Maßnahmen für eine Neuorientierung in der Landwirtschaft, insbesondere in der Fleischproduktion, sind wohl mit die gravierendsten Entscheidungen in der Landwirtschaftspolitik. Die deutsche Landwirtschaftspolitik geht voran; sie geht dabei auch über die europäischen Regelungen hinaus. Ich begrüße das ausdrücklich; denn das verlangt der deutsche Verbraucher und das müssen wir gewährleisten. Wir machen einen klaren Schnitt und das bedeutet: Wir müssen und wir sollten gemeinsam die Perspektiven des Neuanfangs nach außen tragen. In jeder Krise ist auch eine Chance, Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Lassen Sie mich jetzt etwas zu den Futtermitteln, also zu dem Tiermehl, sagen. Es war doch eine klare Erkenntnis der Wissenschaft, es war eine Regelung der Politik und es war unumstößliches landwirtschaftliches Wissen bzw. unumstößliche landwirtschaftliche Praxis: Die Verfütterung von Tiermehl an Wiederkäuer ist nicht erlaubt und wird nicht praktiziert. ({4}) Es war darüber hinaus eine klare deutsche Regelung: Tiermehl wird in Deutschland nach einem Drucksterilisationsverfahren hergestellt, das die Abtötung aller Keime und somit absolute Unbedenklichkeit gewährleistet. ({5}) Auch ich habe das geglaubt und wurde eines Besseren belehrt. Kolleginnen und Kollegen, wir alle haben uns die Situation schöngeredet! Kontrollen, Proben und Analysen haben ergeben - auch in Bayern, Herr Deß -, dass das Verbot der Tiermehlverfütterung an Wiederkäuer so konsequent nicht eingehalten wurde. Was nun? Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Da wir aber nicht ständig Kontrolleure auf die Bauernhöfe schicken wollen, müssen wir erkennen: Die Tiermehlproduktion und die Verfütterung haben bereits seit längerem immer weniger Akzeptanz erfahren. Aus Gründen des vorsorgenden Verbraucherschutzes, aber auch zur Vorbeugung gegen weitere tierseuchenrelevante Risiken war ein vollständiges Verbot der Tiermehlverfütterung unumgänglich. Ich begrüße es sehr, dass Bundeslandwirtschaftsminister Funke hier auch die offene Deklaration angesprochen hat. Wir wollen sie und wir brauchen sie. Wir brauchen auch weiterhin eine Positivliste bei den Futtermitteln. Das ist sinnvoll. Das bringt Anwendungs- und Verbrauchersicherheit. ({6}) Es gibt viel zu tun; wir werden es anpacken. Wie geht die Bundesregierung mit der BSE-Krise weiter um? In Abstimmung mit den wissenschaftlichen Instituten und den Ländern werden ab sofort flächendeckende BSE-Tests durchgeführt. Es ist dies nicht nur eine große organisatorische und logistische Leistung, sondern natürlich auch eine große finanzielle Herausforderung. Dies alles kann geregelt werden, und das bekommen wir auch hin. Was wir jedoch nicht regeln und was wir nicht regeln können: Der Test bringt nicht eine hundertprozentige Sicherheit. Der Satz „Getestet und für gut befunden“ ist zu relativieren. Die Tests sind notwendig und werden uns in den nächsten Wochen und Monaten endlich die Aufschlüsse bringen, die dann Sicherheit geben.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum Schluss: Sicherheit bedeutet Verantwortung - in der Politik, auf dem Bauernhof und an der Ladentheke. Allen Wohl und keinem Wehe, das geht meistens nicht und es geht insbesondere heute nicht. Es geht nicht gegenüber den Verbrauchern und auch nicht gegenüber den Bauern. Den Bauern müssen wir in einem perspektivischen Konzept die Wege für eine akzeptierte und nachhaltige Landwirtschaft aufzeigen. Den Verbrauchern müssen wir sagen:

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, Sie machen jetzt einen sehr langen Schluss. Ich muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen.

Heidemarie Wright (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002832, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sicherheit hat ihren Preis. „Aus deutschen Landen frisch auf den Tisch“ beinhaltet Verbraucherschutz, Tierschutz, Landschaftsschutz, Umweltschutz - und Einkommen der Bauern. Das müssen wir gewährleisten. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Bundesministerin für Gesundheit Andrea Fischer. Ich will eine freundschaftliche Adresse an die Herren der CDU richten. So manche Bemerkungen, wenn Kolleginnen reden, finde ich nicht so ganz elegant, will ich einmal sagen. ({0}) Frau Ministerin, bitte sehr.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will nicht verhehlen: Wenn ich jetzt zuhöre, werde ich ein bisschen neidisch; denn in der Opposition waren die Dinge viel leichter. Da kann man auch poltern und brüllen, was Sie auch getan haben. Ich war mehrere Stunden in den gemeinsamen Sitzungen der Ausschüsse. Dabei wird ganz offenkundig, Frau Widmann-Mauz: Sie sollten sich bei Ihren Forderungen in Sachen Landwirtschaft mit den Kollegen Ihrer Fraktion verständigen. ({0}) Das ist meines Erachtens ein ganz wichtiger Hinweis. Sie haben getan, was man von der Opposition erwarten kann: Sie haben gesagt, unsere Performance sei nicht gut genug gewesen. Ich will gerne zugestehen, dass unsere Politik da vielleicht verbesserungswürdig ist. Aber Fakt bleibt doch, dass wir - übrigens unter Ihrer Beteiligung in der letzten Woche - in einer Woche! - ein bedeutsames Gesetz verabschiedet haben. Tun Sie bitte nicht so, als hätten Sie dieses Gesetz seit vielen Jahren in der Schublade gehabt und nur darauf gewartet, dass man es umsetzen könnte. ({1}) Es ist eine traurige Erkenntnis, aber die geht an alle in diesem Hause: Ich will mit aller gebotenen Zurückhaltung sagen - die Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion betrifft es vermutlich fast noch am wenigsten -, dass die kritische Position zu manchen Verfahren, die in der Landwirtschaft angewandt werden, auf allen Seiten des Hauses nicht nur Unterstützer hatte. Nach dem Erschrecken in der Mitte der 90er-Jahre wurde irgendwann zum business as usual zurückgegangen. Ich finde es richtig, dass wir den zusätzlichen Sicherheitsstandard halten, den wir dadurch erreicht haben, dass Tiermehl überhaupt nicht mehr verfüttert werden darf. Wir werden alles dafür tun, dass dies auch geschieht. Der Beschluss der Agrarminister ist befristet, da gilt es, auch über diese Befristung hinaus auf europäischer Ebene eine Unterstützung für diese Position zu bekommen. Zu dem Wettlauf, wer sich am radikalsten präsentieren kann, beispielsweise im Hinblick auf die BSE-Schnelltests. Ich bin als Bundesministerin verantwortlich für die Verordnung,dieBSE-Schnelltestsvorschreibt.Aberdurchgeführt werden sie in den Ländern. In allen Bundesländern, die - ich habe das, glaube ich, heute schon einmal gesagt - nach meiner Erinnerung nicht alle rot-grün geführt sind, wurde gesagt: Erstens brauchen wir nicht mehr Tests, denn wir sind ja BSE-frei, zweitens haben wir nicht die Kapazitäten, und drittens hilft es nichts. Es gab also vonseiten der Länder keine Bereitschaft. Es ist ganz bizarr, wenn mir dieselben Länder am Freitag im Bundesrat vorwerfen, dass ich Ihnen noch nicht vorschreibe, schon die Embryos zu testen. ({2}) Aber dies ist trotzdem eine Frage der Bundesländer. Mit denen ist abgesprochen, dass jetzt die Vorschrift besagt: Alle Schlachtrinder ab dem 30. Monat sind zu testen. Das ist eine große logistische Leistung, die jetzt erbracht werden muss, damit das Ganze so schnell geht. Wenn angesichts freier Kapazitäten mehr getestet werden kann, wäre ich die Letzte, die dagegen wäre. ({3}) Zum einen lässt die Vorschrift dies schon zu und zum anderen können wir sie bezüglich der Vergütungsfrage ändern. ({4}) Stellen Sie es doch nicht so dar, als sei ich es, die sich dagegen wehrt, die Tests in breitem Umfang durchzuführen. Das ist doch Quatsch. Ich habe Kommissar Byrne mitgeteilt, was ich nächste Woche auf dem Gesundheitsministerrat in Brüssel besprechen möchte. Es geht selbstverständlich um die Frage der Kennzeichnung des britischen Rindfleisches und auch um die Frage, ob die Länder nach meiner Aufforderung inzwischen etwas getan haben. Frau Widmann-Mauz, ich habe zu diesem Punkt schon mehrfach etwas gesagt; aber ich will es noch einmal tun: Die Frage des nationalen Alleingangs ist keine Prinzipienfrage. Man muss einen nationalen Alleingang nach seiner Wirksamkeit beurteilen. Der Bundesrat hat in seiner Entschließung gar nicht mehr davon gesprochen, dass dadurch der Verbraucher geschützt werden kann, sondern er hat nur noch festgestellt, es solle gemacht werden, um mehr Druck auszuüben, damit eine europäische Lösung erreicht werden kann. ({5}) - Wir reden hier nicht über den Verbraucherschutz, sondern über die unterschiedliche Einschätzung eines strategischen Mittels der Politik. ({6}) Schaffen Sie keine falsche Vorstellung von dem Verbraucherschutz, die sich aus einem Importverbot ergeben könnte. Sie dürfen versichert sein, dass wir uns auf europäischer Ebene für den Schutz der Verbraucher einsetzen. Wir wollen aber nicht sozusagen auf billige Art und Weise dem Verbraucher Placebos verabreichen, indem wir ihm sagen, wir würden ihn schützen. Damit würden wir nur einen billigen Punkt machen. ({7}) Wir haben die Kommission außerdem darum gebeten, die Situation in Frankreich im Rahmen einer Expertenbesprechung ein weiteres Mal im Hinblick auf Scrapie zu bewerten. Wir werden natürlich auch um Unterstützung für die deutsche Situation werben, dass das Tiermehlverbot dauerhaft ist und dass unsere Standards auf europäischer Ebene angewandt werden. Zu dem Vorwurf, wir hätten zu spät gehandelt: Zwei Tage, bevor der erste Fall bekannt wurde, haben wir ein großes Treffen mit Experten und Politikern organisiert, auf der die CDU/CSU als einzige Fraktion nur auf Mitarbeiterebene vertreten war. Diese Konferenz war vor Wochen einberufen worden. ({8}) - Nein, Herr Ronsöhr, da täuschen Sie sich. - Auf dieser Konferenz wurden die entsprechenden Fragen erörtert. Wir wollen einen permanenten Arbeitskreis in einer vergleichbaren Zusammensetzung einrichten, um über weitere Maßnahmen zu diskutieren. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Ronsöhr, Sie haben vorhin gesprochen und auch viele Zwischenrufe gemacht. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass Ihre Zwischenrufe jetzt fast störend wirken. ({0}) Wir sollten, auch wenn es Donnerstagnachmittag ist, ordentlich miteinander umgehen. - Frau Ministerin, Sie haben das Wort.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Ich glaube, wir werden dem heute so stark vertretenen Anliegen des Verbraucherschutzes und dem Wunsch, bei Nahrungsmitteln immer sicher sein zu können, alle gemeinsam am besten gerecht, wenn wir in zwei, drei Monaten nicht sagen: Wir waren eine Zeit lang alarmiert Andrea Fischer, Bundesministerin und haben gehandelt; das war es jetzt. - Wir müssen vielmehr bereit sein, auch weiterhin über grundsätzliche Veränderungen nachzudenken. Ich habe an einigen Zwischenrufen und auch an den Beiträgen im Agrarausschuss feststellen können, dass es hier nicht um einen Gegensatz zwischen den Interessen der Landwirte und den Interessen bezüglich des Verbraucherschutzes geht. Wer diesen Gegensatz aufbaut, der hat das Problem nicht begriffen. ({0}) Es ist im Interesse der Landwirte, gute Lebensmittel unter angemessenen Bedingungen zu produzieren. Genauso ist es im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher, gute Lebensmittel zu bekommen. Es müsste doch möglich sein, sich in diesem Punkt zu treffen. Dazu ist aber auf beiden Seiten ein Umdenken notwendig. Auf der Seite der offiziellen Vertreter der Landwirte erwarte ich ein selbstkritisches Nachdenken darüber, was eigentlich dazu geführt hat, dass wir uns immer wieder mit dem Management von Schadstoffen beschäftigen müssen. Ich könnte Ihnen in diesem Zusammenhang allein aus den zwei Jahren meiner Amtszeit viel darüber erzählen, womit wir konfrontiert werden. Wir müssen fragen: Was sind die Ursachen? Was müssen wir ändern, damit es nicht immer wieder zu diesen Missständen kommt? Auf der Seite der Verbraucher erwarte ich ein selbstkritisches Nachdenken darüber, was wir wie oft und zu welchen Preisen essen. Wir können nicht erwarten, dass wir zu niedrigen Preisen allerbeste Lebensmittel bekommen. Das heißt, alle müssen aus dieser Situation etwas lernen. Nur dann werden wir Verbraucherschutz dauerhaft gewährleisten können, der wahrscheinlich auch zu besseren Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft als den heutigen beitragen kann. Danke. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt spricht der Kollege Aribert Wolf für die CDU/CSU-Fraktion.

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Deutschland hat in den letzten Wochen seine BSE-Unschuld verloren. Umso wichtiger ist es jetzt, dass wir zum einen die Bevölkerung lückenlos aufklären, zum anderen aber auch schauen, ob die Bundesregierung ausreichend gehandelt hat. Wir sollten uns die Frage stellen, warum eigentlich nicht schon vorher gehandelt worden ist, sondern erst, nachdem dieser erste deutsche BSE-Fall auf die Tagesordnung gekommen ist. Ich habe, wenn ich unsere Arbeit im Gesundheitsausschuss betrachte und wenn ich bedenke, dass Sie immer wieder unsere Anträge zum Thema BSE und zum Thema Importverbot abgelehnt haben, schon den Eindruck, dass Sie nicht Motor sind, Frau Fischer, sondern ein ganzes Stück Getriebene. Sie sind jetzt gut zwei Jahre im Amt. Da können Sie sich nicht immer mit dem Hinweis auf unsere Regierungszeit herausreden. ({0}) Ich möchte zu den Fakten kommen. Der europäische Lenkungsausschuss hat Deutschland mit Wirkung zum 1.August 2000 - also während Ihrer Amtszeit - zum BSERisikogebiet erklärt. Das war vor gut vier Monaten, Frau Fischer. Die EU hat zu jener Zeit gefordert, dass Deutschland vier Maßnahmen gleichzeitig auf den Weg bringt: ein generelles Tiermehlverfütterungsverbot, eine stärkere Überwachung und epidemiologische Kontrolle der geschlachteten Tiere, eine Verbesserung der Sicherheitsstandards bei der Tiermehlproduktion und die Herausnahme des Risikomaterials aus der Futtermittel- und Nahrungskette. Sie kritisieren in diesem Zusammmenhang zwar immer Frau Stamm, aber eines müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen: Horst Seehofer hatte als Bundesgesundheitsminister eine Verordnung erlassen, die vorgesehen hatte, dieses Risikomaterial zum 1. September 1999 aus der Futtermittelkette herauszunehmen. Sie haben mit Ihrer rotgrünen Bundesregierung das In-Kraft-Treten dieser Verordnung auf den 1. Oktober 2000 verschoben. Da können Sie sich doch nicht hier im Bundestag hinstellen und sich als Jeanne d’Arc, als große Vorkämpferin für den Verbraucherschutz aufspielen! Nein, Frau Fischer, Sie waren die letzten Monaten im BSE-Dornröschenschlaf. ({1}) Nachdem dieser BSE-Fall in Deutschland aufgetreten ist, verbreitet man nun Hysterie und verfällt in eine panische Gesetzgebungshektik. Wir sind dieses Hin und Her - wir haben es hier im Deutschen Bundestag wieder live erlebt - zwischen Landwirtschaftsministerium und Gesundheitsministerium wirklich leid. Wer in den letzten Ausschusssitzungen dabei war, hat verfolgen können, wie die Gesundheitsministerin dem Landwirtschaftsminister widerspricht und umgekehrt. Es ist ein Trauerspiel, was wir zwischen den Ministerien immer wieder erleben. Da können Sie doch nicht sagen, Sie hätten einen klaren Kurs. Bei der Bundesregierung weiß doch die linke Hand nicht, was die rechte tut, und umgekehrt. Mit souveräner Amtsführung und einem funktionierenden Krisenmanagement hat das beileibe nichts zu tun. Sie werfen uns vor, wie es bei uns aussieht, Frau Fischer; aber die CDU/CSU hat es geschafft, hier einen gemeinsamen Entschließungsantrag einzubringen. Unsere Linie ist in diesen Dingen völlig klar. ({2}) Ich halte es für sehr abenteuerlich und inkonsequent, wenn Sie im Zusammenhang mit den BSE-Tests sagen, Sie hätten eine klare Linie gehabt. Ich erinnere mich, Frau Fischer, dass im Ausschuss zunächst davon gesprochen worden ist, Stichprobentests einzuführen. Dann plötzlich war von flächendeckenden Tests die Rede. Schließlich war von 30 Monate alten Rindern die Rede, jetzt wird von 24 Monate alten Rindern gesprochen. Wie sollen sich Andrea Fischer, Bundesministerin denn die Bundesländer darauf einstellen, wenn die Vorgaben dieser Bundesregierung nicht eindeutig sind, welche Art BSE-Schnelltest sie eigentlich will? ({3}) Ich begreife noch etwas nicht; das muss ich wirklich sagen. Weil wir in Deutschland ein hohes BSE-Risiko haben, fangen wir an, bestimmte Futtermittel zu verbieten. Das ist richtig; das haben wir auch mitgetragen. Aber ist es konsequent, wenn Sie auf der anderen Seite zulassen, dass aus Ländern, die genau diese Futtermittel noch einsetzen, für den deutschen Verbraucher Fleisch auf den Markt kommt? ({4}) Das ist doch völlig inkonsequent. Das hat mit Verbraucherschutz nichts mehr zu tun. Deswegen fordern wir ein sofortiges Importverbot für Rindfleisch aus Großbritannien, Irland, Frankreich und der Schweiz. ({5}) Sie weisen auf die Kennzeichnungspflicht hin. Aber diese ist doch völlig unzureichend. Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal in einer Metzgerei waren. Wir können ja einmal ums Eck gehen und eine Metzgerei aufsuchen. ({6}) Was soll denn für den Verbraucher durch die Kennzeichnungspflicht erreicht werden? Eine Kennzeichnung in diesen Bereichen bringt dem Verbraucher nichts. Wir brauchen entsprechende Schutzmaßnahmen und diese können nur in einem Importverbot liegen. ({7}) Diese Bundesregierung klopft zwar starke Sprüche, aber beim Handeln fehlt letztlich die Konsequenz. Es ist mit Sicherheit gut, dass Vertrauen geschaffen werden soll. Es ist auch gut, dass jetzt bestimmte Maßnahmen ergriffen worden sind. Aber die letzte Konsequenz im Handeln fehlt. Wir brauchen in Sachen Importverbot endlich Maßnahmen seitens dieser Bundesregierung. Stimmen Sie unseren Anträgen zu, die wir gestellt haben, und kommen Sie in Sachen Importverbot endlich in die Gänge! Danke schön. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Jella Teuchner für die SPD-Fraktion das Wort.

Jella Teuchner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002816, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! „Deutschland hat kein BSEProblem“ - wie gern würden wir nicht alle noch von dieser Situation ausgehen. Leider müssen wir aber nach dem positiven BSE-Test bei einem Rind in Schleswig-Holstein jetzt einräumen, dass die Seuche weder besiegt ist noch an Landesgrenzen Halt macht. Bereits beim ersten Auftauchen dieser Tierseuche in Großbritannien vor weit mehr als zehn Jahren wäre es nötig gewesen, den kritischen Forschern Gehör zu schenken. Stattdessen wurde vollmundig vom „gesunden Rindfleisch“ geredet. Dank der damaligen Tatenlosigkeit Großbritanniens, aber auch der Tatenlosigkeit der damaligen deutschen Bundesregierung, Herr Wolf, und auch der Europäischen Kommission verstrich wertvolle Zeit. Der vorbeugende gesundheitliche Verbraucherschutz wurde sträflichst vernachlässigt. ({0}) Der „Spiegel“ vom 4. Dezember dieses Jahres titelt sehr makaber „Das Problem ist gegessen“. Dieser Artikel macht doch eigentlich deutlich, wie rätselhaft die unheimliche Rinderseuche BSE nach wie vor ist. Deshalb haben wir auch in der vergangenen Woche das generelle Tiermehlverfütterungsverbot für Deutschland durchgesetzt. ({1}) Das Problem der Entsorgung selbst sicher hergestellten Tiermehls darf doch wohl nicht über die Nahrungsmittelkette gelöst werden. An die Adresse des Bauernverbandspräsidenten sage ich: Das ist sehr zynisch: Kreislaufwirtschaft als Kannibalismus! In Brüssel hat man sich unserem Votum angeschlossen, allerdings zunächst einmal nur für ein halbes Jahr. Hier werden wir unserem Landwirtschaftsminister den Rücken stärken in dem Bemühen, dass es in weiteren Verhandlungen auch auf EU-Ebene zu einem Dauerverbot kommt. ({2}) Denn im europäischen Binnenmarkt müssen einheitliche Rahmenbedingungen gelten. Dazu gehört als nächster Schritt meines Erachtens nicht nur die volle Deklaration der zugelassenen Futtermittel - denn Nutztiere müssen natürlich auch weiterhin gefüttert werden -, sondern auch die Deklaration von Tierarzneimitteln. Nur die völlige Offenlegung kann den Verbraucherinnen und Verbrauchern verloren gegangenes Vertrauen zurückgeben. ({3}) Wir werden in nächster Zukunft sicherlich viele weitere Verhandlungen mit den Vertretern der Landwirte, dem Bauernverband, mit Futtermittelherstellern und mit Anbietern von Tierarzneimitteln zu führen haben. In diesem Zusammenhang muss ich auch unsere alte Forderung an die Bundesländer wiederholen: Die Kontrollinstanzen müssen so gestärkt werden, dass eine umfassende Überwachung gewährleistet ist. Die Zuständigkeiten müssen eindeutig und auch klar geregelt werden. Ganz wichtig ist mir aber auch der Schutz der Menschen vor vermeidbaren Risiken auch bei Lebensmitteln. Diese alltäglichen Mittel zum Leben müssen höchsten Ansprüchen an die Sicherheit genügen. Das In-VerkehrBringen gesundheitsgefährdender Stoffe ist verboten. Also muss Risikomaterial aus der Nahrungskette herausgehalten werden. Wir müssen diese Krise aber auch als Chance zum Umsteuern nutzen. Ich zitiere unseren Bundeskanzler aus dem „Spiegel“ dieser Woche: BSE wird eine veränderte, verbraucherorientierte Landwirtschaft erzwingen ... Ich sehe nicht, wie sonst auf Dauer wieder Vertrauen hergestellt werden kann. Ich teile nicht die Hoffnung derer, die sagen, in einem halben Jahr sei alles das schon wieder vergessen. Diese Einschätzung unterstütze ich als Verbraucherpolitikerin uneingeschränkt. Verbraucher lassen sich nicht mehr mit Halbwahrheiten abspeisen. ({4}) Deshalb wiederhole ich hier die Hoffnung: Verbraucherinteressen müssen sich originär in einem parlamentarischen Gremium wiederfinden. Unsere europäischen Nachbarn und auch das EU-Parlament können uns da als Vorbilder dienen. ({5}) Aber trotz aller berechtigten Besorgnis sollten wir dieser Hysterie energisch entgegentreten. Bei uns gelten eindeutige, verbraucherfreundliche Vorschriften. Tiermehlverfütterung ist verboten. Fleisch wird nach dem Herkunftsprinzip gekennzeichnet: in Deutschland geboren, in Deutschland aufgewachsen, in Deutschland geschlachtet. Die BSE-Schnelltests sind für Rinder ab 30 Monaten verbindlich vorgeschrieben. Risikomaterial wird vernichtet, also keiner weiteren Verwendung zugeführt. Die Möglichkeit freiwilliger BSE-Tests auch bei jüngeren Tieren in anerkannten Labors wird bereits von einigen Rinderzüchtern genutzt. - Ich halte dies für einen richtigen Weg, das Vertrauen der Verbraucher zurückzugewinnen. Diese werden dann auch honorieren, dass sicheres Fleisch seinen Preis hat. Zum Abschluss muss ich kurz noch die neuesten Meldungen von heute aufgreifen. Landwirte in SchleswigHolstein - und wer weiß wo sonst noch - haben in diesen Tagen vor den verbindlichen BSE-Tests für Tiere ab 30 Monaten noch ganz schnell vermehrt ihre älteren Rinder schlachten lassen. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, stelle ich mir vertrauensbildende Maßnahmen allerdings nicht vor. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Peter Bleser, CDU/CSU-Fraktion.

Peter Bleser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000198, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer Krise den Überblick zu behalten ist eine Fähigkeit, die gute Führungspersonen auszeichnet. ({0}) Wenn wir diese Messlatte anlegen, dann hat der Bundeskanzler mit seinen Ministern Funke und Fischer kläglich versagt. ({1}) Montags erklärt der Landwirtschaftsminister, dass er Tiermehl für unbedenklich hält. Dienstags behauptet die Gesundheitsministerin das Gegenteil. Freitags erklärt der Bundeskanzler aus Zagreb, dass die Gesundheitsministerin Recht hat. Dann dreht sich auch der Landwirtschaftsminister. Herr Minister, gestern im Kabinett sind Sie kläglich allein gelassen worden. Ich frage Sie, wie lange Sie sich das noch gefallen lassen. Sie werden öffentlich vorgeführt. Sie werden zum Tanzbären des Kabinetts gemacht. ({2}) Die Bundesregierung hat - das meine ich jetzt sehr ernst - mit ihrem unkoordinierten Verhalten den Landwirten, den Verbrauchern und den Futtermittelproduzenten schweren Schaden zugefügt. Ich bin sicher: Hätte der Bundeskanzler Ende November die Fäden in die Hand genommen, was seine Pflicht gewesen wäre, und seine widerspenstigen Minister zu einheitlichem Handeln veranlasst, dann hätten wir nicht diese tiefe Vertrauenskrise bekommen. Hätte er die Vertreter der Wissenschaft, des Bauernverbandes und der Wirtschaft, aber auch die Verbraucher an einen Tisch bekommen, dann wäre diese tiefe Krise in der Fleischwirtschaft mit Sicherheit nicht entstanden. ({3}) Wir müssen eines wissen: In Großbritannien gibt es bis heute mehr als 190 000 BSE-Fälle, in Deutschland zwei. ({4}) Auch hier muss man noch Fragezeichen machen. Ich sage es ganz vorsichtig: Es ist schon mehrfach angesprochen worden, dass der Test nicht ganz sauber abgelaufen ist, dass keine Rückstellprobe vorhanden ist und dass der Kopf des Tieres abhanden gekommen ist. Mehr kann man heute dazu nicht sagen. Aber wenn sich da eine andere Entwicklung abzeichnet, dann sind mehrere Köpfe fällig, die die Verantwortung dafür übernehmen müssen. ({5}) Meine Damen und Herren, wir kommen nicht weiter, wenn wir nicht für den Verbraucher nachvollziehbare Maßnahmen ergreifen, die ihm das Vertrauen zumindest in das deutsche Rindfleisch zurückgeben. Ich frage deshalb die Bundesregierung: Wie wollen Sie mit Fleischimporten aus Ländern umgehen, in denen, wie in den Niederlanden, zum Beispiel noch Tierfette verfüttert werden dürfen? Wie wollen Sie mit Fleisch aus Ländern umgehen, in denen kein BSE-Test durchgeführt wird, wie zum Beispiel den meisten Drittländern? Ich frage auch: Was geschieht mit der Erlaubnis des Imports von britischem Rindfleisch nach Deutschland? Ich habe gerade die Risikolage geschildert. Auch hier sind Sie nicht konsequent und es müsste gehandelt werden. Sie müssen diese Fragen schnellstens beantworten, damit die Menschen wieder Vertrauen gewinnen. Es stellt sich des Weiteren die Frage, wie wir nach dem Tiermehlverbot die in Deutschland und Europa entstandene Proteinlücke schließen. Ich meine, wir wären gut beraten, wenn wir entsprechende Anreize schaffen würden, damit bei uns wieder proteinhaltige Pflanzen angebaut werden und wir nicht auf Importe dieser Pflanzen aus Nordamerika, die unter Umständen gentechnisch verändert sind, was auch die Verbraucher nicht wollen, oder auf Importe aus Südamerika, was mit Sicherheit eine weitere Rodung des Regenwaldes nicht verhindern würde, angewiesen sind. ({6}) Meine Damen und Herren, es wird an dieser Stelle sichtbar, dass wir eine Neuausrichtung der deutschen und der europäischen Agrarpolitik brauchen. Das Absenken der landwirtschaftlichen Produktionspreise auf das Dumpingniveau des Weltmarktes hat jedenfalls nicht zu einer Erhöhung der Lebensmittelsicherheit beigetragen. ({7}) Wir brauchen also einen Pakt zwischen Verbrauchern und Landwirten. Wir brauchen eine mehr verbraucherschutzorientierte Lebensmittelerzeugung. Dazu bräuchten wir allerdings eine Bundesregierung, welche in der Lage ist, diesen Anspruch national und international durchzusetzen ({8}) oder uns vor Importen von Nahrungsmitteln zu schützen, die unsere Standards nicht erreichen. Im Rahmen der BSE-Tests hat jedenfalls die Bundesregierung ihren Test nicht bestanden. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zum Abschluss hat nun das Wort der Kollege Matthias Weisheit für die SPDFraktion.

Matthias Weisheit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002458, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Vielleicht kann ich ein bisschen von der vorhin überzogenen Redezeit einsparen. Das fällt mir umso leichter, als in diesem Zusammenhang, wenn ich einmal die politische Lyrik und das Draufhauen von Peter Bleser weglasse, eine ganze Menge an Gemeinsamkeiten herausgekommen ist. Zu den Ausführungen von Frau Widmann-Mauz und des Kollegen Wolf möchte ich jedoch feststellen: Sie können nichts dafür, dass Sie vor ein paar Jahren noch nicht im Bundestag waren. Ich würde Ihnen aber dringend empfehlen, sich einmal mit Ihrem Altkanzler sowie mit Herrn Seehofer und Herrn Borchert darüber zu unterhalten, wie man in Europa Dinge durchsetzt bzw. wie Alleingänge wirken und was sie nützen. Sie handeln wie das frühere Cleverle in Baden-Württemberg, Frau Widmann-Mauz: Sie prügeln auf Bonn und auf Europa ein, sind aber der Meinung, dass in Baden-Württemberg alles in Ordnung ist. - Genauso handeln Sie jetzt. ({0}) Dies ist zwar wunderbar; nur, das alles bringt nichts. ({1}) Sie haben vorhin danach gefragt, wann von Brüssel festgelegt worden ist, dass Deutschland den Status eines BSE-Risikolandes einnimmt. Wer ist denn für die Umsetzung der in diesem Zusammenhang erforderlichen Maßnahmen verantwortlich? Für die Umsetzung ist der Bundesrat zuständig. Auf Antrag des Bundesrats ist das Verfahren viermal verschoben worden. Das können Sie doch nicht der Bundesregierung vorwerfen. ({2}) - Doch, genauso ist es. Ich erinnere mich noch an die Brandbriefe von TBAs aus meinem Wahlkreis, in denen gefragt wurde: Wie könnt ihr so schwachsinnig sein und eine solche europäische Anordnung durchsetzen? Auch die zuständigen Landesminister waren entsetzt. Der baden-württembergische Ministerpräsident hat noch vor 14 Tagen behauptet, in Baden-Württemberg würden flächendeckend BSE-Tests durchgeführt, obwohl überhaupt noch nichts läuft, wie er hinterher hat eingestehen müssen. Erst nächstes Jahr wird dies der Fall sein. - Auch in dieser Sache herrscht also wieder einmal eine große Heuchelei. Wir sollten - das habe ich kürzlich schon gesagt - damit aufhören. Wir alle miteinander haben jetzt im Umgang mit der BSE-Krise etwas ganz Konsequentes gemacht: Wir haben verboten, Tiermehl und sämtliche Nebenprodukte zu verfüttern, weil das Tiermehl und dessen Nebenprodukte ein Infektionsrisiko beinhalten. Wenn überhaupt eine Chance besteht, diese Seuche zu verbannen, sodass wir in ein paar Jahren sagen können: „Es ist wirklich überwunden“, dann gelingt dies nur - darauf wurde schon hingewiesen - über das Verfütterungsverbot. Es ist natürlich schlimm - das Wort, das ich eigentlich hätte sagen wollen, lasse ich lieber weg -, dass der Agrarministerrat nicht dem gefolgt ist, was die Kommission vorgeschlagen hat. Ich kann den Minister nur unterstützen, wenn er sagt, dass er dem nicht zustimme und dies ablehne. Wir müssen weiter dafür sorgen, dass das umfassende Verfütterungsverbot EU-weit durchgesetzt wird. ({3}) - Moment, Uli, darauf komme ich vielleicht noch zu sprechen, wenn die Zeit reicht. - Dieses Verfütterungsverbot muss EU-weit umgesetzt werden und dies muss dauerhaft sein. Ich will noch auf den Kollegen Deß und andere zurückkommen, die gefragt haben, was der Kanzler im Zusammenhang mit den Agrarfabriken gemeint hat. Wir müssen nicht über bestimmte Hühnerställe und Geflügelhaltung reden; das ist klar. Es geht um etwas ganz anderes. In den letzten Jahrzehnten - alle, die wir an der Agrarpolitik beteiligt waren, haben uns nicht mit Ruhm bekleckert, die Wissenschaft möglicherweise auch nicht sind Ideen der Industrie in die landwirtschaftliche Produktion hineingekommen: Outsourcing, Spezialisierung bis zum Gehtnichtmehr. ({4}) Der Bauer weiß am Schluss nicht mehr über sein Futtermittel Bescheid; das ist der Punkt. ({5}) Dann ist der kleinste Bauernhof, jeder Familienbetrieb, der auf einen Futtermittelhändler angewiesen ist und nicht mehr kontrollieren kann, was im Futter enthalten ist, genauso dran wie jemand, der einen riesigen Betrieb hat. ({6}) Über diese Strukturen, über das Preisdiktat, über das Diktat der Ökonomen müssen wir nachdenken. ({7}) - Nein, Uli! Das ist der Punkt, über den wir nachdenken müssen. ({8}) Wenn die Kälbermäster heute sagen, es gehe nicht anders, die Tiere zu ernähren, dann kann ich nur sagen, dass es bei mir im Dorf zwei, drei Bauern gibt, bei denen das selbstverständlich geht. Früher hat man die Kälber doch auch groß bekommen. Warum soll das nicht mehr gehen? Das ist der Beweis dafür, dass etwas nicht mehr stimmt. ({9}) Wenn man behauptet, es wäre unmöglich, Kälber zu mästen, ohne dass man ihnen Reststoffe - Stoffe aus der Abfallverwertung dieser Gesellschaft - verfüttert, dann ist das nicht wahr. Das ist alles nur eine Frage des Geldes. ({10}) Darum geht es in der nächsten Diskussion und die werden wir anpacken. Danke schön. ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform und Verbesserung der Ausbildungsförderung Ausbildungsförderungsreformgesetz ({0}) - Drucksache 14/4731 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Angela Marquardt und der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums - Drucksache 14/3005 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) - Drucksache 14/4455 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Peter Eckardt Thomas Rache Cornelia Pieper Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Bevor ich der Frau Ministerin das Wort gebe, müssen wir noch ein wenig auf Ruhe warten. - Es ist schade, dass die Bauern jetzt den Saal verlassen. Sie hätten ruhig dabei bleiben können, wenn es jetzt um die Ausbildungsförderung geht. ({4}) Es ist schade, dass wir häufig die Debatten der anderen Fachbereiche nicht verfolgen; denn sie sind immer ganz spannend. Ich kann Ihnen als Vizepräsidentin bestätigen, dass man auch zu fremden Themen eine Menge lernt. Das war aber nur eine Randbemerkung. ({5}) - Herr Ronsöhr kommt wieder. ({6}) - Das ist schön. Jetzt aber bitte zuhören, Herr Kollege. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat nun die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn. ({7})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sie können mir ruhig zuhören, lieber Kollege, weil es jetzt um etwas Erfreuliches geht und weil ich weiß, dass Bauern und Bäuerinnen durchaus dazulernen. ({0}) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Noch nie ist in Deutschland so viel in Ausbildung und Bildung investiert worden wie heute. ({1}) Eine gute Ausbildung ist für junge Menschen das Tor überhaupt für ihr weiteres Leben. Sie entscheidet über die persönlichen Lebenschancen und über die beruflichen Karrierechancen. Deshalb sollte jeder Mensch die Chance für die bestmögliche Ausbildung erhalten, auch diejenigen, denen keine goldene Kreditkarte in die Wiege gelegt worden ist. ({2}) Schon als wir Anfang und Mitte des Jahres im Bundestag über die BAföG-Reform diskutiert haben, waren es weniger tief greifende Meinungsunterschiede über Erfordernisse und Lösungsansätze einer grundlegenden Reform, die den politischen Schlagabtausch prägten, als vielmehr lautstark von der Opposition vorgetragene Zweifel und die Skepsis hinsichtlich der Realisierungsund Finanzierungschancen meiner damals gerade vorgelegten Eckpunkte. ({3}) Die Zweifel an der Finanzierbarkeit sind seit der Vorlage des Regierungsentwurfs für den Haushalt 2001 verstummt, ({4}) zu Recht, weil wir mit dem Regierungsentwurf mehr als 1 Milliarde DM zusätzlich für das BAföG mobilisieren werden. Das hat schließlich dazu geführt, dass im November der Bundesrat im ersten Durchgang keinerlei grundsätzliche Zweifel und Einwände gegen die Reformansätze im Regierungsentwurf des Bundesausbildungsförderungsgesetzes formuliert hat. ({5}) Deshalb werden nach dem jetzigen Stand alle Bundesländer dem Entwurf ihre Zustimmung geben. Für zusätzliche Fördermaßnahmen werden in der Reform der Ausbildungsförderung - ich sagte es bereits - zusätzlich mehr als 1 Milliarde DM mobilisiert. ({6}) Das heißt im Ergebnis, dass wir die Mittel gegenüber 1998 um insgesamt 50 Prozent aufstocken. Damit können wir erreichen, dass künftig über 80 000 junge Menschen zusätzlich gefördert werden, indem sie eine spürbare finanzielle Hilfe erhalten. Auch Kinder eines Facharbeiters oder einer Büroangestellten können künftig wieder studieren, ohne dass ihre Eltern jeden Pfennig zweimal umdrehen müssen. ({7}) Genau das war das Ziel, das wir mit dieser Reform erreichen wollten. Es ist jetzt an Ihnen, den Gesetzentwurf Wirklichkeit werden zu lassen. ({8}) Die verfehlte bildungspolitische Prioritätensetzung der alten Bundesregierung, unter deren Verantwortung die Ausbildungsförderung in Grund und Boden gefahren wurde, hatte das Ergebnis, dass immer weniger Jugendliche überhaupt noch einen Anspruch auf Förderung hatten und Ausbildungsförderung wirklich in Vergessenheit geriet. Eine solche Politik wird dann endgültig der Geschichte angehören. ({9}) Das BAföG wird mit dieser Reform in der Lebens- und Ausbildungsplanung von jungen Menschen wieder die Rolle spielen, die ihm zukommt. ({10}) Das BAföG wird wieder die wichtige Brückenfunktion für die Entscheidung zur Aufnahme eines Studiums haben. Das gilt vor allem für Kinder aus einkommensschwächeren Familien. Mit dem Ihnen heute zur ersten Lesung vorliegenden Regierungsentwurf eines Ausbildungsförderungsgesetzes werden wir endlich wieder gehörig in die Qualifizierung unserer Kinder investieren und wir werden damit auch gehörig in die Wettbewerbsfähigkeit unserer Gesellschaft investieren, weil wir in einer Zeit, in der Wissen eine immer größere Bedeutung für uns alle hat, nur bestehen werden, wenn wir über sehr gut ausgebildete Menschen verfügen. ({11}) Wir werden auch noch ein Zweites erreichen: Wir werden mit dieser grundlegenden Reform neue Begabungsreserven erschließen; auch das ist nötig. Denn wenn wir uns die Zahl der Studienanfänger in Deutschland anschauen, dann stellen wir fest, dass wir mit einem Anteil von 28 Prozent an einem Jahrgang deutlich unter dem internationalen Durchschnitt liegen. In den USA beginnen 44 Prozent aller Jugendlichen nach der Schule ein Studium. In Israel sind es 49 Prozent und in Finnland sogar 58 Prozent. Die Diskussionen um die Green Card und den Fachkräftemangel, der jetzt in vielen wissenschaftlichen Bereichen spürbar ist, haben hoffentlich für alle deutlich gemacht, dass wir es uns überhaupt nicht leisten können, nicht das gesamte Potenzial an Begabungen in unserem Land tatsächlich zu nutzen. Wir müssen den jungen Menschen die Chance geben, ihre Wünsche auch realisieren zu können. Wir brauchen mehr und nicht weniger Hochschulabsolventen, wie es noch vor wenigen Jahren immer behauptet wurde. Wir brauchen mehr und besser ausgebildete Hochschulabsolventen, wenn wir auch in Zukunft wettbewerbsfähig sein wollen. ({12}) Ernsthafte Alternativvorschläge zu unserem Gesetzentwurf gibt es nicht. ({13}) Die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P. halten zwar an ihrem als Gesetzentwurf eingebrachten Modell fest, ({14}) aber wie ernst sie selbst diesen Entwurf nehmen, der mit wirklich heißer Nadel gestrickt worden ist, ({15}) sieht man daran, dass sie bis heute noch nicht einmal die augenfälligsten Schwachstellen in ihrem Gesetzentwurf korrigiert haben. Zu § 53, unter der Überschrift „Aufbringung der Mittel“, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., befindet sich in Ihrem Entwurf bis heute nichts als ein weißer Fleck. ({16}) Wenn Sie es ernst nehmen würden, hätten Sie diesen augenfälligsten weißen Fleck schon beseitigt. Ich stelle fest, dass wir mit unserer Reform eine solide Grundlage dafür schaffen, dass die Ausbildungsförderung ihren Namen endlich wieder verdient. ({17}) Wir schaffen diese Grundlage, indem wir das BAföG den gestiegenen Lebenshaltungskosten anpassen. Wir heben die Bedarfssätze deutlich an. Der Höchstsatz steigt um 7,3 Prozent von 1 030 DM auf 1 105 DM. Da das Kindergeld künftig nicht mehr angerechnet wird, stehen den Familien BAföG plus 270 DM Kindergeld zur Verfügung. ({18}) Dies ist eine spürbare Verbesserung, die jeder merken wird. Das Antragsverfahren für die Ausbildungsförderung wird vereinfacht. Die Freibeträge werden deutlich angehoben, womit wir den Kreis der Anspruchsberechtigten erweitern. Das bedeutet eine erhebliche Verbesserung für Bezieher unterer und mittlerer Einkommen. Ich nenne ein Beispiel: Familien mit zwei studierenden Kindern werden künftig voll gefördert, wenn das Bruttoeinkommen der Eltern 3 900 DM monatlich nicht übersteigt. In der Vergangenheit lag diese Grenze bei 2 900 DM. Dies ist also ein Unterschied von 1 000 DM. Wir tun ein Weiteres: Wir begrenzen die Gesamtdarlehensbelastung für die Jugendlichen auf höchstens 20 000 DM. ({19}) Wir tun dies, weil wir nicht wollen, dass gerade die Jugendlichen aus den einkommensschwächsten Familien am Ende ihres Studiums mit dem größten Schuldenberg dastehen. ({20}) Ich denke, dass dies auf breite Zustimmung stößt. In Zukunft werden junge Menschen nicht mehr durch die Höhe der drohenden Schuldenlast von einem Studium abgehalten. Es ist für sie kalkulierbar. Sie können einschätzen, wie viel Schulden sie am Ende haben werden, wenn sie Mittel in Anspruch nehmen. Bei der Ausbildungsförderung stellen wir Studierende aus Ost und West endlich gleich. Auch das ist notwendig und von der Sache her richtig. Ich denke, hier gibt es keinen Dissens. ({21}) Zweitens. Wir unterstützen besonders Studierende mit Kindern. In der Vergangenheit mussten Studierende, die wegen der Kindererziehung oder aus anderen Gründen die Regelstudienzeit überschritten, ihr Studium häufig abbrechen, weil die Förderung wegfiel. Damit sind nicht nur die erbrachten Studienleistungen, sondern auch die staatlichen Investitionen in die Ausbildung verfallen. Deshalb verbessern wir die Studienbedingungen für Studierende mit Kindern erheblich. Die Förderung während der Kindererziehungszeiten wird bedarfgerechter gestaltet und der Betreuungsaufwand für Kinder wird künftig bis zum zehnten Lebensjahr statt wie bisher bis zum fünften Lebensjahr des Kindes berücksichtigt. Ich denke, auch dieses wird auf einmütige Zustimmung stoßen und ist überfällig, ({22}) denn der Erziehungsbedarf ist nicht mit fünf Jahren erledigt, wie jede Frau und jeder Mann wissen. Wir führen weiterhin eine verlässliche Studienabschlussförderung für die Dauer der Prüfungsphase als Bankdarlehen ein, und zwar unabhängig von den Gründen, die zur Überschreitung der Förderungshöchstdauer geführt haben. Das heißt, auch bei einer selbst verschuldeten Unterbrechung des Studiums wird es künftig für die Studierenden eine zweite Chance geben. Auch dies ist richtig, weil es besser ist, die bereits getätigte Investition zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, als sie völlig verfallen zu lassen. Drittens. Mit der BAföG-Reform fördern wir Auslandserfahrung und interdisziplinäre Zusammenarbeit. ({23}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben häufig im Bundestag darüber diskutiert, dass wir heute in einer globalen Welt leben und dass es für immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbstverständlich geworden ist, eine Zeit lang im Ausland zu arbeiten und zu leben. Für die Arbeitgeber sind Auslandserfahrungen bei der Einstellung neuer Mitarbeiter ein wichtiges Kriterium, eine wichtige Qualifikation. Deshalb treiben wir die Internationalisierung unserer Ausbildungsstätten, auch unserer Hochschulen, voran. Mit der Entwicklung internationaler Studiengänge, der Einführung von Bachelor- und Master-Abschlüssen, deren Zahl im nächsten Jahr 600 erreichen wird, und mit dem Ausbau von Austauschmaßnahmen qualifizieren wir deutsche Studierende für den internationalen und für den deutschen Arbeitsmarkt und machen unsere Hochschulen auch für Studierende aus anderen Ländern wieder attraktiv. ({24}) Die Reform der Ausbildungsförderung muss dieser Entwicklung folgen. Wir ermöglichen mit dieser Reform allen Studierenden lange und intensive Auslandserfahrungen. Ein begonnenes Studium wird künftig nach zwei Semestern in Deutschland innerhalb der Europäischen Union zu Inlandssätzen bis zum Abschluss gefördert werden können. ({25}) Mit dieser Regelung übernimmt die Bundesregierung eine Vorreiterrolle in Europa. ({26}) Ich hoffe, dass meine europäischen Kollegen sehr zügig diesem Beispiel folgen werden. Interdisziplinarität ist neben der Internationalität eine zweite Zielsetzung, die wir bei der Reform unserer Bildungs- und Forschungseinrichtungen groß schreiben. Warum? Weil heute viele Herausforderungen, vor denen wir stehen, so komplex sind, dass sie nicht mehr mit Wissen aus einer klassischen Disziplin allein zu lösen sind. Kaum ein Fach kommt heute noch ohne Informatik aus. Der Technologietransfer braucht Fachkräfte, die Brücken zwischen Wissenschaft und Wirtschaft schlagen. Das sind nur zwei Beispiele, die deutlich machen, dass wir jugendlichen Studierenden die Möglichkeit geben müssen, Studiengänge zu kombinieren. Wir dürfen Interdisziplinarität nicht nur wortreich im Munde führen, sondern müssen sie auch praktizieren. ({27}) Deshalb werden wir Master-Studiengänge, die auf einem Bachelor-Abschluss aufbauen, künftig auch dann fördern, wenn sie nicht streng fachidentisch sind, sondern eine interdisziplinäre Ergänzung darstellen. Dabei ist es im Übrigen unerheblich, ob der Bachelor-Abschluss im Ausland oder im Inland erworben wurde. Mit dieser Reform der Ausbildungsförderung, die wir heute vorlegen, erreichen wir, dass in Zukunft niemand mehr aus finanziellen Gründen auf ein Studium oder auf einen Auslandsaufenthalt während des Studiums verzichten muss. Ich wünsche mir, meine sehr geehrten Damen und Herren, dass Sie mithelfen, dass aus einem zukunftsweisenden Gesetzentwurf auch ein zukunftsweisendes Gesetz wird. Die Studierenden und die Schülerinnen und Schüler warten darauf. Vielen Dank. ({28})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Angelika Volquartz für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Angelika Volquartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

We shall see - oder wie sagt der Engländer? Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist natürlich aus Sicht der Ministerin durchaus legitim, auf Zügigkeit und Erneuerung hinzuweisen. ({0}) Nur müssen wir den Realitäten ins Auge schauen. Im 13. BAföG-Bericht haben Sie Eckpunkte der Regierung für Ende 1999 angekündigt. Wir haben jetzt, wenn ich das richtig sehe, Ende 2000. ({1}) - Frau Pieper, Sie sagen auch: Das ist richtig. Gut, das muss man einmal feststellen. ({2}) Wir sind natürlich alle daran interessiert, sehr zügig für die Schüler und die Studierenden eine Gefördertenquote von 25 Prozent zu erreichen. ({3}) Das verbesserte BaföG wird im kommenden Jahr auch sicher den Boden dafür bereiten. Aber, Frau Ministerin, man muss doch noch einmal daran erinnern, dass der Grundstein für diesen Gesetzentwurf ganz klar von der Opposition gelegt worden ist, ({4}) und zwar durch unsere Eckpunkte vom November 1999. ({5}) Wesentliche Inhalte dieses Gesetzentwurfes sind in den Eckpunkten von CDU/CSU wiederzufinden - ich will einmal einige Punkte nennen, die Ihnen zu schnellerem Vorgehen verholfen haben -: die Nichtanrechnung des Kindergeldes, eine angemessene Erhöhung der Freibeträge und Bedarfssätze, eine Begrenzung der Darlehenslast und eine stärkere Berücksichtigung der Kindererziehung. Zu diesem Zeitpunkt haben Sie immer noch daran festgehalten, eine generelle Strukturreform durchzuführen. Die CDU/CSU hat Sie ganz klar vor den finanziellen und rechtlichen Folgen gewarnt. Sie sagen heute, wir hätten Zweifel an der Finanzierbarkeit gehabt. Das ist richtig; denn Sie konnten keine durchgreifende Strukturreform finanzieren. Den Schwenk zu dieser Reform, die wir eingeleitet haben, hat der Kanzler bewirken müssen. Das war für Sie natürlich besonders bitter. Ich möchte in dem Zusammenhang Oscar Wilde zitieren: Gute Vorsätze sind nutzlose Versuche, in wissenschaftliche Gesetze einzugreifen. Das sind in diesem Fall nicht die wissenschaftlichen Gesetze, sondern das ist der Finanztopf von Herrn Eichel. Ihr Ursprung ist pure Eitelkeit. Das war der Wahlkampf. Ihr Resultat ist entschieden gleich null. Das war das Ergebnis. - Daraufhin haben Sie sich unseren Eckpunkten angeschlossen. ({6}) Wertvolle Zeit ist verstrichen. Und Zeit ist Geld, und zwar das Geld der Studierenden und der Schülerinnen und Schüler. ({7}) - Die Wahrheit, Herr Kollege. ({8}) Um von dem schleppenden Reformtempo abzulenken, unternehmen Sie, Frau Bulmahn und auch Ihre Kolleginnen und Kollegen von der rot-grünen Koalition, die ganze Zeit den unzulässigen Versuch, die alte Regierung von CDU/CSU und F.D.P. als Sündenbock für die niedrigen Gefördertenquoten hinzustellen. ({9}) Dabei sind Sie selber Sünder, und zwar ein ganz schwerer. ({10}) Denken wir doch daran, dass die SPD-geführten Länder - und da ganz besonders die Finanzminister - zu unserer Regierungszeit diese Verbesserung für die Ausbildungsförderung maßgeblich verhindert haben, weil sie das nicht finanzieren wollten. ({11}) Die damaligen rot-grünen Regierungen der Länder tragen also eine hohe Verantwortung für die Situation der Ausbildungsförderung.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tauss?

Angelika Volquartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Bevor aber Herr Tauss seine Zwischenfrage stellt - diese gestatte ich gerne -, möchte ich in dem Zusammenhang an Herrn Berninger erinnern, der in seiner letzten Rede zugegeben hat, dass die Situation so gewesen ist. Er ist ja immer sehr mutig in seinen Äußerungen und ich kann ihn nur weiter ermutigen, die Wahrheit beim Namen zu nennen und nicht zu versuchen, die Vergangenheit zu verklären. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun kommt Herr Tauss. Bitte sehr, Herr Kollege.

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin, nachdem wir uns gerade über die Gefördertenquote unterhalten haben, möchte ich Sie fragen: Können Sie uns freundlicherweise einmal vortragen, wie die Gefördertenquote zum Beispiel 1991, nach der deutschen Einheit, aussah und wie sie dann zum Ende Ihrer Regierungszeit aussah? Wenn ich mich recht erinnere, ist die Zahl der Geförderten von 442 000 auf 224 000 zurückgegangen. Wollen Sie uns ernsthaft erzählen, dass Sie hierfür während Ihrer Regierung überhaupt keine Verantwortung trugen? Räumen Sie nicht ein, dass es Ihnen vielleicht am politischen Willen fehlte, an diesem sehr bedauerlichen Zustand etwas zu ändern?

Angelika Volquartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich für Ihre Frage, Herr Kollege Tauss, und weise in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hin, dass die Mehrheit der Länder zu jener Zeit rot-grün oder rot regiert war und dass diese Länder - insbesondere ihre Finanzminister - trotz der Wiedervereinigung eine Verbesserung ablehnten. ({0}) - Genau, vor allen Dingen das Saarland. ({1}) Außerdem haben seinerzeit weniger Studierende aus den neuen Ländern einen Antrag gestellt, weil sich die sozialen Verhältnisse geändert und teilweise verbessert haben. Viele sind aus den neuen Ländern in die alten Länder umgezogen, woraus sich auch eine Änderung der Gefördertenquote ergeben hat. - Danke schön, Herr Tauss. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, Sie dürfen sich setzen. Das war die Beantwortung der Frage. ({0})

Angelika Volquartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme nun zum Regierungsentwurf. Frau Bulmahn, der Regierungsentwurf ist in der Tat brauchbar. ({0}) Warum das so ist, habe ich bereits deutlich gemacht: weil wesentliche Eckpunkte unserer Fraktion darin enthalten sind. ({1}) Die Eckpunkte von CDU/CSU sind aber noch weiter gehend. Deshalb erinnere ich heute noch einmal daran, dass bei der Ost-West-Angleichung eine stärkere Ausdehnung erforderlich ist. Wir unterstützen das Vorhaben zwar so, wie Sie es formuliert haben, möchten aber weiter gehende Schritte unternehmen, wie wir es schon im Ausschuss deutlich gemacht haben. ({2}) Besonders erfreulich ist aus unserer Sicht, dass sich im Regierungsentwurf die Begrenzung der Darlehenslast wiederfindet, die auch von uns gefordert war. Uns treibt gemeinsam die Sorge um, dass Schüler und Studierende am Ende eines Studiums zu sehr überschuldet sind, wenn sie auf diese Ausbildungsförderung angewiesen waren. Lassen Sie mich eines klarstellen: Sie weisen auf die Zahlen der Studierenden in anderen Ländern hin. Allerdings sind in diesem Zusammenhang nicht Zahlen allein aussagekräftig, ({3}) da auch die Qualität eine Rolle spielt. Man kann also nicht nur sagen, dass soundso viele Prozent eines Altersjahrgangs ein Studium aufnehmen, sondern man muss dabei auch beachten, ob sie das Studium beenden und ob die Qualität der Ausbildung so ist, dass die jeweiligen Prozentzahlen für Deutschland überhaupt erstrebenswert sind. In einigen Fällen habe ich da starke Zweifel. ({4}) Des Weiteren weise ich darauf hin, dass der Entwurf jetzt auf eine Begrenzung der Darlehenslast hoffen lässt. Die augenblicklich vorgesehene Kappung bei 20 000 DM ist aus unserer Sicht aber ebenfalls noch verbesserungswürdig, da sich für überdurchschnittlich gute Studierende das Problem ergibt, dass Erlassbeträge, die sie durch ein intensives, schnell absolviertes Studium erreichen können, von der Darlehenssumme abgezogen werden, bevor die Kappung greift. Das ist kein Leistungsanreiz, sondern genau das Gegenteil. Darüber sollten wir im Ausschuss sprechen. Warum müssen wir Anreize für Leistungsstarke schaffen? Die deutschen Akademiker sind im internationalen Vergleich viel zu spät im Beruf. Das liegt zum einen an der Schule; nach wie vor stemmen sich die SPD-regierten Länder gegen die flächendeckende Einführung einer 12-jährigen Schulzeit. ({5}) Zum anderen liegt es daran, dass man nicht genug Leistungsanreize während des Studiums schafft. Die beste Voraussetzung, für einen problemlosen Einstieg in das Berufsleben, ist, schnell und qualifiziert studiert zu haben. Lassen Sie uns also auch an dieser Stelle noch einmal nachbessern. Wir sehen auch in weiteren Punkten einiges kritisch, zum Beispiel die neue Studienabschlussförderung. Sie hatte bisher zur Voraussetzung, dass ein Studierender innerhalb der Förderungshöchstdauer zur Abschlussprüfung zugelassen sein musste. Künftig soll eine Prüfungszulassung innerhalb von vier Semestern nach Ende der Förderungshöchstdauer genügen. Eine solche Regelung hat tendenziell eine studienzeitverlängernde Wirkung. Auch darüber müssen wir im Ausschuss reden. Die neuen Regelungen zur Berücksichtigung der Kindererziehungszeiten begrüßen wir ausdrücklich. Ganz im Sinne der Unionsfraktion wird hier ein Zeichen für die Familie gesetzt. Auch die Erhöhung der Freibeträge bei Waisenrenten ist richtig, geht uns aber nicht weit genug. Wir wollen die Freibeträge für Schüler vereinheitlichen und auf 340 DM anheben. Man kann also sagen, dass der Gesetzentwurf im Großen und Ganzen für die Schülerinnen und Schüler sowie für die Studierenden ein Schritt nach vorne ist. Wir sehen aber einen weiteren Diskussions- und Nachbesserungsbedarf im Ausschuss. Im Sinne eines uns ebenfalls nicht unbekannten Menschen, nämlich Aristoteles, der einmal gesagt hat: „Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen“, wollen wir im Ausschuss weiter arbeiten. Herzlichen Dank. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort dem Kollegen Matthias Berninger, Bündnis 90/Die Grünen

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Volquartz, wenn Sie schon Ehrlichkeit anmahnen, sollten Sie in Ihrer Rede ein bisschen Selbstkritik üben. ({0}) Noch einmal: 1991 sind in Deutschland 442 000 Menschen durch BAföG gefördert worden. Nachdem der Kollege Rüttgers mit seiner Partei von den Wählerinnen und Wählern in die Opposition geschickt worden ist, muss er mit der traurigen Bilanz von 224 000 Geförderten leben. Das bedeutet: Sie haben das BAföG in Ihrer Regierungszeit komplett an die Wand gefahren. Bevor Sie der neuen Bundesregierung Vorwürfe machen, sollten Sie sich dafür erst einmal entschuldigen. ({1}) Mit dem Märchen, die gesunkenen Förderzahlen hingen mit einer Besserstellung der Familien in Deutschland zusammen, müssen wir auch aufräumen. Warum, glauben Sie, hat das Bundesverfassungsgericht 1998 in einem Urteil eine finanzielle Besserstellung der Familien verlangt? ({2}) Das haben die bestimmt nicht gemacht, ({3}) weil es den Familien so gut ging. Warum, glauben Sie, haben die Kirchen in einem Armutsbericht übereinstimmend gesagt, Kinder seien mittlerweile ein Armutsrisiko in Deutschland, und warum müssen seit Ihrer Regierungszeit zum Teil schon in der dritten Generation Kinder von der Sozialhilfe leben? ({4}) Das Märchen, dass es den Familien unter der alten Regierung gut gegangen ist, darf man auch vor Weihnachten niemandem erzählen. ({5}) Sie haben völlig Recht: In den Wahlprogrammen der Sozialdemokraten und von Bündnis 90/Die Grünen wird eine Strukturreform des BAföG gefordert. Diese Forderung ist auch in die Koalitionsvereinbarung eingegangen. Wir wollten mehr und ich will auch erklären, warum wir mehr wollten: Es gibt nach wie vor Ungerechtigkeiten, da in Deutschland über das Steuerrecht Familien mit hohen Einkommen zum Teil eine bessere Förderung erhalten als Familien, deren Kinder über BAföG gefördert werden. Das ist eine Sache, die uns in den Koalitionsfraktionen nach wie vor wurmt. Das ist der Grund, warum wir eine andere Reform wollten. ({6}) Wir sind mit diesem Vorhaben aber an einer Reihe von Faktoren gescheitert: Wir sind zum Ersten daran gescheitert, dass diese Reform teurer gewesen wäre, ({7}) zum Zweiten sind wir daran gescheitert, dass insbesondere die Länder - auch die CDU-regierten - gesagt haben, sie wollten keine Änderung des Unterhaltsrechts und sich nicht in Richtung auf ein elternunabhängiges BAföG bewegen. Das haben sie auch in Bundestagsdebatten immer wieder so verkündet. ({8}) Zum Dritten sind wir mit dieser Strukturreform gescheitert, weil es uns nicht gelungen ist, die Ungerechtigkeiten, die im Familienleistungsausgleich stehen, in einer Art und Weise deutlich zu machen, wie ich es befürwortet hätte. Das nehme ich selbstkritisch auf meine Kappe. Ich stehe als Abgeordneter dazu, dass ich mir eine andere BAföG-Strukturreform gewünscht hätte - darum brauchen wir nicht herum zu reden -, bin aber stolz auf das, was hier vorgelegt worden ist. ({9}) Jetzt müssen wir darüber reden, warum ich stolz bin: Erster Punkt. Die Union hat ein äußerst schlechtes Gewissen gehabt. Immer dann, wenn Unionspolitiker SPDLandesminister und vor allem SPD-Landesfinanzminister zitieren und denen die Schuld an irgendetwas geben, dann ist das schlechte Gewissen besonders groß. ({10}) Wenn Sie heute sagen: „Die Darlehensbelastung zu begrenzen ist zwar eine Leistung der Regierung, aber wir wünschen uns eigentlich mehr“, dann möchte ich Sie daran erinnern, dass Herr Rüttgers in seinen letzten Amtstagen genau das Gegenteil gewollt und gemacht hat. ({11}) Der ehemalige Bundesbildungsminister Rüttgers hat das BAföG endgültig zum Ladenhüter gemacht, als er den Studierenden zumuten wollte, dass die BAföG-Darlehen zukünftig nicht mehr zinslos gewährt, sondern banküblich verzinst werden sollten. ({12}) Darüber haben wir schon letzte Woche diskutiert. Ich finde, das muss man auch sagen: Die CDU hat ihre Position grundlegend geändert. ({13}) Es ist ja in Ordnung, wenn Sie den Menschen nicht zu hohe Darlehensbelastungen zumuten wollen. Aber dann sagen Sie bitte, dass Sie, solange Sie Regierungsverantwortung hatten, das Gegenteil wollten. Sie haben gelernt. Dass Sie schneller als wir in der Lage sind, einen Entschließungsantrag vorzulegen, wundert mich nicht. Das konnten wir zu Oppositionszeiten auch schneller. Entscheidend ist aber, dass Sie deutlich machen, welche Position Sie vertreten haben, als Sie die Mehrheit im Hause und die Möglichkeit hatten, etwas zu verändern. ({14}) Die F.D.P. hatte ja auch einmal einen kleinen Anteil an dieser Mehrheit und brüstet sich heute noch damit, dass sie in den späten 80er-Jahren so wahnsinnig viel beim BAföG gemacht habe. Auch von Ihnen verlange ich Redlichkeit und dass Sie deutlich machen, dass auch Sie, als Sie noch in der Regierungsverantwortung waren, keine Strukturreform im Bildungsbereich gegen die Familienpolitiker und gegen die CDU im Bildungsministerium durchsetzen konnten. ({15}) Von Ihnen verlange ich auch die Ehrlichkeit, die Mitverantwortung dafür zu übernehmen, dass das BAföG während Ihrer Regierungszeit vor die Wand gefahren worden ist. Das können und sollten Sie hier nicht verschweigen. ({16}) Der vorliegende Gesetzentwurf ist gut, weil die Darlehensbelastung begrenzt wird. Wir sagen den jungen Menschen damit: Also, Leute, hört zu! Ihr könnt guten Gewissens BAföG in Anspruch nehmen und dadurch vernünftig studieren; auch wenn ihr nach dem Studium nicht so viel verdient, werdet ihr mit den Darlehensbelastungen zurechtkommen. - Aber ich gebe zu: Leute mit einem hohen Einkommen werden durch das Steuerrecht gefördert, ohne von Darlehensrückzahlungen belastet zu sein. Darüber ärgere ich mich nach wie vor. Zweiter Punkt: Kindergeld. Ich finde es vernünftig, dass Kindergelderhöhungen in Zukunft eben nicht mehr BAföG-mindernd wirken. ({17}) Bei der nächsten Diskussion in diesem Hause über die Erhöhung des Kindergeldes wird es um die Frage gehen, ob die Kindergelderhöhung auch bei den Sozialhilfeempfängern ankommen soll oder nicht. Es gibt zwar Leute, die sagen: Man kann Ausnahmen systematisch begründen. Aber ich möchte, dass Kindergelderhöhungen bei allen Familien mit Kindern ankommen. Deswegen gilt das sowohl für das Wohngeld als auch für das BAföG und auch für die Sozialhilfe. Aber wir waren es, die die Gesetze in dieser Legislaturperiode so geändert haben, dass das möglich wurde. Früher war es so, dass die bescheidenen Kindergelderhöhungen, die Sie vorgenommen haben, genau den Transfergeldempfängern vorenthalten worden sind. Wir können also zufrieden sein, dass dies unter der heutigen Bundesregierung nicht mehr geschieht. ({18}) Ich habe mich in der letzten Legislaturperiode im Ausschuss sehr darum bemüht, dass Kindererziehungszeiten angemessen berücksichtigt werden. Darum haben sich auch die Frauen in Ihrer Fraktion sehr bemüht, genauso wie der Bundesrat. Das können Sie in den alten Drucksachen nachlesen. Aber wir sind in der letzten Legislaturperiode mit unseren Bemühungen an Herrn Rüttgers gescheitert. Jetzt ändern wir das. Kindererziehungszeiten werden endlich in angemessener Form berücksichtigt. Auch das ist ein Grund, warum dieser Gesetzentwurf gut ist und warum es sich lohnt, diesen Gesetzentwurf positiv darzustellen. ({19}) Insgesamt werden über 1,4 Milliarden DM zusätzlich für das BAföG mobilisiert. Das hat folgende Auswirkung - die Frau Ministerin hat die Zahlen schon erwähnt; ich erwähne sie noch einmal, damit Sie sich sie hinter Ihre Ohren schreiben können -: Ein Verheirateter mit einem Kind und einem Einkommen von bis zu 3 900 DM im Monat erhält jetzt Vollförderung. Früher lag die Grenze bei 3 000 DM. Wenn man zwei Kinder hat, dann erhält man jetzt eine um 1 000 DM höhere Vollförderung, also 3 900 DM statt 2 900 DM. Wenn man ein Kind hat, das studiert, und - das soll ja vorkommen - ein anderes, das noch zur Schule geht, dann hat man bisher bis zu einem Einkommen von 3 900 DM Vollförderung erhalten. Jetzt erhält man die Vollförderung bis zu einem Einkommen von 5 600 DM. Warum erwähne ich diese Zahlen? Wir haben eine Steuerreform gemacht, mit der die Familien entlastet werden. ({20})) Wir wollen vermeiden, dass den Eltern das Geld, das ihnen aufgrund unseres jetzt vorliegenden Gesetzentwurfes zusätzlich zur Verfügung steht, aus der Tasche gezogen wird, weil sie aufgrund der Einkommensgrenzen aus dem BAföG herausfallen. Deshalb haben wir so mutig erhöht, deshalb haben wir eine so deutliche Steigerung, insbesondere was die Freibeträge angeht, im Gesetzentwurf verankert. ({21}) - Lieber Thomas, stell mir doch eine Zwischenfrage. Dann können wir eine Minute lang über die Ökosteuer reden; ansonsten lassen wir sie jetzt einmal ganz außen vor und reden weiter über die wichtigen Punkte. ({22}) Durch die Kombination aus der Steuerreform und der BAföG-Reform kommt die Entlastung bei den Familien tatsächlich an. Wir nehmen keinen Etikettenschwindel vor, ({23}) wie wir es von der alten Regierung gewohnt sind. Das muss man als sehr positiv hervorheben. ({24}) Wir nehmen zwar eine Strukturreform des BAföG vor, aber keine Strukturreform der Ausbildungsfinanzierung. Dennoch haben sich die Koalitionsfraktionen darauf verständigt, zusätzlich elternunabhängige Bildungskredite anzubieten. Uns sind die jungen Erwachsenen, die Schwierigkeiten haben, von ihren Eltern Unterhaltsleistungen zu bekommen, wichtig. In diesem Punkt hat mich der Bundeskanzler schon ein wenig geärgert - das kann ich hier deutlich sagen -, als er so getan hat, als ob das Geld, das an die Eltern fließt, auch für die Eltern gedacht ist. ({25}) Wir verschaffen den Eltern die staatliche Unterstützung in Form von Steuervergünstigungen natürlich nur deshalb, damit sie ihre Kinder finanziell vernünftig ausstatten. Wir wollen dem Umstand Rechnung tragen, dass die meisten Studierenden junge Erwachsene sind. Diese jungen Erwachsenen haben zukünftig die Möglichkeit, zusätzlich zu den im Steuerrecht verankerten Möglichkeiten, und zusätzlich zum BAföG elternunabhängige Bildungskredite in einer vertretbaren Höhe und mit einer vertretbaren Darlehensbelastung in Anspruch zu nehmen. Das ist wenigstens ein Element, das Elternunabhängigkeit fördert. Mir persönlich ist das sehr wichtig; denn damit wird deutlich, dass wir nicht möchten, dass sich Studierende so verhalten müssen, wie es 13- oder 14-Jährige gegenüber ihren Eltern tun müssen; vielmehr kommt damit zum Ausdruck, dass Studierende junge Erwachsene sind, denen wir, wo immer es geht, Freiheit und Selbstständigkeit einräumen wollen. ({26}) Langer Rede kurzer Sinn: Sie werden diesem BaföGGesetzentwurf zustimmen. Es ist der erste BAföG-Gesetzentwurf seit langer Zeit, dem eine CDU-Opposition mit gutem Gewissen zustimmen kann. In der Vergangenheit konnten Sie das nur mit schlechtem Gewissen tun. Vielen Dank. ({27})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies ist ein schwarzer Tag für die rot-grüne Bundesregierung. ({0}) Sie mussten sich von Ihrem größten Reformvorhaben in der Bildungspolitik in dieser Legislaturperiode verabschieden. ({1}) Sie tragen heute Ihre BAföG-Strukturreform zu Grabe. Das ist die ganze Wahrheit, meine Damen und Herren von der rot-grünen Regierungskoalition. ({2}) Sie kritisieren uns, weil wir als einzige Fraktion im Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf mit einer echten Strukturreform vorgelegt haben. ({3}) Es handelt sich um das so genannte Drei-Körbe-Modell. Sie kritisieren uns dafür, obwohl die SPD-regierten Bundesländer dieses Vorhaben unterstützt haben, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. Es ist besser, die Opposition legt einen Gesetzentwurf vor, als dass die Bundesregierung keinen Gesetzentwurf zur Strukturreform vorlegt. ({4}) Es ist nicht die Aufgabe der Opposition, Gesetzesvorhaben, die solche großen Strukturreformen beinhalten, auf den Weg zu bringen. ({5}) Das ist die Aufgabe der Regierung. Herr Tauss, Ihre Partei ist jetzt in der Regierungsverantwortung. Herr Berninger, ich sage Ihnen gleich etwas zu den Schuldgefühlen. Auch da machen wir gleich einmal reinen Tisch. ({6}) - Ich freue mich, dass Sie das, was ich hier erzähle, so aufregt. Das zeigt doch, dass ich voll ins Schwarze treffe. ({7}) Die Gefördertenzahlen aus dem Jahre 1991, die Sie genannt haben, gehen - das sage ich ganz bewusst - auf Zeiten zurück, in denen es in dieser Republik einmal einen von der F.D.P. gestellten Bundesbildungsminister namens Möllemann gegeben hat. ({8}) Herr Berninger, ich sage aber auch ganz ehrlich: Es ist in der Tat so, dass die F.D.P. in der alten Koalition nicht alles hätte mitmachen sollen, was der Bundesbildungsminister Rüttgers in dieser Sache gewollt hat. Bloß, das entlässt Sie doch heute nicht aus Ihrer Regierungsverantwortung. ({9}) Wir haben die große Chance, im Parlament eine Strukturreform gemeinsam auf den Weg zu bringen. Frau Ministerin, Sie haben die Abgeordneten dieses Hauses gehört. Im Bildungsausschuss hat eine große Anhörung stattgefunden. Alle Experten - Steuerexperten, Verfassungsrechtler, die Verbände - haben uns empfohlen, folgenden Weg zu gehen: eine elternunabhängige Förderung in Form eines Ausbildungsgeldes zu schaffen und dazu eine elternabhängige Ausbildungshilfe zu zahlen. Diese Experten sind auf der Seite der Mehrheit in diesem Lande, sie befinden sich auf der Seite der jungen Generation in diesem Lande. Ich habe das Gefühl, dass es auch in Ihren eigenen Reihen sehr viele Stimmen für die Strukturreformen in der Bundesausbildungsförderung gibt. Sie nehmen es nicht in Angriff, weil Sie nicht das Rückgrat und das Durchsetzungsvermögen im Kabinett haben. ({10}) Meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, das müssen Sie sich leider anhören. Wir hätten diese Strukturreform gemeinsam machen können. Ich kann Sie nur dazu auffordern, bei den Beratungen im Ausschuss jetzt auch endlich zu handeln, ({11}) eine elternunabhängige Förderung, ein Ausbildungsgeld für jeden Auszubildenden in Höhe von 500 DM zu ermöglichen, so wie wir es vorgeschlagen haben, und für besonders Einkommensschwache eben auch noch den Zuschuss bzw. das Darlehen zu ermöglichen. Sie haben ein so genanntes Ausbildungsförderungsreformgesetz vorgelegt; nur hält der Name nicht, was er verspricht. Das ist kein Reformgesetz, das ist eine 21. Novelle des Bundesausbildungsförderungsgesetzes. Sie setzen eigentlich die Politik fort, die Sie immer kritisiert haben, so genannte Reparaturnovellen, Frau Ministerin. ({12}) Und wenn Sie mir und der F.D.P. nicht glauben, vielleicht glauben Sie den Verbänden, vielleicht glauben Sie der Hochschulrektorenkonferenz. ({13}) Deren Präsident, Herr Landfried, hat darauf hingewiesen, dass Sie trotz dieser Trippelschritte und der kleinen Verbesserungen, die Sie ja in der Tat mit dieser Novelle vornehmen, ({14}) nichts daran ändern, dass der im Durchschnitt von derzeit 640 Mark auf 730 Mark monatlich angehobene Fördersatz viel zu wenige Studierende erreichen wird. ({15}) Frau Volquartz hat es ja gesagt, 25 Prozent wird die Quote der Anspruchsberechtigten betragen. Viele Studenten stellen wegen der marginalen Förderung und des bürokratischen Antragsverfahrens überhaupt keinen Antrag auf BAföG. Das darf an dieser Stelle auch noch einmal gesagt werden. ({16}) Wenn Sie uns als F.D.P. nicht glauben, dann lesen Sie doch einmal das „Handelsblatt“. Da hat sich ja Herr Berninger, wenn ich das sagen darf, auch einmal kompetent dazu geäußert. Er hat nämlich auch gefordert, dass das BAföG alter Prägung gar nicht mehr den Bedürfnissen der Studierenden entspricht und dass wir da eine Änderung brauchen. Das „Handelsblatt“ hat auch noch einmal aufgezeigt, dass der Haushaltsansatz von 2000 für das BAföG nicht voll in Anspruch genommen werden konnte. Es sind wohl lediglich 93 Prozent der Studierenden, die BAföG abrufen. Mit anderen Worten, es kann nicht voll ausgeschöpft werden. Die Frau Ministerin hatte sich bei der letzten Novelle vorgenommen, 23 000 Studierende mehr zu fördern. Das ist nicht aufgegangen. Das Ziel ist verfehlt. Deswegen sagen wir, wir brauchen dringend eine BAföG-Strukturreform. Wir brauchen keine Flickschusterei mehr. Ich glaube, das hilft in diesem Lande keinem mehr. Vor allen Dingen machen Sie sich mit diesem Gesetzentwurf nicht zum Anwalt der jungen Generation in diesem Land. Das muss auch noch einmal gesagt werden. ({17}) Bildung ist die soziale Frage des 21. Jahrhunderts. Darüber sind wir uns einig. Sie haben, Frau Ministerin, zu Recht in Ihrer Rede darauf hingewiesen, dass durch eine qualitätsorientierte Bildung und Ausbildung auch jungen Menschen später mehr oder neue Lebenschancen gegeben werden, Chancen auch für ein höheres Einkommen, auch dafür, dass sie sich mehr Wohlstand erarbeiten können. Es ist so eine Art Hilfe zur Selbsthilfe, wenn wir in Bildung und Ausbildung investieren. Das ist doch gar keine Frage. Bloß, warum bringen wir die Bildungsreform nicht auf den Weg? ({18}) Wir müssen jetzt handeln. Man kann natürlich, meine Damen und Herren von der PDS, die soziale Frage auch missverstehen, Bildung als soziale Frage. Das geht natürlich bei der Finanzierung nicht endlos. Studiengebührenfreiheit für alle bringt, denke ich, die Hochschulen in diesem Lande in eine bestimmte Sackgasse. Wir wollen nicht, dass die, die lange studieren, belohnt werden, sondern wir wollen, dass die Fleißigen belohnt werden, die in der Regelstudienzeit fertig werden. ({19}) Deswegen lehnen wir natürlich Ihren Antrag ab. Da wir neue Finanzierungsmöglichkeiten für die Hochschulen brauchen, haben wir unser Bildungsscheckmodell vorgeschlagen. ({20}) Übrigens, der sächsische Wissenschaftsminister hat hier nachgezogen und gesagt, das wäre ein richtiger Weg für die Hochschulfinanzierung. Wir brauchen mehr Autonomie, wir brauchen mehr Wettbewerb zwischen den Hochschulen. Mit den Bildungsschecks wird von unserer Seite garantiert, dass die Studierenden zukünftig ihr Studium bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss gebührenfrei machen können. Mit dem Bildungsscheck wollen wir ein Bürgerrecht auf Bildung verankern.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Pieper, bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bedanke mich für den Hinweis, Frau Präsidentin, und komme zum Schluss. Wir haben eine große Chance, gemeinsam eine Strukturreform für die Bundesausbildungsförderung auf den Weg zu bringen. Die Regierung ist gefordert, zu handeln. Sie handelt aber nicht. Deswegen werden wir sie weiterhin dazu treiben - zumindest in den Ausschussberatungen -, unserem Gesetzentwurf doch noch zuzustimmen. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Maritta Böttcher für die PDS-Fraktion.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im kommenden Jahr wird das Bundesausbildungsförderungsgesetz von 1971 30 Jahre alt. Diese 30 Jahre waren keine Erfolgsgeschichte. ({0}) Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, tragen Sie die Hauptschuld. 1972 wurde noch fast jeder zweite Student nach dem BAföG gefördert. Heute erreicht das BAföG nur noch jeden achten Studenten. Auch die staatlichen Investitionen in die Ausbildungsförderung wurden drastisch reduziert. Der heute vorliegende BAföG-Gesetzentwurf der Bundesregierung - das will ich ausdrücklich sagen - kehrt den bisherigen Trend des planmäßigen Bildungs- und Sozialabbaus um. Das ist gut. ({1}) Ich will aber auch sagen, dass damit die Notwendigkeit einer strukturellen Erneuerung der Ausbildungsförderung bestehen bleibt. Wir bleiben bei unserer Forderung nach Elternunabhängigkeit, damit die Studierenden endlich als Erwachsene und nicht länger als Kinder ihrer Eltern behandelt werden. ({2}) Die Bundesregierung vermerkt in ihrem Gesetzentwurf unter dem Abschnitt „C. Alternativen“: Keine. - Das ist ein hohes Maß an Selbstverleugnung und Ignoranz gegenüber ihren eigenen Wahlprogrammen und gegenüber ihrem Koalitionsvertrag. In diesen Dokumenten steht nämlich, dass Reformen machbar seien. ({3}) Ich habe Ihnen wiederholt vorgerechnet, wie wir mit der Überführung der ausbildungsbedingten Zahlungen im Rahmen des Familienlastenausgleichs in das BAföG zu einer wirklichen qualitativen Verbesserung der Ausbildungsförderung kommen könnten. Viele Studentinnen und Studenten, Schülerinnen und Schüler sind enttäuscht; denn sie erwarteten, dass eine rot-grüne Regierung ihre Wahlversprechen ernst nimmt und auch Alternativen umsetzt. ({4}) Sie haben heute auch über unseren Gesetzentwurf zur Sicherung der Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums abzustimmen. Dass Sie als Ministerin, Frau Bulmahn, dazu kein Wort verlieren, liegt sicher daran, dass sich die Bundesregierung strikt an die Devise „versprochen und Wort gebrochen“ hält. ({5}) Es ist absurd: Wir diskutieren heute darüber, den durchschnittlichen monatlichen BAföG-Förderungssatz für Studierende um knapp 90 DM anzuheben. Gleichzeitig sehen Sie tatenlos zu, wie einige Länder durch die schrittweise Einführung von Studiengebühren den Studentinnen und Studenten das Geld gleich wieder aus der Tasche ziehen. ({6}) Die PDS wird Ihnen bei Ihrem tatenlosen Zusehen nicht tatenlos zusehen. ({7}) Bei der heutigen Debatte über unseren Gesetzentwurf zur Sicherung der Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums steht eine Menge auf dem Spiel, an erster Stelle die Glaubwürdigkeit der Politik. 1998 hat die SPD die Novellierung des Hochschulrahmengesetzes blockiert, übrigens wegen des fehlenden Studiengebührenverbots. Die Forderung nach einem gesetzlichen Studiengebührenverbot ist ebenso wie eine BAföG-Strukturreform in der Koalitionsvereinbarung von SPD und Grünen verankert. ({8}) In Sachen Studiengebührenfreiheit legen Sie aber seit über zwei Jahren die Hände in den Schoß. Dennoch tun Sie fortwährend so, als stünden Sie unmittelbar vor einem Durchbruch. Zunächst haben Sie sich mit der Vorbereitung der Umsetzung Ihres Wahlversprechens so lange Zeit genommen, bis sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat endlich zuungunsten von Rot-Grün verschoben haben. ({9}) Von nun an konnten Sie immer darauf verweisen, dass Ihnen aufgrund des im Bundesrat zu erwartenden Widerstandes leider die Hände gebunden seien. Dass aber die Hochschulrahmengesetznovelle 1998 ohne Gebührenverbot trotz fehlender Zustimmung des Bundesrats in Kraft getreten ist, haben Sie schnell aus Ihrem Gedächtnis gestrichen. Doch damit nicht genug. Seit 1999 betonen Sie, dass eine Verankerung der Gebührenfreiheit im Hochschulrahmengesetz gar nicht erforderlich sei, sofern die Länder einen entsprechenden Staatsvertrag aushandelten. Als die Ministerpräsidenten der Länder im Juni 2000 einen Gebührenstaatsvertrag definitiv ablehnten, wäre nach Ihrer Logik eigentlich der Bundesgesetzgeber gefordert gewesen. Doch nun gaben Sie die Losung aus, man wolle den Ländern die Chance zu einem zweiten Anlauf geben. Doch auch dieser ist im Oktober - auf Druck der unionsgeführten Länder Baden-Württemberg und Bayern gescheitert. Ich frage Sie daher: Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt für ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers gekommen? ({10}) In dem von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 wird anerkannt, dass der Hochschulunterricht auf jede geeignete Weise, insbesondere durch allmähliche Einführung der Unentgeltlichkeit, jedermann gleichermaßen entsprechend seinen Fähigkeiten zugänglich gemacht werden muss; … Leider passiert heute exakt das Gegenteil. Wir haben es mit einer allmählichen Einführung der Entgeltlichkeit des Hochschulunterrichts in einzelnen Bundesländern zu tun. Das ist ein Anschlag auf die soziale Gerechtigkeit in unserem Lande. ({11}) Es geht um die sozialstaatliche Ausrichtung unserer Bildungspolitik, deren Grundstein vor 30 Jahren die erste sozialdemokratisch geführte Bundesregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt gelegt hat, und zwar mit der Einführung des BAföG im Jahre 1972 und der Abschaffung der Studiengebühren und Hörergelder an bundesdeutschen Hochschulen im Jahre 1970. ({12}) Denken Sie an dieses Vermächtnis, wenn Sie über unseren Gesetzentwurf heute hier abzustimmen haben. Danke. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Ernst Dieter Rossmann für die SPD-Fraktion.

Dr. Ernst Dieter Rossmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003211, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Das ist ein großer Sprung nach vorn!“ ({0}) So hat Professor Rinkens, der Präsident des Deutschen Studentenwerkes, den Gesetzentwurf kommentiert, den unsere Ministerin hier einbringen konnte. Frau Ministerin, wir sagen ehrlichen Herzens: Wir haben - eigentlich alle - Grund zur Freude, dass diese wegweisende BAföGReform heute hier eingebracht werden kann. ({1}) Wir freuen uns auch darüber, dass nicht nur alle Bundesländer, sondern offensichtlich auch breite Kreise dieses Parlaments diese Freude teilen. Mal im Ernst: Wo wären wir eigentlich, wenn wir uns - der Kollege Berninger hat in Bezug auf CDU/CSU und F.D.P. das gesagt, was man dazu sagen muss - nicht massiv darüber freuen könnten, dass in Zeiten der Haushaltskonsolidierung 1,3 Milliarden DM zusätzlich mobilisiert werden, wenn es um die Verbreiterung der Bildungschancen geht! ({2}) Wo gibt es das überhaupt, wenn nicht im Bereich Bildung und Forschung, dass so viel Geld zusätzlich mobilisiert werden kann? Das kann uns gemeinsam freuen. ({3}) Wir sollten auch gemeinsam darangehen, die Zielzahl von 80 000 jungen Menschen, die zusätzlich gefördert werden sollen, zu erreichen. Denn dafür müssen wir werben, dass eine Zahl junger Menschen, die größer ist als die aller Studenten in Rheinland-Pfalz - machen Sie sich das einmal klar -, zusätzlich in die Förderung aufgenommen wird. ({4}) - Wenn Ihnen Rheinland-Pfalz zu klein ist, nehmen Sie knapp Hamburg und Schleswig-Holstein zusammen. Das muss beworben werden! Das ist eine gemeinsame Aufgabe für uns, bei der wir uns nicht auseinander dividieren lassen sollten. Denn wir haben doch offensichtlich gemeinsame Ziele: Wir wollen mehr Studierende aus einkommensschwächeren Familien. ({5}) Wir wollen, dass Studierende aus allen Einkommensschichten ihr Studium zügig beenden können. Wir wollen vor allen Dingen insgesamt mehr Studenten. Mit dieser BAföG-Reform schaffen wir eine neue Dynamik. ({6}) An dieser Stelle eine kleine Zwischenbemerkung. Es war wohl - ohne jetzt Schuldzuweisungen vornehmen zu wollen - eine bildungspolitische Großsünde, dass häufig die Zahl der Studenten und die Zahl der Lehrlinge und Auszubildenden gegeneinander ausgespielt worden sind. ({7}) Wir haben 1,7 Millionen Studenten und wir brauchen mehr. Wir haben 1,8 Millionen Auszubildende und 400 000 in Berufsfachschulen und wir brauchen mehr. Wir haben aber eben auch jedes Jahr 80 000 junge Leute ohne Hauptschulabschluss und über 1 Million Menschen zwischen 20 und 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung. Da brauchen wir weniger! ({8}) Darum geht es. Es geht nicht darum, die einen gegen die anderen auszuspielen. Deshalb dieser ständige Kampf um mehr Lehrstellen, deshalb das 2-Milliarden-DM-JUMPProgramm und deshalb im Rahmen dieser BAföG-Reform eine nachhaltige Verbesserung der Berufsausbildungsbeihilfe. ({9}) Sie wurde bisher von niemandem zur Kenntnis genommen, ist aber genauso wichtig. 200 Millionen DM werden für höhere Bedarfssätze, höhere Einkommensfreibeträge und den Verzicht auf die Anrechnung des Kindergeldes in diesem Bereich mobilisiert. Das Gegeneinanderausspielen von Hochschulbildung und beruflicher Ausbildung führt in der Wissensgesellschaft nicht weiter. ({10}) Wir haben die Berufsausbildungsbeihilfe ganz bewusst in dieses Gesetz hineingenommen. Wir glauben deshalb, dass die Ausbildungsförderungsreform, die wir hier vornehmen, deshalb zu Recht so bezeichnet werden kann. Eine zweite Bemerkung - ich finde, sie gehört in den parlamentarischen Dialog mit hinein -: Wenn wir mehr Studenten brauchen, dann brauchen wir sie gerade auch aus einkommenschwachen Schichten. Für sie sind Studiengebühren Gift, wenn man sie für das erste Studium erhebt. ({11}) Deshalb lehnen wir Studiengebühren ab. ({12}) Aber wir müssen der PDS sagen: Nach Ihrem Antrag wollen Sie überhaupt keine Studiengebühren, auch nicht für ein Zweitstudium und auch nicht für eine Fortbildung. Deshalb kann es zu diesem Antrag keine Zustimmung geben. Zurück zum BAföG! Das Besondere dieser Strukturreform ist, dass sich darin Quantität und Qualität verbinden. Eine Qualität ist - ich will unterstreichen, was die Ministerin gesagt hat -: Das neue BAföG wird zu einem echten Staatsstipendium. Sie können es an den Zahlen sehen: 730 DM im Durchschnitt, 20 000 DM Darlehenshöhe als Maximum, 1 105 DM Maximalförderung und Kindergeld obendrauf - das ist etwas, wofür wir werben und Stimmung machen können. Ich möchte Sie an dieser Stelle noch einmal zum Mitmachen anhalten und dafür werben, weil uns eines doch nicht ruhig lassen kann. Es gibt Statistiken, nach denen von 100 Kindern aus finanziell stärkeren Familien 72 studieren; von 100 Kindern aus sozial schwächeren Familien tun dies 8; 32 Prozent der Kinder aus diesen Familien erreichen immerhin die gymnasiale Oberstufe. Haben wir da nicht eine Aufgabe, bei diesen Kindern mit dafür zu werben, dass sie auch den Schritt ins Studium tun und ihre Bildungsreserve mit einbringen? ({13}) Das können wir zusammen tun und sollten es hier nicht zerreden. ({14}) Bei den Studenten setzen wir darauf, dass sie ihre Studien konzentrierter durchführen können und dass sie, wenn sie denn arbeiten und jobben, dies um der Erfahrungen und der Berufsperspektiven willen tun, nicht aber wegen der blanken Not. ({15}) An dieser Stelle werben wir dafür, aber wir sagen auch: Die letzten zehn Jahre waren für viele Studenten eher auch durch soziale Not gekennzeichnet. Diese zehn Jahre holen wir jetzt in einem Schritt mit einer wirklichen BAföG-Strukturreform auf. ({16}) Eine zweite Qualität dieser Reform ist: Sie ist familienund frauenfreundlich. Bei diesem Punkt gibt es große Übereinstimmung. Aber man darf vielleicht noch einmal auf eine Grundmelodie rot-grünen Regierungshandelns hinweisen. Ob Kindergeldreform, ob Erziehungsgeldreform, ob Teilzeitgesetz, ob Wohngeldreform, ob BAföG, ({17}) ob demnächst Meister-BAföG ({18}) überall gibt es Familien-, Frauen- und Kinderförderung. Das ist gut, denn dies ist eine durchgängige Melodie neuen Regierungshandelns. Auch dies lassen Sie uns gemeinsam in die Hochschulen, an die betreffenden Menschen herantransportieren. Die dritte besondere Qualität dieser Reform ist die massive Förderung von Internationalität. Sie belebt Hochschulen und hebt das Niveau. ({19}) Damit werden Verantwortungsträger in Zukunft auf internationale Belange, auf europäische Einigung, auch auf Mitverantwortung in der einen Welt ausgerichtet. ({20}) Wir finden vielleicht auch einen historischen Anschluss daran, dass Hochschulen in Europa - zumal in Zeiten der Aufklärung - immer Orte von interdisziplinärem Austausch waren, von interkulturellem Austausch und von Internationalität. Das mag jetzt Pathos sein; vielleicht hören Sie dann lieber bei ein paar nüchternen Zahlen zur Information zu. 1998 hatten wir rund 160 000 ausländische Studenten an unseren Hochschulen; das waren rund 10 Prozent. 1998 studierten 45 000 deutsche Studenten im Ausland - das sind knapp 3 Prozent -, davon 25 000 in EU-Ländern, davon 14 700 mit einem ERASMUS-Programm. Wenn Sie das ein bisschen nachvollzogen haben, können Sie daraus ersehen, wie wenig BAföG bisher zum Auslandsstudium beigetragen hat und beitragen konnte. Diese Schwäche lösen wir jetzt auf, und ich denke, darin besteht große Übereinstimmung. ({21}) Dabei ist das Interesse bei den jungen Leuten durchaus vorhanden gewesen, denn immerhin haben 27 Prozent aller Studenten Praktika oder Sprachkurse im Ausland belegt. Nur haben sie eben lediglich „geschnuppert“ und nicht studiert. Deswegen wollen wir das ändern. Das deutsche „ERASMUS-Programm“ heißt für die Zukunft BAföG. Auch das können wir gemeinsam vorantragen. Wir nehmen da eine Vorreiterrolle ein. Wir setzen jetzt schon um, was uns die europäischen Bildungsminister im November mit den 42 Punkten ihres Mobilitätsprogramms aufgegeben haben. Um es noch einmal pathetisch zu sagen: Mit dieser BAföG-Reform steht auch in Deutschland der Europastudent vor der Tür. Und das ist gut. Ich komme zu einer abschließenden Bewertung und knüpfe noch einmal an Professor Rinkens an, den ich eingangs zitiert habe. Professor Rinkens hat in seinem Jahresbericht 1999 für das Studentenwerk gefragt: Wonach klingt BAföG eigentlich in den Ohren deutscher Studenten? Nach Bürokratismus und Antragsformularen, nach Sozial- oder Nothilfe? Oder klingt es nach etwas Bedeutungsvollem, das sinnvoll die Studienfinanzierung regelt? ({22}) Es liegt jetzt auch an uns, BAföG gemeinsam wieder einen guten Klang zu geben. Es liegt an uns Bildungspolitikern und an allen Verantwortlichen in Deutschland. Es geht nicht darum, einen lächerlichen kleinen Streit über verpasste Chancen und zukünftige Chancen immer wieder durchzuexerzieren. Machen wir etwas daraus! ({23}) Es liegt jetzt an uns, dafür zu werben, dass die Hauptkritikpunkte der Vergangenheit zum BAföG, von Studentinnen und Studenten immer wieder geäußert, ausgeräumt werden und dass sich da ein Bewusstseinswandel vollzieht. Es hieß in der Vergangenheit immer wieder, das BAföG sei zu gering, zu umständlich und nicht verlässlich. Das waren die Hauptkritikpunkte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Reformgesetz haben wir die Chance, einen Zeitenwechsel einzuleiten und dafür zu sorgen, dass zukünftige Novellierungen immer nur zwei Größen enthalten - Anhebung der Bedarfssätze und Anhebung der Freibeträge - und es nicht Tausend Rand- und Nebenbedingungen gibt, die in der Vergangenheit alle Studentinnen und Studenten immer wieder verunsichert haben. Wir haben die Chance auf einen Zeitenwechsel. Denn dies ist ein Sozialgesetz für mehr Chancengleichheit. Es stellt soziale Gerechtigkeit wieder her, die in den letzten 16 Jahren massiv gelitten hat. Es ist ein Bildungsgesetz und öffnet Perspektiven für eine europäische Bildungsgesellschaft in den nächsten 20 Jahren, die wir jetzt in unser aller Interesse gemeinsam angehen sollten. Frau Ministerin, liebe Edelgard Bulmahn, ({24}) Sie können tatsächlich stolz darauf sein, dass dieser Zeitenwechsel in der Ausbildungsförderung mit Ihrem Namen verbunden sein wird. Danke schön. ({25})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thomas Rachel für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute über zwei bildungspolitische Gesetzentwürfe. Zum einen geht es um BAföG, zum anderen um den Antrag der PDS, ein Studiengebührenverbot im Hochschulrahmengesetz festzuschreiben. Wir werden den Antrag der PDS ablehnen; denn das Grundgesetz räumt die Zuständigkeit für die Finanzierung der Hochschulen primär den Ländern ein. Der Bundesgesetzgeber hat nicht das Recht, den Ländern hier per Gesetz Vorschriften zu machen. ({0}) Da die PDS in ihrem Gesetzentwurf auch die CDU beschimpft, möchte ich in aller Klarheit sagen: Die Arbeitsgruppe „Bildung und Forschung“ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat durch ihren Beschluss einer Ablehnung von Studiengebühren in der Regelstudienzeit maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der CDU-Parteitag nicht für die Einführung von Studiengebühren ausgesprochen hat. ({1}) Sehr geehrte Damen und Herren, in Ihrem Koalitionsvertrag von 1998 haben Sie zugesagt: Für eine grundlegende Reform ... der Ausbildungsförderung werden wir - dem Bundestag ein ... Konzept bis Ende 1999 vorlegen. Das Versprechen des Koalitionsvertrages wurde nicht eingehalten. Wir haben in der Zwischenzeit Dezember 2000. Die BAföG-Reform ist immer noch nicht in Kraft getreten. Hier wird Politik auf dem Rücken der Studierenden gemacht. ({2}) Mit der inzwischen in Kraft getretenen kleinen 20. BAföG-Novelle mit leicht erhöhten Höchstsätzen und Elternfreibeträgen hatte Bildungsministerin Bulmahn ausdrücklich eine Trendwende angekündigt. ({3}) Diese ist allerdings nicht zu beobachten. Nach dem von Rot-Grün erklärten Ziel hätte die Zahl der BAföG-Empfänger in diesem Jahr um rund 23 000 steigen sollen. Aber Sie haben das Etappenziel verfehlt. ({4}) Einem Papier Ihres Ministeriums entnehmen wir, dass BAföG-Mittel in einer Größenordnung von 10 Prozent bis Ende des Jahres nicht abfließen. Selbst die Grünen erklären im „Handelsblatt“ vom 30. November, dass eine erhebliche Ausweitung der Anzahl der Geförderten nicht erreicht werden konnte. Deutlicher könnte die Kritik Ihres Koalitionspartners an Ihrer wirkungslosen Politik nicht sein. ({5}) Die große BAföG-Reform hätte schon längst im Frühjahr 2000 verabschiedet werden können. Wir haben im November 1999 die wesentlichen Eckpunkte eingebracht. Mit jedem Monat, in dem die beabsichtigte große BAföGReform nicht in Kraft tritt, spart die Bundesregierung Geld. Frau Ministerin Bulmahn, Sie haben zu viel Zeit verloren, weil Sie zu lange an einem falschen BAföGSockelmodell festgehalten haben. Herr Eichel freut sich darüber; denn jetzt wird durch Verzögern Geld gespart. Das neue bildungspolitische Motto der Bundesregierung heißt: Sparen durch Verzögern. Genau dies lehnen wir ab. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, bevor Sie zum nächsten Punkt kommen, möchte ich Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Berninger gestatten.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Rachel, wenn man Zahlen nennt, ist das ja noch keine Kritik. Aber da wir schon bei Zahlen sind, möchte ich Sie bitten, dem Hohen Haus zu sagen, wie der Bildungsetat in der Verantwortungszeit von Herrn Rüttgers gestiegen ist und wie sich das Sparen unter der Verantwortung von Frau Bulmahn ausgewirkt hat. Vielleicht können Sie hier einmal die entsprechenden Zahlen referieren. ({0})

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Diese Nachhilfe müssen Sie sich schon bei Ihrer eigenen Koalition holen. Ich will sehr wohl einräumen - ich werde ja gleich noch zu einer Gesamtbewertung der BAföG-Reform kommen -, dass wir an einer Verbesserung des BAföGs interessiert sind. Dass wir dies in den letzten vier Jahren unserer Regierung nicht erreicht haben, lag in der gemeinsamen Verantwortung der von CDU, CSU und SPD geführten Länder - darunter waren übrigens auch von Rot-Grün geführte Koalitionen -, ({0}) weil die Finanzminister aller Bundesländer, quer durch alle Parteien, Kostenneutralität vereinbart hatten. ({1}) - Herr Berninger, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie stehen bleiben würden. ({2}) - Herr Berninger, das ist eine Frage des Stils. Wenn Sie eine Frage stellen, sollten Sie auch auf die Antwort Wert legen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Berninger, ich möchte Sie bitten, so lange stehen zu bleiben, bis der Kollege seine Antwort gegeben hat. - Danke.

Thomas Rachel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002754, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dass sich in der vergangenen Legislaturperiode die Landesminister aller Parteischattierungen - auch die Ihres Koalitionspartners auf Kostenneutralität festgelegt hatten, ({0}) haben übrigens alle Politiker im Bildungsausschuss des Bundestages bedauert. Wir alle waren für eine andere Lösung. Insofern sollten wir die Ehrlichkeit besitzen, deutlich zu machen, dass dies damals die gemeinsame Position der jeweiligen Finanzminister war. Nun wollen wir dies ändern. ({1}) Jetzt kommt also die große Reform mit dem wohlklingenden Titel „Ausbildungsförderungsreformgesetz“. Das klingt, als würde ein neues System installiert. Das Gegenteil ist der Fall: Es handelt sich um eine Reform innerhalb des bestehenden BAföG-Systems. Bei dieser Bezeichnung des Gesetzes handelt sich also um die übliche Mogelpackung von Rot-Grün. ({2}) Wir begrüßen es aber, dass die Bundesregierung im Wesentlichen den BAföG-Vorschlägen der Union vom November 1999 gefolgt ist. ({3}) Der vorgeschlagene Grundpfeiler der Reform ist die Änderung beim Kindergeld, das im Rahmen der Prüfung der Bedürftigkeit von BAföG nicht mehr angerechnet wird. Das ist sinnvoll. Das ist ein Vorschlag von uns. Wir begrüßen es, dass Sie ihn aufnehmen, und unterstützen das. Denn dadurch beseitigen wir die absurde Situation, dass jede Kindergelderhöhung gleichzeitig den Kreis der BAföG-Berechtigten verkleinert. ({4}) Auch die Verlängerung der Förderungshöchstdauer wegen Kindererziehung geht auf den Antrag von CDU/CSU zurück. Die von Ihnen vorgeschlagene Angleichung des BAföGs zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland und die verbesserte Förderung bei einem Studium in den EU-Ländern finden wir richtig und tragen wir gerne mit. ({5}) Frau Ministerin Bulmahn, in Ihrem Eckpunktepapier zur BAföG-Reform fehlte jede Sozialkomponente. Genau diese Sozialkomponente, mit der Kinder armer Familien entlastet werden sollen, enthält der BAföG-Reformvorschlag der Union vom November 1999. Wir wollen den über 800 DM pro Monat hinausgehenden Anteil des BAföGs voll als Zuschuss gewähren. Damit wird die Darlehenssumme, die später zurückgezahlt werden muss, gesenkt. Frau Bulmahn, wir begrüßen es, dass Sie jetzt auf unseren Grundgedanken eingeschwenkt sind, nämlich darauf, die Darlehenssumme zu beschränken. Allerdings halten wir unseren Vorschlag, ab 800 DM BAföG einen Vollzuschuss zu gewähren, für besser, als die Darlehenssumme auf 20 000 DM zu begrenzen. Für Durchschnittsstudenten sind die Wirkungen beider Regelungen relativ gleich. Unser Vorschlag ist aber deshalb besser, weil er zusätzlich für das Drittel der besten Absolventen den heute möglichen Nachlass bei der Zurückzahlung des BAföGs voll beibehält. Wird Ihr Vorschlag umgesetzt, haben im Falle der Höchstförderung die 30 Prozent besten BAföG-Absolventen eine Darlehensschuld von 20 000 DM. Würde das Modell der Union umgesetzt, dann hätten sie nur eine Darlehensschuld von 14 000 DM. Die Politik der Union fördert also diejenigen stärker, die sich besonders anstrengen, und sie ist zudem sozial gerechter. ({6}) Im Grunde genommen hat Ihr Vorschlag der Kappung einen ganz anderen Hintergrund: Ihnen geht es nicht um das Wohl der Studenten. Er dient vielmehr der Entlastung der Haushalte von Bund und Ländern. Während bei unserem Modell Bund und Länder bereits im nächsten Jahr im Rahmen des Vollzuschusses ab 800 DM deutlich mehr Geld ausgeben müssten, verschieben Sie die finanziellen Belastungen des Bundes auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, und das auch nur in Höhe einer Ausfallbürgschaft für die Deutsche Ausgleichsbank. Geld sparen für den Bund und verschieben in die Zukunft - das ist das Motto Ihrer Bildungspolitik und das ist eine Mogelpackung. ({7}) Der von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf enthält eine Reihe weiterer Mängel. Erstens. Ihre Neuregelung der Studienabschlussförderung hat uns nicht überzeugt. Wir unterstützen Bayern und das Deutsche Studentenwerk in der Forderung, die bisherige Studienabschlussförderung wieder als Teil der normalen BAföG-Förderung mit 50 Prozent Zuschuss und 50 Prozent zinslosem Darlehen zu gewähren, wenn die Examensphase direkt an die Regelstudienzeit anschließt. Zweitens. Wir sollten gemeinsam über die Einführung einer Stichtagsregelung bei der Bemessung von Freibeträgen, die die Eltern für ihre Kinder geltend machen können, nachdenken. Nur durch eine Stichtagsregelung bleibt die BAföG-Förderung ein Jahr lang konstant. Dadurch würde die Akzeptanz des BAföG gestärkt. Drittens. Die CDU/CSU-Fraktion spricht sich dafür aus, dass nicht nur das Auslandsstudium in der EU, sondern auch in der Schweiz mit Inlandssätzen gefördert wird. ({8}) In der Tat ist es nicht einzusehen, dass die Studenten aus den südlichen Bundesländern ihre hervorragende Hochschulausbildung in der Schweiz nicht genauso mit BAföG gefördert bekommen wie innerhalb der gesamten Europäischen Union. ({9}) - Achten Sie einmal darauf, was Ihr Gesetz für Nachteile hat. Viertens. Bei der Regelung der BAföG-Elternfreibeträge führt allein der Schultypwechsel der Schwester oder des Bruders eines BAföG-Geförderten zu einer Verringerung des Förderbetrages. Wenn zum Beispiel die Schwester von der Realschule auf die Berufsfachschule wechselt, verringert sich nach dem rot-grünen Gesetzentwurf die Höhe des BAföG für den Studenten. Das ist zutiefst ungerecht und stößt auf die Ablehnung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. ({10}) Fünftens. Entscheidend ist eine Vereinfachung des Verfahrens bei der Beantragung des BAföG. Es kann nicht hingenommen werden, dass zahllose Studierende, denen Förderung zustünde, aufgrund der komplizierten bürokratischen Vorschriften das Handtuch werfen. In diesem Bereich muss die Bundesregierung tätig werden. Die schönste Förderung nutzt nichts, wenn sie von den Berechtigten nicht zügig und unbürokratisch in Anspruch genommen werden kann. ({11}) - Auch das Internet wird nichts ändern, wenn Sie fünfzig Seiten mit Paragraphen lesen müssen, um feststellen zu können, ob Sie überhaupt antrags- und förderungsberechtigt sind. Vielleicht sollten Sie sich das etwas genauer angucken, Herr Tauss. Sechstens. Wir unterstützen den Antrag des Freistaats Bayern, die Freibeträge für Waisenrenten und Waisengeld bei der Berechnung des BAföG deutlich zu erhöhen. Dies ist ein guter Vorschlag; denn damit würde die soziale Komponente der BAföG-Reform unterstützt, die uns als Christdemokraten sehr wichtig ist. ({12}) - Ich lade Sie herzlich ein, bei diesen Änderungsanträgen mitzuwirken. Das würde Ihren Hohn vielleicht ein bisschen schmälern. Arbeiten Sie konstruktiv mit, wie wir das auch tun werden! ({13}) Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, wir beglückwünschen die Bundesregierung, dass sie in der Grundstruktur des Gesetzentwurfs viele unserer Vorschläge übernommen hat. Deshalb wollen wir die BAföG-Reform grundsätzlich politisch mittragen. ({14}) Aber wir fordern die Änderung des Gesetzentwurfs in den von uns vorgetragenen Kritikpunkten. Dies sind wir den Studentinnen und Studenten in Deutschland schuldig. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({15})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/4731 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Sicherung der Gebührenfreiheit des Hochschulstudiums, Drucksache 14/3005. Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt auf Drucksache 14/4455, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS, Drucksache 14/3005, abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten KurtDieter Grill, Dr. Peter Paziorek, Cajus Julius Caesar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Zukunft der nuklearen Entsorgung Entsorgungskonzept jetzt vorlegen - Drucksache 14/4644 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege Dr. Paul Laufs.

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die sichere Entsorgung radioaktiver Abfälle für lange Zeiträume ist eine Aufgabe, die unabhängig von künftig bevorzugten Energieversorgungssystemen gelöst werden muss. An dieser sehr wichtigen Aufgabe wird seit Jahrzehnten in Deutschland und im Ausland intensiv gearbeitet. Das deutsche Entsorgungskonzept des Bundes und der Länder aus den Jahren 1979 bis 1990 entspricht nach unserer Überzeugung hohen ökologischen, ökonomischen und technischen Ansprüchen, ist in sich schlüssig und kann zeit- und bedarfsgerecht verwirklicht werden. Es ist die Grundlage für die Entsorgung von 19 deutschen Kernkraftwerken und darüber hinaus für die Entsorgung des gesamten radioaktiven Abfalls aus Industrie, Gewerbe, Wissenschaft und Medizin. Die Internationale Länderkommission Kerntechnik hat in jüngster Zeit empfohlen, dieses Entsorgungskonzept beizubehalten, und stellt fest: Alle notwendigen Transporte können ohne Gefahr für die Bevölkerung, die Polizei und das Begleitpersonal durchgeführt werden. In Gor-leben und Ahaus stehen zentrale Zwischenlager zur Verfügung, die praktisch leer sind. Für schwach- und mittelradioaktive Abfälle ist das Endlager Konrad bis zur Planfeststellungsreife entwickelt und könnte nach heutigem Kenntnisstand im Jahre 2004 in Betrieb gehen. Die Pilotkonditionierungsanlage für die direkte Endlagerung von abgebrannten Brennelementen ist in Gorleben genehmigungsreif fertig gestellt. Das Endlagerprojekt Gorleben wird seit 20 Jahren untersucht und die Erkundungsarbeiten stehen kurz vor dem Abschluss. Über 5 Milliarden DM sind bisher in diese Projekte investiert worden. Dieses in der Umsetzung weit fortgeschrittene deutsche Entsorgungskonzept wird nun von der Regierung Schröder/Trittin zugrunde gerichtet. Ein unglaubliches Werk der Zerstörung bahnt sich an. ({0}) Alle Tätigkeiten sind rücksichtslos gestoppt worden. Die Versorgungsunternehmen wurden zu einer Vereinbarung gepresst, die auch den Ausstieg aus dem deutschen Entsorgungskonzept umfasst. Die Länder wurden zu keinem Zeitpunkt gefragt. Man erinnert sich, dass schon die von Ministerpräsident Gerhard Schröder geführte niedersächsische Landesregierung immer wieder rechtswidrig und offensichtlich unzulässig versuchte, die Erkundungsarbeiten in Gorleben zu behindern, weshalb dem Bund heute rechtskräftig Schadensersatzleistungen durch das Land Niedersachsen zustehen. Was bedeutet das Vorgehen der Bundesregierung Schröder/Trittin für ein Land wie Baden-Württemberg, dessen Stromversorgung zu über 60 Prozent aus Kernkraftwerken stammt und das zahlreiche Forschungseinrichtungen besitzt? Die Landessammelstelle für schwachund mittelradioaktive Abfälle in Karlsruhe - sie ist die größte in Deutschland - wird überlaufen, wenn das Endlager Konrad nicht planmäßig in Betrieb geht. Wie ernst nimmt die Bundesregierung eigentlich ihre Verpflichtung aus § 9 a des Atomgesetzes zur Einrichtung eines Endlagers für diese Abfälle? Nun verfolgt die Bundesregierung entsprechend der rot-grünen Koalitionsvereinbarung das Ziel, für die Endlagerung aller Arten radioaktiver Abfälle ein einziges Endlager mit neuer Standortsuche zu realisieren. Sie begibt sich damit in Widerspruch zur internationalen Fachwelt, die eine getrennte Behandlung der sehr großen Mengen schwach- und mittelradioaktiver Abfälle, die praktisch keine Wärme entwickeln, und der hochradioaktiven, wärmeerzeugenden Abfälle empfiehlt. Die Eignung des Endlagers Konrad für die großen Mengen ohne Wärmeentwicklung - übrigens auch aus dem Rückbau stillgelegter Anlagen - wird selbst von dieser Bundesregierung bestätigt. Aber sie will von neuem beginnen und verwirft alles, was in den vergangenen Jahrzehnten mit großem Aufwand erarbeitet worden ist. ({1}) Die Weigerung der Bundesregierung, die Transporte von Brennelementen und Glaskokillen wieder aufzunehmen, hat die Kernkraftwerke in Neckarwestheim und Philippsburg dem Entsorgungsinfarkt nahe gebracht. In Neckarwestheim stehen seit Juni dieses Jahres sechs beladene Castorbehälter und in Philippsburg seit Oktober ein Behälter zum jederzeit möglichen Transport bereit. Transporttermine sind nicht festgelegt. Wenn bis zu den Revisionsterminen im Frühjahr 2001 weder die Transporte nach Frankreich zur Wiederaufarbeitungsanlage noch die nach Ahaus in das zentrale Zwischenlager laufen, droht diesen Kraftwerken das Aus. Die Nasslager sind bis an den Rand mit abgebrannten Brennelementen gefüllt. Weder in Neckarwestheim noch in Philippsburg können die Kernkraftwerke, von denen die Stromversorgung Baden-Württembergs zu einem großen Teil abhängt, ohne Transporte einen weiteren regulären Zyklus fahren. Diese dramatische Lage erhellt das ganze Ausmaß an unerhörter Verantwortungslosigkeit der Regierung Schröder/Trittin. ({2}) Auf die drängenden Fragen der CDU/CSU vom Juni 1999 nach einem rot-grünen Alternativkonzept und dessen Begründung haben wir bis heute keine Antwort erhalten. Die Regierung Schröder/Trittin vollzieht ohne weitere Klärung der Fragen die rot-grüne Koalitionsvereinbarung vom Oktober 1998. Mit ihrem Hinweis auf die erst vor kurzem erschienene Publikation Nr. 81 der Internationalen Strahlenschutzkommission, die Schutzziele für gewisse Szenarien neu bestimmt, ist der Ausstieg aus dem deutschen Entsorgungskonzept nicht zu rechtfertigen. ({3}) Selbstverständlich haben neue Erkenntnisse und technische Fortschritte immer Eingang in die Arbeit gefunden. Auch das neu vorliegende Material muss abgearbeitet werden. Wer widerspräche dem? Aber es ist völlig unangemessen, es zum Anlass eines Moratoriums zu nehmen. ({4}) Es ist kennzeichnend für die bestehende ideologische Verkrampfung, dass ein Sachdialog nicht mehr möglich ist. Das Angebot zum Gespräch im Memorandum von inzwischen über 800 Professoren deutscher Hochschulen über eine Neubewertung der Kernenergie und der nuklearen Entsorgung sowie über neue technische - auch gesichert katastrophenfreie - Potenziale ({5}) wurde in geradezu beleidigender Form mit dem gänzlich unsachlichen Hinweis auf einen Unfall in der japanischen Brennelementefabrik Tokaimura vom Tisch gewischt. Ich empfinde die Begründungen von SPD und Grünen für den Ausstieg als in der Sache zutiefst unwahrhaftig und unglaubwürdig. Man kann nicht gleichzeitig die deutschen Kernkraftwerke als zu gefährlich für die Stromerzeugung bezeichnen und Restlaufzeiten von über 20 Jahren akzeptieren. ({6}) Man kann nicht gleichzeitig Atomtransporte bekämpfen und vermeiden wollen und in den Genehmigungsverfahren bescheinigen, dass sie gefahrlos möglich sind. Tausende haben früher schon stattgefunden. Es ist auf bedrückende Weise unwahr gewesen, was im Jahre 1998 über die Gefahren für Mensch und Umwelt, die von den Atomtransporten ausgehen sollten, behauptet und berichtet wurde. ({7}) Ich selbst habe erlebt, wie ein besonders negativ eingestimmter Berichterstatter nicht einmal wusste, was die physikalische Einheit Becquerel bedeutet. Angesichts der großen Fortschritte in Deutschland und im Ausland entspricht es nicht der Wahrheit, wenn apodiktisch gesagt wird: Das Problem der atomaren Entsorgung ist weltweit ungelöst. ({8}) Es ist die krasse Unwahrheit, wenn behauptet wird, das bisherige Entsorgungskonzept sei inhaltlich gescheitert und habe keine sachliche Grundlage mehr. ({9}) Man kann jedenfalls den Atomausstieg nicht mit der ungelösten Entsorgungsfrage begründen und gleichzeitig betonen, ({10}) man habe mit der Lösung noch Zeit bis zum Jahre 2030. ({11}) Es auch schlicht gelogen, wenn gesagt wird, niemand investiere mehr in neue Atomanlagen, so als gäbe es zum Beispiel das ehrgeizige japanische Ausbauprogramm nicht. ({12}) Der französische Philosoph und Naturwissenschaftler Michel Serres hat vor einigen Wochen in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ seine Ansicht dargestellt, dass eine Kluft zwischen der Gesellschaft, der Philosophie, der Wissenschaft und den Medien sowie der Politik bestehe. Eines seiner größten Anliegen sei es, einen Dialog zwischen diesen Bereichen herzustellen. Wörtlich sagte er: Wie schwierig das ist, ersehen Sie daran, dass die deutsche Regierung beschlossen hat, in Zukunft auf die Produktion von Atomstrom zu verzichten. ({13}) Als Wissenschaftler habe ich gewissenhaft die entsprechenden Dokumente studiert und bin zu dem Schluss gelangt, dass die Politiker, die Medien und die Öffentlichkeit die Gefahren viel zu hoch einschätzen. Verstehen Sie mich recht, das sage ich nicht, weil ich ein Franzose bin. Ich bin der Überzeugung, dass die Entscheidungen der Politiker, die Mitteilungen der Medien und die Reaktion der Öffentlichkeit sehr weit von einer wirklichen Kenntnis des Problems entfernt sind. ({14}) Weiter sagt er: Wir können nicht wirklich frei sein, wenn wir nicht über wahre Informationen verfügen. Ich teile diese Einschätzung von Michel Serres, insbesondere auch für Fragen der nuklearen Entsorgung.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Laufs, es gibt den Wunsch nach einer Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter. Lassen Sie die zu?

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte. ({0})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Kollege Laufs, Sie haben hier sehr wortreich ausgeführt, ({0}) wie sicher die Atomenergie ist, wie sicher die Transporte sind. Alles ganz toll, super. Jetzt meine Frage an Sie: Wieso hat denn die Umweltministerin Merkel die Atomtransporte gestoppt? War es aus Gründen der Wahl, die kurz bevorstand? Oder gab es andere Gründe? ({1})

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens hat sie nicht alle Transporte gestoppt. ({0}) - Zum Beispiel die der Glas-Kokokillen aus Frankreich überhaupt nicht. ({1}) - Nein. - Zweitens hat sie, weil gegen eine Rechtsverordnung verstoßen worden war, hier natürlich reagieren müssen. Das ist klar. ({2}) Die Fragen in diesem Zusammenhang waren abgearbeitet, ({3}) als diese Regierung ihr Amt antrat. Inzwischen hat sie das ja nun selbst über zwei Jahre hinweg behandelt und sie kommt zu keinem anderen Ergebnis, als dass diese Transporte ohne Gefahr für Umwelt und Menschen durchführbar sind. ({4}) Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, letztlich kann sich nur durchsetzen, wer die Sachkompetenz hat ({5}) und Aufgaben mit Augenmaß und Lösungswillen anpackt. Es drängt sich die Frage auf, ob die Regierung Schröder/Trittin das Problem der nuklearen Entsorgung überhaupt bewältigen oder sich nur rücksichtslos aus der Verantwortung stehlen will. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Horst Kubatschka für die Fraktion der SPD.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Laufs, Sie laufen ja manchmal richtig zur Hochform auf ({0}) mit ganz großen und dramatischen Worten. Manchmal wäre etwas weniger auch ganz gut. ({1}) Bloß, etwas muss man dann schon einmal zur Sprache bringen. Sie werfen uns, die wir aus der Kernenergie aussteigen wollen, ideologische Verkrampfung vor. Was bringt uns der Ideologievorwurf eigentlich? Ich richte doch auch nicht Ihnen gegenüber und sage, Ihr Festhalten an dieser veralteten Technologie sei Ideologie. Das ist eine technische Entscheidung. ({2}) Wenn Sie den Ideologievorwurf erheben, muss ich ihn auch erheben. Das bringt uns nicht weiter. Sie haben aber auch von einem katastrophenfreien Betrieb von Kernkraftwerken gesprochen. Ja, wo gibt es denn das? - Nirgends gibt es das. ({3}) - Nein, das, was bei uns läuft, hat mit Katastrophenfreiheit nichts zu tun. Das Restrisiko bleibt bestehen und das können Sie nicht wegreden. ({4}) Sie haben den japanischen Unfall genannt. Eine Hochtechnologienation rührt eine Atombombe in zwei Eimern zusammen - in zwei Stahleimern, gebe ich zu; das mag das Hightech gewesen sein. Dieses unglaubliche Ding das habe ich am Anfang nicht geglaubt, ich habe die Nachrichten weggeschmissen - hat ja die Japaner sehr zum Nachdenken gebracht. So sehr setzen sie seitdem auf die Kernenergie auch nicht. Vorher wurde schon gefragt: Wer hat denn eigentlich die Castortransporte gestoppt? Sie waren es. ({5}) Wenn Sie sie vor der Wahl nicht genehmigt haben, dann war es von Ihnen fahrlässig. Herr Grill hat in der Diskussion einmal gesagt: Eine Woche vor der Wahl hätten wir genehmigen können. Warum haben Sie es nicht gemacht? ({6}) Wir haben dann noch einmal kritisch darüber geschaut. ({7}) Wir haben natürlich eine Abweichung gesehen und das nicht akzeptiert. Jetzt möchte ich aber zum Antrag kommen. Ende Juni 1999 hat die CDU/CSU-Fraktion die Große Anfrage „Zukunft der friedlichen Nutzung der Kernenergie - Zukunft der Entsorgung“ eingebracht. Bisher konnte diese Große Anfrage nicht beantwortet werden. Dies wird natürlich von der CDU/CSU kritisiert. Emotional betrachtet kann man Verständnis für diese Kritik aufbringen. Ich bitte aber, Folgendes zu berücksichtigen: Seit dem rot-grünen Wahlsieg vor über zwei Jahren ist auf dem Gebiet der Kernenergie manches in Bewegung geraten. ({8}) Manche Etappenziele wurden bereits erreicht. Ich erinnere nur an den Konsens mit den EVUs oder an das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Vor den Ausstieg aus der Kernenergie haben wir nämlich den Einstieg in eine Energiewende gesetzt. Sie wollen auf Fragen 139 Fragen Antworten haben, die auch Bestand haben. Deswegen erscheint es mir vernünftig, diese Fragen erst nach Vorlage der Atomnovelle, die den Ausstieg regeln soll, zu beantworten. ({9}) Ihr Antrag bringt im Grunde genommen nichts Neues. Es sind die bekannten CDU/CSU-Positionen zur Kernenergie. Die F.D.P. wird sich diesen Forderungen wahrscheinlich anschließen. Da habe ich keine Bedenken. Weil Ihr Antrag nichts Neues bringt, will ich ein Thema aufgreifen, das in meiner Heimat Niederbayern zurzeit hohe Wellen schlägt. Man könnte als Thema titeln: Mit neuen Verbündeten gegen die Kernenergie. Die neuen Verbündeten sind CSU-Kollegen, die sich gegen die Kernenergie mächtig ins Zeug legen, zumindest wenn das Kernkraftwerk in der Tschechischen Republik steht. Ich spreche vom Atomkraftwerk Temelin. Vor einer Woche hat der Kollege Kalb bei den Haushaltsberatungen moniert, dass sich Umweltminister Trittin nicht zu diesem Thema geäußert habe. ({10}) Umweltminister Trittin hatte es auch gar nicht nötig, im Rahmen der Haushaltsberatungen auf dieses Thema einzugehen; denn die rot-grüne Bundesregierung hat von Anfang an nichts unversucht gelassen, um den Betrieb des Kernkraftwerkes Temelin zu verhindern. Sie hat jede sich bietende Möglichkeit genutzt, um in diesem Sinne auf die Entscheidungen der tschechischen Regierung zur Fertigstellung und Inbetriebnahme Einfluss zu nehmen. Als niederbayerischer Abgeordneter, sozusagen als Betroffener, möchte ich dazu Stellung nehmen. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich kämpfe gegen das Kernkraftwerk Temelin auf parlamentarischer Ebene seit fast zehn Jahren; nicht erst als der Bürgerprotest aufflammte, habe ich mich der Problematik angenommen. Jetzt läuft der Probebetrieb. Das Kind ist sozusagen in den Brunnen gefallen. Während der Bauphase, also vor fünf Jahren, hätte man noch etwas erreichen können; was, das berichtete damals die „Landshuter Zeitung“ am 3. April 1995. Ich zitiere wörtlich: Bayerns Umweltministerium unterstützt den Bau des umstrittenen Kernkraftwerks Temelin in der Tschechischen Republik. ({11}) In demselben Bericht heißt es einige Zeilen weiter - ich zitiere -: Gemeinsam mit seinem bayerischen Amtskollegen Thomas Goppel stellte er - gemeint ist der tschechische Umweltminister Benda die tschechisch-bayerische Umweltvereinbarung vor, in der die positive Rolle der Kernenergie mit Stromerzeugung festgeschrieben wird. Das scheinen Sie völlig vergessen zu haben. Damals, im März 1995, wurde auch der Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zu diesem Thema abgelehnt. Begründet wurde die Ablehnung damit, dass dem Verlangen nach Bürgerbeteiligung vonseiten der Regierung der Tschechischen Republik weitestgehend entsprochen worden sei. Sie scheinen Ihre alten Argumente wie immer zu vergessen. Wie gesagt: Dieser Antrag wurde mit CSU-Stimmen abgelehnt. Auch im Bayerischen Landtag wurde ein entsprechender Antrag abgelehnt. Dieselbe CSU fordert jetzt lauthals diese Bürgerbeteiligung und protestiert gegen Temelin mit der Parole: Was interessieren mich meine Sprüche und Beschlüsse von früher? Um es noch einmal klar zu sagen: Ich bin gegen das Atomkraftwerk Temelin. Es entspricht nicht dem deutschen Standard. Der Reaktor ist nicht ausgereift; daran ändern auch die 78 Bauveränderungen seit Baubeginn nichts. Es ergibt keinen Sinn, ein Atomkraftwerk, das in wenigen Wochen schon drei Störfälle verzeichnet hat, weiterzubetreiben. Die Restrisiken, die das Atomkraftwerk Temelin birgt, sind offensichtlich schon im Probebetrieb nicht kalkulierbar. Über die Ursachen von Störfällen werden Vermutungen angestellt. Es ist nicht ausreichend, Vermutungen über mögliche Ursachen anzustellen. Die Fehler müssen erkannt und abgestellt werden. Wenn ein technisches System nicht ausgereift ist, dann sollte man nicht blindwütig und gegen alle schlechten Erfahrungen an seinem Weiterbetrieb festhalten. Ich fordere deshalb, den Probebetrieb des Atomkraftwerkes Temelin einzustellen. ({12}) Wie schon gesagt, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der CDU/CSU bringt nichts Neues. Es stimmt, wir wollen die Entsorgung anders regeln, als es 1979/80 vereinbart worden ist. Wieso das verfassungsrechtlich bedenklich sein soll, ist für mich nicht nachvollziehbar. Woher diese Argumentation stammt, ist dagegen seit gestern bekannt: aus der bayerischen Staatskanzlei. Die größte Staatskanzlei aller Länder beweist ihre wahre Aufgabe: nicht etwa zum Wohle der bayerischen Bürgerinnen und Bürger zu wirken, sondern das Zentrum der Opposition und Wegbereiter des Bundeskanzlerkandidaten Edmund Stoiber zu sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte der Opposition kurz erklären, warum es notwendig ist, den bisher angedachten Entsorgungspfad zu verlassen. Unsere technischen Träume haben sich als falsch herausgestellt. Die physikalischen, chemischen und wirtschaftlichen Tatsachen haben uns eingeholt. Vor über 20 Jahren galt der Weg der Wiederaufbereitung und des schnellen Brüters als zukunftsweisend. Die Vision des schnellen Brüters hat sich aber als nicht durchführbar und gefährlich herausgeHorst Kubatschka stellt. Elementares Natrium lässt sich eben nicht so leicht handhaben, vor allem nicht in so großen Mengen. Der schnelle Brüter hat auch nicht die notwendige Brutrate erreicht. Die schöne Theorie stimmte, die schnöde Wirklichkeit nicht. Damit hatte sich die Vision des Perpetuum mobile nicht bewahrheitet und in Luft aufgelöst. Daher hat Ihre Regierung den Versuchsreaktor stillgelegt. Auch die Schwierigkeiten der Wiederaufbereitung wurden unterschätzt. Vor allem - das ist entscheidend hat sich der Preis der Wiederaufbereitung als zu hoch erwiesen. Die Wiederaufbereitung ist eine sehr teure Lösung, die direkte Endlagerung ist billiger. Aus diesen Gründen haben wir uns für die direkte Endlagerung und gegen die Wiederaufbereitung entschieden. Dies hat sich als ein sinnvoller Weg herausgestellt. Die direkte Endlagerung erfordert aber eine Zwischenlagerung. Die hohe Zerfallswärme muss abklingen und nach einer 30- bis 40-jährigen Abklingzeit kann das radioaktive Material endgelagert werden. Nach dieser Zeit müssen die Endlager zur Verfügung stehen. Damit hinterlassen wir unseren Kindern und Enkeln ein schweres Erbe: Sie müssen den Atommüll endlagern, den wir erzeugt haben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat zusammen mit den EVUs vereinbart, den Ausstieg aus der Kernenergie im Konsens zu bewältigen. Seit dieser Vereinbarung spielt das Thema Kernenergieausstieg in Deutschland fast keine Rolle mehr. ({13}) Ich bedaure dies; aber es ist eine Tatsache. Auch die deutsche Industrie hat sich inzwischen von der Kernenergie verabschiedet. Seit über 20 Jahren ist in Deutschland kein neues Atomkraftwerk mehr bestellt worden. Siemens bildet mit Framatome eine gemeinsame Firma; es gibt also keinen deutschen Hersteller von Atomkraftwerken mehr. Die EVUs bewegt der Kernenergieausstieg nur noch pflichtgemäß; denn die letzten Jahrzehnte haben bewiesen, dass die Kernenergie nicht zukunftsfähig ist. Nur noch die CDU/CSU und vielleicht die F.D.P. ({14}) treibt dieses Thema um. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich versichere Ihnen aber, Ihre Fangemeinde ist schon sehr klein geworden. In der CDU/CSU befinden sich die letzten aufrechten Streiter für die Atomkraft; damit sind beide Parteien eigentlich nicht zukunftsfähig. Die Zukunft heißt: Energiesparen, Energieeffizienz und erneuerbare Energien. ({15}) Auf diesen Dreiklang müssen wir in den nächsten Jahrzehnten unsere Energieversorgung umstellen. Mit der Konsenslösung belegen wir, dass man sich geordnet aus der Kernenergie zurückziehen kann. ({16}) Wir belegen, dass ein großer Industriestaat auch ohne Kernenergie auskommen kann.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Kubatschka, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Horst Kubatschka (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001234, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, noch einen Satz. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, wir sollten nicht über den Ausstieg aus der Kernenergie streiten - er erfolgt jetzt ohnehin -, sondern wir sollten uns über den Weg in die Energiezukunft streiten. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger für die F.D.P.-Fraktion.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion bringt zum wiederholten Male ein Thema auf die Tagesordnung, bei dem die rot-grün geführte Bundesregierung seit Beginn ihrer Amtszeit versagt hat. ({0}) Mit den Problemen sind Sie durch die Grosse Anfrage der CDU/CSU mit ganz alltäglichen Fragen, die Sie längst für sich beantwortet haben müssten ({1}) und die Sie im Übrigen im Zusammenhang mit drei Kleinen Anfragen, die die F.D.P.-Bundestagsfraktion gestellt hatte, teilweise beantwortet haben, vertraut. Trotzdem ist die Sache seit eineinhalb Jahren unbearbeitet. ({2}) Jetzt sagt Herr Kubatschka, man solle die Große Anfrage besser erst dann beantworten, wenn die Atomnovelle vorgelegt sei. Ich empfinde diesen Vorschlag als ausgesprochen peinlich, und zwar schon allein deshalb, weil Sie zum Ersten vor der Vorlage der Atomnovelle wissen müssten, wie die Sache ablaufen soll - wenn Sie ein Lösungskonzept haben - und weil Sie zum Zweiten die Atomnovelle schon zigmal angekündigt, aber nicht vorgelegt haben. ({3}) Deshalb sollten Sie jetzt endlich darangehen, diese Fragen zu beantworten. Danach kann man sich über die zukünftige Strategie unterhalten. ({4}) Ihr Verhalten, Anfragen nicht zu beantworten, kennen wir zur Genüge; das passiert permanent. Von den Kleinen Anfragen wird kaum eine ohne Fristverlängerung beantwortet und die Großen Anfragen - die F.D.P. stellt kaum noch welche - verschwinden sowieso auf Nimmerwiedersehen. ({5}) Dieses Verhalten - ich sage das in Richtung auf die Bundesregierung - ist eine Missachtung des Parlaments. Es zeigt aber auch einmal mehr das Desaster dieser Bundesregierung. ({6}) Im Koalitionsvertrag haben Sie noch von einer fehlenden Lösung des Atommüllproblems gesprochen. Bis heute haben Sie allerdings immer noch kein Konzept. Im Gegenteil: Die Endlagerprojekte in Gorleben und Schacht Konrad, die schon weit vorangeschritten waren und für die Ablagerung hoch- bzw. schwach- und mittelradioaktiven Mülls sicher geeignet schienen, haben Sie gestoppt. Alternativen haben Sie derzeit keine. Sie haben einen Arbeitskreis eingesetzt, der Kriterien und Verfahren für eine nationale Standortauswahl erarbeiten soll. Ich bin der Meinung, anstatt das seit den 70er-Jahren durchgeführte komplette Verfahren neu aufzurollen, sollten Sie lieber auf den bisherigen Erkenntnisstand zurückgreifen und die Endlagerprojekte vorantreiben. ({7}) - Das ist doch überhaupt nicht wahr, Herr Kubatschka; die Erkenntnisse haben sich nicht geändert. Das Einzige, was sich geändert hat, ist Ihre Wahrnehmung. Sonst hat sich in der Sache überhaupt nichts geändert. ({8}) Mit dem Stopp der Endlagerprojekte aus ideologischen Gründen haben Sie Milliardeninvestitionen kaputt gemacht. Das ist aber noch nicht alles. Wenn Sie das Ziel weiterverfolgen, das Sie sich gesetzt haben, brauchen Sie für die Erkundung anderer Endlagerstandorte weiteres Geld. Sie haben dafür im Haushalt 2001 immerhin schon mehr Mittel als in den letzten Bundeshaushalt eingestellt. Die eingestellten Mittel sind aber nach wie vor eine Täuschung der Öffentlichkeit, und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens wird die Erkundung neuer Standorte noch ein Vielfaches der von Ihnen veranschlagten Summe kosten, und zwar ohne dass zu erwarten steht, dass man zu neuen Erkenntnissen kommt. ({9}) Die Ausgabe dieser Gelder ist also überflüssig; Millionen D-Mark werden aus ideologischen Gründen zur Verschwendung freigegeben. Zweitens sind die Projekte Schacht Konrad und Gorleben mit Blick auf die Grundsätze der Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit nach wie vor irreführend, und zwar deswegen, weil es für die Kosten der Endlagerprojekte eine Refinanzierungsvereinbarung gibt. Das heißt: Für jede einzelne Mark, die aus dem Bundeshaushalt ausgegeben wird bzw. ausgegeben wurde, erfolgt eine Refinanzierung durch die Betreiber der Kernkraftwerke. Durch Ihr Verhalten täuschen Sie staatliches Handeln vor, obwohl Sie in Wirklichkeit nur das Geld anderer Leute ausgeben. ({10}) Als so genannte Lösung der Probleme erzwingen Sie nun eine oberirdische Zwischenlagerung an den Kernkraftwerken, die aus zwei Gründen unsinnig ist: Erstens. Sie erreichen damit niemals die Sicherheit, die Sie erreicht hätten, wenn unterirdisch zwischengelagert worden wäre. Jetzt gibt es quasi eine Castor-Zwischenlagerung auf der grünen Wiese. ({11}) Zweitens. Finanziell bedeutet diese Entscheidung zusätzliche Kosten, die der Gebührenzahler letztlich über den Strompreis mitbezahlen muss, ohne dass dadurch ökologisch etwas erreicht wird. Im Gegenteil: Die Bürgerinnen und Bürger zahlen erneut dafür, dass die Umweltstandards reduziert werden. Das ist Fakt. ({12}) Würden die deutschen Kernkraftwerksbetreiber keine Zwischenlager beantragen, wie es jetzt teilweise geschehen ist ({13}) - gut, dann haben eben alle zwischenzeitlich einen Antrag gestellt; ich danke für Ihren Hinweis, Herr Kubatschka; dadurch wird unsere Position nur bestätigt -, müssten Kernkraftwerke abgeschaltet werden. ({14}) - Sie sagen: „So ist es!“ Wunderbar, dass Sie das bestätigen. Das höre ich in dieser Klarheit und Deutlichkeit das erste Mal von Ihnen. Ich freue mich, dass Sie das so freimütig sagen; damit geben Sie nämlich zu, dass Sie versuchen, die Kernkraftwerke auf kaltem Wege abzuschalten, obwohl Sie den Kernkraftwerksbetreibern genau das Gegenteil versprochen haben. ({15}) Ich kann Ihnen auch sagen, warum Sie das versuchen. Sie wollen das tun, weil Sie versprochen haben, dass Zwischenlager gebaut werden können. Aber im Verfahren hat die Bundesregierung plötzlich festgestellt, dass sie weder die Macht noch die Kompetenz hat, zu sagen, dass Zwischenlager gebaut werden sollen. Vielmehr haben ganz andere Stellen die Planungshoheit. ({16}) Hinzu kommt, dass der Weg nach La Hague zur Wiederaufarbeitung zwischenzeitlich nicht mehr zur Verfügung steht, weil die französische Regierung die Lieferungen nach La Hague so lange gestoppt hat, bis Deutschland sichergestellt hat, dass der dort lagernde Atommüll aus Deutschland zurückgenommen wird. Wie sieht der Sachstand aus? Es wurde vor ein paar Wochen gesagt, dass wir noch vor Weihnachten zu einem Ergebnis kämen. Ich habe bei der Bundesregierung nachgefragt. Ergebnis: Es steht im Augenblick kein Termin für weitere Verhandlungen fest. Vor dem Jahresende ist also nichts zu erwarten. Ich prophezeie Ihnen, dass in dieser Frage vor den nächsten Landtagswahlen - aus gewissen Gründen - überhaupt nichts geschehen wird. ({17}) Es gibt also eine oberirdische Zwischenlagerung in Deutschland und im Ausland. Das ist kein Konzept; das ist ein unverantwortliches Chaos. Die F.D.P. fordert die Bundesregierung erneut auf, endlich ein schlüssiges Entsorgungskonzept vorzulegen. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin, ich stelle fest, dass es ein heftiges Zerwürfnis zwischen der F.D.P. und der CDU/CSU gibt. ({0}) Sie beklagen zwar, dass eine Anfrage nicht beantwortet worden ist. Aber Sie wissen sehr gut, dass dies immer nur mit Zustimmung der fragestellenden Fraktion möglich ist. Wenn die fragestellende Fraktion auf Beantwortung bestehen würde, dann würde die Antwort nach drei Wochen vorliegen. Offensichtlich hatte die Union gute Gründe, nicht darauf zu bestehen. ({1}) Ich stelle aufgrund der Ausführungen von Herrn Laufs und der Feststellung von Ihnen des Weiteren fest: Für Sie war Gorleben nie eine Erkundung, die Gorleben rechtlich eigentlich ist. Sie haben vielmehr - das haben Sie auch zutreffend dargestellt, Herr Laufs - den Bau eines Endlagers betrieben. Wir haben diese politische Vorfestlegung durch unser Moratorium in der Tat beendet. Wir haben den Bau dieses Endlagers, den Sie als Erkundung getarnt hatten, gestoppt. ({2}) - Verfahrensrechtlich ist das eine Erkundung gewesen. Schauen Sie einmal in die Unterlagen, sehr geehrter Herr Laufs! Ich stelle auch fest: Zum großen Ärger der F.D.P. haben wir diesen als Erkundung getarnten Bau eines Endlagers mit Zustimmung der Energiewirtschaft gestoppt. Sie haben also einen Konflikt mit der Energiewirtschaft. ({3}) Wir haben noch etwas anderes gestoppt. Bisher wurde in Bayern für die Produktion von Atomstrom, etwa in Gundremmingen, munter Gewerbesteuer kassiert. ({4}) Um den Müll dieser Müllproduktion sollten sich dann gefälligst die Franzosen in La Hague, die Briten in Sellafield, die Wenden im Wendland und die Westfalen in Ahaus kümmern. Über allem schwebte dabei Sankt Florian. Mit dem Müll wollten Sie nichts zu tun haben. ({5}) Mit dieser verantwortungslosen Politik haben wir ebenfalls Schluss gemacht. ({6}) Durch den Atomkonsens haben wir die Reststrommengen begrenzt. Damit lässt sich erstmals das Müllvolumen bestimmen. Das ist die erste Voraussetzung, um überhaupt zu einem Entsorgungskonzept zu kommen. Man kann nicht sagen, man habe das Problem gelöst, wenn man diesen Müll unbegrenzt weiter produziert. Schließlich: Wir haben durch den Konsens die Zahl der Transporte drastisch verringert. Ihr Entsorgungskonzept hieß: Zunächst wurde der Atommüll Tausende von Kilometern durch Europa nach La Hague oder nach Sellafield transportiert. Dort wurde er verarbeitet, sodass dabei auch noch ordentliches Plutonium entstand. Anschließend wurde er da über Jahre hinweg zwischengelagert. Die nächste Transportstrecke führte über Tausende von Kilometern zurück ins zentrale Zwischenlager nach Ahaus oder nach Gorleben. Von da aus kam der Müll dann irgendwann ins Endlager. Das machte insgesamt drei Transporte. - So sah Ihr Entsorgungskonzept aus. ({7}) Unser Entsorgungskonzept sieht folgendermaßen aus: Der Atommüll wird künftig in den Kraftwerken zwischengelagert, bevor er in ein Endlager geht. Dann gibt es einen Transport anstelle von drei. Das ist die Antwort auf Ihre Frage, Kollege Laufs, was wir machen. ({8}) Ich kann die Länder nur nachdrücklich auffordern, konstruktiv mitzuarbeiten. Wer sich in der Frage dezentraler Zwischenlager obstruktiv verhält, der betreibt nicht nur eine Politik zulasten der Atomkraftwerksbetreiber - es tut mir schon fast weh, dass ich das hier sagen muss -, sondern auch - es tut mir nicht Leid, das sagen zu müssen - eine Politik zulasten der Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten in diesem Lande. ({9}) Sie haben jahrelang bis zu 40 000 Polizistinnen und Polizisten eingesetzt, um dieser Gesellschaft Ihre verfehlte Energiepolitik aufzudrücken. Diesen Missbrauch der Polizei wollen wir ebenfalls beenden. ({10}) Das waren Gründe, warum wir die Bedingungen für solche Transporte durch die Begrenzung der Müllmenge und durch eine Drittelung der Transporte verändert haben. Dennoch - das sage ich auch in Richtung derjenigen, die gegen die Nutzung der Atomkraft waren und die gegen solche Transporte demonstriert haben -: wird es auch weiterhin bestimmter Transporte bedürfen. Das hat eine ganz simple Ursache. Allein unter Ihrer Regierung, von Anfang der 80er-Jahre bis 1998, sind 4 500 Tonnen radioaktiver Müll ins Ausland verschoben worden. ({11}) Wir haben die rechtliche, die moralische und die politische Pflicht, den von Ihnen ins Ausland verschobenen Atommüll zurückzuholen. Ich weiß, dass es auch dagegen Proteste geben wird. Ich habe dafür sogar Verständnis, soweit sich dieser Protest gegen die Sünden der Vergangenheit richtet. Ich sage aber in aller Deutlichkeit: Ich kann diese Proteste nicht mehr ganz und gar billigen; denn diese Transporte dienen - anders als früher - nicht mehr dem Weiterbetrieb der Atomanlagen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Sie sind die Erblast einer verfehlten Politik. Die Transporte wären übrigens auch dann nötig, wenn wir einen Sofortausstieg durchgeführt hätten. Das sage ich in Richtung einiger Kritiker, die nicht aus Ihrer Ecke kommen, Herr Laufs. ({12}) Wir haben das Atommüllproblem durch den Ausstieg begrenzt und gemindert. Ich füge aber eines hinzu: Die eigentliche Ursache für diese Entscheidung liegt im Einstieg. Nie hätte man in diese Technik ohne ein Entsorgungskonzept einsteigen dürfen. Dafür tragen Sie genauso wie Teile der SPD die Verantwortung. ({13}) - Herr Paziorek, da dürfen Sie sich jetzt nicht zurücklehnen. Das einzige, was beim Zurücklehnen herauskommt, ist, dass Sie der SPD bescheinigen, fähig zu sein, aus diesen Fehlern zu lernen, während Sie weiterhin an den Irrtümern des Einstiegs in die Atompolitik festhalten. ({14}) Wir haben, weil es in der ganzen Welt bis heute weder für Granit noch für Salz, noch sonst etwas ein sicheres Endlagerkonzept gibt, bereits vier Monate nach Amtsantritt der neuen Bundesregierung den Arbeitskreis „Auswahlverfahren Endlagerstandort“ eingerichtet. Erstmalig werden hier - pluralistisch zusammengesetzt und nicht einseitig - fundierte Kriterien und ein nachvollziehbares Verfahren für die Endlagersuche entwickelt. Kürzlich hat dieser Arbeitskreis erste Zwischenergebnisse öffentlich vorgestellt. Sie wollen damit eine neue Qualität in der Auseinandersetzung um Endlager schaffen. Ich begrüße es nachdrücklich, dass sich Umweltverbände, Kirchen und Gewerkschaften daran beteiligen. Ich würde mich freuen, wenn auch Sie, Herr Laufs, so engagiert dabei wären, wie Sie es hier waren. Die Empfehlung wollen wir hier erarbeiten. Der Arbeitskreis unterliegt in seinen Empfehlungen keinen Weisungen. Nach den bisherigen Planungen werden sie in zwei Jahren zu erwarten sein. Anschließend ist eine breite öffentliche Diskussion dieser Empfehlung vorgesehen, bevor das Auswahlverfahren verbindlich gemacht wird. Ich sage mit allem Nachdruck: Bis dahin werden keine neuen Standorte ausgewählt oder gar vor Ort erkundet. Ich bin mir auch sicher, dass wir diese Zeit haben. Aufgrund der Abklingzeiten brauchen wir ein Endlager erst gegen 2030. Das ist ein Datum, das wir nicht erfunden haben; das haben wir aus Ihrer eigenen Endlagerkonzeption übernommen. Das war auch bei Ihnen so vorgesehen. Diese Zeit braucht man in meinen Augen auch für tragfähige Entscheidungen. Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass es nicht reicht, über Technik zu reden. Es geht auch darum, die Menschen einzubeziehen. Transparenz der Entscheidungen und aktive Bürgerbeteiligung sind unverzichtbar, um die Glaubwürdigkeit von Verantwortlichen und das Vertrauen in eine spätere Entscheidung herzustellen. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich habe mich schon gewundert, dass Sie ausgerechnet diesen Punkt „Zukunft der nuklearen Entsorgung“ auf die Tagesordnung gesetzt haben. Ihre Atommüllpolitik war schlicht und ergreifend verantwortungslos. Sie haben versucht, in Gorleben Fakten zu schaffen, unabhängig davon, was Wissenschaftler gesagt haben. Ihre damalige Entscheidung für die Erkundung in Gorleben war rein politisch begründet, nicht fachlich. Allein die Nähe zur damaligen Grenze zur DDR zählte. Aber die DDR war Ihnen ja, was Atommüll anging und auch sonst, lieb und teuer. Sie haben das Atommülllager Morsleben trotz aller Warnungen, übrigens auch Warnungen aus dem Bundesamt für Strahlenschutz, auf der Basis einer Genehmigung der SED weiterbetrieben. Frau Merkel hat in Morsleben mehr Atommüll abgekippt als Erich Honecker. Wir haben heute alle Hände voll zu tun, damit in deren maroden Schacht nicht buchstäblich den Fässern die Decke auf den Kopf fällt. ({15}) Meine Damen und Herren, ich weiß, dass Ihnen das wehtut und dass Sie sich aufregen, weil das alles Tatsachen sind. ({16}) Mit dieser Verantwortungslosigkeit, verehrter Herr Laufs, haben wir Schluss gemacht. Wir haben den Ausstieg festgelegt. Die Menge des Mülls ist berechenbar und damit ist endlich eine Grundlage für eine verantwortungsbewusste Entsorgungskonzeption gelegt, ({17}) die sich allerdings mit einer Verantwortung herumzuschlagen hat, die letztlich auf einer verantwortungslosen Entscheidung beruht, nämlich dem Einstieg in diese Technologie. ({18})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die Recherche beim Stenographischen Dienst hat ergeben, dass Herr Kollege Laufs zum Bundesumweltminister Folgendes gesagt hat: „Sie haben zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen aufgerufen!“ - Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weise diese Äußerung mit Entschiedenheit zurück, weil ich denke, hier ist eine Grenze überschritten worden. Wir wissen, dass wir immer wieder auch abwägen müssen. Ich erteile Ihnen zwar keinen Ordnungsruf; aber ich möchte darauf hinweisen, dass solche Formen der Auseinandersetzung unter Kolleginnen und Kollegen nachweislich nicht dem Stil des Hauses entsprechen. ({0}) Der Kollege Peter Ramsauer hat sich zur Geschäftsordnung gemeldet. Bitte, ich erteile Ihnen das Wort.

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Vorbehaltlich einer Nachprüfung - gegebenenfalls im Ältestenrat - dessen, was Sie jetzt vorgetragen haben, möchte ich im Namen meiner Fraktion die Vorhaltungen gegenüber dem Kollegen Laufs zurückweisen. Es wäre nämlich ebenso zu rügen gewesen, dass sich Politiker der Regierungsfraktionen ganz offen zur Abhaltung von Chaostagen bekannt haben. ({0}) - Ja, natürlich. - Dort haben ebenfalls bürgerkriegsähnliche Zustände geherrscht. Ich möchte auf diesen Punkt nur hinweisen. Wir werden aber darauf zu gegebener Zeit noch zurückkommen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Ramsauer, Sie kennen die Spielregeln im Deutschen Bundestag. Es ist nicht üblich, die Entscheidungen des Präsidiums zu kritisieren. ({0}) Aber wir können uns gern im Ältestenrat über diesen Vorgang unterhalten. Ich erteile jetzt der Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, das Wort. ({1})

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute haben wir wieder einmal eine Debatte über die Atomenergie und über die End- und Zwischenlager. Die CDU/CSU ist offensichtlich beleidigt, weil sie die Antworten auf ihre Große Anfrage immer noch nicht bekommen hat. Eines habe ich aber nicht verstanden: Frau Homburger, Sie haben ja behauptet, Sie hätten schon einige Antworten erhalten. Meine Frage an Sie lautet deshalb: Warum haben Sie diese der CDU/CSU nicht gegeben? Das ist sehr seltsam. ({0}) - Das ist ja interessant, dass die Kollegen der CDU/CSU nicht lesen können. Es ist eine sehr scheinheilig geführte Debatte, und zwar von beiden Seiten. Die CSU in Niederbayern - Herr Kubatschka hat das schon kurz ausgeführt - ist gegen Temelin. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber - das haben Sie leider nicht gesagt, Herr Kubatschka -, dass sich die Bayerische Staatsregierung an Temelin angeblich beteiligt. Der Bund Naturschutz hat einen Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtages gefordert. Dort soll diskutiert werden, ob die bayerische Bank LWS nicht Kredite für Temelin vergeben hat. Dass die CSU an einer Aufklärung kein Interesse hat, glaube ich gerne. Ich kann mir auch vorstellen, dass sie behauptet - das kann man ja immer sagen -, sie habe nicht gewusst, wohin das Geld gehe. Es ist also ein sehr seltsamer Vorgang. Die SPD behauptet permanent: Wir steigen aus. Ich frage: Ja, wann? Es dauert sehr lange. ({1}) Wir sind mit dem Zeitplan absolut nicht zufrieden. Der sofortige Ausstieg ist nach wie vor nicht erkennbar. ({2}) - Photovoltaik ist zwar schön. Aber wir wollen die AKWs abschalten, und zwar nicht nur in Temelin, sondern auch Ohu 1 und 2, Gundremmingen und auch woanders. Das ist unser Ziel. ({3}) Grundsätzlich gilt - in diesem Punkt sind wir uns einig -: Was an Abfällen produziert wird, muss auch entsorgt werden. Für die Entsorgung müssen Wege gesucht werden; denn es wird nach den Zukunftsplänen von RotGrün weit mehr Abfälle als heute geben, nämlich fast das Doppelte. Es ist sehr bedauerlich, dass nach den Konsensplänen noch einmal so viel Atommüll entstehen wird, wie jetzt schon entstanden ist. Durch die Vereinbarung der Bundesregierung mit den Stromversorgern wird sich die Menge der langlebigen und hoch radioaktiven Abfälle noch erheblich ausweiten. Das ist eine große politische Enttäuschung für viele Wählerinnen und Wähler. Dieser Enttäuschung ging die Täuschung der Wählerinnen und Wähler voraus. Sie haben sich nämlich eine andere Politik vorgestellt, als sie Sie gewählt haben. Sie versprachen, das Risiko schwerer Unfälle in Kernkraftwerken durch eine schnellstmögliche Abschaltung der Anlagen auszuschließen. Davon kann bei der Verstromungsgarantie für die AKWs wohl kaum mehr die Rede sein - leider! Ihre Strategie war es, mit der Industrie einen Konsens über Restlaufzeiten zu erreichen. Sie sind der Meinung, dass Sie das geschafft haben. Wir meinen aber, dass selbst das gescheitert ist; denn tatsächlich ist es Ihnen nicht gelungen, die Industrie auf das Ziel eines Atomausstiegs festzulegen. ({4}) Die Union nutzt nicht umsonst jede Gelegenheit, eine Revision Ihrer Atompolitik anzukündigen. - Ich sehe, dass Kollege Laufs nickt. ({5}) Im Falle eines Regierungswechsels wird diese Revision Realität werden; denn Sie haben mit den langen Restlaufzeiten keine Tatsachen geschaffen, die in den nächsten Jahren unumkehrbar wären. Damit ist nicht nur der Wiedereinstieg in die Atomwirtschaft offen, sondern auch die Frage, welcher und wie viel Atommüll entsorgt werden muss. In diesem Bereich ist nur eines sicher, nämlich dass Sie einer Genehmigung der Endlagerung im Schacht Konrad keinen Widerstand entgegensetzen. Für die Erkundung von Gorleben haben Sie lediglich ein Moratorium verhängt, das nach Abhandenkommen Ihrer Regierung mit einem Federstrich aufgehoben werden kann. ({6}) Die sicherheitsrelevanten Fragen der Verarbeitung von Brennelementen in der Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben hat der niedersächsische Umweltminister Jüttner in dieser Woche schon einmal genehmigt. Dabei ist es für mich kein Trost, dass dort zunächst nur die erwarteten Leckagen an Lagerbehältern repariert werden sollen. Den Menschen an den Atomkraftwerksstandorten versprechen Sie, dass in 30 Jahren jemand kommen wird, der die zwischengelagerten abgebrannten Brennelemente abholen wird; denn in 30 Jahren soll es ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle geben. Doch niemand kann heute voraussagen, wie die atomare Endlagerung in 30 Jahren aussehen wird, ({7}) ob es eine Veranstaltung der Bundesrepublik Deutschland sein wird oder ob sich andere Staaten als Atomklo missbrauchen lassen werden. Schon heute unterbreitet die Russische Föderation Offerten zur Endlagerung in Russland. Ich meine, hier muss sich wirklich etwas ändern. Wir brauchen ein Konzept, aber vor allem brauchen wir eines: den schnellen, am besten sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie. ({8}) In dieser Frage brauchen wir keine Scheinheiligkeit, weder auf der einen noch auf der anderen Seite. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Arne Fuhrmann für die SPD-Fraktion.

Arne Fuhrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000619, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Laufs, es ist ja immer so: Wenn man als Erster redet und sich dann alle auf einen beziehen, hebt einen das gewaltig. Deshalb tue ich das nicht - um das vorwegzuschicken. ({0}) Sie haben, bezogen auf diese Bundesregierung, ein paarmal das Wort „unverantwortliche Politik“ in den Mund genommen. ({1}) - Ich gebe Ihnen etwas zu bedenken. Es gibt ein paar kleine Unstimmigkeiten. Das eine ist Ihr Einwand: Warum eigentlich nicht drei Transporte? Wenn ich das richtig verarbeitet habe, verstehe ich das so, dass Sie die Just-in-time-Methode wollen: so lange auf Straße und Schiene unterwegs, bis endgelagert werden kann. ({2}) Das wäre eine tolle Möglichkeit. Nach Ihren Worten wäre das sozusagen Ihre Zielsetzung. ({3}) Das Zweite, Herr Laufs. Sie haben von Unwahrheiten und unverantwortlichem Handeln gesprochen. Erinnern Sie sich bitte daran - es ist vorhin schon einmal gesagt worden -, dass Frau Merkel Castor-Transporte gestoppt hat, im selben Atemzug allerdings - da fange ich dann an, darüber zu grübeln, wie weit die fachliche Kompetenz der damaligen Bundesregierung überhaupt in der Lage war, eine einzige Entscheidung zu treffen - Plutonium als Backpulver verwendet, Entschuldigung!, bezeichnet hat. Jeder, der die Geschichte Gorlebens kennt, kennt auch diese Geschichte von Frau Merkel. ({4}) Aber Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, geben im Augenblick sozusagen den Biedermann, nachdem Sie in dem Bereich der Nuklearpolitik und der Entsorgung 16 Jahre lang - das hat Ihnen der Umweltminister an einigen klassischen Beispielen bereits klargemacht - verdrängt, versäumt, vermieden, zum Teil verschlafen und verschlampt haben. Das ist die Realität. ({5}) - Wissen Sie, Herr Laufs, Sie haben den Menschen in einem der Bereiche, die in der Politik am sensibelsten behandelt werden sollten, bei der Regierungsübernahme durch Rot-Grün hinterlassen: ungelöste Probleme im Zusammenhang mit der nuklearen Entsorgung, eine verfehlte Energiepolitik und ein Desaster in Sicherheitsfragen. Trotzdem fordern Sie hier immer wieder die Erledigung all dieser Punkte innerhalb von zwei Jahren von einer Regierung, deren Tendenzen und Meinungen Sie 16 Jahre lang vehement bekämpft und zum Teil als absurd in die Ecke gestellt haben. Das ist die Realität. ({6}) Deshalb wundert es mich auch, dass diese Debatte heute ausgerechnet von Ihrer Seite verlangt wurde. Auch auf die Atomgesetznovelle haben Sie selbst, Herr Laufs, hingewiesen. Darin steht aber auch, dass von der Bundesregierung ein Entsorgungskonzept festgeschrieben und umgesetzt werden soll. Allerdings wissen Sie genau wie ich, dass diese Konzepte in der Zwischenzeit, auch unter Ihrer Regierung, mehrfach grundsätzlich geändert wurden. Das Resultat ist, dass es bis heute keinen geregelten Weg einer Endlagerung gibt. Das muss man feststellen. Aber die Frage, warum das so ist, sollten Sie gelegentlich auch sich selber stellen, vor allen Dingen wenn Sie sich hier vor dem Parlament und in Anfragen dazu aufschwingen wollen, Vorwürfe zu fabrizieren und denen, die heute Verantwortung tragen, immerfort zu sagen: Ihr müsst, ihr müsst, ihr müsst! Nur, es gibt einen Unterschied: Sie haben damals unter Ihrer sich selbst gesetzten Prämisse - nämlich ein Zubau von AKWs, ein Immer-Mehr an Energie, die wir im Prinzip teilweise gar nicht gebraucht haben -, damit die Entwicklung so weitergeht, wie Sie sie gewollt haben, ganz schnell bestimmte Fakten künstlich schaffen müssen, um der Öffentlichkeit, dem Parlament und all denen, die damit befasst sind, vorzugaukeln, wir hätten einen Entsorgungspfad. Nur, es gab ihn nicht. ({7}) Da sage ich Ihnen: Allein die Tatsache, dass Sie es riskiert haben, Gorleben immer wieder als den Schlüssel hinzustellen, ist im Grunde, wenn man sich das heute überlegt, eine der größten - ja, man muss fast dieses Wort benutzen - Gemeinheiten: auf der einen Seite allen denen gegenüber, die um eine ehrliche Politik gerungen haben, und auf der anderen Seite auch den EVUs gegenüber, die Sie damit immer wieder in die Verlegenheit bringen, ihrerseits heute feststellen zu müssen, dass das alles gar nicht gestimmt hat. Dass die EVUs einem Ausstieg zustimmen - auch wenn er noch viele Jahre dauert -, hat auch etwas mit Finanzen zu tun, Herr Laufs. Jeder, der nämlich zu dem Ergebnis kommt, dass sich etwas nicht mehr rechnet, sagt: Dann mache ich Schluss damit! Das ist die Konsequenz. Die EVUs sagen: Das rechnet sich nicht, also machen wir Schluss damit. ({8}) - Das ist ja möglich. - Sie haben sich ja immer als die Partei der Wirtschaft bezeichnet; dann akzeptieren Sie wenigstens das. ({9}) - Wenn ich mich richtig daran erinnere, bin ich es im Augenblick, der hier weitgehend die Möglichkeit ausschöpfen sollte, zu reden. Wenn Sie mir zuhören, dann will ich das auch gern tun. Sonst rennen mir hier die Sekunden weg. Die Entsorgung von nationalem Nuklearabfall ist nicht nur Aufgabe und Pflicht derjenigen, die auf der Bundesebene die Verantwortung tragen, ({10}) sondern sie ist auch ein Problem von Menschen und von Regionen, Herr Laufs. Auch dies will ich Ihnen an einem kleinen Beispiel klar machen. Die Klage des Landes Bayern gegen den Erkundungsstopp in Gorleben begründen die Bayern damit, die Bundesregierung wolle die Aufgaben bei der Entsorgung von Atommüll einseitig zulasten der Länder verschieben. Wissen Sie was? Die Erde ist eine Scheibe und wenn sie wackelt, verrutscht Bayern. ({11}) Das ist die Konsequenz aus dieser Begründung. ({12}) Eine andere Konsequenz kann ich daraus nicht ableiten. ({13}) Das Moratorium für Gorleben umfasst zwei Bereiche: Erstens, der Standort wird offen gehalten, und zweitens, es gibt Zeit und Raum zur Klärung von Zweifelsfragen, die nicht nur mit Gorleben, sondern insgesamt mit einer vernünftigen Entsorgung zusammenhängen. Die Rücknahme von Kokillen aus La Hague - völkerrechtlich unumstritten; das muss so sein - wird auch unter der Verantwortung dieser Regierung selbstverständlich durchgeführt. Die ersten Transporte dafür sind, wie Sie wissen, an den Bau der Jeetzelbrücke in der Nähe von Hitzacker gekoppelt. Das wird klappen. Im Gegensatz zu der Zeit Ihrer Regierung wird es allerdings darüber hinaus in der Bundesrepublik zukünftig - bis auf die Transporte, die uns vom Völkerrecht her vorgegeben sind - keine Transporte mehr geben, sondern es gibt die Zwischenlagerung am Standort der AKWs. Und alle Betreiber haben - wie Sie vorhin gehört haben - Anträge gestellt. ({14}) Es gibt nicht einen Betreiber, der keinen Antrag gestellt hat. Die Vorbereitung, die Suche und auch die Untersuchung von alternativen Endlagerstandorten ist - wenn Sie es so ausdrücken wollen - durch die eingesetzte Arbeitsgruppe im Gange. Nur gibt es auch da einen erheblichen Unterschied zu der Zeit Ihrer Regierung. Das Bundesumweltministerium und die die Regierung tragenden Parteien legen äußerst großen Wert darauf, von vornherein auch eine Beteiligung von Menschen und Regionen möglich zu machen. Das heißt, die Geheimniskrämerei, die Sie an vielen Stellen einfach durch das Schaffen von Fakten immer wieder durchzusetzen versucht haben, wird es mit uns nicht geben. ({15}) Die Suche und Erkundung möglicher alternativer Standorte wird weder davon abhängig sein, ob Bayern damit einverstanden ist, noch davon, ob sich das Land Niedersachsen fröhlich pfeifend aus Gorleben verabschieden kann, was ich den Niedersachsen wünschte. Aber das eine wie das andere wird nicht die Grundlage für die Entscheidungen sein, die im Laufe der nächsten Jahre getroffen werden, und zwar aus wissenschaftlichen und aus Notwendigkeitserwägungen heraus, nicht aus Bequemlichkeitsgründen, weil da eine Zonengrenze ist oder weil da ein Herr Albrecht sowieso ein großes Zentrum haben wollte oder ähnliche Geschichten. Ich glaube, wir sind an einer Stelle, an der man den Begriff der Verantwortung im Parlament neu definieren müsste. Wir haben nicht die Verantwortung für den kurzen Moment, mögen wir ihn auch als Dauer bezeichnen. Es geht um mehr als um „Weg mit dem Zeug!“ Dauer ist ein bisschen mehr als ein Leben. Die Verantwortung für die Beseitigung radioaktiven Abfalls, Drecks und Mülls, den wir, meine Generation und Ihre Generation, Herr Laufs, zu verantworten haben, nicht meine Kinder und meine Enkel, drückt auf den Schultern schwerer als manch andere Last. Wenn wir nicht bereit sind, uns dieser Verantwortung zu stellen, sie anzunehmen und zu akzeptieren, dann werden wir voraussichtlich auch in der Zukunft nur nach Ihrer Methode mit Zuweisungen von Schuld argumentieren. Ich kann Sie nur einladen, an der Stelle mitzumachen, an der es allen beteiligten Parlamentariern Ernst ist, nämlich diese Verantwortung anzunehmen und in diesem Parlament gemeinsam Dauerlösungen zu schaffen, die ungefährlich sind und die Perspektiven für die Zukunft bieten. Vielen Dank. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner dieser Debatte ist der Kollege Franz Obermeier für die CDU/CSU-Fraktion.

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Vor eineinhalb Jahren haben wir die Große Anfrage „Zukunft der friedlichen Nutzung der Kernenergie - Zukunft der Entsorgung“ der Bundesregierung vorgelegt. Bis heute haben wir nichts bekommen. Nach mehreren Vertagungsanträgen, denen wir zugestimmt haben, haben wir jetzt nicht mehr zugestimmt. ({0}) Deswegen reden wir heute über dieses Thema. ({1}) Der Herr Bundesminister verdreht hier die Dinge und deswegen möchte ich sie klarstellen. ({2}) Der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist ein schlüssiges Entsorgungskonzept auf alle Fälle sehr wichtig. Nachdem die Bundesregierung erklärt hat, dass das Konzept der alten Bundesregierung nicht tauglich sei, ({3}) fragen wir: Wo ist das Konzept der Bundesregierung? ({4}) Sie sind jetzt zwei Jahre im Amt und es ist nichts in Sicht. ({5}) Sie sind nicht in der Lage und vielleicht auch nicht willens, Ihr Konzept auf den Tisch zu legen, sodass wir darüber reden könnten. ({6}) - Nein, es ist auch nicht sichtbar. ({7}) Seit Beginn der friedlichen Nutzung der Kernenergie hat die im Grundgesetz festgelegte Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern, die bei Planung und Umsetzung aufeinander angewiesen sind, zu einer gemeinsamen Verantwortung geführt. ({8}) Seit 1979/80 und in Ergänzung dazu 1990 sind einstimmige Beschlüsse des Bundes und der Länder Grundlage für ein Entsorgungskonzept gewesen. ({9}) Gemeinsame Gremien haben alle Fragen der Atomaufsicht geregelt. ({10}) Das ist die Grundlage. ({11}) Wenn man heute, wie es der Bundesumweltminister tut, sagt, dass sich die südlichen Länder Deutschlands aus der Entsorgung verabschiedeten und mit dem Müll aus den Atomkraftwerken zu tun haben wollten, ({12}) dann muss man schlicht und einfach sagen, dass es eine Vereinbarung gibt. Ich rechne damit, dass auch diese Bundesregierung etwas von Vertragstreue hält. Weil mich der Herr Kollege hier so anschaut: ({13}) Man möchte schon Mitleid bekommen, was da in Niederbayern alles inszeniert wird. ({14}) Ich wäre an Ihrer Stelle allerdings ein bisschen vorsichtig mit meinen Aussagen. Denn mir liegt hier ein Zeitungsbericht vor, ({15}) in dem Herr Verheugen, der bekanntlich Ihnen angehört, sich zu dem Sicherheitsrisiko in Temelin geäußert hat. Das möchte ich Ihnen vorlesen: ({16}) Der EU-Kommissar Günter Verheugen hat keine Bedenken gegen die Inbetriebnahme des umstrittenen tschechischen Kernkraftwerkes in Temelin. Ein neues Gutachten der Deutschen Gesellschaft für Reaktorsicherheit belege, dass es in dem Meiler keine Sicherheitsprobleme gebe. ({17}) Ich wäre sehr dankbar, wenn der Umweltminister dieses Gutachten der GRS vorlegen würde und man darüber eine Debatte führen könnte. Ist es denn wirklich so, dass es keine Sicherheitsrisiken gibt oder dass, wie Günter Verheugen weiter ausführt, „Temelin nach allen technischen Veränderungen vermutlich das sicherste Atomkraftwerk Europas wird“? Da muss man sich schon fragen, was hier getan wird. Ich möchte auf alle Fälle eine Debatte über die Sicherheitsrisiken in Temelin führen, um die Widersprüche SPD-interner Natur aufzuklären. ({18}) Wie gut sich die Energiepolitik der rot-grünen Bundesregierung entwickelt, ist auch einem Pressebericht zu entnehmen, nach dem die VEAG bereits einen Vertrag mit dem Kernkraftwerk Temelin geschlossen hat. ({19}) Jetzt sind wir so weit, dass wir die Kernkraftwerke hier in Deutschland, die die sichersten sind, schließen bzw. stilllegen ({20}) und von den Ihrer Aussage nach offenbar unsicheren ausländischen Kraftwerken Strom kaufen. Das sollten Sie einmal den Menschen erklären; wir verstehen das nicht. ({21}) Das, was die Bundesregierung hier treibt, ist auf alle Fälle nicht logisch und nicht schlüssig. Das Moratorium von Gorleben ist nichts anderes, als dass sich die Bundesregierung aus dem 1979 einvernehmlich beschlossenen Entsorgungskonzept verabschiedet, ohne zu wissen, wie es genau weitergeht. ({22}) - Das wissen Sie nicht. - Die Internationale Länderkommission Kernenergie hat festgestellt, dass der Salzstock in Gorleben auf alle Fälle weiter erkundet werden soll, weil man dort kurz vor dem Abschluss der Erkundungsmaßnahmen steht und es überhaupt keinen Sinn macht, diese jetzt zu unterbrechen. ({23}) Ich sage Ihnen: Wie hier vorgegangen wird, lohnt wohl einer verfassungsrechtlichen Untersuchung. Es gibt eine ganze Reihe namhafter Verfassungsrechtler, ({24}) die dieses Vorgehen für höchst bedenklich halten. Ich bin der Bayerischen Staatsregierung ausgesprochen dankbar, dass sie in dieser Woche einen diesbezüglichen Kabinettsbeschluss gefasst hat. Wir haben bereits 2,4 Milliarden DM in eine Untersuchung von Gorleben investiert. Das durch die Bundesregierung beschlossene Moratorium ist folgendermaßen zu bezeichnen: Die Bundesregierung wirft Geld zum Fenster hinaus, das sie selber nicht verdient hat. ({25}) Ähnlich ist es beim Endlager Konrad. Auch hier wurde wahnsinnig viel Geld ausgegeben. Dies alles spielt offenbar keine Rolle. Alles wird zurückgedreht, ungeachtet dessen, welche Wirkungen das auf die Volkswirtschaft und damit auf unsere Bürger hat. ({26}) Bei diesem Vorgehen zeigt sich wieder einmal mehr die Doppelzüngigkeit der Politik der Bundesregierung: Ihre Entsorgungspolitik entbehrt jeglicher Grundlage. Bundesumweltminister Trittin ist mit seiner Atomausstiegspolitik im Kern gescheitert. Denn die nach „nur“ einjähriger Wartezeit vorgelegten Antworten auf die Große Anfrage „Energiepolitik für das 21. Jahrhundert Energiekonzept der Bundesregierung für den Ausstieg aus der Kernenergie“ sind nicht so, wie es der rot-grüne Umweltminister gerne gehabt hätte. Die Bundesregierung stellt nämlich fest, dass die deutschen Kernkraftwerke sicher sind, dass sie ein hervorragendes Personal haben und dass die deutsche Kernenergie keiner neuen Risikobewertung bedarf, da keine neuen Risikoerkenntnisse vorliegen. Diese Worte der Bundesregierung sollten Sie zur Kenntnis nehmen. ({27}) Im Übrigen ist das Kernenergieausstiegsszenario sowieso äußerst fragwürdig angesichts dessen, dass das letzte Kernkraftwerk 2018 vom Netz gehen soll. Da fragt sich doch jeder, was das wirklich bedeutet. ({28}) - Ich sage nur, dass die Ausstiegstheorie höchst fragwürdig ist; von Zusage kann ich nicht reden. Die Bundesregierung schreckt auf der einen Seite nicht davor zurück, immer wieder zu behaupten, dass das bisherige Entsorgungskonzept gescheitert sei, ohne dafür Anhaltspunkte oder Beweise vorzulegen. Auf der anderen Seite ist die Bundesregierung nach nunmehr gut zwei Jahren nicht in der Lage, ein alternatives Konzept vorzulegen. Ich kann Ihnen sagen, warum Sie meinen, dass das Entsorgungskonzept gescheitert sei: Der Bundesumweltminister fürchtet nichts mehr als einen Castor-Transport und die dementsprechenden Krawalle. Denn damit tut er sich schwer: Vorhin hat er ausgeführt, dass er die Proteste bei jetzigen Castor-Transporten nicht billige. Es muss mir einmal jemand erklären, warum diese Castor-Transporte andere sein sollen als die vor einigen Jahren. ({29}) Aber ich weiß schon, warum er es nicht mehr billigt. War er nicht Mitinitiator der Krawalle bei den Castor-Transporten zurzeit der CDU/CSU-Regierung? Jetzt hat er ein Problem, wenn er die Transporte selber organisiert. Mittlerweile ist es ein Konzept, dass die Ängste erst geschürt werden und dass später dann nichts mehr getan wird, um diese Ängste bei den Menschen abzubauen. Ich kann nur nochmals betonen: Ein Alleingang ohne Kooperation mit den Ländern und ohne Einbindung der Energieversorgungsunternehmen im Entsorgungskonzept ist verfassungspolitisch bedenklich. Darüber hinaus fordern wir die Bundesregierung auf, ein Programm für die Erhaltung der personellen Kompetenz - ich meine Forschung und Lehre - in der Kerntechnik zugunsten der Sicherheit der Anlagen vorzulegen. Schließlich muss die Bundesregierung die soziale Verantwortung für die Folgen des Ausstiegs aus der Kernenergie sowie für das Moratorium in Gorleben übernehmen. Danke schön. ({30})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat noch einmal der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin. Zur Erläuterung: Er hatte vorhin seine Redezeit nicht ausgenutzt.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wollte Ihnen, Herr Kollege, nur eine kurze Antwort geben. Erstens. Es gibt ein Gutachten der GRS. Es ist eindeutig: Die Anlage in Temelin ist nach deutschem Recht nicht genehmigungsfähig. Da brauchen Sie keinen Verheugen und auch keine weiteren Gutachten; das ist einfach eine Tatsache, die ich feststelle. Zweitens. Wir werden auch diese Frage - das betrifft etwa die Probleme, die es bei der grenzüberschreitenden Umweltverträglichkeitsprüfung gibt - in der nächsten Woche durch Frau Probst bei den anstehenden Konsultationen mit den Tschechen neu vortragen. Wir tun das konsequent und mit allem Ernst. Ich kann - um das in aller Deutlichkeit zu sagen - nicht akzeptieren, dass Sie jahrelang mit den Tschechen in dieser Frage kooperiert haben und sich jetzt hinstellen und bestimmte Bedenken äußern. Wissen Sie, was für ein Verdacht mich dabei beschleicht? Nachdem Sie die Frage der Sudetendeutschen nicht mehr thematisieren konnten, um gegen den Beitritt der Tschechischen Republik zur EU Stimmung zu machen, nutzen Sie nun das Atomkraftwerk Temelin. ({0}) Sicherheitsfragen in dieser Weise zu benutzen halte ich schlicht und ergreifend für nicht akzeptabel. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt dem Kollegen Obermeier das Wort.

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, Sie haben sich verhört. Ich habe keine Kritik an dem Sicherheitszustand des Kernkraftwerks Temelin geübt. ({0}) Ich habe Kritik an Ihnen geübt. Nach Verheugen besagt nämlich das Gutachten der GRS genau das Gegenteil von dem, was Sie gerade vorgetragen haben. ({1}) Ihre Politik führt dazu, dass wir in Deutschland verstärkt Strom importieren werden, dass hierzulande weitere Kraftwerke geschlossen werden. Das ist Ihre Politik. ({2}) Das herauszustellen war meine Intention. Sie sollten uns das Gutachten der GRS so schnell wie möglich zustellen, damit wir eine sachliche Debatte über die Sicherheit des Kernkraftwerkes Temelin führen können. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Herr Bundesminister Trittin, bitte.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr Kollege Obermeier, mit Verlaub: Ich schreibe viele Briefe in Sachen Temelin an Bürgerinitiativen und auch an meinen bayerischen Kollegen, Herrn Schnappauf. Ihre Äußerung, Sie hätten keine Einwände gegen die Sicherheitsstandards in Temelin, ({0}) ist eine Feststellung, ({1}) die in direktem Kontrast zu den Fragen und den Besorgnissen meines Kollegen Schnappauf steht. Vielleicht sollten Sie in dieser Frage einmal den Kollegen befragen. ({2}) Dann kämen Sie zu einer etwas anderen Auffassung als zu der, die Sie hier zum Besten gegeben haben. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4644 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einver- standen? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 e auf: a) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P. Einrichtung eines Deutschen Instituts für Menschenrechte - Drucksache 14/4801 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rudolf Bindig, Heide Mattischeck, Rolf Stöckel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Claudia Roth ({0}), Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Abschaffung der Todesstrafe in den USA - Drucksache 14/4800 - c) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Flüchtlingsschutz ist Menschenrechtsschutz - Drucksache 14/4884 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({2}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung 5. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen - Drucksache 14/3739 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Gegen die Todesstrafe in den USA - Keine Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal - Drucksachen 14/3196, 14/4642 Bundesminister Jürgen Trittin Berichterstattung: Abgeordnete Heide Mattischeck Dr. Angelika Köster-Loßack Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch; dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die Fraktion der SPD ist der Kollege Rudolf Bindig.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir führen diese Debatte zum bevorstehenden Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember. Wir haben dafür mehrere Anträge und den Menschenrechtsbericht der Bundesregierung vorliegen. ({0}) Menschenrechtspolitik hat nach der Überwindung des Ost-West-Gegensatzes ohne Zweifel an Bedeutung und Wirksamkeit gewonnen. Menschenrechtspolitik entwickelt sich immer mehr zu einem wichtigen Politikbereich mit eigenen Institutionen und Instrumenten. Dem Wesen nach stellt sie eine wertbezogene Grundlage fast aller Politikbereiche dar und muss sich als Querschnittsaufgabe verstehen. Wertorientierter Pragmatismus ist erforderlich; dann lassen sich auch Erfolge erzielen. Dies hat sich auch bei der Ausarbeitung der heute zu beratenden Anträge gezeigt. Menschenrechtspolitik braucht Institutionen, Apparate und Instrumente. Der Deutsche Bundestag hat mit der Einrichtung eines ordentlichen Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu Beginn dieser Legislaturperiode seine Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten im Menschenrechtsbereich erheblich gestärkt. Heute soll ein weiterer wichtiger Schritt erfolgen. Wir wollen heute einen Beschluss zur Einrichtung eines Deutschen Instituts für Menschenrechte fassen. Wenn das Institut auch unter Mitwirkung der Politik entsteht, so soll es doch kein Instrument der Politik sein. Wir wollen uns für die Gründung eines unabhängigen Deutschen Menschenrechtsinstituts aussprechen. ({1}) Es soll eigeninitiativ und unabhängig von jedweden Vorgaben und Weisungen der Bundesregierung und anderer öffentlichen und privaten Stellen handeln. Der interfraktionelle Antrag ist das Ergebnis langer Arbeit. Bereits in der letzten Legislaturperiode haben wir - im Dezember 1997 - eine Anhörung unter dem Titel „Aufgaben europäischer Menschenrechtsinstitute - Überlegungen für ein Menschenrechtsinstitut in Deutschland“ durchgeführt, bei der wir international tätige Menschenrechtsorganisationen, Wissenschaftler und Nichtregierungsorganisationen nach ihrer Meinung gefragt haben. Aus der Anhörung und der Auswertung haben die Fraktionen damals noch unterschiedliche Folgerungen gezogen. SPD und Bündnis 90/Die Grünen hatten sich bereits in der 13. Legislaturperiode in einem Antrag für die Errichtung eines Menschenrechtsinstituts ausgesprochen, während CDU/CSU und F.D.P. die Einrichtung eines Deutschen Koordinierungsrates für Menschenrechte präferierten. In der Koalitionsvereinbarung zu Beginn dieser Legislaturperiode wurde festgelegt, dass „die Bundesregierung die Einrichtung eines unabhängigen Instituts für Menschenrechte in Deutschland unterstützt“. Wir haben damit erneut einen Dialog zwischen den Fraktionen im Bundestag, aber auch und vor allem mit Einrichtungen der Zivilgesellschaft, vor allen Dingen mit dem Forum Menschenrechte, welches wichtige konzeptionelle Vorarbeiten und Ideen eingebracht hat, und mit Vertretern der Wissenschaft geführt. Abgestimmt wurde das Konzept auch mit sieben Ministerien, wobei vor allem das Bundesministerium der Justiz wichtige Beratungs- und Unterstützungsleistungen erbracht hat. ({2}) Es hat sich gelohnt, den Beratungs- und Diskussionsprozess so umfassend anzulegen. Das erarbeitete Konzept für das Deutsche Institut für Menschenrechte findet jetzt Unterstützung durch das Forum Menschenrechte, die Wissenschaft und alle Fraktionen dieses Hauses. ({3}) Dies ist sehr wichtig; denn eine solche Einrichtung wird zwar zu Zeiten einer bestimmten politischen Konstellation geschaffen, muss aber so breit akzeptiert sein, dass sie „wetterfest“ in der gesellschaftlichen und politischen Landschaft verwurzelt ist. Welche Aufgaben soll das Institut wahrnehmen? Bedarf besteht nach dem gemeinsam erarbeiteten Konzept in sechs Bereichen. Erste Aufgabe ist die Information und Dokumentation, damit für die in der Menschenrechtsarbeit tätigen Personen, Stellen und Organisationen sowie für Wissenschaft und Medien der Zugang zu Informationen über die Lage der Menschenrechte verbessert werden kann. Zweitens soll der Forschungsbereich des Instituts zur Qualifizierung der Menschenrechtsarbeit beitragen. Diesem Ziel können besonders Studien förderlich sein, mit denen Strategien zur Vorbeugung, Vermeidung und Bewältigung menschenrechtsverletzender Situationen erarbeitet werden. Eine dritte Aufgabe ist die Politikberatung. Die anwendungsorientierte Ausrichtung des Instituts soll es befähigen, Vertreter von Politik und Gesellschaft in Menschenrechtsfragen zu beraten und Handlungsstrategien zu empfehlen. Vierte Aufgabe ist die menschenrechtsbezogene Bildungsarbeit im Inland. Fünfte Aufgabe soll die internationale Zusammenarbeit sein. Dabei liegen mögliche Arbeitsfelder im Bereich der Zivilgesellschaft und in der staatlichen Verwaltung anderer Länder. Sechstens soll das Institut den Dialog und die Zusammenarbeit von staatlichen und nicht staatlichen Institutionen und Organisationen, die sich in Deutschland mit Menschenrechten beschäftigen, fördern. Das ist wahrlich ein anspruchsvolles Aufgabenfeld. Die nächsten zügig anzugehenden Aufgaben werden sein, den Verein zu gründen, die Gründungsgremien einzurichten und in der Menschenrechtsarbeit erfahrene Personen als Gründungsdirektoren einzusetzen. Die Gremien sollen mehrheitlich mit Vertretern nicht staatlicher zivilgesellschaftlicher Bereiche besetzt werden. In ihnen soll sich die weltanschauliche und politische Pluralität der mit Menschenrechtsfragen befassten staatlichen und nicht staatlichen Stellen widerspiegeln. Wir wünschen dem Deutschen Institut für Menschenrechte, dass es im Interesse seiner wichtigen und schwierigen Aufgabe blühen, wachsen und gedeihen möge. Ich hoffe, dies hört auch der Finanzminister mit Freuden. ({4}) Hierfür können wir heute die Grundlagen schaffen. Für die Etablierung und Festigung des Instituts und für die Schaffung seines Ansehens und Gewichts werden die Gremien des Vereins und die Persönlichkeiten, die im Deutschen Institut für Menschenrechte arbeiten, zu sorgen haben. Wir hoffen, dass sich das Institut in unserer demokratischen Gesellschaft so verortet, dass es seiner Aufgabe, die Menschenrechte aktiv zu fördern, voll gerecht werden kann. Dabei muss uns bereits heute bewusst sein, dass, wenn das Institut seine Aufgabe als unabhängige Einrichtung wirklich inhaltlich wahrnehmen wird, ganz gewiss der Tag kommen wird, an dem es sich auch mit der praktischen Politik kritisch auseinander setzen wird. Dies können, müssen und wollen wir ertragen. Wir sollten sogar etwas stolz darauf sein; denn Kritik an der Politik ist das Zeichen dafür, dass das Deutsche Institut für Menschenrechte seine Aufgaben ernst nimmt und seinen eigenen Weg gefunden hat. In diesem Sinne wünsche ich - ich denke, wünschen wir alle - dem Deutschen Institut für Menschenrechte eine erfolgreiche Arbeit. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hermann Gröhe.

Hermann Gröhe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002666, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen. Liebe Kollegen! Dass wir in der heutigen Debatte zum Tag der Menschenrechte über einen Antrag zur Einrichtung des Deutschen Instituts für Menschenrechte entscheiden, den die Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gemeinsam einbringen, macht diesen Tag zu einem guten Tag für die Menschenrechtsarbeit in Deutschland. ({0}) Ich möchte gleich zu Beginn meiner Ausführungen Ihnen, Herr Kollege Bindig, aber auch den Kolleginnen Köster-Loßack und Leutheusser-Schnarrenberger für die gute, ebenso sachorientierte wie menschlich vertrauensvolle Zusammenarbeit danken, die diese gemeinsame Einbringung ermöglicht hat. Nachdem die Abstimmung zwischen den verschiedenen Ministerien der Bundesregierung über Details der Institutskonzeption Monate in Anspruch genommen hat, haben wir zwischen den Berichterstattern im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe strittige Fragen in wenigen Wochen vernünftig klären können. Bei uns stimmt das Klima eben. Dafür bin ich dankbar. Hilfreich bei diesem Abstimmungsprozess war auch das beharrliche Werben, Nachhaken und Unterbreiten von Vorschlägen der im Forum für Menschenrechte zusammengeschlossenen Nichtregierungsorganisationen - hilfreicher als manches vorschnelle Interview, das gelegentlich die parlamentarische Federführung bei diesem Projekt in den Hintergrund treten ließ. Dank gebührt den Nichtregierungsorganisationen, die vor drei Jahren einen ersten Konzeptionsentwurf für ein derartiges Institut vorlegten, aber nicht nur für ihre unverdrossene Lobbyarbeit in dieser Sache. Menschenrechtsarbeit lebt ganz entscheidend von dem unermüdlichen Einsatz vieler, die sich - und dies vor allem ehrenamtlich - für Menschenrechte, für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen, aber auch für präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Menschenrechtsverletzungen einsetzen. Dass die Menschenrechte völkerrechtlich immer umfassender entfaltet und verankert wurden, dass immer neue Anstrengungen unternommen werden, um sie tatsächlich durchzusetzen - ich nenne nur die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofes, die uns vor wenigen Wochen in diesem Hause beschäftigt hat -, dass sich schließlich heute selbst die schlimmsten Unterdrücker und Menschenschinder durch eine kritische Weltöffentlichkeit herausgefordert sehen, ist ganz wesentlich dem Wirken der vielen Nichtregierungsorganisationen im Menschenrechtsbereich zu verdanken. Dafür sind wir dankbar. ({1}) Das Deutsche Institut für Menschenrechte wird diese wichtige Arbeit der Menschenrechtsorganisationen in Deutschland, aber auch die Arbeit der Medien, der Wissenschaft und der Politik in diesem Bereich begleiten und qualifizierend unterstützen. Dies wird zum Beispiel durch eine internetgestützte Dokumentation vorhandener Datenbestände, eine Sammlung von Verträgen und Entschließungen der Rechtsprechung sowie diverse Studien oder Veranstaltungen im Rahmen der Politikberatung oder der Bildungsarbeit geschehen. Ebenso ist die Begleitung der internationalen Menschenrechtsmechanismen vorgesehen. Unserer Fraktion war es in den Gesprächen der letzten Woche sehr wichtig, zu betonen, dass das Menschenrechtsinstitut die Arbeit der verschiedenen Akteure im Menschenrechtsbereich unterstützen, vernetzen und subsidiär ergänzen soll. Wir wollen die enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit des Instituts mit Nichtregierungsorganisationen. Die Sorgen kleinerer Organisationen vor einer gleichsam staatsfinanzierten größeren Konkurrenz haben wir sehr wohl vernommen, und eine derartige Konkurrenzsituation soll vermieden werden. Wir wollen eine enge Zusammenarbeit mit den entsprechenden universitären Einrichtungen. Ich nenne das Institut für Menschenrechte der Universität des Saarlandes, das Menschenrechtszentrum im nahen Potsdam oder das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. - Einrichtungen, die weiterhin der Unterstützung aus dem Bundeshaushalt bedürfen. Wir wollen schließlich eine enge Vernetzung mit der wertvollen Arbeit der politischen Stiftungen, beispielsweise der Stiftung Wissenschaft und Politik. Wenn wir uns für ein klar umgrenztes Profil des Menschenrechtsinstituts einsetzen, dann wollen wir beileibe kein schwaches Institut - im Gegenteil. Wir wollen aber, dass es seine zukünftige Stärke nicht zuletzt aus der Unterstützung der vielen Akteure im Menschenrechtsbereich erhält. Diese Vorgaben sehen wir im Rahmen des jetzt vorgelegten Konzepts verwirklicht, dem wir daher gerne zustimmen werden. Nach unserem heutigen Beschluss wird es ganz entscheidend darauf ankommen, hervorragende Frauen und Männer für die Mitarbeit in diesem Institut, nicht zuletzt für seine Leitung, zu gewinnen. Denn der Erfolg dieses Instituts im Hinblick auf seine sehr anspruchsvollen Ziele wird ganz wesentlich von den richtigen Weichenstellungen gerade in der Aufbauphase abhängen. Meine Damen und Herren, die Einrichtung des Menschenrechtsinstituts ist ein wichtiger Schritt zur Verstärkung der Menschenrechtsarbeit in unserem Land. Entscheidend wird die kontinuierliche Förderung seiner Arbeit sein, aber auch unsere Bereitschaft, eine verstärkte Politikberatung - auch die von Ihnen, Herr Kollege Bindig, erwähnten kritischen Anmerkungen zu unserem Tun - zu wollen, ernst zu nehmen und daraus auch Konsequenzen zu ziehen. Im Beispiel gesprochen: Der beste Kongress eines Menschenrechtsinstituts über Präventionsstrategien kann nicht wettmachen, wenn gleichzeitig auf dem krisengeschüttelten afrikanischen Kontinent Botschaften geschlossen werden. ({2}) Neue Einrichtungen und wohlklingende Namen dürfen nicht zum Alibi werden. Es gilt vielmehr, die mit der Einrichtung des Menschenrechtsinstituts verbundenen Chancen dauerhaft zu nutzen. Ich sage das so deutlich, weil der Menschenrechtsausschuss in diesem Haus, auf den immer wieder gern mit Stolz verwiesen wird, noch immer um einen angemessenen Stellenwert ringen muss, und zwar sowohl im Hinblick auf seine Beachtung durch die Regierung, wenn seine Mitglieder durch Presseanfragen von einer beabsichtigten Chinareise des Bundesaußenministers erfahren, als auch im Parlament selbst. Bei diesem Ringen des Ausschusses hat die Vorsitzende unseres Ausschusses, Claudia Roth, die volle Unterstützung des gesamten Ausschusses. ({3}) Unsere volle Unterstützung bei einem Ringen um einen höheren Stellenwert hätte auch der von uns menschlich überaus geschätzte Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung. Ich sage aber auch, er muss dieses Ringen, zumindest in seiner öffentlichen Wahrnehmung, erst noch aufnehmen. Das Schattendasein jedenfalls, das seiner Arbeit im Rahmen der rot-grünen Bundesregierung zugemutet wird, ist mit der Beteuerung, der Menschenrechtspolitik stärkere Beachtung schenken zu wollen, schlechterdings unvereinbar. Heute überweisen wir den 5. Menschenrechtsbericht der Bundesregierung an die zuständigen Parlamentsausschüsse. „Warten auf Godot“ titelte das „Journal“ von Amnesty International im Hinblick auf diesen Bericht, der im Oktober 1999 hätte vorgelegt werden müssen. Zwar bestritt Außenminister Fischer noch im März dieses Jahres in einem Brief an unseren Ausschuss das Vorhandensein eines solchen konkreten Vorlagetermines. Er vergaß dabei allerdings, dass der Deutsche Bundestag im Sommer 1996 in einem Beschluss seine Erwartung zum Ausdruck brachte, dass diese Berichte künftig so rechtzeitig dem Bundestag zugeleitet werden, dass eine Befassung innerhalb der Debatte zum Tag der Menschenrechte möglich ist. Dies geschah daraufhin mit dem 4. Bericht der Bundesregierung im Oktober 1997. Beantragt hatte diese ziemlich präzise Terminierung übrigens der Oppositionspolitiker Fischer, dessen markige Worte im Menschenrechtsbereich sich der heutige Außenminister gelegentlich wieder in Erinnerung rufen sollte. Eine derartige Vergesslichkeit dient der Sache der Menschenrechte ebenso wenig wie die Vorlage von Anträgen wenige Tage vor der heutigen Sitzung, durch die den Oppositionsfraktionen eine angemessene Beratungszeit verweigert wird. Wir wissen, dass wir bei unseren kritischen Anfragen zur Konsistenz und Glaubwürdigkeit der Menschenrechtspolitik der Regierung von vielen Nichtregierungsorganisationen unterstützt werden, die unsere Meinung teilen. Wenn diese Stimme durch die Unterstützung des Menschenrechtsinstitutes künftig eine Verstärkung erfährt, freuen wir uns sehr darüber. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Claudia Roth.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ja, Hermann Gröhe, ich finde auch, dass heute ein guter Tag für die Menschenrechte ist. Er ist gut, weil wir nicht, so wie jedes Jahr, eine Routinesitzung zum Tag der Menschenrechte abhalten, die niemanden so richtig interessiert, die keine realen Bezüge herstellt und von der außer schönen Worten relativ wenig übrig bleibt. Er ist gut, weil wir heute eine richtige Arbeitsdebatte haben, die auf Anträgen basiert. Er ist gut, weil wir heute mit einem Ergebnis abschließen werden, bei dem wir sicher über die richtigen Mittel und Instrumente zur Stärkung der Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte kontrovers diskutieren und streiten. Heute ist ein guter Tag für die Menschenrechte, weil wir nicht in einer Feierstunde zum 50. Geburtstag des UNHCR förmlich erstarren, bei der es auch überhaupt nicht nach Einbalsamierung oder Mottenkugeln riecht, sondern weil wir heute aktiv und sehr zukunftsorientiert den 14. Dezember 1950 erinnern, vergegenwärtigen ({0}) und auf heute übertragen, was die Bedeutung des UNHCR war und ist, welchen Wert die Genfer Flüchtlingskonvention, die Magna Charta des internationalen Flüchtlingsschutzes, hat und worauf sie beruht, nämlich auf der Überzeugung, dass Flüchtlingsschutz Menschenrechtsschutz ist. ({1}) Heute ist ein guter Tag, weil wir uns nicht auf das Lukas-Evangelium, Kap. 18 Vers 1 beziehen - Sie sehen, wir in Bayern sind bibelfest -, in dem der Pharisäer sagt: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie jene“, dass wir nicht sind wie jene. Vielmehr stellen wir uns heute in dieser Debatte der menschenrechtlichen Realität im Umgang mit Flüchtlingen in unserem Land und hinterfragen die Interpretation internationaler Verpflichtungen bei uns in Deutschland kritisch. Heute ist ein guter Tag, weil wir Fortschritte loben, weil wir Defizite benennen und Schutzlücken als das beschreiben, was sie sind und was damit passieren muss; sie müssen nämlich geschlossen werden. Menschenrechtspolitik lebt von der Glaubwürdigkeit und glaubwürdige Menschenrechtspolitik fängt immer zu Hause an. Die heutige Debatte ist ein Beitrag dazu. Menschenrechtspolitik ist immer auch eine Kultur des Einmischens; denn Menschenrechte kennen keine Grenzen und keine inneren Angelegenheiten. Es ist also nicht die Frage des Ob, sondern ausschließlich des Wie: wie man sich einmischt, und zwar auch im Verhältnis zu befreundeten Ländern. Wenn wir uns heute gegen die Todesstrafe in den USA aussprechen, dann ist das alles andere als ein antiamerikanischer Angriff, sondern ein wirklicher Freundschaftsdienst an Demokratie und Menschenrechten weltweit. ({2}) Heute ist ein guter Tag für die Menschenrechte, weil wir nicht mit einer langen Wunschliste dastehen, sondern weil diese Debatte mit sehr konkreten Ergebnissen enden wird. Damit weisen wir Menschenrechtspolitiker und -politikerinnen nach, dass wir nicht Romantiker und Träumer, sondern die eigentlichen Realpolitiker sind, weil wir Demokratiepolitik erfolgreich gestalten. Ein Beispiel dafür ist die Einrichtung des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Dies ist ein richtig gutes Ergebnis jahrelangen gemeinsamen Nachdenkens, Drängens sowie beharrlicher Ausdauer - auch das ist eine Primärtugend im Menschenrechtsbereich - innerhalb und außerhalb des Parlaments. Mit dem Menschenrechtsinstitut wird übrigens die Empfehlung der Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 umgesetzt, nationale Menschenrechtsinstitutionen aufzubauen. Ich danke auch im Namen meiner Fraktion allen, die daran so leidenschaftlich mitgewirkt haben. Auf den Abgeordnetenbänken, auf der Regierungsbank und auf der Tribüne sitzen ganz besonders leidenschaftliche Verfechter. ({3}) Wir haben jetzt die Chance, zu einer qualitativen Verbesserung der Menschenrechtsarbeit beizutragen, die Chance, staatliche Institutionen und NGOs zu vernetzen, Impulse zu geben, Brücken zu bauen und in die Gesellschaft hinein zu sensibilisieren - praxisorientiert und mit hohem Gebrauchswert. Wer jetzt fragt, ob das demokratische und rechtsstaatliche Deutschland denn überhaupt ein Menschenrechtsinstitut braucht, dem sage ich: Ja, und wie! Die Welle des Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus macht den Bedarf offenkundig. Demonstrationen sind sehr wichtig, aber sie reichen allein nicht aus. Zum „Aufstand des Anstands“ gehören auch Signale und Symbole, die deutlich machen, welchen Wert Art. 1 des Grundgesetzes hat, in dem es heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ein Menschenrechtsinstitut kann dazu beitragen, diese Fundamentalnorm unseres Gemeinwesens endlich wieder in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern. ({4}) Die ganze Bedeutung des Satzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ habe ich in den Todeszellen von Arizona bei einem Gespräch mit Karl LaGrand gespürt, der im letzten Jahr hingerichtet worden ist. Ich habe dort - weit weg von Deutschland und Europa - Stolz auf unsere Verfassung und auf die Werte empfunden, die ihr zugrunde liegen, Stolz darauf, dass wir auch aus historischer Erfahrung die Todesstrafe abgeschafft haben und dass Europa zu einem Kontinent ohne Todesstrafe geworden ist. Ich habe im Erleben des Grauens einer Hinrichtung begriffen, dass sich die Stärke eines Staates, einer Demokratie auch darin zeigt, dass sie Gnade erweisen kann und der Staat nie das grundlegendste Menschenrecht, das Recht auf Leben, verletzen darf. ({5}) Mit unserem Antrag gegen die Todesstrafe wollen wir den Widerspruch zwischen US-amerikanischem Anspruch, den Menschenrechten weltweit zum Durchbruch zu verhelfen, und der exzessiven Praxis der Todesstrafe, Claudia Roth ({6}) der finalsten Menschenrechtsverletzung überhaupt, aufzeigen. Wir kritisieren den enormen Anstieg der Zahl an Hinrichtungen in den USA, Fehlurteile und tödliche Justizirrtümer, die Fortführung sozialer und rassistischer Diskriminierung mit der Todesstrafe, die Hinrichtung von Minderjährigen, wie sie sonst nur noch in Pakistan, Nigeria, dem Iran, in Saudi-Arabien und dem Jemen existiert, sowie die Verhängung und Vollstreckung von Todesurteilen an Menschen mit geistigen Behinderungen. Mit diesem Antrag richten wir auch einen Appell an den neuen US-Präsidenten - sei es nun Bush oder Gore -, auf die Todesstrafe zu verzichten oder zumindest ein Moratorium zu verhängen, die Straftatbestände deutlich zu reduzieren und Personengruppen wie Minderjährige oder geistig Kranke von Hinrichtungen auszunehmen. Wir appellieren, Todesurteile, an denen es erhebliche Zweifel gibt, zu revidieren und im Fall Mumia Abu-Jamal rasch die Wiederaufnahme des Verfahrens zu ermöglichen. ({7}) Ich unterstütze nachdrücklich das Verfahren, das die Bundesregierung am Internationalen Gerichtshof gegen die USA betreibt, weil es deutlich macht, dass internationale Konventionen nicht nur auf dem Papier gelten, sondern national umgesetzt werden müssen. Das Verfahren der Bundesregierung wird Wirkung haben; denn allen Europäern, die in US-amerikanischen Todeszellen sitzen, wurden ihre konsularischen Rechte und somit ein faires Verfahren vorenthalten. Menschen fliehen, weil ihr Leib und Leben in Gefahr ist. Sie fliehen, weil sie politisch verfolgt werden oder weil sie Opfer geschlechtsspezifischer Menschenrechtsverletzungen sind. Sie fliehen vor nicht staatlichen Akteuren und aus zerfallenen Staaten. Flucht ist die einzige Chance, ihr Überleben zu sichern. Sie alle sind Flüchtlinge und Schutzgewährung ist unsere Aufgabe. Bei der Definition des Flüchtlingsbegriffes hat sich in Deutschland eine Rechtsprechung entwickelt, nach der Verfolgung vom Staat ausgehen oder ihm zuzurechnen sein muss. Ich sehe darin einen Widerspruch zur Schutztheorie, wie sie von der großen Mehrheit der Vertragsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention sowie vom UNHCR vertreten wird, wonach oberstes Ziel der Schutz von Flüchtlingen ist, und zwar unabhängig von der Urheberschaft der Verfolgung. ({8}) Die deutsche Praxis führt dazu, dass nicht staatlich Verfolgte allenfalls den Status einer Duldung bekommen, der jedoch keine planbare Zukunftsperspektive und keine Sicherheit bietet. Wichtigster Punkt für uns ist daher, dass Flüchtlinge, die vor einer Bedrohung aus Gründen des Geschlechts sowie bei Bedrohung durch nicht staatliche Akteure und bei Schutzunfähigkeit bzw. Schutzunwilligkeit des Staates fliehen, das gleiche Recht auf Schutzgewährung erhalten sollen, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention vorsieht. Wir begrüßen in jüngster Zeit eingetretene Entwicklungen ausdrücklich als Schritte in die richtige Richtung. Als Beispiel nenne ich den aktuellen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu Afghanistan und Initiativen des neuen Präsidenten des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Dr. Schmidt, geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen stärker zu berücksichtigen. Mit unserem Antrag formulieren wir Schlussfolgerungen aus der Anhörung des Menschenrechtsausschusses zu nicht staatlicher Verfolgung und stellen darüber hinaus unzweideutig fest, dass die Genfer Flüchtlingskonvention die Basis des Asylrechts in Europa ist und die Einhaltung des Non-Refoulement-Gebotes der Genfer Flüchtlingskonvention es erforderlich macht, dass ein Schutzbegehren in einem effektiven, fairen und rechtsstaatlichen Verfahren überprüft wird. Ich bin mir sicher, dass aus Sicht der GFK und aus Sicht Europas der Verfolgungsschutz, wie er im Asylgrundrecht in Verbindung mit der Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes verankert ist, auch weiter zu gewährleisten ist. Forderungen aus der CDU/CSU nach einer Institutsgarantie sind weder völkerrechtlich machbar noch europäisch nötig und mit uns politisch auch nicht umsetzbar. ({9}) Ich bin mir sicher - ich sehe Herrn Wetterwald auf der Tribüne -: Das schönste Geburtstagsgeschenk für den UNHCR ist seine Stärkung in finanzieller und politischer Hinsicht sowie die Anerkennung seiner Autorität für die Überwachung und Interpretation der GFK. Auch dafür macht sich unser Antrag stark. Nicht zuletzt ermahnt er die Bundesregierung, die Vorbehalte zur Kinderrechtskonvention endlich zurückzunehmen, so wie es der Bundestag bereits vor einem Jahr beschlossen hat. Das wäre ein echtes Weihnachtsgeschenk für viele Flüchtlingskinder, deren Los sich dadurch deutlich verbessern würde und deren Los sich verbessern muss. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen schöne, friedliche und besinnliche Weihnachten. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Vielen Dank. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Sabine LeutheusserSchnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist, wie gesagt, guter Brauch, anlässlich des Jahrestages der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des Geburtstages des UNHCR im Bundestag eine menschenrechtspolitische Debatte zu führen. Heute ist es aber keine übliche, ritualisierte Debatte. Wir befassen uns zwar - wie auch sonst in Debatten - mit vielen verschiedenen Anträgen, die unterschiedliche Aspekte der Menschenrechtspolitik zum Gegenstand haben. Aber der entscheidende Antrag ist der gemeinsam von vier Fraktionen eingebrachte Antrag auf „Einrichtung eines Deutschen Instituts für Menschenrechte“. Claudia Roth ({0}) Es war nicht leicht und auch etwas langwierig, bis der Antrag vorlag, obwohl Europarat und UN-Menschenrechtskommission schon lange die Gründung nationaler Menschenrechtsinstitutionen empfohlen haben. Es ist gut, dass wir trotz früherer unterschiedlicher Auffassungen die Gründung des Deutschen Instituts für Menschenrechte als Verein gemeinsam tragen. Damit wird dieses Institut die Rückendeckung bekommen, die es für die Erfüllung seiner Aufgaben benötigt. ({1}) Die Debatten und die Beratungen im Ausschuss, die zwar von der Grundüberzeugung, dass es eines solchen Institutes bedarf, aber sehr wohl auch durch unterschiedliche Auffassungen in Einzelpunkten geprägt waren, haben gezeigt, dass es entscheidend darauf ankommen wird, dass das deutsche Menschenrechtsinstitut unabhängig, eigeninitiativ sowie frei von jeglichen Weisungen und Vorgaben arbeiten kann. Ich bin froh, dass es mir im Rahmen der konstruktiven Debatte im Ausschuss gerade auch mit Unterstützung des Forums Menschenrechte, durch die ich mich bestärkt fühlte, gelungen ist, diese Punkte immer wieder anzusprechen, sodass jetzt ein Antrag vorliegt, der deutlich macht, dass dies - Herr Bindig, Sie haben das schon angesprochen - jetzt die Grundlage für die Arbeitsweise dieses Menschenrechtsinstituts sein soll. Die Beratungen im Ausschuss über die Etatisierung, die immer wieder thematisiert wurde - ich bekenne mich dazu: Ich habe es immer wieder thematisiert -, dienten einzig und allein einem Zweck, nämlich festzustellen, wie regierungsunabhängig dieses Institut in Zukunft seine Aufgaben wahrnehmen kann. Es gibt viel zu tun. Wir haben in der heutigen generellen Debatte über Menschenrechte festgestellt, dass es auch in der Bundesrepublik Deutschland wichtige Aufgaben gibt, die von der Menschenrechtspolitik aufgegriffen werden müssen. Wir haben uns im Ausschuss, der jetzt ein eigenständiger Vollausschuss des Bundestages ist, neben der Menschenrechtslage in vielen Ländern auch mit der Menschenrechtssituation im Inland befasst. Ich glaube, aufgrund der Befassung im Ausschuss war es möglich, einen Antrag, der sich mit humanitären Aspekten der Flüchtlingspolitik in Deutschland befasst, zu initiieren und ihn hier in den Abendstunden vorzulegen. Es war notwendig, das zu tun, weil wir uns leider nach wie vor mit einer teilweise sehr restriktiven Handhabung der Bestimmungen für Flüchtlinge, insbesondere im Hinblick auf die Beendigung ihres Aufenthaltsstatus, und mit der rigiden Abschiebepolitik gerade des Freistaates Bayern auseinander setzen müssen. ({2}) Ich hoffe, dass dann, wenn das Menschenrechtsinstitut seine Arbeit aufgenommen und seine Gründungsphase hinter sich gebracht hat, ein besonderes Augenmerk auf folgende Fragen der Menschenrechtspolitik gerichtet wird: Reicht das allgemeine Bekenntnis aus, dass auch nicht staatliche Verfolgung und geschlechtsspezifische Verfolgung einen Schutz vor Abschiebung zur Folge haben, oder muss es gesetzliche Änderungen in diesem Bereich geben? Vor nicht allzu langer Zeit gab es eine Debatte über die Europäische Menschenrechtskonvention. Wir haben anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens ihre Bedeutung und ihre Verdienste gewürdigt. Im Rahmen der damaligen Debatte habe ich den Vorschlag formuliert, dass § 53 des Ausländergesetzes dahin gehend geändert werden soll, dass beim Abschiebeschutz nicht nur auf die EMRK, sondern auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Bezug genommen werden soll. Es ist gut, dass in dem vorliegenden Antrag genau dieser Punkt angesprochen wird. Das geschieht zwar nicht in der Form der Forderung nach einer Gesetzesänderung, aber es wird das Anliegen zum Ausdruck gebracht, die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in einen Zusammenhang mit der Frage des Schutzes von Flüchtlingen vor Abschiebung und vor Rückkehrverpflichtungen bzw. deren Vollzug zu bringen. Nach den Beratungen über die Ergebnisse der Anhörung zu Fragen der nicht staatlichen Verfolgung, die wir im Menschenrechtsausschuss durchgeführt haben, hätte ich mir angesichts der breiten Übereinstimmung unter den Ausschussmitgliedern gewünscht - das sage ich ganz ehrlich -, dass wir uns dort mit der Einbringung eines gemeinsamen Antrags „Flüchtlingsschutz als Menschenrechtsschutz“ befasst hätten. ({3}) - Das ist überhaupt nicht illusorisch, Herr Bindig. Durch die Bewertung der Anhörung zur nicht staatlichen Verfolgung und durch unsere Gespräche mit Bundesinnenminister Schily sowie mit Staatssekretären und Staatssekretärinnen des Innenministeriums ist uns, den Mitgliedern des Menschenrechtsausschusses, doch die Handlungsnotwendigkeit deutlich geworden. ({4}) Angesichts der konstruktiven Zusammenarbeit im Menschenrechtsausschuss wäre es doch besser gewesen, wenn auch Sie - vielleicht mit mehr Rückendeckung aus dem Haus - den Versuch unternommen hätten, Änderungen zu erreichen. Wenn die Vorlage an den Menschenrechtsausschuss und federführend an den Innenausschuss überwiesen wird, dann werden wir entscheidend mitarbeiten. Vielleicht schaffen wir es, mit dem zu gründenden Menschenrechtsinstitut im Rücken, Änderungen im Gesetz durchzusetzen, die wir im Moment nicht für möglich halten. Dasselbe gilt für andere Bereiche der Menschenrechtspolitik. Der Menschenrechtsbericht der Bundesregierung, dessen Beratung heute ebenfalls auf der Tagesordnung steht, befasst sich mit der Menschenrechtslage in anderen Ländern: zum Beispiel Indonesien, China, Tschetschenien und Osttimor. Wir sollten jetzt verstärkt gerade die Menschenrechtssituationen in einigen asiatischen Ländern auf die Tagesordnung der Sitzungen des Menschenrechtsausschusses setzen. Wir sollten kritisch nachfragen, was sich durch die Menschenrechtspolitik der Bundesregierung, im Kontext der EU und bilateral betrachtet, in diesen Regionen wirklich verändert hat. Wir müssen sehen, dass die MenschenSabine Leutheusser-Schnarrenberger rechtslage gerade im asiatischen Bereich, zum Beispiel in Indonesien, zum Teil nach wie vor so schlecht ist wie vor einem oder vor anderthalb Jahren. ({5}) Ich erhoffe mir vom Menschenrechtsinstitut nicht nur Beratung der Politik, sondern auch eine kritische Begleitung und Unterstützung im Hinblick auf die Menschenrechtsarbeit des Bundestages. Man sollte dort sehr kritisch das formulieren, was trotz eines gut gemeinten Anliegens, aber aufgrund anderer Interessen der Außen- und Wirtschaftspolitik bisher nicht durchgesetzt werden konnte. Natürlich unterstützt die F.D.P.-Bundestagsfraktion den Antrag zur Abschaffung der Todesstrafe. Er liegt in der bewährten Kontinuität der Beratungen des Ausschusses. In der 13. Legislaturperiode lag ein in dieser Richtung formulierter Antrag zur Beratung vor. Herr Hübner, wir werden hier den Antrag der PDS unterstützen, auch wenn es systematische oder andere Bedenken gibt. ({6}) Aber am heutigen Tag, an dem wir uns mit Menschenrechten und auch mit Hinrichtungen, denen vom ganzen Verfahren her - nicht nur, weil es um die Todesstrafe geht - erhebliche Bedenken entgegenstehen, befassen, muss man sich hier über Fraktionsgrenzen hinweg bekennen. An diesem Tag, an dem wir die Menschenrechte rühmen und an dem wir uns sehr wohl über Fortschritte freuen, stimmen wir einem solchen Antrag zu. ({7}) Daran können Sie erkennen, dass es uns nicht nur darum geht, Eigeninteressen durchzusetzen; vielmehr orientieren wir uns an unserem Auftrag und damit an der Sache selbst. Ich sage ganz klar: Ich wünsche mir im Hinblick auf das Menschenrechtsinstitut auch, dass das, was im Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen formuliert ist, durchgesetzt wird; denn sie bekräftigen noch einmal, dass die Vorbehalte gegenüber der UN-Kinderrechtskonvention aufgehoben werden sollten. Dazu gibt es einen einstimmig angenommenen Antrag des Bundestages. Wir wissen, wie schwierig diese Thema ist; denn wir haben uns im Ausschuss in kritischen Beratungen - auch in Fragen an die Bundesregierung - damit befasst. Hier gibt es unterschiedliche Auffassungen zwischen Regierung und Parlament. Mit einem unabhängigen Institut, getragen von der Zivilgesellschaft, kann es vielleicht gelingen, die Bedenken gegenüber einer Aufhebung der Vorbehalte, die es überwiegend im Innenministerium gibt, doch noch zu überwinden. Es ist also ein guter Tag für die Menschenrechte. Auch der Bundestag braucht bei seiner Menschenrechtspolitik die Unterstützung unabhängiger Institutionen. Zur Errichtung eines solchen Instituts tragen wir heute bei. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird diesen Antrag aus voller Überzeugung mittragen. Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während wir heute debattieren - ich möchte ungern Wasser in den Wein gießen, muss aber vielleicht doch mit ein paar kritischen Tönen beginnen -, kommt es weltweit zu exzessiven wie systematischen Verletzungen von Menschenrechten. Folter, extralegale Hinrichtungen, sexualisierte Gewalt und Unterdrückung, die strukturelle Benachteiligung einzelner Bevölkerungsgruppen, Lebensweisen oder Weltanschauungen oder die systematische Vertreibung von Minderheiten und Zivilbevölkerung gehören zum bitteren Menschenrechtsalltag auf unserem Globus, gehören zum etablierten Instrumentarium von Herrschafts- und Interessensicherung. Ich denke deshalb, dass es ein gutes Signal dieses Hauses ist, wenn wir als Abgeordnete all denen, die von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, von dieser Stelle aus unseren Respekt und unsere Anteilnahme aussprechen und ihnen versichern, dass unsere Politik parteiisch auf ihrer Seite steht. ({0}) Es ist dies ein Signal, das einschließen muss, den Profiteuren und Nutznießern von Unterdrückung und Entrechtung unmissverständlich und eindeutig gegenüberzutreten und ihnen überall auf der Welt in klaren Worten zu sagen: Menschenrechte sind universell. Sie sind keine innere Angelegenheit eines Staates oder Gemeinwesens. Sie sind nicht instrumentalisierbar oder relativierbar. Sie sind keine Rechte, die ein Staat geben und nehmen kann. Sie sind unveräußerlich und stehen jedem Individuum qua Geburt zu. Wer diese Rechte missachtet, seine Missachtung duldet oder billigend in Kauf nimmt, liebe Kolleginnen und Kollegen, der missachtet eine der grundlegendsten Übereinkünfte der Menschheit. Das gilt auch für Europa, auch für die Bundesrepublik. ({1}) Deshalb begrüßt es meine Fraktion außerordentlich, dass wir heute im fraktionsübergreifenden Konsens über die Gründung des Deutschen Instituts für Menschenrechte entscheiden werden, das sich sowohl im Inland als auch im Ausland, sowohl auf der Ebene der Administration als auch auf der Ebene der Zivilgesellschaft mit Menschenrechten, ihrer Umsetzung und ihrer Missachtung befassen soll. Menschenrechtsorientierte Politikberatung, Öffentlichkeitsarbeit und eine professionelle Dokumentation in der Bundesrepublik zu stärken, wie es mit dem Institut angedacht ist, halten wir für einen echten politischen Zugewinn; dies begrüßen wir ausdrücklich. Ich sage dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die PDS wiederum von einem interfraktionellen Antrag und seiner Beratung fern gehalten wurde - eine Kleinkariertheit und ideologische Verbohrtheit, liebe Kolleginnen und Kollegen vor allem des christlichen Flügels unseres Hauses, die, wenn Sie mich fragen, längst ins Absurde abgeglitten ist, ({2}) zumal vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und politischen Anspruchs, der mit diesem Institut verbunden ist. Doch mit Blick auf das Institut gibt es, gerade von Nichtregierungsorganisationen vorgetragen, auch noch Bedenken, nämlich was seine strukturelle Regierungsunabhängigkeit anbetrifft. Denn zumindest haushaltstechnisch wurde es nicht, wie etwa von der F.D.P. und auch seitens meiner Fraktion gefordert, regierungsunabhängig beim Bundestag veranlagt, sondern bei den verschiedenen Ministerien. Umso wichtiger ist es, bereits jetzt, in der Konstituierungsphase, die Regierungsunabhängigkeit zu unterstreichen. Denn allein der Verdacht, das Menschenrechtsinstitut könnte, zumal innen-, außenund außenwirtschaftspolitisch, in seiner Arbeit bestimmten politischen Vorgaben und Befindlichkeiten folgen, brächten seine Aufgabe und seine Arbeit in Gefahr. Was ich damit meine, wird vielleicht am Antrag von SPD und Grünen zum Flüchtlingsschutz deutlich; denn dieser Antrag, dessen allgemeine Feststellungen, dessen Botschaft und dessen Zielsetzung meine Fraktion natürlich unterstützt, bleibt insgesamt unkonkret. Er hat nicht einmal einen Forderungsteil, der die Bundesregierung zu irgendetwas verpflichten soll. Dabei gibt es, nicht zuletzt mit Blick auf internationale Vereinbarungen und Gerichtsentscheidungen, in vielen Bereichen erheblichen Handlungsbedarf. Ich nenne nur den Vorbehalt gegenüber der Kinderrechtskonvention das Flughafenverfahren, den Abschiebeschutz bei geschlechtsspezifischer und nicht staatlicher Verfolgung oder die seit Jahren in Erosion begriffene Rechtswegegarantie des Grundgesetzes im Asylverfahren. Zusammen mit dem von Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen geforderten Memorandum für den Flüchtlingsschutz sollten diese und weitere Missstände sehr viel konkreter als bisher in diesem Antrag Aufnahme finden. Wer allerdings Wirken und Argumentation von Innenminister Schily kennt, der ahnt, warum sich dieser Antrag ins Diplomatische geflüchtet hat. Dennoch denke ich: Wirklich wirksam sind eher die klaren Worte. Die Ausländerbeauftragte, Frau Beck, hat mit ihrer deutlichen Kritik an der bundesdeutschen Asylpraxis in dieser Frage aus meiner Sicht ein echtes Zeichen gesetzt. ({3}) Diplomatische Verrenkungen prägten auch das Verfahren um den den Antrag der Koalition gegen die Todesstrafe. Ich stelle dies fest, auch wenn meine Fraktion das nun vorliegende Ergebnis positiv bewertet und dem Antrag zustimmen wird. Denn das Verfahren war mehr als kritikwürdig. Monatelang war die Koalition unfähig, einen eigenen Antrag vorzulegen. Gleichzeitig war sie monatelang nicht dazu zu bewegen, den von uns vorgelegten Antrag zu Mumia Abu-Jamal zu behandeln oder ihm gar zuzustimmen. ({4}) Stattdessen flüchtete sie sich in Scheinargumente. Dazu gehörte die Äußerung, es gehöre, anders als etwa im Europaparlament oder in anderen Parlamenten in Europa, nicht zur Tradition des Bundestages, zu Einzelfällen Stellung zu nehmen. Die Vermutung liegt deshalb nahe - es gibt in dieser Hinsicht eindeutige Informationen aus dem Auswärtigen Ausschuss -, man habe sich, zumal während des Wahlkampfes, nicht in die angeblich inneren Angelegenheiten der USA einmischen wollen, gerade nicht bei diesem emotionalisierten Thema. Das hielte ich für eine völlig inakzeptable Denkweise; denn Menschenrechte sind keine innere Angelegenheit. Ich frage Sie: Wann wäre es angebrachter gewesen als in den letzten Monaten, massiv jene Stimmen in den USA - etwa die Kirche - zu unterstützen, die eine Abschaffung der Todesstrafe fordern? ({5}) Es war doch augenfällig, dass George Bush jr. als Gouverneur von Texas mit Hinrichtungen geradezu Wahlkampf betrieben hat. Diese gehen weiter: Erst vorgestern und gestern Abend wurden in Texas der 38. und der 39. Mensch in diesem Jahr, staatlich legitimiert, getötet. Nach Agenturmeldungen wird heute in Texas auch noch der 50-jährige Claude Jones - er wäre der 40. - ermordet. ({6}) Texas hat damit seinen blutigen Rekord von 37 Hinrichtungen im Jahr 1997 eingestellt. Allein in die Amtszeit des Präsidentschaftskandidaten Bush als Gouverneur von Texas fallen 151 Exekutionen, darunter auch Exekutionen von zur Tatzeit Minderjährigen und Geistesschwachen, von den ungeklärten Fällen einmal ganz zu schweigen. Ich frage Sie deshalb ernsthaft, liebe Kolleginnen und Kollegen, warum ein deutliches Votum des Bundestages so lange - so lange, bis die Wahlen vorbei waren - herausgezögert worden ist. Wenn das unter Diplomatie verstanden wird, dann will ich Ihnen sagen, dass ich mit dieser Form von Diplomatie nichts zu tun haben will. ({7}) Ich weiß, dass ich in diesem Punkt auch für viele Kolleginnen und Kollegen aus anderen Fraktionen sprechen kann. Viele Parlamente, Institutionen, Organisationen und Personen sehen das genauso, etwa der als Anti-Mafia-Aktivist weltbekannt gewordene Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando, der im Sinne der Ächtung jeglicher Gewalt sämtliche von Amnesty International weltweit registrierten Todeskandidaten zu Ehrenbürgern seiner Stadt erklärt hat. ({8}) Mit Blick auf dieses Beispiel eines entschiedenen und unkonventionellen Einsatzes gegen die Todesstrafe möchte ich Sie bitten, auch dem Antrag der PDS-Fraktion zur Erreichung eines neuen fairen Verfahrens für Mumia Abu-Jamal zuzustimmen. Ich muss in diesem Zusammenhang betonen, dass ich Frau LeutheusserSchnarrenberger für ihr Statement sehr dankbar bin. Was der Koalitionsantrag generell formuliert, wird in unserem Antrag konkret. In diesem Sinne ist der Fall Mumia Abu-Jamal Symbol und Ausdruck struktureller Missstände und des Widerstandes dagegen - in den USA wie auch international. Jedes bedrohte Menschenleben wäre einen solchen Antrag wert. Danke. ({9})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Lilo Friedrich.

Lilo Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003123, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir heute über Menschenrechte sprechen, dann dürfen nicht nur rechtliche Aspekte, sondern dann muss auch die ganz konkrete Situation der Menschen unser Thema sein. Denn das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Flüchtlinge. Aber auch in Zukunft wird für Millionen von Menschen Flucht die einzige Chance sein, ihr Überleben zu sichern. Die systematische Vertreibung der albanischen Bevölkerung im Kosovo, die zahlreichen Bürgerkriege in Afrika, die Kämpfe in Tschetschenien und in Timor, die Grenzkonflikte zwischen Äthiopien und Eritrea sowie zwischen Indien und Pakistan sind nur einige der aktuellen Beispiele weltweiter Flucht und Vertreibung. Sie alle gingen und gehen mit massiven Menschenrechtsverletzungen einher. Auf etwa 50 Millionen weltweit schätzt man die Zahl der Opfer von Flucht und Vertreibung. Insbesondere für Kinder sind die Erlebnisse oft prägend für ihr ganzes weiteres Leben. Im 50. Jahr ihres Bestehens setzt sich die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, der UNHCR, unter zum Teil äußerst schwierigen Rahmenbedingungen für über 21 Millionen Flüchtlinge auf der ganzen Welt ein. Für diese kontinuierliche und bedeutsame Leistung verdient der UNHCR unseren höchsten Respekt. ({0}) Um diesen wichtigen Aufgaben aber auch gerecht werden zu können, muss er mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet werden. Viel zu häufig ist die Medienwirksamkeit einer Flüchtlingskatastrophe ausschlaggebend für das Ausmaß der Hilfe. Wichtiger sollte aber ein einfaches humanitäres Gebot sein: die Not entwurzelter und oftmals traumatisierter Menschen zu lindern. Hierfür müssen multilaterale, regionale und bilaterale Programme ebenso wie die Maßnahmen humanitärer Nichtregierungsorganisationen auf finanziell gesicherter Basis rasch, unbürokratisch und gut koordiniert greifen. Die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft darf jedoch nicht erst im Krisenfall einsetzen. Die erfolgreichste Flüchtlingspolitik ist jene, die potenzielle Fluchtursachen frühzeitig erkennt und entschärft. Krisenprävention und eine kohärente, menschenrechtsorientierte internationale Politik sind daher wesentliche Voraussetzungen dafür, dass Gewalt und Menschenrechtsverletzungen keine Chance erhalten. Die Bundesregierung hat auf diesem Gebiet bereits zahlreiche Initiativen ergriffen, die sehr hilfreich waren. Die Rechte und der Schutz der Flüchtlinge stehen im Mittelpunkt der Arbeit des UNHCR. Das wichtigste Instrument hierfür ist die Genfer Flüchtlingskonvention. Ihr Kernstück ist, dass kein Flüchtling in ein Land zurückgeschickt werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht ist. Die Bundesrepublik Deutschland zählte zu den ersten sechs von mittlerweile über 130 Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet haben. Bei der Definition des Flüchtlingsbegriffes hat sich in Deutschland eine Rechtsprechung entwickelt, nach der laut Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes die Verfolgung vom Staat ausgehen oder ihm zurechenbar sein muss. Aber immer mehr Menschen auf der Welt flüchten vor nicht staatlicher Verfolgung. In einigen Ländern haben sich zentralstaatliche Strukturen aufgelöst. An ihre Stelle sind völkerrechtlich nicht anerkannte, quasistaatliche Strukturen getreten. Eines der Beispiele hierfür ist Afghanistan. Menschen, die vom Taliban-Regime als politisch und religiös Andersdenkende eingeordnet werden, werden verfolgt und müssen um Leib und Leben fürchten. ({1}) Auch Frauen fliehen häufig vor Verfolgung, die nicht unmittelbar vom Staat ausgeht, zum Beispiel im Falle von gesellschaftlich bedingter geschlechtsspezifischer Verfolgung. Um Menschen wie sie geht es, wenn wir von nicht staatlicher Verfolgung sprechen. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist der Schutz eines Flüchtlings oberstes Ziel. Nach dieser Schutztheorie ist es unerheblich, ob der Urheber der Verfolgung staatlich oder nicht staatlich ist. Es kommt allein auf den fehlenden Schutz an. ({2}) In Deutschland erhalten nicht staatlich Verfolgte bislang allenfalls den Status der Duldung. Das heißt, sie werden nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt. Das heißt aber auch: Ein solcher Status bietet keine planbare Zukunftsperspektive. Aus menschenrechtlicher Sicht halten wir es deshalb für notwendig, dass auch diesen Flüchtlingen Schutz vor Abschiebung gewährt wird und dass geduldete Flüchtlinge, für die eine Rückkehr in ihr Herkunftsland eine besondere Härte darstellen würde, leichter eine Aufenthaltsbefugnis erhalten. ({3}) Durch die Änderung der Verwaltungsvorschriften zu geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen haben wir bereits einen entscheidenden Schritt hin zu einer verbesserten Situation der Flüchtlinge in unserem Land erreicht. Meine Damen und Herren, seit Amtsbeginn der rotgrünen Regierung hat sich in der Ausländerpolitik schon vieles positiv bewegt. Das zeigt sich nicht nur auf politischer Ebene. Auch der aktuelle Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur politischen Verfolgung hat eine wichtige Fortentwicklung der deutschen Rechtsprechung eingeleitet. Es wird nun darauf ankommen, die Möglichkeiten zu prüfen, die hierdurch eröffnet wurden. Ermutigend ist, dass sich insbesondere durch die neue Leitung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge eine positive Entwicklung abzeichnet. ({4}) Die Tendenz zu mehr Offenheit gegenüber nicht staatlich und geschlechtsspezifisch verfolgten Flüchtlingen begrüßen wir ausdrücklich. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge ein dringender Schutzbedarf besteht. Ich möchte Sie noch einmal an den interfraktionellen Antrag zu den humanitären Grundsätzen der Flüchtlingspolitik erinnern. Den haben wir im Juli einstimmig verabschiedet und damit eine in der Öffentlichkeit stark beachtete Initiative angestoßen. Die Innenministerkonferenz hat diese Initiative im November insofern positiv aufgegriffen, als jetzt schwer traumatisierte Bosnier und Bosnierinnen weiterhin in Deutschland bleiben dürfen. Wir begrüßen diese Entscheidung als richtungsweisend. ({5}) Lassen Sie mich abschließend den Blick noch einmal konkret auf die Situation in unserem eigenen Land lenken. Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland treffen jene Menschen besonders schmerzlich, die als Flüchtlinge auf der Suche nach Schutz hierher gekommen sind. Ein Leben in Angst vor Diskriminierung und gewalttätigen Attacken ist unwürdig. Ob Deutschland seinem Anspruch als ein menschliches und weltoffenes Land dauerhaft gerecht wird, hängt wesentlich auch davon ab, ob es gelingt, Flüchtlinge und Einwanderer sozial zu integrieren. Dies ist eine der großen gesellschaftspolitischen Aufgaben der Zukunft. Bei der Großdemonstration und Kundgebung am 9. November 2000 haben alle gesellschaftlichen Kräfte dafür ein eindrucksvolles Zeichen gesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei allen genannten Punkten dürfen wir aber eines nicht vergessen - dies können wir nicht häufig genug betonen -: Das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl muss weiterhin gewährleistet werden; denn Flüchtlingsschutz ist Menschrechtsschutz. Ich danke Ihnen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt Herr Kollege Dr. Schwarz-Schilling.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002128, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der UNHCR nahm seine Tätigkeit am 1. Januar 1951 auf, mit 33 Mitarbeitern und einer Leitung, die für drei Jahre gewählt war, sowie mit einem Budget von 300 000 Dollar. Dies hat eine erstaunliche Entwicklung genommen, die allerdings nicht zur Freude Anlass gibt. Was ist heute aus dem UNHCR geworden? Heute sind es 5 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 120 Ländern. 22,3 Millionen Flüchtlinge sind statistisch erfasst. Im Grunde genommen sprengt schon die Zahl von 22,3 Millionen hilfsbedürftigen Menschen die Vorstellungskraft. Man kann sich eigentlich nur die Frage stellen: Wie kam man damals, nach den Entsetzlichkeiten des Zweiten Weltkriegs, zu der optimistischen Auffassung, man brauche nur noch die letzten Hinterlassenschaften des Zweiten Weltkriegs in Ordnung zu bringen - was Flüchtlinge angeht, 1 Million oder 1,5 Millionen - und dann sei die Aufgabe wunderbar erledigt? Meinte man in Anbetracht dessen, dass damals so viele Dinge geschaffen wurden, die sich vom Bisherigen grundsätzlich unterschieden - wie die Vereinten Nationen vom Völkerbund oder das Grundgesetz von der Weimarer Verfassung -, es gehe auch in dieser Frage so positiv zu Ende? Ich komme zu dem Schluss, dass man sich damals absolut auf das Böse in Deutschland konzentriert hat und gar nicht einsehen wollte, dass in diese Frage viele Dinge hineinspielen, die die menschliche Natur schlechthin ausmachen und die Diktaturen und totalitäre Regime in allen Gegenden dieser Welt zu jeder Zeit und immer wieder ermöglichen, selbst wenn schon ein höherer Entwicklungsstand erreicht war. Das müssen wir besonders in Europa beklagen. Die Japanerin Ogata, mit der ein persönliches Gespräch zu führen ich bei ihrem Abschied Gelegenheit hatte, sagte mir: Ich habe mir nicht vorstellen können, dass gerade Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eines der Hauptflüchtlingsgebiete werden könnte; ich hatte geglaubt, das würden eher Afrika und Asien sein. - Dann steht man eigentlich etwas beschämt da. Frau Ogata mit ihrer Klugheit und ihrer sehr nachdenklichen ostasiatischen Gelassenheit wurde ganz vehement, als sie die Frage stellte: Wie kann Europa in diesen Fragen wieder so versagt haben? - Sie hat die Frage dann natürlich wieder abgemildert, weil sie - auch das ist ein Punkt der damaligen Illusion - auf freiwillige Beiträge angewiesen ist. 98 Prozent der Beiträge für den UNHCR sind freiwillig. Man dachte, für die restlichen Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs lasse sich das alles leicht arrangieren. Dass das ein Hauptproblem unserer Weltordnung geworden ist, hat die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich gemacht. In den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts kam ein neuer Schub grundsätzlicher Überlegungen. Ich denke an die europäischen Grundrechte und an das Welttribunal für Völkerrechtsverletzungen. Man hatte versäumt, das wirklich als notwendig anzusehen, weil man glaubte, wenn man das eine Übel, das in Deutschland, vollständig beseitige, dann sei es gar nicht mehr notwendig, die Welt für Lilo Friedrich ({0}) diese Sachen zu wappnen. Das ist schon eine sehr interessante Entwicklung. Meine Damen und Herren, nachdem wir in Deutschland sicherlich nicht mehr Veranlasser solcher fürchterlichen Dinge sind, könnte man sagen - ich höre das oft -: Das ist schlimm; aber wir können nicht die Leiden der ganzen Welt schultern. - Das wissen wir; das weiß jeder. Aber hier, nur einige Meter von diesem Ort, sind vor einigen Jahren noch Flüchtlinge erschossen worden, weil sie über eine Grenze gingen. Das sollten wir nie vergessen, ({1}) auch dann nicht, wenn es um die Not anderer Flüchtlinge geht, insbesondere wenn sie deutschen Boden betreten. Wir haben die Möglichkeit, aus unserer eigenen Geschichte sehr viele Lehren zu ziehen. Da brauchen wir nicht tief zu graben. Ich hoffe, dass wir uns an diesem Punkt immer wieder unserer eigenen Geschichte bewusst werden. Was die Finanzierung angeht, so muss ich Folgendes feststellen - denn ich kenne ja die Schwierigkeiten, die wir in diesem Bereich haben -: 1990 haben wir 34 Millionen US-Dollar an den UNHCR gezahlt. Im Jahre 2000 sind es 15,3 Millionen US-Dollar. Langsam fallen wir insgesamt von Rang neun auf Rang zehn zurück. Dies ist im Übrigen nicht etwa bei den absoluten Zahlen der Fall; da sind die Vereinigten Staaten, die wir in diesem Zusammenhang sehr oft beschimpfen, etwa fünfmal so gut wie wir. Das ist vielmehr proportional zur Bevölkerungszahl zu sehen. Da liegen die Vereinigten Staaten bei 97 Cent pro Person und wir bei ganzen 23 Cent und sind damit weit abgeschlagen und kommen erst nach solchen Ländern wie der Schweiz mit 2,5 Dollar oder Schweden mit 5,8 Dollar pro Person. ({2}) Man muss einmal deutlich feststellen, dass wir hier eine wirkliche Bringschuld haben. Ich hoffe, dass in den nächsten ein, zwei Jahren die Richtung dargestellt wird, in die wir zu gehen beabsichtigen. Wir müssen uns nun auch folgende Frage stellen: Wie gehen wir in Deutschland mit Menschenrechtsfragen um und wie handeln wir in der Flüchtlingspolitik? Dazu kann ich nur sagen: Der Antrag, den wir hier am 7. Juni dieses Jahres verabschiedet haben, war ein Meilenstein. ({3}) Mit ihm wird wieder bewusst gemacht, dass Menschenrechts- und Flüchtlingsfragen Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat sind. ({4}) Wer sollte diese Abwehrrechte formulieren, wenn nicht die Parlamentarier - trotz aller Nähe zum Staat, die wir allesamt haben? Unsere eigentliche Aufgabe ist es doch, Abwehrrechte zu formulieren. Aus diesem Grunde danken wir der Innenministerkonferenz. Auch danke ich dem Bundesinnenminister, den ich hier sehr oft kritisiert habe, dafür, dass er sich in dieser Sache wirklich bemüht hat. Das weiß ich; das möchte ich hier betonen. Auch das sollte man bei dieser Gelegenheit tun. ({5}) Aber wir werden natürlich sehr genau beobachten, was die Länder jetzt aus diesen Beschlüssen machen, wie die einzelnen Vereinbarungen umgesetzt werden und wer die Dinge wie handhabt. Da entstehen schon ganz merkwürdige Unterschiede, die ich noch nicht ganz verifizieren konnte. Wir müssen sehr achtsam sein. Denn sonst müssen wir in drei, vier Monaten nachsteuern. Und das werden wir tun; das möchte ich hier schon einmal deutlich ankündigen. ({6}) Ich darf mich auch dafür bedanken, dass es aus Niedersachsen immerhin die Nachricht gibt, dass gemäß den Empfehlungen des UNHCR Abschiebungen in den Kosovo in diesem Winter nicht mehr erfolgen sollen. Das ist wirklich nachahmenswert. Es ist ja ein Wahnsinn: Sprechen Sie einmal mit den Menschen vor Ort, die gar nicht wissen, wie sie im Moment das Bestehende in Ordnung halten sollen. Ich habe mich gerade heute wieder mit kosovo-albanischen und serbischen Bürgermeistern und Kommunalpolitikern unterhalten. Sie haben gesagt: Bitte seien Sie bei solchen Aktionen um Gottes willen vorsichtig. - Ich habe ihnen gesagt: Wir werden vorsichtig sein. ({7}) Lassen Sie mich aber auch feststellen, dass wir dafür sorgen müssen, dass ganz generell Gesetze nicht so aufgefasst werden, dass mit ihnen nur Missbrauch bekämpft wird. Ich glaube, ein demokratischer Staat muss seine allgemeinen Gesetze danach ausrichten, dass die Mehrheit der rechtmäßig Handelnden nicht durch ein Gesetz beschädigt wird. In dem Moment, da Sie die allgemeine Rechtsetzung auf den reinen Missbrauchstatbestand ausrichten, erreichen Sie, dass Sie viele Unschuldige treffen und dass die wirklich Schuldigen durch dieses Gesetz eher weniger getroffen werden, als man es beabsichtigt hat. ({8}) - Ich spreche hier von ganz allgemeinen Grundsätzen und lasse mich gerne belehren, wenn es anders sein sollte. Lieber Herr Bindig, ich könnte in diesem Zusammenhang natürlich auch sozialdemokratische Ministerpräsidenten und Innenminister nennen. Das tue ich jetzt nicht. Wir wollen jetzt nicht gegeneinander aufrechnen. Die Flüchtlinge werden davon nichts haben. Lassen Sie mich eines betonen: Dass der Asyl Suchende nach einem Jahr Aufenthalt in Deutschland wieDr. Christian Schwarz-Schilling der arbeiten darf, ist ein Menschenrecht, dem wieder zur Geltung verholfen wurde. ({9}) Auch dafür bin ich dankbar, zumal es uns nützt: Wir sparen Geld, und zwar mindestens 1 Million DM. Denn wir müssen keine Sozialhilfe und Ähnliches mehr bezahlen. Diese Menschen wollen ja arbeiten und sie sollten nicht der Situation ausgesetzt werden, dass Deutsche an ihnen vorbeigehen und sagen: Nun schaut euch einmal diese Leute an, die sitzen schon morgens im Café und tun nichts. - Wir haben sie doch dazu gezwungen. Machen Sie das den Leuten einmal klar! Das wäre dann wenigstens ein Anfang. Lassen Sie mich zum Abschluss eines festhalten. Die Hohe Kommissarin für Flüchtlinge Ogata hat gesagt: Um Antworten für die Zukunft zu haben, müssen wir aus der Vergangenheit lernen. - Ich glaube, wir haben unglaublich viel Material, um aus der Vergangenheit - auch aus unserer deutschen, und da nicht nur bis 1945, sondern auch aus den letzten Jahrzehnten - zu lernen, welche Konsequenzen es hatte, wenn wir etwas in einer bestimmten Weise gehandhabt haben. Dieser Frau, bei der ich sehr bewundert habe, wie sie in entscheidenden, dramatischen Situationen einen kühlen Kopf behalten und wirklich angepackt hat, ist, glaube ich, unser aller Dank dafür auszusprechen, dass sie als Japanerin uns Europäern in diesen zehn Jahren sehr deutlich gesagt hat, wie die Dinge liegen. Sie hat in dieser Situation die Globalisierung für sich ernst genommen. Sie war Weltbürgerin in einem Sinne, in dem Menschenrechte und Flüchtlingsrechte unteilbar sind. Damit war sie Vorbild für uns alle. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heide Mattischeck.

Heide Mattischeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001441, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Meine Herren und Damen! Bei der Abschaffung der Todesstrafe in Europa hat der Europarat eine maßgebliche Rolle gespielt. Das Zusatzprotokoll Nr. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention vom April 1983 war weltweit das erste Instrument im internationalen Recht, das die Abschaffung der Todesstrafe zur grundsätzlichen Verpflichtung für die Vertragsparteien gemacht hat. Unter maßgeblichem deutschen Einfluss - insofern haben wir, so denke ich, Herr Kollege Schwarz-Schilling, in Teilen aus unserer Geschichte gelernt - hat die EU in den am 29. Juni 1998 vom Ministerrat angenommenen Leitlinien für eine Unionspolitik gegenüber Drittstaaten betreffend die Todesstrafe eine gemeinsame Position formuliert. Die Bundesregierung verfolgt gemeinsam mit ihren EU-Partnern eine Doppelstrategie: Das betrifft zum einen das Ziel, die Ächtung der Todesstrafe schrittweise im Völkerrecht zu verankern; zum anderen macht die Bundesregierung die Abschaffung der Todesstrafe zum Gegenstand des Dialogs mit Ländern, die die Todesstrafe noch nicht abgeschafft haben. Diese Politik wollen wir mit unserem Antrag unterstützen. 73 Staaten haben die Todesstrafe mittlerweile vollständig abgeschafft. 13 Staaten sehen sie nur für außergewöhnliche Straftaten wie etwa Kriegsverbrechen vor. In 22 Staaten steht die Todesstrafe zwar noch im Gesetz, wird aber in der Praxis nicht mehr angewandt. Diese Zahlen zeigen: Mehr als die Hälfte der Länder weltweit hat die Todesstrafe per Gesetz oder zumindest faktisch abgeschafft. Dieser Trend ist, denke ich, nicht mehr umzukehren. Allein seit Beginn der 90er-Jahre haben über 30 Länder in Afrika, Asien, Ozeanien, Amerika und Europa die Todesstrafe aus ihren Gesetzen verbannt. Aber 87 Staaten halten heute noch an der Todesstrafe fest. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland haben sich die jeweiligen Bundesregierungen stets in besonderer Weise für die weltweite Ächtung der Todesstrafe eingesetzt. Auch der Deutsche Bundestag hat das Bemühen um die weltweite Abschaffung der Todesstrafe unterstützt - zum Beispiel in der letzten Legislaturperiode mit einer entsprechenden Entschließung, die einstimmig gefasst wurde. Wir sind uns einig: Die Todesstrafe ist weder ethisch noch rechtspolitisch zu rechtfertigen. ({0}) Sie ist kein Mittel der Verbrechensbekämpfung und bei einem Justizirrtum nicht korrigierbar. Es gibt jedoch einen bedauerlichen Dissens zwischen Europa und den USA, zwischen der Bundesrepublik und unserem wichtigsten Verbündeten. In Europa ist die Todesstrafe faktisch verboten; in Russland, der Türkei und Polen wird sie zumindest nicht mehr vollstreckt. Die Entwicklung in den Vereinigten Staaten ist jedoch völlig gegenläufig: Im Jahre 1999 wurden in den USA 98 Menschen hingerichtet. Allein in diesem Jahr - es wurde schon darauf hingewiesen - sind es bereits 75 Menschen. Seit 1976, dem Jahr der Wiederzulassung der Todesstrafe in den USA, sind 598 Menschen hingerichtet worden. In den USA werden auch Personen hingerichtet, die zur Tatzeit minderjährig oder geistig krank waren. Damit verstoßen die USA gegen anerkannte Menschenrechtsstandards, als deren Anwalt sie häufig weltweit auftreten. Beunruhigend ist auch die hohe Fehlerquote amerikanischer Gerichte. Laut einer Studie der New York Columbia University musste bei 68 Prozent aller zwischen 1973 und 1995 verhängten Todesurteile das erstinstanzliche Urteil aufgehoben werden, weil es fehlerhaft war. Beunruhigend ist auch die Häufigkeit, mit der gerade Afroamerikaner und Latinos zum Tode verurteilt werden. Beobachter vermuten, dass rassistische Motive bei Verurteilungen eine Rolle spielen und dass Prozesse mit verfahrensrechtlichen Mängeln behaftet sind. Mit unserem Antrag wollen wir uns nicht in die inneren Angelegenheiten der USA einmischen. Es ist relativ leicht, sich gegen die Todesstrafe in Nordkorea, Afghanistan oder im Sudan zu wenden. Bei diesem Antrag geht es aber um den Wunsch des Deutschen Bundestages, unseren wichtigsten Bündnispartner verlässlich auf unserer Seite zu wissen, wenn es um die Einhaltung und Einforderung von Menschenrechten und völkerrechtlichen Übereinkommen geht. ({1}) Dieser Wunsch bezieht sich aktuell auf die Ratifizierung des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes sowie auf die Einhaltung des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen. Letzteres sichert ausländischen Angeklagten und Häftlingen das Recht auf juristische Beratung durch das jeweilige Konsulat zu. Vielen Todeskandidaten haben die USA dieses Recht verweigert, so auch den deutschen Brüdern LaGrand. Der Fall wird gerade vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verhandelt - nachträglich; die beiden Brüder sind bereits hingerichtet worden. Ich halte es in diesem Zusammenhang für sehr wichtig - weil dies bei uns selten diskutiert wird -, auf die vielfältigen Initiativen in den USA selbst hinzuweisen, die für die Abschaffung der Todesstrafe eintreten. ({2}) Als ersten Schritt fordern sie ein Moratorium. Neben den bekannten internationalen Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch gibt es viele nationale, regionale und auch religiöse Gruppierungen und Organisationen, die für eine Abschaffung argumentieren und agieren. Zurzeit beteiligen sich die meisten dieser Initiativen an einer großen Kampagne für ein Moratorium was in unserer Öffentlichkeit kaum bekannt ist und worüber selten diskutiert wird. Immer mehr Menschen in den USA, auch generelle Befürworter der Todesstrafe, greifen die gegenwärtige Praxis an und fordern die Aussetzung von Vollstreckungen, bis ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren gewährleistet werden kann. Als Erster hat bekanntermaßen der Gouverneur von Illinois einem solchen Moratorium zugestimmt. Interessant ist auch die Tatsache, dass in einer Initiative Angehörige von Mordopfern gemeinsam mit Angehörigen von Hingerichteten gegen die Verhängung der Todesstrafe kämpfen. Ich habe vor einigen Jahren ein Gespräch mit Vertretern dieser Organisationen gehabt, das zu dem Bewegendsten gehört, was ich in der langen Zeit meines Wirkens erlebt habe. Mit unserem Antrag unterstützen wir auch diese Initiativen. Wir fordern zunächst ein Moratorium für die Vollstreckung von Todesurteilen. Die Todesstrafe ist eine grausame und unmenschliche Strafe. Sie muss weltweit geächtet und abgeschafft werden, auch in den USA. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt Staatsminister Dr. Ludger Volmer.

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, Ihnen den 5. Bericht der Bundesregierung über die Menschenrechtspolitik in den auswärtigen Beziehungen vorstellen zu dürfen. Drei aktuelle Meldungen von heute kennzeichnen schlaglichtartig die Relevanz des Themas: Hinrichtungsrekord in den USA, erneute Unruhen auf der Westbank mit Verletzten auf beiden Seiten, aber auch Arbeitsmöglichkeit für Asylbewerber. Insbesondere was den letzten Punkt angeht, Herr Schwarz-Schilling, bedanke ich mich für die Würdigung der Politik der Bundesregierung, die Sie ausgesprochen haben. ({0}) Wir, meine Damen und Herren Kollegen, wissen uns heute nicht nur in einem breiten gesellschaftlichen Konsens in Deutschland, sondern auch in einer wachsenden Zahl unserer Partnerländer, was die Relevanz von Menschenrechten angeht. Der politische Dialog mit unseren Partnerländern weltweit schließt regelmäßig die Frage von Demokratie und Menschenrechten ein. Diese Themen sind für die EU-Beitrittskandidaten zu förmlichen Kriterien geworden, an deren Erfüllung der Fortschritt und die Beitrittsfähigkeit gemäß den Beschlüssen des Europäischen Rats von Kopenhagen gemessen werden. Dies gilt gleichermaßen für alle Kandidaten. Wie bedeutsam diese Kriterien sind, zeigt zum Beispiel die Diskussion um die innere Lage in der Türkei. Wegen der Bedeutung des Themas hat die Koalition die institutionellen Voraussetzungen für dessen Bearbeitung verbessert. Die Bundesregierung hat einen Menschenrechtsbeauftragten im Auswärtigen Amt, Herrn Poppe, eingesetzt. Der Bundestag, in dessen Auftrag dieser Bericht erstellt wurde, hat einen eigenen Ausschuss für Menschenrechte eingerichtet. Daneben möchte ich die Gründung eines Menschenrechtsinstituts, die heute beschlossen werden soll, nennen. Das Institut ist ein zentrales Instrument, mit dem wir die Menschenrechtsarbeit von Parlament, Regierung und Nichtregierungsorganisationen vernetzen können. Ich möchte im Namen der Bundesregierung noch einmal ausdrücklich erklären, dass wir nicht das geringste Interesse daran haben, die Nichtregierungsorganisationen zu binden. Wir haben ein Interesse an ihrem eigenständigen und unabhängigen Agieren. ({1}) Damit ist ein Versprechen des Koalitionsvertrages erfüllt worden. Lassen Sie mich einige Erfolge der letzten zwei Jahre aufführen, die auch der Bericht erwähnt. Wir haben das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zur Ratifizierungsreife gebracht und verteidigen es gegen anhaltende Bestrebungen, seinen Geltungsbereich auszuhöhlen. Wir haben dazu beigetragen, dass Menschenrechte und Demokratie in einigen für uns zentral wichtigen politischen Prozessen eine Schlüsselrolle einnehmen: beim Stabilitätspakt, bei der demokratischen Erneuerung Jugoslawiens und bei den EU-Beitrittskandidaturen. Wir haben Schritte zum Abbau des Demokratie- und Menschenrechtsdefizits der EU eingeleitet: Die Bundesregierung hat erfolgreich die Initiative zur EU-Grundrechte-Charta und zum EU-Menschenrechtsjahresbericht ergriffen. Ich denke, wir können stolz darauf sein, dass mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog ein Deutscher maßgeblich an dem Entwurf mitwirkt. ({2}) Wir haben im Auswärtigen Amt durch spezifische Schulung und durch Aufbau eines Personalpools im Rahmen der Aktion „Ziviles Friedenspersonal zur Konfliktprävention“ unsere Teilnahmekapazität für VN- wie für OSZE-Missionen entscheidend erhöht. Das BMZ hat parallel dazu den zivilen Friedensdienst aufgebaut. Wir haben entscheidende Impulse für die Verbesserung des Menschenrechtsschutzes gegeben, zum Beispiel im Oktober durch die Gastgeberschaft einer NRO-Konferenz zum Thema Kindersoldaten und in der letzten Woche durch die Sondersitzung des Frauenrechtsausschusses der Vereinten Nationen hier in Berlin. Trotz aller Erfolge hat Menschenrechtspolitik mit zahlreichen grundsätzlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Auch die Vereinten Nationen, die unter Generalsekretär Kofi Annan diesem Thema zu Recht eine besondere Aufmerksamkeit widmen, kennen das Problem, dass sich Menschenrechtsverletzer hinter dem Prinzip staatlicher Souveränität und hinter dem Grundsatz der Nichteinmischung zu verbergen suchen. Diese Fluchtalternative wollen wir verstellen. ({3}) Es ist aber auch festzustellen, dass regionale Foren, die der außenpolitischen Koordination dienen, Menschenrechtsfragen regelmäßig auf die Tagesordnung setzen. Menschenrechte und Demokratieentwicklung werden heute beim EU-SADC-Ministerratstreffen in Gabarone, an dem ich letzte Woche teilgenommen habe, ebenso diskutiert wie nächste Woche beim Treffen der EU- und ASEAN-Staaten in Laos. In Benin, von dem wesentliche Impulse für die Demokratisierung in Afrika ausgingen, hat in der letzten Woche ein Treffen der demokratieorientierten Staaten Afrikas stattgefunden. Das alles sind erfreuliche Entwicklungen, die die Bundesregierung befürwortet und unterstützt. Ich habe bei meinen Auslandsreisen die Erfahrung gemacht, dass wir besonders dann die Menschenrechtssituation problematisieren können, wenn wir unsererseits anerkennen, dass Good Governance, gute Regierungsführung, in riesigen multiethnischen Konglomeratstaaten wie zum Beispiel Indonesien oder Philippinen erheblich schwerer umzusetzen ist als in den relativ homogenen Gesellschaften Westeuropas. Die VN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson analysiert: Menschenrechtsverletzungen von heute sind die Kriege von morgen. - Menschenrechte bilden daher für uns das Fundament präventiver Friedenspolitik. Sie sind unteilbar. Menschenrechte umfassen nicht nur das Recht auf körperliche Unversehrtheit und würdige Behandlung, sondern ein ganzes Bündel politischer und sozialer Rechte. Deshalb ist Menschenrechtspolitik auch Aufgabe aller Ressorts der Bundesregierung. ({4}) Im Menschenrechtsbericht finden Sie weitere Beispiele für jüngste Aktivitäten der Bundesregierung. So hat sie während der Milleniumsgeneralversammlung in New York die beiden Fakultativprotokolle zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten sowie Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie am 7. September 2000 gezeichnet. Am 4. November hat die Bundesregierung bei der Ministerkonferenz zum 50. Jahrestag der Europäischen Menschenrechtskonvention in Rom das 12. Zusatzprotokoll, das das Diskriminierungsverbot ausweitet, gezeichnet. ({5}) Mit der Volksrepublik China haben wir einen Rechtsstaatsdialog begonnen. Dies ist ein erheblicher Fortschritt bei der konkreten Operationalisierung unserer Menschenrechtspolitik. Aber auch Freundschaft und Partnerschaft schließen nach Ansicht der Bundesregierung klare Worte nicht aus, ganz im Gegenteil: Gerade wenn Freunde und Partner Fehler machen, muss man klare Worte finden. Deshalb hat die Bundesregierung die Tatsache, dass den Todeskandidaten LaGrand kein faires Verfahren zuteil werden konnte, weil unser Konsulat nicht unterrichtet worden ist, international zur Anklage gebracht. In diesem Zusammenhang fordert die Bundesregierung auch den zukünftigen Präsidenten der USA auf - wer immer es sein mag -, die europäische Position zur Todesstrafenproblematik und die europäische Sicht dazu zu berücksichtigen. Zahlreiche Länder dieser Welt - Sie können es im Einzelnen im Bericht nachlesen - haben die Todesstrafe zwischenzeitlich abgeschafft oder erheblich eingeschränkt. Es wird höchste Zeit, dass auch unsere Freunde, die USA, dazugehören. ({6}) Bei allen Erfolgen haben wir weitere Mahnungen zu erheben. Ich würde mir wünschen, dass sich zum Beispiel Anwar Ibrahim in Malaysia einmal genauso in Freiheit für das Engagement der internationalen Gemeinschaft bedanken kann, wie dies Kim Dae-jung oder Nelson Mandela vor ihrer Friedensnobelpreisverleihung taten. Die Arbeit von Menschenrechtsaktivisten und -aktivistinnen - staatlichen wie zivilen - hat ihnen das Leben gerettet. Dafür gebührt ihnen unser Dank. ({7}) Lassen Sie mich zu einem letzten Punkt kommen. Ich mache auf Auslandsreisen, wenn ich die Menschenrechtsfrage ansprechen will, regelmäßig folgende Erfahrung: Seitdem in Deutschland Ausländer oder Menschen, die wie Ausländer aussehen, durch die Straßen gejagt, drangsaliert oder ermordet werden, werde ich gefragt: Wie glaubwürdig ist denn eigentlich euer menschenrechtliches Engagement uns gegenüber? ({8}) Wir lassen nicht zu, dass ihr doppelte Standards anwendet. Diese Antwort - um auf den Zwischenruf einzugehen - bekomme ich auch dann, wenn ich in islamischen Staaten die menschenrechtsverletzenden Praktiken der Scharia anspreche. Das tun wir deutlich. Deshalb sage ich: Es ist ein Beweis für unsere Glaubwürdigkeit in der Menschenrechtspolitik nach außen, wenn wir uns die Taten genauso zu Herzen nehmen, die in der Bundesrepublik Deutschland geschehen und die, auch wenn sie nicht von staatlicher Seite begangen werden, eine Verletzung der Rechte dieser Menschen darstellen. ({9}) Deshalb hat die Bundesregierung in ihrem Menschenrechtsbericht auch die innenpolitischen Themen aufgenommen, wie die Asyl- und die Flüchtlingspolitik, die eine außenpolitische Relevanz haben. Ich hoffe, es besteht Konsens darüber, dass beides zusammengehört: das Eintreten für Menschenrechte nach außen und das Eintreten gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt nach innen. Ich danke Ihnen. ({10}))

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ruprecht Polenz.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche zu dem Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Abschaffung der Todesstrafe in den USA. Alle Fraktionen hier sind sich einig: Wir sind gegen die Todesstrafe. Viele von uns haben sich auch etwa im Rahmen von „urgent action“, von Amnesty International oder anderen Menschenrechtsorganisationen für einzelne Gefangene eingesetzt, die von der Todesstrafe bedroht waren. Wir müssen uns hier also nicht gegenseitig überzeugen. Wir sind uns einig: Die Todessstrafe verletzt das grundlegendste Recht eines Menschen, nämlich das Recht auf Leben. Dieses Recht ist unveräußerlich, es ist unverfügbar, und es steht auch denjenigen zu, die schwerste Verbrechen begangen haben, also auch Mörderinnen und Mördern. Die Todesstrafe verletzt die Würde des Menschen. Sie ist eine erniedrigende und grausame Strafe. Ihr Vollzug ist auch unmenschlich, wenn man an das jahre- und jahrzehntelange Warten in der Todeszelle denkt. ({0}) Eine vollzogene Todessstrafe kann nicht rückgängig gemacht werden, auch wenn sich das Urteil später als Fehlurteil herausstellt. Das kommt ja oft genug vor, weil sich Justizirrtümer eben nicht ausschließen lassen. Es gibt zahlreiche Opfer, deren Unschuld später nachgewiesen wurde, die also wegen eines Justizirrtums hingerichtet worden sind. Schließlich hat die Todesstrafe auch keine besonders abschreckende Wirkung. Das belegen die Staaten, die die Todesstrafe abgeschafft haben. Dort war keine Zunahme der Anzahl der Verbrechen zu verzeichnen, auf die zuvor die Todesstrafe stand. Im Gegenteil: Die Todesstrafe verändert das Klima in einer Gesellschaft. Sie hat eher eine brutalisierende Wirkung auf eine Gesellschaft. Dieses Argument müssen wir denjenigen entgegenhalten, die von einer abschreckenden Wirkung sprechen. ({1}) Ich habe das hier noch einmal vorgetragen, obwohl wir uns hier einig sind. Ich war mir aber nicht sicher, wie diese Frage in der Bevölkerung nach dem einen oder anderen Vorkommnis gesehen wird. Weiterhin gilt es also, unsere Überzeugung in Deutschland zu erhalten. Deshalb muss man das immer wieder deutlich machen. Der Einsatz für eine weltweite Abschaffung der Todesstrafe gehört deshalb seit langem zu den wichtigsten Zielen der Menschenrechtspolitik aller deutschen Bundesregierungen. Frau Kollegin, Sie haben darauf gerade noch einmal hingewiesen. Das Feld eignet sich auch überhaupt nicht für einen parteipolitischen Streit. Im Gegenteil: Wir haben in früheren Debatten leider immer wieder feststellen müssen, dass wir als Parlament eher schmale Erfolgschancen mit unseren Initiativen haben, und die Chancen werden jedenfalls größer, wenn wir sie parteiübergreifend und gemeinsam ergreifen. Wenn Sie jetzt alle nicken, dann erinnern wir uns an die letzte Legislaturperiode - Frau Kollegin Mattischeck, Sie haben daran erinnert -: Damals gab es einen Antrag der SPD-Fraktion zur Unterstützung der weltweiten Bemühungen um die Abschaffung der Todesstrafe. Wir haben dann gemeinsam im Ausschuss eine interfraktionelle Fassung erarbeitet und sie im Bundestag verabschiedet. Offensichtlich war es seinerzeit ein guter Antrag; denn Sie haben sich ja im heutigen Entschließungsantrag noch einmal zur Bekräftigung auf diesen Beschluss bezogen. Umso bedauerlicher, so muss ich Ihnen ehrlich sagen, finde ich es, dass die Regierungsfraktionen jetzt keinen Versuch unternommen haben, in dieser Frage zu einer interfraktionellen Vereinbarung zu kommen. Eine Überweisung dieses Antrages in die Ausschüsse ist nicht vorgesehen; es soll heute eine sofortige Abstimmung geben. Es hat auch keine Zusammenarbeit im Vorfeld der heutigen Parlamentsdebatte gegeben. ({2}) Was ist nun der Grund dafür? Es gibt einen PDS-Antrag vom 12. April dieses Jahres, der sich für den zum Tode verurteilten Mumia Abu-Jamal einsetzt. Dem wollten die Regierungsfraktionen wohl nicht zustimmen; aber ablehnen wollten sie ihn ohne irgendwelche eigenen Initiativen offensichtlich auch nicht. Also musste ein eigener rot-grüner Antrag her. Dann hat es fast acht Monate gedauert, bis sich die roten Außenpolitiker mit den grünen Menschenrechtlern oder die grünen Außenpolitiker mit den roten Menschenrechtlern geeinigt hatten. Danach waren alle Beteiligten offensichtlich so erschöpft, dass man jetzt nicht auch noch mit der Opposition sprechen wollte. ({3}) Normalerweise, meine Damen und Herren, führt eine solche Verfahrensweise dazu, dass man für seinen Entschließungsantrag auch nur die eigenen Stimmen im Parlament bekommt. Damit bekäme aber der Einsatz für die Abschaffung der Todesstrafe nicht das Gewicht, das er braucht. Obwohl also die Vorgehensweise von SPD und Grünen eher dazu angetan ist, die Opposition zu brüskieren, wird die CDU/CSU-Fraktion dem Antrag zur Abschaffung der Todesstrafe in den USA zustimmen. ({4}) Wir stellen dabei auch Bedenken gegen die eine oder andere Formulierung und Gewichtung im vorliegenden Text um der Sache willen zurück. Allerdings werden sich einige Kollegen aus meiner Fraktion wohl der Stimme enthalten. Wie sieht die Lage zurzeit aus, was die Vollstreckung von Todesstrafen angeht? Laut Jahresbericht 2000 von Amnesty International wurden 1999 in 31 Staaten dieser Welt mindestens 1 813 Gefangene hingerichtet. Wie schon in den Vorjahren gilt auch für das vergangene Jahr, dass die weitaus meisten registrierten Hinrichtungen in nur einigen wenigen Staaten vollzogen wurden. Rund 85 Prozent aller Hinrichtungen fanden allein in der Volksrepublik China, im Iran, in Saudi-Arabien, in der Demokratischen Republik Kongo und in den USA statt. ({5}) Aus China wurden 1 077 Hinrichtungen gemeldet; die tatsächlichen Zahlen liegen wahrscheinlich höher. Im Iran wurden mindestens 165 Todesurteile vollstreckt. Was Saudi-Arabien angeht, hat Amnesty International von 103 Hinrichtungen Kenntnis. In der Demokratischen Republik Kongo wurden mindestens 100 Menschen exekutiert und in den USA wurden im vergangenen Jahr 98 Todesurteile vollstreckt. Auch wenn in China zehnmal so viele Menschen wie in den USA hingerichtet wurden, so geht doch von dem Verhalten der USA eine besondere Signalwirkung aus; denn die USA haben als einzige der westlichen Demokratien die Todesstrafe beibehalten. 38 der 50 US-Bundesstaaten sehen die Todesstrafe in ihren Strafgesetzgebungen vor. Daher müssen wir bei allen Vorhaltungen beachten, dass es kaum eine Möglichkeit der zentralen Ebene gibt, Maßnahmen zu ergreifen; vielmehr müssen wir die einzelnen Bundesstaaten ansprechen. Diese verstoßen dabei - das ist schon gesagt worden nach wie vor auch gegen internationale Standards, die unter anderem die Verhängung von Todesurteilen gegen Minderjährige oder geistig Behinderte verbieten. Wie im Fall der Brüder LaGrand verstoßen die USA auch häufig gegen die Wiener Konsularrechtskonvention, die jedem im Ausland Inhaftierten das Recht garantiert, die Behörden des Herkunftslandes zu kontaktieren und diese um rechtlichen Beistand zu bitten. Weil es in Strafverfahren in den USA oft eine sehr schlechte anwaltliche Vertretung durch Pflichtverteidiger gibt, kann dieser Verstoß buchstäblich über Leben und Tod entscheiden. Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, dass die Bundesregierung in diesem Fall an der Klage gegen die USA vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag festhält. ({6}) Nun ist es richtig - das ist heute auch schon gesagt worden -, dass in Texas besonders viele Menschen hingerichtet worden sind. Allein in diesem Jahr waren es 35 Gefangene; möglicherweise werden es noch mehr. Aber - das wissen wir auch - nicht nur George Bush, sondern auch Al Gore ist Befürworter der Todesstrafe. Neben dem Anstieg der Zahl der Hinrichtungen in den USA seit Beginn der 90er-Jahre, der uns besorgt machen muss, gibt es allerdings auch positive Entwicklungen in den USA. So hat der Gouverneur von Illinois, eigentlich ein Befürworter der Todesstrafe, im Januar ein Hinrichtungsmoratorium für seinen Staat verfügt, nachdem er feststellen musste, dass jemand unschuldig im Todestrakt gesessen hatte. Im Mai haben Senat und Repräsentantenhaus des Bundesstaates New Hampshire für die Abschaffung der Todesstrafe gestimmt; allerdings hat die Gouverneurin Shaheen dagegen ihr Veto eingelegt, sodass der Beschluss bisher noch nicht wirksam werden konnte. In Massachusetts wurde eine Gesetzesvorlage zur Wiedereinführung der Todesstrafe abgelehnt. Für diese neue Bewegung und den Druck in der Debatte hat vor allem eine von der Columbia-Universität in New York veröffentlichte Studie gesorgt - sie ist bereits erwähnt worden -, die nachweist, dass in den Gerichtsverfahren, die zur Verhängung der Todesstrafe führen, häufig sehr gravierende Mängel zu beklagen sind: schlechte anwaltliche Vertretung und Staatsanwaltschaften, die Entlastungsmaterial nicht ausreichend in den Prozess einführen. Dadurch haben die Befürworter eines Hinrichtungsmoratoriums Auftrieb erhalten. So hat im April der demokratische Senator Russ Feingold einen Gesetzentwurf vorgelegt, der ein zweijähriges Moratorium für alle in den USA verhängten Todesurteile verlangt. Während dieser Zeit soll eine unabhängige Kommission die Anwendung der Todesstrafe untersuchen. Die amerikanische Menschenrechtspolitik würde einen Glaubwürdigkeitsschub erhalten, wenn sich die 38 Bundesstaaten zu diesem ersten Schritt entschließen könnten. ({7}) Insgesamt befürworten laut Amnesty International in den USA derzeit über 900 Institutionen, Organisationen und Glaubensgemeinschaften ein solches Hinrichtungsmoratorium. Mit der Zustimmung zu dem Antrag „Abschaffung der Todesstrafe in den USA“ wollen wir diesen Initiativen den Rücken stärken. Vielen Dank. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin der Justiz, Herta DäublerGmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende dieser Debatte möchte ich einen Gedanken aufgreifen, den mehrere Sprecherinnen und Sprecher aus ganz unterschiedlichen Fraktionen schon geäußert haben. Auch ich glaube, heute ist ein guter Tag für die Menschenrechte und die Menschenrechtspolitik in unserem Land. Das hat die Debatte gezeigt. Ich will ausdrücklich bekräftigen, dass die Menschenrechtspolitik und das Eintreten für die Menschenrechte zu den Schwerpunkten der Bundesregierung und der sie tragenden Mehrheit gehört, und zwar sowohl für die Innenpolitik als auch als Richtschnur - wie wir gehört haben - für die Außenpolitik. Ich möchte mich beim Bundestag dafür bedanken, dass Sie das, was wir tun, im Prinzip - natürlich mit gewissen Unterschieden, je nachdem, ob Sie einer Regierungsfraktion oder einer Oppositionsfraktion, die immer kritisch eingestellt ist, zugehören - anerkennen. Sehr geehrter Herr Schwarz-Schilling, Sie haben völlig Recht: Wir sollten im Deutschen Bundestag immer wieder deutlich sagen, worauf wir unser Eintreten für Menschenrechte und die Verpflichtung zur Menschenrechtspolitik gründen. Auf der einen Seite ist es unsere Geschichte, die uns selbstverständlich - gerade unsere Generation und die Generation unserer Kinder - dazu verpflichtet. ({0}) Es ist aber auch die Erkenntnis, dass eine Gesellschaft nur dann friedensfähig und damit zukunftsfähig sein kann, wenn sie sich bewusst ist, was Menschenrechte bedeuten, wenn sie sie achtet und Menschenrechtsfragen ganz gezielt in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt - bei all dem, was man an pragmatischen Abstrichen immer machen muss. Was mir an der heutigen Debatte sehr gut gefallen hat, war, zu sehen, dass dieser Grundkonsens auf allen Seiten dieses Bundestages vorhanden ist. ({1}) Ich stelle das fest, wohl wissend, dass ich meine Ausführungen mit vielen „aber“ fortsetzen müsste. Selbstverständlich ist es so, dass Glaubwürdigkeit in der Menschenrechtspolitik - das wissen wir - im eigenen Land beginnen muss. Das gilt für eine Politik, bei der man nicht nur fordern kann, sondern auch handeln muss - das kann in unserem Land beinahe jeder an irgendeiner Stelle - und dann auch entsprechend handelt. Kritik, man müsse mehr tun, gibt es überall. Ich glaube aber, es ist gut, herauszustellen, dass es in der Tat eine Menge an Fortschritten gegeben hat. Ich will meine Aufzählung mit dem besonderen Menschenrechtsausschuss dieses Parlamentes beginnen und will beim Menschenrechtsbeauftragten und beim Deutschen Menschenrechtsinstitut, das durch unseren Beschluss eingesetzt werden und möglichst bald seine Arbeit aufnehmen soll, fortsetzen. Natürlich war es für die Bundesministerin der Justiz eine Selbstverständlichkeit, ihre Dienste sehr engagiert zur Verfügung zu stellen, auch wenn, sehr geehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger, das gilt, was der Kollege Bindig und die Kollegin Köster-Loßack, die sich von Anfang an sehr stark für die Gründung des Deutschen Menschenrechtinstituts eingesetzt haben, immer wieder deutlich gemacht haben, dass es nämlich ein unabhängiges Institut sein muss, das den Pariser Grundsätzen der Vereinten Nationen folgt, und dass dieses Institut in der Tat die Möglichkeit haben muss, die wertvolle Arbeit der zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsorganisationen im Bereich der Menschenrechte zu unterstreichen, vielleicht auch zu fördern, möglicherweise zu koordinieren, aber auf jeden Fall sehr viel wirksamer zu machen, und zwar nach innen und nach außen. ({2}) Es ist gut, dass heute viele Sprecherinnen und Sprecher der unterschiedlichen Fraktionen den Menschenrechtsorganisationen Dank ausgesprochen haben, Dank für eine Arbeit, die nicht immer leicht und nicht immer populär ist und die sie trotzdem machen; denn Menschenrechtsarbeit erweist sich immer da als ganz besonders wertvoll, wo sie für Menschen geleistet wird, die gerade nicht die Zustimmung der Mehrheit in der Öffentlichkeit haben. Genau das tut Amnesty International, aber das tun auch kirchliche Organisationen. Lassen Sie mich deswegen den Dank der Bundesregierung stellvertretend für alle anderen der Organisation „Brot für die Welt“ aussprechen, die mit ihrer 42. Aktion „Auf eigenen Füßen stehen“ wieder unterstrichen hat, wie wichtig Menschenrechte sind. ({3}) Diese Aktion erinnert uns alle daran, wie viel Arbeit geleistet wird und wie viel gute Arbeit noch geleistet werden muss. Deswegen wünschen wir der Arbeit der Menschenrechtsorganisationen die Unterstützung aller Menschen in unserem Land. ({4}) Wenn wir unsere Gesetze und unsere Verfassung anschauen, dann können wir feststellen, dass wir den Menschenrechtsschutz in der Bundesrepublik Deutschland nahezu perfekt ausgebaut haben. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948 voll akzeptiert und integriert. Deutschland gehörte zu den Erstunterzeichnern der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Grundrechterechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes und auch die der anderen Gerichte ist sehr gut. Aber wir alle wissen, dass in unserer innerstaatlichen Praxis noch sehr viel zu tun ist. Es ist sehr oft gesagt worden, dass die Bekämpfung des Rechtsextremismus an vorderster Stelle stehen müsse. Das ist wahr. Diese Aufgabe müssen Polizei und Justiz immer wieder aufgreifen und im Rahmen ihrer Verantwortung auch erfüllen. Ich finde es gut, dass der Generalbundesanwalt heute hat bekannt geben können, dass die Täter, die für den heimtückischen Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf verantwortlich sind, möglicherweise gefasst worden sind. ({5}) Aber es gibt keinen Anlass, hier Entwarnung zu geben. Diese Tatsache sollte uns eigentlich noch deutlicher an unsere Verantwortung erinnern, für Menschen einzutreten, die als Minderheiten in unserem Lande genauso friedlich und genauso gut sollen leben können, wie wir das tun. Das ist unser aller Verantwortung. ({6}) Ich glaube, dass es nicht allein die Aufgabe der Polizei und noch nicht einmal der Zivilcourage und der selbstverständlichen Arbeit jedes Einzelnen von uns sein sollte, sich hier zu engagieren. Ich glaube vielmehr, dass das unabhängige Deutsche Menschenrechtsinstitut eine Menge guter Arbeit leisten kann, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem Denken und den Vorstellungen der Menschen geht, die sich heute noch immer oder schon wieder in den Sog rechtsextremistischer Verführer begeben. Ich verspreche mir, dass gute Signale von diesem Institut für unser Land ausgehen werden, und zwar so gute Signale, wie wir, der Deutsche Bundestag, sie gegeben haben, als wir 10 Millionen DM an Sondermitteln für Opfer rechtsextremistischer Gewalt bewilligt haben. Der Deutsche Bundestag will ein Signal auch mit der heutigen Diskussion über den Antrag zur Ächtung der Todesstrafe geben. Wir brauchen dieses Signal selbstverständlich auch nach innen. Ich stimme dem Kollegen Polenz voll und ganz zu: Menschenrechtspolitik bewegt sich immer im Denken und im Fühlen der Menschen; man darf diesen Aspekt nicht vernachlässigen. Wir müssen Überzeugungsarbeit jedoch auch gegenüber anderen Ländern leisten. Wir müssen ein Signal an andere Staaten, an Partner und an Freunde, insbesondere an Japan, China und die USA, aussenden. Ich schließe mich all dem an, was hier gesagt wurde. Das gilt auch im Hinblick auf das, was über die Notwendigkeit eines Moratoriums gesagt wurde. Lassen Sie mich Folgendes hinzufügen: Wir können feststellen - das ist ein Zeichen des Ernstnehmens der Menschenrechtspolitik -, dass es unter den Mitgliedern des Europarates heute, nachdem Russland und die Türkei ein Moratorium - das wir als ersten Schritt zur Ächtung der Todesstrafe begreifen - eingegangen sind, kein Land mehr gibt, das die Todesstrafe anwendet. Das haben wir selbstverständlich auch mit unseren russischen Partnern - zurzeit ist eine Delegation unter Leitung des russischen Justizministers in der Bundesrepublik zu Gast - besprochen. Gespräche dieser Art führen wir auch im Rahmen des deutsch-chinesischen Rechtsstaatsdialogs, und der Aufruf, das auch mit unseren amerikanischen Partnern zu tun, verbindet uns alle. Er kann in den unterschiedlichsten Bereichen der Politik in unserem Lande umgesetzt werden. Ich möchte an dieser Stelle den Gedanken „Glaubwürdigkeit in der Menschenrechtspolitik beginnt im eigenen Land“ noch von einer ganz anderen Seite her beleuchten. Auch bei uns gibt es Gefährdungen, die das Eintreten für Menschenrechte und für den Respekt vor dem Leben in heimtückischer Weise untergraben können. Mit einer solchen Debatte ist in trügerischer Weise der sympathische Begriff der Hilfe verbunden; das Motto der so genannten Sterbehilfe macht sich in unserem Lande breit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen da sehr sorgfältig hinhören. Wir müssen sehr sorgfältig festlegen, was Hilfe ist und was nicht. Ich hoffe, das geschieht mit Unterstützung aller Fraktionen dieses Hauses. ({7}) Wir sollten sehr deutlich sagen: Hilfe ist nötig, wie sie durch Ärzte und Pflegende aller Art in Form von wirksamen Schmerztherapien sehr aufopfernd geleistet wird. Hilfe ist nötig, wie sie in vollem Respekt vor Patientenverfügungen durch das Ernstnehmen des Willens von Sterbenden geleistet wird. Hilfe ist nötig, wie sie zum Beispiel in Form von Sterbebegleitung durch viele Menschen geleistet wird, die in der Hospizbewegung tätig sind. Aber Respekt vor dem Leben und Hilfe zum Sterben in der letzten Phase des Lebens bedeuten nicht das, was da auf einmal propagiert wird, nämlich dass ein Mensch am Ende seines Lebens nicht in Begleitung eines Helfers, sondern durch die Hand eines anderen stirbt. Dadurch änderte sich nicht nur - auch darüber wird diskutiert - die Rolle des Arztes. Das, was diskutiert wird, stellt das Leben unter die Verfügung eines anderen, es verändert damit den Wert des Lebens, es setzt ihn herab und unterhöhlt den Respekt vor Menschenrechten bzw. vor der Achtung des Lebens. ({8}) Auch daran müssen wir an einem Tag wie dem heutigen erinnern. Ein Grund zur Freude besteht aus einem anderen Anlass: Gerade heute haben die Staats- und Regierungschefs in Nizza die Europäische Grundrechte-Charta, von der schon so viel gesprochen wurde, proklamiert. Sie bindet jetzt die europäischen Institutionen, auch wenn sie noch nicht individuell einklagbar ist. Dafür zu sorgen ist der nächste Schritt, den wir uns vornehmen müssen. ({9}) Neben diesem Schritt in Europa und neben dem Schritt der weitergehenden Ächtung der Todesstrafe ist dann der Schritt an der Reihe, dass der Internationale Strafgerichtshof, der Römische Gerichtshof, seine Arbeit aufnehmen soll. 1948 bis heute war eine lange Zeit. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Zeit bis zur Aufnahme der tatsächlichen Arbeit des Strafgerichtshofes jetzt sehr viel kürzer sein wird. Dann wird, glaube ich, dieser Tag ein noch besserer Tag sein, als er heute schon ist. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache, und wir kommen zu den Abstimmungen und Überweisungen, zunächst zum Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. zur Einrichtung eines Deutschen Instituts für Menschenrechte. Wer stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 14/4801? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. ({0}) Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/4800 mit dem Titel „Abschaffung der Todesstrafe in den USA“? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. ({1}) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 14/4884 und 14/3739 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Einverstanden? - Das ist der Fall; dann sind die Überweisungen so beschlossen. Jetzt kommen wir zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Gegen die Todesstrafe in den USA - Keine Hinrichtung von Mumia Abu-Jamal“. Das ist die Drucksache 14/4642. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3196 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/ CSU gegen die Stimmen von F.D.P. und PDS bei vier Enthaltungen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Burchardt, Brigitte Adler, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Hermann, Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nationale Nachhaltigkeitsstrategie - Drucksache 14/4606 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Auswärtiger Ausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen - Widerspruch höre ich nicht, dann ist auch so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Ursula Burchardt.

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit fast zehn Jahren arbeiten Abgeordnete des Deutschen Bundestages intensiv an der Aufgabe der langfristigen Zukunftssicherung. Die entscheidende Frage dabei lautet: Wie sichern wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen als Basis für die wirtschaftliche Entwicklung, für Wohlstand und Frieden heutiger und vor allen Dingen auch nachwachsender Generationen? Noch vor der Konferenz von Rio, die 1992 stattgefunden hat und die dafür das Leitbild nachhaltiger Entwicklung geprägt hat, setzte der Deutsche Bundestag auf Initiative der SPD-Fraktion eine erste Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ ein. Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir hier im Plenum den Abschlussbericht der zweiten Enquete-Kommission unter dem Titel „Vom Leitbild zur Umsetzung“ debattiert haben. Es gibt immer noch einige, die fragen, worum es eigentlich bei der nachhaltigen Entwicklung geht. Es gibt zahlreiche wissenschaftliche oder weniger wissenschaftliche Definitionen. Ich sage eine ganz schlichte: Es geht darum, nicht den Ast abzusägen, auf dem man sitzt. Man muss keinen Stift in die Hand nehmen, um Katastrophenszenarien an die Wand zu malen. Ein Blick in die aktuelle Tageszeitung oder die Nachrichten reicht, um zu erkennen: weiter so mit dem Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen wie bisher, das kann nicht funktionieren. Wenige Stichpunkte reichen, um das zu verdeutlichen: Klimabedingte Überschwemmungen und Unwetter nehmen zu. Mittlerweile steht den Menschen nicht mehr nur in Afrika und Asien, sondern auch in England das Wasser buchstäblich bis zum Hals. Die Waldschäden werden nicht weniger. Die umweltbedingten Krankheiten nehmen zu. BSE gehört sicherlich mit in die Reihe der hier zu erwähnenden Stichworte. „Weiter so“ ist also keine Perspektive. Wir wissen - nicht zuletzt durch eine unermessliche Fülle an wissenschaftlichen Arbeiten aus Jahrzehnten -, dass Strukturwandel, den es immer geben wird, gestaltet werden muss. Das Leitbild von Rio gibt die Richtung vor. Die Agenda 21 ist die Blaupause für das Handeln. Meine sehr verehrten Damen und Herren, um eines ganz deutlich zu sagen: Es gibt kein Erkenntnisproblem, sondern es gibt ein Umsetzungsproblem. ({0}) Dass es dieses Umsetzungsproblem gibt, ist nicht zuletzt Schuld der vorigen Bundesregierung. ({1}) Jetzt endlich geht es darum, das vorhandene Wissen umzusetzen und anzuwenden. Gefragt sind Innovationen auf unterschiedlichen Ebenen. Denn nur Innovationen sind der Schlüssel für die Lösung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Kernfragen der Gegenwart und damit Voraussetzung zur Zukunftssicherung. Schon heute wird auf ganz vielen Baustellen in unserem Land an innovativen Lösungen gearbeitet. Ich nenne zum Beispiel auf lokaler Ebene die Agenda-Initiativen und die Gewerkschaften. In Kirchen, Schulen und in vielen anderen Bereichen arbeiten Bürger an ganz konkreten Projekten für nachhaltige Entwicklung. Dass nachhaltige Entwicklung kein Spezialthema für Ökofreaks ist - wie dies manche immer noch meinen -, sondern Kreativität, Know-how und Kapital in allen Teilen der Gesellschaft mobilisieren kann, zeigen viele fortschrittliche Unternehmen, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind. ({2}) Dass wir zum Beispiel eine Strategie weg vom Öl brauchen, ist ja keine rot-grüne Erfindung. Wenn man sich die Geschäftspolitik und die Konzernpolitik von BP und Shell genauer ansieht, stellt man fest, dass sie sehr frühzeitig erkannt haben, dass das Zeitalter des billigen, einfach zu fördernden Öls in absehbarer Zeit zu Ende gehen wird. Deswegen investieren sie schon seit geraumer Zeit in Solartechnik. Sie tun dies nicht aus ideologischen oder ökologischen Gründen, sondern aus ganz schlichten ökonomischen Erwägungen, damit auch in Zukunft die Dividenden ihrer Aktionäre stimmen. ({3}) Wenn Sie einen Blick auf die Situation der Automobilkonzerne werfen, stellen Sie fest, dass sie sich einen Wettlauf um umweltfreundlichste Antriebstechniken - Stichwort Brennstoffzelle - liefern. Große Versandhäuser und Handelsketten haben Nachhaltigkeit längst als Wettbewerbsvorteil erkannt und bauen auf Kundenbindung durch ökologische Qualität. Da wir schon über die Unternehmen sprechen, möchte ich Ihren Blick gerne auf die Weltfirma Sony lenken, bei der „sustainable development“ Teil der Unternehmensphilosophie geworden ist, und zwar nicht nur semantisch, sondern ganz praktisch. Es gibt konkrete Zielvorgaben mit einem klaren Zeithorizont, die für das gesamte Management, für jede Einheit und für jeden Mitarbeiter rund um den gesamten Erdball verpflichtend sind. Bei der Beschreibung dessen, was Sony tut, sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt: Nachhaltige Zukunftssicherung ist keine ideologische Frage, sondern eine Frage von Strategie, Management und Organisation. ({4}) - Wenn sich die Kolleginnen und Kollegen von der Union etwas leiser unterhalten würden, wäre dies ganz hilfreich. ({5}) Das ist nicht nur eine Aufgabe für die Wirtschaft, sondern vor allen Dingen auch eine Aufgabe für Staat und Verwaltung. „Good governance“ oder „gutes Regieren“ ist das Stichwort. Wir als Koalitionsfraktionen haben die Empfehlungen der Enquete-Kommission ernst genommen. Was wir in unseren Wahlprogrammen und im Koalitionsvertrag angekündigt haben, lösen wir ein. Endlich ist Politikinnovation angesagt. ({6}) Die Bundesregierung hat beschlossen, eine nationale Strategie für eine nachhaltige Entwicklung zu erarbeiten. Das Ganze ist beim Kanzleramt angesiedelt. Es ist Chefsache. ({7}) - Das ist eine Forderung, die auch Ihre Fraktion damals in der Enquete-Kommission unterstützt hat. Vielleicht lesen Sie einfach einmal die Mehrheitsentscheidung von damals. ({8}) Ich denke, dies ist für die Öffentlichkeit ein ganz entscheidendes Signal. ({9}) Viele Menschen haben lange darauf gewartet. Aber es ist auch ein entscheidendes Signal für alle Ressorts. Denn Verantwortung für nachhaltige Entwicklung hat eben nicht nur das Umweltministerium, sondern die gesamte Regierung. Alle relevanten Fachministerien sind in der Pflicht. Dem Staatssekretärsausschuss, der eingerichtet worden ist, gehören zehn von ihnen an. ({10}) Umdenken und neue Kooperationen sind gefragt. Das erfordert neue Formen der Organisation von Entscheidungsprozessen und des Politikmanagements. Der erwähnte Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung trägt dieser Erkenntnis Rechnung. ({11}) - Sie sind doch gleich dran, Frau Homburger. Darauf komme ich gleich noch. Zunächst einmal werden dort zwei Projekte bearbeitet, nämlich Klimaschutz und umweltgerechte Mobilität. Ich weiß, dass sich manche - nicht nur hier im Hause, sondern auch bei vielen Umweltgruppen - gewünscht hätten, dass schon jetzt mehr Projekte ganz konkret begonnen worden wären. Aber ich breche wirklich eine Lanze für eine Beschränkung zu Beginn und auch für eine gewisse Bescheidenheit. Denn nachhaltige Entwicklung ist ein Lernprozess. Es geht darum, neu zu denken und anders zu entscheiden als bisher. Das ist eine Frage, die nicht nur jede Organisation und jede Institution, sondern auch jeden Einzelnen betrifft, sei er Bürger, Beamter oder in irgendeiner anderen Form für Entscheidungen im täglichen Leben verantwortlich. Das braucht Zeit. Mit Überfrachtung wäre an der Stelle niemandem gedient. Weil wir als Koalitionsfraktionen diesen Prozess unterstützen wollen, legen wir Wert auf eine regelmäßige Berichterstattung und auf ein Monitoringsystem. Wir gehen davon aus, dass im Laufe der Zeit konkrete Umweltziele und Indikatoren formuliert werden, um die Fortschritte sichtbar zu machen. Natürlich werden wir in Zukunft auch weitere Handlungsfelder bearbeiten. Meine Fraktion hat eine Arbeitsgruppe gegründet, die ganz konkrete Initiativen entwickeln wird. Aber eines ist völlig klar: Was in den Jahren seit der Konferenz von Rio liegen geblieben ist, kann nicht innerhalb von zwei Jahren nachgeholt werden. Entscheidend ist jedoch: Die Weichen sind neu gestellt. ({12}) Dass Nachhaltigkeit für die Bundesregierung kein begrenztes Projekt ist, macht die Berufung des Nachhaltigkeitsrates, die in den nächsten Tagen erfolgen wird, deutlich; denn dieser wird für eine längere Dauer als für diese Legislaturperiode berufen. Nachhaltige Entwicklung wird in den kommenden Monaten und Jahren ein sehr wichtiges Thema bleiben. Die EU-Kommission wird auf Initiative des Europäischen Rates von Helsinki Mitte nächsten Jahres eine europäische Nachhaltigkeitsstrategie vorlegen. Die schwedische Präsidentschaft wird Nachhaltigkeit zu einem ihrer entscheidenden Beiträge machen. Wir gehen davon aus, dass diese Bundesregierung bei der Rio-Folgekonferenz 2002 substanzielle Fortschritte vorweisen wird - im Gegensatz zu dem, was die Vorgängerregierung gemacht hat. ({13}) Es ist zweifellos ein ehrgeiziges Ziel, bis dahin eine Nachhaltigkeitsstrategie zu konzipieren. Sie wird kontinuierlich weiterzuentwickeln sein. Wir haben aber in der letzten Zeit wichtige Aufgaben erledigt. Ich nenne nur die Stichworte Energiewende, Generationengerechtigkeit, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Schaffung neuer Jobs. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Das macht mich zuversichtlich, dass die Koalition in der Umsetzung des neuen Fortschrittsmodells erfolgreich sein wird. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sicherung des Naturkapitals, Solidarität zwischen den Generationen, globale Partnerschaft - das sind die Eckpfeiler unseres Weges einer nachhaltigen Zukunftssicherung, einer neuen Kultur der globalen Verantwortung, einer neuen Leitkultur. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Franz Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Seit der Vorlage des Endberichts „Our Common Future“ der nach ihrer Vorsitzenden Brundtland benannten Kommission der Vereinten Nationen im Jahre 1987, spätestens aber seit der Konferenz von Rio im Jahre 1992, ist die Diskussion um eine nachhaltige bzw. zukunftsfähige Entwicklung aus der wissenschaftlichen und politischen Diskussion nicht mehr wegzudenken. Ziel einer nachhaltigen Entwicklung - das ist jetzt eine etwas andere Definition als die meiner Vorrednerin - ist, die Voraussetzungen für eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen aller Menschen, der heute und zukünftig lebenden, entsprechend ihren jeweiligen Bedürfnissen zu schaffen. Die Produktivität und der immaterielle Wert von Umwelt und Natur müssen auf Dauer erhalten bleiben. ({0}) Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung beinhaltet einerseits die Forderung nach schonender Nutzung und Erhaltung der Umwelt, zum anderen die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Obwohl immer wieder festzustellen ist, dass das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen eine breite Zustimmung findet, gehen doch die Vorstellungen und Interpretationen dieses Leitbilds weit auseinander. Eine einheitliche Operationalisierung gibt es bis dato ebenso wenig wie eine verbindliche Definition. Wir stellen nur immer wieder fest, dass der Begriff der Nachhaltigkeit als bloße Worthülse verwendet wird, die von den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen für ihre jeweiligen Interessen instrumentalisiert wird. Das Zauberwort Nachhaltigkeit ist in aller Munde, ohne dass jemand genau sagen könnte, was damit konkret gemeint ist. ({1}) Geht man einmal auf den Ursprung zurück, dann stellt man fest, dass der Begriff der Nachhaltigkeit keine Erfindung der jetzigen Bundesregierung ist, sondern bereits im 18. Jahrhundert auftauchte, und zwar im Bereich der Forstwirtschaft. ({2}) Nachhaltigkeit wurde damit definiert, dass in einem Jahr nur derjenige Holzbestand entnommen werden durfte, der in diesem Jahr auch nachwuchs. Bei dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung handelt es sich heute um ein normativ-ethisches Konzept, das in vielfältiger Beziehung zu den gesellschaftlichen Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität steht. Gerechtigkeit und Solidarität sollen nach dem heutigen Verständnis von Nachhaltigkeit nicht nur zwischen den einzelnen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen, sondern auch global zwischen den Ländern und Kontinenten geübt werden. Im Einzelnen leiten sich daraus drei grundwertbezogene Verantwortlichkeiten ab, die den Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung bestimmen sollen. Erstens. Alle heute lebenden Menschen sollen ein menschenwürdiges Leben in freier Selbstbestimmung führen können. Zweitens. Die heutige Generation hat bei ihren Entscheidungen die Verantwortung dafür zu tragen, dass den künftigen Generationen die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten gegeben sind wie heute. Drittens. Aus dem Postulat der interpersonellen Gerechtigkeit resultiert auch die Verpflichtung der Industrieländer gegenüber den Entwicklungsländern, der weltweit wachsenden Armut entgegenzuwirken und die Entwicklungsmöglichkeiten in den Ländern der Dritten Welt zu verbessern. Basierend auf der erweiterten Sicht von nachhaltiger Entwicklung der Enquete-Kommission des 12. Deutschen Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ unter der Führung der CDU/CSU ({3}) muss die integrative und gleichberechtigte Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und sozialer Belange im Mittelpunkt stehen. Diese Orientierung müssen wir auch in Zukunft verstärkt aufgreifen, sodass das Modell der ökologischen und sozialen Marktwirtschaft überall auf der Welt zum Grundgerüst einer nachhaltigen Entwicklung wird. Nach unserem Verständnis ist Nachhaltigkeit kein starres Programm, das nur auf nationalstaatlicher oder auf internationaler Ebene planerisch Ziele und Maßnahmen festlegt, die Solidarität und Gerechtigkeit einfordern, sondern ein ständiger Suchprozess, an dem sich möglichst alle Menschen und gesellschaftlichen Gruppen eigenverantwortlich beteiligen müssen. Die Bundesregierung hingegen benutzt den Begriff der Nachhaltigkeit, um vermehrt zu dirigistischen Maßnahmen zu greifen, und bewirkt damit schlussendlich genau das Gegenteil einer nachhaltigen Entwicklung. ({4}) Sie begreift den Begriff Nachhaltigkeit als Instrument, nicht hingegen als Wertvorstellung, die in unser aller Köpfen verankert werden muss. Unter dem Vorwand einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie versucht sie, ihr Handeln, das im diametralen Gegensatz zum Leitbild der nachhaltigen Entwicklung steht, zu rechtfertigen. Bestes Beispiel ist der von Ihnen als wichtige Weichenstellung für eine nachhaltige Entwicklung bezeichnete Ausstieg aus der Kernenergie. ({5}) Der Widerspruch Ihres Handelns zeigt sich doch ganz offensichtlich, wenn man betrachtet, was Sie eigentlich ({6}) mit dem vermeintlichen Atomausstieg erreicht haben. Auf der einen Seite proklamieren Sie immerfort, dass Kernenergie gefährlich ist; ({7}) sie ist so gefährlich, dass man schnellstmöglich auf diese Technologie verzichten müsse, koste es, was es wolle. Andererseits wiederum einigen Sie sich mit der Energiewirtschaft auf Laufzeiten bis zum Jahr 2020. ({8}) Da fragt man sich natürlich: Wenn das schon so gefährlich ist, wie kann man dann derartig lange Fristen vereinbaren? ({9}) Zum anderen sind Sie bis heute nicht in der Lage, schlüssig zu erklären, wie man klimaverträglich Kernenergie ersetzt, insbesondere vor dem Hintergrund der Klimaschutzziele. ({10}) Auch da frage ich Sie: Wie passt das zum Leitbild der Nachhaltigkeit? Ihre bis dato gemachten Ausführungen zu einem klimaverträglichen Ersatz der Kernenergie mithilfe von Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen ({11}) sind völlig haltlos. Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen können Kernkraftwerke in der Grundlast prinzipiell nicht ersetzen. ({12}) Unabhängig davon sind Ihre Zielvorstellungen bezüglich der Verdopplung der Kraft-Wärme-Kopplung schon aussagekräftig genug. Gerade dieses Verdopplungsziel zeigt einmal mehr, dass Ihr Handeln dem Gedankengut der Nachhaltigkeit zuwiderläuft. ({13}) Bis zum heutigen Tag ist nicht erwiesen, dass diese pauschale Verdopplung von der Zielrichtung her ökologisch sinnvoll ist. Selbst Ihr Bundeswirtschaftsminister Müller hat sich aus diesem Grunde schon längst von dem Verdopplungsziel verabschiedet. ({14}) Unabhängig davon, wie Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen zu beurteilen sind, steht jedenfalls fest, dass Sie mit der Verdopplung der Kraft-Wärme-Kopplung willkürlich eine bestimmte Technologie fördern. Damit legen Sie Strukturen für Jahrzehnte fest und verhindern die Weiterentwicklung und Markteinführung neuer, effizienter Technologien. ({15}) Was Sie hier abziehen, ist nicht das, was ich unter nachhaltiger Entwicklung verstehe. Ich könnte noch länger so fortfahren. Auch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist ein schönes Beispiel für die einer nachhaltigen Entwicklung zuwiderlaufende Politik der Bundesregierung. ({16}) Ich denke nur an die Photovoltaik, die Sie mit 99 Pfennig fördern. Ihre ganze Subventionspolitik hat dazu geführt, dass die Vorteile, die sich aus der Liberalisierung der Strommärkte insbesondere für den Verbraucher ergeben haben, vollständig aufgezehrt werden. ({17}) Der Verbraucher wird dank Ökosteuersubventionierung für KWK und EEG bereits jetzt übermäßig belastet, wobei diese Belastungen weiter wachsen werden. An diesen Beispielen zeigt sich ganz deutlich, dass Sie den Begriff der Nachhaltigkeit instrumentalisieren und als Rechtfertigung für Ihr Handeln missbrauchen, aber ökologische Belange kaum berücksichtigen. ({18}) Ökonomie und Soziales bleiben bei Ihrem Tun völlig außen vor.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Obermeier, kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für Sie scheint völlig unwichtig zu sein, Energie, die Grundlage für ein menschenwürdiges Leben ist, für jedermann bezahlbar zu machen. Sie gefährden mit Ihrer Politik den Wirtschaftsstandort Deutschland ({0}) und opfern in massiver Weise Arbeitsplätze. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Winfried Hermann von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Obermeier, beim ersten Teil Ihrer Rede war ich drauf und dran, Ihnen Beifall zu spenden; denn Sie haben in vieler Hinsicht grundlegende Einsichten der Nachhaltigkeitsdebatte noch einmal formuliert und zitiert. Das war blitzsauber, das war in Ordnung. Da habe ich gedacht: Gut, wir haben hier eine gemeinsame Basis; endlich sind wir auch im Bundestag so weit, dass wir nicht nur nach Parteien klatschen, sondern auch einmal aufeinander zugehen und Diskurse führen. ({0}) Im zweiten Teil Ihrer Rede haben Sie - es tut mir Leid, dass ich das so deutlich sagen muss - Nachhaltigkeit neu definiert, nämlich so: Nachhaltig ist, wenn du immer wieder das Gleiche unter anderem Etikett sagst. ({1}) Das ist nicht Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist der Versuch, Dinge neu anzugehen und nicht immer wieder durch dieselbe alte ideologische Brille zu betrachten. Sie haben sich mit der Bundesregierung und ihrem Nachhaltigkeitsbegriff auseinander gesetzt und behauptet, die Bundesregierung habe vor, in dirigistischer Weise Nachhaltigkeit herbeizuführen. Das Gegenteil ist wahr. Wo immer wir von den Koalitionsfraktionen und auch von der Regierung uns äußern, ist eines klar: Nachhaltigkeit ist eine regulative, eine normative Leitidee, an der entlang man Politik formulieren muss. Sie ist ein hoch stehender Wert, aber sie ist eben nicht konkret. Konkret wird Politik dann, wenn man sie macht. Dann muss man in der Tat fragen: Ist dies oder jenes, was wir tun, wirklich nachhaltig oder widerspricht es der Nachhaltigkeit? Insofern - da gebe ich Ihnen Recht - muss man das immer wieder aufs Neue prüfen. Ich bin der Meinung: Wir sind heute an einem Punkt angelangt, an dem wir uns durchaus selbstkritisch fragen müssen, was wir bisher alles unter der Leitvorstellung Nachhaltigkeit erreicht haben, was wir getan haben ({2}) und wieweit wir, gemessen an der hierarchischen Bewertung dessen, was uns in der Politik wichtig ist, gekommen sind. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich hätte mir heute gewünscht, dass wir gut ein Jahr, nachdem der Deutsche Bundestag einstimmig beschlossen hat, eine Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten, und die Bundesregierung aufgefordert worden ist, einen Nachhaltigkeitsrat, ein grünes Kabinett usw. einzurichten - diesen Beschluss haben wir einstimmig gefasst -, ({3}) hätten sagen können: Da ist der Nachhaltigkeitsrat; da sind erste Entwürfe einer Strategie. Ich sage ganz selbstkritisch: Dies ist nicht zustande gekommen. Ich bedauere das außerordentlich. ({4}) Allerdings finde ich - auch dies gehört zu einer neuen Kultur im Bereich der Nachhaltigkeit -, dass man nicht immer nur auf die anderen zeigen und sich selber als den Besseren darstellen sollte. ({5}) Denn seien wir doch einmal ehrlich: Was ist gewesen? 1992 hat die damalige Regierung in Rio einen Vertrag unterschrieben und sich zur Nachhaltigkeit und zur Entwicklung einer entsprechenden Strategie verpflichtet. Eine solche Strategie ist nicht entwickelt worden. 1998 hat die neue Bundesregierung, die neue Mehrheit, beschlossen: Wir entwickeln eine Strategie. Dann hat es ein halbes Jahr gedauert, bis wir uns geeinigt haben, einen entsprechenden Antrag einzubringen. Dann hat es ein weiteres halbes Jahr gedauert, bis wir diesen Antrag in das Plenum eingebracht haben, und dann hat es wiederum ein weiteres halbes Jahr gedauert, bis das Kabinett dies in Form eines Kabinettsbeschlusses umgesetzt hat. ({6}) Jetzt ist wieder ein halbes Jahr um und es ist immer noch nichts konkret umgesetzt worden. ({7}) Dazu sage ich: Das dauert mir zu lange. Es gibt in Sachen Nachhaltigkeit vier Definitionen. Ich will eine hinzufügen; denn manchmal habe ich den Eindruck, dass da und dort eine neue Definition auftaucht, die heißt: Wir dürfen in unserer Generation nur so viele Probleme lösen, dass die nachwachsenden Generationen noch reichlich davon übrig haben. Auch diese Definition, so meine ich, müssten wir dringend bekämpfen. Denn es ist nicht Reden - darauf hat Ulla Burchardt sehr deutlich hingewiesen -, sondern Handeln angesagt. Das erwarten die Menschen von uns. ({8}) - Ich bin heute nicht hier, um Herrn Töpfer zu beurteilen, sondern deshalb, um darüber zu sprechen, wie man eine Strategie entwickelt. Wir sind nicht untätig gewesen. Ich bin auf Ihre Beiträge gespannt. Jedenfalls haben wir uns die Mühe gemacht, nicht nur zu sagen, was wir von der Regierung wollen, sondern in einem Antrag klipp und klar formuliert, was zu einer Nachhaltigkeitsstrategie gehört. Denn dies ist natürlich schon umstritten. Sagt man nur, all das, was man politisch macht, sei Teil der Strategie, oder unternimmt man wirklich einmal den Versuch, strategisch für bestimmte Handlungsfelder eine bestimmte Politik zu formulieren und zu sagen: Das und das sind für uns wichtige Ziele, wir wollen kurz-, mittel- und langfristig diese genau umrissenen qualitativen Ziele erreichen? Dazu muss man dann sagen, mit welchen Mitteln, mit welchen Gesetzen und mit welchen Maßnahmen man das erreichen will und wer das tun soll. Das ist, grob umrissen, das, was wir formal unter Strategie verstehen, und das haben wir genau so in den vorliegenden Antrag hineingeschrieben. Wir haben auch deutlich gemacht, dass es zu einer Strategie gehört, dass man Handlungsfelder ausweist und sagt: Auf diesen Feldern wollen wir in besonderer Weise ansetzen. Einen Bereich haben wir schon abgearbeitet: Das ist - zumindest als strategisches Konzept - der Bereich Klimaschutz. Die Arbeit der Umsetzung steht natürlich noch an. ({9}) Der nächste Bereich ist die Entwicklung einer sozialen und umweltverträglichen Mobilitätsstrategie. Auch hier müssen wir Ziele und Maßnahmen entwickeln und auch hier wird man konkrete Fragen stellen. Ich freue mich, dass Kollege Müntefering heute zu diesem Thema sprechen wird. ({10}) Ich wäre ihm dankbar, wenn er mir hier einmal erklären würde, inwiefern es nachhaltig ist, wenn man für Fernpendler eine höhere Entfernungspauschale festlegt als für Normalpendler. Ich habe immer gedacht, der Verbrauch pro Kilometer sei immer gleich teuer, egal wo und wie man fährt. Zudem sind Entfernungen zwischen Wohnort und Arbeitsort als solche natürlich problematisch. Denn dies hat etwas mit Zersiedlung, mit Energieverbrauch zu tun. Auch hier sehen Sie: Wir diskutieren und streiten da und dort auch um die richtige Lösung. Es ist hier überhaupt keine Selbstgefälligkeit angesagt. Denn das ist der grundfalsche Ansatz in Sachen Nachhaltigkeitsstrategie. Aus unserer Sicht ist neben den bereits genannten zwei Handlungsfeldern unbedingt notwendig, auch den Bereich Ernährung und Gesundheit anzugehen. Ich glaube, der BSE-Skandal ist die letzte Warnung; wir müssen zu einer Konversion im Landwirtschafts- und Ernährungsbereich kommen. ({11}) Ebenso sehe ich es als unabdingbar an, dass wir diese Strategie nicht nur national, sondern im globalen, internationalen Maßstab verfolgen. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir das Thema „Eine Welt“ in alle Bereiche hineindenken müssen. Wir brauchen auch insoweit eigene Vorstellungen. Wir könnten zum Beispiel ungeheuer viel leisten, wenn wir in Sachen nachhaltiger Entwicklung in den Bereichen Politik, Administration und Technik besser kooperieren würden - sei es durch Austausch von Verwaltungsexperten aus unseren Kommunen mit solchen aus den südlichen Ländern, sei es im Bereich Energie durch ökologische und effiziente Technologien, sei es durch die Entwicklung ökologischer und sozialverträglicher Mobilitätskonzepte für Entwicklungsländer. Ich glaube, wir haben noch einiges vor, wenn wir diese Konzepte erarbeiten wollen. Schließlich müssen wir im Bereich der Wirtschaft über Stoffströme, über Konsummuster und über Produktionsmuster beispielhaft diskutieren. Es geht darum, wie man von einem noch nicht nachhaltigen zu einem nachhaltigen Konzept kommt. Es stellt sich die Frage, welche Rolle das Parlament in diesem Prozess spielt. Ich hatte in einer frühen Phase vorgeschlagen, dass das Parlament einen eigenen Ausschuss bildet oder eine besondere institutionelle Konstruktion schafft, um diesen Prozess zu begleiten. Aus meiner Sicht ist es dringend notwendig, dass es einen öffentlichen und konsequenten Diskurs gibt, der nicht nur immer mal wieder stattfindet. Im letzten Jahr hat sich abgezeichnet, dass diese Debatte - so sehr das Interesse vorhanden ist - einfach nicht genügend Resonanz findet, jedenfalls nicht die Resonanz, die sie für die Zukunft bräuchte. „Rio plus 10“ - das ist unser Anspruch, darin soll unser Konzept münden. Wir haben jetzt gut anderthalb Jahre bei der Planung verloren. Vielleicht waren sie nicht ganz verloren, weil wir ja vorgedacht haben. Aber jetzt gilt es, im nächsten Jahr hart zu arbeiten, um diese Strategie wenigstens so weit voranzutreiben, dass wir im Hinblick „Rio plus 10“ - wahrscheinlich in Südafrika - sagen können: Das ist unsere Vorstellung von einer nationalen Nachhaltigkeitsstrategie; so wollen wir es machen und so können wir uns vorstellen, erfolgreich zu sein. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss und möchte gerne einen Autor zitieren, der in diesem Hause selten zitiert wird, weil er schwer zitierbar ist. Ich meine Walt Disney. Dieser geniale Zeichner hat verschiedene Geschichten gemalt und damit auch geschrieben. Eine hat er sich für Dagobert Duck unter dem Titel „Zurück ins Land der Zwergindianer“ erdacht: Duck hat seinen Reichtum immer wieder vermehrt und zu diesem Zweck Kohlegruben, Industrie- und Chemieanlagen angelegt. Er hat alles getan, um das Land zu verbrauchen und zu verwüsten. Dabei hat er die dort lebenden Zwergindianer vertrieben; ihr Protest dagegen war zwecklos. Dann kam ein großer Feuersturm, die Anlagen brannten ab und waren am Schluss zerstört. Duck hat nachgedacht und sich gefragt, was dieses Zeichen bedeutet. Da ging er zu den Zwergindianern und hat gesagt, er habe verstanden: „Es gibt offensichtlich nur einen Weg voranzukommen, und der heißt: nachhaltig produzieren.“ ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. - Was lehrt unser dieser Comic? Im Comic kann man wieder von vorne anfangen, in der Realität nicht. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Homburger das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einerseits freue ich mich über die Gelegenheit, heute über die nationale Nachhaltigkeitsstrategie zu reden. Andererseits wundere ich mich über den wortreichen Antrag, den Sie hier abgeliefert haben. ({0}) Ich will meine Redezeit nicht für eine Tour d’Horizon nutzen, so nach dem Motto: Wir erzählen bei jeder Nachhaltigkeitsdebatte dasselbe. Ein Fortschritt ist nicht zu sehen. Die Leute, die uns zuhören - jedenfalls diejenigen, die das bei dem Thema des Öfteren tun -, langweilen wir nur noch, auch wenn das, was der Kollege gerade vorgetragen hat, teilweise regelrechte Zirkusatmosphäre hat entstehen lassen. ({1}) Aber letztlich erreichen wir nichts anderes, als dass wir die Interessierten vor den Kopf stoßen. Im Grundsatz waren wir uns in diesem Hause seit Abschluss der Enquete-Kommission in der letzten Legislaturperiode einig, dass es einen Nachhaltigkeitsprozess und auch einen nationalen Nachhaltigkeitsrat geben soll. ({2}) Beides haben wir in einem gemeinsamen Antrag im Umweltausschuss noch vor der Sommerpause 1999 einstimmig beschlossen. ({3}) In dem Antrag steht auch klar, dass die Bundesregierung aufgefordert wird, noch 1999 - jetzt haben wir Ende 2000 - einen Rat für nachhaltige Entwicklung mit Querschnittsaufgaben einzusetzen. ({4}) Schließlich gehörten die Themen Nachhaltigkeitsrat und Nachhaltigkeitsstrategie zu einem Ihrer Prestigeprojekte, Frau Burchardt, und besaßen allerhöchste Priorität. Ich kann nur sagen: Schade, dass Sie daraus absolut nichts gemacht haben, ({5}) obwohl Sie sich der Unterstützung der Opposition sicher sind. ({6}) - Ursula Burchardt [SPD]: Es läuft doch!) Angesichts der breiten Unterstützung in diesem Hause ist bemerkenswert, welchen Stellenwert die Sache bei der Bundesregierung und auch beim Bundeskanzler hat. ({7}) Bezeichnend ist, dass in dieser Debatte wieder kein Vertreter der Bundesregierung spricht. ({8}) Am 15. Dezember 1999 hat das BMU im Umweltausschuss auf Antrag der F.D.P.-Fraktion noch einmal einen Bericht über den Sachstand gegeben. Die Parlamentarische Staatssekretärin Probst - sie ist anwesend - erklärte seinerzeit, also am 15. Dezember 1999, die Bundesregierung plane für Januar 2000 einen Kabinettsbeschluss. Danach solle unverzüglich ({9}) der Rat für Nachhaltigkeit - sogar ein ständiger Staatssekretärsausschuss - unter Vorsitz des Bundeskanzleramtes zur übergreifenden Koordinierung eingesetzt werden. Das weist das Protokoll aus. Während der Bundestag den entsprechenden Beschluss am 20. Januar 2000 einstimmig gefasst hat, ist von Ihrer Seite, ist vonseiten der Regierung absolut nichts passiert. ({10}) - Ja, gerade einmal den Sekretärsausschuss gibt es, aber es gibt weder den Nachhaltigkeitsrat noch die Nachhaltigkeitsstrategie, Frau Burchardt. Es ist schon peinlich, dass Sie sich nach alledem, was Sie am Anfang vollmundig verkündet haben, hier zu Wort melden und sagen: So ein bisschen, einen Teil haben wir ja gemacht. ({11}) Ich muss schon sagen, Sie haben eine komische Definition für „unverzüglich“. Eigentlich heißt „unverzüglich“: ohne schuldhaftes Zögern. - Die Bundesregierung lehrt uns jetzt, dass „unverzüglich“ das Synonym für „mindestens ein Jahr“ ist. ({12}) Frau Burchardt, Sie haben gesagt, der Nachhaltigkeitsrat würde in den nächsten Tagen endlich berufen. Ich bin gespannt, wofür dieses „in den nächsten Tagen“ einmal als Synonym stehen wird. Wir werden es erfahren. ({13}) Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist alt. Kollege Obermeier hat es gerade gesagt: Schon seit über 200 Jahren wird das Prinzip der Nachhaltigkeit von der Forstwirtschaft beherzigt. Langfristig darf nicht mehr Holz geschlagen und genutzt werden, als im gleichen Zeitraum nachwächst. Auch für unsere moderne Wirtschaftsweise bestehen solche natürlichen Nutzungsgrenzen. Der Erhalt der Umwelt ist zwingende Voraussetzung für die weitere soziale und wirtschaftliche Entwicklung. Alle drei Aspekte - ökologische, ökonomische und soziale - müssen stets miteinander abgewogen werden. Das gilt im nationalen wie auch im internationalen Bereich und muss jetzt auch in einen entsprechenden NachhaltigkeitsproBirgit Homburger zess münden, muss umgesetzt und im Einzelnen definiert werden. Ärgerlich an der ganzen Sache ist zweierlei: Erstens. Statt den Prozess anzustoßen, haben Sie mit Ihrem Antrag eine Rolle rückwärts vorgelegt, indem Sie alte ökologische Steckenpferde aus der Mottenkiste holen und ihnen ein neues Mäntelchen umhängen. Damit schaden Sie der Gesamtidee, Frau Burchardt. ({14}) Sie haben zweitens die Opposition mehrfach eingeladen, Experten für den Nachhaltigkeitsrat zu benennen. Ich habe Ihnen mit Schreiben vom April dieses Jahres eine geeignete Persönlichkeit vorgeschlagen. Bis heute gibt es keinerlei Entscheidung. Am 26. Juli dieses Jahres hat der Minister auf nochmalige Nachfrage immerhin mitgeteilt, dass der Bundeskanzler beabsichtige, einen entsprechenden Nachhaltigkeitsrat einzusetzen. - Das ist alles. Die Art und Weise Ihres Handelns erstickt jede Begeisterung für die Idee und frustriert diejenigen, die sich gerne für die Nachhaltigkeitsstrategie einsetzen wollen. ({15}) Das Fazit ist: Ihr wortreicher Antrag hat einzig und allein die Funktion, Ihre nachgewiesene Untätigkeit zu vernebeln. ({16})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDS-Fraktion das Wort.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor mehr als drei Jahren hatten wir hier eine Debatte zum nationalen Umweltplan. Einen ersten Vorschlag hatte Frau Merkel im Frühjahr 1998 gemacht. Er scheiterte jedoch am Kabinett und am Wahlergebnis. Die Zeit ist nun ins Land gegangen; auf den Plan warten wir noch heute. Nun soll unter Rot-Grün eine umfassende nationale Nachhaltigkeitsstrategie entworfen werden. Wir begrüßen das im Grundsatz, sind aber angesichts verschiedener Zeichen etwas skeptisch. Ein zentraler Punkt dieser Strategie soll sein, dass sie interdisziplinär und unter Beteiligung der Öffentlichkeit erarbeitet wird. Nun tagt seit Anfang des Jahres - seit dem 26. Juli auch offiziell - der Staatssekretärsausschuss zur nachhaltigen Entwicklung. Dieser Ausschuss besteht anscheinend aus Geheimräten; ({0}) denn aus dem Gremium dringt nichts nach außen ({1}) Abschottung total, von Transparenz oder gar Partizipation keine Spur. Nun könnte man sagen: Sollen die einmal die heiklen Ressortabstimmungen etwas glätten. Schließlich gibt es noch den Rat für Nachhaltigkeit, der nun aus Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zusammengesetzt werden soll. In diesem Rat sollen relevante gesellschaftliche Gruppen vertreten sein; durch die VIPs ist Öffentlichkeit ja per se hergestellt. Nur leider liegt die Mappe mit den - wiederum geheimen - Namensvorschlägen seit Monaten auf dem Tisch des Bundeskanzlers und wird jeden Montag abgestaubt. ({2}) Hier scheint keine rechte Aufbruchstimmung zu herrschen. Meine Kollegen von den Grünen sind da nur zu bedauern. Oder ist das Ganze eine geschickte Strategie? Die Regierungsressorts arbeiten im Untergrund, stellen schon einmal Weichen, deren Richtung der Öffentlichkeit in Häppchen gnädig verkündet wird. Wenn dann endlich alles nach dem Geschmack der SPD - besser gesagt: in Abstimmung mit der Auto- und EVU-Lobby - zurechtgeschoben wurde, wird noch feierlich das Geheimnis der geadelten Persönlichkeiten des imaginären Rates für Nachhaltigkeit gelüftet. Für eine tatsächliche Beteiligung der Öffentlichkeit ist es dann aber leider zu spät. Spannend wäre auch, zu wissen, wer eigentlich eine „Person des öffentlichen Lebens“ und was eine „relevante gesellschaftliche Gruppe“ ist. Der Dreiklang zwischen Sachkompetenz, politischer Vielfältigkeit und dem Anspruch, wirklich bekannte Gesichter in den Rat einzubinden, ist schließlich nicht so einfach herzustellen. Ist eine „relevante gesellschaftliche Gruppe“ auch eine, die nicht nur Chancen und Risiken dieser oder jener Entwicklung, beispielsweise der Globalisierung, abwägt? Freut sich RotGrün auch über Leute, die gelegentlich die auf totale Gewinnmaximierung ausgerichteten ökonomischen Strukturen unseres Wirtschaftssystems grundsätzlich thematisieren? Ich bin auch da skeptisch, denn in den Gremien dieses Hauses wurde doch bisher jede Position marginalisiert, die das böse Wort „Kapitalismus“ in den Mund nimmt. ({3}) Der Anteil der profitorientierten Marktwirtschaft an dem gigantischen Ressourcenverbrauch und der ständig wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich auf dieser Erde wird hier nicht gerne hinterfragt. ({4}) Ich möchte nicht missverstanden werden: Eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie wäre sicher ein Fortschritt. Wenn sie allerdings nicht in eine ernsthafte Diskussion um die grundsätzliche Organisation unserer Produktions-, Verteilungs- und Lebensweisen eingebettet wird, wird sie eine Spielwiese für Regierungsbeamte, Vorzeigepromis und Jetset-NGOs. Die Abrechnung des Erreichten wird später einmal nichts anderes als eine peinliche Chronik des Versagens werden. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Franz Müntefering von der SPD-Fraktion das Wort.

Franz Müntefering (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001570, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft und unsere Politik befinden sich in einer Phase der Orientierung. Die kurzatmige Politik der Konkurrenz zwischen den beiden großen Blöcken und Systemen ist obsolet, seitdem vor zehn Jahren das eine System in die Knie gegangen ist. Jetzt muss unsere soziale Marktwirtschaft zeigen, dass sie mehr ist als ein System, das der Planwirtschaft überlegen ist. Sie muss zeigen, ob und wie sie tauglich ist, nicht nur Wohlstand und Lebensqualität zu schaffen, sondern beides dauerhaft, über Zeit und Generationen hinweg, zu sichern. Dabei wissen wir: Markt ist nicht von Natur aus sozial. Er ist auch nicht von Natur aus auf Dauerhaftigkeit ausgerichtet. Er will das Optimum jetzt. Generationengerechtigkeit ist nicht seine Sache. Messlatte ist allzu oft die aktuelle Jahresbilanz, vielleicht noch der Produktzyklus oder die Amtsdauer eines Vorstandsvorsitzenden. Aber wir Politiker sind da nicht immer besser und klüger. Der Vierjahresrhythmus der Wahlen verführt in der Demokratie leicht dazu, in Legislaturbilanzen zu denken und die politische Praxis zu stark auf die nächsten Wahltermine auszurichten. ({0}) Nicht immer haben wir den Mut, Beweis zu führen und Mehrheiten zu suchen für die Wahrheit, dass die Politik von heute und für heute nur richtig sein kann, wenn ihre Konsequenzen auch morgen und übermorgen tragfähig sind. ({1}) Ohne Frage, die Regierung Kohl hat in wesentlichen Bereichen, mindestens in den 90er-Jahren, durch das Schielen auf Wahltermine oder aus Unfähigkeit nicht getan, was unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit hätte getan werden müssen. Sie hat Probleme aufgebaut und nicht gelöst. ({2}) Was wir gemeinhin Reformstau nennen, beschreibt das Gewicht dieser Unterlassung nur unvollständig. Staus lösen sich bekanntlich auf, verschlafene oder falsche Politik kann aber unabweislich in die Sackgasse führen. ({3}) Die Förderung der Familien, der Bundeshaushalt, der Verbraucherschutz, die Steuerpolitik als Impuls für das Wachstum, die Energiepolitik, die Alterssicherung, die Mobilitätsfrage, der Schutz der Umwelt, ({4}) die Qualifizierungslücke - eine lange Liste der Versäumnisse aus den 90er-Jahren. Einiges haben wir inzwischen wenden oder in Bewegung setzen können. Aber keine Frage, die Herausforderung bleibt gewaltig und dabei sind europäische und weiter gehende internationale Fragen noch nicht einmal angesprochen. Drei Aspekte, die im Antrag der Koalition vorkommen und die meines Erachtens von besonderem Gewicht sind, will ich kurz skizzieren: Erstens. Nachhaltigkeit hat eine internationale Dimension. Was wir unter Globalisierung diskutieren, ist ja nur die andere Facette der gleichen Herausforderung. Aber es ist richtig: Eine nationale Strategie in Sachen Nachhaltigkeit muss entwickelt werden. Der Rat für nachhaltige Entwicklung, der Staatssekretärsausschuss für diesen Bereich, die Erarbeitung einer nationalen Strategie zur Nachhaltigkeit und die Bereitstellung von Finanzmitteln für diese Aufgaben im Bundeshaushalt sind richtige Schritte. Sie sind ein Erfolg des Parlaments. Wir Sozialdemokraten werden dafür sorgen, dass diese institutionelle Ebene, die jetzt organisiert ist, wirksam wird. Wir sollten uns noch in dieser Legislaturperiode hier im Parlament zu einer Debatte über dieses Thema wiedersehen und eine Zwischenbilanz der Arbeit und nötige Konsequenzen ziehen. ({5}) Der zweite Aspekt ist die Akzeptanzsteigerung, Punkt 5 im Forderungskatalog des Antrags. In unserem Antrag wird die Notwendigkeit einer breiten Medien- und Bildungsoffensive zum Thema Nachhaltigkeit betont. Forschung und Werbung müssen mit ihren Möglichkeiten qualifiziert einbezogen werden. Am überzeugendsten aber sind gute Beispiele, Praktisches, Nachvollziehbares und Erlebbares: die Gewissheit, dass das, was zum Essen auf den Tisch kommt, gesund und nicht vergiftet ist; eine konsequente Entschuldungspolitik in den öffentlichen Haushalten; ein umfassendes Qualifizierungsangebot für die nachwachsende Generation in Hochschulen und Unternehmen; Güter, die tatsächlich zunehmend statt auf der Straße auf der Schiene und auf dem Wasser transportiert werden; eine Politik, die nicht die Ökosteuer, ({6}) sondern die Abhängigkeit vom Öl bekämpft. ({7}) Nachhaltigkeit ist ein Synonym für den Bau von Brücken in die Zukunft. Aber solche Brücken brauchen immer auch ein festes Widerlager in der Gegenwart. Nachhaltigkeit darf nicht neben oder über den alltäglichen Fachpolitiken diskutiert werden, sie muss Teil jeder Fachpolitik sein, sonst bleibt sie ohne Wirkung. Wir brauchen keine Nachhaltigkeit plus Fachpolitiken, sondern wir brauchen Nachhaltigkeit und konkrete nachhaltige Fachpolitiken. Das ist die Aufgabe, die wir mit dieser Debatte noch einmal verdeutlichen wollen. ({8}) Drittens. Nachhaltigkeit ist ein sperriger und undeutlicher Begriff, ({9}) manchmal in Gefahr, zu inflationieren. Für die Vermittelbarkeit unseres Anliegens ist die richtige Begrifflichkeit aber wichtig. Ich will jetzt kein neues Wort kreieren, aber einen Gedanken beisteuern, von dem ich glaube, dass er die Vermittelbarkeit unserer Anliegen erleichtern kann. Es geht beim Thema Nachhaltigkeit um grundlegende Wertefragen. ({10}) Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind Grundwerte unserer Politik. Ich gehe davon aus, dass sich jeder im Hause dazu bekennt. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität haben ihre konkreten Bezüge außer zur Gegenwart immer auch zur Vergangenheit und zur Zukunft. Generationengerechtigkeit - ein Wort, das beim Thema Alterssicherung eine wichtige Rolle spielt - gilt für die ganze Palette der Nachhaltigkeit ebenso wie Freiheit und Solidarität. ({11}) Wir wollen deutlich machen, dass es bei der Nachhaltigkeit um etwas geht, das an den Grundlagen unserer Politik rührt, nämlich an die Werte und an die Frage, welches eigentlich die Zielsetzungen unserer Politik sind. Denn wir haben Verantwortung auch für die Zukunft. Dass wir das Thema heute hier diskutieren, ist gut; denn ich denke, alle Anwesenden sind sich bewusst, dass das Thema unserer Stunde eines ist, das in der täglichen öffentlichen, politischen Debatte bisher keinen hinreichenden Rückhalt gefunden hat. Uns muss bewusst sein, dass wir die Grundwertedebatte mit der Thematik der Nachhaltigkeit verknüpfen müssen. Noch ist in der Fachpolitik nicht hinreichend klar - das sage ich nicht parteipolitisch -, dass Nachhaltigkeit nicht etwas ist, was irgendwo wie eine Wolke über uns schwebt. Vielmehr betrifft sie jede einzelne Fachpolitik. ({12}) Deshalb bleibt es so wichtig, daran zu erinnern und dafür zu sorgen, dass Nachhaltigkeit in den einzelnen Bereichen der Politik, die wir zu verantworten haben, zukünftig auf jeden Fall dazugehört. Wir dürfen nicht viele Stunden über Fachpolitik und nur zwischendurch einmal eine Stunde über Nachhaltigkeit reden. Vielmehr muss die Nachhaltigkeit Eingang in alle fachpolitischen Bereiche finden. Die Sozialdemokraten werden Schritt für Schritt ihren Teil dazu beitragen. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Helmut Lamp von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Helmut Lamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001275, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist das Thema. Wir haben gehört: Die Erarbeitung der Nachhaltigkeit ist Chefsache oder soll zur Chefsache werden. ({0}) Über weite Strecken der Diskussion saß auf der Regierungsbank nur die Staatssekretärin Simone Probst, die nicht repräsentativ für diese Regierung ist; denn sie ist sehr sympathisch. ({1}) Nach dem vorliegenden Antrag sollen Nachhaltigkeitsstrategien erarbeitet werden. Die Fraktionen der SPD und der Grünen haben einen weiten Bogen gespannt. Ich möchte mich auf einen Bereich konzentrieren und den weiten Bogen nicht spannen, und zwar aus einem sehr aktuellen Grund, der hier auch teilweise schon genannt wurde. Ich möchte mich auf einen im Antrag genannten Bereich konzentrieren: Umwelt, Gesundheit, Ernährung, die nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume. Gerade dieser Bereich ist aus gegebenem Anlass, der kurz erwähnt wurde, sehr aktuell und in seiner Nachhaltigkeit gefährdet. Es ist mir ein Bedürfnis - als letzter Redner dieser Debatte mute ich Ihnen dies zu -, mich diesem Punkt zu widmen. Der Boden - und damit der ländliche Raum insgesamt - ist, wie es schon gesagt wurde, durch die Krankheit Scrapie und BSE gefährdet. Nicht auszuschließen ist, dass sich diese Krankheit auch über den Boden verbreitet. Die Traberkrankheit der Schafe, auch Scrapie genannt, ist bereits seit dem 18. Jahrhundert bekannt. ({2}) - Ich rede über die nachhaltige Nutzung des ländlichen Raumes und über die Gefährdung des Bodens sowie darüber, dass hier aktuell Handlungsbedarf besteht. - Im 18. Jahrhundert gab es noch keine Fütterung der Schafe mit Kraftfutter. Vor einigen Jahren erkrankte auf Island eine Schafherde. Sie wurde abgeschlachtet. Danach wurden scrapiefreie Schafe importiert. Einige Jahre später erkrankten auf derselben Fläche wieder Schafe, sodass es sehr wahrscheinlich ist - es ist natürlich nicht wissenschaftlich bewiesen -, dass die Böden durch diese Krankheit nachhaltig gefährdet sind. Es gibt einen eigenartigen BSE-Erkrankungsfall in meinem Heimatland Schleswig-Holstein, in Hörsten; Sie wissen es. Es ist richtig, dass die Flächen dieses Betriebes vorsorglich unter besondere Beobachtung gestellt werden. Im Sinne der Nachhaltigkeit ist aber zu überlegen, ob nicht auch die Flächen, auf denen Importrinder aus England grasten, unter Beobachtung gestellt werden müssen. Meine Damen und Herren, es gibt weiteren unmittelbaren Handlungsbedarf in einem ganz speziellen Bereich der Landwirtschaft: Vor einer Woche haben wir hier das Gesetz über das Verbot des Verfütterns, des innergemeinschaftlichen Verbringens und der Ausfuhr bestimmter Futtermittel beschlossen. Dieses Gesetz hat mehr Fehler als ein Hund Flöhe. ({3}) Dass nach wie vor Fleisch aus Ländern importiert werden darf, in denen nach BSE gar nicht gesucht wird, ist einer dieser Fehler; aber das ist hier nicht das Thema. Mir geht es darum, dass Fleischmehl in unbegrenzter Menge eingeführt werden darf, wenn mit ihm die Böden gedüngt werden sollen. Von den Bioland-Verbänden und den Verbänden aus der alternativen Szene wird diese Art der Düngung mit Fleischmehl und Knochenmehl seit Jahrzehnten empfohlen. Die Böden sind dadurch extrem gefährdet. Wir wissen seit einer Woche, dass das Risikomaterialien sind. Wir lassen es immer noch zu, dass unsere Böden hiermit gedüngt werden. Das ist nicht nachvollziehbar und nicht akzeptabel und es wäre ein Skandal - auch im Sinne der Nachhaltigkeit -, wenn dies noch länger hingenommen werden würde. Mit großem Ernst und Nachdruck und mit Blick auf die Nachhaltigkeit, über die wir heute sprechen, fordere ich die Bundesregierung auf, alle Möglichkeiten zum sofortigen Verbot der Düngung mit Tiermehl auszuschöpfen und dieses Verbot so schnell wie möglich auf EU-Ebene umzusetzen. Mitgliedsbetriebe von Verbänden, die die Düngung mit Tiermehlen empfehlen, müssen gewissenhaft überprüft werden. Flächen, die möglicherweise mit Tiermehlen gedüngt wurden, müssen besonders beobachtet werden und sind so schnell wie möglich gewissenhaften wissenschaftlichen Untersuchungen zu unterziehen. ({4}) Vergessen Sie über die Erarbeitung von Anträgen nicht die aktuelle Bedrohung der Nachhaltigkeit in den ländlichen Räumen und handeln Sie jetzt und unverzüglich! ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4606 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Irmgard Schwaetzer, Dr. Heinrich L. Kolb, Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Reform des Tarifvertragsrechts - Drucksache 14/2612 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P. sieben Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile ich dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man nicht genau wüsste, dass die F.D.P. den heute zur Beratung stehenden Antrag schon am Anfang dieses Jahres vorgelegt hat, ({0}) könnte man auf die Idee kommen, er sei durch das erst kürzlich vorgelegte Gutachten des Sachverständigenrates angeregt worden. Der Sachverständigenrat benennt in seinem Gutachten mit dem Titel „Chancen auf einen höheren Wachstumspfad“ mit Blick auf den Arbeitsmarkt ganz klar das Problem: ... inwieweit die institutionellen Regelungen nicht systematisch falsch gesteuert haben und ob nicht stärker nach anderen institutionellen Wegen bei der Gestaltung von Arbeitsverträgen gesucht werden muss, die der Differenziertheit bei der Vielzahl der Arbeitnehmer und Unternehmen mehr Beachtung schenken und die es möglich machen, die hohe Arbeitslosigkeit zurückzuführen. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD und den Grünen, hören Sie zu: Der Sachverständigenrat fordert weiter: Um die schubweise angestiegene Arbeitslosigkeit zu verringern, sollte man angesichts der großen Vielfalt der unterschiedlichen Bedingungen in den Unternehmen einen größeren Spielraum für dezentrale Ansätze bei der Lohnfindung ins Auge fassen. ({2}) Der Sachverständigenrat nennt dazu drei Wege: Er nennt erstens Lösungen auf der Grundlage des bestehenden Tarifvertragsystems: Er weist darauf hin, dass ein solcher Weg bisher nur zaghaft beschritten wird. Ich sage dazu: Wir werden mit diesen tarifvertraglichen Öffnungsklauseln nicht weiter kommen, da solche erst vereinbart werden, wenn sich die wirtschaftliche Situation der Betriebe und Unternehmen schon deutlich verschlechtert hat. Selbst in starken Wirtschaftsbranchen - aber auch da gibt es Unternehmen in Not - konnten die Arbeitgeberverbände eine solche Härteklausel im Flächentarifvertrag bisher nicht durchsetzen. Der Sachverständigenrat benennt als zweite Möglichkeit den Austritt aus den Verbänden: Das geschieht in Deutschland - davor können Sie doch nicht die Augen verschließen - massenhaft. Das muss doch die Gewerkschaften und ihre Freunde in der SPD zum Nachdenken verleiten. ({3}) - Ich verstehe Ihre Aufregung. Dazu kommt, dass der Sachverständigenrat feststellt, dass auch in den Betrieben, die nicht aus den Verbänden austreten, ({4}) gleichwohl Betriebsvereinbarungen zwischen Unternehmensleitung und Betriebsrat getroffen werden, obwohl sie in den Branchenverträgen nicht vorgesehen und damit eigentlich rechtlich unzulässig sind. ({5}) Der dritte Weg besteht nach dem Gutachten des Sachverständigenrats - Ihres Sachverständigenrats, wenn ich das dazusagen darf - darin, die in dem gesetzlichen Regelwerk enthaltenen Fehlanreize zu beseitigen. Das ist der Weg, den wir mit dem vorliegenden Antrag vorschlagen. ({6}) Der Sachverständigenrat führt auch aus, dass § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz zu den am meisten missachteten Normen im deutschen Arbeitsrecht zählt. Wir wollen diesen dritten Weg, den der Sachverständigenrat vorschlägt, gangbar machen und deswegen kann jeder, der es mit mehr Beschäftigung ernst meint, unserem Antrag nur zustimmen. ({7}) Nun gibt es außer dem Sachverständigenrat und der F.D.P., die sich offen zu der gerade geäußerten Ansicht bekennen, noch andere, die zwar wissen, was in diesem Bereich geschehen müsste, die sich aber doch nicht recht trauen; sie sind heute nur in relativ geringer Zahl vertreten. Nicht nur der Vorsitzende der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen, sondern auch andere namhafte Vertreter seiner Fraktion, haben das Problem erkannt. Ich zitiere: „Wir müssen uns der tarifpolitischen Realität stellen und vernünftige Lösungen suchen.“ Das sagt Frau Scheel. ({8}) „Wir müssen das Tarifrecht der Realität anpassen.“ Das sagt die Kollegin Michaele Hustedt. Da kann ich nur sagen: Dann machen Sie es doch und stimmen Sie unserem Antrag zu! ({9}) Leider haben Sie sich, Frau Dückert, und haben sich andere Kollegen Ihrer Partei von ihrem Parteivorstand an die Kette legen lassen. Sie haben Ihren Fraktionsvorsitzenden demontiert und stehen jetzt wie die begossenen Pudel da. ({10}) Die „Dresdner Neuesten Nachrichten“ schrieben in einem Kommentar - man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen -: Den grünen Weicheiern fehlt der Mut, um die wirkliche Alternative zur F.D.P. zu werden. Das ist Fakt und deswegen, Frau Dückert, muss ich Ihnen sagen: Es genügt nicht, sonntags über den Mittelstand zu reden. Praktische Mittelstandspolitik sieht vielmehr so aus, wie wir das mit unserem Antrag vorschlagen. Deswegen gibt es zu ihm keine Alternative. ({11}) Um diesen Fehlentwicklungen Rechnung zu tragen, halten wir Freidemokraten es für dringend notwendig, der dezentralen Lohnfindung einen größeren Freiraum zu verschaffen. Das wird die Unternehmen ermutigen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, und es wird dazu beitragen, dass Arbeitsplätze und Existenzen sowohl von Arbeitgebern als auch von Arbeitnehmern nicht unnötig verloren gehen. ({12}) Tatsache ist doch, Frau Lotz, dass die Großkonzerne in Deutschland, die Kanzlerunternehmen, keine Probleme haben, auf auftretende Schwierigkeiten mit Haus- oder Sanierungstarifverträgen zu reagieren. Die sonst so kämpferische IG Metall hat mit einer Reihe von Dienstleistungsunternehmen, darunter die Debis AG, Ergänzungstarifverträge geschlossen, nach denen das Jahreseinkommen um bis zu maximal 15 Prozent unterschritten werden kann. Wenn es wirklich ernst wird, dann kommt auch noch der Bundeskanzler höchstpersönlich als Retter in der Not, wie etwa bei Holzmann. Dieses Herumgeeiere bei Holzmann war unerträglich. ({13}) Deswegen fordere ich: Herr Bundeskanzler, geben Sie auch den kleinen und mittleren Unternehmen Lohnfindungsfreiheit! ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kolb, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Koppelin.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Kolb, fällt Ihnen eigentlich auf, dass die SPD jedes Mal, wenn über ein solches Thema wie jetzt im Plenum diskutiert wird, nur Gewerkschaftssekretäre sprechen lässt? ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Koppelin, das ist richtig. Aber es ist für die SPD relativ schwer, jemand anderen zu benennen, weil im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung - wenn ich das richtig sehe - für die SPD fast ausschließlich Gewerkschaftssekretäre sitzen. ({0}) Wir wollen, dass die kleinen und mittleren Unternehmen nicht länger in den rechtsfreien Raum abgedrängt werden. Wir schlagen eine Neufassung des § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes vor, damit dem Mittelstand - das betrifft Unternehmen, die eher fünf als 1 000 Beschäftigte haben - die Möglichkeit gegeben wird, zusammen mit den Belegschaften betriebliche Bündnisse für Arbeit zu schließen. Nach unserer Auffassung sollen solche Vereinbarungen möglich sein, wenn sie freiwillig geschlossen werden und wenn 75 Prozent der abstimmenden Mitarbeiter zugestimmt haben. ({1}) Wir Liberalen - das möchte ich sehr deutlich sagen verkennen nicht die Ordnungs- und Befriedungsfunktion von Flächentarifverträgen und schlagen deswegen auch nicht deren Abschaffung vor. Aber wir wollen den Betrieben, den Unternehmern und den Arbeitnehmern, eine Option an die Hand geben, die es ihnen ermöglicht, wirtschaftlich schwierigen Situationen adäquat zu begegnen. Wir brauchen wieder mehr Betriebsautonomie und weniger Tarifautonomie in Deutschland. Es ist paradox, dass Sie von der Koalition einen Entwurf zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes vorlegen wollen, demgemäß die Belegschaften und die Betriebsräte über alles reden dürfen, aber der Kernbereich, die Lohnfindung, weiterhin zum Tabu erklärt wird. Das kann und darf nicht sein. Deswegen kämpfen wir für Lohnfreiheit in den Betrieben. ({2}) Wir schlagen vor - das ist rechtlich einwandfrei -, mit der Änderung des § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes auch das Günstigkeitsprinzip in § 4 Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes zu erweitern. Ich zitiere zum letzten Mal aus dem Gutachten des Sachverständigenrates: Das Regelwerk für Arbeit muss aus gesamtwirtschaftlicher Sicht überdacht werden, wenn das Ziel der Vollbeschäftigung ernst genommen wird. Diesem Ziel fühlen wir Freidemokraten uns noch immer verpflichtet. Deswegen haben wir unseren Antrag vorgelegt und deswegen bitte ich um Ihre Zustimmung. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Klaus Brandner von der SPD-Fraktion das Wort.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ja, Herr Koppelin, ich bin stolz, dass ich ein Gewerkschaftssekretär bin; denn ich bin stolz auf meine Organisation, weil diese viel zum sozialen Fortschritt in diesem Lande beigetragen hat. Das möchte ich hier einmal ganz deutlich sagen. Insofern werte ich Ihren Einwand positiv. ({0}) Wenn Vertreter der F.D.P. zu diesem Thema reden, dann reden Unternehmer oder Unternehmerverbandsfunktionäre. Die Gewerkschaften dagegen sind breite demokratische Organisationen, die sehr viel für dieses Land getan haben, insbesondere auch für den Erhalt von Arbeitsplätzen. ({1}) Herr Kolb, Sie haben mit Ihrer Rede eindrücklich unter Beweis gestellt, dass die F.D.P. die Entrechtung der Arbeitnehmer zum Programm erklärt hat. Auch das muss hier deutlich festgestellt werden. ({2}) Im Übrigen: Wir beraten - Sie haben darauf hingewiesen - einen Antrag der F.D.P.. Allerdings muss ich mich fragen, aus welcher Schublade Sie diesen gezogen haben. Denn es ist doch wohl richtig, dass Sie diesen Antrag bereits Anfang Januar gestellt haben. Sie hielten es wohl für besser, ihn erst einmal verschwinden zu lassen; schließlich wäre Ihnen im Frühjahr dieses Jahres eine Diskussion über die Reform des Tarifvertragsrechts nicht gerade zupass gekommen. ({3}) - Wir bleiben bei der Wahrheit. - Denn im März sind in diesem Lande Tarifabschlüsse zustande gekommen - ich bin überzeugt, Sie erinnern sich -, die von der Wirtschaft, den Gewerkschaften und von der Gesellschaft ausdrücklich begrüßt wurden. ({4}) Selbst die Bundesbank, der sonst so kritische Sachverständigenrat, den Sie hier erneut zitiert haben, ausländische Investoren und sogar der von Ihnen so oft in Anspruch genommene Mittelstand haben die Erfolge des Bündnisses für Arbeit ausdrücklich gelobt. ({5}) Sie haben dieses Lob ausgesprochen, weil sich die Bündnispartner für eine langfristige und wirksame Tarifpolitik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ausgesprochen haben. Das, nämlich ein funktionierendes Bündnis für Arbeit, haben Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der F.D.P., aber auch von der größten Oppositionspartei, in all den Jahren Ihrer Regierungszeit wirklich nicht zustande gebracht. ({6}) Ihr Gezeter - ich sage das einmal so deutlich - von zu hohen und zu wenig differenzierten Tarifstandards, von mangelnder Flexibilität und von Überregulierung gehört anscheinend zu Ihrem politischen Programm. ({7}) „Tarifautonomie darf nicht länger Bestand haben“, forderte Otto Graf Lambsdorff 1995. Damals war er noch Mitglied und wirtschaftspolitischer Sprecher Ihrer Fraktion. Sie haben schon damals mit Ihren abenteuerlichen Ideen allein auf weiter Flur gestanden. Entsprechend Ihren Forderungen soll insbesondere die Verschlechterung bzw. die Beseitigung tarifvertraglicher Ansprüche immer dann zugelassen werden, wenn dem mindestens 75 Prozent der Belegschaft zustimmen. BDAPräsident Hundt hat Ihren Vorschlag - völlig zu Recht, so meine ich - als völlig inakzeptabel zurückgewiesen. ({8}) Ein Viertel der Arbeitnehmer würde gegen seinen erklärten Willen zum Verzicht auf Rechte aus dem Flächentarifvertrag gezwungen. Ein solches - ich zitiere - „Betriebskartell zur Aushebelung der von der Verfassung garantierten Tarifautonomie“ hat er ausdrücklich abgelehnt, ({9}) wie im „Handelsblatt“ vom 23. Mai 2000 nachzulesen ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brandner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Brandner, es kann doch aber nicht richtig sein, dass sich, wie im Falle Viessmann, der weit überwiegende Teil der Belegschaft für eine bestimmte Regelung ausspricht, die der Sicherung von Arbeitsplätzen gedient hätte, und dass die Einigung am Einspruch eines der Tarifpartner scheitert. Sehen Sie nicht, dass der Gleichheitsgrundsatz verletzt wird? Bei Holzmann wurden alle Anstrengungen unternommen, um den Tarifvertrag gegen den Widerstand der Tarifpartner auszulegen, während dies bei Viessmann nicht möglich sein soll. Wir wollen schlicht und ergreifend gleiches Recht für alle. Das ist das Anliegen unseres Antrags. ({0})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben das Funktionieren der Tarifautonomie immer noch nicht verstanden. Die Tarifautonomie ist letztlich das Instrument, das die Waffengleichheit zwischen Arbeitnehmern und Betrieben überhaupt herstellt. ({0}) Zum Fall Holzmann werde ich noch kommen. Im Fall Viessmann standen die Arbeitnehmer vor der Alternative, dass entweder der Betriebsstandort verlagert wird oder die tarifvertraglichen Bestimmungen geändert werden. Das war ein Beispiel für eine Situation, in der sich die Arbeitnehmer extrem unter Druck gesetzt fühlen müssen. Eine solche Situation ist eines Sozialstaats unwürdig und mit einer sozialdemokratischen Bundesregierung nicht zu machen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brandner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Göhner?

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Göhner, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Göhner, bitte schön.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Brandner, wären Sie bereit, den Kollegen Kolb darauf hinzuweisen, dass die abweichenden Vereinbarungen im Falle der Firma Viessmann bereits nach geltendem Recht - jedenfalls nach Auffassung des Gerichts, das über den Fall in erster Instanz entschieden hat - zulässig waren?

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte dazu nicht viel mehr sagen; Sie haben Herrn Kolb soeben die nötigen Hinweise gegeben. Was wir vornehmen, ist im Kern eine politische Bewertung. Eine erstinstanzliche Entscheidung ist nichts Abschließendes. ({0}) Wir werden dafür sorgen müssen - ich hoffe, mit Ihnen als Geschäftsführer des BDA -, dass die Tarifautonomie eine rechtlich wirklich saubere Grundlage bekommt. Dafür setzen wir uns ein. ({1}) Hinter den Überlegungen der F.D.P. kann letztlich nicht das von Ihnen vorgeschobene Argument stehen - es wurde eben angesprochen -, dass die Betriebsparteien die Situation am besten beurteilen können. Denn betriebsnahe Lösungen, und das wissen Sie genauso gut wie ich, sind auch schon heute durch Firmentarifverträge möglich. Zahllose Öffnungsklauseln und Differenzierungsbestimmungen in Tarifverträgen gewährleisten nämlich ausreichende Anpassungsspielräume für die betrieblichen Besonderheiten. ({2}) Ich habe am eigenen Leibe erfahren - in meinem Wahlkreis sind viele Sanierungstarifverträge verhandelt worden; Herr Göhner ist ja bei mir in der Nachbarschaft -, dass diese Instrumente letztlich erst dafür gesorgt haben, dass Unternehmen an der Ursache ihrer Probleme angesetzt und Veränderungen eingeführt haben, die den Beschäftigten soziale Sicherheit und Schutz gegeben sowie dazu beigetragen haben, dass die Betriebe wieder gesundet sind. Denn oftmals sind nicht die Lohnhöhe und die Arbeitszeit die Ursache für die Krise, sondern müssen lediglich unternehmerische Problemstellungen bewältigt werden, damit Arbeitsplätze gesichert werden können. ({3}) Deshalb: Gesetzliche Öffnungsklauseln, wie Sie sie fordern, würden die zwingende Wirkung von Tarifverträgen aufheben und damit die Tarifautonomie ihrer Funktion entheben. Die Möglichkeit, Tarifbedingungen in einer Betriebsvereinbarung zu unterschreiten, würde, so will ich deutlich feststellen, das Tarifgefüge insgesamt gefährden und aus Kostengründen zu einem Unterbietungswettbewerb führen. Eine Lohnabwärtsspirale und damit eine Entrechtung der Arbeitnehmer würde zweifellos in Gang gesetzt werden, und dafür gibt es aus meiner Sicht nicht die geringste Notwendigkeit. ({4}) Das betriebsverfassungsrechtliche Konfliktregelungssystem kann ein Tarifvertragssystem nicht ersetzen. Insbesondere besitzt ein Betriebsrat keine einer Gewerkschaft gleichwertige Machtposition und er darf nicht zum Streik aufrufen, wie Sie wissen. Dem Betriebsrat müsste, Herr Kolb, dann auch das Recht eingeräumt werden, über den Tarifvertrag hinausgehende Arbeitsbedingungen, notfalls im Wege eines Arbeitskampfes, durchzusetzen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie das wirklich wollen. ({5}) - Das Gegenteil ist der Fall: In den anderen Ländern haben wir eine weitaus größere Anzahl von Streiktagen, von Arbeitsausfällen. Wir sind stolz in diesem Land auf den sozialen Frieden, der eben deshalb gewahrt ist, weil wir verbindliche Flächentarifverträge haben. ({6}) Schon deshalb lehnt die Mehrheit der Betriebsräte auch eine verschlechternde tarifliche Öffnungsklausel weitgehend ab. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest die Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts, die sagt: 77 Prozent der Betriebsräte im Westen und 75 Prozent der Betriebsräte im Osten sehen eine solche Klausel als zwiespältig bzw. als problematisch an. Nur 12 Prozent der Betriebsräte im Westen und 9 Prozent der Betriebsräte im Osten begrüßen eine solche Regelung. Eben weil sie dem unternehmerischen Druck betrieblich nur äußerst schwer trotzen können, bevorzugen Betriebsräte ausschließlich Regelungen durch die Gewerkschaften. Ihre Vorstellungen, meine Damen und Herren, sind nicht nur absolut abenteuerlich, sondern sie zeugen auch davon, dass Sie nicht wissen, wovon Sie reden: ({7}) Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sollen zwar Tarifverträge abschließen, aber dritte und vierte Parteien sollen darin herumfummeln, sie abändern und verschlechtern können. Wie würde es Ihnen, insbesondere Herrn Niebel von der F.D.P., denn gefallen, wenn zum Beispiel das Wahlgesetz durch den Gemeinderat von Hintertupfingen außer Kraft gesetzt würde und Sie als F.D.P. dabei hinten herunterfallen würden? ({8}) Oder, meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor, man könnte Kauf- und Kreditverträge zwar abschließen, müsste sich aber nicht daran halten oder, besser noch, irgendein Dritter könnte die Preise herabsetzen oder die Zinsen erhöhen. Aber vielleicht geht es Ihnen ja darum, - beispielsweise Ihr neu erworbenes Auto nicht weiter abzahlen zu müssen, nur weil Sie Ihr Geld in der Spielbank verzockt haben. ({9}) Auch Ihre Forderung nach der Erweiterung des Günstigkeitsprinzips - nach dem Motto „Besser ein schlechter Arbeitsvertrag als gar keiner“ - lehnen wir Sozialdemokraten schlicht ab. ({10}) - In Sachen Arbeitslosigkeit haben Sie gerade in der letzten Woche genug Lehrstunden bekommen. Sie müssen hier doch wohl nicht über wirksame Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit reden, wenn Sie Ihre Regierungszeit Revue passieren lassen. ({11}) In Ihrer Zeit ist die Arbeitslosigkeit quasi auf 5 Millionen hochgeschnellt, in unserer sinkt sie. Bitte, Herr Niebel, lassen Sie diese politisch unsachliche Auseinandersetzung. Mit solchen Zwischenrufen helfen Sie keinem Arbeitslosen. Wenn Sie es besser gekonnt hätten, hätten Sie Gelegenheit genug gehabt, es zu beweisen. ({12}) Im Kern jedoch geht es Ihnen nicht darum. Sie wollen Vertragsbrüche und damit Rechtsbrüche legitimieren. Das kann man mit einer sozialdemokratisch geführten Bundesregierung nicht machen. ({13}) Günstig für den Arbeitnehmer wäre nämlich nach Ihrer Interpretation, wenn Belegschaften auf Löhne oder Arbeitszeiten verzichten, um mit zusätzlichen Eigenbeiträgen Betriebsschließungen zu verhindern. ({14}) Die Folge wäre, dass unternehmerisches Missmanagement auch noch explizit durch Tarifnachlass honoriert würde. ({15}) - Frau Schwaetzer, was würden Sie eigentlich Herrn Möllemann sagen, wenn während des Sprungs aus dem Flugzeug irgendein Dritter beschließt, dass der Fallschirm geschlossen bleibt oder erst geöffnet wird, wenn die F.D.P. alle Wettbewerber in der Parteienlandschaft überflügelt hat? ({16}) Bei Ihrem Gerede vom Lohnverzicht vergessen Sie immer wieder, dass die Lohnnebenkosten - das ist auch beim Beispiel Viessmann der Fall - nur einen Bruchteil der Gesamtkosten ausmachen. Es sind also nicht die Tarifverträge, die die Existenz eines Betriebes gefährden. ({17}) Dies hat auch der prominente Fall Holzmann gezeigt. An diesem Desaster waren eindeutig nicht die Löhne schuld. Das wissen Sie. Es waren vielmehr das Management, die Unternehmensführung und oft auch die dahinter stehenden Banken. Die Belegschaft aber sollte die Suppe auslöffeln. Was haben die kleinen und mittleren Baubetriebe für ein Gezeter veranstaltet, als Holzmann und die Banken vom Tarifvertrag abweichende Regelungen forderten? ({18}) Sie als die vermeintlich großen wirtschaftspolitischen Kenner sollten doch eigentlich wissen, dass die Lohnstückkosten und nicht der Lohn der entscheidende Faktor sind. ({19}) Die Lohnstückkosten werden entscheidend durch die Produktivität beeinflusst. Nur mit qualifizierten und motivierten Mitarbeitern wird man diese verbessern können. ({20}) Motivierte Mitarbeiter bekommen Sie aber nicht - Herr Kolb, Sie als Unternehmer wissen das -, wenn Sie ihnen die Löhne kürzen, sondern nur, wenn Sie sie angemessen beteiligen. ({21}) Oder glauben Sie ernsthaft, dass ein Pferd schneller läuft, wenn Sie ihm weniger Hafer geben?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brandner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Brandner, stimmen Sie mir denn zu, dass Lösungen, die in flächendeckenden Tarifverträgen vorgesehen sind, insbesondere dann, wenn es darum geht, Mitarbeiter in den Unternehmen am Gewinn zu beteiligen, regelmäßig nicht ausreichen werden und dass es gerade bei Gewinnbeteiligungsmodellen einer Vereinbarung auf betrieblicher Ebene bedarf? Wenn Sie Ihre Aussagen in Bezug auf die Gewinnbeteiligung ernst meinen, ist es dann nicht notwendig, dass die Änderungen, die wir hier vorschlagen, durchgeführt werden? ({0})

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kolb, ich habe überhaupt nichts dagegen. Wir können die Tarifvertragsparteien nur ermuntern, solche Regelungen tarifvertraglich abzuschließen. Es liegt in ihrem freien Ermessen, dies zu tun. Ich zumindest würde das sehr begrüßen und ich gehe davon aus, auch die Bundesregierung würde dies tun. ({0}) - Herr Göhner hat Sie gerade belehrt. Wunderbar! ({1}) Meine Damen und Herren, eine Neufassung des Günstigkeitsprinzips ist jedenfalls nichts anderes als eine Degradierung der Schutzwirkung des Tarifvertrages für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, mit der Sie das System der Tarifverträge insgesamt zur Disposition stellen wollen. Aber die Tarifautonomie ist und bleibt eine zentrale Säule unserer sozialen Marktwirtschaft und unserer demokratischen Grundordnung. Daher ist sie für uns unantastbar. ({2}) Meine Damen und Herren von der F.D.P., ich sage es ganz deutlich: Sie sollten sich ein Beispiel an unserem Koalitionspartner nehmen. ({3}) Der hat mittlerweile eingesehen, dass eine grundlegende Veränderung des Tarifvertragssystems keinen Sinn macht. ({4}) Für die Bundesregierung steht eindeutig fest, dass weder für eine Neufassung des Günstigkeitsprinzips noch für eine substanzielle Änderung des Tarifvorbehalts irgendeine Notwendigkeit besteht. Es ist auch gar nicht Aufgabe des Gesetzgebers, in die Tarifautonomie einzugreifen. Denn die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben sich etwas dabei gedacht, als sie in Art. 9 festgelegt haben, dass auf Arbeitnehmerseite allein die Gewerkschaften das Recht haben, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu regeln. Sie haben bewusst festgelegt, dass eine staatliche Lohnregulierung keine Alternative zu der freien Tarifautonomie ist. ({5}) Meine Damen und Herren, Sie fordern weiterhin die Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung. Würde die Allgemeinverbindlichkeitserklärung abgeschafft, ({6}) hätte dies zur Folge, dass die Aushöhlung von Tarifverträgen durch Außenseiter nicht mehr wirksam bekämpft werden kann. ({7}) Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern könnte ein sozialer Mindeststandard nicht mehr gewährleistet werden. Allgemeinverbindlichkeitserklärungen schützen also sowohl Arbeitnehmer als auch Betriebe vor Schmutzkonkurrenz. Sie bewahren sie vor dem Absinken des Tarifniveaus unter die Sozialhilfesätze. Es gibt Berufe und Branchen, in denen Löhne von gerade einmal 10 DM pro Stunde gezahlt werden. Sind das Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben oder für eine freie Entfaltung der Persönlichkeit, meine Damen und Herren? Ich sage Ihnen: Der Lebensstandard und Freiräume für eine individuelle Lebensgestaltung können nur durch verbindliche Tarifverträge und eine funktionierende Tarifautonomie gesichert werden. ({8}) Die durchgesetzten Lohnerhöhungen, die es in der Vergangenheit gegeben hat, haben es breiten Bevölkerungsschichten erst ermöglicht, die Güter zu erwerben, die für den täglichen Bedarf und etwas darüber hinaus notwendig sind. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss!

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Allerdings bestehen sowohl beim Einkommen als auch beim Vermögen große Unterschiede und Ungerechtigkeiten, die Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P. - Herr Kolb, Sie haben das deutlich gemacht -, offenbar beibehalten bzw. vergrößern wollen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie nun bitte zum Schluss!

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ihr Antrag zur Veränderung der Tarifautonomie ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben ist. Nun bin ich wieder am Anfangspunkt meiner Ausführungen angelangt: Ihr Antrag gehört in die Schublade. Es war ein Antrag aus der Mottenkiste. Sie sollten ihn einpacken und zur Tagesordnung zurückkommen. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Heinz Schemken von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Dr. Kolb, ich darf für die CDU/CSU-Fraktion feststellen: Wir können dem Antrag so, wie er formuliert ist, nicht zustimmen, ({0}) und zwar deshalb, weil wir der Meinung sind, dass das wertvolle Gut von Tarifpartnerschaft und Tarifautonomie eines gewissen Schutzes bedarf, obwohl die Flächentarifverträge, die ja gesetzliche Vorgabe sind, immer wieder in der Diskussion stehen. Ich bedauere mit Ihnen, Herr Göhner, dass sich hier und da Betriebe nicht an dieses Konzept gebunden fühlen und Verbände verlassen. Dies liegt sicherlich auch am Wesen solcher Bindungen, die nicht nur für die Arbeitgeber-, sondern auch für die Arbeitnehmerschaft langfristig angelegt sind. ({1}) Nichtsdestotrotz sollten wir uns dem Anliegen widmen, das uns sicher auch in Zukunft nicht loslassen wird: Garantiert der Tarifvertrag, der zwischen Kapital und Arbeit ausgehandelt wurde, Sicherheit der Löhne? Ich frage das vor dem Hintergrund der Tatsache - ich glaube, auch darüber sind wir uns einig -, dass die Löhne nur dann sicher sind, wenn auch der Arbeitsplatz sicher ist. Insofern sprechen wir auch über die vertragliche Grundlage. Naturgemäß sind die Konditionen wie auch die Vertragszeit entscheidend. Allerdings gehen Tarifverträge, wenn sie über eine längere Frist laufen, im Wettbewerb an den Erfordernissen des einen oder anderen Betriebes möglicherweise vorbei. Dies müssen wir sehen. Dann aber stellt sich die Gretchenfrage: Wie reagieren wir dann, wenn Betriebe in wirtschaftliche und finanzielle Schwierigkeiten geraten? Dann sind sowohl die Arbeitgeber als auch die Arbeitnehmer gefordert. Wenn Arbeitsplätze konkret gefährdet sind, dann erlebt man bei Ansprüchen aus Tarifverträgen erhebliche Einschnitte. Klaus Brandner hat das soeben aus der Position des Gewerkschafters gesagt; aber auch ich habe das als Bürgermeister über Jahrzehnte mit Betriebsräten erleben dürfen. Damit werden Verträge brüchig und fragwürdig. Das muss man einmal feststellen dürfen. Dies ist oft von schmerzlichen Entscheidungen begleitet. Wenn es aber in krisengeschüttelten Unternehmen um das Überleben geht und es einer Regelung bedarf, müssen Arbeitnehmer dies leisten. Das sind meine Erfahrungen vor Ort - ich hatte schon einmal darauf hingewiesen - mit den betrieblichen Problemen. Diese werden ja insbesondere auch durch die Konkurrenz aus dem Ausland verstärkt. Wir sind eben nicht mehr auf einer Insel. Insofern hat sich einiges geändert; das steht außer Frage. Wenn dann ein solcher Krisenfall auf das Insolvenzverfahren hinausläuft, kommt oft die Frage auf - die wollen wir auch ehrlich miteinander behandeln -: Hätten die Unternehmer für uns, für die Arbeitnehmer frühzeitiger etwas zur Rettung der Arbeitsplätze tun können? Diese Frage, die wir miteinander behandeln müssen, geht dann nicht nur an den Unternehmer, sondern auch an die Beschäftigten und an die Betriebsräte, die ohnehin durch den Verlust des Arbeitsplatzes betroffen sind. In diesem Zusammenhang müssen wir ebenso die Frage diskutieren und auch beantworten: Ist das Tarifvertragsrecht noch genügend flexibel zu handhaben, um dem Anliegen - Erhalt der Arbeitsplätze - gerecht zu werden? Ich sage das mit aller Deutlichkeit: Die Tarifpartnerschaft hat sich in der sozialen Marktwirtschaft als Voraussetzung und Grundlage für den Betriebsfrieden bewährt, auch für den sozialen Frieden insgesamt. ({2}) Das ist so; das ist auch anhand der Anzahl der Streiktage und anhand dessen nachweisbar, was man als sonstige Parameter heranziehen kann. ({3}) In „Schlechtwetterzeiten“ allerdings ist eine starre Bindung - das sage ich ebenfalls ausdrücklich - in der Fläche für das Handeln im konkreten Einzelfall hier und da auch sehr hinderlich. Ich stehe ohne Wenn und Aber - damit auch das klar ist und ich hier nicht missverstanden werde - zur Tarifautonomie. Aber oft ist es eben zu spät, in Abwägung des einzelnen Konfliktfalles die notwendigen Schritte für den Erhalt der Arbeitsplätze zu tun. Das ist das Entscheidende in der Situation des Insolvenzfalles. ({4}) - Ja, weil das eine ganz schwierige Sache ist, Herr Dr. Kolb; die kann man nicht schlichtweg außer Acht lassen. Wir müssen in der Tat nach vorn schauen und können nicht etwas verteidigen, was hier und da möglicherweise reformbedürftig ist.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schemken, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Gilges?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte schön.

Konrad Gilges (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000680, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Schemken, können Sie mir einmal einen Fall nennen, in dem ein Unternehmen in Konkurs gegangen ist, weil sich die Gewerkschaften oder die Arbeitnehmer geweigert haben, mit dem Faktor Lohn flexibel umzugehen? ({0}) Ich kann Ihnen aus der ganzen Geschichte der Wirtschaft kein Beispiel dafür nennen. Die Firma Viessmann - ein Beispiel, das immer wieder angeführt wird - ist ja die Ausnahme; die Regel ist doch, dass die Gewerkschaften, der Unternehmer und der Unternehmerverband dem jeweiligen Betrieb vor Ort helfen, im Rahmen der bestehenden Gesetze und Tarifverträge einen Weg aus dem Dilemma zu finden. Da sind die Gewerkschaftsfunktionäre und die Betriebsräte manchmal viel flexibler, als es Herr Kolb glaubt. Können Sie mir einen Fall nennen, in dem ein Unternehmer sagt: Ich gehe jetzt Pleite, weil die Gewerkschaften nicht bereit sind, mit mir eine entsprechende Vereinbarung zu treffen? ({1})

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nur an den Löhnen hat es dann sicherlich nicht gelegen. Aber es hat - das darf ich hier aus der Kenntnis eines bestimmten Falles sagen, den ich Ihnen auch noch mit Namen und Branche nennen könnte - oftmals daran gelegen, dass man die Situation nicht frühzeitig gemeinsam erkannt hat. In diesem Fall hat mir nachher sogar die Betriebsratsvorsitzende gesagt: Hätten wir das gewusst, hätten wir sicherlich frühzeitiger über eine Reaktion nachgedacht. - Das galt aber für beide Seiten; auch der Arbeitgeber hatte nicht den Mut, zwei Jahre vorher zu erklären: Wir sind personell überbesetzt. ({0}) Es geht mir dabei nicht nur um den Lohn. Es geht mir auch um die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Gestaltung des Betriebes, auch des Managements; ich sage das ausdrücklich.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Schemken, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Urbaniak?

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Aber ich sage gleich: Das ist die letzte Zwischenfrage, die ich zulasse. - Bitte schön.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Heinz Schemken, wir haben nun lange genug im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung gekumpelt. ({0}) - Sie kennen diesen Arbeitnehmerbegriff nicht; dafür kann ich nichts. ({1}) Meine beiden Fragen: Erstens. Steht die Union voll zur Tarifautonomie, wie wir sie aus Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ableiten? Zweitens. Ist Heinz Schemken mit seiner Union auch für die klare Aussage, dass sich der Flächentarifvertrag seit Jahrzehnten bewährt hat? Jetzt bist du dran. ({2})

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die CDU/CSU bleibt sich treu. Sie hat von Anbeginn der Bundesrepublik Deutschland wesentlich dazu beigetragen, die Tarifautonomie einzuführen und sie zu verteidigen. Dabei bleibt es. ({0}) Wir sind auch durchaus bereit, in die Diskussion einzutreten, wenn es demnächst um das Betriebsverfassungsgesetz geht, wenn es darum geht, in einer wirtschaftlichen Situation, die sich auch in einer sozialen Marktwirtschaft ergeben kann, weil wir nicht auf einer Insel leben, die Betriebsverfassung in gewissen Aspekten zu modifizieren, aber - das sage ich hier ausdrücklich - unter Beachtung der Tarifautonomie, ohne Wenn und Aber, ohne Aushöhlung des Flächentarifvertrages. ({1}) Denn wenn wir die Tarifautonomie aufrechterhalten wollen, müssen wir den betriebsspezifischen Anliegen und den speziellen Herausforderungen im Krisenfall gerecht werden. Dazu brauchen wir - ich hatte das schon gesagt praktikablere Lösungen. Daran sind wir bereit mitzuwirken. Dabei sollte allerdings auch die Frage beantwortet werden, wie wir in den aktuellen Situationen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Teilhabe an diesen Vorgängen ermöglicht wird. Ich habe soeben schon das Betriebsverfassungsgesetz angesprochen. Bei Krisensituationen in einem Betrieb müssen Betriebsräte und Arbeitnehmerschaft den vollen und tief greifenden Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse bekommen; das ist für die Beurteilung und die konkrete Beratung wichtig und notwendig. Betriebsräte und Arbeitnehmerschaft müssen in der Lage sein, die Vorgänge nachzuvollziehen und in der Situation wirklich Einfluss zu nehmen. Sonst kann man sie nicht mit in die Verantwortung nehmen. Ich spreche jetzt nicht vom Insolvenzfall, sondern von einem Ereignis, das sich in einer branchenspezifischen Situation ergeben kann und es erfordert, dass bereits vor einem solchen dramatischen Vorgang gehandelt wird. Hier brauchen wir flexible Regelungen und ein modernes Tarifvertragsrecht. Das Betriebsverfassungsgesetz ist die Voraussetzung dafür. Es müssen praxisnahe Lösungen für die Beschäftigungsfrage auf Betriebsebene gefunden werden; das steht außer Frage. Eine Betriebsverfassung muss eine solche Flexibilität bieten und darf da nicht hinderlich sein. ({2}) Uns bleibt die Aufgabe, die Betriebsverfassung mit Elementen zu versehen, die auch den Arbeitnehmern die Möglichkeit geben, Einsicht zu gewinnen und sich kompetenter gutachterlicher Hilfen zu bedienen, die es möglich machen, dass die Arbeitnehmer sich auf der richtigen Seite bewegen, wenn es um frühzeitige Maßnahmen zur Rettung eines Unternehmens geht. Es darf nicht sein, dass das alles zu spät kommt. Deswegen muss das frühzeitig möglich sein. Hierüber treten wir mit Ihnen in eine Diskussion ein. Insofern ist es sicherlich richtig, Herr Dr. Kolb, dass einmal mehr der Anstoß gegeben ist, über praktikable Wege im Bereich der Betriebsverfassungsgesetzgebung zu reden. ({3}) - Da kommen wir noch aufeinander zu. - Es wäre gut, wenn da manches gemeinsam geschehen könnte. ({4}) - Ich sage das ausdrücklich. Deshalb braucht sich hier keiner unnötig zu erregen. - Wir sind da offen und sind der Meinung, dass es wichtig ist, dass wir vor Tisch über die Arbeitsplätze sprechen und nicht nach Tisch, wenn sie schon vernichtet sind. ({5}) Das ist unser Thema. An dieser Frage werden wir uns dann auch messen lassen. Sie wissen sehr wohl, dass nach dem Tarifvertragsgesetz das Günstigkeitsprinzip in der Tat erst im Insolvenzfall eintritt; Klaus Brandner hat soeben darauf hingewiesen. Uns wäre daran gelegen, nicht nur den Sozialplan zu begleiten, sondern auch die wirtschaftlichen Verhältnisse eines Betriebes, damit es erst gar nicht dazu kommt, dass Arbeitsplätze in Gefahr geraten und vernichtet werden. Dies halte ich für richtig angesichts dessen, dass unsere moderne Industriegesellschaft im Jahr 2000 an der Schwelle vom zweiten zum dritten Jahrtausend steht. Die Arbeitnehmerschaft ist fähig, auch in kompliziertesten Fällen zu urteilen. Demnächst wird es auch Arbeitsplätze geben, die räumlich vom Betrieb entfernt sind. All diese Veränderungen machen es in der Tat notwendig, dass wir uns nicht sperren, sondern bereit sind, eine Diskussion aufzunehmen. ({6}) Ich wiederhole: Wir sind nicht für die Aushöhlung der Flächentarifverträge und wir zweifeln nicht, an der Tarifautonomie. In diesem Sinne sind wir gerne bereit mitzuwirken. Schönen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Thea Dückert vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Kolb, ich bekenne eingangs freimütig: Auch ich bin Gewerkschaftsmitglied. ({0}) Wenn Sie in Ihrer Fraktion keine Gewerkschaftsmitglieder aufzuweisen haben, bedeutet das noch lange nicht, dass Sie qualifizierter seien, hier zu einer solchen Thematik zu sprechen. Ich denke, das geht uns alle an. Das Etikett, ob Gewerkschaftsmitglied oder nicht, ist da nicht sehr erhellend. ({1}) Ihr Antrag, meine Damen und Herren von der F.D.P., ist in der Diagnose falsch. Das werde ich an mehreren Punkten aufzuzeigen versuchen. Er ist vor allen Dingen, was die Lösungsvorschläge anbelangt, nicht nur über das Ziel hinausschießend, sondern nach meiner Auffassung auch verfassungsrechtlich bedenklich. Dies ist insbesondere an dem Punkt der Fall, an dem es darum geht, dass § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes gerändert werden soll, um Abweichungen vom Flächentarifvertrag zuzulassen, ({2}) und zwar dadurch, dass beispielsweise 75 Prozent der Belegschaft einer Abweichung zustimmen. ({3}) Gerade dieser Vorschlag würde dazu führen, dass die verfassungsrechtlich geschützte Koalitionsfreiheit tarifgebundener Arbeitnehmer unterhöhlt würde. Dies würde in der Folge auch dazu führen, dass Betriebsräte geschwächt würden, und würde vor allen Dingen dem, was wir durch die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes erreichen wollen, nämlich die Stärkung der Betriebsräte, zuwiderlaufen. Gerade starke Betriebsräte brauchen wir aber, um betriebsnahe flexible Lösungen möglich zu machen. ({4}) - Herr Kolb, auch wenn Sie dazwischenrufen, wird es nicht besser. Denn Ihr Vorschlag, § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes in dieser Weise zu ändern, würde letzten Endes die Tarifflucht weiter fördern. Wir müssen Lösungen finden, sie zu stoppen. Die Umsetzung Ihres Vorschlages würde insbesondere den Tarifvorrang aushöhlen. Genau das wollen wir nicht. ({5}) - Herr Kolb, Sie haben lange Zeit regiert und haben für diese Problematik keine Lösung gefunden. ({6}) Wir schaffen zum Beispiel mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes die Grundlagen dafür, auf der Basis gestärkter Betriebsräte in Zukunft das zu machen, was notwendig ist, nämlich eine größere Flexibilisierung der Flächentarifverträge zu erreichen, wie sie sich das Bündnis für Arbeit beispielsweise im Rahmen einer Vereinbarung zwischen der BDA und dem DGB vorgenommen hat. ({7}) - Ihre Diagnose, Herr Kolb, bleibt falsch, auch wenn Sie weiterhin laut dazwischenrufen. ({8}) Falsch ist es zum Beispiel, wenn Sie behaupten, die hohe Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik sei auf das Tarifvertragssystem zurückzuführen. Das machen ein paar einfache Vergleiche plausibel: In Deutschland müssen wir nur die neuen Bundesländer betrachten, in denen eine große Tarifflucht herrscht, aber gleichzeitig hohe Arbeitslosigkeit festzustellen ist. Auch Vergleiche mit Ländern wie Italien oder Portugal, die ein ganz anderes Tarifsystem haben, zeigen auf welch tönernen Füßen eine solche Analyse steht. ({9}) Herr Kolb, auch Ihre Einschätzung, dass sich - wie Sie in Ihrem Antrag schreiben - das bestehende Tarifvertragssystem langsam auflösen werde, ist falsch. Ich habe gerade zitiert, was im letzten Jahr am 6. Juni im Bündnis für Arbeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern vereinbart worden ist, nämlich dass man betriebliche Bündnisse für Arbeit auf der Basis der Reform des Tarifvertragssystems, und zwar über tarifliche Korridore und Öffnungsklauseln, möglich machen will. Was das Bündnis für Arbeit damit andenkt, ist, wie ich finde, der richtige Weg. Das ist aber nur möglich, wenn wir § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes unangetastet lassen. Genau das wollen wir machen. ({10}) - Hören Sie zu! Das, was ich vortrage, ist unsere gemeinsame Position. ({11}) An dieser Stelle der Debatte sind wir uns in meiner Fraktion einig; das betrifft auch die Positionen, die Herr Schlauch oder Frau Scheel vorgetragen haben. Gerade § 77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes so zu belassen, wie er ist, ist eine Voraussetzung, um das, was Herr Schemken richtig vorgetragen hat - ({12}) - Was Sie verstanden haben, hängt vielleicht davon ab, wie Sie sich informieren. Hören Sie mir deswegen einfach zu, dann wissen Sie auch, wie unsere Position in diesem Punkt ist. ({13}) Herr Schemken hat vorgetragen, dass das, was wir wollen - nämlich eine flexible, betriebsnähere Reaktionsmöglichkeit sicherzustellen -, nur auf der Basis einer klaren Tarifautonomie, nur auf der Basis eines klaren Tarifvorrangs, nur auf der Basis der Stärkung der Flächentarifverträge - zum Beispiel durch gestärkte Betriebsräte - zu erreichen ist. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Dückert, kommen Sie bitte zum Schluss. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ich stelle fest, dass der Vorschlag der F.D.P. die Betriebsräte, die Tarifautonomie und den Flächentarifvertrag schwächen will. ({0}) Das sind keine Lösungsansätze, die in die Zukunft weisen. Sie werden auch nicht dadurch besser, dass der Sachverständigenrat sie vorgeschlagen hat. Abschließend möchte ich nicht nur bemerken, dass wir das ablehnen, sondern möchte kollegial auf einige andere unstimmige Punkte in Ihrer Argumentation hinweisen. Das betrifft beispielsweise die Verbandsklage, die Sie nicht wollen, die aber seit dem Burda-Urteil längst als ein Tatbestand in der Rechtspraxis existiert: Gewerkschaften können an diesen Stellen klagen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Dückert, bitte.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie sollten sich auch insofern einmal der Realität stellen. Vielen Dank, Herr Präsident! ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Reinhard Göhner von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Debatte sind eine Reihe von Gesichtspunkten sehr durcheinander geraten. Ich denke, es besteht Übereinstimmung darüber, dass eine Diskussion über die Fortentwicklung des Tarifrechtes notwendig ist. Dass wir mehr Flexibilität im Tarifwesen brauchen, ist übereinstimmende Auffassung zum Beispiel der Tarifpartner - Gewerkschaften wie Arbeitgeberverbände. Die Frage ist, auf welchem Weg man das bewerkstelligen kann. Es gibt den Weg, dass die Tarifpartner dies selbst tun. Ich teile die Diagnose, die die Kollegen Kolb und Schemken gegeben haben: Hier ist zwar viel geschehen, aber nicht genug. Es stellt sich die Frage: Wo muss der Gesetzgeber die Voraussetzungen schaffen, damit betriebliche Bündnisse für Arbeit geschlossen werden können? Herr Kollege Kolb, jetzt müssen wir natürlich scharf unterscheiden: Will man, dass Betriebsrat und Arbeitgeber anstelle der Tarifparteien verhandeln sollen, um einen Tarifvertrag abzuschließen, oder will man die Abweichung vom Tarifvertrag ermöglichen? Diese beiden Fragen muss man streng unterscheiden. Ihr Vorschlag läuft darauf hinaus, den Betriebsrat zu einer Tarifpartei zu machen. ({0}) Das scheint mir gerade aus liberalistischer ordnungspolitischer Sicht bedenklich zu sein, weil Sie per Mehrheit über den Inhalt eines eigentlich privat-autonomen Vertrages bestimmen wollen. Sie wollen mit 75-prozentiger Mehrheit über den Inhalt eines Vertrages entscheiden, den die anderen 25 Prozent auf der Grundlage der Privatautonomie abgeschlossen haben. Das ist der klassische Fall der Fremdbestimmung. ({1}) Die von Ihnen angestrebte Möglichkeit, eine größere Flexibilisierung auch in Abweichung von Tarifverträgen zu erreichen, ist aus meiner Sicht unbestreitbar. Es geht in dieser Diskussion, Herr Kollege Brandner, eigentlich darum, zwei Verbote aufzuheben. Das eine ist das Verbot -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Göhner, Sie müssen schon sagen, auf wen Sie sich in Ihrer Kurzintervention beziehen.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auf Herrn Kolb und Herrn Brandner. Deshalb habe ich beide angesprochen, zunächst Herrn Kolb und dann Herrn Brandner.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das ist aber nicht üblich. Üblich ist, dass man sich auf eine Rede bezieht, und dann kann ich dem Angesprochenen Gelegenheit geben zu antworten.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, darf ich fragen, ob es nach der Geschäftsordnung zulässig ist - nach meiner Kenntnis ist das der Fall -, dass man auf zwei Vorredner Bezug nimmt?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Es geht auch um die Ökonomie der Debatte. Es könnte dazu kommen, dass Sie zehn Vorredner ansprechen.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Einverstanden. Ich wäre bereits fertig, wenn wir diese Intervention jetzt nicht gehabt hätten. Kollege Brandner, es geht um die Beseitigung von zwei Verboten. Das eine ist, dass man nach geltendem Recht eine abweichende Vereinbarung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nur treffen kann, wenn es keine vorherige Regelungsabrede mit dem Betriebsrat gegeben hat. Das ist die Konsequenz aus der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes im Burda-Fall. Hier finde ich es sehr wohl der Diskussion wert, ob wir nicht das Tarifvertragsgesetz ändern müssen, damit solche Vereinbarungen auch unter Beteiligung des Betriebsrates getroffen werden können. Das zweite -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, Ihr Zeitlimit ist weit überschritten.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das zweite Verbot, um das es geht, Herr Präsident, -

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich kann Ihnen jetzt keine Verlängerung mehr geben. Sie sind schon eine halbe Minute über der Zeit.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geben Sie mir doch die Zeit, Herr Präsident, die Sie für Ihre Intervention gebraucht haben! Dann wäre ich fertig.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das geht nicht. Vielen Dank.

Dr. Reinhard Göhner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000697, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das bedauere ich. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Kolb, Sie haben die Möglichkeit zu antworten.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich gehe gern auf den Einwand des Kollegen Göhner ein. ({0}) Wenn Sie so wollen, wird durch unseren Vorschlag der Betriebsrat auf der betrieblichen Ebene zur Tarifpartei. Das ist, wenn ich es richtig sehe, auch der Grund, warum sich manche Arbeitgeberverbände und ihre Geschäftsführer, ja sogar Hauptgeschäftsführer, mit diesem Vorschlag sehr schwer tun. Trotzdem stehen wir zu diesem Vorschlag. ({1}) Kollege Göhner, wenn ich auch dies noch sagen darf: Sie beklagen die Fremdbestimmung von 25 durch 75 Prozent. Aber was passiert denn beispielsweise im Fall der Allgemeinverbindlicherklärung? Da werden Arbeitnehmer in Unternehmen, die überhaupt nicht tarifgebunden sind, ({2}) unter die, ich sage einmal: Knute des Tarifvertrages gezwungen, auf die Gefahr hin, dass das Unternehmen dadurch in seiner Existenz gefährdet wird. Das finde ich ungleich schlimmer. ({3}) Auch da müssten Sie dann bitte konsequenterweise den Finger in die Wunde legen. Ich denke, damit sind die Punkte, die Sie hier angesprochen haben, ausgeräumt. Ich finde es sehr gut, dass wenigstens von der CDU das Signal gekommen ist, dass man darüber reden muss. Dann tun wir es doch bitte! Es ist doch unübersehbar, dass es in unserem Land Handlungsbedarf gibt. Außer der SPD scheinen das alle oder zumindest einige in allen Parteien so zu sehen. ({4}) Ich lade Sie ein: Setzen wir uns zusammen! Es muss etwas passieren im Interesse der mittelständischen Unternehmen und auch der Arbeitnehmer in diesen Unternehmen. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Brandner, Sie haben ebenfalls Gelegenheit zu antworten. Ich bitte Sie, sich so kurz wie möglich zu fassen.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich werde es so kurz wie möglich machen, Herr Präsident. Der erste Punkt ist die Flexibilität, die angemahnt worden ist. Die Flexibilität ist Angelegenheit der Tarifvertragsparteien selbst. Dafür brauchen wir keine Veränderung des Tarifvertragsgesetzes und schon gar keine Veränderung im Betriebsverfassungsgesetz. ({0}) Es ist in dieser Gesellschaft ganz wesentlich, dass die Schutz-, die Ordnungs- und die Gestaltungsfunktionen auf tarifvertraglicher Seite so verlässlich bleiben, wie sie sind. Die Tarifverträge haben letztlich dafür gesorgt, dass wir so lange sozialen Frieden in diesem Lande gehabt haben. Dieser Frieden hat der Gesellschaft und den Betrieben nicht geschadet, sondern hat für eine positive wirtschaftliche Entwicklung gesorgt. Lassen Sie mich als Zweites sagen: Das Bündnis für Arbeit ist eine gute Gelegenheit, praktikable Lösungen für die Sanierungsfälle anzustreben, von denen hier zum Beispiel auch Herr Göhner gesprochen hat. Man muss Überlegungen anstellen, wie in Sanierungsfällen - zum Beispiel auch in dem aktuellen Fall - durch gesetzliche Begleitung vorausschauende Regelungen geschaffen werden können. ({1}) Ich plädiere sehr dafür - ich habe das selber oft genug erlebt -, in einer Krisensituation einen Sanierungstarifvertrag abzuschließen. Damit kann man betriebsbezogen auf die Probleme eingehen, die Ursache für die betriebliche Krise sind. Das ist in der Fläche nicht möglich; es kommt wirklich darauf an, dass man sich den betrieblichen Fall genauer ansieht. Das führt letztlich dazu, dass eine begrenzte Veränderung des Flächentarifvertrages genutzt wird, um eine Sanierung durchzuführen. Dann kann der Flächentarifvertrag mit allen seinen Wirkungen in Kraft gesetzt werden, um Tarifkonkurrenz - Schmutzkonkurrenz - auszuschließen und Verlässlichkeit im Tarifvertragssystem zu erhalten. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner von der PDSFraktion. ({0})

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Kolb, wie können Sie das überhaupt vermuten? Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man spürt die Absicht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., und ist verstimmt. Herr Dr. Kolb, Ihre Formulierung „die Knute des Tarifvertrages“ spricht wirklich Bände darüber, wie Sie dieses soziale Instrument überhaupt einschätzen. ({0}) Was also soll dieser Antrag? Er hat nichts mit der tarifpolitischen Wirklichkeit zu tun. ({1}) Dass neue Arbeitsplätze auf der Grundlage Ihres Antrags entstehen, liegt wirklich im Bereich der Spekulation. Ihr Antrag hat offensichtlich vor allem das Ziel, zu verhindern, dass die Bündnisgrünen Ihnen zukünftig bei der Demontage des Tarifsystems den Rang ablaufen. ({2}) Insofern kann ich Ihren Antrag ganz gut verstehen. Die sechs in Ihrem Antrag genannten Punkte zielen darauf ab, sämtliche Kernbestandteile des deutschen Tarifvertragsrechts zu zerschlagen. Tarifverträge regeln heute Mindeststandards und Mindestarbeitsbedingungen. Sie aber stellen Mindeststandards sozusagen als Höchstgrenzen dar, stellen sie also zur Disposition und wollen die Tarifverträge weiter nach unten öffnen. ({3}) Sie wollen eine totale Verbetrieblichung der Tarifpolitik. Ich sage Ihnen deutlich: Häuserkampf gegen Flächentarifverträge zerstört den sozialen Frieden. Genau das beabsichtigen Sie. ({4}) Sie wollen die Umkehr des Günstigkeitsprinzips zu einem Prinzip freiwilliger Schlechterstellung. Das passiert allerdings unter dem Druck in den neuen Ländern. Sie wollen außerdem die Aussetzung gewerkschaftlicher Tarifkommissionen durch die Betriebsräte. Damit nicht genug: Sie wollen den zeitlichen Fortbestand des Tarifvertrages begrenzen und die Allgemeinverbindlichkeit abschaffen. Gäbe es nach Annahme eines solchen Antrages überhaupt noch etwas, das an das deutsche Tarifvertragssystem erinnert? - Nein, es gäbe nichts. ({5}) Das ist auch Ihre Absicht. Sie wollen nämlich kein flexibles Tarifvertragssystem. Sie wollen gar kein Tarifvertragssystem. ({6}) Das wird aus Ihrer Begründung auch sehr deutlich; denn Sie behaupten, in der Regel orientierten sich Tarifabschlüsse an der Leistungsfähigkeit einiger weniger großer Unternehmen. Das ist doch der blanke Unsinn! Wo leben Sie eigentlich? Ist Ihnen völlig unbekannt, dass immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer trotz tarifvertraglicher Bezahlung selbst bei Vollzeitarbeit an der Armutsgrenze leben? Ist Ihnen entgangen, dass die Tarifstatistik seit Jahren Gruppen ausweist, die gerade einmal die Sozialhilfegrenze erreichen? Am meisten trifft das natürlich allein erziehende Frauen. Was meinen Sie eigentlich mit starren Tarifvorgaben? Haben Sie überhaupt noch nicht mitbekommen, dass zum Beispiel in der Statistik des Bundesarbeitsministeriums Schwankungsbreiten beim Monatseinkommen zwischen 1 000 und 20 000 DM ausgewiesen sind? ({7}) Was ist daran starr? Das sind doch wirklich enorme Lohnspreizungen, die für alles andere als für ein starres Tarifvertragssystem stehen. ({8}) Sie müssen sich wirklich an dieser Stelle fragen lassen: Wie viel soziales Auseinanderdriften dieser Gesellschaft wollen Sie eigentlich noch zulassen?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zum Schluss. - Ihr ganzer Antrag steht genau dafür. Dank Ihrer ideologischen Fixierung auf die Deregulierung von Arbeitsbeziehungen nehmen Sie nicht einmal zur Kenntnis, dass dieses Tarifvertragssystem von enormer wirtschaftlicher Bedeutung in unserer Gesellschaft ist. Fragen Sie Ihre Klientel.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Mein letzter Satz. Ihnen geht es darum: Der Flächentarifvertrag soll weg und Sie erhoffen sich dabei gleichzeitig eine Schwächung der Eingriffsmöglichkeiten der Gewerkschaften. ({0}) Diese wollen Sie schwächen; das ist Ihre erklärte Absicht. ({1}) Ich hoffe, es wird sich eine Mehrheit finden, die das verhindert. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2612 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 sowie den Zusatzpunkt 6 auf: 10. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Alfred Hartenbach, Margot von Renesse, Wilhelm Schmidt ({1}), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Volker Beck ({2}), Irmingard ScheweGerigk, Claudia Roth ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rehabilitierung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen - zu dem Antrag der Abgeordneten Christina Schenk, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Unrechtserklärung der nationalsozialistischen §§ 175 und 175 a Nr. 4 Reichsstrafgesetzbuch sowie Rehabilitierung und Entschädigung für die schwulen und lesbischen Opfer des NS-Regimes - Drucksachen 14/2984 ({4}), 14/2619, 14/4894 Dr. Heidi Knake-Werner Berichterstattung: Abgeordnete Margot von Renesse Dr. Jürgen Gebh Volker Beck ({5}) Christina Schenk ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Christina Schenk, Ulla Jelpke, Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Rehabilitierung und Entschädigung für die strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik - Drucksachen 14/2620, 14/4914 Berichterstattung: Abgeordnete Margot von Renesse Volker Beck ({7}) Christina Schenk Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, teile ich mit, dass Frau Bundesministerin Däubler-Gmelin sich wegen der Betreuung einer ausländischen Delegation entschuldigt hat. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat das Wort die Kollegin Margot von Renesse von der SPDFraktion.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu diesem Thema ist zu später Stunde schon vieles gesagt worden, sodass man davon ausgehen kann, dass fast alles gesagt worden ist. Ich sehe, dass ich zwölf Minuten Redezeit habe. Ich hoffe und erwarte, dass ich diese Zeit nicht brauche. Ich werde Ihnen als Erstes eine Geschichte erzählen. Ich denke, dass Grundsatzdiskussionen nicht mehr angebracht sind, zumal wir, Herr Gehb, Frau Schenk, Herr Beck, Herr van Essen, eine gute Übereinkunft erzielt haben. Mein Mann, 1930 geboren, war gegen Ende des Krieges Jungzugführer bei den Pimpfen. Das war nichts Besonderes, das waren in seinem Alter sehr viele. Er traf sich einmal in der Woche mit einigen Freunden aus seiner Klasse, die wie er auch Jungzugführer waren, im Aktenkeller seines Vaters, weil die Jungs einfach Spaß aneinander hatten. Zu ihnen stieß ein 20-jähriger Soldat mit einer Kriegsverletzung, die ausheilte, der deshalb eine Weile in seiner Heimat war. Man nannte so etwas Heimatschuss, glaube ich. Da er noch Traditionen der bündischen Jugend pflegte, brachte er ihnen Lieder bei, die in der HJ nicht gesungen wurden. Dann passierte es, dass in Schneidemühl die Parteikästen eingeschmissen wurden, was gegen Ende des Krieges an vielen Orten geschah. Man bezichtigte die so genannten Edelweißpiraten, das getan zu haben. Da bekannt war, dass diese Jungs sich mit dem Soldaten trafen, war schnell ausgemacht, dass mein Mann und seine Freunde die Edelweißpiraten von Schneidemühl waren. Die Ehre, unehrenhaft aus der HJ ausgestoßen worden zu sein, widerfuhr meinem Mann, ohne dass er eigentlich etwas dafür konnte. Der junge Soldat wurde erschossen, und zwar weil er bezichtigt wurde, homosexuelle Beziehungen zu diesen Jungs aufgenommen zu haben. Mein Mann erzählte mir, dass er nach Berlin fahren musste, begleitet von seinem Vater, und dass er und seine Kameraden dort als Zeugen vernommen wurden. Dabei durften sie sich nicht hinsetzen, sie mussten stundenlang stehen. Wenn sie sich an die Wand anlehnten, wenn sie müde wurden, wurden sie angebrüllt: Verräter dürfen sich nicht anlehnen. - Es ging um Homosexualität und es endete mit dem Tod dieses 20-Jährigen. Mein Mann schwört Stein und Bein, dass er selber von Homosexualität nichts gemerkt hatte. Diesem jungen Mann können wir nicht mehr helfen. Wir können vielen nicht mehr helfen, auch wenn sie diese Zeit überlebt haben. Infolge der späteren, nach wie vor bestehenden Verdächtigung und der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen haben sich viele noch nicht einmal um Rehabilitierung bemüht, obgleich, wie wir alle wissen, die Urteile aus der Zeit von vor 1945 keine Urteile in unserem Sinne waren, sondern Vernichtungsfeldzüge gegen Leute, die man schlicht und einfach für Abschaum hielt, für Menschen, die es in der menschlichen Gesellschaft nicht einmal mehr verdienten, der Gunst eines ordnungsgemäßen Strafverfahrens gewürdigt zu werden, in dem sie sich verteidigen konnten. Diesen Leuten können wir nicht mehr helfen. Ob wir mit diesem Gesetz überhaupt noch jemandem helfen können, wissen wir nicht zu sagen. Denn alles, was wir vom Bundesfinanzministerium erfahren haben, spricht dafür, dass diejenigen, die Anträge zu stellen sich getraut haben, obgleich Homosexualität noch lange Zeit strafbar war, inzwischen rehabilitiert sind und ihnen die Entschädigungen zuteil wurden, die sie aufgrund der entsprechenden Gesetze erhalten konnten. ({0}) Wir werden vielleicht noch denjenigen helfen, von denen wir nichts wissen, die noch leben und die keine Anträge gestellt haben, weil sie sich scheuten, mit ihrer homosexuellen Neigung ans Licht der Öffentlichkeit zu treten. Denn es war auch in unserer Gesellschaft noch viele Jahr verpönt, verfemt und gesellschaftlich geächtet, sich als homosexuell zu bekennen. Vielleicht helfen wir noch einigen, umso besser. Aber viel wichtiger ist, dass wir dieses Kapitel nun endlich abschließen, indem wir bekennen, dass wir mit diesen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Verurteilungen, wie wir sie auch in der Zeit nach 1945 in der Bundesrepublik und zunächst auch noch in der DDR fortgesetzt haben, Unrecht getan und damit Menschen in ihren Rechten verletzt haben. Das ist eine wichtige Erklärung und es ist gut, dass wir alle dahinter stehen. ({1}) Es ist gut, dass wir alle dahinter stehen, weil über dieses Thema in diesem Hause so viel Streit herrschte, zwar nicht über diese spezielle Frage, aber über die Einordnung und Behandlung von Homosexualität. Es ist gut, dass wir hier etwas Gemeinsames zustande bringen. Dafür danke ich allen Beteiligten von Herzen. Was die Verurteilungen nach 1945 angeht, so bekennen wir, dass es Unrecht war; so weit, so gut. Aber vieles, was in strafrechtlichen Tatbeständen gefasst war, zum Beispiel die Verurteilungspraxis hinsichtlich der schweren Kuppelei zwischen Verlobten - Urteile aus dem Ruhrgebiet, wo es immer hieß: verlobt ist verheiratet -, machen wir nicht rückgängig, obgleich wir solche Urteile heute nicht mehr fällen würden. Getilgt sind sie aus dem Strafregister: Wer immer verurteilt worden ist, es ist ihm jedenfalls nicht mehr nachzuweisen, dass er jemals in irgendeiner Form in seinem polizeilichen Führungszeugnis eine Verurteilung dieser Art gehabt hat. Insoweit brauchen wir nichts mehr zu erledigen, was schon schlicht durch Zeitablauf erledigt ist.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin von Renesse, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Christina Schenk?

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Schenk, ich möchte relativ bald Schluss machen, wenn Sie erlauben. Wir haben uns schon öfter unterhalten und werden uns auch in Zukunft öfter unterhalten. Sie wissen, dass ich gerne auf Zwischenfragen eingehe, aber im Augenblick ist mir nicht danach. Entschuldigen Sie! Ich denke, dass die Verurteilungen, die wir nach 1945 in der DDR und in der Bundesrepublik erlebt haben, darauf basierten, dass zwei Gruppen nicht beachtet wurden, als man in Herrenchiemsee zusammensaß und nachträglich Hitler verhinderte. Es wurde ein Grundrechtskatalog verabschiedet, durch den versucht wurde, die Erfahrung, dass Menschenwürde antastbar ist, umzusetzen in eine Norm, dass Menschenwürde unantastbar ist. Man hat aber zwei Gruppen von Menschen nicht berücksichtigt, die man nach wie vor nicht sah. Das waren die Behinderten, die der Euthanasie zum Opfer gefallen sind - darüber stand nichts in Art. 3 Abs. 3 GG; das ist erst später nachgeliefert worden -, und es waren die Homosexuellen, die man damals noch für Menschen hielt, die der Strafe zugeführt werden mussten. Dies waren zwei Gruppen, die als die total anderen angesehen wurden und denen Unrecht geschehen war, das man einfach übersah. Man hat sich mit dieser Frage nicht auseinander gesetzt, nicht in der Bundesrepublik und nicht in der DDR, auch wenn in Letzterer - zur Ehre der DDR sei jedenfalls das gesagt - die verschärfenden Bedingungen der NS-strafrechtlichen Veränderungen damals relativ früh weggenommen worden sind. Richtig auseinander gesetzt hat man sich mit dem Unrecht nicht, weder in dem einen noch in dem anderen Gebiet, das wir jetzt zusammen Deutschland nennen. Das gemeinsame Deutschland ist es denen, die darunter zu leiden hatten, schuldig, dass dieses Unrecht getilgt wird. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unmittelbar nach Kriegsende, als das volle Ausmaß der Gräuel jedermann bewusst war, planten die Länder noch eine unterschiedslose Entschädigung aller KZ-Opfer. Darüber hinaus sollten politisch und rassisch Verfolgte in die Entschädigung einbezogen werden. Über die Ausweitung auf Zwangssterilisierte und Geisteskranke oder gar eine Entschädigung von Homosexuellen sowie Sinti und Roma erzielten die Ländervertreter 1947 allerdings keine einheitliche Auffassung mehr. Aus heutiger Sicht mag es ebenfalls bitter sein, wenn ein ehemaliger Kollege aus unseren Reihen, selbst NSVerfolgter und ins KZ verschleppt, bei den Beratungen zur Wiedergutmachung Anfang der 50er-Jahre die Finanzierbarkeit als nicht gefährdet ansah, weil nur eine sehr überschaubare Gruppe von Opfern entschädigungswürdig sei. Schwule und Lesben gehörten selbst als KZ-Opfer nicht zu den „würdigen“ Verfolgten. Hier wird in der Rückschau ein Problem der Wiedergutmachung und auch der gesellschaftlichen Anerkennung der verschiedenen NS-Opfer deutlich. Diejenigen Verfolgtengruppen mit dem höchsten Organisationsgrad, die in der Regel auch über die entsprechende gesellschaftliche Reputation verfügten, vertraten ihre Interessen am wirksamsten. In Politik, Verwaltung, Justiz und Medien trafen ihre Anliegen auf entsprechenden Widerhall. Eine solche Feststellung ist in jedem anderen politischen Zusammenhang eine bare Selbstverständlichkeit. Bei der Wiedergutmachung hätte man es sich anders gewünscht. Leid gab es in diesen Jahren für Schwule und Lesben ausreichend; denn die Nationalsozialisten machten aus ihrer Homosexuellenfeindlichkeit keinen Hehl. Das juristische Mittel ihrer Verfolgung war die Verschärfung des § 175 im Jahre 1935. Von nun an war jede Form der Unzucht - bis hin zum „Blick in wollüstiger Absicht“ - strafbar. In der SS- und Polizeigerichtsbarkeit war der Straftatbestand des § 175 gar mit der Todesstrafe belegt, die bis in die letzten Tage des Regimes auch vollzogen wurde. Einer stark intensivierten Verfolgung, einhergehend mit zahlreichen Beschuldigungen und Denunziationen, wie Sie, Frau von Renesse, es eben eindrucksvoll geschildert haben, war nach der Strafverschärfung Tür und Tor geöffnet. Immer mehr Schwule im gesamten Reich wurden nach der Verbüßung ihrer Gefängnisstrafe in Schutzhaft genommen. Dies bedeutet im Klartext: Sie wurden in Konzentrationslager verschleppt, wo sie in der Lagerhierarchie oft an unterster Stelle standen und zu Tausenden nicht überlebten. Eindrucksvoll, wenn auch bedrückend hat dies im Sommer dieses Jahres eine Ausstellung im KZ Sachsenhausen vor den Toren Berlins uns allen vor Augen geführt. Ich halte es für gut, dass der Bundestag mit der heutigen Debatte und dem vorliegenden Antrag dieser lange Zeit nicht wahrgenommenen Opfergruppe gedenkt und eine Rehabilitierung vornimmt. Die Zustimmung des ganzen Hauses, die zu erwarten ist, verstärkt das öffentliche Zeichen, das wir heute setzen wollen. Etwas verwundert darf man allerdings schon sein, wie überaus vorsichtig die Koalitionsfraktionen mit einer diesbezüglichen Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes umgegangen sind. Wurde von ihnen noch zu Oppositionszeiten die Nichtigkeitserklärung aller Urteile beantragt, wie es auch der Gesetzesantrag Hamburgs vom 9. November 1999 im Bundesrat vorsieht, schrumpfte dieses Anliegen im ursprünglich eingebrachten Antrag zu einem Prüfauftrag. Heute nun wird die Bundesregierung ersucht, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Sollten die Argumente des Bundesjustizministeriums, die im Rechtsausschuss des Bundesrates bei der Behandlung des Hamburger Antrages so vehement gegen eine Ergänzung des NS-Aufhebungsgesetzes formuliert wurden, doch so gewichtig sein, dass die Koalitionsfraktionen so überaus vorsichtig agierten? Steht die Bundesjustizministerin und ihr Haus nicht hinter dem Anliegen und der juristischen Umsetzung durch die Koalitionsfraktionen? Ich bin jedenfalls neugierig, wann und mit welchem Inhalt das Bundesjustizministerium einen Gesetzentwurf vorlegen wird. Ich selbst habe in meiner Rede zur ersten Lesung gesagt, dass ich gut damit hätte leben können, wenn durch das NS-Aufhebungsgesetz all dem ein Ende gesetzt würde, weil der Zeitraum von 1935 bis 1945 einen gewissen Wertungswiderspruch in sich birgt. Es ist ein Widerspruch, dass diejenigen, die in der NS-Zeit verurteilt worden sind, ohne besonderen Antrag rehabilitiert werden, und die anderen weiter mit der Stigmatisierung leben müssen. Ich habe das in der ersten Lesung ausgeführt und will es jetzt nicht weiter vertiefen, weil wir uns in dem Berichterstattergespräch - das in sehr harmonischer Weise verlaufen ist, wofür ich mich herzlich bedanken möchte so entschieden haben. Die Entscheidung wird keine ungeteilte Zustimmung finden, vielleicht auch nicht in meiner Fraktion. Bereits vor drei Jahren, als sich dieses Haus zum ersten Mal in seiner Geschichte speziell mit dem Schicksal der homosexuellen NS-Opfer beschäftigte, sprach mein Kollege Eckart von Klaeden etwas aus, das ich heute nur unterstreichen kann. Es war kein Ruhmesblatt unserer bundesdeutschen Rechtsgeschichte, dass der verschärfte § 175 erst 1969 in einem ersten Schritt reformiert und erst 1994 gänzlich abgeschafft wurde. Wir sollten jedoch vorsichtig sein, vorschnell den Stab über unsere Vorgänger zu brechen. Denn sie waren - und nicht nur in Deutschland - in dieser Frage selbstverständlich Kinder ihrer Zeit. Wir wissen nicht, wie spätere Generationen über unsere Ansichten, Moralvorstellungen und politischen Entscheidungen urteilen werden. Ich bin auch nicht dafür, dass wir bei jeder Reform auf die Vorväter mit Fingern zeigen. Eine solche Entwicklung wird man möglicherweise im Zusammenhang mit der Diskussion über den § 218 Strafgesetzbuch in vielen Jahren beobachten können. Man läuft immer Gefahr, Auffassungen, die zu dem jeweiligen Zeitpunkt durchaus ihre Berechtigung hatten, von der nachfolgenden Generation mit Bedauern oder gar dem Stigma des Unrechts belegt werden. Das ist nicht das Anliegen meiner Fraktion. In unserer Republik, die sich als demokratisches Gemeinwesen versteht, werden Gesetze geändert oder abgeschafft, wenn sich Auffassungen wandeln und es eine ausreichende politische Mehrheit hierfür gibt. Dies ist der alltägliche und einer Demokratie angemessene Weg, mit Veränderungen umzugehen. Anlässlich einer solchen Novelle - und dies geschah auch bei den verschiedenen Reformen des § 175 - werden in diesem Haus die Gründe für Veränderungen benannt, historische Wertungen abgegeben und gegebenenfalls auch Worte des Bedauerns ausgesprochen. Ich habe daher Verständnis für Mitglieder dieses Hauses und auch meiner Fraktion, die sich mehr als schwer tun, ja, die es ablehnen, dass der Bundestag ex post, nach Jahren oder gar Jahrzehnten, Entscheidungen früherer Gesetzgeber in einem förmlichen Beschluss bewertet. Für diese grundsätzliche Einstellung der Kollegen zu gewissen Verfahrensweisen bitte ich um den Respekt dieses Hauses. Einfordern will und muss ich auch den Respekt und die Gesetzestreue dieses Hauses vor den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Das Urteil aus dem Jahr 1957 mag man aus heutiger Sicht bedauern und auch für falsch halten. Man mag auch beklagen, dass das Verfassungsgericht nicht die Gelegenheit hatte, eventuell den Urteilsspruch - wie in anderen Fällen auch - selbst zu korrigieren. Die vorliegende Entscheidung aus dem Jahr 1957 entfaltet aber nun einmal Bindungswirkung nach § 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes; das habe ich in meiner Rede in der ersten Lesung ausführlich dargestellt. Dies gilt auch für den Gesetzgeber, also für uns, den Deutschen Bundestag. Wir können das Verfassungsgericht nicht korrigieren. Über die weiteren rechtlichen und formalen Mängel des PDS-Antrags und ähnlicher Vorstellungen ist ausreichend im Rechtsausschuss gesprochen worden. Es bleibt uns allerdings unbenommen festzustellen, dass Schwulen und Lesben in unserem Lande über viele Jahre die Anerkennung versagt blieb, die ihnen zukommt. Lange - aus heutigem Blickwinkel wahrscheinlich zu lange - wurden sie kriminalisiert, stigmatisiert und in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit behindert. Allein die Existenz des § 175 führte beispielsweise dazu, dass in den Anfangsjahren dieser Republik ein zufällig als Homosexueller enttarnter Taxifahrer die Konzession verlor oder die Approbation für einen schwulen Arzt von der Kammer nicht erteilt wurde. Der bekannte Journalist Peter von Zahn, der 1965 den ersten Fernsehbeitrag zu diesem Thema produzierte, erinnert sich in einem Interview: Ein Vorfall, der für die damalige Einstellung zu Homosexuellen bezeichnend war, hat sich mir eingeprägt: Unser Hauptzeuge ... wurde vorsichtshalber nur von hinten gefilmt. Sein Arbeitgeber, Inhaber eines Bestattungsinstituts, erkannte ihn jedoch an der Stimme. Er kündigte ihm die Stellung mit der Begründung, seine Kunden würden bei der Überführung der Verstorbenen durch ein Institut mit solchem Personal unruhig werden. Wir hatten viel Mühe, für den armen Kerl eine neue Position zu finden. In mehreren Stufen wandelte sich im Laufe der Jahre das gesellschaftliche Klima. Allerdings war man selbst in den 70er-Jahren noch weit von dem selbstverständlichen Umgang mit Schwulen und Lesben entfernt, auf den wir heute, erst recht in dieser Stadt, treffen. Wäre dies in den 70er-Jahren unter einer sozialliberalen Koalition der Fall gewesen, hätte es bereits 1972 eine geschlechtsneutrale Jugendschutzvorschrift, eine Gleichbehandlung der Altersgrenzen bei Homo- wie Heterosexuellen und eine Streichung des § 175 gegeben. All die guten Gründe des Jahres 1994 waren offensichtlich im Jahre 1972 unter Liberalen wie Sozialdemokraten noch nicht mehrheitsfähig. Das sage ich gar nicht mit Häme. Ich möchte nur eine Sensibilität für die historische Entwicklung schaffen, die unstrittig in den letzten Jahrzehnten stattfand, und vielleicht auch den einen oder anderen vor einem Übermaß an Selbstgerechtigkeit bewahren. Ich wage keine Einschätzung, ob jedes Mitglied dieses Hauses, auch auf der linken Seite, inzwischen völlig unverkrampft und vorurteilslos mit diesem Thema umgehen kann. Historisch Interessierten empfehle ich die Lektüre des Bändchens „Die Linke und das Laster“ des angesehenen Historikers Günter Grau. Ich meine, ein wenig Bescheidenheit in dieser Frage steht uns allen gut an. Selbstverständlich gehört in diesen Kontext auch der Blick über den eigenen nationalen Tellerrand hinaus. Nach 1945 war Homosexualität nicht nur in Deutschland einvernehmlich strafbewehrt. Erfreulicherweise fand die Liberalisierung dann nicht nur in Deutschland statt. Im europaweiten Vergleich liegen wir sogar recht gut im Mittelfeld. Ich denke nur an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen das Vereinigte Königreich aus dem Jahr 1981 oder an die Tatsache, dass Irland erst 1993 entsprechende Korrekturen seiner Gesetzgebung vornahm. Die Straßburger Urteile aus den 80er-Jahren als Messlatte für die 50er- oder 60er-Jahre zu nehmen ist jenseits der juristischen Unhaltbarkeit schlicht und einfach unhistorisch. Ich möchte nicht wissen, wie Straßburg in den 50er-Jahren geurteilt hätte. Deshalb plädiere ich auch dafür, diese Art von unnützen Scheingefechten einzustellen. Hilfreicher sind da schon Überlegungen, wie sie auch im vorliegenden Antrag angestoßen werden, wie den homosexuellen NS-Opfern und ihren entrechteten Organisationen ein Ausgleich zuteil bzw. gegenwärtige Bürger- und Menschenrechtsarbeit gefördert werden kann. Erlauben Sie mir in diesem Kontext, auf einen spektakulären, im moralischen Sinne offenen Fall hinzuweisen. Wenige Meter entfernt, dort, wo jetzt das Kanzleramt errichtet wird, befand sich einst das Magnus-HirschfeldInstitut. Formalrechtlich mag das Rückerstattungsverfahren in der Nachkriegszeit ordnungsgemäß abgewickelt worden sein. Es bleibt allerdings ein bitterer Nachgeschmack, da alle Entschädigungszahlungen an die Allgemeine Treuhand Organisation erfolgten, die sicherlich viel Gutes mit dem Geld bewirkte, allerdings faktisch der eindeutige testamentarische Wille des Stifters bei diesem Verfahren missachtet wurde.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Als der Härtefonds für verfolgte Juden in den 80er-Jahren eingerichtet wurde, wurde neben der Individualentschädigung auch der Zentralrat der Juden im Sinne einer Kollektiventschädigung mit einer Zahlung aus diesem Fonds bedacht. Der Härtefonds für verfolgte Nichtjuden sah bisher eine solche Möglichkeit nicht vor. Warum sollen Mittel, die bisher nicht aus diesem Fonds abgeflossen sind, nicht für eine Art Kollektiventschädigung zur Verfügung stehen? Im Sinne einer Gleichbehandlung der Opfer wäre dies nur recht und billig.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Gehb, ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, zum Schluss zu kommen; denn Sie haben Ihre Redezeit reichlich überschritten.

Dr. Jürgen Gehb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003129, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir wollen mit der heutigen Debatte sicherlich keinen Schlussstrich ziehen, wir wollen aber einen Schlussstein legen. Dieses Haus will in Einmütigkeit den homosexuellen Opfern der NSZeit Respekt und Anerkennung zollen. Mit der Zustimmung zum vorliegenden Antrag möchte die CDU/CSUFraktion dies bekunden. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Umgang mit den homosexuellen Opfern des Nationalsozialismus ist wahrlich kein Ruhmesblatt für die Bundesrepublik. Im Gegenteil: Es war eine Schande. Das gilt übrigens auch für große Teile der DDR-Geschichte. Heute sind die meisten der homosexuellen NS-Opfer, die Zuchthaus und Konzentrationslager überlebt haben, nicht mehr unter uns. Den Toten können wir nicht mehr helfen. Wir können sie nicht mehr persönlich um Entschuldigung bitten. Wir können hier nur posthum ihre Ehre wiedergeben. Genau das tun wir heute. 51 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes wird auch den verfolgten Homosexuellen ihre Ehre wiedergegeben. Endlich ist es so weit. Vor fünf Jahren haben Bündnis 90/Die Grünen erstmals einen Vorstoß zur Rehabilitierung der Opfer des § 175 unternommen - damals noch ohne Erfolg. Heute zeichnet sich eine breite Mehrheit im Bundestag ab. Das ist ein sehr gutes Ergebnis einer langen und oftmals auch quälenden Debatte. Es ist ungeheuer wichtig, dass wir nicht mit knapper Mehrheit abstimmen, sondern ein Signal über Parteigrenzen hinaus senden. Was können wir noch tun? Das NS-Aufhebungsgesetz muss um Verurteilungen nach § 175 ergänzt werden. Es ist für die wenigen noch lebenden Opfer schlichtweg unzumutbar, dass sie sich einer Einzelfallprüfung unterziehen sollen. Das kann niemand ernsthaft von ihnen verlangen. Ich möchte in diesem Hohen Haus daran erinnern: Eines der wesentlichen Motive für die Verabschiedung des NS-Aufhebungsgesetzes war, Abstand von Einzelfallprüfungen zu nehmen. Wir, der Gesetzgeber, sind in der Pflicht, den Opfern und ihren Angehörigen unmissverständlich zu sagen: Die Strafbarkeit homosexueller Beziehungen war und ist menschenrechtswidrig. ({0}) Die Verurteilungen wurden von einem Verbrecherregime ausgesprochen, das die Homosexualität ausmerzen wollte. Der Ausmerzungsgedanke hat in der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung im Reichssicherheitshauptamt, nicht weit von hier in der Wilhelmstraße, organisatorisch seine Vergegenständlichung erfahren. Die Verurteilungen waren Unrecht - ohne Wenn und Aber. Neben der Rehabilitierung müssen wir uns auch die Entschädigung für die Verfolgung der Homosexuellen und für die Zerschlagung der schwulen und lesbischen Bürgerrechtsbewegung noch einmal vornehmen. An dieser Stelle müssen Lücken geschlossen werden. Dabei ist heute vor allem an einen kollektiven Ausgleich zu denken, der die Anerkennung des Unrechts verdeutlicht und der Förderung homosexueller Menschenrechtsarbeit gewidmet ist, zum Beispiel in Form einer Stiftung, die vielleicht den Namen von Dr. Magnus Hirschfeld trägt. Ebenso sollten wir den Initiativen, die Bürgerinnen und Bürger unterstützen, die sich in der Erforschung und in der Erinnerungsarbeit hinsichtlich der Homosexuellenverfolgung engagieren, entsprechend unter die Arme greifen. Auf diesem Feld haben Menschen mit geringen Mitteln schon Großes geleistet. Das verdient unseren allergrößten Respekt. Hier müssen wir noch mehr Unterstützung geben. Die heutige Entschließung befasst sich auch mit der Zeit nach 1945. Der § 175 blieb in der verschärften NSFassung in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969 unverändert in Kraft. Dies war auch ein Grund, warum Menschen weder Nachfolgeorganisationen der Weimarer Bürgerrechtsbewegung gründen konnten noch individuell verfolgte homosexuelle Naziopfer den Mut haben konnten, nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz Entschädigungen für ihre KZ-Lagerhaft zu beantragen. Sie hätten sich damit selbst denunziert und vermutlich einer neuerlichen Strafverfolgung ausgesetzt. Halten wir uns vor Augen: Auch im demokratischen Staat wurden Männer ins Gefängnis geworfen, nur weil sie einen anderen Mann liebten. Für viele Menschen sind diese drei Ziffern - 175 - zum Schrecken ihres Lebens geworden. Deswegen ist es so wichtig, dass sich der Gesetzgeber endlich ganz ausdrücklich zu seiner Verantwortung bekennt. Es geht um die Verantwortung dafür, dass durch die fortbestehende Strafandrohung auch in der Bundesrepublik homosexuelle Bürger in ihrer Menschenwürde verletzt wurden. Diese Erklärung ist ein historisches Signal. Der Deutsche Bundestag bittet damit die Menschen um Vergebung, die unter einem ungerechten Gesetz gelitten haben. Mit der heutigen Entschließung setzen wir eine endgültige klare Zäsur gegenüber einer unseligen deutschen Rechtstradition. Nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz folgt nun ein weiterer längst überfälliger Schritt, der mehr Gerechtigkeit für Homosexuelle schafft. Ich bin froh, dass wir diesen Schritt gemeinsam mit den demokratischen Parteien gehen können, weil ich glaube, dass dies auch ein Signal an andere Länder ist, wo die Rechte von Homosexuellen noch nicht geachtet werden: Dieses demokratische Land hatte die Größe, sich zu seinen Fehlern zu bekennen und die Menschen, die darunter gelitten haben, um Entschuldigung zu bitten. Wiedergutmachen und Zurückgehen zum Status quo ante können wir nicht. Aber wir können unsere Fehler erkennen und damit auch glaubwürdig für die Menschenrechte in aller Welt eintreten. Vielen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen für die F.D.P.-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann nahtlos an das anschließen, was Volker Beck gesagt hat. Ich freue mich am meisten darüber, dass wir zu einem gemeinsamen Ergebnis gekommen sind, quer durch das Haus. Das hat sich ja schon bei der ersten Lesung abgezeichnet, als Rot-Grün noch eher vorsichtig und die PDS mutiger war und sich dann auf einmal ein Konsens abzeichnete, mehr zu machen, mehr in Richtung des PDSAntrages. Ich bin darüber froh, weil sich auch die Christdemokraten im Hause dem Gedanken nicht verschließen wollten, dass wir hier etwas aufzuarbeiten haben, dass wir anzuerkennen haben, dass in unserem Lande Menschen wegen ihrer sexuellen Identität in einer Weise verfolgt worden sind, die absolut inakzeptabel ist. Ich bitte insbesondere die Kollegen, die eher zurückhaltend sind - sie gibt es wahrscheinlich in allen Fraktionen -, noch einmal nachzudenken. Der eine oder andere wird sagen: Na ja, da ist vielleicht etwas passiert, was wir heute auch unter Strafe stellen. - Aber das, was dann an Strafe gefolgt ist, war immer unmenschlich. Das hat nie dem Rechtsstaat entsprochen. Das war in der Zeit des Dritten Reiches immer Ausdruck des Willens, homosexuelle Menschen, Männer wie Frauen, zu vernichten. Deshalb ist es eines Rechtsstaates nicht würdig, wenn wir uns davon nicht distanzieren, wenn wir nicht einen klaren Schlussstrich ziehen. Daher finde ich das Signal, dass wir quer durch das ganze Haus zu diesem Entschluss kommen, besonders wichtig. Aus diesem Grunde bitte ich auch diejenigen, die vielleicht eher Bedenken haben, über ihren Schatten zu springen, mitzustimmen und damit das wunderbare Signal, das wir heute Abend geben, auch persönlich zu verstärken. Ich bitte aber um Nachsicht, dass wir uns bewusst nur auf die Zeit des Dritten Reiches konzentrieren können und insofern differenzieren müssen. Wir haben in der ersten Lesung deutlich gemacht, dass auch in der Zeit nach 1945 Menschen schrecklich gelitten haben, dass die Folgen einer Verurteilung weit über das hinausgingen, was Strafe eigentlich bewirken soll, nämlich bis hin zur Vernichtung aller Lebenschancen, bis zur sozialen Ächtung. Wir müssen feststellen, dass es dies leider in vielen anderen Bereichen in ähnlicher Form auch gab. Wir haben Urteile - ich kann das wiederholen, was ich in der ersten Lesung gesagt habe -, angesichts derer wir die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Es waren Alltagsdelikte, für die man mehrere Monate ins Gefängnis geschickt wurde. Es gab unglaublich harte Urteile gerade in diesem Bereich, weil vieles von dem, was während des Dritten Reiches an Unrecht gesät worden ist, Nachwirkungen hatte. Deswegen ist es für uns ganz außerordentlich schwierig, die Zeit nach 1945 aus heutiger Sicht so zu beurteilen, dass wir sagen: Wir erklären das für Unrecht; wenn wir nämlich in einem Bereich damit anfingen, das aber nicht auch auf andere Bereiche ausdehnten, würden wir nicht wirklich zu Gerechtigkeit kommen. Ich ahne, dass es viele Bereiche gibt, bei denen wir aus heutiger Sicht sagen müssen, dass wir mit den damaligen Urteilen nicht einverstanden sein können. Deshalb denke ich, dass das, was wir tun, der richtige Weg ist. Wir machen unser Mögliches. Wir bedauern, dass wir Menschen Unrecht getan haben und dass Menschen gelitten haben. Ich glaube, dass es für die Betroffenen ganz außerordentlich wichtig ist, dass der Gesetzgeber dies anerkennt. Daher werden wir zustimmen. Ich bin froh, dass wir als Berichterstatter einen gemeinsamen Text gefunden haben, in den sich jeder einbringen konnte. Auch das ist wichtig. Jeder hat einen Teil des Textes gestaltet. Deshalb stimmt die F.D.P.-Bundestagsfraktion diesem Antrag gerne zu. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Christina Schenk für die PDS-Fraktion.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Endlich wird eine hoffentlich breite Mehrheit des Bundestages die Verfolgung von Homosexuellen in der Zeit des Nationalsozialismus als das benennen, was sie war: typisch nationalsozialistisches Unrecht. Ein solches Bekenntnis wird dazu beitragen, die Ehre der homosexuellen Opfer des Naziregimes wieder herzustellen. Diese Klarstellung, meine ich, ist lange überfällig. Sie kommt spät und für viele Opfer leider viel zu spät. Dennoch ist sie ein wichtiges politisches Signal im Prozess der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. ({0}) Die PDS hat im Januar dieses Jahres als erste Fraktion Anträge zu diesem Problem vorgelegt. Wir begrüßen es ausdrücklich, dass sich SPD und Grüne den Forderungen der PDS in weiten Teilen angeschlossen haben. Genauso ausdrücklich begrüßen wir es, dass darüber hinaus zwischen den Berichterstattern aller Fraktionen eine gemeinsame Antragsformulierung möglich gewesen ist. Allerdings - das möchte ich deutlich sagen - gibt es auch jetzt noch keinen Grund zur Euphorie. Was uns hier zur Abstimmung vorliegt, ist ein Antrag und kein Gesetzentwurf. Vorerst wird lediglich ein Handlungsauftrag an die Bundesregierung beschlossen, das NS-Aufhebungsgesetz um die §§ 175 und 175 a Nr. 4 zu ergänzen. Hinsichtlich der finanziellen Entschädigung wird nochmals ein Bericht angefordert, auch wenn uns ein solcher bereits vorliegt. Er besagt das Altbekannte: Eine individuelle Entschädigung der Opfer der Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit hat nicht stattgefunden. Es gab bisher auch keinen kollektiven Ausgleich für die Enteignung und Zerschlagung der homosexuellen Bürgerrechtsbewegung, ihrer Organisationen, Verlage und Institutionen. Die Tatsachen sind bekannt. Die PDS-Fraktion fordert die Bundesregierung zu schnellem Handeln auf. Die Rehabilitierung der homosexuellen Opfer des NS-Regimes ist erst dann wirklich erreicht, wenn der Bundestag die entsprechenden gesetzlichen Regelungen und Haushaltstitel beschließt. Völlig unbefriedigend bleibt aus unserer Sicht die Situation bezüglich der Homosexuellenverfolgung nach 1945 in beiden deutschen Staaten. Hier wird es heute lediglich eine Entschuldigung dafür geben, dass in der Bundesrepublik noch bis 1969 die nationalsozialistische Fassung des § 175 fortgegolten hat. In der DDR ist sie - das ist bereits erwähnt worden - bereits 1950 außer Kraft gesetzt worden. Die PDS hatte nun in ihrem Antrag gefordert, jegliche Strafverfolgung einvernehmlicher homosexueller Kontakte zwischen Erwachsenen als menschenrechtswidrige Justizpraxis anzuerkennen. Herr Gehb und Frau von Renesse, es geht hier nicht um eine neue Bewertung eines bis dato strafwürdig angesehenen Verhaltens, wie sie ja gelegentlich auch Anlass für Strafrechtsreformen ist, sondern es geht hier um eine Verletzung von Grundrechten von Anfang an und um rechtswidrige Verurteilungen. Deshalb meinen wir, dass hier sowohl eine Streichung der noch im Strafregister enthaltenen Vorstrafen sowie eine finanzielle Entschädigung der schwulen Opfer der Homosexuellen-verfolgung geboten gewesen wären. Leider ist dies von der SPD, den Grünen und auch den anderen Fraktionen abgelehnt worden. Zum Schluss möchte ich sagen: Das leidvolle Kapitel der Homosexuellenverfolgung ist noch lange nicht abgeschlossen. Die PDS-Fraktion wird mit Nachdruck darauf drängen, dass die nach wie vor ausstehenden Schritte so schnell wie möglich gegangen werden. Danke schön. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechts- ausschusses auf Drucksache 14/4894. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a) die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/2984 ({0}) zur Rehabilitierung der im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in der Ausschussfassung. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wir stimmt dagegen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- nommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss auf Drucksache 14/4894 unter Buchstabe b), den Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2619 zur Unrechtserklärung der nationalsozialistischen §§ 175 und 175 a Nr. 4 Reichsstrafgesetzbuch sowie zur Rehabilitierung und Entschädigung für die schwulen und lesbischen Opfer des NS-Regimes für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Rehabilitierung und Entschädigung für die strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik auf Drucksache 14/4914. Der Rechtsausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2620 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({1}), Meinrad Belle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000/2001 ({2}) - Drucksache 14/4247 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Als erster Redner spricht für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Meinrad Belle.

Meinrad Belle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000138, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Was soll denn das? Wir haben den inhaltlich gleichen Entschließungsantrag der CDU/CSUFraktion auf Gleichbehandlung der Beamten und Versorgungsempfänger mit den Angestellten im öffentlichen Dienst im September doch erst abgelehnt. Jetzt bringen die sogar noch einen Gesetzentwurf ein. Das ist doch unnötig. Der wird doch ohnehin abgelehnt. - So mögen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, vielleicht denken und nachher wahrscheinlich auch argumentieren. Ich will Ihre Frage daher von vornherein beantworten: Wir wollen Sie natürlich ein bisschen ärgern. Aber Spaß beiseite: Wir wollen Sie auch auf den Pfad der Tugend führen und Ihnen etwas ins Gewissen reden; denn Sie sind mit Ihrer Besoldungspolitik auf dem völlig falschen Weg. Wir sollten, so meine ich, heute Abend die üblichen Spielchen zwischen Regierung und Opposition beiseite lassen und uns offen, ernsthaft und ohne jegliche Hintergedanken mit dem Problem und der Vorgeschichte auseinander setzen. Ich versichere Ihnen: Es ist uns wirklich nicht leicht gefallen, die Dienstrechtsreform ein Jahr vor der letzten Bundestagswahl und die Versorgungsrechtsreform nur wenige Monate vor der letzten Bundestagswahl mit ihren ganz erheblichen Kürzungsmaßnahmen bei den Bezügen jedes Beamten und jedes Versorgungsempfängers durchzuführen. Ich will es kurz ins Gedächtnis rufen: Die Dienstrechtsreform bringt, bezogen auf das Jahr 2008, für Bund, Länder und Gemeinden Einsparungen in Höhe von 22,8 Milliarden DM; ab 2008 werden sich dann jährlich 3,8 Milliarden DM Einsparungen ergeben. Gleichzeitig kürzen wir im Versorgungsreformgesetz durch strukturelle Einzelmaßnahmen bereits jetzt die Versorgungsausgaben um jährlich 5 Milliarden DM. Das führt über die Versorgungsrücklage zu einer dauerhaften Kürzung der Bezüge der aktiven Beamten und der Versorgungsempfänger um 3 Prozent. Sehen Sie in irgendeiner anderen Branche durchgängig Gehalts- und Rentenkürzungen? Jedermann musste klar sein: Diese einschneidenden Kürzungsmaßnahmen würden Auswirkungen bei der Bundestagswahl haben - und sie hatten es. Wir aber waren von der Notwendigkeit überzeugt und haben deshalb die Reformen verwirklicht. Gerne gebe ich zu, dass Sie diesen Weg teilweise gemeinsam mit uns zurückgelegt haben. Das war gut und verdient auch Anerkennung. Sie sollten daraus aber auch die richtigen Konsequenzen ziehen. Ich will Sie nun nicht im Einzelnen zitieren; das haben wir im September gemacht. Wir alle - Sie wie auch wir waren gemeinsam der Überzeugung, dass jetzt für Sonderopfer der Beamten und Versorgungsempfänger im öffentlichen Dienst kein Raum mehr sei. Natürlich ist es schwer, sich gegen den Finanzminister durchzusetzen. ({0}) Ich gebe offen zu, dass ich nicht weiß, ob es uns im umgekehrten Falle gelungen wäre, uns gegen den eigenen Finanzminister zu behaupten. ({1}) Sie mögen mich vielleicht auch als den letzten oder vorletzten Politromantiker bezeichnen. Aber ich versuche auch in der Opposition, meine Zusagen an die Betroffenen, an die Verbände einzuhalten. ({2}) Es tut mir daher wirklich weh, wenn ich sehen muss, ({3}) dass es heute ohne Rücksicht auf Dienstrechts- und Versorgungsrechtsreform mit den Sonderopfern, mit den verzögerten Übertragungen, mit den tatsächlichen Nullrunden bei den Versorgungsempfängern genauso weitergeht wie früher, als es - das ist das Entscheidende - die Dienstrechts- und Versorgungsrechtsreform noch nicht gab. Daher geht doch der Vorwurf, den Sie uns im September gemacht haben und den Sie heute vielleicht - oder sogar wahrscheinlich - wiederholen werden, wir hätten in früheren Zeiten ebenfalls die Tarifabschlüsse verzögert übertragen oder wir hätten früher sogar Besoldungserhöhungen unterhalb der Inflationsrate durchgeführt, ({4}) unter diesen Umständen ins Leere; denn das war vor der Dienstrechts- und Versorgungsrechtsreform. Tatsächlich liegt dazwischen eben diese Reform mit ihren erheblichen Kürzungsmaßnahmen bei den einzelnen Beamten und Versorgungsempfängern. Ich habe daher heute die herzliche Bitte an Sie: Vergessen Sie die parteipolitischen Gegensätze, überdenken Sie die Situation und sprechen Sie auch ein ehrliches und klärendes Wort als Beamtenpolitiker - wenn nicht heute, dann vielleicht doch im weiteren Gesetzgebungsverfahren. Ich sage dies heute auch bewusst im Hinblick auf die weitere Fortführung der Versorgungsrechtsreform nach der nun von Ihnen neu in die Wege geleiteten Rentenreform. Bedenken Sie bitte: Sie haben die Rentenreform der letzten Legislaturperiode nach Ihrem Wahlsieg zwar zurückgenommen; aber nachdem nun auch der Versorgungsabschlag im Falle des vorzeitigen Eintritts in den Ruhestand ab 1. Januar 2001 in Kraft gesetzt ist - wir haben zugestimmt, wir haben es mit getragen -, wirken sich die Kürzungsmaßnahmen des Dienstrechtsreformgesetzes und des Versorgungsreformgesetzes bereits seit 1998 bei jedem Beamten und Versorgungsempfänger aus. Berücksichtigen Sie dies bitte bei der Fortführung der Versorgungsrechtsreform und kehren Sie bei der Besoldungsanpassung auf den Pfad der Tugend zurück. ({5}) Sonst zerstören Sie - das ist mir wirklich ernst - die Grundlagen für künftige Gespräche mit den Betroffenen und den Verbänden über jeden weiteren sinnvollen Reformansatz. Die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in die Politik sind heute bereits bei den betroffenen Versorgungsempfängern wie Beamten erheblich beschädigt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt spricht der Kollege Hans-Peter Kemper für die SPD-Fraktion.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst meinem Kollegen Meinrad Belle für die sehr sachliche und sehr ehrliche Rede danken. Herr Belle, Sie wollen uns auf den Pfad der Tugend führen. Ich sage Ihnen: Sie wollen uns auf einen Pfad locken, auf dem Sie selbst nie gegangen sind. Das ist das Problem dabei. Denn Sie fordern jetzt etwas, was Sie während Ihrer Regierungszeit in 16 Jahren nicht gemacht haben. Das geht auch in Richtung meines geschätzten Kollegen Max Stadler, der gleich wieder sagen wird: Mein Kollege Kemper hat da vorn Dinge vertreten, hinter denen er wohl gar nicht steht. So ist es, wenn man aus der Opposition in die Regierung kommt; dann wird man mit den eigenen Forderungen aus der Oppositionszeit konfrontiert und stellt fest, dass es eine Menge Geld kostet, was man da gefordert hat. ({0}) Andererseits ist es aber so, dass diejenigen, die aus der Regierung in die Opposition kommen, plötzlich Forderungen stellen, die sie selbst während der Zeit, als sie die Chance dazu hatten, nie verwirklicht haben. ({1}) Es ist richtig, Herr Belle: Wir haben vor einigen Wochen hier gestanden, haben die gleiche Diskussion geführt, die Argumente sind dieselben gewesen. Wir haben in der Opposition die inhaltsgleiche Übernahme von Tarifergebnissen gefordert und haben das auch gemacht. Wir haben im ersten Schritt 2 Prozent und im zweiten Schritt 2,4 Prozent abzüglich der Versorgungsrücklage beschlossen. Das war nicht so ganz einfach. Sie wissen, dass der Finanzminister - Sie haben ihn bereits angesprochen - sehr hart ist. Er rückt so leicht keine Mark heraus. ({2}) Mithilfe unseres Staatssekretärs, mithilfe unseres Innenministers, aber auch mithilfe Innenpolitiker im Innenausschuss - nicht nur der sozialdemokratischen - ist es gelungen, dieses Ergebnis, das wir heute auf dem Tisch haben, zu erreichen. Führen Sie sich einmal die Ausgangslage vor Augen. Aufgrund der immensen Verschuldung, die wir vorgefunden haben, hat der Finanzminister zunächst einmal gesagt: Es ist nur ein Inflationsausgleich möglich. Das bedeutete eine Erhöhung um 0,6 Prozent im ersten Schritt und um 1,6 Prozent im zweiten Schritt. Dass wir heute diese relativ starken Besoldungserhöhungen vornehmen, ist auch ein Verdienst derjenigen, die sich als beamtenpolitische Sprecher im Innenausschuss verstehen. Deswegen - und nicht nur, weil bald Weihnachten ist möchte ich meinen Dank an die übrigen Berichterstatter für die sachliche Zusammenarbeit im Innenausschuss aussprechen. Es gibt wenig Streit. Wir verhandeln meistens auf einer sehr soliden Basis. Die Zusammenarbeit macht also Spaß. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön. Sie müssen uns natürlich kritisieren. Das haben wir ja auch gemacht, als wir in der Opposition waren. Sie tun das oft gegen Ihre Überzeugung. Das ist auch nicht schlimm. ({3}) Wir nehmen Ihre Vorschläge auf, wenn sie vernünftig sind; das haben Sie jetzt bei der Kindergeldabsicherung gesehen. Sie haben den Vorschlag gemacht, die Regelung über das dritte und jedes weitere Kind von Beamten in das Gesetz über die Versorgungsabschläge aufzunehmen. Das haben wir gemacht. Da, wo Sie vernünftige Vorschläge machen, sind wir für sie offen, nehmen sie auf und setzen sie auch um. Wir haben die inhaltsgleiche Übertragung geschafft, aber nicht die zeitgleiche. Das hing mit den zerrütteten Finanzen zusammen. Dem mussten wir Rechnung tragen. Aber wichtig ist: Wir hatten keine Niveauabsenkungen, die dauerhaft schädliche Folgen für die Beamten und die Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst gehabt hätten, zu verzeichnen. Der negative Basiseffekt ist ausgeblieben. Den haben wir gemeinsam verhindert. Ich habe den Sparzwang mehrfach angesprochen. Das ist eine schwierige Situation. Aber ich kann Ihnen sagen: Sie können beruhigt in Ihre Weihnachtsferien fahren. Die rot-grüne Koalition hat die Staatsfinanzen weitgehend stabilisiert. Die Zukunft Ihrer Kinder und Enkelkinder ist einigermaßen gesichert. ({4}) Sie können in Ruhe Weihnachten feiern. ({5}) Die Minderausgaben bei dieser ganzen Aktion belaufen sich auf 3,5 Milliarden DM, wobei der Bund nur geringfügig betroffen ist. Wir haben 660 Millionen DM eingespart. Aber bei den Ländern ging es um 2,5 Milliarden DM. Sie waren es, die gesagt haben: Macht diese Änderung, die die CDU will, bitte nicht! - Es waren auch die CDU-regierten neuen Bundesländer, die gesagt haben: Wir können das nicht bezahlen. Die Übertragung der Tarifergebnisse lässt die aktiven und die Ruhestandsbeamten trotz schwieriger Haushaltslage an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilhaben. Das war nicht immer so; das haben Sie selbst angesprochen. In den Jahren 1989, 1993, 1994, 1996 und 1997 haben die Besoldungserhöhungen jeweils unter dem Tarifabschluss gelegen. Auch die zeitgleiche Übertragung ist Ihnen 1991, 1993, 1994, 1995 und 1997 nicht geglückt. Von daher ist das, was Sie jetzt fordern, genau das, was Sie selbst nicht gemacht haben. ({6}) Auch die Angleichung der Bezüge in den neuen Bundesländern ist Ihnen nicht geglückt. Wir haben in drei wichtigen Schritten eine Annäherung der Ostbezüge bis auf 90 Prozent der Westbezüge hingekriegt. Ich weiß, dass es den Menschen in den neuen Bundesländern nicht zu vermitteln ist, dass sie für die gleiche Arbeit, teilweise in den gleichen Dienststellen und den gleichen Bundeswehreinheiten, weniger Geld bekommen als die, die im Westen in den Dienst eingetreten sind. ({7}) Das kann uns auf die Dauer nicht beruhigen. Wir müssen gemeinsam darum kämpfen, dass sich das ändert. Das werden wir auch hinkriegen, aber langsam, weil die neuen Bundesländer hier sonst überfordert wären. Wir können keine Beschlüsse fassen, die unsere Länder in die Knie zwingen. Deswegen kann das nur im Konsens mit den Bundesländern gemacht werden, so unangenehm das auch im Moment ist. Mit dem jetzt vorliegenden Ergebnis erkennen wir die Leistungen im öffentlichen Dienst. Dort werden gute Leistungen erbracht. Wer gute Leistungen erbringt, der hat es auch verdient, dass er dafür vernünftig entlohnt wird. Ich will mit einem letzten Satz daran erinnern, dass viele im öffentlichen Dienst, bei der Polizei und der Feuerwehr, arbeiten müssen, während wir in die Weihnachtsferien gehen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Kemper, Sie müssen bitte an Ihre Redezeit denken.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich bin dabei, mich zu verabschieden. ({0}) Viele müssen über Heiligabend Dienst versehen. Sie stehen für unsere Sicherheit ein. Feuerwehr und Polizei sorgen dafür, dass wir in Ruhe Weihnachten feiern können. Dafür möchte ich ihnen von hier aus öffentlich danken. Ich denke, dem werden Sie sich nicht verschließen. Ich wünsche den Mitgliedern dieses Hauses und natürlich auch Ihnen, Frau

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das ist ein langer Abschied.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- ich danke für Ihre Großmut -, ein schönes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Dr. Max Stadler für die F.D.P.-Fraktion.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das, was Kollege Kemper gerade zum Besten gegeben hat, erinnert an den bekannten Filmtitel „Der kurze Weg zum langen Abschied“. Aber nun zum Thema: Wir haben schon am 28. September 2000 in gleicher Besetzung eine identische Debatte veranstaltet. Anlass war damals der Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion, mit dem eine zeit- und inhaltsgleiche Übernahme des Ergebnisses der Tarifverhandlungen auf die Beamten und Versorgungsempfänger verlangt worden ist. Nunmehr hat die CDU/CSU-Fraktion am 10. Oktober dieses Jahres erfreulicherweise mit einem nahezu wortgleichen Gesetzentwurf nachgezogen, ({0}) der heute in erster Lesung zu behandeln ist und der, wie Sie sich leicht vorstellen können, von der F.D.P. freundlich aufgenommen und gewürdigt wird. Denn dieser Gesetzentwurf gibt uns ein zweites Mal Gelegenheit, an die Regierungsfraktionen zu appellieren, schlicht und einfach das zu tun, was sie in ihrer eigenen Zeit als Oppositionsfraktionen immer wieder verlangt haben. Ich meine, wir sollten diese Debatte zum Anlass nehmen, uns wenigstens auf einen Grundsatz zu verständigen: Es darf weder eine Schlechter- noch eine Besserstellung von Beamten und Versorgungsempfängern geben. Vielmehr muss eine Gleichstellung gegenüber den Arbeitern und Angestellten des öffentlichen Dienstes erfolgen. ({1}) Das muss der Grundsatz sein. Nun wenden Sie natürlich zu Recht ein, dass auch wir in der Vergangenheit nicht immer in der Lage gewesen sind - denn auch da hat es Sparzwänge gegeben -, diesen Grundsatz in Reinkultur zu verwirklichen. Aber dies darf kein Freibrief dafür sein, jetzt von Tarifrunde zu Tarifrunde mit der Übertragung des Tarifergebnisses so zuzuwarten, wie Sie es diesmal tun. ({2}) Vielmehr muss man in jedem Einzelfall prüfen, wie die Lage genau ist. Meine Meinung zum diesjährigen Tarifergebnis ist, dass es wirklich maßvoll ist. Die Tarifvertragsparteien haben - das werden auch Sie nicht bestreiten Vernunft bewiesen. Ich glaube, sie haben nicht überzogen. Deswegen wäre es dieses Mal sehr wohl möglich, das Tarifergebnis zeit- und inhaltsgleich auf die Beamtenschaft zu übertragen. Sie wollen aber für viele Beamte im Jahr 2000 faktisch eine Nullrunde. Dem werden wir nicht zustimmen. Ich darf Sie auch noch darauf hinweisen, welche Ungereimtheit bei den Betroffenen besonderen Ärger verursacht: Die Angestellten bekommen bekanntlich eine Einmalzahlung von 400 DM für das Jahr 2000. Die Einmalzahlung wird auch dann ausgezahlt, wenn es sich um sehr gut vergütete Angestellte handelt; das Wort „Besserverdiener“ will ich jetzt vorsichtshalber gar nicht erwähnen. Dagegen bekommt zum Beispiel die vom Kollegen Kemper gerade angesprochene Berufsgruppe der Polizeibeamten diese Einmalzahlung in manchen Fällen möglicherweise nicht. ({3}) - Ja, es gibt eine Differenzierung. Gleichwohl besteht hier eine Ungleichbehandlung von Angestellten und Beamten, die sich finanziell für den Einzelnen so sehr gar nicht auswirkt, die aber doch als eine Diskriminierung empfunden wird und für die Sie bei den betroffenen Beamten und Versorgungsempfängern kein Verständnis erwarten können. Noch wäre Gelegenheit, Ihre Haltung zu korrigieren. Die zweite Debatte hier im Plenum bietet Ihnen die Möglichkeit dazu. Sie sollten die Gesetzentwürfe der F.D.P. und der Union dazu nutzen, diese Chance wahrzunehmen. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Helmut Wilhelm für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich spreche insbesondere Sie an, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Wahre Freunde erkennt man in der Not. Sie wollen den Anschein erwecken, Freunde der Beamtinnen und Beamten zu sein. Als ehemaliger und auch als zukünftiger Beamter war ich fast geneigt zu glauben, Sie nehmen dieses Anliegen wirklich ernst. Dann aber hat mich Ihr Gesetzentwurf doch veranlasst, in die Tiefen der Vergangenheit hinabzusteigen. Herr Kollege Belle, Sie haben es schon richtig vermutet: Da bin ich fündig geworden. Sie erinnern sich: Während Ihrer Regierungszeit wurden Besoldung und Versorgung doch mehrfach unterhalb der Inflationsraten angehoben und auch die Anpassung der Besoldung an das dem Tarifergebnis für Angestellte mehrfach verschoben. Herr Kollege Belle, Sie haben das ehrlich eingeräumt. Dafür möchte auch ich mich ganz herzlich bedanken. Was tut denn eigentlich diese Bundesregierung? Es ist vorgesehen, das Ergebnis der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst in gleichem Umfang und zeitlich nur geringfügig verschoben zu übernehmen. Bezüge und Pensionen werden im ersten Schritt um 2 Prozent und im zweiten Schritt um weitere 2,4 Prozent erhöht, abzüglich jeweils von 0,2 Prozent Versorgungseinbehalt. Damit steigen die Gehälter während unserer bisherigen Regierungszeit durchaus real. Wir setzen also machbare Lösungen um. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, in der Nach-Kohl-Ära sollten die Zeiten der Versprechungen ins Blaue der Vergangenheit angehören. Vorlagen sollten einen soliden Deckungsvorschlag enthalten. Die frühere Regierungskoalition von Ihnen hat uns doch in die heutige schwierige Haushaltssituation gebracht. Ich glaube, Sie müssen zur Kenntnis nehmen: Diese Bundesregierung wird bei all ihren Entscheidungen auch darauf achten, dass Ausgaben finanzierbar bleiben und sich der Schuldenstand nicht weiter erhöht. Diese Bundesregierung macht aber das, was möglich ist. Nicht umsonst hat ja auch der Bundesrat einen gleich gerichteten Antrag Ende September abgelehnt. Denn die Länder als Hauptarbeitgeber von Beamten wären von Ihrem jeztigen Gesetzentwurf - hätte er Erfolg - besonders betroffen; sie scheinen nicht unheimlich begeistert davon zu sein. Tun Sie denen das doch nicht an! Einige Bundesländer werden ja auch von der CDU bzw. der CSU geführt. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Heidemarie Ehlert für die PDS-Fraktion. ({0})

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt nicht nur Beamtensprecher, sondern auch -sprecherinnen. Auch ich bin Beamtin. Liebe Regierungsvertreter, Sie müssen den Beamtinnen und Beamten schon einmal erklären, warum Sie denen nicht nur das Weihnachtsgeschenk in Höhe von 400 DM nicht gönnen, sondern das alles andere auch noch auf den Zeitraum September bis Dezember verschoben haben. Das ist wirklich nur ein Trostpflaster, wohingegen Sie beim Weihnachtsgeld für einen geschassten Minister nicht gespart haben. ({0}) Sie müssen meinen Kolleginnen und Kollegen im Finanzamt Halle-West einmal erklären, warum sie für gleiche Arbeit nur 87 Prozent und nicht wie ihre Kollegen in Duisburg oder Hamburg 100 Prozent bekommen. ({1}) Es wurde die Forderung gestellt, Leistung müsse vergütet werden. Wer Leistungen fordert, muss auch bereit sein, sie zu bezahlen. Es geht doch nicht um Geschenke an Beamte. Es wurde vom Bundestagswahlkampf gesprochen. Liebe CDU, ich glaube, Sie wollen die Beamtinnen und Beamten wieder zurückgewinnen. Irgendwie kommen Sie da zu spät: Fünfmal geht die Verschiebung der Angleichung der Besoldung auf Ihr Konto, nur einmal auf das Konto dieser Regierung. Wo liegen also die größeren Lasten? ({2}) Spaß beiseite; das Thema ist ernst. Es ist von einem sparsamen Finanzminister die Rede, dem wir es zu verdanken haben, dass die Beamten wieder einmal bluten sollen. Aber dieser Finanzminister gibt locker 2 Millionen DM für eine Werbekampagne zur Steuerreform aus. Ein anderes Beispiel: Heute hat der Haushaltsausschuss locker zweimal 50 Millionen DM für Waffensysteme und - im Nachtragshaushalt über Nacht - locker 10 Milliarden DM für ein Großraumflugzeug beschlossen. Erklären Sie dies bitte den Damen und Herren Beamten und Richtern! Erklären Sie vor allen Dingen den Soldaten aus den neuen Bundesländern, die nach wie vor nur beim Einsatz im Kosovo 100 Prozent erhalten, aber nur 87 Prozent bekommen, wenn sie wieder zurückgekehrt sind, warum das Geld für sie nicht vorhanden ist, es aber für solche Projekte wie die eben genannten herausgeworfen werden kann. Sie müssen schon ehrlich sagen, was Sie wollen. Sagen Sie es den Betroffenen bitte noch vor Weihnachten! Sie haben die Chance dazu. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Fritz Rudolf Körper.

Fritz Rudolf Körper (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001162

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte Sie gern schneller zur Kuba-Debatte schreiten lassen. Aber ich muss doch noch einige Bemerkungen zu diesem Thema machen. Wenn man den Kollegen Belle hört, dann muss man fairerweise sagen: moderat im Ton, aber im Ansinnen doch etwas populistisch. Wenn man sieht - darüber sollte man sprechen -, wie die Anpassungen zu Ihrer Regierungszeit aussahen - zum Beispiel lag die Inflationsrate 1989 bei 2,9 Prozent und Ihre Anpassung bei 1,4 Prozent -, dann muss man sagen: Das war alles andere als sozial, fair und gerecht. ({0}) 1993 war es ähnlich: 3,7 Prozent Inflationsrate und nur 3 Prozent Erhöhung. Auch das war alles andere als sozial und gerecht. Lieber Herr Belle, ich könnte diese Reihe fortsetzen. Sie haben nicht nur zwei Sündenfälle begangen, sondern mehrere. Das muss man hier einfach festhalten. ({1}) Eine zweite Bemerkung an die linke Seite, was das Thema Ost/West-Tarife anbelangt. Ich will es kurz auf den Nenner bringen. ({2}) Wer beispielsweise die Angleichung in einem Schritt gefordert hat, muss wissen, dass er damit eine Forderung von 9 Milliarden DM Mehrkosten pro Jahr gestellt hat. Auch an dieser Stelle geht das PDS-Motto „Geld braucht man nur zu beschließen“ nicht auf. Es gilt vielmehr: Geld Helmut Wilhelm ({3}) muss man haben, um eine solche Maßnahme finanzieren zu können. ({4}) Eine weitere Bemerkung: Wie ernst das Thema Besoldung und Versorgungsanpassung auf Bundesratsebene genommen wird, kann ich Ihnen am Verhalten des Saarlandes verdeutlichen, welches diesen populistischen Antrag gestellt und gleichzeitig einen Gesetzentwurf eingebracht hat, mit dem die Gehälter für die Berufsanfänger abgesenkt werden sollen. Das passt überhaupt nicht zusammen. Das sollte sich dieses Land gehörig hinter die Ohren schreiben. ({5}) Ich will in aller Kürze noch Folgendes sagen: Die prozentuale Anpassung entspricht dem Tarifergebnis: 2 Prozent zum 1. Januar 2001 und 2,4 Prozent zum 1. Januar 2002. Von einer Abkoppelung kann also überhaupt nicht die Rede sein. Im Gegenteil: In der Zeit von 1999 bis 2002 gibt es eine lineare Erhöhung von 7,5 Prozent. Sie wären froh, wenn Sie das in Ihrer Regierungszeit erreicht hätten. ({6}) Folgendes will ich Ihnen ebenfalls in aller Offenheit sagen und an einem Beispiel verdeutlichen: Das Nettoeinkommen eines Oberinspektors in Besoldungsgruppe A 10 - 40 Jahre, verheiratet, zwei Kinder, Steuerklasse III steigt in den Jahren 2000 und 2001 einschließlich steuerlicher Entlastungen und der Kindergelderhöhung um monatlich 250 DM. Das entspricht einer prozentualen NettoSteigerung von 5 Prozent. Das kann sich sehen lassen. ({7}) - Dr. Klaus Grehn [PDS]: Rechenkünste!) Was mich wirklich nachdenklich stimmt - lieber Herr Belle und lieber Herr Stadler, das muss ich Ihnen einmal deutlich sagen -: Wir haben uns die Mühe gemacht, einmal eine Rechnung aufzustellen, wie viel Mehrkosten gegenüber der Regierungsvorlage durch Ihren Gesetzentwurf - wenn er beschlossen würde - entstehen würden. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass die Kosten sage und schreibe 3,3 Milliarden DM - 2,4 Milliarden DM aufgeteilt auf die Länder und für den Bund rund 550 Millionen DM - betragen würden. Ich halte es schlichtweg für unseriös, einen solchen Vorschlag zu machen, ohne gleichzeitig einen Deckungsvorschlag vorzulegen. ({8}) Dass Sie zu der Frage der Kostendeckung gänzlich schweigen, ist für mich überraschend. Stil und Form lassen mich auch ein bisschen an der Ernsthaftigkeit Ihres Entwurfs zweifeln, auch wenn er sich für eine Veröffentlichung in dem einen oder anderen Presseorgan gut zu eignen scheint. Deswegen werden wir diesem Entwurf nicht zustimmen, was Sie sicherlich nicht überraschen wird. Schönen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/4247 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Adelheid Tröscher, Friedhelm-Julius Beucher, Lothar Mark, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba - zu dem Antrag der Abgeordneten Carsten Hübner, Dr. Barbara Höll, Heidi Lippmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba im Jahr 2000 - Drucksachen 14/3128, 14/2263, 14/4580 Berichterstattung: Abgeordnete Adelheid Tröscher Klaus Jürgen Hedrich Joachim Günther ({2}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für die SPD-Fraktion die Kollegin Adelheid Tröscher.

Adelheid Tröscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002822, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu so später Stunde noch ein Ausflug in die große weite Welt, nämlich nach Kuba. Es war richtig, die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba aufzunehmen. Es ist auch richtig, dass wir darüber sprechen. Wenn wir innerhalb weniger Monate schon konkrete Ergebnisse vorweisen können, heißt das, dass die Ministerin, Heidemarie Wieczorek-Zeul, sehr gute Arbeit geleistet hat. ({0}) Die Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit war eine Initialzündung. So kann ich Ihnen mitteilen, dass der Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, der Bremer Bildungssenator Willi Lemke, dieser Tage in einer PresParl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper semeldung berichtete, dass Kuba und Deutschland in allernächster Zeit ein Kulturabkommen abschließen werden; die Länder sind also mit im Boot. ({1}) Willi Lemke war nämlich vorige Woche auf Einladung des kubanischen Bildungsministers in Havanna und konnte sich selber ein Bild machen. Nachhaltige Entwicklung braucht Bildung, auch bei uns. Es ist ein unbestreitbarer Erfolg für unsere Ziele in der Entwicklungspolitik, wenn viele Hochschulvertreter aus unserem Land sagen, sie wollten unbedingt die Projekte zwischen Hochschulen und Forschungsinstituten auf Kuba und in Deutschland voranbringen. Niemand von uns verschweigt die noch immer schwierige Lage in den Bereichen Demokratie, Menschenrechte und Pressefreiheit auf Kuba. Doch wo wären wir, wenn unsere Regierung keinen Anfang gewagt hätte? Auch deshalb hat der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die Zustände kritisch in seine Beschlussempfehlung aufgenommen. Ich will Sie an dieser Stelle fragen: Wo sehen Sie die Alternativen, wenn selbst Bischöfe, etwa Bischof Kamphaus, und Vertreter der anderen Kirchen sowie Vertreter von Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen im Dialog und im Kontakt den einzigen gangbaren Weg zu Veränderungen sehen? Auch die kubanische katholische Kirche schließt sich dieser Sicht an. Dies konnten wir aus Gesprächen mit dem Bischof von Havanna als positive Stellungnahme mitnehmen. Wir werden nicht müde zu wiederholen, dass die Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba nicht zuletzt auf der EU-Position zum Thema Kuba beruht. Unter französischer Ratspräsidentschaft ist noch in diesen Tagen eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen EU und Kuba vorgesehen. Ist Jacques Chirac verdächtig, einen karibischen Diktator zu hofieren? Nur durch die Einbindung in Entschuldungsstrategien internationalen Zuschnitts kann man auf dauerhafte Veränderungen in der innerkubanischen Gesellschaft hoffen. ({2}) Nur wenn sich die kubanische Regierung auf Mitgliedschaften wie beispielsweise beim Lomé-Folgeabkommen einlässt, kann man sie aufgrund der Verpflichtungen, die damit zusammenhängen, anmahnen, über die Menschenrechtssituation vor der eigenen Haustür nachzudenken und diese zu verbessern. Verhärtung und Isolierung waren in einem Konflikt noch nie die besseren Ratgeber. Sie alle sollten wissen, dass der Ansatz unserer Ministerin, sich auf Projekte im Umwelt- und Gesundheitswesen in der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba zu konzentrieren, erfolgreicher und gewinnbringender für uns alle ist. ({3}) Hochrangige republikanische US-Politiker fordern in einem Bericht, der vor wenigen Tagen in den USA veröffentlicht wurde, eine radikale Reform der Beziehungen zwischen den USA und Kuba, ({4}) und zwar in Richtung Auflockerung der Embargo-Bestimmungen. Das betrifft in erster Linie natürlich Handelsbeziehungen, von denen dann US-Unternehmen bald wieder profitieren könnten. Aber auch die Visabestimmungen - für beide Reiserichtungen: USA-Kuba und Kuba-USA - sollen deutlich vereinfacht werden. Der „Council of Foreign Relations“, in dem sowohl Demokraten als auch Republikaner mitarbeiten, schlägt ganz ähnliche Wege der Kooperation und Joint Ventures vor, auch wir von der Koalition wollen das. Es geschehen also noch Zeichen und Wunder. ({5}) Zwei ehemalige republikanische Staatssekretäre - der eine, William D. Rogers, arbeitete für Richard Nixon, der andere, Bernard Aronson, für George Bush Senior - gelten als Hauptautoren des Berichts über die Auflockerung der Embargo-Bestimmungen. Sie sehen also: Die Embargo-Bestimmungen haben sich aufgelöst und sehen mittlerweile sozusagen aus wie ein Schweizer Käse. Die Nichtregierungsorganisationen, von denen ich selbst einige Vertreter im Januar dieses Jahres auf Kuba getroffen habe - übrigens zusammen mit dem Kollegen Kraus und dem Kollegen Günther - haben allesamt unseren Weg des Dialogs und der Projektzusammenarbeit gelobt. Sie haben sehr deutlich gesagt, dass dies der einzige Weg ist, von dem auch die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen profitieren könnte. Nur wenn die Welt nach Kuba blickt, kann man auch die Fehltritte wie Menschenrechtsverletzungen sehen. Wagen wir nun die Demokratieförderung für Kuba, meine Kolleginnen und Kollegen! Warten wir nicht, bis die Zeit über uns hinweggeht. Danke sehr. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Erika Reinhardt für die Fraktion der CDU/CSU.

Erika Reinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Entwicklungspolitik braucht Menschenrechte - Menschenrechte brauchen Entwicklung!“ ({0}) Das sind die Worte der Bundesministerin Wieczorek-Zeul vom 29. Juni dieses Jahres. Ich muss sagen: Es sind gute Worte; denn die Wahrung der Menschenrechte ist eine der wichtigsten Voraussetzungen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit, ({1}) und zwar aus moralischen Erwägungen, aber auch aus Erwägungen der Nachhaltigkeit unserer Hilfen. Sie, Frau Ministerin, haben seit Ihrem Amtsantritt immer wieder betont: Die Bundesregierung setzt sich heute mehr denn je für den Schutz und die Achtung der Menschenrechte ein. „Mehr denn je“, das waren Ihre Worte in einer Pressemitteilung. Wir begrüßen diesen Einsatz. Sie werden uns bei dieser Sache immer an Ihrer Seite haben. ({2}) - Seien wir doch ganz ehrlich. Wie sieht es denn in Kuba aus, in einem Land, mit dem Sie offizielle entwicklungspolitische Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene betreiben wollen? Das Gesetz zum Schutz der nationalen Unabhängigkeit und Ökonomie Kubas vom 15. März 1999 erlaubt willkürliche Maßnahmen gegen jedermann, der dem Regime nicht genehm ist. Im April 2000 startete die kubanische Regierung eine neue Kampagne gegen die katholische Kirche. In einem Werbespot wird eine dominikanische Schwester dämonisiert. ({3}) Im Frühjahr 2000 zog Kuba sein Beitrittsgesuch zur AKP-Gruppe zurück, ein Rückzug, der nach der Verurteilung Kubas durch die Genfer Menschenrechtsorganisation erfolgte. Der Verurteilung hat übrigens auch Deutschland zugestimmt. Es reicht nicht, Frau Ministerin, wenn der Außenminister sich in einem Gespräch mit Ihnen zu den Prinzipien, die im Lomé-Abkommen festgelegt sind, bekennt, aber im Grunde anders gehandelt wird. Ende Juni wurde einem Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung die Einreise nach Kuba mit der Mitteilung verweigert, Kuba habe kein Interesse an der Kooperation mit dieser Stiftung. Im Sommer stieg die Fluchtwelle aus Kuba dramatisch an. Allein im Juli dieses Jahres erreichten mehr als 220 Kubaner unter lebensgefährlichen Bedingungen das rettende US-Ufer. Im August 2000 gab Amnesty International bekannt, dass im vergangenen Jahr in Kuba bis zu 30 Menschen hingerichtet oder zum Tode verurteilt wurden: Umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung sind dies doppelt so viele wie in China und fünfmal so viele wie in den USA. Damit das ganz klar ist: Ich bin grundsätzlich gegen die Todesstrafe. Ganz egal, wo sie ausgesprochen wird: Ein solches Urteil darf es nicht geben. Wir haben ja heute erst eine Diskussion darüber geführt. ({4}) Kuba unterhält nach wie vor die größte und teuerste Armee Lateinamerikas. Auch das ist ein eklatanter Verstoß gegen unsere Kriterien. Diese Fakten, unsere Erfahrungen und Versuche einer Zusammenarbeit - auch Minister Spranger hat sich schon um Zusammenarbeit bemüht; das ist nichts Neues - sowie die Ergebnisse internationaler Studien weisen klar darauf hin, dass sich Kuba im Gegensatz zu anderen Ländern wie Polen und Ungarn auch in Zukunft nicht an Marktwirtschaft orientieren will. Es bleibt bei einer planwirtschaftlichen Ausrichtung; es ist keinerlei Veränderung zu erwarten. Vizepräsident Carlos Lage hat dies klar auf eine Frage von mir bestätigt, als er damals in Deutschland war. Frau Ministerin, Sie setzen in Ihrem Konzept sehr stark auf „Wandel durch Zusammenarbeit“. Daran ist ja auch etwas Gutes. Dazu gehören aber beide Seiten. Deshalb muss man schon fragen: Glauben Sie wirklich, Havanna werde Dissidenten dulden, politische Gefangene freilassen und Opposition legalisieren? Bisher haben wir gegenteilige Erfahrungen gemacht. Ohne die Maßstäbe, ohne die Kriterien, die auch Kuba binden, werden wir wenig erreichen. ({5}) Wir halten es auch für falsch, unterschiedliche Maßstäbe anzulegen. So hat die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ihre Gründe gegen die Aufhebung der gegen Myanmar gerichteten Sanktionen und die Wiederaufnahme der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit dargelegt. Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit wurden hier explizit als Voraussetzung genannt. Frau Ministerin, dadurch wird deutlich, dass Sie mit zweierlei Maß messen. Es gibt ja eine ganze Liste weiterer Staaten, mit denen das BMZ gerade aus diesen Gründen keine entwicklungspolitische Zusammenarbeit auf staatlicher Ebene unterhält: Liberia, Afghanistan, Togo und Somalia; es gibt eine Reihe von Staaten. Es ist daher unverständlich, wenn das BMZ im Falle Kubas über die dortigen Missstände wohlwollend hinwegsieht und dem unbelehrbaren Diktator Castro ein großzügiger Vertrauensvorschuss eingeräumt wird. ({6}) - Doch, lieber Kollege Schuster, es ist schon so. Hier gibt es Menschenrechtsverletzungen, die man aber einfach nicht sehen will. ({7}) Wir sind sehr für eine Zusammenarbeit. ({8}) Wir halten sie für richtig und haben immer gesagt: Wir brauchen eine verstärkte Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen in Kuba. Ich bin der Meinung: Wir müssen dort verstärkt ansetzen. Wir wollen der Bevölkerung und den Menschen vor Ort helfen. ({9}) Das kann man erreichen, indem man stärker mit Nichtregierungsorganisationen vor Ort zusammenarbeitet. Wir haben uns dabei an einen gemeinsamen Beschluss des Deutschen Bundestages vom 14. Januar 1993 gehalten, der auf einen Antrag der SPD vom 17. Dezember 1991 zurückgeht. In diesem Beschluss - hören Sie gut zu; ich zitiere aus Ziffer 2 - steht die Aufforderung an die Bundesregierung, „zu keiner Zusammenarbeit bereit zu sein, die als Unterstützung der Diktatur verstanden werden könnte; allenfalls können Projekte insbesondere über Nichtregierungsorganisationen gefördert werden, die der Not leidenden Bevölkerung direkt, dem Umweltschutz oder demokratischen Kräften und Reformen zugute kommen.“ ({10}) Damals ging es ebenfalls um Kuba. Das ist der richtige Ansatz; hier sind wir uns voll und ganz einig. Nur tun Sie jetzt etwas anderes. Wir stehen zu diesen Kriterien. Wir müssen diese Maßstäbe entweder an alle anlegen oder wir werden unglaubwürdig. ({11}) Ich sage es noch einmal: Wir wollen Unterstützung auf der nichtstaatlichen Ebene. Wir wollen, dass die Demokratisierung dort vorangeht. Wir wollen, dass Menschenrechtsverletzungen aufhören. Wir wollen stärker auf der Nichtregierungsebene aktiv werden. Die relative Unabhängigkeit dieser von Nichtregierungsorganisationen geleisteten Entwicklungshilfe von diplomatischen und administrativen Zwängen staatlicher Regierungspolitik bietet die Chance zu direkter Hilfe, ohne das System politisch aufzuwerten. Die engen Verbindungen zu gesellschaftlichen Gruppen in den Partnerländern stellen unter diesen Bedingungen erfahrungsgemäß bessere Voraussetzungen für sinnvolle Projektansätze gerade im Bereich der Stärkung der Menschenrechte und der Demokratisierung dar. ({12}) Sie helfen eher dem Umbruch des totalitären Einparteiensystems in Richtung eines demokratischen Mehrparteiensystems, in dem die Menschenrechte beachtet werden und in dem die Bevölkerung am politischen Meinungsbildungsprozess beteiligt wird. ({13}) Diese Art der Hilfe ist deswegen das bessere Instrument. Wir wollen keine Isolierungspolitik gegenüber Kuba; das möchte ich hier ausdrücklich betonen. Wir sind für Gespräche und Kontakte. Wir sind vor allem für eine verstärkte Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen, um den Menschen in Kuba zu helfen. Es geht um die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit der deutschen Entwicklungspolitik. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Hans-Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die richtige Kubapolitik kommt spät, auch heute sehr spät, aber nicht zu spät. Der Frau Ministerin haben wir es zu verdanken, dass die Debatte entgegen anderen Erwartungen doch noch stattfinden kann. Frau Reinhardt, Blockade und Embargo gegen Kuba sind Elemente einer Politik des Kalten Krieges, der nun einmal vorbei ist. ({0}) Das wissen eigentlich alle: die US-Amerikaner, die Europäer, wir und wohl auch die CDU/CSU. Aber Sie ziehen nicht die richtige Schlussfolgerung aus der Tatsache, dass der Kalte Krieg nun einmal vorbei ist. Diese Blockadeund Embargopolitik gegen Kuba ist gescheitert. Das, was die US-Amerikaner wollten, nämlich den Sturz Fidel Castros, ist nicht erreicht - er ist der am längsten amtierende Staatschef ganz Südamerikas -; auch die Menschenrechte und die bürgerlichen Freiheitsrechte wurden in Kuba nicht gesichert. Auf diesem Gebiet ist Erhebliches zu tun. Wenn eine solche Politik gescheitert ist, muss man sie ändern. Man muss dann zu einer Politik der Entspannung kommen. Das haben Ihnen die Sozialliberalen in den 70er-Jahren mühevoll beibringen müssen. Im Rahmen einer Politik der Entspannung muss man dann zu einer wirksamen Entwicklungszusammenarbeit kommen, um eine Verbesserung der Bürger- und Freiheitsrechte zu erreichen. Frau Kollegin Reinhardt, in Ihrer Aufzählung habe ich die Beseitigung der erheblichen wirtschaftlichen Folgen der Blockade für die gesamte Bevölkerung Kubas vermisst. In Ihren Forderungen fehlt eine Verbesserung der sozialen, der wirtschaftlichen und der Ernährungssituation in Kuba. Das ist für uns ein ganz wesentlicher Aspekt, warum wir eine andere Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba wollen. ({1}) Viele Hunderttausende Deutsche fahren als Touristen nach Kuba und verbringen dort ihren Urlaub. Sie leisten damit Entwicklungszusammenarbeit, auch wenn ich sagen muss: nicht immer zum Wohle des Landes. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass auch die offizielle deutsche Politik Entwicklungszusammenarbeit praktiziert, aber eine bessere, nachhaltigere und eine - ich sage das im Anschluss an die Diskussion, die heute hier stattgefunden hat -, die den Menschen, der ganzen Insel, der Umwelt und den Interessen der ganzen Region zugute kommt. ({2}) Deshalb tun wir eigentlich nur das, was Tausende von US-amerikanischen Industriellen jedes Jahr tun, nämlich dorthin zu fahren und Geschäfte zu machen. Viele deutsche Industrielle - bis hin zum Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie - fordern nämlich, dorthin zu gehen, um vor Ort offen und klar zu sagen: Es müssen demokratische Verhältnisse hergestellt werden, eine wirksame Opposition muss zugelassen werden, Presse- und Meinungsfreiheit - ein ganz wichtiges Grundrecht für eine demokratische Entwicklung - müssen hergestellt werden, politische Gefangene müssen aus den Gefängnissen entlassen werden und natürlich darf es keine Todesstrafe, erst recht nicht ihre Vollstreckung, geben. Das kann man aber Fidel Castro nur klarmachen, wenn man vor Ort ist. Er wird auf uns hören, wenn wir dazu beitragen, dass sich die Lage für seine Insel und für die Bevölkerung dort verbessert. Deshalb unterstützen wir die Politik der zuständigen Ministerin, die seit dem Amtsantritt dieser Bundesregierung eingesetzt hat: eine langsame, aber kontinuierliche Entwicklungspolitik mit Blick auf Ressourcen, Umwelt, Gesundheitsvorsorge und Fortbildung. Natürlich unterstützen wir in erster Linie die Nichtregierungsorganisationen, soweit sie vor Ort sind - es gibt leider nur sehr wenige in Kuba - und wir unterstützen vor allem die deutschen Nichtregierungsorganisationen, die Kirchen und Stiftungen, weil sie eine wichtige Aufbauarbeit für eine Zivilgesellschaft leisten. Das trägt dann zu einer Veränderung der politischen Verhältnisse auf Kuba in unserem Sinne bei, so wie es auch Frau Reinhardt gefordert hat. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner dieser Debatte ist der Kollege Carsten Hübner, PDS-Fraktion.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Reinhardt, Sie haben gesagt, Sie hielten es für ungerecht und nicht für sachgerecht, wenn ein unterschiedliches Maß angelegt würde. Ich kann dazu nur sagen: Ich kenne Indonesien und auch die Türkei. Wer mit Indonesien aufs Engste zusammenarbeitet und die Türkei seit Jahrzehnten als NATO-Partner akzeptiert, denkt in gespaltenen Kategorien - nicht nur, dass er mit gespaltener Zunge spricht -, wenn er sagt, unter Berücksichtigung von Menschenrechtsfragen sei keine Annäherung an Kuba möglich. ({0}) Es wird Sie nicht verwundern, dass wir damit sehr zufrieden sind, dass die Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba jetzt unter Dach und Fach ist. Wir sind der Meinung, dass hinsichtlich der Fragen von bilateralen Beziehungen und der Aufhebung des Embargos noch Erhebliches auf den Weg zu bringen ist. Sowohl die Bundesrepublik als auch Europa haben eine erhebliche Verantwortung, diese Barrieren zu beseitigen und dabei zu helfen, die Probleme, die aus der Isolation Kubas in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, möglichst im Sinne der kubanischen Bevölkerung und einer demokratischen Entwicklung in den Griff zu bekommen. ({1}) Die Menschen auf Kuba haben diese Initiativen seit langer Zeit verdient. Sie sind - wenn man es genauer betrachtet - die letzten Opfer der Logik des Kalten Krieges. Wenn vonseiten der Bundesrepublik Deutschland der Schlüssel gereicht wird, um das Tor für eine solche Entwicklung aufzuschließen, halte ich das für eine sehr vernünftige Entwicklung. Ich danke der Ministerin ganz ausdrücklich für ihre Initiative, ({2}) wobei ich nicht verheimlichen möchte, dass die erste parlamentarische Initiative dazu selbstverständlich von der PDS ausgegangen ist. ({3}) Es war sehr sinnvoll, dass Sie sich dieser Initiative angeschlossen haben, dass Sie sie weiterentwickelt ({4}) - „realisiert“ - und mit Mitteln ausgestattet haben, wie wir das zunächst nicht erwarten konnten. Ich wäre sehr froh darüber und fände es sehr vernünftig, wenn wir das auch in vielen anderen Bereichen schaffen würden. Natürlich sind auch wir mit der Menschenrechtssituation in Kuba nicht zufrieden. Vor dem Hintergrund der vorhin geführten Debatte über Todesstrafe und Menschenrechtsstandards möchte ich sagen: Ich empfinde es für mich als Verpflichtung, dieselben Maßstäbe in Kuba anzulegen. Deswegen stelle ich fest: Demokratische Reformen in Kuba sind unumgänglich, gerade um das zu retten, was viele in Kuba jetzt retten wollen, nämlich den Sozialismus. Wenn man ihn als Wert an sich, als Wertvorstellung und Weltanschauung begreift, dann muss man auch begreifen: Ohne Demokratie funktioniert der Sozialismus an keinem Ort der Welt. ({5}) Das haben wir hier erlebt. Wir sprechen aus eigener Erfahrung. Demokratische Reformen müssen sein. Es muss auch Reformen im Bereich der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheitsrechte geben. Entwicklungsarbeit kann dafür Impulse geben und für den notwendigen Dialog sorgen. Auch wir werden mithilfe unserer Stiftung versuchen, den notwendigen Dialog in diesem Bereich zu fördern. Ich wünsche mir, dass die CDU die Potenziale und Chancen erkennt. Die CSU tut das mit der Hanns-Seidel-Stiftung schon lange. Soweit ich weiß, gibt es keine andere Stiftung, die auf eine so lange Tradition im Hinblick auf Kuba zurückblicken kann. Ich hoffe, sie hat diese Tradition im Sinne der Förderung des notwendigen Dialogs genutzt. Ich denke, wir sollten zusammen in diesem Sinne weitermachen und schauen, welche Potenziale sich dort noch erschließen lassen. Danke. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe vor wenigen Tagen ein Schreiben von Christina Rau erhalten. Sie ist Vorsitzende des Kuratoriums einer Schule auf Spiekeroog. Sie hatte mich im Frühjahr gebeten, auf meiner Kubareise zu helfen, dass ein Partnerschaftsvertrag mit einer kubanischen Internatsschule abgeschlossen werden kann. Frau Rau hat mir jetzt mitgeteilt, dass ein solcher Vertrag schon nach kürzester Zeit abgeschlossen werden konnte, und dass es schon im nächsten Jahr einen Schüler- und Lehreraustausch geben wird. ({0}) Dies soll nur ein kleines Beispiel sein, um Ihnen zu zeigen, dass von der Aufnahme öffentlicher Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba positive Signale und kurz-, mittel- und langfristige Wirkungen ausgehen, und zwar für die Kontakte zwischen den Menschen und für die Verbesserung der Situation der Menschen auf Kuba. Nur darum geht es in unserer Entwicklungszusammenarbeit. Die Planungen für das Projekt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Wüstenbekämpfung in Kuba kommen gut voran. Von diesem Projekt werden Impulse auch für die regionale Zusammenarbeit in Mittelamerika und für Lateinamerika insgesamt ausgehen. Es gibt einen engen Erfahrungsaustausch mit anderen lateinamerikanischen Ländern. Auch das ist für Veränderungsprozesse wichtig. Fortbildungen kubanischer Umweltfachleute in Deutschland sind geplant. Möglicherweise wird es auch eine Zusammenarbeit im Bereich eines Konzeptes für alternative Energien geben. Im Übrigen - darüber reden manche Leute wie der Blinde von der Farbe - haben alle deutschen Nichtregierungsorganisationen, mit deren Vertretern wir in Kuba zusammengetroffen sind, gesagt: Sie stärken uns durch Ihre Präsenz auf Kuba den Rücken und unterstützen unsere Arbeit als Nichtregierungsorganisationen. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich auch ein besonderes Lob von der Hanns-Seidel-Stiftung erhalten. An die Adresse der Kollegin Reinhardt möchte ich sagen - vielleicht ist Ihnen das nicht bekannt -: Wir unterstützen mit 6 Millionen DM Nichtregierungsorganisationen, Kirchen und Stiftungen auf Kuba. Im Rahmen des Projekts der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit, das wir jetzt beschlossen haben, werden in der ersten Stufe 3 Millionen DM und danach 2 Millionen DM für einen entsprechenden Fonds zur Verfügung gestellt, mit dem die Weiterentwicklung gefördert werden soll. Diese Relationen machen deutlich, dass es Ihnen offensichtlich um etwas völlig anderes geht, wenn Sie die Aufnahme der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit kritisieren. ({1}) Ich will an dieser Stelle Folgendes sagen: Wir müssen die Entwicklungszusammenarbeit nach unseren eigenen Vorstellungen ausrichten. Sollen wir immer erst darauf warten, bis man - in der amerikanischen Regierung oder wo auch immer erkennt -, dass bisherige Wege falsch waren? Ich will an dieser Stelle deutlich machen: Wir sind für unsere eigenen Entscheidungen verantwortlich. ({2}) Im Übrigen spürt auch die Wirtschaft die Auswirkungen der besseren Beziehungen zu Kuba. Vor wenigen Wochen hat eine Veranstaltung des BDI stattgefunden, an der - man höre und staune - die kubanische Investitionsministerin Martha Lomas und auch ich teilgenommen haben. Wir, Hans-Olaf Henkel, Frau Lomas und ich, saßen auf dem Podium. Der Saal war voll von deutschen Unternehmern, die ein Interesse daran haben, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Kuba zu erneuern. ({3}) Es ist ein gutes Zeichen, dass das möglich ist. Auf dieser Veranstaltung hat Hans-Olaf Henkel, der mit mir nun wirklich weder verschwistert noch verschwägert noch sonst irgendwie befreundet ist, gesagt - ich zitiere -: Die Bedingungen für ein Engagement auf Kuba sind heute so gut wie kaum jemals zuvor. An dieser Stelle will ich darauf hinweisen, dass deutsche Unternehmen Hermes-Bürgschaften für Geschäfte mit Kuba endlich in Anspruch nehmen können. Kurz nach meiner Reise ist ein Umschuldungsabkommen unterzeichnet worden, das die Voraussetzung dafür war. Damit ist ein altes Hemmnis für die Zusammenarbeit der Wirtschaft mit Kuba ausgeräumt worden. Das ist gut so. ({4}) Die alte Bundesregierung - Frau Tröscher hat es bereits angesprochen - hat in dieser Frage eine Forderung nach der anderen im Hinblick auf den Kulturaustausch gestellt. Mittlerweile - darüber ist in der Öffentlichkeit bisher kaum berichtet worden - fallen im kulturellen Austausch mit Kuba die Hindernisse. Vor wenigen Tagen - auch darauf hat Frau Tröscher hingewiesen - hat der Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Willi Lemke, einen so genannten Letter of Intent in Kuba gemeinsam mit der kubanischen Seite unterschrieben. Dies bietet nun die Möglichkeit für einen Wissenschafts- und Hochschulaustausch. Es gibt dafür einen ganz hervorragenden Anknüpfungspunkt: Die 35 000 Kubaner und Kubanerinnen, die die deutsche Sprache sprechen, sind für uns ideale Bündnis- und Kontaktpartner. ({5}) Wir wollen den freimütigen, den offenen politischen Dialog mit Kuba fortführen - ich selbst habe einen solchen Dialog praktiziert - und die Zusammenarbeit ausbauen. Am besten wäre es, wenn das nicht nur bilateral, sondern auch im Rahmen des neuen Cotonou-Abkommens, des Abkommens zwischen der EU und den afrikanischen, karibischen und pazifischen Ländern, geschähe. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass Kuba Mitglied dieser so genannten AKP-Gruppe werden sollte. Das schaffte einen viel besseren Dialog über alle politischen Fragen. Ich sage in jedem Land - in Kuba im Gespräch mit Fidel Castro, in Uganda im Gespräch mit Herrn Museveni -, dass ich prinzipiell gegen die Todesstrafe bin, dass ich dafür bin, die Todesstrafe zu ächten. Für mich ist absolut klar, dass die Todesstrafe niemals vollzogen werden sollte. ({6}) Ich möchte gerne wissen, wer von Ihnen diese Auffassung in den Entwicklungsländern tatsächlich vertreten würde, ohne Rücksicht auf den entsprechenden Gesprächspartner zu nehmen. ({7}) - Ich sage das auch mit Bezug auf Länder wie die USA; in der Tat. Ich begrüße es, dass sich der Deutsche Bundestag mit dem heutigen Beschluss die Position der Bundesregierung zu Eigen macht. Diese Entscheidung ist auch ein Signal gegen eine seit 40 Jahren bestehende Blockadepolitik durch die USA, die zuletzt vor wenigen Wochen, Anfang November, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen erneut verurteilt worden ist. Wir setzen auf Kooperation; denn nur das nützt den Menschen. Wir wollen dazu beitragen, dass sich die internationale Gemeinschaft gegenüber Kuba und dass sich Kuba gegenüber der internationalen Gemeinschaft öffnet. Kurz gesagt: Wir setzen auf Wandel durch Zusammenarbeit und auf die Erfahrung unseres Landes bzw. Europas. Dieses Prinzip ist im Interesse der Menschenrechte so gut, dass in dieser Frage jeder Zweifler verstummen muss. Ich bedanke mich sehr herzlich. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der Kollege Joachim Günther von der F.D.P.-Fraktion hat seine Rede zu Protokoll gegeben. - Ich sehe keinen Widerspruch im Haus. Dann schließe ich die Aussprache. Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 14/4580. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba, Drucksache 14/3128, in der Ausschussfassung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? ({0}) Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS zur Aufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba im Jahr 2000, Drucksache 14/2263. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion und eine Stimme aus den Reihen der SPD-Fraktion angenommen. Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zusatzpunkt 7: 13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Peter Hintze, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Die deutschen Grenzregionen auf die EU-Erweiterung durch einen Grenzgürtel-Aktionsplan vorbereiten - Drucksache 14/4643 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Gloser, Hans-Werner Bertl, Hans Büttner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Christian Sterzing, Ulrike Höfken, Claudia Roth ({2}) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Flankierung der Erweiterung der Europäischen Union als innenpolitische Aufgabe - Drucksache 14/4886 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Rainer Fornahl für die SPD-Fraktion.

Rainer Fornahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003120, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ist es Fügung oder Zufall, dass wir heute, am Tag des Beginns des Europäischen Rates von Nizza, über ein sehr gewichtiges Teilproblem des Erweiterungsprozesses der Europäischen Union debattieren, nämlich über die Vorbereitung und den Heranführungsprozess im Grenzbereich zwischen Deutschland und den künftigen Mitgliedstaaten Polen und Tschechien? Nizza ist aber bei aller Bedeutung der zu treffenden Entscheidungen für die Handlungsfähigkeit eines künftigen Europas mit 25 bis 30 Mitgliedstaaten nicht das eigentliche Zentrum Europas, zumindest nicht geographisch oder kulturell. Der Mittelpunkt Europas liegt jenseits der Ostgrenzen, der baltischen Staaten, Polens und der Slowakei, von Kandidatenländern mit jahrhundertealter kultureller Tradition. Wer das nicht glauben mag: Ein Blick in den Atlas wird ihm das sehr deutlich vor Augen führen. Die genannten und noch andere Beitrittskandidaten gehören aber ohne Zweifel zu Europa, zur Wertegemeinschaft der Fünfzehn uneingeschränkt dazu. Der Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems 1989/90 hat das Ende der Trennung des alten Westeuropas von seinen östlichen europäischen Nachbarn markiert. Innerhalb einer Frist von zehn Jahren sind diese Staaten bereits in die europäische Wirtschafts- und Kulturzone integriert mit allen Pflichten, aber noch ohne wesentliche Rechte. Dabei war und ist dort ein Transformationsprozess mit gewaltigen Veränderungen in der Gesellschaft und für die Menschen im Gange, der seinesgleichen sucht. Ähnliches lief und läuft seit 1990 in den neuen Bundesländern ab, aber, - das muss man an der Stelle deutlich sagen mit einer gewaltigen solidarischen Unterstützung des Bundes und der alten Länder auf der einen und einer kolossalen Bereitschaft zur Veränderung diesen Prozess zu einem guten Ende zu führen, und auch zur Opferbereitschaft der Menschen in Ostdeutschland, was mehr als beeindruckend ist. ({0}) Trotz einer Vielzahl von noch nicht gelösten Problemen des Aufholprozesses beiderseits der Grenze gibt es grundsätzlich keinen Grund zu Skeptizismus und Pessimismus. Die Damen und Herren der Opposition links und rechts der Mitte sehen das offensichtlich manchmal leider anders. Teile - ich betone: Teile - von CDU und CSU haben seit 1998 eine wundersame europapolitische Kehrtwende gemacht und tragen den Europaskeptizismus wie eine Monstranz vor sich her. So lösen wir aber die noch offenen Probleme und Fragen überhaupt nicht. Wir lösen sie nur, wenn wir aus dem Bekenntnis zur Erweiterung der EU die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen sowie plausible Konzepte und Strategien entwickeln. An dieser Stelle möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der jetzigen Opposition und früheren Regierungskoalition, die Frage stellen: Was wäre gewesen, wenn die Prophezeiung Ihres Altkanzlers Kohl, Polen werde im Jahre 2000 Mitglied der Europäischen Union, eingetroffen wäre? Dann stünden wir heute, Ende des Jahres 2000, vor genau der Fülle von Problemen, die im analytischen Teil Ihres heutigen Antrags beschrieben sind. Aber wir hätten eine Not; denn Ihr Antrag käme genau fünf Jahre zu spät. ({1}) Um genau dieses Problem beim realen Beitritt - vielleicht nach dem Jahre 2003 - nicht zu haben, werden Bundesregierung und Koalition die erforderlichen Strategien entwickeln und die notwendigen Maßnahmen konsequent ergreifen. Wir haben übrigens bereits umfangreich gehandelt: Wir haben beispielsweise mehr Mittel aus den EUStrukturfonds für Ziel-1-Gebiete und Ziel-2-Gebiete, die Grenzregionen, sowohl in den neuen als auch in den alten Ländern, zum Beispiel in Bayern, bereitgestellt. EFREMittel aus dem EU-Haushalt für die Jahre 2000 bis 2006 dienten zur Auflage eines speziellen Infrastruktur-Investitionsprogramms 1999 bis 2002 für Ostdeutschland. Dies geschah in Abstimmung und Übereinstimmung mit den Bundesländern. Wir haben einen 25-Fragen-Katalog zur Erweiterung der Europäischen Union aufgelegt, der heute im Druck war und ab morgen veröffentlicht werden kann. Wir haben die Investitionspauschale für Unternehmen in den ostdeutschen Grenzregionen angehoben. Auch das war ein Schritt zur Unterstützung der Grenzregionen und zur Lösung ihrer Probleme. Am 28. Juni dieses Jahres haben wir als Bundestagsfraktion ein Positionspapier für eine Strategie zur Flankierung der Osterweiterung vorgelegt und veröffentlicht. ({2}) Wahrscheinlich war dieses Papier der Auslöser für die Große Anfrage der CDU/CSU zur Osterweiterung vom 4. Juli 2000. Die Antwort der Bundesregierung steht noch aus - bei dem ungeheuer komplexen Problem, um das es hier geht, ist das sicherlich nicht verwunderlich -; aber sie wird für Anfang des nächsten Jahres erwartet und dann zu einer weiteren, intensiven Debatte führen. Ich gehe davon aus, dass der heute zur Debatte stehende Antrag der CDU/CSU zur Auflage eines Grenzgürtelaktionsplanes dann mit Sicherheit obsolet sein wird. Insbesondere in den grenznahen Regionen von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern verstärkt sich mit dem heranrückenden Beitritt von Polen und Tschechien die Diskussion über die Chancen und Probleme der Erweiterung. Dabei ist leider festzustellen, dass man sich vielfach im Bereich von Hoffnungen, Befürchtungen, Vermutungen und Spekulationen bewegt. Aber eine kürzlich veröffentliche Umfrage hat erstaunlicherweise und entgegen anders lautenden Meinungen und Positionen - auch in Ihrem Papier - deutlich gemacht, dass die Zustimmung zur Osterweiterung in den neuen Bundesländern signifikant größer ist als in den alten Bundesländern. Das sollte man hier an dieser Stelle einmal deutlich vermerken. Meines Erachtens sind bei der Suche nach der richtigen Strategie zur Flankierung des Erweiterungsprozesses insgesamt Sachlichkeit und Nüchternheit, aber auch die Beachtung von Zuständigkeiten bei der Frage nach den richtigen Konzepten gefragt. Unser Ansatz geht grundsätzlich davon aus, dass die Abfederung des Anpassungsdruckes dann am besten gelingt, wenn sich die Verhältnisse beiderseits der jetzt noch bestehenden EUAußengrenze in der Vor-Beitrittsphase auf einem hohen Niveau weitgehend angleichen lassen. Deshalb ist die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, beispielsweise in den Euro-Regionen „Neiße“, „Pro Europa-Viadrina“ und „Egrensis“, von ganz zentraler Bedeutung. Die schon seit Jahren bestehenden Kontakte und Initiativen durch gemeinsame Wirtschaftsfördergesellschaften, Kammerzusammenschlüsse wie die unter dem Namen Elbe-Oder, kommunale Partnerschaften sowie grenzüberschreitende Projekte im kulturellen, sportlichen und sozialen Bereich sind deshalb schon lange praktizierte Grenzgürtelaktionen. Das Rad muss deshalb, glaube ich, nicht noch einmal neu erfunden werden. Dass genau dieser beschriebene Ansatz einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf den skizzierten und anderen Feldern richtig ist und auch gewünscht wird, hat die SPD-Arbeitsgruppe Europa, haben beispielsweise meine Kollegen Gloser und Kaspereit und ich auf Reisen in die Grenzregionen sowohl auf deutscher als auch auf polnischer und tschechischer Seite erlebt. Wir waren dort sehr beeindruckt. Selbstverständlich wissen wir aber ebenso um die Konflikte und offenen Fragen, die zwar von Region zu Region durchaus unterschiedlich krass, aber doch - auch in Unter- und Oberfranken - vorhanden sind. Hierbei handelt es sich beispielsweise um Arbeitsmarktrisiken, insbesondere im Bau- und Transportbereich, die Wettbewerbsfähigkeit der kleinen und mittelständischen Betriebe, des Handwerks und des Dienstleistungsgewerbes, Probleme im Bereich der organisierten Kriminalität und bei der Sicherung der Grenzen und - nicht zu vergessen - Defizite im Bereich der grenzüberschreitenden Infrastruktur. Ich sage es noch einmal: Es gibt bereits eine Vielzahl von Programmen, Projekten und Initiativen, um den Anpassungsdruck abzubauen. Ob sie zum zügigen Abbau der beschriebenen Probleme ausreichen, das scheint für uns die entscheidende Frage zu sein. Selbstverständlich ist dies Gegenstand intensiver Analyse. Dieser widmen sich derzeit die EU-Kommission, die Bundesregierung, aber auch die Bundesländer. Ich verweise auf die Beratung der Europaminister der Länder in Schlangenbad im Mai dieses Jahres. Wichtig ist, dass die Herausforderungen nur gemeinsam in Zusammenarbeit zwischen EU, Bund, Ländern und den betroffenen Regionen gemeistert werden können. Das bedeutet aber auch, dass die vorhandenen Handlungsspielräume auf jeder Ebene bis hin zu den Regionen eigenständig ausgeschöpft werden müssen. Sie können sicher sein: Die Bundesregierung wird die durch den vorliegenden Koalitionsantrag formulierten Hausaufgaben zügig erledigen. Damit werden dann die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die erweiterungsbedingten Anpassungslasten in den Grenzregionen zumindest im Bereich der Zuständigkeit des Bundes weitestgehend abgefedert werden können. Das wird nicht einfach; es wird aber, so denke ich, ohne einen Grenzlandaktionsplan gelingen. Über die konkreten Ansätze wie beispielsweise zur noch besseren Nutzung der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsförderung“, zu Übergangsregelungen im Arbeitsmarkt und im Dienstleistungsbereich, zur Realisierung einer erweiterungskompatiblen Infrastruktur, sowie zu Kriminalitäts- und Sicherheitsfragen hinaus werden wir im Verlauf der weiteren Beratungen in den Ausschüssen - beide Anträge werden ja überwiesen sicherlich noch ausgiebig diskutieren und über die richtigen Lösungen streiten können. Dies alles muss in eine dringend erforderliche und umfassende Informationsund Kommunikationskampagne eingebunden werden; denn es ist richtig, die Bürger in einen sachlichen Dialog über Chancen und Risiken einer Erweiterung umfassend einzubeziehen. Nicht nur dabei sind wir mit dem Beschluss der Bundesländer zur EU-Erweiterung vom 29. Mai dieses Jahres in Schlangenbad durchaus d’accord. Wenn es nun noch gelänge, das Projekt „Strategie zur Flankierung der Erweiterung im Bereich der Grenzregionen“ in dem alten, über Jahre bestehenden europapolitischen Konsens zu vereinbaren, dann, so glaube ich, wäre das ein gutes Omen für den Europäischen Rat in Nizza. Ich denke, wir alle sollten Bundeskanzler Schröder und den anderen Staats- und Regierungschefs die Daumen drücken für einen erfolgreichen Abschluss und damit für die richtigen Voraussetzungen für die Vollendung des Erweiterungsprozesses. ({3}) Ich drücke meine Daumen jedenfalls. Hoffen Sie mit, dass wir ein gutes Ergebnis erreichen, damit wir den Erweiterungsprozess zügig und erfolgreich zu Ende führen können. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Klaus Hofbauer.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Herr Kollege, recht herzlichen Dank für Ihre Rede. Sie haben alle Argumente vorgetragen, die für den Antrag der CDU/CSU-Fraktion sprechen. Ich darf Sie nun bitten, unseren Antrag zu unterstützen. ({0}) Die Osterweiterung muss gelingen. Das Ob der Erweiterung steht außerhalb jeglicher Frage. Bei der jetzigen Diskussion geht es allein um das Wie. ({1}) Sie ist zurzeit und in den nächsten Jahren wohl die wichtigste und zugleich schwierigste Aufgaben der Europäischen Union. Der Bundesrepublik Deutschland kommt dabei eine vorrangige Verantwortung zu, da wir mit den Beitrittsländern Polen und Tschechien eine gemeinsame Grenze haben. Aus vielerlei Gründen muss unser Land Motor und Initiator dieses Themas sein. Es gibt sehr viele Facetten und Mosaiksteine, mit denen wir diese Zusammenarbeit ausbauen müssen. Herr Kollege, ich teile Ihre Auffassung, dass es in den letzten zehn Jahren seit Öffnung der Grenze zwischen Bayern und Tschechien außerordentlich viele gemeinsame Aktivitäten und Aktionen gab, insbesondere im kulturellen, aber auch im menschlichen Bereich. Ich bin der Meinung, dass gerade die Grenzregionen beiderseits dieser Grenze eine Klammerfunktion für die Osterweiterung übernehmen können. ({2}) Aber uns muss bewusst sein, dass einige wesentliche Fragen offen sind und dass wir die Sorgen der Menschen sehr ernst nehmen müssen. Ich habe den Eindruck, dass die Bundesregierung und auch die Koalitionsfraktionen die Sorgen der Menschen beiseite schieben wollen. ({3}) Dies können wir einfach nicht zulassen. ({4}) Es gibt Probleme bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Billiglohnsituation wird auch nach dem Beitritt dieser Länder bestehen bleiben. Es gibt Probleme im Bereich des Mittelstands, des Handwerks, der Landwirtschaft, im Dienstleistungsbereich, im Umweltschutzbereich und auch bei der inneren Sicherheit. ({5}) Gerade diese Fragen spielen im Grenzland eine ganz besondere Rolle. ({6}) Ich möchte nur zwei Beispiele aufzeigen, die uns beschäftigen; das ist einmal die Zusammenarbeit im Mittelstand und zum anderen natürlich auch das Lohngefälle, das unsere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besonders berührt. Ich darf klar und deutlich feststellen, dass der Antrag der CDU/CSU-Fraktion in völliger Übereinstimmung mit der Arbeitsgemeinschaft der Wirtschaftskammern entlang der Grenze zu den mittel- und osteuropäischen Beitrittsstaaten gestellt worden ist. Wir arbeiten hier eng mit der Wirtschaft zusammen. ({7}) Die Wirtschaft fordert dieses Programm. ({8}) Ein weiterer Punkt, meine sehr geehrten Damen und Herren, der für uns entscheidend ist: Vor wenigen Wochen haben die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Berlin, Brandenburg, der Freistaat Sachsen und der Freistaat Bayern dieselbe Forderung gestellt, die wir in unserem Antrag formuliert haben. Warum stimmen Sie dieser länderübergreifenden Initiative nicht zu? Selbst der Kommissar Verheugen hat in den letzten Wochen klar und deutlich diese Forderung aufgestellt. Es fehlen im Grunde genommen nur noch die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen, damit diese Initiative unterstützt und gemeinsam getragen werden kann. ({9}) Die Probleme im Grenzland sind ganz spezifischer Art; deswegen ist diese Aktion in besonderem Maße notwendig. Zusammenfassend lassen Sie mich Folgendes feststellen. Erstens. Wir müssen - das ist die Grundlage unseres Antrags - die Chancen der Osterweiterung verständlicher herausarbeiten und den Menschen konkret vermitteln. Die Menschen nehmen diese Sache noch nicht auf, weil die Informationen über die Chancen durch diese Bundesregierung fehlen. ({10}) Der zweite Punkt richtet sich darauf, die Sorgen der Menschen offen und ohne Vorbehalte aufzunehmen und sie in die politischen Entscheidungsprozesse einzubringen. ({11}) Drittens. Die bereits vorhandenen grenzüberschreitenden Projekte sind zu stärken. Für mich ist ganz entscheidend, dass wir nicht nur auf einen bestimmten Termin des Beitritts hinarbeiten - das ist natürlich ein zentraler Punkt -, sondern jetzt noch mehr die konkrete Zusammenarbeit verstärken und mit den verschiedenen Maßnahmen sofort beginnen. ({12}) Deswegen meine ich: Im Interesse der Menschen in den Grenzgebieten sollten wir dieser Arbeit neuen Schwung geben, ({13}) sollten wir neue Initiativen ergreifen. Deshalb darf ich herzlich darum bitten, unserem Antrag zuzustimmen. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Christian Sterzing für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Beitrittsprozess verlangt ganz erhebliche Anstrengungen, und zwar natürlich ganz besonders von den Beitrittsländern. Wir sollten auch hier darauf hinweisen, dass gerade diese Länder einen ganz schwierigen Transformationsprozess durchlaufen, der ihnen enorme Lasten abverlangt. Die EU unterstützt diesen Veränderungs-, diesen Strukturanpassungsprozess mit erheblichen Mitteln. Wir stellen gemäß der Agenda 2000 jährlich 6 Milliarden DM an Vorbeitrittshilfen bereit; ab 2002 sind dann für die Beitrittsländer jährlich 12,6 Milliarden DM vorgesehen. Deutschland zahlt davon etwa 2 Milliarden DM. Ich glaube, es ist wichtig, deutlich zu machen, dass diese finanzielle Unterstützung für uns kein Opfer bedeutet, sondern historische Pflicht und Investition in die Zukunft zugleich. ({0}) Insofern sollte die erste Botschaft dieser Debatte lauten, dass die finanzielle Unterstützung der Erweiterung eine Investition in die Zukunft in unser aller Interesse ist. Der Erweiterungsprozess führt zu einem gewaltigen Strukturwandel nicht nur in den Beitrittsländern, sondern natürlich auch bei uns. Schon jetzt hat sich der Handel mit den mittel- und osteuropäischen Ländern erheblich gewandelt. Er hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Wir sind für die meisten mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer der wichtigste Handelspartner. Polen und Tschechien wickeln etwa 60 bis 70 Prozent ihres Außenhandels mit den EU-Ländern ab. Der Handel mit den Beitrittsländern hat für uns natürlich keine derart große Bedeutung. Aber immerhin macht dieser Handel mittlerweile mindestens 0,2 bis 0,3 Prozent unseres jährlichen Wirtschaftswachstums aus. Das bedeutet, dass dieser Handel, der seit den Europa-Abkommen erheblich zugenommen hat, schon heute bei uns und gerade auch in den Grenzregionen mindestens 80 000 Arbeitsplätze sichert. Die Tendenz ist sicherlich steigend. Schätzungen besagen, dass nach den Beitritten mittelfristig mit einem zusätzlichen Wachstum von 1 Prozent pro Jahr zu rechnen ist. Wenn wir uns all das anschauen, muss die zweite Botschaft dieser Debatte lauten: Von der Erweiterung profitieren wirtschaftlich gerade wir hier in Deutschland. Wenn wir uns die Zahlen im Einzelnen anschauen, dann stellen wir fest, dass der Erweiterungsprozess schon heute entgegen vielen Vorurteilen und Befürchtungen keinen Verlust an Arbeitsplätzen bedeutet, sondern im Gegenteil Arbeitsplätze bei uns sichert. Insofern bringt die Erweiterung nicht nur mittel- und langfristig, sondern - und dies sollte die dritte Botschaft sein - schon heute erhebliche wirtschaftliche Vorteile. Große Chancen bietet dieser Prozess gerade auch den Grenzregionen. Sie rücken von der bisherigen Randlage, von dem toten Winkel, in dem sich viele dieser Regionen befanden, nun in eine Mittellage. Das eröffnet neue wirtschaftliche, politische und kulturelle Chancen. Wir müssen feststellen, dass viele dieser Grenzregionen gar nicht so schlecht auf diesen Veränderungsprozess vorbereitet sind, der schon lange im Gange ist. In den letzten Jahren haben wir im Zuge der Wiedervereinigung Erhebliches in die Infrastruktur investiert. In vielen Bereichen befinden sich diese Grenzregionen in einer hervorragenden Ausgangssituation, was nicht ausschließt, dass in bestimmten Bereichen noch Lücken zu schließen sind. Dieser Veränderungsprozess ist also längst im Gange. Er wird durch den Beitritt, der in diesem Prozess nur eine Station bedeutet, schlussendlich nur noch forciert, verstärkt, beschleunigt. Wenn wir diese Chancen beschreiben, die der Erweiterungsprozess gerade auch für die Grenzregionen mit sich bringt, dann wollen wir damit nicht darüber hinwegtäuschen, dass es natürlich auch Risiken und Gefahren gibt, dass es in diesem Prozess nicht nur Gewinner geben wird, sondern dass Menschen, die von diesem Strukturwandel in besonderer Weise betroffen sind, unserer Hilfe und unserer Unterstützung bedürfen. Wir müssen hier sehr deutlich sagen, dass wir uns sowohl in den Ländern als auch im Bund dieser Verantwortung stellen. Jede politische Ebene muss hier ihre Verantwortung wahrnehmen. Wir müssen alle drei Ebenen - Länder, Bund und EU - in den Blick nehmen. Die regionale Wirtschafts- und Strukturförderung ist primär eine Aufgabe der Länder. Hier gibt es eine Reihe von Instrumenten, die, in der Vergangenheit erprobt, sicherlich auch in der Zukunft - vielleicht zielgenauer - eingesetzt werden können. Es gibt vonseiten des Bundes die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Auch hier, glaube ich, verfügen wir über ein Instrumentarium, mit dem wir uns seit Jahren um die regionale Struktur- und Wirtschaftsförderung kümmern und Anpassungsprozesse gestalten. Auch dieses Instrument müssen wir in besonderer Weise auf die Bedürfnisse der Regionen zuschneiden. Aber natürlich ist auch die EU gefragt. Es wurde heute schon erwähnt: Kommissar Verheugen hat ja gesagt, dass ein Aktionsprogramm in Arbeit ist. Insofern wird es in Zukunft darauf ankommen, dass gerade diese drei Ebenen zusammenarbeiten bzw. ein kohärentes Konzept erarbeiten, um den regionalen Strukturwandel gezielt zu unterstützen. ({1}) Wir glauben, dass es besonderer Hilfen, und zwar im Bereich der Arbeitsmarktpolitik, der Unterstützung von kleinen und mittleren Unternehmen, und eines gezielten Aufbaus der Infrastruktur bedarf. ({2}) Ein ganz besonderes Augenmerk muss politisch, wirtschaftlich, aber auch kulturell auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit gelegt werden. Ziel sollte auf jeden Fall sein, nicht alte Strukturen mühsam und mit viel Geld aufrechtzuerhalten, sondern den notwendigen Strukturwandel durch die Unterstützung von innovativen und zukunftsträchtigen Projekten zu flankieren.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Sterzing, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Christian Sterzing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002810, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die letzte Botschaft zum Schluss meiner Rede lautet: Wir werden die Menschen bei diesem durch die Erweiterung forcierten Strukturanpassungsprozess nicht alleine lassen. ({0}) Wir werden alles Notwendige tun, um im Zusammenwirken aller drei Ebenen, des Bundes, der Länder und der EU, die Chancen, die mit der Erweiterung verbunden sind, tatsächlich zu realisieren und die Risiken zu minimieren. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher für die F.D.P.-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ob die Osterweiterung gelingen kann, hängt zuallererst von den Ergebnissen der Konferenz in Nizza ab. Ich mache keinen Hehl daraus: Wir schauen mit großer Sorge nach Nizza. Ich habe die Angst, dass es dort zu einem Kompromiss auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner kommen wird, was der Osterweiterung erheblich schaden würde und was das Zustandekommen bzw. den Erfolg dieser Erweiterung gefährden würde. ({0}) Ich glaube, wir alle in diesem Hause sind uns einig, dass die Osterweiterung die Chance ist. Elf Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung geht es jetzt um die Wiedervereinigung Europas. Es ist wohl breiter Konsens, dass an diesem Ziel überhaupt kein Zweifel bestehen kann. ({1}) Mit großer Sorge erfüllt uns aber auch, dass die Zustimmung in der Bevölkerung ganz offensichtlich abnimmt. Zahlen sagen uns, dass im Augenblick noch ein Drittel der deutschen Bevölkerung die Osterweiterung bejaht. Deshalb gilt es, auch in der politischen Auseinandersetzung die Akzente etwas anders zu setzen. Wir gehen auch hier viel zu sehr auf die Risiken ein und betonen viel zu wenig die im politischen, aber auch im wirtschaftlichen Bereich bestehenden Chancen. ({2}) Ich denke, das müssen wir alle und auch die EU-Kommission ändern. Ich warte darauf, dass Kommissar Verheugen jetzt wirklich seine Informationskampagne startet, die er vor über einem Jahr im Europaausschuss angekündigt hat. Ich warte auch auf verstärkte Initiativen der Bundesregierung hinsichtlich weiterer Informationen. ({3}) Wir dürfen nicht den Fehler wiederholen, den wir beim Euro gemacht haben, nämlich dass wir die Bevölkerung nicht ausreichend in diesen Prozess miteinbinden. ({4}) - Wir alle haben diesen Fehler gemacht und ein Stück weit die Situation unterschätzt. Wir alle müssen jetzt miteinander daran arbeiten, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Wir müssen die Bevölkerung auf diesem Weg mitnehmen. ({5}) Es ist also dringend erforderlich, eine breite Debatte und Informationskampagne zu führen und die Menschen von den Vorteilen dieser Erweiterung zu überzeugen. Gerade die Grenzregionen profitieren ganz besonders von dieser europäischen Erweiterung. Allerdings - auch das müssen wir deutlich sagen -, werden auf die Menschen dort in der Übergangszeit erhebliche Probleme zukommen, gerade in den Grenzregionen. Ich denke in diesem Zusammenhang vor allem an die mittelständische Wirtschaft und an die Handwerksbetriebe. Diese werden einem verstärkten Konkurrenzdruck ausgesetzt sein. Deshalb müssen wir den betroffenen Unternehmen in diesem Wettbewerb, den wir grundsätzlich für gut halten, auch helfen. Dies hat die F.D.P. immer gefordert. ({6}) Es gibt übrigens Erfahrungen aus der Zeit des Beitritts von Spanien und Portugal. Damals gab es das Integrierte Mittelmeerprogramm, von dem auch Frankreich, Italien und Griechenland profitiert haben. Genau so etwas müssen wir jetzt wiederholen. ({7}) Ich denke daran, dass die PHARE- und Interreg-Programme von beiden Seiten der Grenze aufeinander abgestimmt werden, sodass wir auch in diesem Bereich entsprechende Erfolge erzielen können. Wir brauchen insofern eine sehr enge Zusammenarbeit von Bundesregierung und Landesregierungen; anders wird das nicht zu schultern sein. ({8}) Lassen Sie mich aus liberaler Sicht noch eines hinzufügen. Es ist wichtig, dass sich die Betroffenen in diesen Gebieten selbst vorbereiten. Daher ist die Initiative der Wirtschaftskammern entlang der Grenze vorbildlich. Die neu gegründete Kammerunion Elbe/Oder, in der sich 30 Industrie- und Handelskammern aus Deutschland, Polen und der Tschechischen Republik zusammengeschlossen haben, um den Erweiterungsprozess gemeinsam vorzubereiten und zu begleiten, wurde schon genannt. Meine Damen und Herren, wir alle müssen gemeinsam handeln, weil wir auch gemeinsam von dieser Erweiterung profitieren werden. Der Leitsatz für diese ganze Diskussion muss sein: Nicht Abschottung oder Lamentieren ist die Parole, sondern konkretes Handeln im Sinne einer Vorwärtsstrategie. Ich danke Ihnen. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Uwe Hiksch für die PDS-Fraktion.

Uwe Hiksch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002677, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade die heutigen EU-Außengrenzen sind häufig strukturschwache Regionen. In Ostdeutschland wurde durch die falsche Wirtschafts- und Strukturpolitik der alten Bundesregierung faktisch die gesamte Region entindustrialisiert. In Westdeutschland ist im Bereich der EU-Außengrenzen feststellbar, dass durch die spezifischen Möglichkeiten der Förderpolitik vor allen Dingen verlängerte Werkbänke und arbeitsintensive industrielle Fördermöglichkeiten favorisiert wurden. Kritische Ökonomen wie zum Beispiel die MemorandumGruppe haben seit vielen Jahren in ihren alternativen Wirtschaftsgutachten darauf hingewiesen, dass die bestehenden Förderinstrumente mit dem so genannten ExportBasis-Konzept und der reinen Verlagerung von arbeitsintensiven, einfachen und lohnintensiven Teilen der Produktion keine wirkliche Weiterentwicklung dieser strukturschwachen Region ermöglicht haben. ({0}) Durch die vielfach vorhandenen alten Industriebereiche - in Nord- und Ostbayern zum Beispiel die Möbelindustrie, die Porzellanindustrie, die Textilindustrie und die feinkeramische Industrie - und das darüber hinaus vorhandene verarbeitende Gewerbe sowie durch den Strukturwandel aufgrund der Öffnung der Grenzen wurden Arbeitsplatzverlagerungen und Arbeitsplatzabbau noch mehr als bisher gefördert. Die Osterweiterung der Europäischen Union bietet für die Menschen und die Regionen in den heutigen EUGrenzregionen durchaus große Chancen. Trotzdem empfinden viele Menschen gerade auch in den Grenzregionen Skepsis und Angst. Die PDS-Bundestagsfraktion tritt deshalb dafür ein, dass die die bayerischen und ostdeutschen Grenzregionen betreffenden Fragen in einem interregionalen und gesamteuropäischen Zusammenhang diskutiert werden. Wir halten es für problematisch, dass in dem CDU/CSU-Antrag die Frage nach den Bedürfnissen der europäischen Grenzregionen mit der Forderung nach einem rein deutschen Sonderprogramm verbunden wird. Denn wir sind der Überzeugung, dass in europäischen Verhandlungsrunden ein rein deutsches Programm, das nur für deutsche Grenzregionen ausgelegt sein soll, sicher nicht durchgesetzt werden kann. Deshalb treten wir dafür ein, dass alle Grenzregionen, die an mittel- und osteuropäischen Staaten liegen, gemeinsam in ein solches Aktionsprogramm eingeführt werden, wie das Günter Verheugen richtigerweise gefordert hat. ({1}) Wir sind der Überzeugung, dass mit einem solchen gesamteuropäischen Ansatz die Entwicklungschance nutzt werden sollen und nicht nur ein Förderprogramm geschaffen werden darf. Dieses darf nicht nur auf der deutschen oder der österreichischen Seite angelegt werden. Vielmehr benötigen wir eine Regionalpolitik, die eine vorwärtsstrebende Infrastruktur und Weiterentwicklungen ermöglichen soll. Das muss ein Aktionsprogramm sein, wie es die Industrie- und Handelskammern von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern, aber auch die Landesminister von Mecklenburg-Vorpommern bis Bayern gefordert haben. Es muss eine Strukturpolitik sein, die die interregionale Zusammenarbeit zwischen den deutschen oder österreichischen Grenzregionen auf der einen Seite und den slowakischen, tschechischen oder polnischen Grenzregionen auf der andere Seite fördert, wie beispielsweise die Zusammenarbeit von kleinen und mittelständischen Unternehmen auf beiden Seiten der Grenze fördert und die sich dafür einsetzt, dass die Zusammenarbeit innerhalb der Grenzregionen neben der wirtschaftlichen Frage auch die kulturellen, die sportlichen, die grenzüberschreitenden zivilgesellschaftlichen und auch die bildungspolitischen Ansätze erfassen muss. ({2}) In diesem Sinne sind wir der Überzeugung, dass der Antrag der CDU/CSU viel zu kurz greift, dass er ein rein populistischer Ansatz ist, mit dem versucht wird, billig Politik zu machen. Was Kommissar Günther Verheugen vorgeschlagen hat, nämlich gemeinsam für die Grenzregionen auf beiden Seiten der Grenzregionen zu arbeiten und das europaweit umzusetzen, ist sicher der bessere Ansatz, den wir, die PDS, unterstützten werden. Danke schön. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Arnold Vaatz für die CDU/CSU-Fraktion.

Arnold Vaatz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003248, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Laufe des Tages hieß es mehrfach, dass dieser Tagesordnungspunkt abgesetzt werden soll. Dann gab es mehrere Umfragen, ob die Reden nicht zu Protokoll gegeben werden sollten. Da hat mich ein bisschen der Verdacht beschlichen, dass dieses Gespräch dem einen oder anderen Kollegen heute vielleicht nicht so angenehm wäre. ({0}) Damit hat er eingestanden, dass er eigentlich hinter unserem Antrag steht. Prima! ({1}) Meine Damen und Herren! Wir gebrauchen oft den Begriff der EU-Osterweiterung. Ich muss sagen: Je häufiger ich den Begriff höre, umso weniger gern verwende ich ihn, und zwar aus dem einfachen Grund: Das scheint mir alles etwas zu eurozentristisch zu sein. Der Begriff wirkt etwas imperial. ({2}) Es handelt sich bei der EU-Osterweiterung nämlich um nichts anderes als um die Vereinigung von Europa. Was sich dahinter verbirgt, werden die Menschen, die in den Grenzgebieten wohnen, zuallererst spüren, ({3}) lange bevor man das in Brüssel oder anderswo feststellt. Demzufolge gehört ein solcher Antrag ins Zentrum der parlamentarischen Debatte und nicht an den äußersten Rand. ({4}) Gerade weil es hierbei um die Vereinigung Europas geht, kann diese Angelegenheit sehr schnell misslingen. Wenn man heute nach Nizza schaut, von wo berichtet wurde, dass die Repräsentanten der Beitrittskandidaten sehr frustriert abgefahren seien, schwant einem schon, dass die Vereinigung misslingen kann. Unser Antrag ist genau darauf gerichtet, unseren eigenen Anteil beizutragen, damit dieser Prozess eben nicht misslingt. ({5}) Dazu gehört, dass wir nicht nur die großen Themen anpacken, sondern auch die lokale und die regionale Seite dieses Prozesses ganz präzise vorbereiten. Wir werden nämlich nur dann Erfolg haben, wenn auch die Menschen in den schwächsten Regionen mit den kompliziertesten Bedingungen unseres Landes, nämlich in den Grenzregionen, die europäische Vereinigung wirklich wollen. Nur dann werden wir Erfolg haben. ({6}) Nun sage ich Ihnen einmal etwas über diese Grenzregionen: Als Beispiel nenne ich die Stadt Görlitz, eine wunderschöne Stadt, eine Perle für meine Begriffe, zum Weltkulturerbe zählend. Sie hatte 1990 76 000 Einwohner. Jetzt hat sie noch 62 000. Das ist ein Bevölkerungsschwund von 17 Prozent in zehn Jahren. ({7}) Sebnitz, dieser kleine Ort an der tschechischen Grenze, der vor einigen Tagen grundlos und mit hysterischem Eifer von der Presse als vermeintlich brauner Popanz aufgebaut wurde, ({8}) der journalistisch quasi fast eingeäschert und nebenbei wirtschaftlich fertig gemacht wurde, hat ungefähr 13 Prozent seiner Einwohner verloren. ({9}) - Das ist ein Ort in der Grenzregion; das ist das Thema, Herr Kollege. Die Frage ist: Wie wollen wir es stoppen, dass die Menschen, dass die Fachkräfte, gerade diejenigen, die sich im Leben etwas zutrauen von dort wegziehen? ({10}) - Herr Kollege Fornahl, Sie haben richtig darauf hingewiesen: Die EU-Erweiterung findet in Ostdeutschland große Zustimmung. Wir wollen aber auch, dass sie so groß bleibt, wie sie ist. ({11}) Wenn Sie weiterhin die Interessen der Grenzregionen an den Rand Ihrer politischen Beschäftigung rücken, ({12}) dann wird diese Bereitschaft möglicherweise schwinden. Genau das wollen wir verhindern. ({13}) Ich finde es auch gut, dass Herr Kollege Burgbacher darauf hingewiesen hat, dass wir das Rad nicht neu erfinden müssen. Wir haben das Integrierte Mittelmeerprogramm; dieses müsste lediglich auf den gegenwärtig zur Debatte stehenden Tatbestand übertragen werden. Nur dazu bräuchten Sie Ja zu sagen. Dann wären wir schon einen großen Schritt weiter. ({14}) Aber das, was wir im Augenblick von Ihnen hören, ist leider sehr wenig konkret. Das trifft auch auf Ihren Antrag zu - wir haben ihn uns ganz sorgfältig durchgelesen. Wir hätten zugestimmt, wenn er nicht ein zahnloser Antrag wäre, wenn er nicht überhaupt nichts Konkretes enthielte. Das ist aber leider der Fall. ({15}) Wir haben ganz konkret vorgeschlagen, uns an das Mittelmeerprogramm anzulehnen. Sie bräuchten nur zuzustimmen; dann wäre die Sache erledigt. Lassen Sie mich zuletzt noch eines bemerken: Wir müssen auch wissen, dass das Ganze sehr viel kosten wird. Das bedeutet aber auch, dass wir uns von vornherein darüber klar sein müssen, dass diese Aktivitäten für das Randprogramm natürlich nicht zulasten der Zuwendungen gehen dürfen, die für die neuen Bundesländer dringend erforderlich sind, solange sie noch Ziel-1-Gebiete sind; und auch darüber hinaus. ({16}) Ich bin sehr gespannt, wie Ihre Lösung aussehen wird. Vielen Dank. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4643 und 14/4886 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Tourismus ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, Hannelore Rönsch ({1}), Ernst Hinsken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sicherung der Volksfeste und des Schaustellergewerbes in der Bundesrepublik Deutschland - zu dem Antrag der Abgeordneten Brunhilde Irber, Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Sylvia Voß, Matthias Berninger, Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Hildebrecht Braun ({2}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. sowie der Abgeordneten Rosel Neuhäuser, Dr. Heinrich Fink, Rolf Kutzmutz, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Sicherung der Volksfeste, des Markthandels und des Schaustellergewerbes - Drucksachen 14/1312, 14/3786, 14/4836 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brähmig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich begrüße im Namen aller Kolleginnen und Kollegen recht herzlich auf der Besuchertribüne die Präsidenten und Vizepräsidenten der Schaustellerverbände der Bundesrepublik. ({3}) Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, Siegmar Mosdorf, das Wort.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit einer wichtigen Branche, die im Wesentlichen davon lebt, dass sie einfallsreich ist, dass sie kreativ ist und dass sie auf vielfältige Weise die Bürger anspricht, und zwar so anspricht, dass sie sich auch zu Hause fühlen: 5 000 Betriebe mit in der Spitze 40 000 Beschäftigten, die zusammen einen Umsatz von rund 1,5 Milliarden DM pro Jahr generieren; rund 10 000 Veranstaltungen im Jahr, die etwa 200 Millionen Menschen erreichen: Das sind eindrucksvolle Zahlen, die zeigen, dass es sich hier um eine wichtige Branche handelt, die unser Dankeschön verdient. ({0}) Frau Präsidentin, wenn Sie mir das gestatten, möchte ich die Herren - leider sind es nur heute Herren - auch persönlich begrüßen: den Ehrenpräsidenten und Konsul, Herrn Wollenschläger, ({1}) den Präsidenten Herrn Krameyer, ({2}) den Vizepräsidenten Herrn Ritter, ({3}) den Vizepräsidenten Herrn Arenz ({4}) und die ganze Mannschaft, die dabei ist. ({5}) Wir freuen uns sehr, dass Sie hier sind. Sie bringen damit, dass Sie zu dieser fortgeschrittenen Stunde hier sind, auch zum Ausdruck, wie ernst Sie dieses Thema nehmen. ({6}) - Das hat keiner geglaubt! Der Ausschuss für Tourismus - ich möchte das ausdrücklich interfraktionell sagen - hat sich sehr ernsthaft mit diesen Fragen und auch damit beschäftigt, wie wir - und zwar im ganz konkreten Fall - helfen können. Sie wissen, dass die Kommunen selber auch Verantwortung tragen. Es gibt auch da Zuständigkeiten, in die wir uns nicht einmischen können. Aber da, wo wir selber Verantwortung tragen, haben wir durchaus die Absicht, den Menschen, die in der Branche arbeiten, aber auch den Menschen ganz konkret zu helfen, denen man mit den Festen Freude macht, die man verwurzelt, denen man damit auch ein Stück Heimatgefühl gibt. Deshalb freue ich mich, Ihnen heute neun Punkte nennen zu können, an denen wir in den letzten zwölf Monaten gearbeitet haben und die zu Ergebnissen geführt haben, die uns zufrieden stellen: Erstens. Die vermehrte Nutzung einer Dauererlaubnis für die gastronomischen Angebote der Schausteller nach § 2 des Gaststättengesetzes ist von unserem Haus mit den Ländern abgestimmt worden. Die entsprechende Änderung in der Musterverwaltungsvorschrift ist verabschiedet und in Kraft. Damit können Gebühren für die ansonsten bei jedem Fest notwendige Gestattung eingespart werden. Ich finde, das ist ein wichtiges Ergebnis. ({7}) Zweitens. Die finanzielle Unterstützung der Deutschen Zentrale für Tourismus wird im nächsten Jahr vom Umfang her nicht nur beibehalten, sondern sogar um 2,4 Millionen DM erhöht. ({8}) Bei den Marketingaktivitäten der DZT wird auf die Volksfeste als besondere Attraktion verwiesen. Paradebeispiele hierfür sind natürlich das Oktoberfest, der Cannstatter Wasen, die Weihnachtsmärkte und viele andere Feste mehr, die wir aus unseren Gemeinden und Städten kennen. Drittens. Die Bearbeitungszeit für Anträge auf die Vermittlung von ausländischen Aushilfskräften wird verkürzt. Im November wurde die entsprechende Änderung der Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz in Kraft gesetzt. Auch das ist für sie eine wichtige Unterstützung. ({9}) Viertens. Die Bundesregierung plant nicht, an dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz für Lebensmittel und für schaustellerische Dienstleistungen etwas zu ändern. Die diesbezügliche Sorge der Schausteller ist damit ausgeräumt. Sie können davon ausgehen, dass sich daran nichts ändert. ({10}) Fünftens. Die Vorführfristen von Fahrzeugen beim TÜV - für die Schausteller ein ganz besonderes Problem - haben wir bereits zum 1. Dezember letzten Jahres flexibilisiert. Damit lassen sich die TÜV-Termine besser auf die Schaustellersaison abstimmen und es gibt weniger Bürokratie. Auch das ist ein wichtiger Fortschritt. ({11}) Sechstens. Hinsichtlich der Erleichterung für die Erteilung von Führerscheinen werden wir uns an die jetzt für die Thematik federführende Brüsseler Administration wenden und bitten, bei der nächsten Novellierung der Führerscheinrichtlinie Ausnahmen für den Betrieb langsamer Fahrzeuge aufzunehmen. Dies hätte dann auch Auswirkungen auf das Schaustellergewerbe. Wir wissen, dass gerade das für sie ein großes Problem ist. Deshalb werden wir darüber mit Brüssel reden. ({12}) Siebtens. Die Befreiung von den Fahrverboten an Sonn- und Feiertagen gehört an sich nicht in die Zuständigkeit des Bundes. Wir haben uns aber bei den Ländern dafür eingesetzt und sie haben uns zugesichert, dass sie bei Ausnahmegenehmigungen großzügig verfahren werden. Auch in den Fällen, in denen der Schausteller aufgrund unvorhersehbarer Verzögerungen an einem Sonntag fahren muss, wollen die Länder nicht unbedingt auf einem Bußgeld bestehen, sondern eine Ausnahmegenehmigung erteilen. Auch das ist eine wichtige Hilfe. ({13}) Achtens. Der Bildungsbereich ist ein sensibles Feld. Jeder, der sich ein bisschen auskennt, weiß, dass Schauspieler, nein, Schausteller - ({14}) - Ja, aber das ist gar nicht so weit weg. Beide leben von ihrem Brain, von ihrem Know-how, von ihrem Wissen, von ihren Talenten. ({15}) Die Schausteller sind viel unterwegs, deshalb geht es auch die Familien etwas an. ({16}) - Sie müssen mal hingehen, dann wissen Sie das auch. Weil hier Probleme auch für die Familien und für die Kinder bestehen, haben wir uns im Bildungsbereich besonders engagiert. ({17}) Wir haben uns für Maßnahmen eingesetzt, die den spezifischen Schwierigkeiten der mitreisenden Schaustellerkinder Rechnung tragen werden. Dazu gehören das Schulbegleittagebuch, um eine kontinuierliche und bessere Unterrichtung der Kinder an unterschiedlichen Schulen zu gewährleisten, sowie Sonderlehrgänge und Blockunterricht in den Wintermonaten beim Berufsschulunterricht. Wir begrüßen auch die Empfehlung der Kultusministerkonferenz, dass bundesweit einheitlich 10 DM pro Kind und pro Tag für die Heimunterbringung von Schaustellerkindern gezahlt werden soll. Das sind ganz konkrete Erleichterungen, die ihnen auch helfen. ({18}) Neuntens und letztens. Wir setzen uns in Gesprächen mit der BAM und den Schaustellerverbänden dafür ein, dass Feuerwerke auf Volksfesten gezündet werden können und trotzdem der Schutz für die entsprechenden Besucher gewährleistet ist. Wir wollen, dass die Genehmigungen leichter erteilt werden können, aber legen natürlich auch auf die Sicherheit Wert; das ist genau aufeinander abgestimmt. Die Schausteller sind verantwortungsvolle Leute und sie nehmen dieses verantwortungsvolle Gewerbe auch ernst. Ich glaube, insgesamt gesehen haben wir in diesen zwölf Monaten wichtige Entscheidungen vorangebracht. Ich bin sicher, dass die Schausteller das nicht nur anerkennen, sondern uns diese wichtigen Leistungen auch ein Stück weit zurückgeben, indem sie Identität stiften und uns ein Heimatgefühl vermitteln. Die Volksfeste gehören gleichsam zum historischen Kulturgut, auf das wir in Deutschland stolz sein können.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Staatssekretär, ich habe jetzt ein Problem. Sie sprechen eigentlich schon länger, als Ihre Redezeit erlaubt, aber es gibt noch eine Frage des Kollegen Hinsken. Wenn es eine kurze ist, dann lasse ich sie zu.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Aber gerne, Ernst Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin, es ist eine ganz kurze Frage. Ich möchte Herrn Staatssekretär Mosdorf nur fragen, ob er bereit ist, der Vollständigkeit halber noch darauf zu verweisen, dass seine neun Punkte sämtlich auf Anträge der Opposition, insbesondere der CDU-Fraktion, zurückgehen. ({0})

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Unser Haus ist ja auch für das Urheberrecht zuständig, deshalb ist das eine berechtigte Frage. Frau Präsidentin, ich wollte gerade zum Schluss den Vorsitzenden des Tourismusausschusses noch einmal besonders würdigen; denn Ernst Hinsken gehört nun wirklich zu denjenigen, die die Schausteller und die Feste oft besuchen. ({0}) Wenn er dann noch seine Backwaren mitbringt, dann ist er unschlagbar. Ich will also ausdrücklich sagen: Es war ein interfraktioneller Antrag, an dem sich alle beteiligt haben und bei dem alle engagiert waren. Das gilt für die SPD, für die CDU, für die F.D.P., für die Grünen und auch für die PDS: An diesem Diskussionsprozess haben sich alle beteiligt. Ich glaube, wir können alle stolz darauf sein, lieber Ernst, dass wir einen Schritt vorangekommen sind. Vielen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Thomas Dörflinger von der CDU/CSU. ({0})

Thomas Dörflinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003069, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Vertreter des Schaustellerverbandes! Dank der Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ({0}) darauf sei hingewiesen - von daher, Herr Staatssekretär, bin ich Ihnen für Ihre Schlussbemerkung dankbar -, debattieren wir heute über die Zukunft eines Zweiges des Tourismusgewerbes, der bislang weitgehend im Schatten der Politik und der öffentlichen Diskussion stand. ({1}) - Ich darf Sie einmal daran erinnern, dass Sie seit zwei Jahren regieren; für den Fall, dass das in Vergessenheit geraten sein sollte. ({2}) Bei jährlich 200 Millionen Besuchern der Volksfeste ist es nicht nur die Pflicht der Politiker, sich in die 200 Millionen Besucher einzureihen, sondern sich auch selbst als Gestalterinnen und Gestalter zu verstehen. Dabei sei allerdings angemerkt: Es ist schon bedauerlich, dass zwischen der Einbringung des Antrags der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und der Behandlung des interfraktionellen Antrags ein ganzes Jahr verstrichen ist, ({3}) in dem man, durchaus auch im Sinne der Branche, etwas hätte bewegen können. Die Verzögerung ist bedauerlich. Aber, Herr Staatssekretär - da Sie uns gelobt haben, komme ich nicht darum herum, Sie auch zu loben -, ich muss sagen: Sie sind die Sache gar nicht unclever angegangen; Sie haben nämlich die Verzögerung genutzt, einige unserer Forderungen aufzunehmen und abzuarbeiten. Das will ich durchaus anerkennen und auch begrüßen. Allerdings - das füge ich wieder als Einschränkung hinzu - ist das kein Fingerzeig auf einen durchgängigen Lern- und Erkenntnisprozess der Bundesregierung. ({4}) Ich möchte zwei Punkte herausgreifen, die auch Sie genannt haben: zum einen die Ausnahmegenehmigungen, die seit Dezember 1999 Verlängerungen der Vorführfrist von Fahrzeugen beim TÜV von sechs auf acht Monate ermöglichen, und zum anderen die Einigung der Kultusministerkonferenz, für Schaustellerjugendliche in den Berufsschulen in den Wintermonaten Blockunterricht vorzusehen. Beides sind Entscheidungen, die der Branche durchaus entgegenkommen. Natürlich besteht auch weiterhin Handlungsbedarf; Sie haben es eben bereits angedeutet. Beispielsweise sollten wir die Kommunen auffordern, die Arbeit der Branche nicht durch Bagatellsteuern zu erschweren, was nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine bürokratische Dimension hat. Auch dürfen Transporte von und zu Volksfesten nicht durch unnötige Auflagen erschwert werden. Zum Thema Verkehr füge ich hinzu: Wir sollten uns keinen Illusionen hinsichtlich der Funktion der Schiene für das Gewerbe hingeben. ({5}) Wenn Schausteller und Geräte vom „Dom“ in Hamburg zu den Wasen in Stuttgart transportiert werden sollen, hat die Schiene womöglich eine Funktion. Aber wenn der Transport vom Fridolinsfest in Bad Säckingen über den Schwyzertag in Tiengen zur Waldshuter Chilbi - das ist in meinem Wahlkreis - führt, dann wird die Schiene auch bei noch so guter Infrastrukturausstattung keine Funktion haben; man wird weiterhin auf die Straße angewiesen sein. ({6}) Interessanterweise wurde im interfraktionellen Antrag allerdings die Forderung an das Bundeswirtschaftsministerium weggelassen, auf die Länder und Regionen einzuwirken, koordinierte Konzepte zu entwickeln, die die Volksfeste als Destination integrieren. Das wäre beispielsweise eine Aufgabe, die dem Tourismusbeirat der Bundesregierung zukommt, der ansonsten weitgehend eine Feiertagsveranstaltung zu werden droht. Auf diesem Feld könnte sich der Tourismusbeirat durchaus aktiv zeigen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir - ebenfalls auf unsere Initiative hin - das Jahr 2001 zum Jahr des Tourismus in Deutschland erklärt haben. ({7}) Meine Damen und Herren, wenn wir Anträge formulieren, die beispielsweise an Länder und Kommunen adressiert sind, dann müssen wir uns als Bundesgesetzgeber natürlich auch an die eigene Nase fassen und darüber nachdenken, was wir denn tun könnten. In diesem Zusammenhang muss ich schon einmal daran erinnern, dass auch im Interesse des Schaustellergewerbes über die Neuregelung der 630-Mark-Jobs, ({8}) über die Neuregelung der so genannten Scheinselbstständigkeit und insbesondere über das Thema Ökosteuer geredet werden sollte. Wenn Sie diese drei Punkte, Herr Staatssekretär, zukünftig auch noch umsetzten, dann hätten wir neben den traditionellen Volksfesten und dem bevorstehenden Weihnachtsfest einen weiteren Grund zum Feiern. Dann wäre nämlich nach zwei Jahren endlich einmal in der Politik in Deutschland etwas Vernünftiges passiert. Herzlichen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Voß für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Sylvia Voß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003252, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu dieser Zeit finden wir allerorts sehr heimelige Weihnachtsmärkte. Jährlich gehört es für mehr als 200 Millionen Besucher in ihrer Freizeit dazu, sich auf einem der über 10 000 Volks- und Schützenfeste in Deutschland zu vergnügen. Im Schaustellergewerbe sorgen immerhin 34 000 Menschen dafür, dass die Achterbahnen sicher stehen, die Gewinnlose gut gemischt sind ({0}) und die kandierten Äpfel nicht ausgehen. Die Zahlen belegen, dass im traditionellen Bereich der Freizeit- und Tourismuswirtschaft zweifellos etwas ganz Außergewöhnliches gelingt, nämlich Gäste aller Altersklassen und sozialen Schichten für Besuche auf den Jahrmärkten, Kirmessen, Wochen- und Weihnachtsmärkten zu begeistern. ({1}) Unterschiedlich ist nur die Art, wie die Gäste es bevorzugen, sich zu amüsieren. Selbst für diejenigen, die eine Fahrt mit der Achterbahn oder dem Riesenrad scheuen, weil sie nach dem Genuss einer köstlichen Zuckerwatte die Loopings oder die Höhe nicht vertragen, besteht nicht die Gefahr, dass Langeweile aufkommt. Unzählige Schau-, Belustigungs-, Verkaufs- und Schießgeschäfte bieten den Besuchern eine ungeheure Abwechslung und locken sie auf die Volksfeste. ({2}) - Hören Sie mir doch erst einmal zu. Volksfeste gehören seit jeher zum Kulturgut in Deutschland. Unser Wille ist es, dass sie auch in Zukunft lebendig bleiben. Volksfeste unterstützen die Attraktivität des Tourismusstandortes Deutschland. Es ist auch den Volksfesten und Jahrmärkten zu verdanken, dass der Städtetourismus Zuwachsraten verzeichnet. ({3}) Wir werden der kulturellen Tradition und dem Brauchtum, das den Festen zugrunde liegt, die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdient haben. Von der alten Bundesregierung konnte man das leider nicht behaupten. ({4}) In den Jahren, in denen die CDU/CSU der Regierung angehörte, erschien Ihnen die Sicherung der Volksfeste und des Berufsstandes der Schausteller offensichtlich nicht wichtig genug, um sich diesem Problem wirklich ernsthaft zu widmen. Erst in der Rolle der Opposition besinnt man sich eines Besseren. ({5}) Das ist gut, immerhin. Der erfreuliche Gedanke liegt nahe, dass man nunmehr eigene Versäumnisse wiedergutmachen möchte. Wie aber ist es dann zu bewerten, dass es für die CDU/CSU so schwer ist? In der Beschlussempfehlung des Ausschusses heißt es: Der CDU/CSU-Fraktion sei es allerdings aus grundsätzlichen innerfraktionellen Erwägungen nicht möglich gewesen, diesen interfraktionellen Antrag mitzutragen. An diesem Punkt drängt sich doch der Gedanke auf, dass in der CDU/CSU-Fraktion, jenseits der Arbeitsgruppe Tourismus, immer noch ein Desinteresse an der Zukunft der Volksfeste überwiegt - wie schon in den langen, langen Jahren davor. ({6}) Im Gegensatz dazu aber weiß die jetzige Bundesregierung sowohl die Bedeutung als auch die angenehme und heitere Atmosphäre von Volksfesten und Jahrmärkten sehr wohl zu schätzen. ({7}) Es wurden bereits zahlreiche Maßnahmen in die Wege geleitet, die die Situation dieser Branche verbessern und somit zum Erhalt des volkstümlichen Brauchtums beitragen. Es freut mich, Ihnen in Erinnerung rufen zu können, dass für die ganz jungen Familienmitglieder der Schausteller bereits einige Steine aus dem Weg geräumt werden konnten. Um die berufliche Förderung für die Kinder der auf Jahrmärkten beschäftigten Eltern zu verbessern, wird es dank eines Schulbegleittagebuchs Lehrern der unterschiedlichen Schulen künftig möglich sein, im Unterricht besser auf diese Kinder einzugehen. ({8}) Bedacht haben wir auch die Jahre nach der Schulzeit. Trotz der Tatsache, das viele Jugendliche als feste Arbeitskräfte in den familiengeführten Betrieben unentbehrlich sind, sollen diese Jugendlichen keineswegs auf eine Ausbildung verzichten müssen. In den Wintermonaten können sie auf Sonderlehrgängen und im Block unterrichtet werden. Wir haben, wie Herr Mosdorf schon ausführte, in den letzten Monaten noch eine ganze Reihe mehr geleistet. Es ist ein ermutigendes Zeichen für die Branche, aber auch für die parlamentarische Arbeit, dass der vorliegende Antrag gemeinsam von den Koalitionsfraktionen und den Fraktionen von F.D.P. und PDS getragen wird. Das zeugt von der Fähigkeit der beteiligen Fraktionen, im Interesse von Problemlösungen konstruktiv zusammenzuarbeiten. ({9}) Die prinzipiellen politischen Differenzen werden dabei allerdings nicht vergessen. Ich erinnere an die Haltung zur Ökosteuer. Ich will darauf hier nicht mehr eingehen; das haben wir an anderer Stelle ausführlich diskutiert. Den hier anwesenden Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion, die entgegen ihrer Überzeugung dem vorliegenden Antrag nicht zustimmen wollen oder dürfen, empfehle ich, statt Adventskalender gegen die Ökosteuer zu basteln, die besinnliche Weihnachtszeit dazu zu nutzen, sich auf einem der derzeit zahlreich stattfindenden Weihnachtsmärkte zu amüsieren, auf dass Ihnen dort endlich ein Ökolichtlein aufgehe. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Ernst Burgbacher von der F.D.P.-Fraktion.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich freue mich, heute zu diesem Thema reden zu dürfen, da ich ein leidenschaftlicher Besucher von Volksfesten bin. ({0}) Wenn man persönlich hinter einem Thema steht, lässt sich leichter darüber reden. Dieser Branche, klein- und mittelständisch geprägt und für Frohsinn sorgend, ist manchmal selbst nicht zum Lachen zumute, weil die Situation in vielen Bereichen - ich werde gleich konkret darauf kommen - wirklich schwierig ist. Umso mehr freut es mich, dass wir zu diesem Thema bei viel gegenseitiger Kompromissbereitschaft einen interfraktionellen Antrag hinbekommen haben. Frau Voß, ich empfand Ihre Polemik als völlig deplatziert, ({1}) weil Sie ganz genau wissen, dass die ursprüngliche Initiative bei der CDU/CSU lag und es ganz andere Ursachen hat, dass die Kollegen nicht zustimmen. Ein bisschen mehr Souveränität wäre ganz schön. ({2}) Die Kostensituation des Schaustellergewerbes ist in einigen Punkten sehr schwierig. Ich möchte das an einem Beispiel konkretisieren. Ich habe nämlich Anregungen für meine Rede, meine Herren auf der Zuschauertribüne, auf unserem traditionellen Volksfest bekommen, auf dem ich jedes Jahr mit Schaustellern zusammensitze. Die frage ich gerne: Wo sind denn die wahren Probleme? Deshalb kann ich hier einiges beitragen. So wurde mir gesagt, dass ein Boxauto - ich fahre bis heute gerne Boxauto - 8 500 DM kostet, bis es auf der Bahn steht. Dieses Geld - das bitte ich zu bedenken - muss erst einmal eingefahren werden. Wenn das möglich sein soll, muss vieles stimmen. Ich muss auch die Probleme ansprechen, die im interfraktionellen Antrag nicht genannt werden konnten, weil er ansonsten keine Mehrheit bekommen hätte, zum Beispiel die Arbeitskräfte. Sie haben sich jetzt durchgerungen, Ausländer nach einer Wartezeit von zwölf Monaten arbeiten zu lassen. ({3}) Hätten Sie unserem Antrag zugestimmt, in dem wir vorgeschlagen haben, die Arbeitserlaubnispflicht ganz aufzuheben, wären wir ein ganzes Stück weiter. ({4}) Herr Staatssekretär Mosdorf hat vorhin zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Regierung ({5}) - nur Lärmen hilft auch nicht weiter - auch viel Positives gemacht hat. Allerdings war es oft nur der Ausgleich für unsägliche Regelungen. Natürlich leidet die Branche massiv unter der Neuregelung der 630-Mark-Jobs. Das ist doch überhaupt keine Frage. ({6}) Natürlich leidet diese Branche, die hohe Transport- und Energiekosten hat, massiv unter der Ökosteuer. Auch das ist keine Frage. ({7}) - Manchmal frage ich mich, wo Sie leben. Natürlich wird Ihnen jeder bestätigen, wie groß die Probleme in dieser Branche sind. Es wird nicht durch lautes Schreien besser, sondern nur dadurch, dass man die Konsequenzen zieht und dementsprechend handelt. ({8}) Ich spreche den folgenden Punkt ganz bewusst an. Wir appellieren immer an die Kommunen. Ich weiß nicht, ob das so produktiv ist, ob sich die Kommunen daraufhin nicht eher abschotten. Aber wir müssen es trotzdem tun; denn die Entwicklung, die Jahrmärkte und die Volksfeste aus der Stadt herauszudrängen, ist verheerend für das Schaustellergewerbe. Denn dann sind es nicht mehr die Feste, die sie einmal waren. Deshalb sollten diejenigen von uns, die in der Kommunalpolitik tätig sind oder Einfluss haben, alles daransetzen, dass die traditionellen Volksfestplätze erhalten bleiben. ({9}) - Herr Kollege, schreien Sie nicht dazwischen. Das steht auch so im Antrag. Da Sie ihn mit unterschrieben haben, sollten Sie mir auch in diesem Punkt zustimmen. ({10}) Probleme für die Schausteller sehe ich auch in den massiv erhöhten Abgaben der Kommunen und in den Öffnungszeiten, um die es - das weiß ich aus eigener Erfahrung - immer mehr Konflikte gibt, weil diejenigen, die in unmittelbarer Nachbarschaft von Volksfestplätzen wohnen, durchzusetzen versuchen, dass die Jahrmärkte und Volksfeste früher schließen. Auch das ist natürlich für die Branche ein riesengroßes Problem. Hier müssen wir auf die Kommunen massiv einwirken. Wir haben das gemeinsame Ziel, Volksfeste und Jahrmärkte zu erhalten. Wir wollen dem Schaustellergewerbe helfen. Wir versprechen Ihnen: Wir werden das künftig, wo immer es geht, im Konsens tun. Ich sage Ihnen: Wenn Politik ein Stück weit Frohsinn fördern kann, dann ist das eine schöne Sache. Im Jahr des Tourismus gibt es den Wahlspruch: Deutschland - nix wie hin! Sagen wir doch jetzt: Jahrmärkte und Volksfeste - nix wie hin! Danke schön. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt die Kollegin Rosel Neuhäuser für die PDS-Fraktion.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen vom Deutschen Schaustellerverband! Es ist uns selbst nach 15 Stunden Diskussionen im Plenum dieses Hauses ein freudiger Anlass, uns mit dem interfraktionellen Antrag zur Verbesserung Ihrer Situation zu beschäftigen. Es sollte keine Negativdiskussion über diesen Antrag geben, an dem wir gemeinsam gearbeitet haben; denn er ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wir wollen ihn heute zum Erfolg führen. ({0}) Vor mehr als einem Jahr habe ich hier im Auftrag meiner Fraktion festgestellt, dass Volksfeste oder Kirmessen, Stadt- oder Vereinsfeste und auch der Weihnachtsmarkt, der jetzt überall stattfindet, immer Orte der Gemeinsamkeit, der Freude, aber auch der Entspannung sind. Das spüren wir alle an der Resonanz solcher Feste. Wer auf den Weihnachtsmarkt geht, der weiß, was dort los ist. Wir haben einen interfraktionellen Antrag vorgelegt, in dem die in der ersten Beratung von allen Fraktionen angesprochenen Fragen behandelt werden. Was im Antrag steht, war der kleinste gemeinsame Nenner. ({1}) Das ist ein wichtiger Erfolg. Der Wert der Gemeinsamkeit, wie ich ihn eben in Bezug auf Volksfeste angesprochen habe, wird auch in der Gemeinsamkeit dieses Antrags deutlich. ({2}) Wir haben damals zum Beispiel gefordert, dass Regelungen zu dem Beantragungsverfahren, zu den steuerlichrechtlichen Fragen, zu den Gebührenordnungen und im Bereich der Transporte geschaffen werden müssen und dass diese Regelungen möglichst an die EU-Richtlinien angeglichen werden sollten. Diese Ziele haben wir alle gemeinsam formuliert. Ich muss heute dennoch mein Unverständnis darüber zum Ausdruck bringen, dass es trotz inhaltlicher Zusammenarbeit und Übereinstimmung - wir haben hier in der ersten Lesung über den Antrag der CDU/CSU-Fraktion diskutiert; auch im Ausschuss haben wir uns mit ihm auseinander gesetzt - für die CDU/CSU nicht möglich war, diesen Antrag mitzutragen. ({3}) Ich sprach zu Beginn meiner Rede von der Gemeinsamkeit und auch von der Freude, die Volksfeste für die Menschen bedeuten können. Im Interesse des Verbandes und der Menschen in unserem Lande hätten wir deshalb unser Anliegen gemeinsam zum Ausdruck bringen sollen. Als ich vor wenigen Tagen den großen und schönen Weihnachtsmarkt in Berlin besucht habe, habe ich dort Tausende von Menschen hinströmen sehen. Ich habe viele leuchtende Kinderaugen gesehen. Ich habe aber auch die leuchtenden Augen von Erwachsenen gesehen. Ich habe Schießbuden, Bratwurststände, Kinderkarussells und vieles mehr gesehen. ({4}) Ich habe natürlich auch beim Gespensterschloss vorbeigeschaut. ({5}) An diesem Gespensterschloss hängt ein Seil, an dem ein Weihnachtsmann hoch- und runterklettert. ({6}) Das ist genau das Problem, das die CDU hat: Sie arbeitet sich von unten nach oben, sie arbeitet mit uns gemeinsam am Antrag. Als sie oben war, weil der Antrag ausgearbeitet war, und in der Fraktion das Problem geklärt werden sollte, dass auch die PDS den Antrag unterzeichnet, ging es wieder herunter. ({7}) Ich denke, so soll es nicht sein. ({8}) - Das ist keine falsche Interpretation. Sie haben in der eigenen Partei ein Problem, wenn es um Inhalte geht. Sie sollten sich mit Ihrem Fraktionsvorstand auseinander setzen und den unsäglichen Unvereinbarkeitsbeschluss, den es im Hinblick auf den Umgang mit der PDS noch gibt, im Interesse der Sache endlich vom Tisch nehmen. Das täte nicht nur der CDU/CSU, sondern auch der Branche der Schausteller gut. Ich möchte noch einen Satz zu dem sagen, was Herr Burgbacher und Herr Mosdorf schon angesprochen haben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das müsste aber ein kurzer Satz sein, Frau Kollegin Neuhäuser.

Rosel Neuhäuser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002744, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Im Interesse der Schausteller ist es wichtig, dass wir die Kommunen aufrufen, gründlich darüber nachzudenken, wie lange man es noch zulassen will, dass die Volksfestplätze immer weiter von den Innenstädten weg hinaus in die Randzonen getrieben werden. Die Städte brauchen ihre kulturellen Zentren. ({0}) Es ist wichtig, dass die Kommunen hier ihrer Verantwortung gerecht werden. Ich wünsche allen noch viel Freude auf Weihnachtsmärkten, auf Volksfesten und auf anderen derartigen Veranstaltungen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das war ein sehr langer vorweihnachtlicher Satz. Nächste Rednerin ist die Kollegin Marianne Klappert, SPD-Fraktion.

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wenn ich auf die Uhr schaue, dann stelle ich fest, dass wir mittlerweile zweieinhalb Stunden über die Zeit sind. Viele Kollegen und Kolleginnen haben es heute in den frühen Abendstunden geschafft, mit den Schaustellern - ich freue mich, dass sie es so lange ausgehalten haben - einen der schönsten Weihnachtsmärkte, nämlich hier in Berlin, zu besuchen. ({0}) - Kollege Kubatschka und ich, wir mussten leider arbeiten und konnten nicht an dem Besuch teilnehmen. Es ist deutlich geworden, dass wir alle, die Kollegen der CDU/CSU, der F.D.P., des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS, eines gemeinsam wollen: Wir wollen dem Gewerbe unserer Schausteller die Chance geben, sich weiterzuentwickeln und zu stabilisieren. ({1}) - Richtig, Ernst Hinsken! Deshalb würde ich mich freuen - ich werbe noch einmal darum -, wenn wir es trotz aller Kaspereien schaffen würden, heute Abend diesem Antrag alle miteinander zum Wohle der Schausteller gemeinsam zuzustimmen, den wir über ein Jahr in harter Arbeit beraten haben. ({2}) Herr Dörflinger, wir haben Ihren Antrag ernst genommen. Sie wissen genauso gut wie ich: Der Tourismusausschuss ist ein Ausschuss mit Querschnittsaufgaben. Wir haben es in dieser Zeit geschafft, nicht nur fünf Fraktionen, sondern auch all die anderen Arbeitsgruppen und Ausschüsse zu beteiligen. Ich will mich beim Staatssekretär Mosdorf bedanken, der es mit uns gemeinsam geschafft hat, die Anregungen, die in Ihrem Antrag enthalten waren, wirklich auch umzusetzen. ({3}) Das unterscheidet uns: Sie schreiben Anträge und halten hier große Reden, aber wir handeln. Wir haben es geschafft, dass ein Gutachten in Auftrag gegeben worden ist. Das hätten Sie in den 16 Jahren, wo Sie Regierungsparteien waren, längst machen können. Wir haben es geschafft. ({4}) Es ist doch zum Lachen, wenn Sie heute immer kommen und sagen: Sie sind seit zwei Jahren an der Regierung. Sie hatten doch wirklich Zeit genug, das umzusetzen. ({5}) Von dem Gutachten, das diese Bundesregierung nun mitfinanziert, erhoffen wir uns, dass es Ergebnisse bringt, die nicht nur zum Wohle der Schausteller sind, sondern dem gesamten Umfeld dienen. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass wir mehr erreichen, dass im Mittelpunkt unserer Städte weiterhin Attraktionen stehen. Wir erleben es doch jetzt bei den Weihnachtsmärkten. Was wären denn manRosel Neuhäuser che Städte, wenn nicht die Tradition aufrechterhalten würde? Was haben Sie denn dazu beigetragen? ({6}) Da sind Sie nun wirklich in der Pflicht. ({7}) - Das habe ich eben gesagt. Ich will noch eines sagen: Wir haben gerade hier die Schwierigkeit, dass es nicht nur darum geht, bundespolitisch Entscheidungen zu treffen. Viele Schwierigkeiten, die unsere Schausteller haben, liegen im Bereich der Kommunen. Wir hatten heute Nachmittag Gelegenheit, in der Arbeitsgruppe Kommunalpolitik der SPD-Bundestagsfraktion mit den Schaustellern gemeinsam zu diskutieren, wie wir helfen können, damit das, was heute Abend beschlossen wird, bei den Kommunen auch ankommt, dass transparent wird, wo Schwierigkeiten liegen. Ich glaube, da sind wir auf einem guten Weg. Wir sagen, wir müssen es gemeinsam schaffen. Das kann nicht nur der Bund, das können nicht nur die Länder und die Kommunen, sondern das muss gemeinsam gemacht werden. Es ist nicht unbedingt üblich, dass der Deutsche Bundestag in einem Antrag formuliert: Wir fordern die Bundesregierung auf, dazu beizutragen, dass in den Städten und Gemeinden auf Volksfesten auf die Anwendung von Bagatellsteuern verzichtet wird. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Hinsken hat eine weitere Zwischenfrage. Frau Klappert, lassen Sie die zu?

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Bitte, Herr Hinsken.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin Klappert, pflichten Sie mir bei in der Feststellung: Wenn es die Ökosteuer nicht gäbe, ({0}) würde es auch nicht einen Kaufkraftabfluss in Höhe von 35 Milliarden DM geben, was dazu führen würde, dass viele Leute vermehrt Volksfeste, Kirmessen usw. besuchen könnten? ({1}) Und pflichten Sie mir darüber hinaus bei, dass hierfür nicht die Kommunen verantwortlich zeichnen, sondern in erster Linie die Bundesregierung? Und die wird maßgeblich von Ihrer Fraktion gestellt.

Marianne Klappert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001108, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hinsken, nun will ich Ihnen eines sagen: Es gibt sehr viele Großeltern, die heute mit ihren Enkelkindern zu jeder Kirmes und zu Volksfesten gehen. Die können sich das erlauben. Die Familienväter sind froh und dankbar, dass sie statt 22 Prozent ab dem 1. Januar 2000 nur 19,1 Prozent an Rentenbeiträgen zu zahlen haben. ({0}) - Herr Brähmig, warten Sie einmal ab und lassen Sie uns das einmal ganz ordentlich machen. - Ich weiß, dass die Familien froh sind, dass sie mehr Kindergeld bekommen haben, ({1}) dass sie weniger Lohnnebenkosten zu zahlen haben und dass sie wieder in der Lage sind, mit ihren Kindern gemeinsam zu Volksfesten zu gehen. Sie freuen sich, dass dort, bei diesen Volksfesten, Jung und Alt zusammenkommen. Das ist doch wirklich etwas! ({2}) Es gibt für die Familien wieder viel mehr Freiräume. ({3}) Sie können wieder mehr Geld ausgeben und das macht Spaß. ({4}) - Der Kollege Brähmig kann ja gleich fünf Minuten über die Ökosteuer sprechen. ({5}) Wir haben dieses Thema in allen Ausschüssen immer wieder diskutiert; aber jetzt bringt es doch nichts mehr. Ich möchte für meine Fraktion sagen, wie groß unser Interesse ist, dass wir Volksfeste, Kirmessen und Ähnliches aufrechterhalten. Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich ganz besonders bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des zuständigen Ministeriums bedanken, die die gemeinsame Arbeit unterstützt haben. Ich glaube, hier ist ein ganz herzliches Dankeschön angebracht; denn nur so kommt man gemeinsam weiter. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es geschafft: Der Freitagmorgen ist erreicht. Wie man sieht und hört, ist auch die Volksfeststimmung fast erreicht. Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Klaus Brähmig.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ({0}) Zu Beginn meiner Ausführungen begrüße ich ebenfalls ganz herzlich die Vertreter des Deutschen Schaustellerbundes und des Bundesverbandes Deutscher Schausteller und Marktkaufleute. ({1}) Ich glaube, heute ist für das Schaustellergewerbe und die deutschen Volksfeste ein großer Tag. Auf Initiative der Unionsparteien und vor allem unseres Ausschussvorsitzenden, Ernst Hinsken, ({2}) wurde dem Anliegen dieser mittelständischen Unternehmen in Deutschland im Jahre 1999 erstmals ein spezifischer Antrag gewidmet, über den wir im November des letzten Jahres in einer Plenardebatte mit großem Einvernehmen und ohne das sonst übliche Parteiengezänk diskutiert haben. ({3}) Leider wurde dieses Thema heute zu einer sehr ungünstigen Debattenzeit auf die Tagesordnung gesetzt. Daraus schließe ich, dass dem Tourismus trotz seiner unverkennbar hohen gesamtwirtschaftlichen Bedeutung in der Politik und auch in diesem Hohen Haus noch nicht die Bedeutung zugemessen wird, die ihm gebührt. Meine Damen und Herren, gestern Mittag hat Bundeswirtschaftsminister Müller das Jahr des Tourismus in Deutschland 2001 im Kulturforum Berlin eröffnet. ({4}) - Das stimmt natürlich; Sie haben Recht. Das war vorgestern. Gerade im Jahr des Tourismus sollten wir als Tourismuspolitiker gemeinschaftlich dafür Sorge tragen, dass die Branchenvertreter und die Bevölkerung eine Chance erhalten, die tourismuspolitischen Debatten live im Fernsehen mitzuerleben. ({5}) Wir alle wollen, dass dieses Aktionsjahr ein Erfolg wird und sich in der Bevölkerung ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass der Tourismus wie kaum eine andere Branche dazu geeignet ist, kurz-, mittel- und langfristig im weltweiten Wettbewerb Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern bzw. auch in großem Maße neue zu schaffen. Dabei muss stärker als bisher darauf hingewiesen werden, welche Einmaligkeit, Vielfalt und Tradition gerade im deutschen Schaustellergewerbe und in den deutschen Volksfesten stecken. Dies gilt von Flensburg bis Berchtesgaden und von Saarbrücken bis Görlitz. Nicht zuletzt trägt die einmalige und jahrhundertealte Volksfestkultur mit Jahrmärkten, Kirmessen, Schützenfesten und gerade jetzt mit wunderschönen Weihnachtsmärkten immer wieder zu Reisen von Gästen aus der ganzen Welt nach Deutschland bei. Stellvertretend seien hier nur der weltbekannte Christkindlmarkt in Nürnberg und der Dresdner Striezelmarkt genannt. ({6}) Ihr Engagement, sehr geehrte Damen und Herren der Schaustellerverbände, ist also ein unerlässlicher Beitrag für das Image des Reiselandes und Wirtschaftsstandortes Deutschland. Umso wichtiger wäre es gewesen, sehr geehrter Herr Staatssekretär Mosdorf, diese beiden Verbände aktiv in die Planung zum Jahr des Tourismus in Deutschland 2001 einzubinden. Dies kann man aber sicherlich noch nachholen. - Sie haben heute Abend am Rande der Debatte sicherlich erste Gespräche mit den Herren geführt. - Ich glaube, das wird in der nächsten Zeit Realität. In der Arbeitsgruppe zu dem Aktionsjahr hätten die Vertreter der Schausteller dann eine gute Gelegenheit, ihre Probleme bei der örtlichen Durchführung von Volksfesten mit den Vertretern des Deutschen Städtetages, des Deutschen Städte- und Gemeindebundes und des Deutschen Landkreistages zu erörtern, die ebenfalls Mitglieder dieser Arbeitsgruppe sind. Wir sollten in diesem Jahr sogar noch einen Schritt weitergehen. Es muss herausgearbeitet werden, welche Potenziale in diesem Tourismussektor liegen; Herr Staatssekretär Mosdorf hat die wirtschaftliche Bedeutung anhand von Zahlen hier deutlich gemacht. Dies gelingt nach meiner Überzeugung nur mit einer nationalen Studie zum Thema „Schaustellergewerbe und Volksfeste als Wirtschaftsfaktor“, ({7}) die wir gemeinsam, Bundesregierung und Tourismusausschuss, im Jahr 2001 endgültig auf den Weg bringen sollten. Inzwischen sind einige Forderungen aus unserem Antrag vom Juli 1999 abgearbeitet, andere Probleme in den Zuständigkeiten von Kommunen, Bundesländern, Bund und EU müssen weiterhin einer vernünftigen Lösung zugeführt werden. Dabei sollte stets im Vordergrund stehen, dass die Branche entwicklungsfähige Rahmenbedingungen braucht: nicht Regulierung, sondern Deregulierung, ({8}) nicht Bürokratisierung, sondern Entbürokratisierung, ({9}) nicht nur Privatisierung der Infrastruktur in den Gemeinden, sondern ein Bekenntnis zur Daseinsfürsorge der öffentlichen Hand zur Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs der Anbieter. ({10}) Bei den Rahmenbedingungen kann ich die Problematik der Ökosteuer gerade für die Schaustellerbranche nicht unerwähnt lassen. Die Bundesregierung räumt offen ein, dass sich hier durch besondere Belastungen für das Gewerbe ergeben. In der Antwort auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu den Auswirkungen der Ökosteuer und der hohen Kraftstoffpreise auf den Deutschlandtourismus heißt es dazu, dass im Schaustellergewerbe die Belastung durch die Mineralöl- und Stromsteuererhöhung im Rahmen der ökologischen Steuerreform die Entlastung aus der mit dem Steuermehraufkommen finanzierten Senkung und Stabilisierung der Beitragssätze in der Rentenversicherung übersteigen dürfte. Als Ursachen dafür werden der verhältnismäßig hohe Strombedarf für die Beleuchtung und für den Betrieb energieintensiver Fahrgeschäfte, die geringe Beschäftigung rentenversicherungspflichtiger Arbeitnehmer und die besondere Bedeutung der Kraftstoffkosten aufgrund der betriebsnotwendigen Mobilität genannt. Diese Kosten erhöhen sich, wie wir wissen, ab dem 1. Januar des kommenden Jahres nochmals und belasten somit die Schausteller und ihre Unternehmen. Wie wollen Sie dieser besonders belasteten Branche erklären, dass in wenigen Wochen eine weitere Stufe der Ökosteuer in Kraft tritt? Schaffen Sie die Ökosteuer lieber endlich ab! ({11}) Setzen Sie damit ein positives Signal für den Start ins Jahr des Tourismus in Deutschland 2001! Abschließend möchte ich im Namen der CDU/CSUBundestagsfraktion und meiner Kollegen, die heute Abend anwesend sind, aber auch im Namen all derjenigen, die heute Abend - man müsste besser sagen: heute Vormittag ({12}) - heute früh, entschuldigen Sie -, nicht hier sind, ganz herzlich bei allen in der Tourismusbranche Tätigen in der Bundesrepublik Deutschland für ihr unermüdliches Engagement im Jahr 2000 Dank sagen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, für die kommenden Festtage und für das neue Jahr 2001 wünschen wir Ihnen alles Gute, Schaffenskraft und Gottes Segen. Vielen Dank. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die zweifellos temperamentvolle Aussprache und bedanke mich im Namen des Sitzungsvorstandes für die Teilhabe an den kulinarischen Köstlichkeiten. ({0}) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tourismus auf Drucksache 14/4836. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU zur Sicherung der Volksfeste und des Schaustellergewerbes in der Bundesrepublik Deutschland, Drucksache 14/1312. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/ CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen. Weiter empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der F.D.P. und der PDS, Drucksache 14/3786, zur Sicherung der Volksfeste, des Markthandels und des Schaustellergewerbes in der Ausschussfassung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der CDU/ CSU-Fraktion angenommen worden. Ich bedanke mich noch einmal für die Aufmerksamkeit unserer späten Gäste. Ich denke, Sie haben alle Rekorde gebrochen. So spät hatten wir hier noch keine offiziellen Gäste im Parlament. ({1}) Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Ursula Lötzer, Uwe Hiksch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Die Weichen für eine neue Vollbeschäftigung in Europa stellen - Drucksache 14/3030, 14/3789 Berichterstattung: Abgeordneter Klaus Brandner ({3}) - Es geht noch ein bisschen weiter; es wäre nett, wenn die Kolleginnen und Kollegen noch auf ihren Sitzen bleiben könnten und diejenigen, die gehen wollen, jetzt wirklich schnell den Saal verlassen würden. Die Kolleginnen und Kollegen Doris Barnett, Dorothea Störr-Ritter, Dr. Thea Dückert, Dirk Niebel und Dr. Klaus Grehn haben ihre Reden zu Protokoll gegeben1. - Ich sehe keinen Widerspruch im Haus. Deshalb kommen wir sofort zur Abstimmung über die Beschlussemp-fehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Die Weichen für eine neue Vollbeschäftigung in Europa stellen“, Drucksache 14/3789. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3030 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: 1 Anlage 3 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen und zur Änderung weiterer Vorschriften - Drucksache 14/4662 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien Die Kolleginnen und Kollegen Hubertus Heil, Margareta Wolf, Rainer Funke, Ursula Lötzer sowie der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1 - Auch hiergegen sehe ich keinen Widerspruch. Das Wort gewünscht hat allerdings der Kollege Dr. Martin Mayer von der CDU/CSU-Fraktion. Ihm erteile ich auch jetzt das Wort.

Dr. Martin Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001448, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dies ist ein wichtiges Thema für die Entwicklung der Informationsgesellschaft, und es lohnt sich, hier im Plenum - auch wenn es schon spät ist - darüber zu reden. Eine digitale Signatur - im Gesetzentwurf „elektronische Signatur“ genannt - ist ein elektronisches Verfahren, das ein Siegel erzeugt, mit dem man sicherstellen kann, dass Dokumente, die über das Netz versandt werden, unverfälscht sind und dass man den Empfänger eindeutig identifizieren kann. Das nennt man zum einen die Authentifizierung und zum anderen die Identifizierung. Einfache Formen von digitalen Signaturen sind bereits üblich, und zwar in Unternehmen und in geschlossenen Systemen wie beim Homebanking. Seit dem 1. August 1997 gibt es in Deutschland ein Signaturgesetz. Nach diesem Signaturgesetz sind in der Europäischen Union am 13. Dezember 1999 Richtlinien erlassen worden. Diese Richtlinien erfordern nunmehr eine Anpassung des deutschen Gesetzes, wobei in dem neuen Signaturgesetz nicht nur eine Anpassung erfolgt, sondern auch Folgerungen aus den Bewertungen in dem Bericht der Bundesregierung zum Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz gezogen werden. Der Spielraum ist für die Bundesregierung wegen des europäischen Rahmens verhältnismäßig gering. Das Signaturgesetz und der vorliegende Gesetzentwurf befassen sich nicht mit den bereits erwähnten geschlossenen Systemen, sondern mit offenen Systemen, in denen auch zwischen einander unbekannten Teilnehmern die Unverfälschtheit der Nachricht und die Identifizierung des Absenders sichergestellt werden können. Die elektronische Signatur, auf die sich das Gesetz bezieht, beruht auf einem System zweier elektronischer Schlüssel, eines privaten und eines öffentlichen Schlüssels. Diese Schlüssel werden von einem so genannten Zertifizierungsdienst - auch Trustcenter genannt - erzeugt; der private Schlüssel darf nur dem Inhaber bekannt sein, der öffentliche muss über das Netz abrufbar sein. ({0}) - Und dabei mache ich es noch so einfach. ({1}) Der Gesetzentwurf regelt nicht die technischen Verfahren wie Kryptographie und Datenträger. Er definiert vielmehr die Anforderungen an die verschiedenen Zertifizierungsdienste, die diese Signaturen ausgeben, einschließlich der Haftungsfrage und der zuständigen Aufsichtsbehörde. Die digitale Signatur ist Grundvoraussetzung dafür, dass Dokumente, die im PC gespeichert und im Netz verschickt werden, nicht verändert und - das wiederhole ich - dem Autor eindeutig zugeordnet werden können. Der Absender einer Nachricht ist damit im Streitfall rechtskräftig feststellbar, und der Inhalt der Nachricht kann bewiesen werden. Die digitale Signatur ist deshalb von Bedeutung, wenn die Beweiskraft ein besonderes Gewicht hat und im Privatrecht und im öffentlichen Recht besondere Formvorschriften - wie insbesondere das Erfordernis der handschriftlichen Unterschrift - bestehen. Die Entwicklung der digitalen Signatur hat deshalb insgesamt eine Schlüsselstellung bei der Anwendung der neuen Informations- und Kommunikationsdienste. Sie hat enorme wirtschaftliche Bedeutung. Das ganze System einer Zertifizierungsinfrastruktur, englisch „public key infrastructure“, PKI, genannt, ist für die Betreiber mit sehr hohen Investitionen verbunden. Wer als Nutzer eine digitale Signatur verwenden will, braucht zu den Schlüsseln auch die Hard- und Software zu ihrer Anwendung. Das kostet Geld und Zeit für die Installierung. ({2}) In Deutschland gibt es bisher zwei Einrichtungen, die einen derartigen Schlüssel vergeben, nämlich Signtrust von der Deutschen Telekom AG und Telesec von der Deutschen Post AG. Zudem steht eine Hand voll Einrichtungen, die ebenfalls digitale Signaturen vergeben wollen, in den Startlöchern. Bisher gibt es allerdings kaum Anwendungen außerhalb geschlossener Systeme. Die Frage, ob sich Signaturen, die nach dem deutschen Signaturgesetz anerkannt sind, oder andere, auch nicht staatlich anerkannte, durchsetzen, ist noch offen. Das ist aber die entscheidende Frage. Wer als Erster ein einfaches und preiswertes Gesamtsystem anbietet, das den Sicherheitsvorstellungen der meisten Bürger entspricht, wird als Sieger hervorgehen. ({3}) Gegenwärtig kämpft eine Fülle von Firmen international um die Poleposition, ({4}) 1 Anlage 4 um einen Vergleich mit der Formel 1 zu nehmen. Wie viele durch das Ziel fahren werden und wer als Sieger hervorgeht, ist noch offen. Fest stehen jedoch zwei Dinge: Erstens wird das Land im weltweiten Wettbewerb einen beachtlichen Vorsprung haben, in dem sich als Erstes eine massenhafte Anwendung der digitalen Signatur findet und durchsetzt. ({5}) Zweitens wird dasjenige Unternehmen, dessen System der digitalen Signatur weltweit als Erstes eine massenhafte Anwendung findet, die besten Aussichten haben, am Schluss als Sieger hervorzugehen. Der Zeitfaktor hat also eine enorme Bedeutung. ({6}) - Warten Sie nur ab. Deutschland war mit der Schaffung des Signaturgesetzes 1997 sehr schnell im Vergleich zu anderen Ländern. Die zwei Jahre, die die EU benötigte, um eine Richtlinie zu verabschieden, waren schon ein zu langer Zeitraum. Seit der Verabschiedung der EU-Richtlinie ist mittlerweile mehr als ein Jahr vergangen. Durch mangelnden Einsatz der Bundesregierung ist wertvolle Zeit im internationalen Wettbewerb vertan worden. ({7}) Dazu kommt ein Weiteres: Solange noch immer offen ist, wann die digitale Signatur mit der handschriftlich geleisteten Unterschrift gleichgesetzt wird, hilft das Signaturgesetz nur wenig. Ein Signaturgesetz ohne Gleichsetzung der handschriftlichen Unterschrift mit der digitalen Signatur ist wie ein Trockenskikurs. ({8}) Es ist wie die Ausgabe von Telefonkarten in einem Land, in dem es nur Münztelefone gibt. Deshalb müssen das öffentliche und das private Recht rasch angepasst werden. Die Bundesregierung hat zwar mittlerweile - ({9}) - Das ist das Interesse der Bundesregierung an den modernen Informations- und Kommunikationsdiensten! Die Bundesregierung hat zwar mittlerweile einen Gesetzentwurf zur Anpassung der Formvorschriften des Privatrechts an den modernen Rechtsgeschäftsverkehr vorgelegt. Dieser Gesetzentwurf wird aber erst im neuen Jahr in erster Lesung behandelt. Er müsste gleichzeitig mit dem Signaturgesetz verabschiedet werden. Der Rückstand der Bundesregierung wird besonders deutlich, wenn wir einen Blick auf die USA werfen: Dort trat bereits zum 1. Oktober 2000 ein Gesetz in Kraft, das die digitale Signatur der Unterschrift in weiten Teilen des Handelsrechts gleichstellt. ({10}) Noch schlimmer ist die Situation bei der Anwendung der Elektronik im Hinblick auf das Verhältnis von Bürgern und Unternehmen zu staatlichen und kommunalen Stellen. Für die Anpassung der Vorschriften des öffentlichen Rechts an die Erfordernisse der elektronischen Kommunikation gibt es noch nicht einmal einen Referentenentwurf. Dem Vernehmen nach braucht die Bundesregierung noch bis zur Sommerpause, um einen Gesetzentwurf vorzulegen. Dabei könnte gerade vom staatlichen Bereich ein wichtiger Impuls für die Anwendung der digitalen Signatur in Deutschland ausgehen. ({11}) Wo bleibt denn eigentlich die Fantasie des Bundesinnenministers ({12}) - keiner in der Bundesregierung kümmert sich um dieses Thema -, wenn es darum geht, diejenigen öffentlichrechtlichen Anwendungen herauszufinden, bei denen die Signatur sofort angewendet werden könnte? ({13}) - Auf Ihre klugen Bemerkungen habe ich gerade noch gewartet. - Die Bundesregierung ist jedenfalls gefordert, die Anpassung des Privatrechts und des öffentlichen Rechts an die Erfordernisse der elektronischen Übertragung künftig mit wesentlich mehr Nachdruck zu betreiben als bisher. Nur dann kann das Signaturgesetz seine Wirkung entfalten. Über die einzelnen Bestimmungen des Entwurfes des Gesetzes hinsichtlich der Rahmenbedingungen für elektronische Signaturen gibt es im Übrigen verhältnismäßig wenig Streit. Es geht zum einen um Fragen der Haftung. Zum anderen wird zu prüfen sein, ob das Gesetz flexibel genug ist, um auch der Abwicklung von Geschäften über das Handy gerecht zu werden. Das Signaturgesetz muss jedenfalls den schnellen Innovationszyklen der elektronischen Märkte vom E-Commerce im Festnetz zum M-Commerce über Mobilfunk folgen können. Es geht darum - lassen Sie mich das abschließend sagen -, neue Entwicklungen nicht zu behindern, sondern zu fördern, damit Deutschland bei den Informationsdiensten Spitze ist. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/4662 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind jetzt, um 0.23 Uhr, am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 8. Dezember 2000, 9 Uhr, ein. Dr. Martin Mayer ({0}) Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen, die tatsächlich bis zur letzten Minute ausgeharrt haben, und schließe die Sitzung.